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German Pages [391] Year 2019
Martin Böger
Dionysos gegen den Gekreuzigten … Karl Barths Nietzsche-Rezeption in der Auseinandersetzung um das Sein und die Bestimmung des Menschen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Karl-Barth-Gesellschaft und der Evangelischen Landeskirche in Wþrttemberg. 2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0924-9
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1 »Ohne Nietzsche geht nichts im intellektuellen Deutschland« und »Gottes Erzpartisan Karl Barth« . . . . . . . . . . . . . I.2 Zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3 Methodik und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Friedrich Nietzsche und die evangelische Theologie der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1 Ein Zugang zu Nietzsche und Vorstellung zentraler Denkfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.1 Eine Zeit der Gegensätze: Zwischen Moderne, Modernismus und Post-Moderne . . . . . . . . . . . . . II.1.2 »Beschreibt mich […] aber kommt nie in Versuchung mein Werk zu beurteilen.« . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2 Die theologische Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende . II.2.1 Eine theologiegeschichtliche Gegenwartsdeutung der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1.1 Paul Tillich: »Die religiöse Lage in der Gegenwart« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1.2 Dietrich Bonhoeffer . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2 Die Klangkulisse um Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . II.2.2.1 Die Veröffentlichung von Nietzsches Schriften . II.2.2.2 Die »Konservative Revolution« . . . . . . . . . II.2.2.3 Der Historismus oder »Die zentrale und signifikante Problem-Geschichte der Moderne« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.2.3.1 Ernst Troeltsch: »Geschichte durch Geschichte überwinden« . . . . . . .
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Inhalt
II.2.3 Unerledigte Anfragen an die Theologie: Franz Overbeck und Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.3.1 Franz Overbeck und der finis christianismi . . II.2.3.2 Karl Barth und seine unerledigten Anfragen an die Theologie der Jahrhundertwende . . . . . . II.2.4 Die Auseinandersetzung mit Nietzsche in der theologischen Literatur der Jahrhundertwende . . . . . . II.2.4.1 Friedrich Nitzsch . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.2 Julius Kaftan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.3 Heinrich Weinel . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.4 Theodor Odenwald . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.5 Hans Gallwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4.6 Die »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG) in ihrer I. und II. Auflage . . . . . . . . II.2.4.7 Zusammenfassung und der Versuch einer Rasterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3 Nietzsche als hermeneutischer Zugang zur Gegenwart der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Barths Römerbriefkommentar in I. (1919) und II. Auflage (1922) . III.1 Zwischen universitärer Theologie, pfarramtlicher Praxis und den gesellschaftlichen Herausforderungen . . . . . . . . . . . III.1.1 Der Marburger theologische Hintergrund . . . . . . . III.1.2 Pfarramt, soziale Missstände und der I. Weltkrieg . . . III.2 Barths Nietzsche-Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3 Der Römerbriefkommentar (Erste Fassung) 1919 [RÖ I] . . . III.3.1 Nietzsche im Römerbrief (Erste Fassung) 1919 . . . . III.3.1.1 Röm 2 »Die Gerechtigkeit der Menschen« . . III.3.1.2 Röm 8 »Der Geist« . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1.3 Röm 12 »Der Wille Gottes« . . . . . . . . . . III.3.1.4 Entwürfe zum Vorwort . . . . . . . . . . . . III.3.2 Zusammenfassung und Beurteilung – Nietzsche im Römerbrief (Erste Fassung) 1919 . . . . . . . . . . . . III.4 Der Römerbriefkommentar (Zweite Fassung) 1922 [RÖ II] . . III.4.1 Der Weg zum Römerbriefkommentar in seiner zweiten Fassung (1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.1.1 Veränderungen gegenüber dem Römerbriefkommentar (Erste Fassung) 1919 III.4.2 Nietzsche im Römerbriefkommentar (Zweite Fassung) 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.1 Vorworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III.4.2.2 Röm 2 »Menschengerechtigkeit« . . . . . . . III.4.2.3 Röm 3 »Gottesgerechtigkeit« . . . . . . . . . III.4.2.4 Röm 4 »Die Stimme der Geschichte« . . . . . III.4.2.5 Röm 5 »Der nahende Tag« . . . . . . . . . . III.4.2.6 Röm 7 »Die Freiheit« . . . . . . . . . . . . . III.4.2.7 Röm 8 »Der Geist« . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.8 Röm 9 »Die Not der Kirche« . . . . . . . . . III.4.2.9 Röm 11 »Die Hoffnung der Kirche« . . . . . III.4.2.10 Röm 12–15 »Die große Störung« . . . . . . . III.4.3 Zusammenfassung und Beurteilung – Nietzsche im Römerbriefkommentar 1922 (Zweite Fassung) . . . . . III.5 Vergleich mit anderen Einflüssen . . . . . . . . . . . . . . . . III.5.1 Dostojewski und Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5.2 Die Vitalität des Ursprungs – Religion als Lebensgefühl – »Christlicher Glaube und Geschichte« . . . . . . . . III.5.2.1 Albert Kalthoff »Die Religion der Modernen« III.5.2.2 Paul Göhre »Der unbekannte Gott« . . . . . III.5.2.3 Arthur Bonus . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5.2.4 Karl Barths Vortrag »Christlicher Glaube und Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5.2.5 Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . III.6 »Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches« . . . . . . . .
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IV. Die »Kirchliche Dogmatik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Vom Dialektiker zum Dogmatiker – auf dem Weg zur »Kirchlichen Dogmatik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.1 »Fides quaerens intellectum« – Barths Auseinandersetzung mit Anselm von Canterbury . . . . IV.2 Die »Kirchliche Dogmatik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.1 Bezugnahmen in der »Kirchlichen Dogmatik« . . . . . . IV.2.1.1 KD I – Die Lehre vom Worte Gottes . . . . . . IV.2.1.2 KD II – Die Lehre von Gott . . . . . . . . . . . IV.2.1.3 KD III – Die Lehre von der Schöpfung . . . . . IV.2.1.4 KD IV – Die Lehre von der Versöhnung . . . . IV.2.1.5 Unveröffentlichte Texte zur KD . . . . . . . . . IV.2.2 KD III/2 – X. Kapitel: Das Geschöpf: § 45. Der Mensch in seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenossen, 2. Die Grundform der Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . IV.2.3 Zusammenfassung und Beurteilung – Nietzsche in der Kirchlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
IV.2.3.1 Nietzsche als Endpunkt einer geistesgeschichtlichen Entwicklung . . . . IV.2.3.2 »Idee und Schicksal« – Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie . . . . . . . . . IV.2.3.3 Nietzsches »Ecce homo« und »Dionysos-Dithyramben« . . . . . . . . . . IV.2.3.4 »Religionskritik als Lebenskunst« – Studien zur Nietzsche-Rezeption bei Karl Barth von Daniel Mourkojannis und Tom Kleffmann . IV.3 Theologische Schärfung durch philosophische Irritation . .
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V. Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1 »Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen . . . . V.1.1 Eine historische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . V.1.2 Karl Barths Sicht auf den Menschen . . . . . . . . . . . V.1.2.1 Barths Zugang zur Beschreibung einer theologischen Hermeneutik des menschlichen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.2.2 »Der Mensch als Problem der Dogmatik.« Barths theologische Begründung der Anthropologie in der KD III/2 . . . . . . . . . V.1.2.3 Barths Vierstufenmodell der Humanität . . . . V.1.2.4 Barths Humanität als Sozialität und die Sprache als Inbegriff von Sozialität – Martin Buber und Emmanuel L8vinas . . . . . . . . . V.1.2.4.1 Martin Bubers Humanität zwischen »Ich« und »Du« . . . . . . . . . . . . V.1.2.4.2 Das Menschsein bei Emmanuel L8vinas zwischen »Bedürfnis« und »Begehren« . . . . . . . . . . . . . . . V.1.3 Der Mensch bei Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . V.1.3.1 »Der Antichrist. Fluch auf das Christentum« . V.2 »Wie kommt der Mensch zur Selbsterkenntnis?« – Über Wahrheit und Lüge in Bezug auf das Sein des Menschen . . . . V.2.1 »Ueber Wahrheit und Lüge« in Bezug auf die Epistemologie menschlicher Erkenntnis und menschlicher Semiotik bei Friedrich Nietzsche . . . . . V.2.2 Die Worttheologie Barths als Ausgangspunkt der menschlichen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Des Menschen Sünde – Barths Hamartiologie als Weg zur Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . V.3 »Welche Bestimmung hat der Mensch?« . . . . . . . . . . . . . . V.3.1 Nietzsches zarathustrischer Übermensch . . . . . . . . . V.3.2 Karl Barth: »Die Besonderheit des Christen ist eine Besonderheit innerhalb des allgemeinen Menschheitsvereins.« (KD IV/3, 611) . . . . . . . . . . . V.3.2.1 Das Munus triplex Christi in der Versöhnungslehre Barths . . . . . . . . . . . . V.3.2.2 »Der Mensch, der nicht Mitmensch ist, ist Unmensch.« (KD IV/2, 474) . . . . . . . . . . . V.3.2.2.1 KD IV/2 § 64. 3. »Der königliche Mensch« . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.2.2.2 KD IV/3 § 71. »Des Menschen Berufung« . . . . . . . . . . . . . . . V.3.3 Der »Übermensch« und der »königliche Mensch« – Eine vergleichende Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . V.4 »In welchem Modus ist vom Menschen angemessen zu denken zu sprechen?« – Der Mensch als Sprachgeschöpf . . . . . . . . . V.4.1 »Seit ein Gespräch wir sind …« Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung . . . . . . . . . . V.4.2 Luthers »novis linguis loqui« (Mk 1617): nova lingua – nova significatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4.3 Das Sein des Menschen im Sprachmodus der Metapher . V.5 Was oder Wer ist der Mensch – ein zusammenfassender Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.5.1 »Wie ist Sein des Menschen zu bestimmen?« . . . . . . . V.5.2 »Welcher relationale Bezug lässt das menschliche Sein bestimmt sein?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.5.3 »In welcher Rolle befindet sich der Mensch in Bezug auf die Bestimmung seines Seins?« . . . . . . . . . . . . . . V.5.4 Nietzsches und Barths Anschlussfähigkeit an zeitgenössische Anthropologien . . . . . . . . . . . . . . V.2.2.1
VI. Abschließende Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2 »Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflich mache« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2.1 Friedrich Nietzsche »Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2.2 Karl Barth »Immanuel, Gott mit uns!« . . . . . . . . . .
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Inhalt
VI.3 Der »Wille-zur-Macht« oder doch der »liebe Gott« als die Letztbegründung des Seins? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Karl Barth und Friedrich Nietzsche – ein Paar, das sich auf den ersten Blick außer Abneigungen und Verwünschungen gegenseitig wohl wenig sagen zu haben könnte. Zu verschieden, zu unversöhnlich wirken ihre Grundüberzeugungen vom immoralischen »Übermenschen« und vom Menschen als dem Geschöpf Gottes. Und es stimmt, sie sind in ihrer Anlage und Ausrichtung äußerst verschiedene Denker. Barth, der Kirchenvater des 20. Jahrhunderts und der gemeinhin als antichristlichste Philosoph aller Zeiten titulierte Nietzsche. Und doch verbindet beide ein gleiches großes Anliegen. Sie fragen nach dem Ganzen, nach dem Sinn, nach der Wahrheit und nach der ewigen Bestimmung des Menschen. Begonnen hat für mich diese überaus inspirierende Liaison mit einem Seminar zu Friedrich Nietzsches Christentumskritik im Herbstsemester 2010 in Zürich und einer anschließenden Seminararbeit über Karl Barth und Friedrich Nietzsche. Seitdem hat mich die Verbindung dieser beiden nicht mehr losgelassen. Mit dieser Studie, die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Sommersemester 2018 als Dissertation angenommen wurde, ist diese Liaison nun zu einem (vorläufigen) Ende gebracht worden. Für mich bleiben Nietzsche und Barth zwei herausragende Persönlichkeiten. Sie faszinieren, da sie Stellung bezogen haben und mit ihrer Wirklichkeit kritisch ins Gespräch gegangen sind. Sie benennen klar und deutlich, halten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Sie rufen dazu auf, sich den Herausforderungen der Wirklichkeit zu stellen, genau hinzuschauen, Rede und Antwort zu stehen, was der der Grund und die Hoffnung des Lebens sind. Mit diesem Buch hege ich keinesfalls den Anspruch, Barth oder gar Nietzsche schlussendlich erklären oder ihre jeweiligen Eigenarten in einer übergeordneten Perspektive abstumpfen zu wollen. Ich will alles andere Schlusspunkt hinter beide setzen. Viel eher will ich dazu anleiten, sich mit beiden zu beschäftigen und sich von ihren Überzeugungen anregen zu lassen, kritisch und irritierend. Denn Nietzsche irritiert ungemein, legt den Finger in die Wunden, in den Trott des Alltäglichen: Was ist die Wahrheit unseres Seins und Lebens? Ist sie ein
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Vorwort
Konstrukt, eine Lüge, eine Utopie, ein zu missbrauchendes Machtmittel? Und Barth führt den Menschen in seiner Theologie an die letztgültigen Existenzfragen, zu der Krisis der eigenen Endlichkeit. Dorthin, was es im Leben bedeuten kann, durch den dreieinigen Gott gerechtfertigt und berufen zu sein. Für sich selbst, für andere und für die Gestaltung dieser Welt. So gesehen, sind beide eigentlich eine ideale Ergänzung zueinander. Nietzsches besaß eine unbestreitbare tiefe Abneigung gegen das Christentum, gegen die Theologie und insbesondere gegen das Evangelische Stift Tübingen, in dem nach seiner Meinung ein gefährliches Amalgam entstanden ist: »Man hat nur das Wort Tübinger Stift auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist, – eine hinterlistige Theologie.«1
Und einer dieser »hinterlistigen Theologen« aus dem Stift schreibt nun über Nietzsche, aber gar nicht so hinterlistig, wie dieser vielleicht vermutet hätte, sondern den tiefsinnigen Gesprächsfäden nachsinnend: Was lässt die Welt und den Menschen begreiflich werden? Dies ist es wohl, was ich im Besonderen von Barths Theologie und Nietzsches Philosophie gelernt habe: Der Mensch und die Gestaltung seiner Wirklichkeit bedürfen einer kritischen und darin doch ermutigenden und letztendlich haltgebenden Reflexion, über das, was als gut und als sinnvoll erachtet werden darf. Ich verstehe daher die theologische Reflexion stets auch als eine Aufgabe der Gegenwartsdeutung und ihrer Gestaltung. Theologie hat sich einzumischen in die Gegenwart und ihre Herausforderungen. Sie darf nicht am Rande der Geschichte, nicht in der beobachtenden Perspektive stehen bleiben. Sie steht Menschen zur Seite, lebt eine Zeitgenossenschaft, die sie hinschauen, hinhören, entscheidende Fragen stellen und kritische Antworten geben lässt. Nicht zur Selbstgefälligkeit, sondern den Menschen im Horizont der christlichen Überlieferung selbstkritische und darin doch ermutigend hoffnungsvolle Sinndeutungen zu eröffnen. Auf dem Weg zur Abfassung dieser Arbeit ist verschiedenen Menschen und Institutionen zu danken. Zu allererst meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Schwöbel, der mir stets mit viel Rat zur Seite gestanden ist und durch seine Hinweise zum Fortgang und Abschluss der Arbeit entscheidend beigetragen hat. Den Austausch mit ihm habe ich stets als überaus inspirierend empfunden und danke ihm ausdrücklich für diese bereichernde gemeinsame Zeit. Frau Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt danke ich für Zweitgutachten und ihren Hinweis, in dieser ganzen Gemengelage 1 Friedrich Nietzsche, »Der Antichrist«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 176.
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Vorwort
zwischen Barth und Nietzsche, Søren Kierkegaard nicht zu vergessen. Vielleicht ergibt sich ja aus diesem Hinweis der Ansporn zu einer weiterführenden Untersuchung. Zum anderen danke ich dem bereits erwähnten Evangelischen Stift in Tübingen, das mir in meinem Amt als Repetent großzügig Zeit und Ressourcen bereitgestellt hat, mein Vorhaben der Dissertation zu verwirklichen. Meinen Eltern, die mich mit viel Unterstützung, Geduld und großem Interesse durch das Studium und schlussendlich zur Veröffentlichung dieser Arbeit getragen haben. Sie haben mir stets das Gefühl vermittelt, das eigene Leben behütet und in großer Freiheit gestalten zu dürfen. Auch ausdrücklich danken möchte ich Julian Scharpf, der mir seit den gemeinsamen Studienjahren nicht nur zu einem überaus wichtigen theologischen Gesprächspartner, sondern auch zu einem Freund fürs Leben geworden ist. Er hat nochmals entscheidende Rückfragen und hilfreiche Verbesserungsvorschläge in das entstehende Manuskript eingetragen. Speziell danken möchte ich meinem ehemaligen Ausbildungspfarrer und Freund Friedemann Bauschert. Die Zeit des Vikariats bei ihm und sein theologisches Denken in der pfarramtlichen Praxis haben mir nochmals neue Horizonte und Denkweisen eröffnet, die mein theologisches Verständnis geprägt und das Werden dieser Arbeit beeinflusst haben. Nicht zu Letzt danke ich jedoch ganz besonders und von Herzen meiner Frau Cordula. Sie hat mich von Anfang an darin bestärkt, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, mich nicht entmutigen zu lassen. Sie hat mir den Rücken freigehalten und mich gerade dann gestützt, wenn ich unzufrieden und gefühlt den Mut verloren hatte, dieses Projekt zu einem Ende zu führen. Ihnen allen sei dieses Buch in tiefer Dankbarkeit gewidmet. Danken möchte ich der Karl-Barth-Gesellschaft und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für ihre großzügigen Zuschüsse zur Veröffentlichung dieser Arbeit. Den Mitarbeitenden bei Vandenhoeck & Ruprecht danke ich sehr für die gute, unkomplizierte und professionelle Zusammenarbeit. Tübingen am Reformationstag 2018
I.
Einleitung »Wenn ich Professor wäre für Theologie und Literatur und Philosophie, würde ich die Studenten einladen zu einem Seminar, das heißen soll: Friedrich Nietzsche und Karl Barth.«2
I.1
»Ohne Nietzsche geht nichts im intellektuellen Deutschland«3 und »Gottes Erzpartisan Karl Barth«4
Die beiden ausgewählten Zitate der Überschrift beweisen in ihren süffisanten Klängen, dass sich mit den beiden Hauptprotagonisten dieser Studie, dem Theologen Karl Barth (1886–1968) und dem Philosophen Friedrich Nietzsche, (1844–1900) zwei besondere geistesgeschichtliche Größen der jüngeren Vergangenheit gegenüberstehen. Das Zitat zur Verortung Nietzsches als der Bedingung sine qua non des modernen intellektuellen Denkens stammt vom Theologen Ernst Troeltsch (1865–1923) und zeigt in seiner karikierenden Überspitzung Nietzsches Werk als das epochemachende philosophische Manifest, an dem intellektuell nicht vorbei zu kommen ist, wenn es sich in einer intellektuell ernstzunehmenden Diskussion zu profilieren gilt. Das Zitat über Barth stammt aus der Überschrift einer Reportage des Spiegels aus dem Jahr 1959 und deutet die theologische Verve und Sprachgewalt des Schweizer Theologen in der Sache um Gott und den Menschen an. Eine Sprachgewalt, die Barth auch und gerade gegenüber dem gesellschaftlichen und politischen Denken seiner Zeit zu formulieren wusste. Bis in die jüngste Zeit hinein zeigt die Rezeptionsgeschichte beider, dass ihr Denken die theologische wie philosophische Reflexion kritisch bis provozierend herausfordert und dabei hilft, Phänomene und Symptome der eigenen Gegenwart oder gar Fragestellungen der bisherigen philosophischen oder theologischen Geistesgeschichte neu oder anders zu bewerten. Diese anhaltende Auseinandersetzung mit ihrem Denken liegt wohl unter anderem auch an der überzeitlichen und auf das Ganze des Seins zielenden Fragestellung, die Nietz2 Martin Walser, Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, Reinbeck bei Hamburg, 42012, 58. 3 Ernst Troeltsch, Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918–22, hg. von J.H. Claussen, Frankfurt a.M. 1994, 24. 4 So die Bildunterschrift zum Konterfei Barths auf der Titelseite des SPIEGEL 52/1959.
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Einleitung
sche wie Barth auch bleibend mit der Gegenwart jenseits fachspezifischer Diskurse verbindet und im Hintergrund ihres Denkens steht, wie es Martin Walser in seinem Büchlein »Über Rechtfertigung. Eine Versuchung« anklingen lässt. Es ist wohl die allgemeine Frage nach dem Woher und Wohin des Seins und der sich daraus ergebenden wahren und ewigen Bestimmung des Menschen jenseits der Antinomien von Wahrheit und Lüge, Letztgültigem und Vorläufigem, Individuellem und Allgemeinem. Diese Suche hat beide dabei zu sehr disparaten Antworten geführt, die gerade in ihrer Verschiedenheit als ein Sinnbild für die inhaltliche Polyphonie der postmodernen Gegenwart gezeichnet werden können, der sie beide angehörten und welche sie in ihrem Sinne zu gestalten suchten. Im Folgenden soll mithilfe dreier Fragenkomplexe spezifischer auf die Struktur und Zielsetzung dieser Studie geblickt werden. Zuerst ist in sehr grundlegender Weise zu fragen, wer sind die beiden Protagonisten dieser Studie und was ruft nunmehr das spezifische Interesse an ihrem Denken hervor?
(I.)
»Wer ist Friedrich Nietzsche« und »Wer ist Karl Barth«?
»Nietzsche als das große schicksalhafte Ereignis der europäischen Kultur, als den Gewaltigen, der sich ebenbürtig neben die großen Propheten der Vergangenheit stellt und, in Ahnung wenigstens, die großen Lösungen besessen hat, die der moderne Mensch und die moderne Kultur suchen.«5
In dieser vielleicht etwas pathetisch anmutenden Rede beschreibt Emanuel Hirsch (1888–1972) das Ereignis »Friedrich Nietzsche« für seine Gegenwart 1921 und zeigt, welch erhebliche Erwartungen das Werk Nietzsches in der Geistgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts geweckt und angenommen hatte.6 War Nietzsche das zur Erde gekommene Schicksal, der Begründer einer neuen Zeitepoche, der Antichrist oder doch nur ein an Geist und Körper erkrankter Mann, der sich im Grunde seines Herzens nach der Rückkehr in den liebenden Schoß der Mutter Kirche sehnte? Nietzsche polarisierte und verkörperte mit seinem Werk einen in sich rumorenden Gesellschaftszustand.7 Unzählige 5 Emmanuel Hirsch, Nietzsche und Luther, in Luther-Studien Bd. II, Gütersloh 1954, 168–206, 168. 6 Vgl. hierzu die aufschlussreiche Überblicksstudie von Margot Fleischer, Das Spektrum der Nietzsche-Rezeption im geistigen Leben seit der Jahrhundertwende, in Nietzsche-Studien 20 (1991), 1–47. 7 Albert Kalthoff schreibt 1904 über Nietzsche: Er, »der wie kein zweiter alle Qual und alle Lust, alle Krankheit und alle Genesung, das Alter und die Jugend unseres Zeitalters in sich verkörperte«. Albert Kalthoff, Zarathustra-Predigten. Reden über die sittliche Lebensauffassung von Friedrich Nietzsche, Leipzig 1904, 4.
»Ohne Nietzsche geht nichts im intellektuellen Deutschland«
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Denker und Geisteswissenschaftler verschiedenster fachlicher und politischer Couleur8, Philosophen9, bildende Künstler10, Literaten11, Psychologen12, Politikern, Musikern13 und auch Theologen bezogen sich auf ihn, bedienten sich in Schlagwörtern an seinen interpretationsoffenen und prägnanten Aphorismen und nutzten ihn dazu, ihre individuelle Hermeneutik der krisenhaften Gegenwart in pointierter und scharfzüngiger Weise darzulegen.14 In dieser bunten bis zuweilen sehr schrillen Rezeption Nietzsches zeigt sich damit auf besondere Art und Weise, wie multipel anschlussfähig sein philosophisches Œuvre war und ist. Nietzsches aphoristisches Werk lud seit je her dazu ein, eigene Wahrnehmungen und Problembeschreibungen einzutragen und in ihm gleichsam einen Gewährsmann der eigenen Überzeugung zu wissen, der in der bloßen Nennung seines Namens eine gewisse revolutionäre und provozierende denkerische Kulisse mitschwingen lässt. Nietzsche wurde damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zum Sinnbild des avantgardistischen15 mo8 Andreas Urs Sommer unterteilt die Rezeption in seiner vorzüglichen Studie »Nietzsche und die Folgen« in eine Kultische, Politische, Kriegerische, Künstlerische und Philosophische. Vgl. das entsprechende Inhaltsverzeichnis in Andreas Urs Sommer, Nietzsche und die Folgen, München 2017. 9 Vgl. hierzu beispielhaft die zwei Bände von Josef Simon, Nietzsche und die philosophische Tradition, Würzburg 1985. 10 Vgl. beispw. Sigrid von Strachwitz, Franz Marc und Friedrich Nietzsche: zur NietzscheRezeption in der bildenden Kunst, Bonn 1995. 11 Vgl. hierzu ebenfalls beispielhaft die zwei Bände von Bruno Hillebrand (Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur, 2 Bd., I: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963, II: Forschungsergebnisse, München 1978. 12 Vgl. bspw. Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997. Josef Rattner, Psychotherapie und Weltanschauung: Nietzsche, Camus, Nationalsozialismus, K. Lorenz, Darwin, Berlin 1997. 13 Vgl. bspw. Hans-Joachim Bracht, Nietzsches Theorie der Lyrik und das Orchesterlied: ästhetische und analytische Studien zu Orchesterliedern von Richard Strauss, Gustav Mahler und Arnold Schönberg, Kassel u. a. 1993. 14 Eine detailliertere Auflistung der Beschäftigung mit und Bezugnahme auf Nietzsche im deutschsprachigen Raum ist beispielsweise in der Fleißarbeit von Richard Frank Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. 1. 1867–1900, Bd. 2. 1901–1918, Bd. 3. 1919–1945, Bd. 4. Ergänzungen und Berichtigungen, Berlin 1974–2006, geleistet worden. Ähnliche Werke gibt es zur Ausbreitung Nietzsches in der französischen Geisteswelt von Jacques Le Rider, Nietzsche en France: de la fin du XIXe siHcle au temps pr8sent, Paris 1999; für den spanischen Raum von Gonzalo Sobejano, Nietzsche en EspaÇa: (1890–1970), Madrid 2004; für Italien von Manuela Angela Stefani, Nietzsche in Italia : rassegna bibliografica 1893–1970, Assisi 1975; für China von Shao Lixin, Nietzsche in China, New York 1999; für den angloamerikanischen Raum von Hays Alan Steilberg, Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950, New York 1996; oder auch für den japanischen Raum von Hans-Joachim Becker, Die frühe Nietzsche-Rezeption in Japan (1893–1903): ein Beitrag zur Individualismusproblematik im Modernisierungsprozess, Wiesbaden 1983. 15 Der Begriff der Avantgarde soll hier als Ausdruck des Protests gegen eine von außen vorgenommene Festschreibung des künstlerischen oder literarischen freien Selbstverständnisses verstanden werden. Das subjektive ästhetische Gefühl entscheidet allein über die
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dernen Denkens, losgelöst vom »Alten« und dazu befähigend »Neues« und Befreiendes zu postulieren. In dieser denkerischen Möglichkeit wurde Nietzsche als der Inbegriff eines relativistischen Wirklichkeitsverständnisses begriffen, der selbst in seiner Person und in seinem Werk eine »tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal [sich] auszuruhen«16 propagierte und zu einer individuell ästhetischen Interpretation der Wirklichkeit entsprechend der »unendliche[n] Ausdeutbarkeit der Welt«17 aufrief.18 Nietzsche war in der Besonderheit und Popularität seiner Person und Texte ein offenes Kunstwerk für den jeweiligen Rezipienten und seiner gegenwartshermeneutischen Pragmatik. Auf der anderen Seite steht Karl Barth (1886–1968), der schweizer Theologe, der von vielen Zeitgenossen in der eigenen Zunft und darüber hinaus als Neubegründer und Vaterfigur einer theologischen Denkweise gerühmt wurde, die er in bewusster Abkehr zur sogenannten Liberalen Theologie und deren kulturoptimistischen Denken mit seinen Arbeiten am Römerbriefkommentar begonnen hatte. Barth war ein radikaler Revolutionär und darin die haltgebende Stimme einer christlichen Orientierung. Seine theologisch epochemachende dialektische Wort-Gottes-Theologie verhalf ihm in ihrem theologischen und gesellschaftlichen Anspruch dazu, entgegen einem kriegerischen Nationalismus und deren menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie seine Stimme zu erheben und sich mit einem sozial-ethischen Engagement für gesellschaftliche Randgruppen einzusetzen. Barth war wohl unbestreitbar einer der maß- und tonangebenden Theologen auf theologischer wie gesamtgesellschaftlicher Ebene des 20. Jahrhunderts und formte mehr als eine Generation der theologischen Zunft an Universität und im Pfarramt. »[S]ein persönliches Wirken und sein literarisches Werk haben das Selbstverständnis der christlichen Theologie über die Konfessionsgrenzen hinaus erheblich verändert und den Selbstvollzug der evangelischen Kirche tiefgreifend beeinflusst, aber auch im
Angemessenheit eines Kultur- und Literaturbegriffs und nicht länger eine bürgerliche Konvention über das Schöne und Nützliche. 16 Friedrich Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1885–1887«, in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 12, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1967–77 und München 21988, 155. 17 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1885–1887«, 117. 18 Mit dieser aphoristisch-schlaglichtartigen Rezeption ging einher, dass Nietzsche sozusagen abhängig vom zeitgeschichtlichen Kontext in eigene Überzeugungen eingezeichnet wurde. Dabei wurde sein Werk beispielsweise u. a. in ideologische Ecken einer konservativ-nationalistischen Überzeugung gedrängt, in denen er sich selbst wohl sehr unwohl gefühlt hätte. Vgl. hierzu II.2.2 und unter II.2.2.2 die spezielle Nietzsche-Rezeption im Umkreis der Konservativen Revolution, oder auch den Umschlagtitel einer englischen Neuausgabe der Schrift »Jenseits von Gut und Böse« »Nietzsche. The preacher of war« aus dem Jahr 1914.
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politischen und kulturellen Leben des 20. Jahrhunderts unübersehbare Spuren hinterlassen.«19
Barth war daher in seiner Art prägend für einen gewissen sprachlichen und denkerischen Stil in der Theologie, der sich in der Rede von Gott, dem Menschen und in der öffentlichen Rolle der christlichen Kirche inmitten der sie herausfordernden Umstände und Mächte des beginnenden 20. Jahrhunderts formte. Eberhard Jüngel beschreibt in den einleitenden Sätzen seiner Barth-Studien den theologischen Ausgangspunkt Barths zusammenfassend: »Die Sache, der Barth ein Leben lang nachgedacht hat, ist einfach. Es ging ein Leben lang um ein einziges Wort: um das »Ja«, das Gott zu sich selbst und weil zu sich selbst, deshalb auch zu uns Menschen sagt. Zu diesem göttlichen Ja hat Barth denkend Ja gesagt. Und um dieses Ja willen hat er Nein gesagt. Karl Barth hat Gottes Wort als ein JaWort zum Leuchten gebracht. Das war sein Werk.«20
Barth kann daher als Theologe beschrieben werden, der das Wort Gottes als ein freimachendes und erfreuliches in die Welt tragen wollte und daher in diesem freudigen und befreienden »Ja« auch ein energisches und in der Sache begründetes barsches »Nein« auszusprechen vermochte. Was gilt es an dieser Stelle nun an dieser ersten skizzenhaften Annäherung an Barth und Nietzsche zu erkennen? Wohl zuerst und bleibend ein beide miteinander verbindendes strukturelles Grundmotiv des Denkens und ihrer Rezeption: Es ist dasjenige des je eigens begründeten und durchgeführten revolutionären Aufbruchs, »Neues« zu wagen und »Altes« abzulegen. Beide sind prägende Erneuerer ihrer zeitgeschichtlichen Epoche, denen in der Sache jeweils mit großem Eifer gefolgt oder vehement widersprochen wurde. (II.)
Wie kommt man auf die Verbindung von Nietzsche und Barth?
Auf diese Frage sollen an dieser Stelle zwei aufeinander aufbauende Antworten gegeben werden. Bei der Lektüre der Schriften Barths ist der Autor dieser Studie allein durch die wörtlichen Bezugnahmen auf eine spezifische Nietzsche-Rezeption Barths aufmerksam geworden. Diese Bezugnahmen haben Fragen dahingehend aufgeworfen, welches Interesse Barth zu Nietzsche geführt haben könnte und ihn dann auch rezipieren ließ. Von dort ausgehend ist die Frage angeregt, welche Rolle der Philosophie Nietzsches in Barths Denken zuzurechnen sein könnte, eine inhaltlich tragende oder gar wirkursächliche? Diese Fragen gilt es im Laufe der Studie zu klären. Dabei wird die Verbindung und Aus19 Eberhard Jüngel, Art. Karl Barth (1886–1968), in TRE Bd. 5, Berlin/New York 1980, 251–268, 251. 20 Eberhard Jüngel, Karl Barth, in ders., Barth-Studien (Ökumenische Theologe Bd. 9), Zürich/ Köln 1982, 15–21, 17.
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einandersetzung zwischen beiden an zusätzlicher Brisanz gewinnen, wenn die festgestellte Rezeption in Verbindung zu der grundsätzlicheren Frage gebracht wird, wie das Verhältnis von Philosophie und Theologie für ein Wirklichkeitsverständnis und im Blick auf den Menschen zu bestimmen ist. Die Auseinandersetzung Barths mit Nietzsche auf eine derartige Interpretationsebene gehoben, verspricht gerade im Sinne eines sich wechselseitig wirkungsästhetisch irritierenden Blickes der Theologie auf die Philosophie und der Philosophie auf die Theologie einen besonderen Zugriff auf die Implikationen und Konsequenzen einer philosophischen und theologischen Letztbegründung für die Beschaffenheit der Wirklichkeit. In diese Richtung weist auch schon Hirsch, wenn er schreibt: »Nietzsche ist ein Beleg für die Behauptung, daß der Atheismus genau so gut eine Religion sein kann wie der Theismus und Pantheismus, eine Religion mit bestimmter Lebensverfassung und Welteinstellung, mit ihrer eigenen Leidenschaft und ihren eigenen Symbolen und letzten Begriffen, mit Hoffnungen, die die Wirklichkeit überfliegen, und Geheimnissen, die dem sprachlichen Ausdruck sich entziehen.«21
So betrachtet, »predigen« beide aus ihrer jeweiligen Sicht Wahrhaftigkeit über das Sein, Gott (?), die Welt, den Menschen, und deren Bestimmung. Sie beziehen Stellung, sprechen mit deutlicher Stimme »Ja!« und »Nein!« zu Überzeugungen und Themen des menschlichen Seins zwischen dessen Ursprung und Ziel und treffen sich damit in ihren Gedanken auf der gemeinsamen strukturellen Ebene einer kritischen und davon ausgehend positiv neu zu füllenden Gegenwartshermeneutik des Vorfindlichen, dessen gestalterische Möglichkeiten sie aufgrund ihrer jeweils verschiedenen Sichtweisen auf die Wirklichkeit als Philosoph und Theologe ausloten. Profitiert die Theologie Barths also womöglich in einer spezifischen Art und Weise von dieser fundamentalen Irritation, die von Nietzsches Werk ausgeht? Dies wäre dann der Fall, so die These der Studie, wenn die Philosophie Nietzsches und die Theologie Barths beiderseits als eine allumfassende Wirklichkeitstheorie verstanden werden können, die als solche eine Letztbegründung des Seins und des Werdens in sich bergen. Nietzsche und Barth finden diese Letztbegründung zur Bestimmung des Seins, wie es zu zeigen sein wird, in sich diametral widersprechenden inhaltlichen Annahmen. Entweder ist diese im absolut relativierenden und für sich dienstbar machende »Willen-zur-Macht« oder aber in der Selbstoffenbarung Gottes zu erkennen, die das Sein in seinem Sosein jeweils in die Beziehung und damit in die Ausrichtung als dessen Letztgrund beruft. Die letzte und gleichzeitig die bisherigen Fragen bündelnde Themenstellung der Studie lautet daher : 21 Hirsch, Nietzsche und Luther, 182.
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(III.) Wer genau ist Nietzsche als Philosoph für den Theologen Barth? »Dionysos gegen den Gekreuzigten…« So lautet der Schlusssatz aus Nietzsches »Ecce homo« und in letzter Konsequenz wohl auch die sich zuspitzende inhaltliche Auseinandersetzung Barths mit Nietzsche, wie Barth es selbst im einschlägigen Petitdruck der KD III/2 festhält. Die Formel Nietzsches gewinnt gerade durch die elliptische Kürze ihre stilistische Prägnanz und ihre thematische Strahlkraft. Sie erinnert dabei an eine mediale Schlagzeile, die gerade in ihrer gewollten Verkürzung Interesse generiert und damit auf eine breite Öffentlichkeit abzielt.22 »Dionysos gegen den Gekreuzigten…«, das ist nicht der private Tagebucheintrag des einsamen Nietzsche in den abgeschiedenen Höhen der Engadiner Alpen von Sils-Maria, sondern eine Überschrift, die größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit erreichen will und damit eindrücklich Nietzsches innerlichen publikumswirksamen revolutionären Impetus offenbart. Beides, das Zerstören wie das Erschaffen, wird dabei von Nietzsche in emotional wirkmächtigen Sprachbildern beschrieben. Im »Alten« kondensiert sich für Nietzsche die Sicht auf die menschliche Wirklichkeit, welche das Sein lebensmindernd in idealistischen Ordnungsstrukturen der Gegensätze von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge ordnet. Inbegriff dieser fatalen und lebenshemmenden Verkürzung ist für Nietzsche das Christentum, v. a. dasjenige des Paulus und einer darauf aufbauenden moraltheologischen Wirklichkeitsstruktur. Stattdessen will Nietzsche die erlebte Ambivalenz und Vielstimmigkeit des Seins von ihrem moralistischen Überbau von Erstrebenswertem und zu Vermeidendem befreien und in eine neue Philosophie überführen, die die im Ganzen des Kosmos selbst angelegte dionysische Polyphonie der Gegensätze wiederspiegelt und das Sein des Menschen damit jenseits moralisch-ethischer Bewertungen bejaht und nicht beschneiden will.23 »Dionysos gegen den Gekreuzigten…« wird so zur Formel gegen dieses »Alte«, diese in idealistischen und moralisch aufgeladenen Gegensätzen sich ordnende und damit erdachte Weltsicht, der von Nietzsche eine dionysisch-weltbejahende amoralische Lebenseinstellung gegenübergesetzt wird. »Wer das Wort ›Dionysisch‹ nicht nur begreift, sondern sich in dem Wort ›dionysisch‹ begreift, hat keine Widerlegung Platos oder des Christenthums oder Schopenhauers nöthig – er riecht die Verwesung …«24
22 Vgl. Gerd Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten. Eine philologische und philosophische Studie zu Nietzsches »Ecce homo«, Bern/Berlin u. a. 1993, 102f. 23 Vgl. Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 143. 24 Friedrich Nietzsche, »Ecce homo«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hrgs. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967–77 und München 2 1988, 312.
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In der Gegenüberstellung von Dionysos und dem Gekreuzigten geht es also für Nietzsche nicht um eine anzustrebende und festzuschreibende Eindeutigkeit der Wirklichkeit, sondern um die »immoralische« Anerkennung und Bejahung jeglicher Erfahrungen des menschlichen Seins als diejenigen unhintergehbaren Sinneseindrücke, die zu einer ewigen, weil authentischen Lebensbejahung führen. Darin kann eine Sicht auf das Leben entdeckt werden, die Nietzsche in der antiken Vorstellungwelt der dionysischen Dynamik der Heterogenität erkannte und für seine Gegenwart neuerlich zu postulieren versuchte. Aus dem Frühjahr 1888 findet sich in den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches ein diesen Zusammenhang erklärenden Abschnitt mit der Überschrift: »Gegenbewegung: Religion. Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte.«25
Nietzsche legt in diesem Fragment einige skizzenhafte Überlegungen zum religiösen Menschen und seines Verhältnisses zu einer positiven Lebenseinstellung dar. Er stellt sich dabei die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis einer positiven Lebensbejahung und deren adäquaten religiösen Ausgestaltung: Ist nicht »der heidnische Cult […] eine Form der Danksagung und Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein?«.26
Nietzsche identifiziert diesen religiösen, weil lebensbejahenden Repräsentanten mit Dionysos und profiliert ihn gegen den »Gekreuzigten«, wobei die Differenz zwischen beiden gerade nicht »hinsichtlich des Martyriums bestehe«, das jegliches Leben auszeichne, sondern in dessen Sinngebung, kurz im »Sinn des Leidens«.27 »Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu. Der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden«.28
Für Nietzsche kann der christliche Glaube zu keiner positiven Lebenseinstellung führen, da er das Mantra des Leidens am Leiden vor sich hertrage. Im »Antichrist« schreibt Nietzsche über das Symbol des Kreuzes:
25 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 13, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 265. 26 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 266. 27 Vgl. Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 266. 28 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 266.
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»Gott am Kreuze – versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? – Alles, was leidet, Alles, was am Kreuze hängt, ist göttlich […] – das Christentum war bisher das grösste Unglück der Menschheit. – – .«29
Wohl sehr deutlich wird anhand dieser Passage, dass es Nietzsche als die Aufgabe seines Lebens angesehen hat, das »[d]ionysische Phänomen, Symbol und Begriff des ursprünglichen Lebens im Gegensatz zu seiner Verkehrung im Christentum«30 öffentlichkeitswirksam nachzuzeichnen. »Gott als die ewig in sich vollendete Unvergänglichkeit des wahren Seins – so, eleatisch oder platonisch will es der Theismus. Gott die ewig kreisende und zeugende Vergänglichkeit des wechselnden Werdens und Lebens selbst – so, heraklitisch, will es der Nietzsche-Zarathustra«.31
Für Nietzsche wird »Dionysos« zum Erlöser aus einer Hermeneutik des Menschseins, die sich bis dato aus den moralisch lebensmindernden und im »Gekreuzigten« versinnbildlichten Idealen gespeist hat. Für Barth hingegen wird der »Gekreuzigte« und die in ihm offenbarte Hermeneutik des Menschlichen zum Erlöser des in sich selbst gefangenen Menschen und eines darin begründeten dionysisch-mythischen Blickes auf die Wirklichkeit. Barth entdeckt in dieser kurzen Sentenz Nietzsches, wie der in sich selbst verstrickte und verlorene Mensch sich selbst als Grund und Ziel seines Lebens konstruiert und als solcher durch die Selbstoffenbarung Gottes im Gekreuzigten nur als vorläufig und in höchstem Maße erlösungsbedürftig erkannt wird. So gesehen, bestätigt sich die Vermutung, dass es womöglich die Frage nach einer lebensbefähigenden Hermeneutik des Lebens, des Seins des Menschen, nach der Erkenntnis und dem Ziel seines Lebens sein könnte, an die sich Barth wie Nietzsche wohl ausgehend von einer krisenhaften Seins- und Gegenwartsbeschreibung wagten und inhaltlich aufeinander bezogen sein lassen könnten. Die Frage nach dem Wesen des Menschen zeigt sich dabei als ein übergeordnetes Thema, das beide in besonderer Weise beschäftigt und das sie jenseits der überkommenen und für beide wenig überzeugenden Traditionen neu und in der jeweiligen Sicht konsistent zu füllen versuchen. Bei Nietzsche wird der Mensch befreit aus dem ideellen Gefängnis der Religion und davon abgeleiteten bürgerlich-moralischen Konstruktionen. Bei Barth durch die Krisis des Menschlichen in der je individuellen Existenz zwischen Leben und Tod, Sünde und
29 Friedrich Nietzsche, »Der Antichrist«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 232. 30 Tom Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth (Beiträge zur historischen Theologie 120), Tübingen 2003, 318. 31 Hirsch, Nietzsche und Luther, 190f.
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Rechtfertigung hinterfragt, welcher nur durch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus hoffnungsvoll und befreiend begegnet werden kann. Wird daher am Ende dieser Studie womöglich im Sinne des »Dionysos gegen den Gekreuzigten…« ein endgültiges und »ewiges« Entweder-Oder zwischen einer philosophischen oder theologischen Weltsicht stehen? Ausgehend vom Bisherigen kann es wohl in diesem »gegen« zwischen Nietzsche und Barth, zwischen Philosophie und Theologie, schwerlich um eine Ersetzung oder eine explizite Frontstellung und Gegenüberstellung im Sinne einer Reduktion gehen, sondern wohl eher um einen »Wettkampf, ›Agon‹ zwischen Dionysos und dem ›Ideal‹«32. Denn »die dionysischen Kräfte des tragischen Zeitalters erweisen sich dabei [für Nietzsche] als siegreich, weil sie ›stärker‹ sind, weil sie das ›Leben‹ verkörpern. Das ›Ideal‹ geht an seiner eigenen Lebensferne zugrunde. Dionysos bietet also ›nur‹ Wettkampf an, Agon, Kräftemessen. Der Untergang des ›Rivalen‹ liegt dabei nicht im Plan eines solchen Wettkampfes. er ist ›selbstverschuldet‹.«33
Es kommt im Wettstreit zwischen den Metaphern von »Dionysos« und »Gekreuzigter« auf das Ganze an, in der Sicht auf die Wirklichkeit, auf das Aufdecken von Wahrheit und Lüge, auf die Betonung von Eigentlichem und Uneigentlichem und auf das Verhältnis von Ewigem und Vorläufigem. Die Auseinandersetzung Barths mit Nietzsche in der Formel »Dionysos gegen den Gekreuzigten…« führt dabei fast zwangsläufig zum jeweiligen Kern ihres philosophischen und theologischen Werkes. Barth lässt sich in seiner Rezeption und Auseinandersetzung auf diesen hermeneutischen Wettkampf mit Nietzsche ein, wobei er die Formel von »Dionysos« und dem »Gekreuzigten« und deren inhaltliche Füllung in seine theologische Überzeugung überführt. Und so bleibt am Ende dieser ersten thesenhaften Annäherung an Barth und Nietzsche die Frage, wer im Folgenden wen rezipieren wird, wer die eigentliche Hauptfigur dieser Untersuchung sein wird – Barth, Nietzsche oder doch die These des »Dionysos gegen den Gekreuzigten« als Sinnbild für die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach der Letztbegründung des Seins? Denn ausgehend vom Beschriebenen wird Nietzsche nie nur zum passiven Objekt in der Rezeption Barths, sondern wird stets seine eigene besondere Strahl- und Überzeugungskraft behalten, die auch uns als Leserschaft herausfordert und zum Nachdenken auffordert. Der in der Ambivalenz des Seins angelegte Antagonismus im Hinblick auf eine wahrhaftige Hermeneutik des Seins zwischen Ursprung, Wirklichkeit und Ziel, wie er sich in Barth und Nietzsche exemplarisch zeigt, wird uns durch den Verlauf dieser Studie begleiten. Im Fortgang der 32 Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 150. 33 Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 150.
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Untersuchung werden daher auch wir sozusagen zu Rezipienten dessen, was Barth in Nietzsche gesehen hat und versuchen, den jeweiligen Ertrag in unsere gegenwärtige Zeit hinein zu übersetzen und weiterzudenken: »Nicht über Paulus, sondern, gewiss nicht ohne Seufzen und Kopfschütteln, so gut es geht, bis aufs letzte Wort mit Paulus schreiben. […] Reden über jemanden scheint mir hoffnungslos dazu verurteilt, an ihm vorbei zu reden und sein Grab dichter zu schließen.«34
So wollen auch wir versuchen nicht nur über Barth und Nietzsche zu schreiben und zu denken, sondern bestenfalls mit ihnen.
I.2
Zum Forschungsstand
Es liegen verschiedene Studien zur Rezeption Nietzsches unter den evangelischen Theologen des beginnenden 20. Jahrhunderts vor. Im Besonderen sei hier die, die theologische Rezeption Nietzsches grundsätzlich systematisierende Studie »Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts« von Peter Köster35 erwähnt, auf die im Folgenden wieder zurückzukommen sein wird. Köster unternimmt den Versuch, eine evangelische wie katholische Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende zu eruieren und deren jeweilige grundlegenden und wiederkehrenden Interpretationsmuster offenzulegen. Dabei erarbeitet er erste und bleibend wichtige Ergebnisse, warum und in welcher Weise sich mit Nietzsches Denken in einem theologischen Rahmen beschäftigt wurde und hält fest: »Im allgemeinen galt Nietzsche der Theologie als das, was er sein wollte: als der radikalste Feind des Christentums. Er fungierte damit als Repräsentant der suggestiven und polemischen Grundtendenz der Moderne – bis hin zu deren, vom beständig prinzipieller und expansiver werdenden Atheismus abgeleiteten tyrannischen und das Menschsein im ganzen tangierenden Gefahren, Möglichkeiten, Hoffnungen und Befürchtungen. Da nun die Moderne zur Entscheidung für oder wider sie geradezu nötigt, treten grundsätzlich Affirmation und Negation als jene Grundstellungen hervor, die man auch in ihrer historischen Bedingtheit am der Nietzsche-Rezeption ablesen kann.«36
34 Karl Barth, Der Römerbrief. 1922, hg. von Cornelis van der Kooi/Katja Tolstaja (Gesamtausgabe, Abt. II), Zürich 2010, 27f. 35 Peter Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts, in ders., Kontroversen um Nietzsche. Untersuchungen zur theologischen Rezeption, Zürich 2003, 175–270. 36 Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 252f.
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Köster betont jedoch, dass Nietzsche diese kritisch-offenbarende Funktion für die ihn rezipierende Theologie nur dann entfalten konnte, wenn »Nietzsche in genauer Weise und philologisch-philosophisch beim Wort«37 genommen wurde. »Denn die theologische Auseinandersetzung mit Nietzsche kann dort, wo sie wirklich und ernsthaft stattfindet, ein charakteristisches Indiz bilden dafür, wie es um eine Theologie angesichts der Moderne und speziell ihrer sich entfaltenden Sinn- und Dekonstruktionspotenziale bestellt ist.«38
Diese im Sinne Kösters ernsthafte theologische Auseinandersetzung sei jedoch nur dann gegeben, wenn in einer theologischen Rezeption Nietzsches Gedanken weder als unsystematisch noch als inkonsistent gebrandmarkt werden, ihm keine heimliche Gottsuche unterstellt wird, Nietzsches antichristlichen Angriffen nicht ihre »Grundsätzlichkeit und Tragweite«39 entzogen werde oder aber der Name Nietzsche und der Bezug auf ihn nicht lediglich im Duktus von »Unheilsparolen funktionalisier[t]«40 werde. Kösters grundsätzliche Resultate, die er in seiner andauernden Beschäftigung mit den entsprechenden theologischen Publikationen gewonnen hat, gilt es nun mit der speziellen Nietzsche-Rezeption bei Barth abzugleichen und damit die besonderen Eigenheiten der barth’schen Rezeption herauszustreichen. Dass sich die Beschäftigung mit einer theologischen Nietzsche-Rezeption unter einem thematischen Oberbegriff als lohend erweist, versuchen die nun folgenden drei Einzelstudien, die im Zeitraum zwischen 1996–2006 veröffentlich wurden, zu beweisen. Die ausgewählten drei Monographien zur evangelischtheologischen Rezeption Nietzsches nehmen dabei die Bezugnahmen von ausgewählten theologischen Autoren auf Nietzsche ausschnittartig und thematisch orientiert in den Blick. Daher wird in ihnen auch jeweils die Rezeption Nietzsches bei Barth als ein Ausschnitt in der jeweiligen übergeordneten Fragestellung der Untersuchungen verhandelt und nicht in erster Linie eine umfassende Darstellung der Rezeption als Ausgangspunkt für etwaige direkte Beeinflussung bzw. thematische Überschneidungen gewählt. Damit wird von ihnen ein anderer Ansatz verfolgt, als der, den die vorliegende Studie beschreiten wird.41 Dennoch sei an dieser Stelle in der gebotenen Kürze auf die Studien, die im 37 Peter Köster, Einleitung, in ders., Kontroversen um Nietzsche. Untersuchungen zur theologischen Rezeption, Zürich 2003, 9–16, 9. 38 Köster, Einleitung, 9. 39 Köster, Einleitung, 10. 40 Köster, Einleitung, 15. 41 Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass nicht auch diese Studien mit ihren spezifischen Fragestellungen auf sehr interessante und weiterführende Beobachtungen gestoßen sind. Dieser Hinweis ist nur als Verweis auf und Pointierung der systematischen Anlage und Herangehensweise dieser Studien gedacht.
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Folgenden nach ihrem chronologischen Erscheinen gelistet sind, verwiesen, die auch im Laufe dieser Studie zu Wort und Darstellung kommen werden. Die Studie von Daniel Mourkojannis zur »Ethik der Lebenskunst« beschreibt eine in moralethischen Fragestellungen inhaltlich abhängige Bezugnahme der evangelischen Theologie des beginnenden 20. Jahrhunderts auf Nietzsche. Mourkojannis versucht dabei im Laufe seiner Studie die moralethisch-theologischen Konstruktionen einer praktischen Lebenskunst in einer strukturellen Analogie und damit in einer inhaltlichen Abhängigkeit zu Nietzsches Gedanken zu zeichnen. Dabei geht er so vor, dass er Nietzsches ästhetisch-ethische Lebensform in ihrer allgemeinen Rezeption beschreibt und von dort ausgehend zur spezifisch theologischen Rezeption in Bezug auf eine Ethik voranschreitet. Dabei nimmt er Troeltsch, Barth und das konservative Luthertum der Jahrhundertwende zwischen 19. und 20. Jahrhundert mit ihren ethisch-theologischen Gedanken näher in den Blick. Als Resümee präsentiert Mourkojannis die entscheidende Pointe einer theologischen Nietzsche-Rezeption darin, dass durch die theologische Rezeption von Nietzsches Moralbegriff, wenn auch im Sinne eines Antipoden wie im Falle Barths, und der sich daraus ableitenden Ethik als Lebenskunst, die Ermöglichung einer »Thematisierung ihrer nicht rationalen Konstanten« und Fundamente möglich wurde.42 Zu nennen ist ferner die Studie von Tom Kleffmann zu »Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie«. Kleffmann will zu einer »grundsätzlichen Klärung des Lebensbegriffes«43 in der Auseinandersetzung mit Nietzsche und den Theologen Albert Schweitzer, Paul Tillich und Barth beitragen und legt dabei eine überaus detailreiche systematische Analyse vor, die sich ausgehend von einer Beschreibung des Lebensbegriffes bei Nietzsche zu einer solchen Begriffsschärfung bei den genannten Theologen vorarbeitet. Dabei stellt sich Kleffmann Fragen zur inhaltlichen Analogie, Diskrepanz und evtl. Abhängigkeit der jeweiligen Lebenskonzepte zu derjenigen Nietzsches. Im Laufe der Studie kommt Kleffmann zum Ergebnis, dass die von Mourkojannis und anderen mit Recht festgestellte Strukturanalogie eines Lebensbegriffs zwischen Lebens- und Todeslinie bei Nietzsche und Barth nur sehr bedingt auf eine inhaltlich wirkursächliche Abhängigkeit von Nietzsche zurückgeführt werden könne: Barth rezipiere Nietzsche vielmehr stets innerhalb eines theologisch gefärbten hermeneutischen Verständnisses und deute ihn damit im Sinne seines theologischen Programms um.44 Am Ende seiner Studie finden sich daher entsprechend 42 Vgl. Daniel Mourkojannis, Ethik der Lebenskunst. Zur Nietzsche-Rezeption in der evangelischen Theologie (Studien zur systematischen Theologie und Ethik Bd. 23), Münster u. a. 2000, 199f. Zur weiterführenden Darstellung der Ergebnisse Mourkojannis in der dieser Studie vgl. IV.2.3.4. 43 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 1. 44 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 502.
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Einleitung
zur Aufgabenstellung der Einleitung »Thesen zum wahren Leben«45, die sich anhand der philosophischen Beschreibung des Lebensbegriffes, der nach Nietzsche als Skopus der Entzweiung zu zeichnen ist, die es zu überwinden gilt, abarbeiten. Von dort ausgehend wird es von Kleffmann als eine »theologische Herausforderung« verstanden, einen theologisch verantworteten Lebensbegriff in Abgrenzung und in Kongruenz zu Nietzsches Lebensbegriff bezüglich einer Genese der Entzweiung und deren erstrebenswerter Überwindung zu profilieren.46 Weiterführende Einsichten zu einer theologischen Nietzsche-Rezeption liefert die Studie »Nietzsche and Theology« von David Deane, welche den Fokus der Fragestellung einer rein textlichen Bezugnahme und einer sich darin womöglich findenden inhaltlichen Abhängigkeit zwischen Nietzsche und Barth hinter sich lässt und den überaus fruchtbaren und innerhalb der vorliegenden Studie weiterzudenkenden Ansatz verfolgt, die Rezeption Nietzsches bei Barth in systematischen Strukturanalogien in Bezug auf die grundsätzlichen Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Epistemologie und Semiotik zu überführen.47 So sind für Deane Nietzsche und Barth in demVorhaben miteinander verbunden, den letztgültigen Motor der Ontologie zu entdecken und von jener ausgehend ihre je eigene Wirklichkeitstheorie des Werdens zu entfalten. Den Ansatz, das besondere Spezifikum der barth’schen Nietzsche- Rezeption herauszuarbeiten, unternahm als einer der ersten Niklaus Peter in seinem Aufsatz »Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches«48. In dieser Untersuchung finden sich erste entscheidende Hinweise über eine spezifische literarische und inhaltliche Verbindung zwischen Barth und Nietzsche. Peter benennt dabei einen ersten systematischen Ansatzpunkt, um Barths Nietzsche-Rezeption im Besonderen der RÖ-Auflagen zu beschreiben und die Rolle Nietzsches in Barths Schaffen zu bemessen. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die für die spezifische Aufgabenstellung dieser Studie überaus lohnenden jüngeren Arbeiten zur Rezeption Dostojewskis (Hong Liang, Leben vor den letzten Dingen. Die Dostojewski-Rezeption im frühen Werk von Karl Barth und Eduard Thurneysen 1915–1923) und Goethes (Thomas Xutong Qu, Barth und Goethe. Die Goethe-Rezeption Karl Barths 1906–1921) in Barths früher Theologie. Beide Arbeiten zeigen jeweils auf kluge Art und Weise, dass es sich lohnt, Barths Verbindungen zu anderen Geisteswissenschaften und literarischen Werken nachzuzeichnen, um so das Werden seiner Theologie ab45 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 560–588. 46 Zur weiterführenden Darstellung der Ergebnisse Kleffmanns in der dieser Studie vgl. IV.2.3.4. 47 Zur weiterführenden Darstellung der Ergebnisse Deans in der dieser Studie vgl. V.2. 48 Niklaus Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, in ZNThG/JHMTh, 1. Bd., 251– 264.
Methodik und Vorgehen
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zubilden und Barths entscheidende theologische Topoi in ihrem spezifisch existentiell interpretatorischen Lichte zu erkennen. In diesem Zusammenhang und in der Beschreibung des Verhältnisses der Theologie zur Philosophie als jeweils umfassende Wirklichkeitstheorien für die Phänomene der Wirklichkeit, wird auch Johann Friedrich Lohmanns Studie »Karl Barth und der Neukantianismus« an Bedeutung gewinnen. Als Ergebnis weist die Studie den bleibenden Eindruck des neukantianischen Denkens in Bezug auf die Dimension eines ontologischen und damit erkenntnistheoretischen »Ursprungs« in Barths Theologie nach. Von einer solchen philosophischen Beeinflussung bzw. Schärfung der Theologie Barths muss wohl auch im Falle von Barths Nietzsche-Rezeption ausgegangen werden. Was bisher fehlte, war der umfassende Versuch Barths Nietzsche-Rezeption durch die verschiedenen Stadien seines Schaffens und Theologisierens nachzuverfolgen, damit die Rolle Nietzsches in den unterschiedlichen Perioden zu bemessen und andererseits beide in ihrem Ansinnen miteinander zu lesen, eine begründende Theorie des menschlichen Seins ausgehend von einer Letztbegründung der Wirklichkeit vorzulegen. Dieses rezeptionsgeschichtliche und systematische Desiderat zu schließen, hat sich der Autor dieser Studie zum Ziele gesetzt, um so die Rezeption Nietzsches in Barths theologischem Denken differenziert darstellen zu können und inhaltliche Strukturanalogien als Ausdruck einer ihnen beiden aufgegebenen gemeinsamen Fragestellung zu profilieren. Deutlich werden kann so, dass, wenn sowohl Barth mit Nietzsche, als auch Nietzsche mit Barth gelesen werden, entscheidende interpretatorische Hinweise entdeckt werden können, die über eine bislang gängige Lesart und Interpretation ihres jeweiligen Œuvres hinausreichen könnten.
I.3
Methodik und Vorgehen
Nietzsche war in der Anlage und Durchführung seines philosophischen Werks ein radikaler Systembrecher und erweist diese Eigenschaft gerade auch in der Rezeption seines philosophischen Schaffens durch Andere. Denn Nietzsche durchbrach mit der ihm eigenen aphoristischen Sprachgewalt die bis dato schlüssigen und unhintergehbaren Denksysteme, wirbelte in dieser Dekonstruktion der Konventionen Begriffe, Werte und Wahrheiten durcheinander und wurde so im wahrsten Sinne des Wortes zu einem di\bokor. Barth hat sich, wie Edgar Salin als Laudator des theologischen Werkes Barths beim Anlass seiner Emeritierung vermerkte49, in der Rezeption von und Auseinandersetzung mit Nietzsche auf diesen di\bokor eingelassen und nicht versucht Nietzsche mithilfe 49 Vgl. III. 6. »Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches.«
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Einleitung
des vorgefertigten theologischen Systems eines ewigen Dogmas zu diskreditieren, sondern erkannte Nietzsches wirbelnden Angriff als wirkmächtigen und positiv irritierenden denkerischen Ansatz an, der Raum zu eigenen theologischen Pointen bot. Es gilt daher im Folgenden, sich diesem zweifachen di\bokor des Zerstörens und des Erneuerns in der gegenseitig beeinflussenden Betrachtung von Nietzsche und Barth anzunähern. Einerseits wird es dabei darum gehen, Barths theologische Entwicklung in ihren wichtigsten Punkten nachzuvollziehen und die entscheidenden Wegmarken in den Blick zu nehmen.50 Von dort ausgehend steht die Aufgabe an, die Rezeption Nietzsches in den sich verändernden Perioden von Barths Schaffen auf zwei Ebenen zu eruieren. Zum einen ist danach zu suchen, zu welchen Themen und an welcher Stelle der systematischen Architektonik lassen sich Bezugnahmen auf Nietzsche in zentralen Schriften Barths finden. Und in der Betrachtung dieser Rekurse in Verbindung mit dem theologischen Werdegang und den dort angelegten Veränderungen soll daraufhin die Frage bedacht werden, welche Rolle Nietzsche in diesen Verschiebungen gespielt haben könnte. Aufgrund einer aller Interpretation vorgeschalteten Exegese der Bezugnahmen soll ein aussagekräftiges Bild der barth’schen Nietzsche-Rezeption erarbeitet werden, in dem deutlich wird, wo von einer ideellen Abhängigkeit, wo von Diskontinuität und wo von einer systematisch strukturellen Analogie zwischen Nietzsche und Barth in gemeinsamen Themenkomplexen auszugehen ist. Von dort aus kann anschließend auf einer übergeordneten Ebene die Frage angegangen werden, was beide inhaltlich miteinander verbindet, sodass Barth es als probates Mittel angesehen haben könnte, speziell auf Nietzsche Bezug zu nehmen. Auf welche Fragen und Themenkomplexe versuchen also beide als Philosoph und Theologe Antworten zu geben? Diese Zielsetzung zeigt bereits an, dass im Folgenden nicht jede einzelne Bezugnahme Barths auf Nietzsche verhandelt werden wird, sondern systematisierende Muster, Strukturanalogien und verbindende Themenkomplexe offengelegt werden sollen, die Barths interpretatorische Sichtweise auf Nietzsche im Hinblick auf eine systematisch-theologisch verortete Auseinandersetzung mit der Philosophie Nietzsches öffnen soll. In den drei eingangs angedeuteten Fragekomplexen ( I »Wer ist Friedrich Nietzsche« und »Wer ist Karl Barth«?; II Wie kommt man auf die Verbindung von Nietzsche und Barth? III. Wer genau ist Nietzsche als Philosoph für den Theologen Barth?) liegt der hermeneutische Schlüssel zur Struktur und Zielsetzung der gesamten Studie begründet. Sie 50 Da die vorliegende Studie sich nicht in erster Linie zur Aufgabe gemacht hat, diese theologische Entwicklung Barths akribisch und umfassend nachzuzeichnen, wird an den entsprechenden Stellen auch auf die Ergebnisse andere Arbeiten, die sich genau jene Schwerpunktsetzung gegeben haben, dankbar zurückgegriffen und verwiesen.
Methodik und Vorgehen
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werden jeweils in die einzelnen Kapitel miteingeflochten sein und dabei je unterschiedlich stark akzentuiert werden. Im II. Kapitel soll es somit darum gehen, sich dem »hinter seinen Schlagworten und hinter seinem Schnauzbart«51 fast zum Verschwinden gebrachten Nietzsche zu nähern, Grundfiguren seiner Philosophie darzustellen und daneben diejenige Zeit und diejenigen Menschen und ihre Blickrichtungen auf Nietzsche näher in den Blick zu nehmen, die ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts rezipiert und damit das Nietzsche-Bild ihrer Gegenwart geprägt haben. Was ist die religiöse Lage der Zeit, was sind die gesellschaftlichen Klangkulissen in die hinein Nietzsche rezipiert wird und Barth seinen Römerbriefkommentar schreibt? Es wird sich zeigen, dass die Zeit von immensen Um- und Aufbrüchen gezeichnet ist. Der Ausruf Troeltschs auf einem Theologenkongress 1896 »Meine Herren, es wackelt alles« beschreibt wohl sehr eindrücklich ein gemeinhin erlebtes Lebensgefühl der damaligen Zeit: Wie geht das zusammen, »Moderne« und »Christentum«, und was zeichnet den modernen Menschen und seine Form der Religiosität aus? Diese Fragestellungen werden auch von zentraler Bedeutung werden, wenn es um Barths Aufbruch und sein im Hintergrund stehendes Zeitgefühl gehen wird, die ihn den Weg zur sogenannten dialektischen Theologie führten. Das III. Kapitel wird sich dem frühen Barth und seinen beiden Römerbriefkommentar-Auflagen I (1919) und II (1922) widmen. Was bewegte und beschäftigte Barth theologisch wie gesellschaftspolitisch zur Zeit der Abfassung seiner zwei Römerbriefauflagen? An welchen Stellen kommt Nietzsche in den Römerbrief-Auflagen vor, was verändert sich gerade auch in den theologischen Verschiebungen zwischen RÖ I und II bei der Nietzsche-Rezeption Barths? Können Themenschwerpunkte ausgemacht werden, in denen Barth verstärkt oder gar spezifisch, positiv wie kritisch, auf Nietzsche zurückgreift? Zur besseren Einordnung der Ergebnisse sollen diese verbunden werden mit der Frage, welche anderen Aufbrüche es in der evangelischen Theologie zu dieser Zeit gegeben hat und wie diese sich auf Nietzsche bezogen haben. Entscheidend wird dabei werden, Barths anfängliche Arbeitsgemeinschaft mit seinem Bruder, dem Philosophen Heinrich Barth und seine Verbindungen zum Neukantianismus in den Blick zu nehmen. Das philosophische Konzept des »Ursprungs« als Sinnund Bestimmungskategorie einer Ontologie des Werdens wird darin eine spezielle Bedeutung erfahren. Das IV. Kapitel beinhaltet Barths Weg an die Universität und die Arbeiten an seinem opus magnum der »Kirchlichen Dogmatik« (KD). In der Zeit bis zur Erarbeitung der KD durchläuft die Theologie Barths einige entscheidende Verschiebungen und Profilierungen, die gerade auf dem Hintergrund seiner 51 Sommer, Nietzsche und die Folgen, 1.
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Einleitung
Nietzsche-Rezeption nicht uninteressant zu sein scheinen. Die Bezugnahmen Barths auf Nietzsche in der KD werden im Anschluss daran dargestellt und jeweils in der Gesamtarchitektonik des Werkes verortet werden. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf einen Abschnitt des Petitdrucks in der KD III/2 gelegt werden, in dem es aus der Sicht Barths zu einer theologisch umfassenden Kritik und Einordnung Nietzsches in die Geistesgeschichte und der der darin eingeflochtenen Theologie kommen wird. Abschluss dieses Kapitels bildet ein erster Versuch, Barths Nietzsche-Rezeption in systematischer Weise zu fassen und unter der kritischen Betrachtung der Ergebnisse von Mourkojannis und Kleffmann in Analogie und Kritik zu profilieren. Im V. Kapitel wird es darum gehen, die festgestellte Rezeption von der rein textimmanenten und eher beschreibenden Ebene auf die in IV. bereits angedeutete themenorientierte und damit interpretierende Strukturebene zu heben, um Barth und Nietzsche in einer Diskussion um die Sache miteinander ins Gespräch zu bringen. Das Sein des Menschen als sich ereignendes Phänomen in Individualität und Alterität, in der Unterscheidung von Eigentlichem und Uneigentlichem sind die entscheidenden Schlagwörter, unter denen Nietzsches und Barths Gedanken bezüglich einer konsistenten Anthropologie untersucht und miteinander verglichen werden sollen. Zum Schluss des Kapitels soll schließlich der Versuch stehen, im Rückgriff auf das bisher Erarbeitete eine Hermeneutik des Humanen in der Abhängigkeit zu einer Letztbegründung des Seins zu beschreiben und einen Ausblick darauf zu werfen, welche Lehren aus der Rezeption Barths und Nietzsches für eine aus theologischer Sicht konsistente Anthropologie gezogen werden könnten. Das VI. Kapitel beinhaltete neben einer Zusammenfassung den Versuch, das Anliegen der Studie für eine weitergehende Diskussion um die Philosophie Nietzsches und Theologie Barths anzuzeigen, das darin zu finden ist, beide in Bezug aufeinander in einer Fragestellung nach der Letztbegründung des Seins und seines Werdens zu lesen und zu interpretieren. Denn ausgehend von dieser Grundfrage können nochmals besondere Profilierungen ihrer jeweiligen Philosophie und Theologie gerade auf dem Hintergrund eines modernen und pluralismusfähigen Diskurses um das Sein und den Wert des Menschen vorgenommen werden.
II.
Friedrich Nietzsche und die evangelische Theologie der Jahrhundertwende
II.1
Ein Zugang zu Nietzsche und Vorstellung zentraler Denkfiguren
»– Hat man mich verstanden? – D i o n y s o s g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n …«52
»– Hat man mich verstanden?« Das ist die Frage Nietzsches an seine Leserschaft, Rezipienten und Interpreten, die den Fortgang der Studie in einer zeithistorischen Brille beschäftigen wird. Würde man diese Frage inszenieren, so wäre es wohl die Frage des einzelnen einsamen Schauspielers auf der leeren Bühne am Ende einer Aufführung. Das Stück ist gespielt, Emotionen ausgelebt, Einsichten beschrieben, und ahnungsvolle Reden geschwungen. Der Schauspieler spräche in Richtung des dunklen Saales, in Richtung seines Publikums, unsicher und doch erwartungsvoll. Eine Frage ins Off, auf der Suche nach Resonanz. Die Frage Nietzsches suggeriert dabei für den Hörenden mindestens zweierlei. Zum einen, dass es etwas zu verstehen gibt, einen Inhalt, ein Ziel des nietzscheanischen Denkens. Zum anderen, die beinahe mit Händen greifbare Befürchtung, dass sein philosophisches Werk eben gerade nicht verstanden, missverstanden oder gar unverstanden beiseitegelegt werden könnte. Und so scheint es, dass Nietzsche in seiner Schlussbemerkung im »Ecce homo« die zentralen interpretatorischen Fragen bezüglich seines philosophischen Werkes selbst angedeutet hat, der sich Interpreten und Rezipienten seiner Philosophie seit jeher gegenübersehen: Wie sind Nietzsche und seine Philosophie zu verstehen? Ist Nietzsches Philosophie ein systematisches philosophisches System, dem es argumentativ zu entgegen gilt? Oder ist Nietzsches aphoristische Philosophie doch eher als eine Art offenes Kunstwerk eines denkerischen Freiraumes zu verstehen, das von der Einbettung in zeithistorische Zusammenhänge und Vorstellungswelten des jeweilig Rezipierenden lebt und ohne diese in spezieller Weise unvollständig und unverständlich bleibt? Und davon ausgehend 52 Nietzsche, »Ecce homo«, 374.
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Friedrich Nietzsche und die evangelische Theologie der Jahrhundertwende
weiter gefragt: Gilt es also einen authentischen Nietzsche inmitten der jeweiligen zeithistorischen Stimmen, die ihn übertönt, symphonisch untermalt oder gar grotesk verzerrt haben, zwischen »kerygmatischen« und »historischen« Nietzsches herauszuschälen, bevor sich an eine Auseinandersetzung mit ihm gewagt werden könnte?
II.1.1 Eine Zeit der Gegensätze: Zwischen Moderne, Modernismus und Post-Moderne »Wir Europäer von Übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinn.«53
»Zwischen Moderne und Postmoderne«54, unter diesem Titel beginnt Niklaus Peter seine Studie »Im Schatten der Modernität« über Franz Overbeck (1837– 1905) und zeigt damit auch für die folgende Untersuchung eine wichtige Grundüberlegung auf. Es scheint von besonderer Bedeutung zu sein, diejenige Gegenwart zu fassen, in der sich Nietzsche als »Europäer von Übermorgen« nach eigenem Verständnis befand und daneben gleichfalls auch die Epoche zu beschreiben, in der eine populäre Nietzsche-Rezeption Fuß fassen konnte. »Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinem Namen die Erinnerung an etwas Ungeheuern knüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen a l l e s, was bis dahin geglaubt, gefordert und geheiligt war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.«55
Es kommt in diesen Worten Nietzsches eine grundlegende Terminologie der Krisis des Bisherigen und Gegenwärtigen in den Blick, die das Folgende wie ein basso continuo begleiten wird. Friedrich Nietzsche wie Karl Barth einte diese krisenhafte Gegenwartsbeschreibung in ihrer Sicht auf ihre Wirklichkeit und ist daher ein zentrales und weitreichendes Phänomen ihres zeitgenössischen Lebensgefühls, das es aus verschiedenen Blickrichtungen heraus zu betrachten gilt. Idealismus, Romantik, Moderne und Postmoderne scheinen das Konglomerat an Epochenbegriffen zu umreißen, denen es sich zu nähern gilt, wenn Nietzsches Philosophie in ihrer Genese und ihrer Rezeption eingeordnet werden soll. Wie schnell deutlich wird, ist die Beschreibung dieses zeitgenössischen Le53 Friedrich Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5, hrgs. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 151. 54 Niklaus Peter, Im Schatten der Modernität – Franz Overbecks Weg zur »Christlichkeit unserer heutigen Theologie«, Stuttgart, 1992. 55 Nietzsche, »Ecce homo«, 365.
Ein Zugang zu Nietzsche und Vorstellung zentraler Denkfiguren
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bensgefühls eine überaus diffizile Aufgabe. Denn dieses Lebensgefühl weiß sich einerseits eingebettet in eine komplexe historische Genese und andererseits dem fast schon aporetischen Versuch der definitorischen Fixierung von Zeit- und Epochenbegriffen gegenüber. Die Behandlung und Definition dieser Epochenbegriffe balanciert somit auf einem schmalen Grat, der von Überzeugungen und subjektiven Wahrheiten getragen zu sein scheint und je nach subjektiver Konstruktion der Wirklichkeit unterschiedlich auszufallen hat.56 Im Blick auf eine definitorische Herangehensweise an ordnende Epochenbegriffe zeigen sich solche Versuche bereits als unsachgemäß, die eine einzelne symbolträchtige Motivik, wie etwa für die Moderne einzelne Akteure wie Charles Baudelaire als deren literarischer Wegbereiter, Ereignisse wie die demokratisierende Revolution von 1848 als ihr historisch datierbaren Beginn oder philosophisch-literarische Veröffentlichungen wie Nietzsches »Morgenröthe« als ihre inhaltliche Charakteristik, als prägendes Moment in den Blick zu nehmen versuchen.57 Diese Annäherung erscheint der Komplexität der Sachlage eines Epochenbegriffs der Moderne unangemessen, da sich in dieser Einzelbetrachtung keine »tragfähige Grundlage für Konstruktionen wie Moderne und Postmoderne«58 finden lassen kann. Epochenbegriffe können vielmehr gerade nicht monokausal gedacht oder gar geschärft werden, sondern nur in einem diskursiven Miteinander verschiedenster Motiviken, was die Aufgabe ihrer Beschreibung selbstredend erheblich verkompliziert. Dabei kann die bereits angedeutete Überlegung, ob die Begriffe der Moderne und Postmoderne eher als eine Epoche im Sinne einer zeitlichen Periode oder aber als eine soziologischinhaltlich gefüllte Größe, im Sinne eines Lebensgefühls zu fassen sind, über die bisherigen angerissenen Zugangsmöglichkeiten zur Begriffsschärfung hinausführen. So ist abzuwägen, ob Moderne und Postmoderne Begriffe einer soziologischen, gesellschaftlichen oder eher einer philosophischen Zeitbeschreibung sein sollten. An der Darstellung und Definition der Begriffe zeigt sich also bereits das je subjektive Verständnis dieser Zeit. Denn nur durch eine zu vollziehende Fixierung und Hervorhebung bestimmter Beobachtungen kommt es zu einem schlüssigen Epochenbegriff von Moderne, Modernismus und Postmoderne, in der sich Nietzsches Philosophie zu bewegen scheint. Wer die Wirklichkeit zu beschreiben sucht, fahndet nach den für ihn herausstechenden Strukturmerkmalen, die er unter einen ordnenden Strukturbegriff zu scharen versucht. Für Nietzsche war dies wohl deutlich sein Wille »Neues« im Verhältnis zur Gegen56 Vgl. Peter V. Zima, Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen 3 2014, 21f. 57 Vgl. Zima, Moderne/Postmoderne, 24. 58 Zima, Moderne/Postmoderne, 25.
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Friedrich Nietzsche und die evangelische Theologie der Jahrhundertwende
wart zu schaffen und die programmatische Diskontinuität des Neuen im Verhältnis zum Vergangenen zu profilieren. Im Zusammenhang der vorliegenden Darstellung kann es also nicht darum gehen, eine monokausale fixierte Definition der Epochenbegriffe vorzulegen, sondern sie in ihrer Komplexität der verschiedenen Sigma zum Klingen zu bringen: Mit der These Zimas sollen »Moderne und Postmoderne hier weder rein chronologisch als Perioden, noch als Ideologien oder stilistische Systeme, sondern als Problematiken«59 begriffen werden. Zima geht zuerst einmal grundsätzlich davon aus, dass die Begriffe der »Moderne« und der »Neuzeit« sowie deren Ineinssetzung »mit dem Zerfall des Hegelschen Systems bei den Junghegelianern beginnt«60. Modernismus wird dabei im Rückgriff auf den Hegelschüler Vischer als das »Reflexivwerden der Moderne« gewertet, deren Aufgabenstellung sich auch Nietzsche selbst in seinem Werk gestellt zu haben scheint. Was macht aber diesen Modernismus aus? Zima verweist hierbei auf verschiedene Merkmale. Besonders der Zweifel an zentralen Gedanken der Aufklärung und des Rationalismus über die Wahrheit und der allgemeinen »Beherrschbarkeit der Welt im Rahmen des aufklärerischen und rationalistischen Fortschrittsglaubens«61, sei ein den Modernismus prägendes Charakteristikum. Die mit der Aufklärung einsetzende Religionskritik wurde fortgesetzt, jedoch zum ersten Mal nun auch die empirische Wissenschaft als deren Garant und bisheriger Motor in kategorischer Weise in Frage gestellt. Zima fasst wie folgt zusammen: »Moderne, Modernismus und Postmoderne sind jedoch als Ideologien, Weltanschauungen oder rivalisierende Ästhetiken kaum zu verstehen. Sie sind eher als gesellschaftliche und historische Problematiken aufzufassen: als soziolinguistische Situationen, in denen bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen gesucht werden.«62
So ist es wohl die Frage nach dem in der Kapitelüberschrift benannten »Zwischen« in den Jahren der Jahrhundertwende, nach der Verhältnissetzung von »Altem« und »Neuem«, nach der existentiellen Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft, die in der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen und religiösen Strömungen bzw. hermeneutischen Gegenwartsdeutungen und deren Bezugnahmen auf Nietzsche hervorsticht: Was garantiert nach der umfassenden Kritik an den ehemals verlässlichen Wirklichkeitsdeutungen neuen Grund und Halt? Am Ende des Kapitels steht mit der Betrachtung verschiedener Phänomene ein detailliertes Bild dessen vor Augen, in welchen Kontinuitäten und Dis59 60 61 62
Zima, Moderne/Postmoderne, 25. Vgl. Zima, Moderne/Postmoderne, 26f. Vgl. Zima, Moderne/Postmoderne, 28. Zima, Moderne/Postmoderne, 38.
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kontinuitäten sich die Zeit der Jahrhundertwende zwischen Moderne, Modernismus und Postmoderne konturierte und von dem, was sie sich selbst als die gestalterische Aufgabe ihrer Gegenwart gesetzt zu haben scheint.
II.1.2 »Beschreibt mich […] aber kommt nie in Versuchung mein Werk zu beurteilen.« Um sich »dem größten kulturpsychologischen Problem63«, wie Friedrich Nietzsche von Eduard Grimm (1848–1932) in seinem Buch64 1899 beschrieben wird, zu nähern, soll zunächst mit Carl Heinz Ratschow (1911–1999) und seiner systematisch umsichtigen Beschreibung Nietzsches sich in das undurchsichtige Terrain der Nietzsche-Interpretationen und Bilder der Jahrhundertwende vorgewagt werden. Zu diesen Sachverhalten und zu Nietzsche selbst ist die Literatur beinahe unüberschaubar und aus diesem Grunde sollen an dieser Stelle tragfähige Grundsäulen aufgestellt werden, die die Beschäftigung mit Nietzsche in dieser Arbeit stützen und bestimmen. Der Theologe Ratschow veröffentlichte 1985 einen Aufsatz zu Friedrich Nietzsche im Band »Nineteenth Century Religious Thought in the West«.65 In diesem Aufsatz nähert er sich dem Denken und der Person Friedrich Nietzsche, gibt entscheidende Hinweise zu einer wissenschaftlich-objektiven Begegnung mit Friedrich Nietzsche und versammelt daneben diejenigen Interpretationshinweise, die sich über die Jahrzehnte der Beschäftigung als hilfreich und ratsam erwiesen haben66. Ratschow arbeitet für die Auseinandersetzung mit 63 Die Verbindung der Person Nietzsches mit dem Begriff des »Problems« fordert zur Interpretation heraus. Allein die Verbindung des Personennamens mit dem Stichwort Problem lässt auf eine eng geführte Sichtweise in Bezug auf Nietzsches Werk und Person schließen, denn ein Problem erfordert eine Lösung, wobei sich durch die Lösungsfindung das Problem aufzulösen scheint. So betrachtet, wird Nietzsche als ein Gegenstand betrachtet, der mit entsprechenden Entgegnungen als abgeschlossen und gelöst angesehen werden kann. 64 Eduard Grimm, Das Problem Friedrich Nietzsches, Berlin 1899. 65 Carl Heinz Ratschow, Friedrich Nietzsche, in Nineteenth century religious Thought in the West. Vol. III., Cambridge 1985, 37–69. 66 Im Zusammengang mit solchen früheren Arbeiten soll hier auf das Buch von Ernst Bertram (1884–1957) und seiner differenzierten Sicht auf die Gestalt Friedrich Nietzsche hingewiesen werden. Unter den Vokabeln der »Mythologie« und der »Legende« versucht Bertram das an der Gestalt Nietzsche zu begreifen und zu beschreiben, was man »in Nietzsche und als Nietzsche zu sehen scheint«. Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 7 1929, 15. (Die Erstauflage stammt jedoch bereits aus dem Jahr 1918.) Dabei kommt es Bertram nicht darauf an, ein Entmythologisierungsprogramm für Nietzsche vorzulegen, sondern ihn in dieser mythenhaften Sicht als eine zeitlose und in sich schlüssige »Legende einer im engeren Sinne geschichtlichen Persönlichkeit« darzustellen (aaO. 10), die ihr Abbild in der jeweiligen Gegenwart vergegenwärtigen will. Das Buch Bertrams gewinnt 1918 einen »Preis für die drei besten, im Geiste Nietzsches geschriebenen Bücher«. Vgl. David Marc
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Friedrich Nietzsche und die evangelische Theologie der Jahrhundertwende
Nietzsche zuerst zwei verschiedene Arten der kritischen Auseinandersetzung entgegen seines eigenen systematischen Zugangs heraus, die beide in ihren Grundgedanken die wissenschaftlich gebotene Unvoreingenommenheit vermissen lassen. Entweder erkenne man in der Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedanken kein philosophisches Werk von besonderem Tiefgang oder aber man versuche Nietzsches Philosophie in die großen Linien der Philosophiegeschichte einzuordnen und damit zu zerstückeln und im Sinne des kritischen Rezipienten handhabbar zu machen. Für Ratschow ist keiner der beiden Wege zu beschreiten und für Nietzsches Philosophie unangemessen. Er beschreibt Nietzsche stattdessen als einen »religious thinker«67, der zwar kein ausgewiesener Kenner der zeitgenössischen Debatten war und nicht durch detaillierte Begründungsfiguren zu überzeugen suchte, sondern durch seinen emotionalen Schreibstil. Dies gilt es in der Auseinandersetzung mit Nietzsche angemessen zu berücksichtigen. Dabei macht Ratschow bei Nietzsche zwei bleibende Grundsätze stark, die die Beschäftigung mit ihm prägen sollten. Zum einen beschreibt er Nietzsches Gegenwart als eine Zeit der Gegensätze zwischen Aufklärung und Romantik mit ihren je eigenen Wirklichkeitsverständnissen, die Nietzsche beide gleichermaßen in einer ihm eigenen Art in sich vereinigen konnte, ohne dabei eine Lösung für diese Gegensätze bieten zu können oder zu wollen. Nach Nietzsches eigenem Verständnis fühlte er sich seiner Zeit nicht zugehörig und macht es daher für Interpreten grundsätzlich schwierig, ihn in das 19. Jahrhundert mit seinen vorherrschenden Strömungen und Überzeugungen zwischen aufklärerischem Rationalismus und der Philosophie Hegels einzuordnen. Dieser Grundkonflikt in Nietzsches Denken beschreibt für Ratschow einen großen inneren Zusammenhang der Werke Nietzsches. Auch Zima sieht, dass es »Nietzsche als Hegel-Schüler und Hegel-Kritiker immer wieder zu einer Zusammenführung der Gegensätze jenseits der Hegelschen Aufhebung [dränge]. […] [Denn] erst die Kehrseite der Medaille ermöglicht deren vollständige Erkenntnis, weil Gut und Böse, Vernunft und Unvernunft, Lust und Askese nicht voneinander zu trennen sind. […] Bei Nietzsche greifen nicht nur gegensätzliche Termini, sondern ganze semantische Ebenen, die konventionelles Denken auseinanderhalten möchte, ineinander : Wachstum und Niedergang, Wahrheit und Lüge, Misanthropie und Liebe, Lust und Unlust sind unentwirrbar miteinander Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmüller. Chronik, Studien und Dokumente, in Supplementa Nietzscheana 2, hrsg. v. Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin/ New York 1991, 90. Barth wiederum liest diese Studie, wie es aus dem Briefwechsel mit Thurneysen deutlich wird und sich in der Sichtung seiner Bibliothek bestätigt. Vgl. Karl Barth/Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, hg. von Eduard Thurneysen (Gesamtausgabe, Abt. V), Zürich (1973) 21987, 419. 67 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 37.
Ein Zugang zu Nietzsche und Vorstellung zentraler Denkfiguren
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verwachsen.«68 Die coincidentia oppositorum sollte daher als ein charakteristischer hermeneutischer Schlüssel zu Nietzsches Werk verstanden werden. Ein zweiter interessanter Sachverhalt an Nietzsche ist dessen Überzeugung, wonach alles durch einen »Willen-zur-Macht« bestimmt sei. Für Ratschow ersetzt »this belief in the supremacy of matter and of will […] for Nietzsche the Christian faith which he discarded in boyhood«69. Dieser evolutionistische Gedanke des Fortschritts in der Geschichte des Menschen hätte Nietzsche durch sein ganzes Schaffen hindurch begleitet. So gesehen zeigt sich Nietzsche nicht als ein spekulativer Philosoph, sondern als ein Realist, dessen philosophischer Drang sich aus seiner radikalen Opposition zu einem vorfindlichen Christentum speiste. Nietzsche hatte dabei nicht weniger vor, als eine Art Religions-Ersatz zu erschaffen, der die Lücke, die er mit seinem Angriff riss, schließen sollte. Ratschow wirft in seinem Aufsatz die Frage auf, wie sich Nietzsche am besten genähert werden könne und schließt aufgrund der oben beschriebenen Einsichten einen systematischen Zugang aus. Vielmehr müsse ein biographischer Zugang gewählt werden, denn Nietzsche spräche nur von dem, was er selbst erlebt habe. Seine Werke trügen einen starken autobiographischen Charakter und er selbst sähe sein Leben als ein folgendermaßen zu charakterisierendes Schicksal an: Die Krise der Gegenwart wird nur durch einen außergewöhnlichen Willensakt zu überwinden sein, zu dem Nietzsche bereit war. Daher sei es »impossible to separate Nietzsche’s thoughts from Nietzsche’s life-experiences«70. Hieraus ergeben sich für Ratschow folgende Konsequenzen. Zum einen sollten Nietzsches Gedanken stets als eine Art persönliche confessiones betrachtet werden, die nach Nietzsches eigener Aussage nicht beurteilt, wohl aber beschrieben werden können. Des Weiteren müssen Nietzsches Aussagen stets in einen biographischen Zusammenhang gebracht werden. So verwundert es wenig, dass man bei Nietzsche nach einer Zusammenfassung über eine bestimmte Thematik oder einen Begriff vergeblich sucht. Ja, er verzichtete sogar absichtlich auf eine solche Systematik, denn: »The will to system is a lack of integrity. So there is no single work of Nietzsche’s to which one could turn as a comprehensive and unambiguous summary of his position«71.
Nietzches aphoristischer Schreibstil kann als eine Begründung dieser Beobachtung, wenn auch sicherlich nicht zur einzigen, herangezogen werden. Wer aphoristisch schreibt, dem kommt es weniger auf die Darstellung einer zusammenhängenden Begründungsfigur an, als vielmehr auf die Zuspitzung be68 69 70 71
Zima, Moderne/Postmoderne, 304. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 39. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 40. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 41.
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Friedrich Nietzsche und die evangelische Theologie der Jahrhundertwende
stimmter dem Autor dienlicher und herausragender Themen und Bilder. Der Aphorismus zeichnet sich dabei auch bei Nietzsche dadurch aus, dass er nicht auf einen systematisch zusammenhängenden Textkorpus abzielt, sondern Spitzaussagen unverknüpft aneinanderreiht.72 Und dennoch lassen sich nach Ratschow Grundüberzeugungen Nietzsches in dessen Werken finden, die unveränderlich sind und durch die unterschiedlichen Schaffensperioden hindurch wiederentdeckt werden können. Die erste dieser Schaffensperioden datiert Ratschow bis ins Jahr 1874 mit der Vollendung der »I. – III. – Unzeitgemässen Betrachtungen«, die zweite Phase reicht bis ins Jahr 1881 und dem Beginn seiner Arbeiten zur »Fröhlichen Wissenschaft« und die dritte Phase schließlich umfasst seine Arbeiten an »Also sprach Zarathustra« bis zum krankheitsbedingten Ende seiner philosophischen und schriftstellerischen Tätigkeit.73 Eine entscheidende Konsequenz dieser Sichtweise auf Nietzsches Person und Werk ist die Einsicht, dass die unveröffentlichten Fragmente Nietzsches an Wichtigkeit gewinnen, da hier Nietzsche in seinem gedanklichen Laboratorium begegnet werden könne und seine Gedankengänge mitverfolgt werden können. Friedrich Nietzsche wuchs als Pfarrerskind nach dem frühen Tod des Vaters in einem weiblich dominierten und pietistisch geprägten Elternhaus auf und entwickelte wohl bereits in dieser frühen Phase seines Lebens seine Abneigung gegenüber dem Christentum und dessen Werte, wie sie für das bürgerlichkirchliche Milieu im Deutschland des 19. Jahrhunderts typisch waren. Bereits im Alter von 18 Jahren legte Nietzsche nach eigenem Verständnis den christlichen Glauben ab und griff ihn an, da er für ihn zum Ausdruck einer gefährlichen Illusion geworden war, die auf einer haltlosen Vermutung basiere. Dieses Aufdecken einer bis dato aller Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisse zugrundeliegenden Illusion, war für Nietzsche die große Erkenntnis seiner Gegenwart und der Beginn einer neuen Zeit, jenseits dieser tradierten Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnisse. Schon bei diesem jungen Nietzsche kommt nach Ratschow der Antagonismus zum Vorschein, den Nietzsche selbst als den Motor der Menschheitsgeschichte betrachtet und der ihn Zeit seines Lebens begleiten wird. Es ist der Konflikt, der Widerstreit zwischen dem Schicksal, welchem sich der Mensch passiv gegenüber empfinde und dem individuellen freien Willen, der ihn zur Aktivität aufrufe. Nietzsches Lösung sei dabei, zur Akzeptanz des eigenen Schicksals zu gelangen und nicht die Bekämpfung desselben voranzutreiben. Das Ziel sei das in eins
72 Bernoulli nahm noch an, dass Nietzsche diesen aphoristischen Schreibstil von Schopenhauer übernommen hatte und gleichzeitig zu überwinden suchte. 73 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 41.
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bringen der beiden Pole, ohne sich dabei abmildernden Illusionen der Realität hinzugeben. Für einen deutschen Gelehrten überaus untypisch erhielt Nietzsche 1869 ohne weiterführende wissenschaftliche Qualifikation eine Professur für Klassische Philologie an der Universität Basel. Ratschow beschreibt diesen Karrieresprung für den jungen Nietzsche als spannungsvoll, da er wohl zwischen den Anforderungen eines universitären Lehrstuhls und seiner eigenen Liebe zur Altphilologie eine Kluft verspürte. Bereits von Anfang an hätte sich Nietzsche von seinem akademischen Fach innerlich zunehmend distanziert und im Zuge der Entfremdung sich auch mehr und mehr gegen das deutsche Spießbürgertum gewandt, das für ihn den leiblichen Ausdruck einer wahrheitsverachtenden Lebensform darstellte. Die Begegnungen mit Schopenhauers Philosophie und mit dem musikalischen Werk Richard Wagners öffneten Nietzsche den Zugang zu »a holistic vie of the world, a disillusionment with prevailing conditions, and a drive towards new ideals«74. Gleichzeitig war diese Begeisterung für Schopenhauer und Wagner jedoch nicht von Dauer, sondern biographisch zeitgebunden und die »rebellion against both was inevitable«75. Als Zeichen von Nietzsches zunehmender Entfremdung vom akademischen Lehrbetrieb sieht Ratschow sein 1872 veröffentlichtes Werk »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« an, das zwar als philologischer Beitrag zur Antike gedacht war, jedoch zum Ausweis seines philosophischen Dranges wurde, welcher in den engen Grenzen seiner Disziplin dabei keinen Platz finden konnte. Den Winter zwischen den Jahren 1874 und 1875 sieht Ratschow als einen entscheidenden Wendpunkt in Nietzsches Denken an, denn »his notes from the time focus on three inter-related subjects: namely, antiquity, Christianity and education«76. Zusammengehalten werden diese drei Begriffe unter dem Stichwort der »the doctrine of man – his nature and his potential«77. Das Christliche hätte sich dabei stets feindschaftlich zur Antike gestellt und die antiken Überzeugungen über das Menschsein bekämpft. Die Humanität nach christlichem Verständnis hätte auf fatale Weise das natürlich Menschliche ersetzt, wie es die griechisch antike Philosophie erarbeitet und propagiert hätte. Eine Erziehung des Menschengeschlechts wurde für Nietzsche da nötig, wo die verquere Sicht des Christentums auf den Menschen bekämpft und abgetan werden wolle. Nietzsches Ersatz, seine Religion, charakterisiert Ratschow so:
74 75 76 77
Ratschow, Friedrich Nietzsche, 45. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 45. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 46. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 46.
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»Indeed, Nietzsche’s ›religion‹ at this point is pure futurism which makes no direct contact with the present world.«78
Nietzsches Interesse an der Vergangenheit ist daher höchst selektiv und nur da vonnöten, wo die Erziehung zum neuen Menschengeschlecht und Befreiung aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Gängelung noch von der Aufdeckung den christlichen Überzeugungen abhängig zu sein scheint. Stattdessen gebe es eine zweckfreie und immoralische Dimension der Zukunft, die nicht durch die Beschränkungen einer Gegenwart und ihrer Geschichte gegängelt und gegeißelt werden dürfe. Nietzsches Ziel ist der sich selbst aus alten Banden befreiende Mensch der Zukunft. Für die zweite Phase in Nietzsches Schaffen benennt Ratschow dessen Buch »Menschliches, Allzumenschliches«, in dem der Antihumanismus nach nietzscheanischer Prägung seinen stärksten Ausdruck finde. In dieser zweiten Phase verändere sich auch das Verhältnis von Kunst und Religion in Nietzsches Denken und die Kunst werde nicht länger als Schlafmittel betrachtet, sondern als eine Zugangsmöglichkeit zur Wirklichkeit. Dabei werde entscheidend, dass Nietzsche nicht von der platonischen Idee einer hinter der Wirklichkeit stehenden Idealität und Objektivität der Dinge ausgehe, der man sich durch Interpretation und Diskurse über Wahrheit und Lüge nähern könne, sondern die Wirklichkeit wird aus immer schon bestehenden verschiedenen Perspektiven gedacht, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Denn für Nietzsche gelte: »The ›World in itself‹ is an empty concept, worthy only of a Homeric laugh«79.
Diese verschiedenen Perspektiven auf die Wirklichkeit können also nicht länger aufgrund ihrer Nähe zu einer angenommenen objektiven Wahrheit beurteilt werden, sondern nur in Bezug auf ihre Nützlichkeit für das einzelne Individuum. Das menschliche Leben laufe dabei nach einer strikten Notwendigkeit ab, in deren Erkenntnis religiöse Denkmuster nur hinderlich seien. Deutlich werde dies auch in Nietzsches Gedanken zur »ewigen Wiederkehr des Gleichen« und der damit verbundenen »absolute necessity of all life’s happenings, and of man’s consequent lack of responsibility for his own actions«80. Die Wahrnehmung der Natur müsse daher frei werden von allen metaphysischen, moralischen und religiösen Konzepten, da diese stets die Illusion einer Objektivität des Seins in sich trügen. Das Konzept Nietzsches vom »Übermenschen« wird dabei für Ratschow nicht zu einem darwinistisch-biologischen Evolutionsgedanken, sondern zur konzeptionellen Beschreibung dieser neuen Art der Wahrnehmung, die frei sei von jeglichen Illusionen, auch von denjenigen, die sich als scheinbar 78 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 46. 79 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 51. 80 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 53.
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wissenschaftlich-objektiv ausgeben.81 Die absolute Freiheit des »Übermenschen« liege für Nietzsche darin, dass er die Vergänglichkeit des Seins kritiklos anerkenne.82 Dieser Gedanke, diese Freiheit des Seins werde selbst wiederum mit einem Gottesgedanken grundsätzlich unvereinbar : »Existence is conceived by Nietzsche as an eternal river, as a torrent of necessary, purposeless, physical occurrences.«83
Eine Philosophie der Zukunft müsse daher auf diese sich veränderte Ausgangslage eingehen und sich von allem frei machen, was sie behindere und einschränke. So ist auch schon die Benutzung der Sprache für Nietzsche als eine hinderliche Objektivierung des Seins zu problematisieren, weil sie sich an Regeln zu halten habe, die sie in einen rechten und falschen Gebrauch unterscheiden lasse. Nichts Anderes ist daher für Nietzsche real und angemessen, als allein der »Wille-zur-Macht« und daher als Grundlage für das Denken des »neuen Philosophen« angebracht: »Our morality, like our thought, consists in ›perspectival‹ judgements, or interpretations imposed upon the world, which we mistake for reality. […] Just as Nietzsche seems to have thrived on his own sense of isolation, so will the philosopher of the future. The ›new philosopher‹, in his solitude, embodies the creative will, which defies the stream of arbitrary physical happenings by willing ›the same again!‹«84
Die Philosophie der Zukunft kann dabei als ein Ausdruck der Postmodernität Nietzsches verstanden werden, die eine im hegelschen Sinne betriebene Geschichtsphilosophie als rückständig ansieht, da Nietzsche die Fragen nach der Wahrheit nicht mehr als eine lebensphilosophisch ertragreiche Beschäftigung ansieht. Nicht die Notwendigkeit bestimme das menschliche Sein, sondern der Zufall. Dies entspricht auch dem Bild der ewigen Wiederkehr des Gleichen, das Nietzsche dezidiert gegen die modern verstandene Geschichtsteleologie Hegels in Stellung bringt und an späterer Stelle näher in den Blick zu nehmen ist.
81 Nietzsche ist ein Philosoph der Dekonstruktion, der die »Fundamente europäischer Tradition« einreißen will: Logik, Metaphysik, Moral und die Religion in ihrer christlichen Ausformung sind in seinen Werken Zielpunkte dieser Dekonstruktion, weil sie alle Teile der Illusion über die Wirklichkeit des Seins sind. Die Dekonstruktion wird zur Notwendigkeit »seiner im Zeichen radikaler Umwertung stehenden Seinsauslegung und Sinnentwürfe«. Vgl. Margot Fleischer, Art. Nietzsche, in TRE Bd. 24, Berlin/New York 1994, 506–524. 82 Es ist wohl an dieser Stelle am deutlichsten der oben beschriebene Antagonismus zwischen freiem Willen und Schicksal zu erkennen. Der »Übermensch« kämpft nicht länger mit der Illusion einer Religion gegen sein eigenes Schicksal an, sondern bringt beides miteinander in Einklang. Er leidet nicht länger darunter, sondern nutzt das Potential dieses Antagonismus positiv-kreativ. 83 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 58. 84 Ratschow, Friedrich Nietzsche, 62f.
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II.2
Die theologische Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende
Die Rezeption literarischer und künstlerischer Werke entsteht in Verbindung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Einflüsse auf das rezipierende Individuum. In diese gesellschaftliche Großwetterlage der Jahrhundertwende gilt es daher nun im Sinne der eingangs vorgestellten Problemskizze einzutauchen, um Einflüsse und Folgen auf die Nietzsche-Rezeption darstellbar und bewertbar zu machen. Gerade bei einem aphoristischen Denker, als der sich Nietzsche präsentiert85, scheint diese Rückgebundenheit der Interpretationensmuster seiner Philosophie an gesamtgesellschaftliche Entwicklungen unabdingbar und sehr gewinnbringend. In Nietzsches Philosophie lassen sich die grundsätzlichen problematischen Frontstellungen und Veränderungen der Zeit auf eine gleichzeitig scharfe wie interpretationsoffene Art und Weise wiederfinden – so die These für das Kommende. Nietzsche selbst beschreibt den Anspruch seiner Philosophie und deren erhoffte gestalterische Auswirkungen auf die Gegenwart folgendermaßen: »– Nach neuen Philosophen […] nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und ›ewige Werthe‹ umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt.«86
II.2.1 Eine theologiegeschichtliche Gegenwartsdeutung der Jahrhundertwende Interessant scheint es daher, zunächst zeitgenössische Sichtweisen auf die Lage des Religiösen bzw. der Theologie und der sie umgebenden Gesellschaft zu werfen und nachzuverfolgen, wie Theologen die Jahrhundertwende mit ihren Herausforderungen beschrieben und in systematischer Weise zu kondensieren versucht haben. Die zu belegende These dieses Abschnitts wird dabei sein, dass die Beschäftigung mit Nietzsche stets ein Ausdruck der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen krisenhaften Lage war. Nietzsche wird so zum Zugang zu den 85 Ratschow geht davon aus, dass Nietzsche den aphoristischen Schreibstil nicht aus freier Wahl getroffen hatte, sondern in ihm die einzige adäquate Ausdrucksmöglichkeit seiner Gedanken erkannt hatte. Vgl. Ratschow, Friedrich Nietzsche, 49. Auch Bernoulli argumentiert in diese Richtung, wenn er schreibt, Nietzsche »spaltete vom Sprachstamm fortan Splitter um Splitter ab und schnitzte daraus seine Pfeile«. (228) Und auch Overbeck bestätigte diese Sicht und beschrieb Nietzsche als eine aphoristische Natur und dennoch finde sich »in dieser ganzen Denkweise der Ernst seiner Denkweise«. Carl Albrecht Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Eine Freundschaft. Nach ungedruckten Dokumenten und im Zusammenhang mit der bisherigen Forschung dargestellt, Bd. 1, Jena 1908, 229. 86 Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, 126.
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Problemstellungen der je eigenen Gegenwart und zu einem Diagnostiker der Zeit. Aufgrund der Vielzahl an literarischen Gegenwartsdarstellungen und in der Hoffnung auf eine gewisse theologische Pointierung, Problemsicherheit und der Aufgabenstellung dieser Studie entsprechend, werden dazu Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer87 und ihre jeweiligen Sichtweisen auf »Die Religiöse Lage der Gegenwart« untersucht und dahingehend betrachtet, welche für sie im Rückblick die entscheidenden Akteure und ideologischen Kräfte bildeten, um ein schlüssiges Bild dieser Jahre und ihrer Charakteristika zu zeichnen. Ausgehend von dieser historisch-systematisierenden Sicht auf die Jahrhundertwende sollen dann verschiedene theologische Autoren der Jahrhundertwende und ihre Nietzsche-Rezeption zur Darstellung kommen. II.2.1.1 Paul Tillich: »Die religiöse Lage in der Gegenwart« Paul Tillich (1886–1965) war »unter dem Eindruck des inneren Widerspruchs zwischen Religion und bürgerlicher Gesellschaft (infolge eines nur technischen Vernunftbegriffs und eines vernunftfeindlichen Offenbarungsverständnisses)«88 in seiner ab 1919 erarbeiteten Kulturtheologie daran interessiert, einen derartigen Widerspruch zu überwinden und eine Synthese zu erarbeiten, die das religiöse Gefühl und sein Denken kompatibel mit modernen Formen der rationellen Reflexion auszuweisen vermochte. Tillich hatte aufgrund seines theologischen Programms daher eine spezielle Sicht auf seine Gegenwart und verfasste 1926 in der Reihe »Wege zum Wissen« ein kleines Bändchen mit dem Titel »Die religiöse Lage in der Gegenwart«. »Von der gegenwärtigen Lage der Religion sollen wir reden, also irgendwie von der Gegenwart. Und da beginnt das Fragen schon. Wie ist es möglich, von der Gegenwart zu reden, wo doch die Gegenwart ein Nichts ist, eine Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, die keinerlei Breite hat, auf der darum nichts stehen und über die nichts ausgesagt werden kann? Darum geht es jedem, der von der Gegenwart reden will, unvermeidlich so, daß er von der Vergangenheit redet, der näheren oder der ferneren, und daß er von der Zukunft redet, der fernsten oder der nächsten. Und manchem, der von der Gegenwart reden will, geht es auch so, daß er von keiner der drei Zeiten redet, sondern von der Ewigkeit, die über den Zeiten ist. So hätten wir denn drei Antworten
87 Beide haben dabei ihre besondere Geschichte mit Friedrich Nietzsche, was deren Gedanken zur religiösen Lage der Gegenwart noch interessanter werden lassen. Tillich lernte Nietzsche und seine Schriften v. a. in seinem Kriegsdienst während des I. Weltkrieges kennen und zitierte aus ihnen gelegentlich in Frontbriefen an Familie und Freunde in der Heimat. 88 Erdmann Sturm, Art. Tillich, in RGG4 Bd. 8, Tübingen 2005, 410–412, 410.
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auf unsere Frage nach der Gegenwart: Gegenwart ist Vergangenheit, Gegenwart ist Zukunft und Gegenwart ist Ewigkeit.«89
Die zitierten einleitenden Zeilen Tillichs machen auf die grundsätzliche Problematik des Zugangs zu einer zeithistorischen Diagnostik aufmerksam. Zeitbeschreibungen sind, wie bereits angedeutet, komplexe Interpretationen der subjektiven Sicht auf die Wirklichkeit. Dabei sind diese Sichtweisen nach den Worten Tillichs getragen von vergangenen Ereignissen und erdachten oder konstruierten Zukunftsbildern. Im grundsätzlichen Rahmen von Ewigkeit und Zeitlichkeit, Individualität und Allgemeinheit sieht Tillich die epochale Ausgangslage gesellschaftlichen Nachdenkens seiner Zeit gezeichnet. Aus welcher Richtung heraus sich dabei an die menschliche Lebenswirklichkeit genähert werden könne, beschreibt nach der Ansicht Tillichs die große Frage der Jahrhundertwende in spezifischer Weise. Für ihn wird dies exemplarisch an der Frage deutlich und ausbuchstabiert, ob »das Lebendige verstanden werden [müsse] aus dem Unlebendigen, den Atomen und ihrer Zusammensetzung, oder ein eigenes Gebiet des Lebendigen […] angenommen werden«90müsse. Für den Theologen wird in dieser Fragestellung die Abfolge des Wirklichkeitsverständnisses deutlich: Ist Leben zuerst der Ablauf »physikalisch-chemischer Prozesse« oder aber ein Lebendiges, das als solches geisteswissenschaftlich wahrgenommen werden müsse und es erst in einem zweiten Schritt naturwissenschaftlich zu betrachten gelte. Tillich kommt dabei für seine Gegenwart zu einem eindeutigen Ergebnis und hält fest, dass »die Geisteswissenschaft […] zugunsten der Naturwissenschaft [abdanken musste]«91. So gesehen kann mit den Ausführungen Tillichs konstatiert werden, dass sich das Verhältnis von Individualität und Allgemeinheit im gesellschaftlichen Diskurs verändert hatte. Nämlich dahingehend, dass aus Richtung der Allgemeinheit, dem Objektiven heraus versucht wurde auf das Individuelle, das Subjektive zu blicken. Die Naturwissenschaften seien in die Lage gekommen, eine strenge Gesetzesmethodik zu entwerfen, der sich die Wirklichkeit, welche sich selbst wiederum aus Einzelnem, dem Individuellem zusammensetzt, unterwerfen musste. Gleichzeitig führt dies nach Tillich jedoch zu einer Problemanzeige, die er selbst wie folgt beschreibt: »In der Wissenschaft begann man zu erkennen, dass die Methode der naturwissenschaftlichen Abstraktion an einer Seite des Wirklichen vorbeigehen musste, dem Individuellen.«92
89 90 91 92
Paul Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 1926, 9f. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 29. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 18. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 34.
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Für das naturwissenschaftliche Ziel einer allgemeinen und umfassenden Wirklichkeitstheorie wurde es nach der Auffassung Tillich strukturell nötig, vom Individuellen als Ausdruck des geschichtlich Kontingenten zunehmend zu abstrahieren und konstante Allgemeinheiten zu definieren, die dabei jedoch nicht mehr in der Lage sind, die Gesamtheit als aus Individuellem bestehend in den Blick nehmen zu können. Tillich selbst weist in diesem Teil seines Bändchens auf Nietzsches Denken hin, der dieses sich verändernde Zusammenspiel als grundsätzlich problematisch betonte und sich daran abarbeitete.93 Tillich beschrieb damit die Zeit der Jahrhundertwende als eine, auf allen wissenschaftlichen Disziplinen in Richtung einer naturwissenschaftlichen Hegemonie sich annähernde intellektuelle Realität.94 Die exakten Wissenschaften seien in den Mittelpunkt der Weltdeutung gerückt und beschrieben in sich eine hierarchisch-aufbauende Struktur, die sich wie folgt strukturiere: »Die Wissenschaft dient der Technik […]; die Technik dient der Wirtschaft.«95
Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, dieses Dreigespann war nach Tillich das beherrschende Diktum der Jahrhundertwende. 1926 beschrieb Tillich somit ausgehend von der industriellen Revolution die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung einer kapitalistischen, die sich wissenschaftliche wie politische Mächte und Strukturen dienstbar machte.96 Die bürgerliche Gesellschaft, um das zentrale Stichwort Tillichs aufzunehmen, hätte diese Entwicklung getragen. Diese Gesellschaft wiederum zeichne sich »nach naturwissenschaftlicher Art« durch Individuen aus, die sich selbst in »Interessengegensatz und Interessensolidarität« in unterschiedliche Gruppierungen organisiert hätten.97 Nach Tillich ist unter der bürgerlichen Gesellschaft gerade nicht der »Geist einzelner Menschen, auch nicht einer Klasse oder einer Partei, 93 Vgl. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 28 und 34. 94 Tillich spricht in diesem Zusammenhang von drei »geistig mächtigen, symbolischen Schöpfungen: die mathematische Naturwissenschaft, die Technik und die Wirtschaft«. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 17. Getragen sei dieses Triumvirat durch die bürgerliche Gesellschaft worden, die sich wiederum diese Wissenschaften direkt dienstbar machen wollte. 95 Vgl. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 18. 96 Tillich sieht in der Stärkung des Nationalstaates ebenfalls den Trend zur kapitalistischen Gesellschaft vollzogen, da er geeignete Rahmenbedingungen für die wirtschaftlichen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft bereitstellen sollte. Vgl. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 18f. Auch der Pfarrer und Nietzscheinterpret Friedrich Rittelmeyer sieht die Sachlage einer ökonomischen Hegemonie bereits 1911 sehr ähnlich und schreibt: »Wir treten gegenwärtig hinein in eine neue Zeit, über deren Tor das inhaltsschwere Wort steht »Weltindustrie!« Die Maschine wird Königin; und diese Königin führt ein hartes, drückendes Regiment.« Friedrich Rittelmeyer, Friedrich Nietzsche und die Religion, Ulm 21911, 81. 97 Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 8.
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sondern […] das Symbol für eine letzte, grundlegende Welt- und Lebensdeutung«98 zu verstehen. Nach Meinung Tillichs seien die Kirchen »dieser Entwicklung gegenüber machtlos«99 gewesen. Auch hätten sie sich diesem Bestreben nicht einmal in einer kritischen Distanz halten können, sondern das deutsche Luthertum wäre vielmehr eine verhängnisvolle Verbindung zwischen »Staatskirchentum« und der »Heiligsprechung des nationalstaatlichen Machtwillens« eingegangen.100 Die Theologie hätte sich an die kantische Philosophie der Kritik gehängt und mit Schleiermacher den Glauben als ein Sondergebiet für sich beansprucht, in der Hoffnung, damit »allen Konflikten mit der Wissenschaft enthoben zu sein«101. Zudem hält Tillich fest, dass sich die »wichtigsten religiösen Bewegungen außerhalb der Religion«102 vollzogen hätten, was er wiederum für ein besonderes Charakteristikum seiner Zeit hält. Folgerichtig findet Tillich daher die größte Gegenbewegung zur Herrschaft des konventionell Bürgerlichen nicht in Kreisen des religiös-kirchlichen Diskurses, sondern in der Dichtung und nennt beispielsweise Ibsen (1828–1906)103, der mit seinem Werk »Kritik [an] der bürgerlichen Gesellschaft und [an] der Lüge ihrer Konventionen, aber mit ihren eigenen Maßstäben«104 geübt hätte. Es sei an dieser Stelle ein genauerer Blick darauf geworfen, wie Tillich Nietzsche in diese Ausgangslage einer Gegenwartsanalyse verortet. Grundsätzlich weist Tillich Nietzsche im Konnex seiner Gegenwartsbeschreibung einen kritisch-hellsichtigen und analytischen Blick zu, auf den Bezug nehmend einerseits versucht wurde, sich den Entwicklungen entgegenzustellen und andererseits, sich in der inhaltlichen Rezeption Nietzsches mit Lösungsstrategien zu profilieren. Der bereits genannte »Geist der bürgerlichen Gesellschaft« beschreibt für Tillich die grundsätzliche unkritische gesellschaftliche Eigenwahrnehmung, zu der sich unterschiedlich geprägte Gegenbewegungen positioniert hätten. Die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeichnete sich nach Tillich dadurch aus, dass »das Nationalgefühl, die religiöse Erneuerung, das Geschichtsbewußtsein, [allesamt] langsam aber sicher von dem technischwirtschaftlichen Geist aufgezehrt oder in Dienst gestellt wurden«105. Als OppoTillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 8. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 18. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 20. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 20. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 103. Neben dem Lyriker Ibsen, nennt Tillich auch den Dichter Björnson und selbstverständlich Nietzsche. 104 Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 56. 105 Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 21. 98 99 100 101 102 103
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nenten, als »Kämpfer gegen das Gegenwärtige und Propheten des Kommenden«106 benennt Tillich Nietzsche, Strindberg und van Gogh, die jedoch mit ihrer Kritik kaum Gehör finden konnten. Nietzsche wird von Tillich im Zusammenhang einer Lebensphilosophie genannt, die Nietzsche – im Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften – im Umgang mit der Irrationalität des Seins positiv und als Signum eines »schöpferisches Leben«107 konturiere. Unter dem Teilabschnitt »Das Individuelle und der Geist«108 benennt Tillich ein Zitat Nietzsches aus dessen »Also sprach Zarathustra«: »Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: (an der eigenen Qual mehrt es sich das eigene Wissen).«109
Tillich zeigt damit im Rückgriff auf Nietzsche an, wie zentral der Geist des Individuellen sich als Moment des menschlichen Lebens darstelle und gleichzeitig in der Gegenwart keinen Platz in der Sinfonie der exakten Wissenschaften fand, die die Hegemonie des Objektiven und Allgemeinen propagiert hätten. Tillich unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei philosophische Richtungen. Eine lebensphilosophische, unter der er die phänomenologische Richtung Husserls und ihrer Suche »nach der Wesenheit der Dinge selbst […], ganz unabhängig von der Existenzfrage«110 fasst. Methodisch gewinnt in dieser philosophischen Richtung die Ideenwelt Vorrang gegenüber dem natürlichen Dasein der Dinge. Demgegenüber grenzt er die pragmatische Philosophie111 formvollendet in Nietzsches »Willen-zur-Macht« ab. Auf die Wahrheitsfrage werde in dieser Form des Philosophierens verzichtet »und […] diejenigen Begriffe oder Fiktionen [für wahr erklärt], die lebensnotwendig und lebensstärkend sind«112. Diese pragmatische Philosophie ist damit verstärkt am individuellen menschlichen Leben und dessen Fortbestand interessiert. Der Kampf, den Nietzsche mit seiner Philosophie entgegen das Bestehende ausfocht, führte nach Tillich »zu einem dynamischen Hervorbrechen der Urkräfte Machtwille und Erotik«113, die es im kritischen Gegenüber zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft herauszustellen gelte. 106 107 108 109 110 111 112
113
Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 22. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 29. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 34. Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 134. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 44. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 44. Interessanterweise beobachtet Tillich, dass diese pragmatische Richtung zwar ihre geistigen Väter in der europäischen, respektive in der deutschen Philosophie habe, jedoch auf amerikanischem Boden weitaus stärker das philosophische Denken beeinflusse und beherrsche als in Europa. Vgl. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 44f. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 59.
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Zudem wird von Tillich die kritische Betrachtung eines zeitgenössischen Verständnisses der Humanität herausgearbeitet, welche ihre inhaltliche Begründung und Füllung vornehmlich aus den religionskritischen Ideen der Renaissance beziehe und damit dort im diametralen Widerspruch zu einem christlichen Verständnis der Humanität stehe, wo das kritische Moment des Unendlichen als Form der »Übermenschlichkeit [in der] Erschütterung des Menschlichen«114 verloren gehe. Mit diesem religionskritischen Erbe wurde im zeitgenössischen Verständnis der Humanität das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft in der bürgerlichen Gesellschaft wie folgt verortet: »Dem Einzelnen gegenüber ergibt sich das Ideal der geistig geformten, autonomen Persönlichkeit, für die Gemeinschaft ergibt sich das Ideal des freien Zusammenschlusses möglichst vieler, möglichst geformter Einzelpersönlichkeiten«115.
Daher wurde die Absolutheit des Individuums propagiert, das sich in seinem Selbstbezug von keiner anderen relationalen Bezugsgröße mehr beeinflussen lassen wolle. Nietzsche verschärfe die Opposition zwischen Individuum und Gemeinschaft dahingehend noch, dass er »der bürgerlichen Persönlichkeit die aristokratische, gehalterfüllte und doch formbewußte Persönlichkeit gegenüberstellt«116 und damit scheinbar einen gesteigerten individualistischen Egoismus propagiere. »Darum verbindet sich dieses Ethos [Nietzsches] so leicht und gern mit dem Ethos des unbegrenzten Machtwillens und des wirtschaftlichen, erfolgreichen, bürgerlichen Eroberertypus.«117
Diese von Nietzsche vorgetragenen Vorstellungen verbinden sich in ihrer Rezeption nach Tillich vielfach mit »Rassetheorie, nationaler Ideologie und romantischer Auffassung des Adels und der Führerschaft«118. Dabei wurde jedoch dort fälschlicherweise auf Nietzsche rekurriert, wo von zeitgenössischen Rezeptionen nicht erkannt wurde, dass »in Nietzsches Symbol des Übermenschen ein Hinweis auf das transzendente Unbedingte vorlag«119, was in gewisser Weise als eine Erschütterung des vorfindlich Menschlichen und damit als außenstehendes Korrektiv verstanden werden könne. Nietzsche wird von Tillich in seiner Wirkmächtigkeit auf seine Gegenwart kritisch in den Blick genommen und nationalistischen Rezeptionen entzogen, da er Nietzsche nicht lediglich als einen kritischen pragmatischen Philosophen sieht, der »an das Wunder der neuen, erlösenden Rasse, der schöpferischen 114 115 116 117 118 119
Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 100. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 100. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 100f. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 101. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 101. Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 101.
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Aristokratie«120 glaube und sich gerade nicht wie andere in einem nihilistischen Pessimismus suhlte, sondern aktiv, lebensbejahend und gestalterisch die Zukunft des Menschen angehen wollte. II.2.1.2 Dietrich Bonhoeffer Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) war als Theologe im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in besonderer Weise in die herausfordernde christlichtheologische Diagnostik seiner Zeit involviert, die nach seinem Verständnis erst dann in ihrem erkenntnistheoretischen Zentrum zu stehen kommt, wenn »die in Jesus Christus realisierte Einheit von Gottes- und Weltwirklichkeit«121 als Erkenntnis und Handlungsmaxime deutlich wird. Bonhoeffer verortete sich daher als Theologe und Christ auf unaufhebbare Weise im historisch-geschichtlichen Diesseits, wobei Verständnis und Gestaltung derselben in und aus christlichem Glauben geschehen sollten. Er verschränkte somit beides in der theologischen Reflexion ineinander, die detaillierte und profilierte Beschreibung der eigenen Gegenwart und die daraus folgenden Herausforderungen und Handlungsmaximen für ein christliches Leben. Bonhoeffer stellte in seiner Vorlesung »Die Geschichte der systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts«122 aus dem WS 1931/1932 die wilhelminische Gesellschaft in der Periode123 zwischen 1900–1914 als »eine der interessantesten überhaupt« dar.124 Unter Verwendung der Vokabel eines »deutschen Absolutismus« beschrieb Bonhoeffer den wahrzunehmenden »Drang des Über-sichHinauswachsens« des Menschen. Diese Selbstüberwindung sei selbst wiederum ein Ausdruck des zu kritisierenden zeitgenössischen Verständnisses vom »Verhaftetsein im Endlichen« und einer »Skepsis an Kultur und Mensch«, die sich mit einem »Drang des Übersichhinausgehens des bürgerlichen Geistes« verbunden hätte.125 Von dort ausgehend sei es dazu gekommen, dass der 120 Tillich, Die religiöse Lage in der Gegenwart, 116. 121 Christian Gremmels, Art. Dietrich Bonhoeffer, in RGG4 Bd.1, Tübingen 1998, 1683–1684, 1684. 122 Leider sind von dieser Vorlesung lediglich Mitschriebe überliefert. Um dennoch mit einiger Sicherheit davon ausgehen zu können, hier den authentischen Bonhoeffer zu hören, werden im Folgenden zwei Ausgaben der Werke Bonhoeffers mit etwas unterschiedlichem Wortlaut für diesen Abschnitt zu Rate gezogen, um im synoptischen Überblick der Texte möglichst belastbare Aussagen treffen zu können. 123 Im Rückgriff auf Schleiermacher definiert Bonhoeffer die Periode in Abgrenzung zur Epoche. Perioden sind demnach durch »ausbalancierte Kräfte und Sättigung« im Gegensatz zum Revolutionären einer Epoche geprägt. Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Die Geschichte der systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts, in Ökumene, Universität, Pfarramt 1931– 1932, Gütersloh 1994, 139–213, 140. 124 Bonhoeffer, Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, 141. 125 Vgl. Bonhoeffer, Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, 141.
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»Fortschrittsglaube, Bürgerstolz etc.« zu »Götzen« erstarrte, denen es gehorsam zu entsprechen galt.126 Als empirischen Ausdruck, dieses aus dem Götzen des Bürgerstolzes sich speisenden Selbstverständnisses, benennt Bonhoeffer etwas spitzzüngig und gleichzeitig sehr ernsthaft, die große Anzahl neu entstandener Gesangsvereine und die pathetischen Kompositionen Richard Wagners, die »den eigenen Ruhm besingen«127 und einem kriegerisch erzeugten deutschen Nationalgefühl nach der Reichsgründung 1871 Ausdruck verliehen. Die Kunst reagierte mit Ibsen, Strindberg, Dostojewski, van Gogh und den französischen Impressionisten auf diese Stimmung und versuchte ihr entgegenzutreten.128 Nietzsche wird von Bonhoeffer in diesem Zusammenhang in dessen »eschatologischen Erwartung des Übermenschen«129 benannt und im Gegenüber zu diesem Zeitgefühl verortet. Die Idee des Übermenschen ist für Bonhoeffer der konkret-personenhafte Ausdruck der Kritik Nietzsches an dem zu überwindenden Zeitgeist des bürgerlichen Stolzes. Für Bonhoeffer hatte sich die Theologie der Jahrhundertwende der Frage nach der grundsätzlichen Verhältnissetzung von Kultur und Religion gegenübergesehen. Unter der Begrifflichkeit der Religion wird laut Bonhoeffer allgemein, gerade auch außerhalb der Theologie, die starke Tendenz der Individualisierung des geistigen Lebens verstanden, die es dem einzelnen Menschen erlaube, sich über sich selbst bewusst zu werden und sich zu transzendieren. Dabei werde ausgehend von Schleiermacher Religion als »subjektivste und zugleich die umfassendste Qualität des Menschen«130 mit dem Christentum in eins gesetzt. Religion werde damit »letztlich [zu einer] Pädagogik«131 in der menschlichen Biographie. Bonhoeffer kann davon ausgehend drei markante Gesichtspunkte benennen, an denen das Interesse des wilhelminischen Staates und seiner Gesellschaft an der Religion bzw. dem Christlichen erkennbar wurde: (1.) Die Kirche wurde als eine pädagogische Institution verstanden, die den Staat hält und trägt.132 (2.) Die Religion sei als Produkt des menschlichen Intellekts der
126 Dietrich Bonhoeffer, Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, 142. 127 Bonhoeffer, Die Geschichte der systematischen Theologie des 20. Jahrhundert, in Seminare, Vorlesungen, Predigten: 1924 bis 1941, München 1972, 181–227, 184. 128 Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 184. 129 Bonhoeffer, Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, 142. 130 Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 186. 131 Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 185. 132 Unter diesem Gesichtspunkt verweist Bonhoeffer auf das wilhelminische Staatskirchentum mit seiner wenig rühmlichen engen Verbindung zwischen Staat und Kirche. Den Pfarrern sei dabei als Predigende und Lehrende eine staatstragende Rolle zugespielt worden, denn sie seien die »repräsentativste moralische Stütze der Gesellschaft« gewesen, bei denen eine »staatliche Loyalität« selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte. Vgl. Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 185.
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Ausdruck seines Dranges zur Selbsttranszendierung133 und (3.) sei die Religion lediglich als empirischer Gegenstand von Interesse für die Wissenschaften.134 Bonhoeffer führt diese Entwicklungen in Bezug auf die Religion zusammen und spricht von einer »erstaunlich kulturoptimistischen«135 Grundeinstellung136, die sich »in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts«137 Bahn brach und sich auf alle wissenschaftlichen Disziplinen ausgeweitet hätte. Doch hätte es auch die mahnenden Stimmen dieser Entwicklungen gegeben, solche wie die von Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, die die Gesellschaft und damit explizit wie implizit gerade auch die Theologie zur Neubesinnung aufgerufen hätten. Nietzsche wird von Bonhoeffer in die inhaltliche Nähe zu Feuerbach gestellt, wonach der Mensch zur Tätigkeit als »ens realissimus« aufgerufen werde und nach Nietzsche das menschliche Sein, in dessen Willen autonom und ohne den Rekurs auf einen transzendenten sich offenbarenden Geist, zu beschreiben sei.138 »Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang. Meine Beuhauptung ist, dass allen obersten Werthen der Menschheit dieser Wille fehlt, – dass Niedergangs-Werthe, nihilistische Werthe unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen.«139
In Nietzsches Sicht auf das Christentum verkenne dieses »den Menschen und die Welt und [werde zum] Todfeind der Kultur«140, denn das Christentum bestreite nach Meinung Nietzsches grundsätzlich die Autonomie des Menschen und sehe des Menschen Sein und Tun immer nur im Rekurs auf einen anderen, auf eine letztgültige göttliche Transzendenz ermöglicht. Für Bonhoeffer kommt zu dieser 133 »Religion wurde zur letzten und feinsten Möglichkeit des Menschen, die es ihm erlaubt, sich als gottverwandt zu entdecken.« Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 185. 134 Bonhoeffer beschreibt unter diesem Punkt die Vormachtstellung der naturwissenschaftlichen Disziplinen mit ihrem Diktum, wonach »der Gegenstand jeglicher Wissenschaft im Empirischen liegen müsse«. Die Theologie nahm laut Bonhoeffer diese Entwicklung dankbar an, da somit die Religion als Teildisziplin der historischen Wissenschaften und die religiöse Frömmigkeit innerhalb der psychologischen Wissenschaften betrachtet werden konnten. In diesem Verständnis der religiösen Äußerung und ihrer Quellen konnte im Zeitgeist der wissenschaftlichen Diskurse geschwommen werden. Vgl. Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 186. 135 Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 210. 136 Köster weist bei dieser Beschreibung Bonhoeffers zurecht darauf hin, dass Bonhoeffer hier mit einem wohlwollenden Blick auf Barths Wende spricht, die der Moderne nicht mit einer »apologetische[n] Defensive oder Offensive« entgegentreten wollte, »sondern [mit] einer über beide hinausweisenden theologischen und christologischen Zentrierung«. Vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 211. 137 Bonhoeffer, Seminare, Vorlesungen, Predigten, 215. 138 Friedrich Nietzsche, »Menschliches, Allzumenschliches«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 152. 139 Nietzsche, »Der Antichrist«, 172. 140 Bonhoeffer, Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932, 187.
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Gemengelage hinzu, dass die Theologie der Jahrhundertwende als grundsätzlich kritikscheu und an die vorherrschenden Strömungen angepasst beschrieben werden muss. Mit eigenen theologischen Meinungen hätte nicht angeeckt werden wollen, sondern Verbindungen zu anderen Kulturwissenschaften wären im Sinne einer Kultursynthese gesucht geworden und gegenteiligen bis kritischen Stimmen ihre Berechtigung beraubt oder ihre adäquate Problembeschreibung in Frage gestellt worden. So wäre auch mit der Kritik Nietzsches am christlichen Ethos und deren eigentlich angezeigten theologischer Reflexion verfahren worden. Diese letztgenannte Einsicht Bonhoeffers bietet einen interessanten Ansatzpunkt für die Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende: War die damalige Theologie nicht dazu bereit, sich ernsthaft kritisieren lassen? Hatte man sich in der allgemeinen gesellschaftlichen Gesamtlage eingerichtet und kritische Stimmen mundtot gemacht? Wurde Nietzsche und seine giftigen philosophischen Pfeile als ein unwillkommener Redner betrachtet, der die Theologie auf blinde Flecken zwar hätte hinweisen können, aber aufgrund des Verhaftetseins in der kulturoptimistischen gesellschaftlichen Mitte mit den bereits oben genannten Begegnungsstrategien leichtfertig abgeschmettert wurde? Im resümierenden Blick auf die Ausführungen von Tillich und Bonhoeffer fallen im Besonderen die sich deckenden Analysen einer problematischen Verhältnissetzung von Individuellem und Allgemeinem ins Auge, in denen in besonderer Weise auf Nietzsche zur Analyse und Erarbeitung von Lösungsansätzen rekurriert wurde. Daneben wird sehr deutlich, dass sich Nietzsches Philosophie im Besonderen zur kritischen Beschäftigung mit dem Vorfindlichen auf verschiedenen Ebenen eignete und im Rekurs auf seine Philosophie eigene Anfragen gestellt werden konnten. Ein veränderungsermöglichender und damit wirkungsvolle Zugang zu einem kritischen Blick auf sich selbst und die Ideale und Normen der eigenen Gegenwart, wird dabei von Tillich wie Bonhoeffer als ein intellektuelles Desiderat der Jahrhundertwende beschrieben. Ein Umstand, in dessen Problematisierung und Überwindung für beide der Philosophie Nietzsches eine entscheidende Rolle zuzusprechen ist.
II.2.2 Die Klangkulisse um Friedrich Nietzsche »Was für eine Bedeutung scheint doch dieser wunderliche Denker und Dichter im deutschen Geistesleben gewonnen zu haben.«141
141 Hartung, Rezension, in ThLZ, 1898, Nr. 12, 343.
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Mit diesen Worten beginnt 1898 in der Theologischen Literaturzeitung die Bücherbesprechung der neuesten zeitgenössischen Nietzscheliteratur. Die gedruckte Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie nimmt in der Zeit der Jahrhundertwende eine beachtliche Größe an. Auffallend ist im Überblick der Veröffentlichungen jedoch der Umstand, dass die theologische Beschäftigung mit Nietzsche vielfach in einer eher feuilletonistischen Feder geführt wurde.142 Diese Tatsache lässt Aufmerken und nach möglichen Erklärungsmodellen suchen. Köster benennt diese Besonderheit in seinem Aufsatz »Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts« und bietet darin 142 Hilfreich ist hier die Durchsicht der ThLZ, um sich einen Überblick über die in theologischen Kreisen wahrgenommene Nietzscheliteratur der Jahrhundertwende zu verschaffen. Von 1898–1926 werden in der ThLZ folgende Werke vermerkt: Ferdinand Tönnies, Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Leipzig 1897; Robert Schellwien, Nietzsche und seine Weltanschauung. Eine kritische Studie, Leipzig 1897; Julius Kaftan, Das Christenthum und Nietzsches Herrenmoral. Ein Vortrag, Berlin 1897; Otto Ritschl, Nietzsches Welt- und Lebensanschauung in ihrer Entstehung und Entwicklung, dargestellt und beurtheilt, Freiburg 1897; J.H. Wilhelmini, Th. Carlyle und F. Nietzsche. Wie sie Gott suchten und was für einen Gott sie fanden, Göttingen 1897; Eduard Grimm, Das Problem Friedrich Nietzsches, Berlin 1899; Albert Kalthoff, Friedrich Nietzsche und die Kulturprobleme unserer Zeit. Vorträge. Berlin 1900; Eugen Heinrich Schmitt, Friedrich Nietzsche an der Grenzscheide zweier Weltalter, Versuch einer Beleuchtung vom Standpunkte einer neuen Weltanschauung, Leipzig 1898; Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, Leipzig 1907; Karl Rösener, Moderne Propheten, Erster Band. Hartmann. Tolstoi, Nietzsche, München 1907; Heinrich Weinel, Ibsen. Björnson. Nietzsche. Individualismus und Christentum, Tübingen 1908; Paul Fischer, Nietzsche-Zarathustra und Jesus Christus, Stuttgart 1910; Eberhard Arnold, Urchristliches im Werdegang Friedrich Nietzsches, Eilenburg 1910; S. Friedländer, Friedrich Nietzsche. Eine intellektuale Biographie, Leipzig 1911; August Dorner, Pessimismus, Nietzsche und Naturalismus mit besonderer Beziehung auf die Religion, Leipzig 1911; Otto Ernst, Nietzsche der falsche Prophet, Leipzig 1914; Josef Spindler, Nietzsches Persönlichkeit und Lehre im Lichte seines ›Ecce homo‹, Stuttgart 1913; Erich Hocks, Das Verhältnis der Erkenntnis zur Unendlichkeit der Welt bei Nietzsche. Eine Darstellung, Leipzig 1914; Hans Schaffganz, Nietzsches Gefühlslehre, Leipzig 1913; Julius Frehn, Nietzsche und das Problem der Moral, Neubabelbsberg-Berlin 1912; Karl Rösener, Der Kampf ums Ich. Eine Auseinandersetzung zwischen christlichem und nietzscheanischem Individualismus, Gießen 1914; Sodeur, Kierkegaard und Nietzsche. Versuch einer vergleichenden Würdigung, Tübingen 1914; Julius Reiner, Friedrich Nietzsche der Immoralist und Antichrist, Stuttgart 1916; Simon, Richtlinien christlicher Apologetik wider Nietzsche, Berlin 1917; H. Grützmacher, Nietzsche. Ein akademisches Publikum, Leipzig 3. Auflage 1917; Heinrich Hasse, Das Problem des Sokrates bei Friedrich Nietzsche, Akad. Antrittsvorlesung, Leipzig 1918; Friedrich Muckle, Friedrich Nietzsche und der Zusammenbruch der Kultur, München 1921; Christoph Schrempf, Friedrich Nietzsche, Göttingen 1922; Karl Justus Obenauer, Friedrich Nietzsche der ekstatische Nihilist, Jena 1924. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Großteil der hier aufgeführten Bücher in ihrer inhaltlichen Analge auf Vorlesungen und kürzeren Vorträgen basiert. Diese Auflistung soll an dieser Stelle nur dazu dienlich sein, um eine Vorstellung davon zu bekommen, in welchem Ausmaß und unter welchen Titeln die damalige Nietzsche-Rezeption verlief. Eingehende Rückschlüsse können dabei wohl kaum gewonnen werden, jedoch ein Gespür für die barth’sche Ausgangslage seiner literarischen Begegnung mit Nietzsche.
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verschiedene Lösungsansätze an.143 Die Nietzschekommentierung hätte größtenteils auf Vorträgen und kurzen Artikeln beruht, was Köster dazu veranlasst in der theologischen Auseinandersetzung mit Nietzsche von einem »Traktätchenniveau« und einem damit einhergehenden sehr oberflächlichen Zugang zu Nietzsches Philosophie zu sprechen.144 Zitate Nietzsches in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen tragen für Köster daher die Anzeichen des Zufälligen. Hirsch sprach in diesem Zusammenhang 1926 mit seinen Worten von »unsere[n] durchschnittliche[n] Nietzsche-Schriftsteller[n] (!) (Nietzsche-Forscher mag ich [sc. E. Hirsch] nicht sagen)«145 und bestätigt damit das von Köster konstatierte feuilletonistische Niveau der Nietzscherezeption. Als »schmückendes Ornament« oder als eine »Autorität der Christentumskritik« seien die Aussagen Nietzsches für die eigenen theologischen Gedanken zurechtgestutzt geworden.146 Erklärungsversuche lassen sich für diese Beobachtungen und Eindrücke der Nietzschebehandlung zahlreiche denken. Ist diese Beobachtung womöglich schon mit der plötzlichen Popularität Nietzsches zu erklären, die eine rasche und entsprechend dem aphoristischen Stil Nietzsches feuilletonistisch geschärfte Entgegnung hervorgerufen hatte? Oder provozierte Nietzsche schlicht aufgrund seines eigenen emotionalen Stils entsprechend emotionale Entgegnungen? Die zeitgenössische Popularität und der emotionale Stil Nietzsches mögen einen Einfluss gehabt haben, können aber gleichzeitig erst den Weg anzeigen, den es zu beleuchten gilt. Es wird sich wohl eher ein Konglomerat an unterschiedlichen Gründen und Entwicklungen vor Augen zu führen sein. Heidegger147 als einer der wichtigsten deutschsprachigen Nietzscheinterpreten sprach vom »Lärm der um ihn [sc. Nietzsche] herum[stand]«148 und dessen Rezeption orchestriert hätte. Die enormen gesellschaftlichen Veränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Nationalismus und Moderne, Aufklärung und Romantik, Aufbruch und Zerstörung, wie sie durch die Be143 Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 175–270. 144 Vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 189. Dies wird auch anhand verschiedentlicher Vorbemerkungen in der zeitgenössischen Literatur deutlich, in denen darauf hingewiesen wird, dass die Veröffentlichung von Nietzsches Werken immer noch zunimmt und in der Anfangszeit der Rezeption in sehr unterschiedlicher Qualität nur auf Sekundärliteratur zurückgegriffen werden konnte. 145 Hirsch, Rezension, in ThLZ, 1923, Nr. 12, 257. 146 Vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 178. 147 Heidegger selbst war auch von 1935–1942 an der Erarbeitung einer historisch-kritischen Werkausgabe Nietzsches beteiligt. Vgl. Hoffmann, Nietzsche Archiv, 105. Auf genauere Untersuchungen zu Heideggers Nietzsche Interpretation kann hier nicht weiter eingegangen werden. Verwiesen sei jedoch auf Heideggers zweibändiges Nietzschewerk und Wolfgang Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, Berlin/New York 2000. 148 Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, 12.
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schreibung der religiösen Lage von Tillich und Bonhoeffer angedeutet wurden, waren sicherlich die zeitbestimmenden Wahrnehmungen. Das Bild der Jahrhundertwende, als eine Zeit der krisenbewusst selbstreflexive Gegenwartshermeneutik und -kritik, zeigt sich bereits in ihren verschiedenen und mannigfaltigen musisch-künstlerischen Aufbrüchen zwischen Impressionismus, Expressionismus, Wiener Schule, Ansätzen einer modernen Architektur entgegen neogotischer, -barocker und klassizistischen Bauten oder auch eines Dadaismus entgegen einer spießbürgerlichen Komfortzone.149 Mit Blick auf Nietzsche und sein philosophisches Werk fällt er als ein wirkmächtiger Stilist und Aphoristiker150 auf, der sich, wie es die verschiedenen Interpretationen und Auseinandersetzungen belegen, sehr unterschiedlich und teilweise sogar widersprüchlich interpretieren ließ und bis heute lässt. In dieser disparaten bis schrillen Nietzsche-Rezeption lassen sich wohl mehrere Klangkörper ausmachen, die durch Nietzsches Philosophie in Verbindung mit gesellschaftlichen Entwicklungen zum Klingen gebracht wurden. Drei Annäherungsversuche an diese Klangkörper in Form eines werkspezifischen, eines soziokulturellen und eines theologischen sollen dazu im Folgenden gewagt werden. Dieses Vorhaben wird jedoch nicht mit dem Ziel verfolgt, durch die Offenlegung nach und nach zu dem wahren Kern der Philosophie Nietzsche vordringen zu können, sondern die Rezeption Nietzsches in Bezug auf die sie umgebende Wirklichkeit durchsichtig zu machen. I. Der schwierige Weg zur Erstellung einer kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches.151 II. Wahrscheinlich die größte gesellschaftliche Zäsur, die die Nietzscherezeption beeinflusste, war der sich im beginnenden 20. Jahrhundert verstärkende Nationalismus in Europa und dessen Weg152 in den I. Weltkrieg153. Dieser
149 Hier seien nur einige wenige Beispiele des künstlerischen Aufbruchs rund um das Fin de SiHcle genannt, wie die sogenannte Künstlergruppe der »Blaue Reiter« (Gabriele Münter, Wasily Kandinski und Franz Marc), der aus Wien, München und Darmstadt stammende Jugendstil (Wiener Secession) zwischen Historismus und Moderne und musikalisch Claude D8bussy oder die neue Wiener Schule mit ihrer Erweiterung der klanglichen Grenzen bei Arthur Schönberg und Alban Berg. 150 Der Rezensent Hartung der ThLZ beschreibt 1898 bestätigend die allgemeine Beobachtung, wonach vielfach vom breiteren Publikum nur Ausschnitte aus Nietzsches Werken zur Kenntnis genommen wurden und diese in den seltensten Fällen in Gänze gelesen wurden. »Nietzsche wird mehr gekostet, als studiert.« Hartung, Rezension, in ThLZ, 1898, Nr. 12, 344. 151 Dabei ist der Umstand zu beachten, dass erst 1967 mit der Veröffentlichung einer kritischen Gesamtausgabe (KSA) der Nietzsche-Werke begonnen wurde und erst seit 1975 auch ein Zugriff auf Nietzsches Briefe möglich wurde. Vgl. Fleischer, Art. Nietzsche, 521. 152 Vgl. Barths Beurteilung des Manifests der 93 zum Ausbruch des I. Weltkrieges unter III.1. Auch in der Interpretation Nietzsches wird der I. Weltkrieg als entscheidendes veränderndes
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politisch wie gesellschaftlich brisanten Zeit wird sich durch das Phänomen der Konservativen Revolution genähert werden. III. Der Historismus als besonderes Signum dieser Zeit und Ernst Troeltsch als zentraler theologischer Denker des Historismus und seiner Diskussionslinien.
II.2.2.1 Die Veröffentlichung von Nietzsches Schriften Der Zugang und die Erstellung einer kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches war ein komplexer und schwieriger Prozess, bei dem es verschiedene Zuständigkeiten in der Nachlassverwaltung und unterschiedliche Verwerfungen zwischen verschiedenen Protagonisten und ihren jeweiligen Interessen gab, wie es Hoffmann in seiner Studie »Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs« eindrücklich zu schildern vermag. Seine chronologische Abhandlung liest sich dabei fast wie ein Thriller mit Intrigen, Verleumdungen und Anfeindungen rund um das schriftliche und ideelle Erbe Nietzsches.154 Den Ausgangspunkt dieses Thrillers bildete der Zusammenbruch Nietzsches im Januar 1889 in Turin und die im selben Jahr gerichtlich angeordnete Entmündigung Nietzsches bei gleichzeitiger Einsetzung von zwei Vormündern.155 Entsprechend dieses Umstands herrschte bezüglich der Veröffentlichung von Nietzsches nachgelassenen Schriften ein Gewirr an Zuständigkeiten, in dem verschiedene Personen wie die Mutter Nietzsches Franziska Nietzsche, Freunde wie Franz Overbeck und Heinrich Köselitz und auch Nietzsches Verleger Carl Gustav Naumann teilweise sehr eigenmächtig handelten und verfügten.156 Eine besonders zwielichtige und gleichzeitig überaus findige Stellung nahm Nietz-
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Momentum wahrgenommen und beschrieben. Vgl. hierzu auch die aufschlussreiche Einleitung zur zweibändigen Kröner’schen Werkausgabe Nietzsches von 1938 [1926]. Der Rezensent des Theologischen Literaturblattes Grützmacher hält dazu 1916 in den Vorbemerkungen seiner Rezension über Julius Reiner, Nietzsche der Immoralist und Antichrist fest, dass Nietzsches Werke wohl nicht selten auch den Weg in deutsche und feindliche Schützengräben gefunden hatten und eine Jugend in ihrer Sicht auf den deutschen »Willen-zur-Macht« geprägt hätte. Der I. Weltkrieg forderte daher zu einer neuerlichen Auseinandersetzung mit Nietzsche auf, die der veränderten gesellschaftlich Situation Rechnung zu tragen hatte. Vgl. Grützmacher, ThLbl 1916, 37, Heft 19, 364. Befördert wurde diese Verbreitung der Schriften Nietzsches ebenfalls durch eine besonders günstige Kriegsausgabe des »Zarathustras« verlegt durch den Verlag Alfred Kröner in den ersten Kriegsjahren. Vgl. Hoffmann, Nietzsche Archiv, 88. David Marc Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmüller. Chronik, Studien und Dokumente, in Supplementa Nietzscheana 2, hrsg. v. Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Berlin/New York 1991. Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 6. Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 3ff. V. a. ging es hierbei um die Schriften Nietzsches »Ecce homo«, »Zarathustra IV« und »Der Antichrist«.
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sches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche nach ihrer Rückkehr 1891 aus ihrem kolonialistischen Abenteuer in Paraguay ein, die sich von da an in die Nachlassverwaltung der Schriften, dem Aufbau eines zentralen Archivs und die Erstellung einer Gesamtausgabe des Œuvres ihres Bruders sehr aktiv einmischte und gar einen Alleinvertretungsanspruch für sich geltend zu machen versuchte157. Hoffmann zitiert Elisabeth Förster-Nietzsche aus einem Artikel der Bayreuther Blätter aus dem Jahr 1894: »Eine andere große Lebensaufgabe: [sc. sie meint in dieser Abgrenzung wohl das Protegieren des kolonialistischen Erbes ihres 1889 durch Suizid verstorbenen Ehemannes Bernhard Förster ›Neu-Germanien‹] die Pflege meines einzigen treuen Bruders, des Philosophen Nietzsche, die Sorge für seine Werke und Beschreibung seines Lebens und Denkens, nimmt von jetzt ab meine ganze Zeit und Kraft in Anspruch«158.
Köselitz und Overbeck, als langjährige und mit dem späten Nietzsche bestens vertraute freundschaftliche Wegbegleiter, schienen ob diesem entfachten Interesses Elisabeth Förster-Nietzsches am Nachlass ihres Bruders einigermaßen beunruhigt, denn beide wurden 1893 dazu aufgefordert, die bei ihnen verbliebenen Originalmanuskripte der bis dato unveröffentlichten Schriften »Zarathustra IV«, »Ecce homo« und »Der Antichrist« an Elisabeth Förster-Nietzsche auszuhändigen.159 Overbeck begab sich im Nachgang dieses Schreibens zunehmend in eine private wie juristische Auseinandersetzung mit Elisabeth Förster-Nietzsche, die mit einem tiefen Zerwürfnis zwischen beiden endete.160 Overbeck unterstellte Elisabeth Förster-Nietzsche wohl zu Recht, das Erbe ihres Bruders für eigene Zwecke zu missbrauchen und einen solchen Nietzschekult entwickeln zu wollen, der kaum etwas mit der historischen Person Nietzsches gemein hatte.161 Besonders kurz nach Nietzsches Tod und während der Zeit der Erstellung der sogenannten Großoktavausgabe kam es zwischen beiden zu privaten wie gerichtlichen Scharmützeln, da Elisabeth Förster-Nietzsches 157 Dieser Umstand wird z. B. auch von Emmanuel Hirsch in einem süffisanten Ton beschrieben und die Schwierigkeit betont, wonach verschiedene Ausgaben auf dem Büchermarkt zu finden waren, bei denen die notwendige Sorgfalt einer editorischen Arbeit vermisst worden sei und sich die Mühen eines Abgleiches mit Originalhandschriften gespart oder gar schlicht unmöglich gewesen seien. Vgl. Hirsch, Rezension, ThLZ, 1925, Nr. 5, 114– 116, 115. 158 Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 12. 159 Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 12f. 160 Overbeck hielt beispielsweise auch Zeit seines Lebens seine Korrespondenz mit Nietzsche dem von Elisabeth Förster-Nietzsche betreuten Nietzsche-Archiv vor und vermachte die Korrespondenz stattdessen testamentarisch der Balser Universitätsbibliothek. Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 24f. 161 Die Anspielung auf die theologische Diskussion rund um einen »historischen« und »kerygmatischen« Jesus ist hier gewollt, zeigt sie doch in ihren Implikationen und Zielsetzungen diejenigen Fragekomplexe auf, die sich in ähnlicher struktureller Weise für eine Rezeption Nietzsches ausweisen lassen und dabei unterschiedlich beantwortet wurden.
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Overbeck vorwarf, zu Beginn der Erkrankung162 Nietzsches 1889 dessen Manuskripte unterschlagen bzw. entwendet zu haben.163 Neben diesen privaten Fehden waren es auch die unterschiedlichen Angaben Nietzsches in den aufgefundenen handschriftlichen Manuskripten bezüglich seiner Werkvorhaben, die Anlass zu nachträglichen Eingriffen in Nietzsches Werk führten. Beispielhaft sei das von Nietzsche selbst angekündigte vierbändige Werk der »Umwertung« genannt164, welches in dieser Form von Nietzsche nie fertig gestellt worden war, sondern lediglich »Der Antichrist«, welchen er jedoch laut eigener Aussagen in privaten und damit nicht öffentlich zugänglichen Briefen, als die Vollendung seiner ganzen »Umwertung« angesehen hatte. Köselitz als Kenner und Freund des späten Nietzsches sah sich dazu berufen, dieses werkliche Desiderat der »Umwertung« zu schließen und Nietzsches nachgelassene Schriften systematisch zu ordnen und unter dem Titel »Der Wille zur Macht« zusammenzustellen. In diesem Vorhaben spielte jedoch nicht zuletzt seine prekäre finanzielle Situation hinein, die Elisabeth Förster-Nietzsche für ihre Zwecke nutzte und entsprechend Einfluss auf die Textarbeit Köselitz nahm.165 Dieser Eingriff wiederum erfüllte Elisabeth Förster-Nietzsches »langjährige Sehnsucht nach einem ›theoretisch-philosophischen Hauptprosawerk‹ ihres Bruders«166, dessen Nichtexistenz sie als großen Makel des philosophischen Œuvres ihres Bruders ansah. Elisabeth Förster-Nietzsche, die sich selbst um biographische Veröffentlichungen bemühte167, hielt darüber hinaus gezielt Schriften ihres Bruders zurück 162 Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 61–65. 163 Auf Overbeck wie Elisabeth Förster-Nietzsche gehen jeweils Traditionen des Nietzscheverständnisses zurück. Elisabeth Förster-Nietzsche steht dabei mit den Arbeiten des Weimarer Nietzsche-Archivs für die sogenannte Weimarer Tradition: »Hauptcharakteristiken sind: heroische und mythifizierende Interpretationen von Leben und Werk Nietzsches, Auswahl, Unterdrückung, thematische Anordnung und z. T. Fälschungen bei Nachlaß- und Briefausgaben, autokratische Verwaltung der Archivalien durch Elisabeth Förster-Nietzsche.« Im Gegensatz hierzu etablierte Overbeck ein Gegenarchiv in Basel, das sich einer wissenschaftlich nachvollziehbaren historisch-kritischen Methodik verpflichtet sah. Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 94f. 164 Zur genauen Publikationsgeschichte vgl. Hoffmann, Nietzsche- Archivs, 72–75. 165 Hoffmann schreibt: »Während seiner Mitarbeit im Archiv (1900–1904) machte sich Köselitz als willenloses Werkzeug mitschuldig an Elisabeth Förster-Nietzsches Unterdrückungen, Zurechtbiegungen und Fälschungen.« Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 45. 166 Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 50. 167 Vgl. beispielhaft: Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen, hrsg. v. Elisabeth Förster-Nietzsche, München 1924. Im Vorwort (VIII) äußerst sich FörsterNietzsche auch zu den kritischen Stimmen über ihre Arbeit und schreibt: »Man hat hie und da gesagt, daß ich das Bild meines Bruders auf Goldgrund gemalt hätte. Hier habe ich nun alle Dokumente ausgebreitet und bitte, sorgfältig zu prüfen und selbst das Bild vom werdenden Nietzsche zu malen, von welchem Erwin Rohde noch 25 Jahre später sagt: »er war wie eine neue Offenbarung menschlichen Wesens«.«
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bzw. unterschlug solche, die sich nicht in ihr Bild und v. a. in ihre eigene innige Freundschaft mit Cosima Wagner fügen wollten. Daneben waren solche Zeugnisse ihres Bruders ihr ein besonderer Dorn im Auge, die die Beziehung zur Mutter Nietzsches anders hätten sehen lassen können als in Elisabeth FörsterNietzsche verfassten Biographie oder aber solche, die den strafrechtliche Tatbestand der Blasphemie hätten erfüllen können. Elisabeth Förster-Nietzsche sah sich daher des Öfteren zu gezielten redaktionellen Eingriffen eingeriffen genötigt.168 Die Erarbeitung einer umfassenden Gesamtausgabe und ihre Veröffentlichung stockte und verzögerte sich über Jahrzehnte hinweg, da auch hier Elisabeth Förster-Nietzsche wütete und eine Schneise von Zerwürfnissen und Entlassungen nach sich zog. Mit verschiedentlicher Unterstützung besorgte Elisabeth Förster-Nietzsche die Weiterarbeit und Veröffentlichung der Gesamtausgabe sogar zeitweise selbst, was sich für einen wissenschaftlichen Anspruch der Gesamtausgabe aufgrund ihrer angedeuteten Eigeninteressen nicht unbedingt als förderlich erwies. Die dritte Gesamtausgabe169, die sogenannte Großoktav- und Kleinoktavausgabe, die auch Karl Barth nutze, erschien in den Jahren 1899–1926170 und konnte als erste und über Jahrzehnte hinweg einzige Werkausgabe von sich behaupten, Nietzsches Werk in Gänze zu beinhalten. Darin sind jedoch v. a. die beiden Nachlassbände Bd. XII (»Darstellung der Wiederkunftslehre«171) und XV (»Der Wille zur Macht«172) höchst bedenklich, da gerade diese erheblich nachgearbeiteten Bände von manchen zeitgenössischen Interpreten als summa der Philosophie Nietzsches betrachtet wurden.
II.2.2.2 Die »Konservative Revolution« »Jede Revolution gebiert mit sich selbst zugleich die Gegenkraft, welche diese Revolution rückgängig zu machen sucht. Und mit der Französischen Revolution kommt die Welt zum Siege, die der »Konservativen Revolution« als der eigentliche Gegner erscheint. Wir möchten sie vorläufig als eine Welt umschreiben, die das Unveränderliche 168 Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 15f. An anderer Stelle schreckte Elisabeth FörsterNietzsche auch nicht davor zurück, einzelne Manuskripte ihres Bruders schlichtweg zu vernichten. 169 Die erste Gesamtausgabe wurde 1892–1894 von Köselitz unter dessen Pseudonym Peter Gast besorgt, jedoch von Elisabeth Förster-Nietzsche eingestampft und die zweite Koegel’sche Ausgabe (1895–1897) durch Entlassung des Herausgebers abgebrochen. Vgl. Hoffmann, Nietzsche Archiv, 37 und 715–717. 170 Nietzsches Werk »Ecce homo« erscheint beispielsweise erst 1908. Vgl. Hoffmann, NietzscheArchiv, 78f. 171 Hrsg. v. Albert Lamm 1906, zitiert nach Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 68. 172 Hrsg. v. Albert Lamm 1906, zitiert nach Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 68.
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im Menschen nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern glaubt, das Wesen des Menschen verändern zu können. Sie proklamiert deshalb die Möglichkeit eines stufenweisen Fortschritts, hält alle Dinge, Beziehungen und Geschehnisse für verstandesmäßig durchschaubar und sucht jeden Gegenstand zu vereinzeln und allein aus ihm selbst zu begreifen.«173
Mohler beschreibt in seiner epochemachenden Studie die »Konservativen Revolution« als »jene geistige Eineuerungsbewegung, welche das 19. Jahrhundert hinterlassene Trümmerfeld aufzuräumen und eine neue Ordnung des Lebens zu schaffen«174 suchte. Wie es aus dem obigen Zitat deutlich wird, begriff sich die »Konservative Revolution« als Gegenbewegung zu einer modernistischen Weltsicht, die sich aus den gemeinhin modernen und revolutionär angesehenen Ideen und Wahrheiten der Französischen Revolution zwischen Libert8, Egalit8 und Fraternit8 speiste. Speziell die Jahre zwischen 1871 und 1918 hatten zu einer Modernisierung der Gesellschaft geführt, die nach Breuer auf zwei verschiedenen Ebenen verortet werden muss. Dabei resultierten die Probleme bzw. dieses »Trümmerfeld« »nicht aus der Spannung zwischen vormoderner und modernen Strukturen, sondern aus der zwischen zwei verschiedenen Stufen der Modernisierung: der einfachen und der reflexiven Modernisierung«175. Unter der einfachen Modernisierung sei die Freisetzung von Arbeitskraft und einer politischen Willensbildung zu verstehen, die durch die zunehmende Industrialisierung und den 1871 gegründeten deutschen Nationalstaat ermöglicht geworden wären. Ein allgemeiner Individualismus konnte sich in dieser Modernisierung Bahn brechen und sollte sich gleichzeitig in ein größeres Ganzes eingebettet fühlen, um nicht in Richtung von Anarchie und Selbstzerstörung zu führen, sondern zu Ordnung und Berechenbarkeit. Unter dem Reflexivwerden der Modernisierung müsse demgegenüber die Aushöhlung und Infragestellung der die zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft tragenden Säulen verstanden werden. »Wurden im 18. Jh. ständische Privilegien und religiöse Weltbilder durch die sich autonom setzende Vernunft entzaubert, so wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jh. diese Vernunft ihrerseits entzaubert und mit ihr das gesamte Institutionsgefüge der bürgerlichen Gesellschaft.«176 Nietzsche selbst leistete dieser Reflexivwerdung durch sein Schaffen Vorschub, wenn er die moralische Grundlegung der Gesellschaft an sich problematisierte und für obsolet erklärte. »Die Moral erschien als ein Symptom der 173 Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 41994, 11. 174 Mohler, Die Konservative Revolution, XXVIII. 175 Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 21995. 176 Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 16.
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Dekadenz«177, deren Überwindung und Problematisierung sich besonders Nietzsche verschrieben hatte. Breuer verweist in diesem Zusammenhang auf »zwei Eigentümlichkeiten der deutschen Entwicklung«178. Zum einen auf die in der territorialen und konfessionellen Zersplitterung beruhenden Heterogenität der deutschen Gesellschaft und zweitens auf die »Existenz des Bildungsbürgertums«.179 Unter diesem Stichwort kann sich nochmals eines nietzscheanischen Spezifikums genähert werden, welches er in der »Geburt der Tragödie« als das Epigonentum und in Auseinandersetzung mit D.F. Strauß in seiner »Unzeitgemässe Betrachtung. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller« als das Phänomen des »Bildungsphilister«180 beschrieben hatte. Nietzsche schreibt: »Er [sc. der Bildungsphilister] fühlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntnis, fest überzeugt, dass seine ›Bildung‹ gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei: und da er überall Gebildete seiner Art vorfindet, und alle öffentlichen Institutionen, Schul- Bildungs- und Kunstanstalten gemäss seiner Gebildetheit und nach seinen Bedürfnissen eingerichtet sind, so trägt er überallhin das siegreiche Gefühl mit sich herum, der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu sein und macht dementsprechend seine Forderungen und Ansprüche.«181
Das Bildungssystem war verstärkt auf die Wissensvermittlung der klassischen Antike ausgerichtet, was Nietzsche in seiner »Unzeitgemässe Betrachtungen II.« problematisierte und ihn »zu einem Proteste gegen die historische Jugenderziehung des modernen Menschen nöthigt«, stattdessen »fordert[e er], dass der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche«182. Dieses Bildungsideal hätte der Gesellschaft und »dem Modernisierungsprozeß in Deutschland ihren Stempel«183 aufgedrückt. Die Kultivierung des eigenen Selbst sei als Ziel dieses bildungsbürgerlichen Ideal ausgerufen worden, was aber gleichzeitig zu einer zunehmenden Frag177 178 179 180
Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 16. Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 17. Vgl. Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 18. Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller« [Unzeitgemässe Betrachtuntgen I.], Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, Berlin/New York 1967–77 und München 21988. Nietzsche führt in diesem Abschnitt die Unterscheidung zwischen »Philister« und Bildungsphilister ein, wobei letzterer sich einem »Aberglauben« hingebe: »Er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein«, was einem Philister so nicht in den Sinn käme. Vgl. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtuntgen I.«, 164f. 181 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtuntgen I.«, 165. 182 Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 325. 183 Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 18.
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mentierung der Gesellschaft geführt hätte.184 Denn dieses Ideal überforderte das Individuum, das daran zu scheitern hatte, die immensen und massiven Entwicklungen und Veränderungen in den Naturwissenschaften in der Bildungsgeschichte des Einzelnen adäquat abbilden zu können. Breuer weitet den Blick und verweist als Manifestation dieser Beobachtung darauf, dass »in der »Malerei, der Musik, der Literatur […] die Stile in rascher Folge einander ab[wechselten], [sich] zerfaserten und unüberschaubar [wurden]. Der Kulturbegriff, ja der bis dahin gültige Wertekanon insgesamt wurde in nicht abreißenden Provokationen demaskiert und demontiert«185. »Der Sonderling, der sich wie ein alter Keiler vom Rudel trennt, ist eine typische Gestalt des Interregnums. Seine Worte werden verstärkt durch den Widerhall der Einsamkeit, in die sie gesprochen werden.«186
»Zwischenzeit«, »Interregnum«, »Aufbruch«, »Revolution« und »Provokation« sind die zentralen Begriffe einer intellektuellen Strömung, die in Nietzsche ihren 184 Breuer spricht in diesem Zusammenhang von einer Individualisierung, die »genau das Gegenteil von dem bedeutete, was es [sc. das Bürgertum] unter Individualität verstand, nämlich Atomisierung, Diskontinuität, Selbstverlust«. Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 19. 185 Oexle findet genau diejenigen »Momente, die Ernst Troeltsch 1922 mit dem Begriff »Die Krisis des Historismus« bezeichnet hatte«, in den literarischen Texten von Thomas Mann, Hermann Hesse oder auch Erich Kästner wieder. (Vgl. Otto Gerhard Oexle, Troeltschs Dilemma, in Ernst Troeltsch »Historismus«, hrsg. v. F.W. Graf (Troeltsch-Studien Bd. 11), Gütersloh 2005, 23–64, 24) Diese Einsicht wird im speziellen noch für Barth interessant werden, da auch er sich im literarischen Genre den existentiellen Themen zu nähern versuchte (vgl. III.4). Im Besonderen wandte er sich der Literatur Dostojewskis zu, um hier wohl entscheidende Hinweise zur Entwicklung seiner Theologie zu finden. Die Wende, ausgelöst durch den I. Weltkrieg und den damit einhergehenden »politischen und sozialen, die ökonomischen, intellektuellen und mentalen Krisen der zwanziger Jahre«, wurde »nicht nur analysiert, sondern zugleich mit ihren literarischen Imaginationen anschaulich vor Augen« gestellt. (Vgl. ebd., vgl. hierzu auch Hong Liang, Leben vor den letzten Dingen. Die Dostojewski-Rezeption im frühen Werk von Karl Barth und Eduard Thurneysen (1915– 1923), Neukirchen-Vluyn 2016.) Oexle verweist weiterhin als Speerspitze dieser literarischen Imaginationen auf Robert Musils, Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 1930/1933 in dem »von der Entzauberung und Rationalisierung der Lebenswelt« erzählt werde, die für Musil »zwei Aspekte und Ursachen« hätten. Auf der einen Seite sei dies »die Verwissenschaftlichung des Lebens durch das wissenschaftliche Denken« und die zweitens damit einhergehende »Überfülle an historisch vermittelten Ideen und Orientierung«. (AaO. 24– 25.) Die Krise wird von Musil also in der Abkehr vom Lebendigen und in der Hinwendung zum Statischen gesehen, was die Wirklichkeit einschränke und daneben eine unübersichtliche Komplexität erschaffe, die ihrerseits wiederum den Menschen in seinem Leben und Handeln lähme. Vordenker einer »Konservativen Revolution« war u. a. Oswald Spengler, der selbst eine Freundschaft zu Elisabeth Förster-Nietzsche pflegte und sich ihrer Arbeit im Archiv und der Verbreitung eines des öffentlichen Nietzschebildes inhaltlich nahe fühlte. Auch Thomas Mann, Carl Schmitt, Hans Blüher und Ernst Jünger sind hier zu nennen. Vgl. Hoffmann, Nietzsche-Archiv, 96 und 98. 186 Mohler, Die Konservative Revolution, 28.
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»Keiler«, ihren philosophischen Gewährsmann und Ideengeber mit seinen Stichwörtern des Nihilismus und der ewigen Wiederkehr des Gleichen betrachtete. Nietzsche sah sich – und mit ihm die Konservative Revolution – nicht nur einer gesellschaftlichen Überzeugung gegenüber, sondern einer überzeitlich ideell verstrickten lebensmindernden Kultur. Das Christentum als religiöse Überzeugung und Inbegriff dieser kulturellen Vorstellungswelt, transportiert die Überzeugung eines linearen Fortgangs der Geschichte. Im speziellen die Figur Christi und dessen Auferstehung figuriert als Aufbrecher oder gar Sprenger des Ringes eines ewigen Kreislaufs des Seins. Geschichte entsteht in der christlichen Überzeugung allein vom Ende her, in der Perspektive des aufbrechenden Eschatons, des Jüngsten Gerichts, so die Ansicht der Vertreter der Konservativen Revolution. Durch diesen Endpunkt und den im Christusereignis gesetzten Anfang hätte es erst zu dem kommen können, was der Mensch als Geschichte und Historie auffasse. Eine Geschichtsteleologie, die Nietzsche und mit ihm die Idee der Konservativen Revolution zu problematisieren versuchten.187 Durch Nietzsches Angriff auf den Historismus, das christliche Wirklichkeitsverständnis und mit seinem Propagieren der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«, sei dieses linear teleologische Weltbild188 im Laufe des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu einem Ende gekommen. Ihm entgegen sei das Weltbild des Kyklikers zu stehen gekommen. Das Bild des zeitlichen Werdens und Vergehens als das einer Kugel, bei der »in jedem Augenblick alles eingeschlossen [ist], […] Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen«189, wurde zum Gegenentwurf. Nietzsche fasst diesen Gedanken in seine Metapher der »Wiederkehr des Gleichen«, wobei das Ganze sich stets gleichbleibend gedacht wird und nur das Einzelne sich darin verändernd auftreten kann. Ein Fortschrittsgedanke der Geschichte wird so von Nietzsche für obsolet erklärt und die Geschichte mündet stattdessen im nietzscheanischen amor fati.190 Nietzsche lässt dies die Tiere in einem Zwiegespräch mit Zarathustra folgendermaßen poetisch vortragen: 187 Vgl. Mohler, Die Konservative Revolution, 82f. 188 Daneben zeigt Mohler auf, dass durch dieses lineare Denken verstärkt in absoluten Kategorien gedacht wurde, speziell in den moralischen Dimensionen von Gut und Böse. Es gibt daher eine klare Definition von dem, was als gut und was als böse angesehen wird. In der Sprache der christlichen Überzeugung den sündigen Menschen und ihm gegenüber den Menschen, der durch die Gnade Gottes erlöst wurde. Dezidiert anders verstand die Konservative Revolution das Sein des Menschen und propagierte ausgehend von Nietzsche eine »ästhetische Anthropologie«. Vgl. Mohler, Die Konservative Revolution, 125f. 189 Mohler, Die Konservative Revolution, 85. 190 »Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal
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»Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder ; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. Im Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.«191
Moeller van den Bruck definierte den Konservatismus in einem Aufsatz ausgehend von diesen Eindrücken »nicht als ein Hängen an dem, was gestern war, sondern als ein Leben aus dem, was immer gilt«192. Mohler seinerseits hielt davon ausgehend fest, dass der Konservative »nicht allein in der Zukunft wie der Fortschrittsgläubige und nicht allein in der Vergangenheit wie der Reaktionär [lebt] – er lebt in der Gegenwart, in welcher, sofern sie erfüllte Gegenwart ist, Vergangenheit und Zukunft vereint sind.«193 II.2.2.3 Der Historismus oder »Die zentrale und signifikante Problem-Geschichte der Moderne«194 Der Historismus und dessen Problematisierung wurden zum Kumulationspunkt wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse anhand dessen die wahrgenommene Krise der Gegenwart betrachtet und in der zeitgenössischen Wahrnehmung pointiert dargestellt werden konnte. In einer ersten Annäherung kann der Historismus dahingehend beschrieben werden, dass es in den damit zusammenhängenden Diskursen um die Verarbeitung und Einordnung eines Bruches als dem Merkmal der Moderne im Verhältnis des Geschichtlichen mit dem Jetzt und der gleichzeitigen In-Verhältnis-Setzung einer Allgemeinheit zum Individuum ging. Hierbei wird es nun interessant werden, neben der Annäherung an das Phänomen des Historismus, gerade auch eine positive wie kritische Rezeption Nietzsches im Rahmen eines theologischen Diskurses näher in den Blick zu nehmen.
191 192 193 194
nur noch ein Ja-sagender sein!« Friedrich Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 521. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 272f. Der Ring, 408–410 4. Jg. H. 22, 30. 5. 1931. Der »Ring« war eine konservative bis nationalsozialistische Wochenzeitung aus den frühen 1930’iger Jahren. Mohler, Die Konservative Revolution, 116. Vgl. Otto Gerhard Oexle, Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition, in: ders. Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne (Kritische Studien der Geschichtswissenschaft Bd. 16), Göttingen 1996, 95–136, 95.
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II.2.2.3.1 Ernst Troeltsch: »Geschichte durch Geschichte überwinden« Ernst Troeltsch (1865–1923)195 »gilt als führender theol. Krisendiganostiker im Deutschland der klassischen Moderne um 1900«.196 Sein wissenschaftlicher Impetus war von der Idee geleitet, den christlichen Glauben mit den aufkommenden wissenschaftlichen Rationaltiätsstandards seiner Gegenwart zusammenzudenken. In diesem Vorhaben war er vom zeitgenössischen konstruktiven theologischen Historismus inspiriert und daran interessiert, den modernen historisierenden Blick auf das Gewordensein der Wirklichkeit197 und der damit einhergehenden »relativistische[n] Erschütterung überkommener Glaubensgewißheiten und »Kulturwerte« […] konstruktiv zu begrenzen»198. Troeltsch lernte dabei, wohl u. a. im Kontext einer in der Moderne problematisch gewordenen Begründung einer allgemeingültigen Ethik, Nietzsche als Inbegriff der Relativität jeglicher Wertmaßstäbe kennen, der es im Sinne der Abwehr eines postaufklärerischen Nihilismus zu begegnen galt. In seinem christlich-theologischen Selbstverständnis entwickelte Troeltsch dabei ein »praktisches Gestaltungsinteresse« am Christentum, welches nicht erst durch die Anwendung zuvor gewonnener theoretischer Einsichten angestoßen wurde, sondern »vielmehr selbst Bedingung und Bestandteil einer theologischen Struktur des Christentums«199 ist, was Troeltsch wie folgt zusammenfasst: »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung«200.
Daher war Troeltsch Zeit seines Lebens im Sinne einer aktiven Ausgestaltung ein engagierter und kritischer Beobachter des religiösen Lebens seiner Gegenwart und einer damit in der Reflexion verbundenen Theologie. Nach Drehsen hatte Troeltsch mit seinem theologischen Lebenswerk das Ziel verfolgt, eine »christliche Frömmigkeitspraxis in ihrem Verhältnis zur sozialen Welt- und Selbstge195 Zur Biographie vgl. Trutz Rendtorff, Art. Ernst Troeltsch, in TRE Bd. 34, Berlin/New York 2002, 130–143. 196 Friedrich Wilhelm Graf, Art. Troeltsch, in RGG4 Bd. 8, Tübingen 2002, 628–632, 628. 197 Pfleiderer beschreibt die Periode zwischen 1870–1930 als eine Zeit, in der in den Geistesund Kulturwissenschaften intensiv über den Historismus und seine Möglichkeiten für das Verständnis der Wirklichkeit diskutiert wurde. Vgl. Georg Pfleiderer, Glaubensgewissheit im Zeitalter der Wissensgesellschaft. Die individualitätstheoretische Religionstheorie der Absolutheitsschrift von Ernst Troeltsch, in Christlicher Wahrheitsanspruch – historische Relativität. Auseinandersetzungen mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heutiger Religionstheologie (Christentum und Kultur. Basler Studien zu Theologie und Kulturwissenschaft des Christentums Bd. IV), Zürich 2004, 280–330, 284f. 198 Graf, Art. Troeltsch, 628. 199 Kristian Fechtner, Volkskirche im neuzeitlichen Christentum. Die Bedeutung Ernst Troeltschs für eine künftige praktisch-theologische Theorie der Kirche, (Troeltsch-Studien Bd. 8), Gütersloh 1995, 27. 200 Ernst Troeltsch, Was heißt »Wesen des Christentums«? (1903), in Gesammelte Schriften von Ernst Troeltsch. Zweiter Band. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 386–451, 431.
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staltung unter den Bedingungen der Neuzeit«201 zu erarbeiten, um so den Anforderungen an eine Theologie unter »den Bedingungen der Moderne«202, welche sich in einer allgemeinen Relativität von Wahrheit und Normen auszeichnete, begegnen zu können. Besonderes Augenmerk soll an dieser Stelle auf zwei Schriften Troeltschs geworfen werden. Zum einen auf seinen Artikel zum Verhältnis von Glauben und Geschichte in der RGG1 und Troeltschs letztes Schriftwerk, welches er 1922 unter dem Titel »Der Historismus und seine Probleme« in zwei Bänden publizierte. In diesem Werk umreißt er sein Verständnis des Historismus als der »entscheidende[n] Signatur der kulturellen Moderne«203. Graf beschreibt im Rückgriff auf Troeltsch dessen Definition von Historismus als eine Denkweise, wonach »prinzipiell alle geistigen Gehalte in einer komparativen und entwicklungsgeschichtlichen Perspektive wahrgenommen werden«204 können. Dabei wurde der Historismus für Troeltsch nicht nur zum Problem einer fachwissenschaftlichen Binnendiskussion, sondern zu einem Phänomen, dessen Auswirkungen gesamtgesellschaftlich wahrgenommen werden konnten. Der Historismus war zugleich Befreiung und Herausforderung für das zeitgeschichtliche Denken. Befreiung dort, wo tradierte Wahrheitsgehalte kritisch betrachtet werden konnten und Herausforderung da, wo durch den Wegfall einst haltgebender Normen und Wahrheiten, die Etablierung und Begründung eines neuen Ethos jenseits bisheriger Begründungsfiguren anzugehen war. In der ersten Auflage der RGG aus dem Jahr 1910 verfasste Troeltsch den Artikel »Glauben«. Im IV. Abschnitt unter dem Titel »Glaube und Geschichte« kommt er genau auf jene Verhältnissetzung zu sprechen, die in der Moderne kritik- und unglaubwürdig geworden zu sein schien. Troeltsch betont, dass der Glaube grundsätzlich nicht ohne eine Geschichtsbeziehung denkbar sei. Denn diese geschichtliche Beziehung garantiere, dass Glaubensinhalte nicht nur aus einem individuellen Subjekt entsprungen seien und damit nicht nur in diesem begründet seien.
201 Volker Drehsen, Die »Normativität« neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte. Zur aktuellen Bedeutung der klassischen Religionssoziologie Ernst Troeltschs, in Protestantismus und Neuzeit, hg. von Horst Renz (Troeltsch-Studien Bd. 3), Gütersloh 1984, 257–280, 273. 202 Niklaus Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck. Das Problem des Historismus in der Perspektive zweier Theologen, in Ernst Troeltsch »Historismus«, hg. von F.W. Graf (Troeltsch-Studien Bd. 11), Gütersloh 2005, 94–122, 94. 203 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme / Ernst Troeltsch. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf; Teilbd. 1+2, Kritische Gesamtausgabe 16,1, Berlin 2008, 11. 204 Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung, in Ernst Troeltsch »Historismus«, hg. von F.W. Graf (Troeltsch-Studien Bd. 11), Gütersloh 2005, 9–22, 10.
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»Er [sc. der Glaube] ist aus geschichtlicher Erschließung des göttlichen Lebens entstanden und bedarf der Klarheit und Kraft der beständigen Rückbeziehung auf diese lebendig der Phantasie gegenwärtige Grundlage«.205
Der christliche Glaube garantiere daher in seiner Geschichtsverbundenheit über Generationen hinweg bis hin zu seinem Ursprung in Jesus Christus eine Selbsttranszendierung und Transformierung, die sich der Mensch nicht aus sich selbst heraus geben könne, sondern die ihm von außen in der Beziehung durch Gott vermittelt und in den geschichtlich-existentiell offenbarten Ereignissen seines Lebens zugänglich werde. Diese im Menschen wirksamen Veränderungen wiederum rufen den Einzelnen in die, diese Wahrheit tragende und aktiv gestaltende Gemeinschaft der Kirche. Troeltsch hält fest: »Die Geschichte aufgeben würde für den G.n heißen sich selbst aufgeben und sich mit den flüchtigen und inhaltlosen Regungen begnügen, die die sich selbst überlassende Subjektivität aus sich allein hervorbringt.«206
In der Moderne sei nun jedoch diese Verhältnissetzung des Glaubens und der Geschichte zunehmend angefragt und problematisiert worden. Die »Individuelle Autonomie« führe zu einer Haltung, die sich nicht länger von scheinbaren historischen Zufälligkeiten abhängig machen wolle, die je nach wissenschaftlicher Betrachtung unterschiedlich beurteilt und in der Sache selbst angelegten Relativität erkannt werden müssen. »So ist das Verlangen nach Freiheit von der Geschichte auch eine allgemeine Zeitstimmung, die nur die Rückwirkung auf ein Uebermaß geschichtlichen Denkens und Wissens ist. […] Die alte Stellung zur Geschichte ist nicht zu behaupten. Eine Menschheitsgeschichte von unermeßlichen Zeiträumen, eine gleichmäßige Bedingtheit und Endlichkeit alles geschichtlichen Geschehens, eine allgemeine Herrschaft der Prinzipien historischer Kritik sind zuzugestehen, und bei solchen Zugeständnissen ist es dann eher die Frage, wie die Geschichtsbeziehungen des G.n sich behaupten.«207
Troeltsch erkennt somit beides an, die Grundüberzeugung einer für den christlichen Glauben fundamentalen Geschichtsbeziehung und deren teilweise gewichtigen Infragestellung in der Moderne. Beides, die Grundüberzeugung wie deren berechtigte Kritik versucht er für seine Gegenwart ins rechte Verhältnis zu setzen. So könne es nach Troeltsch echte Autonomie nie aus der Individualität heraus, sondern nur aus etwas Gegebenem, dem Geschichtlichen erwachsen, wobei im Falle des christlichen Glaubens dieses Gegebene nie vollständig überwunden oder ersetzt werden könne. Im Blick auf die Bedingtheit und der 205 Troeltsch, Art.: Glaube: IV. Glaube und Geschichte, in RGG1, Bd. 2 Tübingen 1910, 1447– 1456, 1448. 206 Troeltsch, Glaube: IV. Glaube und Geschichte, 1450. 207 Troeltsch, Glaube: IV. Glaube und Geschichte, 1452.
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damit mitgesetzten Relativität des Geschichtlichen hält Troeltsch fest, dass es diese anzuerkennen gelte, wobei es damit zu keinem Zeitpunkt zu begründen sei, die allgemeine im christlichen Glauben sich manifestierende Wahrheit damit an sich in Frage zu stellen, wohl jedoch deren zeitbedingten historischen Ausformungen kritisch zu beurteilen. »Die geschichtlichen Momente des G.s sind also für den gegenwärtigen G.n Offenbarungs- und Erkenntnisgrundlage, Kraftmitteilung und Begeisterung, Verbürgung und Veranschaulichung.«208
Troeltsch nahm mit zunehmenden Verlauf des 20. Jahrhunderts den krisenhaften Zustand seiner Gegenwart war und thematisierte diesen unter dem Stichwort der »Krise des Historismus«. Nach eigenen Aussagen Troeltschs war »seine Arbeit am Historismus-Band in jeder Zeile von den Erschütterungen durch Weltkrieg und Revolution geprägt«209. Graf beschreibt diese Erfahrung der Krise derart, dass »unter den Bedingungen der Moderne […] [sich] alles immer schneller und grundlegender änder[t]e«210 und damit, wie oben bereits beschrieben, der Normativitätsanspruch des Christlichen zur Diskussion gestellt wurde. Peter nimmt davon ausgehend an, dass aufgrund der Übereinstimmung von Troeltschs, Nietzsches und auch Overbecks Problembeschreibungen die krisenhafte Erfahrung der Gegenwart als Distanz, Bruch und Diskontinuität211 zu jener selbst wahrgenommen wurde. Unterschiedlich seien die drei jedoch in ihren Lösungsansätzen zu sehen, wobei sie gleichzeitig im Zusammenhang des Begriffs des Historismus füreinander von einem besonderen Interesse waren.212 Wo Overbeck keine aus der Geschichte »sich herausbildenden Gegen- und Heilmittel zu Überwindung der Krise des Historismus« mehr finden konnte, hoffte Troeltsch durch eine »religionspsychologische und gleichzeitig religionsphilosophische Untersuchung«213 der Religion in der Moderne einen adäquaten Ort zuweisen und so neue Begründungsfiguren entgegen einer absoluten Wert- und Normrelativität setzen zu können. Peter bringt den Unterschied im Umgang mit der Krise des Historismus für beide mit den Schlagwörtern der »Diskontinuität« und der »Kontinuität« in Verbindung. Overbeck denke in den Voraussetzungen einer »Diskontinuität« zwischen dem Früheren und dem Jetzt, dagegen setzte Troeltsch auf den Gedanken der »Kontinuität«, wonach »Traditionen in komplexen Bildungs- und Syntheseprozessen gewachsen sind« und auf
208 209 210 211 212 213
Troeltsch, Glaube: IV. Glaube und Geschichte, 1456. Vgl. Graf, Einleitung, 12. Graf, Einleitung, 12. Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 117. Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 98–99. Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 118.
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diesem Wege »Perspektivität und Relativität menschlicher Normen und Deutungen« nicht geleugnet werden, sondern gerade eingeholt werden können.214 Oexle betont, wonach für Troeltsch das Werk Nietzsches die entscheidende Figur in der Entdeckung des Historismus als Krisis des bisherigen menschlichen Seins und seiner Wertmaßstäbe und Wahrheiten darstellte.215 Deutlich arbeitete Nietzsche diese Kritik am Historismus in seiner »II. Unzeitgemäßen Betrachtung. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (1874) heraus, die ihre inhaltliche Fortführung in den moralgenealogischen Schriften »Jenseits von Gut und Böse« (1886) gefunden hatte. Fragestellungen rund um die Historie beschäftigten die intellektuelle Avantgarde seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einem immensen Umfang. Nietzsches Auffassung »die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren«216, wird dabei auch für Troeltsch zu seinem Schlagwort des »Geschichte durch Übergeschichte überwinden«, von welchem ausgehend er sich aufmachte, das sogenannte Problem des Historismus zu fassen und der krisenhaften Erfahrung eines allgemein schwankenden Fundaments einen Stabilisierungsversuch entgegenzusetzen.217 »Meine Herren, es wackelt alles.« Unter diesem Diktum wurde der I. Weltkrieg zur einschneidenden Erfahrung und Trauma der Destabilisierung der deutschen Gesellschaft auf gesellschaftspolitischer wie wissenschaftlicher Ebene, der sich auch Troeltsch nicht zu entziehen vermochte.218 Nach Schwöbel machte sich Troeltsch daran, eine Kultursynthese mithilfe einer Geschichtsphilosophie zu erarbeiten, die es erlaubte, die Krise der Gegenwart anzugehen. Dabei wird der Rückgriff auf die Geschichtsphilosophie nicht zum exklusiven Ausdruck der Moderne, sondern wie Troeltsch nach Schwöbel deutlich macht, »Geschichtsphilosophie ist seit ihren Anfängen ein Instrument der weltanschaulichen Krisenbewältigung« gewesen.219 Troeltsch erarbeitet hierfür ein Quadrilemma, das er wie folgt beschrieb:
214 215 216 217
Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 119. Vgl. Oexle, Troeltschs Dilemma, 23–64. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 306. Vgl. Christoph Schwöbel, »Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden.« Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus, in Ernst Troeltsch »Historismus«, hg. von F.W. Graf (Troeltsch-Studien Bd. 11), Gütersloh 2005, 261–284, 263f. 218 Noch 1897 hätte Troeltsch angenommen, »daß die Revolution des historischen Bewußtseins selbst die Lösung der Probleme bringen würde, die sie aufdeckt«. Mit Ende des I. Weltkrieges sah Troeltsch jedoch diese Hoffnung als gescheitert an, gleichzeitig kann die Lösung für Troeltsch jedoch auch nicht am Historismus vorbei gedacht werden. Vgl. Schwöbel, Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus, 265. 219 Schwöbel, Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus, 266 und 268.
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»Geht man von Idee und Maßstab aus, so gerät man in einen geschichtslosen Rationalismus und verliert die Beziehung zur empirischen Historie und ihrer Praxis. Geht man vom Historisch-Individuellen aus und bleibt man dadurch im Einklang mit der Forschung, so drohen grenzenloser Relativismus und Skeptizismus. Sucht man beides in kunstreichen Entwicklungsbegriffen sich zu nähern, so brechen die beiden Bestandteile immer wieder auseinander. Nimmt man den Standort resolut in gegenwärtiger Entscheidung und Gestaltung, so verliert man nur allzuleicht Geschichte und Idee zugleich.«220
Dieses Quadrilemma beschreibt auf eindrückliche Art und Weise Troeltschs pointierte Gegenwartshermeneutik, die sich daran versuchte, einerseits die Momente der zeitgenössischen Destabilisierung zu benennen und andererseits monokausale Lösungsansätze für diese Gegenwartskrise in ihrer Fragwürdigkeit zu präsentieren. Nach Troeltsch blieb zur Lösung der Krise nur die Synthese aller Wirklichkeitszugänge, um der in den einzelnen Betrachtungen selbst angelegten Unfähigkeit zur Lösung, einer solchen näherzukommen.
II.2.3 Unerledigte Anfragen an die Theologie: Franz Overbeck und Karl Barth II.2.3.1 Franz Overbeck und der finis christianismi Franz Overbeck (1837–1905), der freundschaftliche Wegbegleiter Nietzsches und wohl auch dessen erster theologischer Rezipient, reiht sich in den illustren Kreis kritischer Gegenwartsdeuter221 ein und sah die Theologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Abkehr von ihrem religiösen Sujet an ein Ende gekommen. Sein Schule machendes Diktum war das des finis christianismi222. Overbeck und Nietzsche verband damit wohl das Gefühl, sich als »Fremde« in einer Zeit der strukturellen und ideellen Umwälzung zu befinden. Das sogenannte »lange 19. Jahrhundert« schien an ein Ende gekommen zu sein und nach dem Verlassen der bisherigen normativen Bahnen befand man sich in einem mehr oder weniger offenen Disput darüber, wie die Gegenwart zu gestalten sei. Die Person Overbeck kann im Konglomerat der damalig zeitgenössischen Gegenwartshermeneutik als eine Art personifizierter Kumulationspunkt des bisherig Erarbeiteten gesehen werden. Als Theologe deutete er jene Synthese der modernen Kultur mit der Religion als eine theologische Fehlentwicklung und 220 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, 162. 221 Vgl. bespielhaft die Briefe Overbecks an Treitschke und die darin sich findenden zahlreichen Unmutsäußerungen über den gegenwärtigen Zustand der deutschen Gesellschaft. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 82–100. 222 Nietzsches Sicht auf das Problem des Historischen wird dabei nicht an sich behandelt, sondern kommt da zum Vorschein, wo sich auf Nietzsche im Sinne der Historismuskritik bezogen oder abgegrenzt wird.
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trat damit in den offenen Disput mit anders gestrickten Theologien, wie die von Troeltsch und Harnack.223 Denn anders als die katholische Theologie, drängte die breite wissenschaftliche Theologie evangelischer Provenienz in ihrem Selbstbewusstsein nach »voller öffentlich-akademischer Geltung«, was sie ihr positiv-kritisches Potential zur Gestaltung der Gegenwart verlieren ließ.224 Adolf von Harnack beispielsweise vertrat in seiner Person und seinem Werk die These, wonach Kultur und Christentum für die Moderne keinen Gegensatz zu bilden haben, sondern geradezu im Kern ihres jeweiligen Wesens aufeinander verwiesen seien. Die Begriffe der Kultur und der Moderne seien dabei diejenigen Inbegriffe, mit denen sich eine auf der Höhe der Zeit befindliche wissenschaftliche Theologie in einen positiven Diskurs zu setzen habe. Harnack wird so gesehen in der Zeit der Jahrhundertwende zu einem kulturoptimistischen Theologen, der wohl nicht dem Maße einen krisenhaften Zustand seiner Gegenwart wahrzunehmen vermochte, sondern seine Gegenwart als Blütezeit der bereichernden Synthese von moderner Kultur und traditionellen Wahrheitsvorstellungen beschreiben konnte.225 Overbeck selbst war von 1870–1897 Professor für Neutestamentliche Exegese und Ältere Kirchengeschichte in Basel und begegnete in dieser Position seinem Professorenkollegen Friedrich Nietzsche226, der bereits ab 1869 in Basel lehrte. Beide lernten sich durch eine gemeinsam geteilte Wohnung in Verbindung mit allabendlichen Gesprächen besser kennen. Aus diesen viereinhalb gemeinsam verbrachten Jahren im »Contubernium der Baumannshöhle«227 entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.228 Auch lange nach dem Weggang Nietzsches aus 223 Peter verweist für diese wissenschaftliche Missgunst in der Zweitauflage von Overbecks »Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« (1903) auf eine Passage hin, in der Troeltschs Absolutheitsschrift auf diffamierende Weise kommentiert werde. Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 96. Und gleichzeitig kann für die andere Seite eine Rezension Troeltschs in der »Deutschen Litteraturzeitung« (Nr. 41/1903, 2471– 2475) über eben jene Overbeck-Schrift zitiert werden, in der sich Troeltsch gegenüber Overbecks polemische Sichtweisen Luft verschafft. 224 Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 204. 225 Gleichzeitig sollte jedoch auch Harnacks spätere Verdienste um die demokratische Entwicklung der Weimarer Republik mit im Blick gehalten werden, um nicht eine wohl in manchen Teilen zu stark durch die »dialektische Theologie« geprägte Sicht auf Harnack nachzusprechen. 226 Laut Overbecks eigener Auffassung ist die Begegnung mit Nietzsche der stärkste Einfluss, den sein Denken beeinträchtigt und an seiner »Christlichkeit mitgeschrieben habe«. Vgl. Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, fotomechanischer Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1909, Darmstadt 1963, 13. 227 Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 59. 228 Dieser Freundschaft nachzugehen und lebendig werden zu lassen gelingt Bernoulli in seinem zweibändigen Werk auf besondere Art und Weise. Versteht er sich doch darauf, die vielschichtigen und zahlreichen unterschiedlichen schriftlichen Zeugnissen Nietzsches und Overbecks miteinander und mit anderen Beobachtungen ihrer Zeitgenossen ins Gespräch
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Basel blieb Overbeck Nietzsche freundschaftlich verbunden, verfolgte seine Publikationen und unterhielt auch nach Nietzsches Erkrankung einen regelmäßigen Briefkontakt zu dessen Mutter.229 Den Ertrag bzw. Beitrag des »Contubernium«230 für Overbeck wie Nietzsches Denken zu bemessen, erweist sich als diffizil.231 Was leichter gewagt werden darf, ist der Versuch einer Charakterisierung, welche Art von Denkern sich hier in der Baumannshöhle gegenüberstanden. Franz Overbeck stellt sich dabei als ein Theologe dar, der wohl teilweise in einer inneren Zerrissenheit lebte, die darin bestand, seinen Auftrag als öffentlicher theologischer Lehrer zu erfüllen und in dieser Funktion die Sinnhaftigkeit moderner Theologie vertreten zu müssen232, die er jedoch aufgrund seiner eigenen gewichtigen Anfragen an die Theologie immer weniger erkennen konnte. Dieser Lehrer der Theologie traf mit seiner inneren Einstellung zum kulturell missgebildeten Christentum auf den Altphilologen Friedrich Nietzsche, der sich ebenfalls wohl in ähnlich gedanklichen Mustern einer Krise bezüglich seiner beruflichen Anforderungen befand. Zwei Männer teilten hier also eine Wohnung, die sich in ihrer Abkehr von der eigenen wissenschaftlichen Disziplin gefunden zu haben scheinen233 und nach Bernoulli ein »sich gegenseitig ergänzendes Pentagon von Kulturinteressen« aufzuweisen vermochten. Overbeck, der für Bernoulli kritische Anfragen gegenüber dem deutschen Nationalismus und der Ausgestaltung des Christlichen mit sich brachte und daneben Nietzsche, den wiederum die künstlerische Nähe zu Wagner, philosophisch Schopenhauer und ein »gegenständliches Verhältnis zum klassischen Altertum« beeinflussten.234 Peter geht in der Frage, ob Nietzsche das Denken des Theologen Overbecks verändert haben könnte von zwei »Faktoren« aus, die es in den Blick zu nehmen
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zu bringen und ein plastisches Bild der Verbindung Nietzsches und Overbecks entstehen zu lassen. Vgl. dazu beispielhaft Johann-Christoph Emmelius (Hrsg.), Franz Overbeck Friedrich Nietzsche, die Anfänge des Streits zwischen Weimar und Basel: ausgewählte zeitgenössische Briefe, Frankfurt a.M. 2012. Hierbei lässt sich bereits an der Gestalt Overbecks eine erste These und Positionierung einer theologischen Nietzsche-Rezeption zeigen: Eine Nietzsche-Rezeption setzt eine theologische Position voraus, die sich selbst fremd geworden ist und mit ihrem eigenen Wahrheitsanspruch hadert. Vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 181. Bernoulli versucht sich an einer Art Bestandsaufnahme der gegenseitigen Beeinflussung und kann lediglich Tendenzen feststellen, die womöglich aufgrund der Gespräche und Lektüre zu gewissen Nuancen in den eigenen Denkmustern oder anderen Akzentuierungen eigener Theorien geführt haben könnten. Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 128–132. Vgl. Peter, Overbeck, 43f. Für Bernoulli bildet sogar diese »Abneigung [gegen] die angetretenen akademischen Ämter« den ausschlaggebenden Kit, der die Freundschaft zwischen beiden von derartiger Dauer werden ließ. Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 52. Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 60.
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gelte und deutliche Spuren der Begegnung mit Nietzsche trügen. Zum einen nennt Peter die Auseinandersetzung Overbecks mit Nietzsches Schrift »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«235. Zum anderen Overbecks zunehmenden inneren Impetus, zur liberalen Theologie Stellung zu beziehen, dabei »die Tragfähigkeit der Grundlage liberaler Theologie« kritisch zu beleuchten236 und daraus resultierend seine eigene Sicht der Krisis des Christlichen zu propagieren237. Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass bei genauerer Untersuchung Overbecks Werk lediglich zur theologischen Übersetzung oder Wiederholung nietzscheanischer Gedanken stilisert werden könnte238, sondern in ihm ein eigenständiger Denker gefunden werden kann239, der sich jedoch in gewissen strukturellen Grundgedanken eng an Nietzsche gebunden wiederfand, was nicht zuletzt deren fast zeitgleich erschienen Streitschriften von 1872/1873240 unter Beweis stellen. Franz Overbeck spürte wohl in sich selbst die Distanz zur eigenen theologischen Disziplin241, die ihn in Nietzsche einen besonderen Gesprächspartner finden ließ. Mit seiner Schrift »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie«242 stellte Overbeck sich »in eine Distanz243 zu allen we-
235 Die Lektüre dieses Werkes beschreibt Overbeck in einem Brief an Treitschke als »eine der gedankenreichsten und tiefsinnigsten [Arbeiten], die wir in Deutschland seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der Ästhetik« publiziert wurde. Gleichzeitig behält sich Overbeck auch kritische Anfragen vor. Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 84. 236 Vgl. Peter, Overbeck, 120. 237 Der Ausdruck des »finis christianismi« ist für Köster der äquivalente Ausdruck zu Nietzsches Rede vom »Tode Gottes«. Vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 184. 238 Auch Bernoulli denkt in diese Richtung, vgl. Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 128. 239 Vgl. Peter, Overbeck, 199–121. Eine Beobachtung, die auch für die Beschäftigung Barths mit Nietzsches interessant werden könnte: ähnliche Gedanken und Thesen, jedoch keine direkte wirkursächliche Abhängigkeit. 240 Overbecks »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« und Nietzsches »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Wobei wohl genauer gesagt werden muss, dass Nietzsches »Geburt der Tragödie« Overbeck zur Ausarbeitung seiner Studie animierte. Nietzsches »UZB I« und Overbecks Werk wurden gemeinsam herausgerbacht und von beiden als ihre »Zwillinge« in einem gemeinsamen Band vom Verleger zusammengebunden. Vgl. Overbecks detaillierte Beschreibung in seiner Einleitung zur 2. Auflage, Über die Christlichkeit«, 16–19. 241 Peter verweist in diesem Zusammenhang auf Troeltschs »Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft« (GS II, 198) mit dem Vorwurf an Overbeck, »seine theologische Professur nur als das Schutzdach [anzusehen], unter dem er sein Zerstörungswerk in kalter und leidenschaftsloser Abneigung gegen das Christentum um so sicherer vollziehen konnte«. Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 112. 242 Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. 243 Diese Distanz beschreibt Overbeck selbst in seinem zeitlich nachträglich verfassten Nachwort, in dem er eine Liste (150–152) mit Literaturverweisen erstellt, in denen sein »Schriftchen« kritisch betrachtet wurden und konnte dabei nur sehr wenige Stimmen
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sentlichen Tendenzen und Schulen der zeitgenössischen Theologie«244. Anders jedoch als Nietzsche fehlte Overbeck der treibende und anstachelnde Wille zur Veränderung der Lage. Ihm ging womöglich der deutlich »feindeswillige Kampfwille« ab, der Nietzsche an- und vorantrieb.245 In seinem Werk »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« begegnet man einer theologischen Gegenwartsanalyse aus der Sicht Overbecks. Overbeck beschreibt darin das grundsätzliche Verhältnis von Glaube und Wissen und attestiert hierbei einen beständigen und unversöhnlichen Antagonismus, der in seiner »Neuzeit« entweder an sich bestritten oder aber mit falschen Grundvoraussetzungen begegnet werde.246 Nach Overbeck verrate sich der Glaube immer da, wo er sich »dem Wissen preisgiebt«247, denn Glauben und Wissen würden von unterschiedlichen Axiomen ausgehen, die miteinander unvereinbar seien. Daher werde das zeitgenössisch populäre Ziel der Theologie, Glauben und Wissen miteinander in Beziehung zu setzen, zu einem »irreligiösen« Tun.248 Diese fehlgeleitete Annahme einer Verbindung zwischen der christlichen Religion auf der einen Seite und der wissenschaftlichen Disziplin einer Theologie auf der anderen Seite, wurde für den Patristiker Overbeck dabei schon in den geschichtlichen Anfängen der christlichen Religion geknüpft und lag für ihn wohl weniger an einer spezifischen inneren Verfasstheit der christlichen Religion als solcher, sondern vielmehr am äußeren Faktor einer Gesellschaft mit kulturellem Niveau, die sich die christliche Religion dienstbar gemacht hätte. In der Zeit der Alten Kirche sieht Overbeck diese Verbindung durch die theologische Elite noch durchaus kritisch beäugt, jedoch im Laufe der Zeit zunehmend unkritischer und in der Wahrnehmung ihrer grundsätzlichen Problematik entrückt.249 Overbeck beschreibt in seiner »Neuzeit« diese unheilige Allianz von Glauben und Wissen zu einem erschreckenden Höhepunkt gebracht, da sich die Theologie, um ihren wissenschaftlichen Standard zu
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entdecken, »die sich rückhaltlose für« seine Thesen ausgesprochen hätten. Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 157. Köster, Nietzsche Kritik und Nietzsche-Rezeption, 182. Overbeck selbst beschreibt die Auseinandersetzung mit Nietzsche und seinen Schriften »Die Geburt der Tragödie« und die »Unzeitgemässe Betrachtungen I« als die fruchtbare Anregung, von der ausgehend er sich selbst an eine kritische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Disziplin wagte. Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 16–19. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 184. Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 22. Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 22. Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 24–27. Overbeck spricht mit Blick auf die wissenschaftliche Disziplin der Theologie von einem Luxus, den sich die christliche Religion gönne, »der aber, wie jeder Luxus, nicht umsonst zu haben ist«. Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 34.
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wahren, den Erkenntnisprinzipien anderer Wissenschaft unterworfen habe. Sie dine damit nicht länger der christlichen Religion, sondern fremden Herren.250 Die theologische Wissenschaft sieht Overbeck dabei in die zwei Lager von »apologetischer« und »liberaler« Theologie getrennt, von denen er sich jeweils kritisch abzugrenzen sucht. Beide Seiten streiten dabei »um das Quantum traditioneller Vorstellungen des Christenthums, welches der Wissenschaft preisgegeben werden soll«251 und verfehlen dabei das für Overbeck eigentliche Sujet einer der Neuzeit angemessenen theologischen Diskussion. Overbeck begründet seine Ansicht damit, dass dem Christentum eine für dessen Selbstverständnis essentiell anzusehende Weltflucht innewohne, die »die Welt […] gar nicht mehr als mögliche und würdige Stätte der Religion«252 sehe. Durch die neuzeitlichen Theologien werde das Christentum aus »einer bestimmten Summe von historischen oder mythischen Thatsachen und Dogmen« bestehend gedacht, die dabei keine »Lebensansicht« an sich besitzen.253 Stattdessen gelte es diese Weltflucht und die darin sich verbergende Lebenssicht frei zu legen, als das eigentlich Religiöse des Christentums zu propagieren und sich damit von modern-liberalen kulturreligiösen Vorstellungen zu verabschieden. Nach eigener Auffassung, die er in seinem Nachwort zu Papier bringt, hat er mit diesen seinen Thesen eine einhellige Ablehnung erfahren, wobei er seinen Kritikern unterstellt, ihn und seine Ausführungen nicht verstanden zu haben, was ihn wiederum dazu veranlasste, »die theologische Kritik [seines] Schriftchens für gänzlich unfruchtbar zu erklären«254. Overbeck präsentiert sich in seiner Sicht auf sich selbst und den Zustand seiner Gegenwart als prophetischer Redner, dessen Ruf nicht gehört wird, echolos verhallt und auf einen unfruchtbaren Boden fällt. Dabei beschreibt er Nietzsche in seinem Wirken als die Person, die ihn in seiner Art des Denkens in besonderer Weise bestätigt und gefördert hätte.
250 Peter verweist auf die Antrittsvorlesung Overbecks 1870, in der er eine historische Theologie im Sinne von Ferdinand Christian Baur befürwortete und die Legitimität historischer Forschungen am Bestand des Christlichen nicht bestritt, jedoch die weit verbreitete Hegemonie des Historischen nicht für seine Art der Theologie in Anspruch nehmen wollte, da dies der theologischen Wissenschaft in ihrem Selbstverständnis, die Aktualität des christlichen Glaubens zu beschreiben, nicht dienlich sei. Vgl. Peter, Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck, 100–102. 251 Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 42f. 252 Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 93. 253 Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 111. 254 Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 158.
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II.2.3.2 Karl Barth und seine unerledigten Anfragen an die Theologie der Jahrhundertwende 1920 verfasste Karl Barth eine Studie mit Titel »Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie«.255 Mit diesen Unerledigten Anfragen spielte er auf Franz Overbecks Thesen zum Verhältnis von Glaube und Theologie an, die er aus der posthumen Veröffentlichung Overbecks »Christentum und Kultur.256 Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie von Franz Overbeck« (1919)257 entnommen hatte. Barth bekam Overbecks Buch von seinem Bruder Heinrich zu Weihnachten 1919 geschenkt und machte sich wohl sehr zeitnah an die Lektüre der Studie. Wie verschiedene Briefe Barths an seine Mutter und an Thurneysen belegen, hatte Barth die Denkweise Overbecks in Bann gezogen und ihn dazu animiert, Overbeck als willkommenen und wirkmächtigen Kritiker an der theologischen liberalen Strömung auszuweisen und innerhalb seiner eigenen theologischen Arbeiten zu rezipieren.258 Denn Barth teilte Overbecks Anfragen an die strukturelle Sprachlosigkeit dieser theologischen Ausprägung gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen. Barth sah in der »prophetischen Drohung« der finis christianismi Overbecks das Ende einer ehemals wirkmächtigen Theologie gekommen und den Beginn einer neuen theologischen Strömung hervorbrechen, die sich der gegenwärtigen Gefahr anzunehmen wisse. Barth beginnt daher seine Studie damit, seiner Verwunderung Ausdruck zu geben, wie es zu erklären sei, »dass die heute am Ruder befindliche Theologie in ihrer Jugendzeit an einem Fachgenossen wie Overbeck und an den von ihm an sie gerichteten Fragen so gleichmütig und unangefochten vorbeikam«259, ja das durch Overbeck angedeutete »Skandalon« des Amalgams von Kultur und Theologie nicht wahrgenommen wurde. Nach Barth hätte Overbeck als »kritischer Enthusiast«260 in prophetischer Sicht darüber gewacht, »das Unvereinbare,
255 Karl Barth, Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie (1920), in ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921 (Gesamtausgabe, Abt. III), Zürich 2012, 622–661. 256 Dieses Werk wiederum rezensiert Ernst Troeltsch in der Historischen Zeitschrift (HZ) 26 (1920), 279ff. 257 Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie von Franz Overbeck, weiland Doktor der Theologie und Professor der Kirchengeschichte an der Universität Basel. Aus dem Nachlass herausgegeben von Carl Albrecht Bernoulli, Basel 1919; jetzt in Kritische Neuausgabe Bd 6/1, hg. von Ekkehard Stegemann, Stuttgart/Weimar, 1996. 258 Vgl. hierzu die Sichtung der brieflichen Zeugnisse Barths rund um die Lektüre Overbecks durch die Hrsg. der Gesamtausgabe, Barth, Unerledigte Anfragen, 622–634. 259 Barth, Unerledigte Anfragen, 634. Barth vergleicht die Wirkungslosigkeit Overbecks mit der, der beiden Blumhardts, womit Barth betont, dass er alle drei Theologen und ihr theologisches Erbe aus dem ungerechtfertigten Abseits in das Zentrum der gegenwärtigen theologischen Diskussion zu stellen versucht. 260 Barth, Unerledigte Anfragen, 636.
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den Tod und das Leben, die Welt und das Himmelreich scharf zu unterscheiden und dann auch wieder zusammen zu schauen im Stande zu sein«261. »Bezeichnet der Begriff des Todes die Grenze der menschlichen Erkenntnis, so muss er auch ihren transzendentalen Ursprung bezeichnen.«262
Im Blick auf die epistemologische Dimension des Todes für das menschliche Leben erkennt Barth die eine unerledigte Anfrage Overbecks, die sich nun in deren drei aufgliedern lasse: (I.) »Das Dasein des Christentums in der Geschichte«, (II.) »Das Wesen des modernen Christentums, (III.) »Die Christlichkeit aller und speziell der heutigen Theologie«.263 (I.) Barth hält im Rückgriff auf die Thesen Overbecks mit Nachdruck fest, dass das Christentum und die Geschichte weder erkenntnis- noch begründungstheoretisch aufeinander zu beziehen sind, da der Ursprung des christlichen Glaubens gerade nicht in einer zeithistorischen Betrachtung der ersten Christen zu entdecken sei, sondern in dessen Übergeschichtlichkeit, in seiner »Urgeschichte«. Und auch der Blick auf die Kirchengeschichte lehre nicht, dass hier eine von Gott gelenkte Geschichte zu finden sei, sondern lediglich die Möglichkeit, das Schicksal der Kirche, den allgemeinen menschlichen Irrungen, Verfehlungen und Missbräuchen ausgesetzt zu beschreiben. (II.) Nach Barth betone Overbeck die Unvereinbarkeit des Christentums und der Welt, die in der Moderne in der Folge mit dramatischen Ergebnissen für beide Seiten aufgehoben worden wäre. »Das [moderne] Christentum ist darum eine so problematische Größe geworden […], weil in ihm die Spannung der Gegensätze in ein Gewohnheitsverhältnis verwandelt ist, das beiden Teilen, der Menschheit und dem Christentum, zum Verderben werden muss«.264
Im schimmernden Begriff einer anzustrebenden Modernität des Christentums sehe Overbeck ein abgestumpftes und wirkungsloses Verständnis des christlichen Glaubens gegenüber der ihn umgebenden Wirklichkeit am Zuge. Die Anpassung an einen Zeitgeist hätte das Christentum seiner wirklichkeitskritischen und damit -verändernden Kraft beraubt.
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Barth, Unerledigte Anfragen, 638. Barth, Unerledigte Anfragen, 642. Barth, Unerledigte Anfragen, 640. Barth, Unerledigte Anfragen, 649.
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(III.) Der in (II.) beschriebene Zustand eines modernen Christentums setzte sich in einer zeitgenössischen Theologie fort, die das religiöse Erleben in der Moderne theologisch zu rechtfertigen suche und so dem Missverhältnis von Glaube und Kultur gänzlich unkritisch aufsitze. Overbeck selbst hätte sich keine Erneuerung oder Reformation des Christentums zur Aufgabe gemacht, wie es aus dem Zitat deutlich wird: »Ich [sc. Overbeck] denke nicht daran die Theologie zu reformieren. Ich bekenne ihre Nichtigkeit schon an und für sich und bestreite nicht nur ihre zeitweilige komplette Baufälligkeit und ihre Fundamente.«265
Barth ist hier wagemutiger und versteht Overbecks Anfragen als Motivation, sich mit ihnen auf eine »Wüstenwanderung« zu begeben und auf diesem Wege Antworten und Wege eines sich selbst als eschatologisch verstehenden Christentums und einer darauf aufbauenden Theologie vorzulegen. »Eine Theologie, die es wagen wollte – Eschatologie zu werden, wäre nicht nur eine neue Theologie, sondern zugleich ein neues Christentum, ja ein neues Wesen, selber schon ein Stück von den »letzten Dingen«.«266
Dieses gestalterische Interesse drückt Barth später so aus: »Ich [sc. Barth] verstehe unter dem »Problem der Theologie« entsprechend dem alten und eigentlichen Sinn des Begriffs »Problem« den Gegenstand der Theologie, die die Theologie beschäftigende Wirklichkeit.«267
Die Theologie und das Christentum stehen für Barth in ihrem Wirklichkeitsbezug an einer Schwelle, inmitten einer Krisis, der es sich zu stellen und auf die es tragfähige Antworten zu geben gilt. Dabei kommt es Barth in seiner eschatologisch geprägten dialektischen Theologie auf eine neuerliche Zentrierung auf das Wort Gottes an, welches selbst weder im kulturellen des menschlichen Lebens, noch in der historischen Wissenschaft zu verorten ist, sondern im Erleben und dem ihm eigenen ereignishaften existentiellem Charakter. Scharfsinnige und kluge Beobachter dieser Krise und ihrer Irrungen sind für Barth der seiner Meinung nach zu Unrecht unbeachteten Theologen Franz Overbeck, Johann Christoph Blumhardt und dessen Sohn Christoph Friedrich Blumhardt.268
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Franz Overbeck, Christentum und Kultur, 291 zitiert nach Barth, Unerledigte Anfragen, 657. Barth, Unerledigte Anfragen, 660. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 31961, 60. Eine detailliere Betrachtung der Gegenwartsdeutung, und der daraus entspringenden theologischen Implikationen, findet sich im III. Kapitel.
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II.2.4 Die Auseinandersetzung mit Nietzsche in der theologischen Literatur der Jahrhundertwende An dieser Stelle soll der Blick nun auf die theologische Nietzsche-Rezeption gewendet werden, die sich im durch das Vorige angezeigten gesamtgesellschaftlichen Umfeld abspielte und zu Wort meldete. Für das Anliegen der Studie soll es nun darum gehen, schlaglichtartig den Fokus auf einzelne theologische Nietzschekritiken der Jahrhundertwende zu legen, die doch bei aller Individualität wiederkehrende Muster in sich bergen, nach welchen Lesarten Nietzsche interpretiert wurde.269 Wie nähern sich Theologen dem Philosophen Nietzsche? Welchen Zugang wählen sie, was betonen sie? Was wird in den Vordergrund gestellt, welche Werke Nietzsches werden zitiert und wie begegnen sie ihm argumentativ? Gleichzeitig wird aber nicht der Versuch unternommen werden, die angeführten Nietzscheinterpretationen auf ihre detaillierte Konsistenz gegenüber Nietzsche selbst zu untersuchen. Vielmehr soll es darum gehen, die, die theologische Nietzsche-Rezeption beeinflussenden gesellschaftlichen, wie akademisch-wissenschaftlichen Hintergründe offen zu legen und die Besonderheit von Karl Barths Nietzsche-Rezeption auf diesem Wege zu schärfen und einordnen zu können. Daher wird ein verstärkter Fokus auf die Nietzscheliteratur vor der Erstveröffentlichung von Barths Römerbriefkommentars gelegt werden, wohlwissend, dass eine präzise zeitliche Abtrennung vor und nach der barth’schen Römerbrief-Veröffentlichung nicht zu bewerkstelligen und sogar dem Ergebnis abträglich sein könnte. Damit sei auch darauf hingewiesen, dass gerade jene nun darzustellende Theologengeneration es war, die Karl Barth und seine Zeitgenossen im Blick auf Theologie und auch im Blick auf Friedrich Nietzsche prägte.270 Die Betrachtung einer theologischen Nietzsche-Rezeption sieht sich jedoch der gewichtigen Anfrage ausgesetzt, die womöglich sogar zur Bestreitung einer des Begriffs der Rezeption als würdig sich ausweisenden theologischen Bezugnahme auf Nietzsche führen könnte. Der Pfarrer und spätere Anthroposoph Friedrich Rittelmeyer (1872–1938) beschreibt 1911 in seinen Vorträgen »Fried-
269 Auch Kleffmann unternimmt es in seiner Studie, die theologische Nietzsche-Rezeption im Groben nachzuzeichnen. Er unterteilt seine Darstellung in eine beginnende nichtakademische und eine sich daraus ergebende akademische Auseinandersetzung, die er ihrerseits nochmals in eine nietzschefreundlichere und eine nietzscheabwehrende Fraktion unterteilt. Wer sich an dieser Stelle für weitere Namen und deren Sichtweise auf Nietzsche interessiert, sei auf die ausführliche Darstellung Kleffmanns verwiesen. Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 335–368. 270 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 351.
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rich Nietzsche und die Religion«271 Nietzsche als den wohl größten Christentumskritiker aller Zeiten und stellt damit selbstredend die grundsätzliche Problematik theologischer Nietzsche-Rezeption vor Augen. Wie kann in der Theologie und im kirchlichen Leben von einer positiven und bereichernden Nietzsche-Rezeption gesprochen werden, wenn doch Nietzsche nach eigenem Verständnis mit seinen Schriften die Abschaffung theologischen Nachdenkens gefordert hatte und weite Teile seines Œuvres als Angriff auf das Christentum und seiner Wahrheiten verstanden haben wollte? Grundsätzlich lassen sich in der theologischen Nietzscheliteratur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Thesen ausmachen, um eine Rezeption dennoch gangbar zu machen272 : 1. Nietzsches Angriffe und Argumente wird jegliche Stichhaltigkeit gegenüber dem wahren Christentum verweigert und Nietzsche entgegengehalten, dass er mit seinen Thesen nicht das wahre Christentum angreife, sondern leidglich Missdeutungen und seine eigenen Interpretation desselben. Damit gewinnt Nietzsches Philosophie gerade im Eigeninteresse einer kritikfähigen Theologie an Bedeutung.273 2. Nietzsche wird eine heimliche Affinität zum Christentum unterstellt und somit seine Aussagen in eine inhaltliche Linie und Abhängigkeit zu denjenigen des Neuen Testaments gebracht.274 Beide Möglichkeiten der Rezeption sollen im Folgenden anhand konkreter Beispiele genauer untersucht werden.
II.2.4.1 Friedrich Nitzsch »Jeder Vertreter der Wissenschaft, auch der Ethiker, fühlt sich verpflichtet, neuen literarischen Erscheinungen, die in sein Fach einschlagen und wissenschaftlich geartet sind, Beachtung zu schenken. Nun tritt aber jederzeit eine Anzahl von Schriften auf, die 271 Rittelmeyer, Friedrich Nietzsche und die Religion, im Besonderen hier 1–10. 272 Eine solche Systematisierung nimmt bereits Dietrich Bonhoeffer in seiner Vorlesung »Die systematische Theologie des 20. Jahrhunderts« vor, wird ebenfalls von Köster in seinem Aufsatz Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption aufrechterhalten und bildet auch für die folgende Abhandlung einen geeigneten hermeneutischen Schlüssel, um sich den Publikationen zu nähern. 273 Vgl. beispielhaft die Aussagen des Pfarrers und selbsterklärten Christentumserneuerers Rittelmeyer : »Wer wider uns ist, ist für uns […] Insbesondere eine Religion wie das Christentum wird sich nur, wenn sie tüchtig angegriffen wird, in ihrer wahren Kraft und inneren Größe offenbaren.« Rittelmeyer, Friedrich Nietzsche und die Religion, 74. 274 Vgl. beispielsweise den Theologen und Philosophen Albert Kalthoff, der Nietzsche nicht als Wolf im Schafspelz, wohl aber als Schaf im Wolfspelz ansah, der »im Herzen aber die Zartheit und Innigkeit einer reinen und edlen Menschenseele« verfügte und der »in diesem Immoralisten mehr Moral, in diesem Antichristen mehr Christentum« vermutete, als in anderen sogenannten Verkündigern des Christlichen. Albert Kalthoff, Zarathustra-Predigten, Jena 1904, 9. Vgl hierzu auch III.5.2.1.
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zwischen den eigentlich wissenschaftlichen und den auf ein weiteres Publikum berechneten – sagen wir feuilletonistischen – Produktionen in der Mitte stehen.«275
Mit diesen süffisanten Zeilen lässt Friedrich Nitzsch (1832–1898), seines Zeichens evangelischer Dogmatiker in Kiel, 1895 seinen Aufsatz »Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches« beginnen. Nitzsch ordnet Nietzsche und seine Werke dabei als feuilletonistische Erzeugnisse ein und verortet sie damit außerhalb des wissenschaftlichen Fachdiskurses. Die Beschäftigung mit Nietzsche komme dabei nicht aus einem eigenem inneren oder gar theologischen Interesse, sondern, wie Nitzsch vermerkt, werde er zur Auseinandersetzung durch äußere Faktoren genötigt. Eine allgemeine Erregung unter den Zeitgenossen über Nietzsches »Negationen und ätzenden gegen unsere ganze Kultur gerichteten Kritiken«276 bringt Nitzsch zum Diskurs und zur Darstellung von Nietzsches Philosophie.277 Bei den Schriften Nietzsches beruft sich Nitzsch auf diejenigen Werke278, in denen Nietzsches »eigenthümliche Weltanschauung bereits in voller Reife«279 vorfindlich seien und die in ihrem Kern als eine »bewusste Umwerthung aller moralischen Werthe«280 zu umreißen sei. Dazu zählen für Nitzsch im Besonderen die Werke der 1880iger Jahre, wobei alles mit der »Morgenröthe« (1881)281 beginne. Für den Dogmatiker Nitzsch wird es im Laufe des Aufsatzes zunehmend fragwürdig, ob es bei Nietzsche überhaupt angemessen sein könne, von einem wissenschaftlichen Philosophen zu sprechen, mache er doch den wissenschaftlich-systematischen Verlauf seiner Gedanken nicht kenntlich und damit nicht nachvollziehbar, sondern bediene sich der stilistischen Form des »Aphorismus«.282 Die unvollständige genealogische Darstellung philosophischer Systeme wirkt auf den Theologen Nitzsch lückenhaft und geradezu abenteuerlich. 275 Friedrich Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, in ZThK 5 (1895) 344–360, 344. 276 Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 345. 277 Seinen Impetus zur Abfassung des vorliegenden Aufsatzes nennt Nitzsch derart, dass er denjenigen, die weder »Zeit noch Lust haben Nietzsche selbst zu lesen«, Nietzsches Gedanken in Grundzügen darzustellen versuchen will. Vgl. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 345. 278 Nitzsch verweigert dabei Nietzsche mit dessen eigenen Aussagen, sein System bereits in den frühen Werken »Geburt der Tragödie« und den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« angelegt zu haben. Vgl. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 345. 279 Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 345. 280 Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 346. 281 Die weiteren Werke seien »Die fröhliche Wissenschaft«, »Also sprach Zarathustra«, »Jenseits von Gut und Böse« und »Die Götzen-Dämmerung«. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 346. 282 Nitzsch spricht in diesem Zusammenhang bei Nietzsche zu »orakeln«, anstatt »streng wissenschaftlich philosophisch zu argumentieren«. Vgl. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 346.
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Mit dieser Kritik reiht sich Nitzsch in den populären Vorwurf ein, Nietzsches philosophischen Werk mangle es an einer stringenten Systematik. Um das allgemeine und große »Welthrätsel« zu lösen, bediene sich Nietzsche stattdessen des Konzepts eines »Willens-zur-Macht«, ohne jedoch dafür argumentierende Begründungen vorzulegen: »Er [sc. Nietzsche] sagt, es gibt nur eine Art der Kausalität. Wo Wirkungen vorliegen, sind es Wirkungen von Willen auf Willen«283.
Nitzsch erkennt in dieser Formel das zentrale Konstrukt der nietzscheanischen Philosophie. Metaphysische, psychologische und ästhetische Fragen seiner Hypothese würden dabei lediglich gestreift und gerade nicht in der ihr nötigen Systematik und Wissenschaftlichkeit mitvollzogen. Aus der Darstellung des nietzscheanischen »Willens-zur-Macht« ergibt sich für Nitzsch Nietzsches moralisches Lebensideal, was wiederum seine Ausformung in der Umwertung aller Werte und der Idee des Übermenschen finde. Nitzsch verfolgt in seiner Darstellung Nietzsches den Versuch, Nietzsche so zu beschreiben, dass er dem Leser Verbindungen der nietzscheanischen Philosophie zum bereits Vorfindlichen in der philosophischen Gedankenwelt aufzeigt und in die Philosophiegeschichte mit ihren unzähligen Verästelungen einordnet. Wichtige Stichwörter sind für Nitzsch in Bezug auf Nietzsche dabei Schopenhauer, den Nietzsche sowohl verehrte als auch harsch kritisierte und die Idee des Skeptizismus bzw. Pyrrhonismus284 bei moralischen Werturteilen. Diesen versucht er von der griechischen Antike bis zur französischen Revolution nachzuzeichnen und unterstellt Nietzsche dabei, in seiner Form des Skeptizismus inkonsistent und ignorant in Bezug auf dessen Wirkungsgeschichte zu sein. Und dennoch könne dieser Versuch der Einordnung Nietzsches nach den Worten Nitzschs nie gelingen, denn Nietzsche falle aus dem Muster systematischer Einordnung, was es nun als Rezipient und Kritiker zu beurteilen gelte. Auch vergleichende Annäherungen an Nietzsche mit Personen wie Rousseau oder Epikur gingen ins Leere, denn der Individualismus Nietzsches sei im Vergleich zu denjenigen geradezu ein »anarchischer« und »aristokratischer«. Dieser übersteigerte und fehlgeleitete Individualismus führe bei Nietzsche zu einem übersteigerten Größenwahn, den Nitzsch zu pathologischen Erklärungsmustern seiner Person heranzieht:
283 Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 347. 284 Nach Nitzsch ist Pyrrho aus Elis der erste Vertreter eines intellektuell durchdachten Skeptizismus in der Philosophiegeschichte. Vgl. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 350.
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»Ja er [sc. Nietzsche] erblickt in allem Werden nur die Sehnsucht der Natur und der Geschichte nach seiner eigenen Persönlichkeit, nimmt also an, dass auf ihn hin die Welt erschaffen sei.«285
Nitzsch beschreibt Nietzsche damit als einen Denker, der sich der philosophischen Tradition als nicht gewachsen entpuppe, sondern seinerseits dem Wahn erliege, Philosophie aus eigener Kraft stemmen zu können, sie nach Meinung Nitzschs für eigene Zwecke zu missbrauchen und daran kläglich zu scheitern: »Aber hier ist der Dichter, vor den Wagen der Philosophie gespannt, wie ein wildes Pferd durchgegangen und hat die Philosophie umgeworfen.«286
Positives über Nietzsche, welches sich einer Rezeption bzw. weiterführenden Auseinandersetzung lohne, sucht man bei Nitzsch vergeblich, stattdessen das eindeutige Fazit zu Nietzsches Philosophie: »Eine Kritik nun der sog. Philosophie Nietzsche’s ist nicht schwer, sobald man sich Raum oder Zeit dazu nehmen darf. Aber nöthig ist sie eigentlich nicht […] sein ganzes System ist eine einfach lächerliche Utopie. […] Seine Schwärmerei für die wilden Instinkte der Urzeit stempeln ihn zu einem Romantiker, sein Antinomismus zum Libertin, seine Protektion der Selbstsucht zu einem Egoisten, sein Haß gegen alles Demokratische zum Aristokraten oder Autokraten, sein Urtheil über den Staat zum Anarchisten. Sein System ist also romantischer, libertinistischer, egoistischer, aristokratischer, beziehungsweise autokratischer Anarchismus.«287
II.2.4.2 Julius Kaftan Der Theologieprofessor Julius Kaftan (1848–1926) hielt 1897 einen vielfach beachteten288 Vortag »Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral«289. Kaftan beginnt diesen Vortrag mit einer Darlegung der magna charta des Christlichen. Diese christliche Grundmaxime lasse sich in Luthers Freiheitsschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« finden. Zwei Dinge schälen sich nach Kaftan dabei als Kern des Christlichen heraus: »Zwei Sätze hat sie jedem guten evangelischen Christen unauslöschlich in die Seele geschrieben, den ersten, daß wir durch den Glauben Könige sind und Herren aller 285 286 287 288
Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 359f. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 360. Nitzsch, Art. Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, 360. Der Rezensent Hartung dieses Vortrages in der ThLZ hält Lobeshymnen auf Kaftan: »Zu dem Besten, was über Nietzsche je geschrieben worden ist, gehört Kaftans im Berliner Zweigverein des evangelischen Bundes gehaltener Vortrag.« Vgl. Hartung, Rezension, ThLZ, 1898, Nr. 12, 344. 289 Julius Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral. Ein Vortag gehalten im Berliner Zweigverein des Evangelischen Bundes, Berlin 1897.
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Dinge, den zweiten, dass wir durch die Liebe jedermanns Knecht sein oder werden sollen.«290
Nietzsches Angriff auf das Christentum versteht Kaftan dabei so, dass er »die Hand auf jene erste Hälfte unserer magna charta, unseres christlichen, evangelischen Grundgesetzes legt und uns die zweite ins Gesicht wirft«291. Nietzsches Herrenmoral umschreibt dabei für Kaftan in einer Art kondensierter Form Nietzsches Lebenswerk, die der christlichen Grundordnung diametral entgegenstehe. Interessanterweise lässt Kaftan seine Auseinandersetzung mit einem Blick auf den Menschen Nietzsche beginnen. Es erscheint ihm lohnend, aus dem familiären und beruflichen Werdegang nach Erklärungsmodellen für das philosophische Œuvre Nietzsches zu suchen. »Man wird ihn weder verstehen noch sich und seinen Glauben mit ihm auseinandersetzen können, wenn man nicht auf sein Leben und seine Schicksale achtet.«292
Diese Schwerpunktsetzung auf die biographischen Entwicklungen Nietzsches und Versuche zur Einordnung seiner Veröffentlichung in die bisherige Geistesgeschichte sind besonders auffällig und zeigen einen Weg des zeitgenössischen Umgangs mit Nietzsches. Vielleicht beweisen sie darin auch ein ungetrübtes Vertrauen in den Historismus, wonach Dinge durch die Beschreibung ihrer Genealogie erklär- und entschlüsselbar werden. »Dieser Mann, der durch und durch Wille, Affekt ist, Künstler, Dichter, Prophet, alles, nur nicht ein entsagender Jünger strenger Wissenschaft, hat sich doch den Ton anspruchsvoller Wissenschaftlichkeit angewöhnt und ihn auch dann noch beibehalten, wo er doch andererseits den Werth der Wahrheit anzweifelt und laut verkündigt, dass die letzten und auch die besten Quellen menschlichen Wesens in seinem Willen, in seinen Affekten und Trieben entspringen.«293
Nietzsche bleibt für Kaftan schwierig zu fassen, ein Phänomen ohne einen belastbaren Zugriffspunkt, schwimmend und schimmernd. Biographische Einflüsse hätten nach Meinung Kaftans direkte Auswirkungen auf Nietzsches Philosophie gehabt. Eine besondere biographische Fokussierung ist dabei die Behauptung Kaftans, dass der Mensch Nietzsche stetig auf der Suche nach Gott gewesen sei: »Daß er gottlos war, ohne Gott, daß er Gott verloren hatte, das ist das tragische Geschick seines Lebens.«294 290 291 292 293 294
Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 3. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 4. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 5. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 8. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 10.
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Es müsse also darum gehen, den Menschen Nietzsche zu verstehen, um von dort aus seine Philosophie und Wirkungen bewerten zu können. In »Also sprach Zarathustra« kommt dies für Kaftan zur Sprache und gewinnt an Eindeutigkeit: »Nietzsche hat in dieser letzten Periode den Zarathustra geschaffen, sein eigenes ideales Gegenbild, den Uebermenschen, den Uebernietzsche. Der ist sein Heiland, sein Erlöser, sein Gott. D. h. er ist das alles sich selbst.«295
Nietzsche wird in der Interpretation Kaftans an sich selbst krank, leidet an sich selbst und scheitert schlussendlich auch an sich selbst. »Sehr viele Menschen nehmen heute Nietzsche zur Hand und blättern darin, wenige lesen ihn an, noch weniger lesen seine Sachen wirklich durch.«296
Nietzsches Sprache überzeuge gerade nicht in erster Linie durch deren Inhalt, sondern durch deren Interpretationsoffenheit und einen den Leser umschmeichelnden Duktus. Nietzsches Werturteil des »Jenseits von Gut und Böse« wird von Kaftan speziell ausgeführt und in groben Linien nachgezeichnet. Der Protestantismus sei darin die blinde und konsequente »Erneuerung« der Sklavenmoral des Christlichen. Anders der Katholizismus, der nach Nietzsche wenigstens für sich beanspruchen könne, eher der Herrenmoral der Römer zu folgen. Kaftan belegt diese Ausführungen leider mit keinen direkten Zitaten, sondern lediglich mit der nietzscheanischen Zarathustra-Figur im Allgemeinen, die für ihn die leibhaftige Ausgestaltung der nietzscheanischen Herrenmoral bildet: »Nietzsche-Zarathustra verkündigt das neue Evangelium. Es ist Morgengrauen und Hahnenschrei.«297
Im Fortgang des Vortrags stellt Kaftan fest, dass die Philosophie Nietzsches nicht argumentativ widerlegt, sondern rein psychologisch offengelegt werden müsse. Dabei ergäben sich die entlarvenden Argumentationslinien bereits aus der Betrachtung von Nietzsches »Anlagen, Lebensentwicklung und Schicksal«298. Kaftan schreibt: »Da [sc. Anlagen, Lebensentwicklung und Schicksal] ist Nietzsche, er hat sie erfunden; analysirt man ihn und sein Lebensschicksal, seine Personalakten, so findet man, aus welchen Wurzeln diese seltsame Blume gewachsen ist.«299
Kaftan sieht darüber hinaus auch zu keiner Stellungnahme bemüßigt, da er sich der These Nietzsches grundsätzlich verweigert, die scheinbar bessere Herren295 296 297 298 299
Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 11. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 12. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 17. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 18. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 23.
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moral sei durch die schwächliche christliche Sklavenmoral abgeschafft worden. Kaftan verweist auf die Subjektivität moralischer Werturteile und verbittet sich solche scheinbar objektiv-wissenschaftlich Moralkonstruktionen wie diejenige Nietzsches, um eine eigene subjektive Form von Moral durchzusetzen. Nietzsches Angriff auf die gesellschaftlichen Normen führt Kaftan dabei auf eine »Großmannssucht und überreizte Nerven, Phantastik und viel irregeleitetes religiöses Bedürfnis«300 zurück, ohne damit eine echte und durchdachte Anfechtung für die christliche Gemeinschaft darzustellen. »D. h. um es derb zu sagen: ihr [sc. Nietzsches und seine Anhänger] seid Schmarotzer am Baum der menschlichen Gesellschaft, dessen Lebenssaft die von euch bekämpften Vorurteile sind. Und wenn der Baum fällt, ist es auch um euch Schmarotzer geschehen, selbst wenn sie eben im Begriffe stehen, den Uebermenschen auszubrüten. Oder dasselbe feiner gesagt: ihr seid ein Luxus, den die christlich-sittliche Gesellschaft sich gestatten kann, weil sie viel zu stark ist, um durch große Worte über den Haufen geworfen zu werden.«301
Wenn der Philosophie Nietzsches widerstanden werde, so befinde man sich nach Kaftan in der echten Nachfolge Jesu und der Martin Luthers. II.2.4.3 Heinrich Weinel In den Ausgaben 28/29 der »Christlichen Welt«302 aus dem Jahre 1903 beschäftigt sich der Professor für das Neue Testament Heinrich Weinel (1874–1936) in zwei kleineren Artikeln mit Nietzsches Beurteilung der Person Paulus und seiner Sicht auf den neuen Menschen. Weinels Auseinandersetzung zielt darauf, in Nietzsches Gedanken eine Anfrage zu erkennen, die es zu klären und anschließend zu beseitigen gilt303. Weinels Beschäftigung mit Nietzsche zeichnet dessen ernsthaften Versuch aus, Nietzsches Kritik und Anfragen argumentativ zu begegnen und schlussendlich nach Meinung des Autors deren Haltlosigkeit unter Beweis zu stellen.
300 Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 24. 301 Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, 23. 302 Heinrich Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, in: Christliche Welt, 1903, Nr. 28, 654–657 und Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus: 2. Der neue Mensch, in: Christliche Welt, 1903, Nr. 29, 684–686. Vgl. dazu auch eine weitere Veröffentlichung Weinels mit ähnlichen inhaltlichen Anklängen in der Kritik Nietzsches. Heinrich Weinel, Jesus im neunzehnten Jahrhundert, Tübingen 1903. 303 In einer anderen Veröffentlichung Weinels, Ibsen. Björnson. Nietzsche. Individualismus und Christentum, Tübingen 1908, spricht er davon, dass Nietzsches Philosophie nicht widerlegt, sondern verstanden werden müsste und dies wiederum bedeute: »Ihn verstehen, das heißt ihn auch überwunden haben.« AaO. 144.
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»Unter allen Gegnern des Christentums von Celsus an bis auf Ernst Haeckel und Eugen Losinksy ist keiner kühner und tiefer gewesen als Friedrich Nietzsche.«304
Was Nietzsche von Beginn an von Weinel zugestanden wird und ihn von anderen zeitgenössischen Christentumskritikern abhebe, sei dessen »feines, psychologisches Verständnis der Religion, ein Wissen darum, wie es einem frommen Menschen ums Herz ist«305. Nach Weinel gehe es Nietzsche nicht in erster Linie um »den Zweifel an dem altkirchlichen Dogma oder die Schwierigkeit des Glaubens an einen persönlichen Gott und eine andere Welt«306. Nietzsche kritisiere das Christentum von innen heraus, aus der Warte eines religiös begabten Menschen. So entgehe Nietzsche »keine Schwäche und keine Mangel des Gegners«307. Gleichzeitig fehle es Nietzsche jedoch aufgrund seines »bösen Auges des Hasses«308 bei entscheidenden Punkten an Verständnis und des »Blickes eines Wahrheitssuchers« gegenüber den Aussagen und den Intentionen Paulus und des Neuen Testaments: »Da ist endlich die größte Ungerechtigkeit, die Nietzsche gegen Paulus begeht, daß er ihn psychologisch zergliedert, ohne dieses Gottesglaubens auch nur mit einer Silbe zu gedenken als ob Paulus ein moderner Atheist wäre, der mit der ethischen Unvollkommenheit nicht fertig wird.«309
Als zentralen Text dieser Kritik benennt Weinel Nietzsches »Morgenröte«. Weinel hält fest, entweder habe Nietzsche den christlichen Denker Paulus schlichtweg missverstanden310 oder er habe ihn sogar dezidiert missverstehen wollen.311 Dabei versucht Weinel verstärkt die sittliche und tugendhafte Strahlkraft des Neuen Testaments und der paulinischen Theologie gegen die seiner Meinung nach ungebührlichen Angriffe Nietzsches zu schützen. Wo die Kritik Nietzsches darüber hinaus geht, wird Nietzsche von Weinel zuerkannt, Fehlentwicklungen der christlichen Kirche treffsicher aufzuzeigen, die es gerade auch aus einem kirchlich-christlichen Eigeninteresse heraus zu eliminieren gelte. Nietzsche könne durch seine Angriffe dabei behilflich sein, das eigene 304 305 306 307 308 309 310
Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 654. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 654. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 654. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 655. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 655. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 657. Beispielsweise werde dies am paulinischen Lasterkatalog in Gal 5, 9f. deutlich, den Nietzsche fälschlicherweise autobiographisch und nicht als ein paulinisches Stilmittel der Begründung verstehen würde. Vgl. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 655. 311 Weinel kommentiert dies süffisant, wonach er einem Menschen wie Nietzsche, der selbst zwei Bekehrungen, zu Schopenhauer hin und wiederum von ihm abwendend gehabt hätte, »mehr Verständnis für die Umkehrung eines Menschenherzen« zugetraut hätte. Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus. 1. Die Bekehrung, 656.
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Verständnis des Christlichen neuerdings zu schärfen und gegen Missinterpretationen zu schützen. In seinem Fazit zu Nietzsches Person und Werk wird dieser jedoch zu einem bemitleidenden Abbild des an sich selbst scheiternden Menschen: »Das hat der Fromme vor dem Nichtfrommen rein menschlich voraus, daß Stolz und Kühnheit ihm nicht zum Fallstrick der Eitelkeit werden, sondern sich ihm in Demut wandeln.«312
Im selben Jahr erschien Weinels Jesus-Buch unter dem Titel »Jesus im neunzehnten Jahrhundert«. Darin findet sich ein Kapitel zu »Jesus im Lichte des Kulturproblems«, in welchem er auch auf Nietzsche zu sprechen kommt. Dabei hält er die These fest, wonach in Nietzsches Elternhaus, bei seinem Lehrer Schopenhauer und auch beim älteren Wagner Jesus und sein Evangelium in buddhistischer oder pietistischer Weise lediglich als »Liebe, Liebe ist Mitleid«313 interpretiert worden wären. Ausgehend von dieser Grundinterpretation des christlichen Glaubens sei es nach Weinel zu Nietzsches Lebensaufgabe geworden, sich von diesem verengten und durchaus unpassenden Bild der christlichen Religion zu befreien. Nietzsches Denken und Philosophie wird von Weinel im Folgenden des Buches entsprechend biographisch-psychosomatisch aufgefächert und erklärt.
II.2.4.4 Theodor Odenwald Theodor Odewald (1889–1970)314 schrieb 1924 die Studie »Die Verkündigung Nietzsches und religiöse Krisis der Gegenwart«315. Allein der Titel lässt aufhorchen, verbindet er doch zwei zentrale Momente der Interpretation des nietzscheanischen philosophischen Œuvres und der damaligen Gegenwartshermeneutik miteinander. Besonders auffallend ist der Terminus der Verkündigung, denn er enthebt Nietzsches Werk aus der wissenschaftlichen Beurteilung hinein in den Bereich des Religiösen, wie Nietzsche sich wohl auch selbst verstanden wissen wollte. In seiner eigenen Gegenwart entdeckt Odenwald einen »geistigen Gährungs, Umschichtungs- und Umwertungsprozess«316. Diesen Entwicklungen wiederum stehe die christliche Kirche in einem offenen Prozess gegenüber. Odenwald schreibt: 312 Weinel, Art. Nietzsches Anklage gegen Paulus: 2. Der neue Mensch, 686. 313 Weinel, Jesus im neunzehnten Jahrhundert, 191. 314 Odenwald selbst wurde mit einer Arbeit zu »Das Religionsproblem bei Friedrich Nietzsche« (1922) promoviert. 315 Theodor Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, in ZThK (1923/1924), 449–466. 316 Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 449f.
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»Die Kirche sieht sich einerseits bedroht durch die Amalgierung mit der Geisteskultur der Zeit und zeigt Loslösungstendenzen von dieser, andererseits ist sie sich aber doch ihrer Aufgabe, kulturkritisch zu wirken, bewusst.«317
Es geht für Odenwald also um eine »Erneuerung des Christentums«318. Nietzsche werde dabei als Künder der religiösen Krise zu einem »religiösen Propheten«319, der womöglich Auswege aus der Krise weisen könne. Dabei kommt Odenwald jedoch zu dem Schluss, dass Nietzsche selbst die Religion jedoch aus zweierlei subjektiven Gründen ablehne. Zum einen aufgrund der »Erbschaft seines Jahrhunderts« und andererseits aufgrund seiner »dionysische[n] Geistigkeit«.320 In der Erbschaft der intellektuellen Strömungen des 19. Jahrhunderts sieht Odenwald Nietzsche insoweit verhaftet, als dass er Religion als ein menschliches Konstrukt denke, das durch den Intellektualisierungsprozess seit der Aufklärung zurückgedrängt worden sei. Unter dem Stichwort der »Gesetzlichkeit« wäre alles »Sein wie in einen undurchbrechbaren Rahmen eingespannt«321 geworden, der keinen Platz für transzendente Dimensionen gelassen hätte. Unter Nietzsches dionysischer Geisteshaltung hingegen versteht Odenwald dessen absolute Bejahung des Lebens, wobei es für Nietzsche ausgemacht sei, dass die Religion ein solches fundamentales Ja des Lebens nicht in sich berge könne. Daher mache sich Nietzsche daran, eine Art Religionsersatz zu erschaffen, den Odenwald mit dem Stichwort der »Verkündigung Nietzsches« überschreibt. Diese Verkündigung fasst Odenwald unter zwei Begriffe, zum einen unter denjenigen des »Übermenschen« und zum anderen unter den der »Ewigen Wiederkehr des Gleichen«. Odenwald interpretiert dabei Nietzsches Philosophie so, dass Nietzsche an die Stelle der religiöse-christlichen Verkündigung seine Lehre setzen wolle. Odenwald stellt die Frage in den Raum, ob »die Töne, die in der Verkündigung Nietzsches mitschwingen, wirklich religiös«322 seien. Nietzsche selbst behaupte dies, v. a. wie es in seinen Zarathustra-Bänden zum Ausdruck komme. Odenwald kommt seinerseits zu dem Schluss, dass Nietzsches Verkündigung jedoch lediglich im »präreligiösen« verhaftet bleibe: »Damit bleibt die Gefühlswelt, in die die Übermenschenidee eingebettet, im Präreligiösen stehen. Das religiöse Sehnsuchtsgefühl, das bei Nietzsche auch sonst sehr stark mitschwingt, entbehrt des religiösen Abhängigkeitsgefühls, das durch die dionysische Geistesbestimmtheit niedergehalten wird.«323
317 318 319 320 321 322 323
Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 450. Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 450. Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 450. Vgl. Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 453. Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 451. Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 458. Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 459.
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Odenwald attestiert seiner Zeit ein erhöhtes Religionsbedürfnis, wobei Nietzsche durch seinen Religionsersatz darauf keine ausreichende Antwort zu geben vermag. Die Form, in der sich Religion ausgießen könne, werde zum grundsätzlichen Problem, dem sich auch Nietzsche zu widmen versucht. Nicht die Religion an sich sei das Problem, sondern deren Konkretion: »Nietzsches Ablehnung der Religion ist ein Ablehnen der Form der Religion, die Nietzsche kennt. Ein verengter Pietismus, in dem er erzogen wurde, und andererseits eine verwässerte Bildungsreligion im Sinne von D. Fr. Strauß wird zurückgewiesen. […] Dadurch ist er der Typus der religiösen Gärung der Gegenwart in doppelter Beziehung. Typus für ein Drängen, alte nicht mehr befriedigende Form durch eine neue zu ersetzen, wie auch dafür, die transzendente Formung der Religion überhaupt abzulehnen.«324
Ausgehend von dieser Problemskizze kann sich Odenwald daranmachen, eine Religionstheorie zu entwerfen, die der von ihm aufgezeigten Problematik angemessen ist, ohne dabei Nietzsches Irrwege mitzugehen. Nietzsche wird dabei kein Wegweiser aus der Sackgasse, jedoch ein unerlässlicher Helfer bei der zielsicheren Definition der Krise. Die Religion brauche eine neue Form, jedoch eine transzendente, die von Nietzsches Verkündigung nicht geleistet werden könne, denn diese bleibe »eine religiös verbrämte Lebensphilosophie«325 in sich selbst. II.2.4.5 Hans Gallwitz Hans Gallwitz veröffentlichte 1896 seinen Aufsatz unter dem Titel »Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christenthum«326. Die bemerkenswerte These seiner Beschäftigung mit Nietzsche lautet: »Läßt man sich von der paradoxen Form des Nietzscheanischen Ausdrucks nicht abschrecken, sondern dringt durch die Schale zu dem Kern seiner ethischen Grundanschauungen durch, so wird man überrascht sein, in dem Antichristen einen Vorkämpfer für diejenigen sittlichen Werthe und Wahrheiten zu finden, welche durch Jesus Christus in die Welt gebracht sind.«327
Gallwitz Argument ist dahingehend zu lesen, den Inhalt der Philosophie Nietzsches von deren äußerlichen sprachlichen Kommunikation abzuschälen, um an ihren eigentlichen Kern zu gelangen. Gallwitz kolportiert damit die Meinung, wonach Nietzsche ein Grad an Naivität unterstellt wird, der ihn hätte 324 Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 462f. 325 Odenwald, Die Verkündigung Nietzsches und die religiöse Krisis in der Gegenwart, 466. 326 Hans Gallwitz, Art. Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, in Preußische Jahrbücher 83 (1896), 324–347. 327 Gallwitz, Art. Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, 325.
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den inhaltlichen Konnex seiner radikalen Gedanken zu denjenigen des Christentums nicht hätte erkennen lassen. Besonders durch Zitate aus »Also sprach Zarathustra«, die Gallwitz mit Aussagen und Lehren Jesu und Paulus in Verbindung bringt, zeige sich seines Erachtens die inhaltliche Nähe und Entsprechung bei den Begriffen des »Guten«, des»Glücks«, der »Tugend«, der »Wollust«, der »Herrschsucht« und der »Selbstsucht«. Was sich in der Verkündigung Jesu als wahrhaftig zeige, das lasse sich auch bei Nietzsche in Entsprechung finden. Jesus und Nietzsche hätten bei den Thematiken rund und das wahre Menschsein an den gleichen Fronten gefochten. Gallwitz zieht die Linie von Jesus, Paulus, über Luther hin zu Nietzsche und entdeckt bei allen den gleichen Impetus und dasselbe leitende Menschenbild, wie es Luther in seiner Freiheitsschrift 1523 zum Ausdruck gebracht habe. So kann er behaupten, dass »Nietzsches Denken und Empfinden wider Wissen und Wollen von diesem evangelischen Ideal beherrscht«328 gewesen sei. Des Weiteren versucht Gallwitz den Menschen Nietzsche von seiner Philosophie zu abstrahieren und damit seine eigene Theorie entgegen etwaige Einwände, in Nietzsche eher den Antichrist denn als den Missionar der Sache Jesu zu erkennen, zu verteidigen und zu legitimieren: »Nietzsche ist seinem eigenen Ideal untreu geworden«329, so die Meinung Gallwitzs. II.2.4.6 Die »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG) in ihrer I. und II. Auflage Fehlen darf an dieser Stelle nicht ein kurzer Überblick über das lexikalische Werk der »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG) in ihren Ausgaben I (1913) und II (1930), da von ihren jeweiligen Herausgebern der Versuch unternommen wurde, die zeitgenössischen Strömungen und Grundüberzeugungen zu religiösen Thematiken kondensiert festzuhalten. In der ersten Ausgabe der RGG von 1913 schreibt Friedrich Rittelmeyer den Artikel zu Nietzsche. Neben Abschnitten zu »Leben«, »Kampf gegen das Christentum« und »Lehre« kommt Rittelmeyer im vierten Abschnitt seines, auf eine ausgewogene Auseinandersetzung bedachten Artikels, auf Nietzsches »Bedeutung« zu sprechen. Rittelmeyer macht dabei auf drei Gebiete aufmerksam, in denen Nietzsches Einfluss in der gesellschaftlichen Entwicklung zu spüren sei. Im »kulturellen Leben« sieht er für Nietzsches Gedanken ein schöpferisches Potential, das es zu bergen gelte. In der Psychologie erkennt er in Nietzsche »ein heilsames Gegengewicht […] gegen allen falsch nivellierenden Sozialismus, allen lähmenden Pessimismus und allen einseitigen Pessimis328 Gallwitz, Art. Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, 341. 329 Gallwitz, Art. Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, 346.
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mus«330. Auf religiösem Gebiete sieht Rittelmeyer Nietzsches größtes Werk im »Rühren des religiösen Problems« zwischen Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit der christlichen Lehre und ihrer Auswirkungen auf das menschliche Leben. Rittelmeyer gesteht Nietzsche dabei sogar zu, dass er Grundbedürfnisse des Menschen durch seine Lehre angesprochen haben könnte, die er selbst jedoch nicht zu stillen im Stande gewesen sei, wohl aber »ein geläutertes Christentum«331. Nietzsche wird so zum Anstoß eines notwendigen »Läuterungsprozesses« des Christlichen. Daneben avanciert Nietzsche zum personifizierten Paradigma, als »der entschlossene Individualist mit seinem unangemessenen Drang nach Freiheit, Macht, Größe […] die Tragödie des Atheismus der Menschheit vorzuleben«332. Nietzsche wird als Mahnmal des gescheiterten Versuchs, das Menschsein neu und abseits des Religiösen zu definieren, stilisiert. Wohl darf dabei nicht unterschätzt werden, wie stark in diese Interpretation Rittelmeyers seine eigene Biographie und Überzeugungen hineinspielen. Als Begründer einer esoterisch-anthroposophischen »Christengemeinde« sah er wohl in Nietzsche den Diagnostiker eigener Wahrnehmungen bezüglich eines misslichen Zustands von Kirche und Gesellschaft, welchen er sich seinerseits durch sein eigenes religiöses Programm im Stande fühlte, zu beseitigen. In der II. Auflage der RGG aus dem Jahr 1930 übernahm der ebenfalls bereits genannte Theologieprofessor Odenwald333 die Aufgabe der Erstellung eines Artikels über Nietzsche. Seinen dritten Abschnitt über dessen »Bedeutung« beginnt er mit der Feststellung, dass nach der einstigen Periode des Totschweigens Nietzsches nun auch »der Mode- und Sensations-Nietzscheanismus«334 zu einem Ende gekommen seien. Den Nietzsche seiner Zeit findet er überall »da, wo die Frage der Kultur und der Religion ernsthaft erhoben wird, wo man den ›Mut zur Wirklichkeit‹ hat, […] wo man um innere Form des Individuums ringt«335. Für Odenwald wird Nietzsche zum Tür- und Angelpunkt einer mutigen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, sei dies nun auf kultureller, religiöser oder gesellschaftlicher Ebene. Auch Karl Barth findet in diesen Zeilen Erwähnung, wenn Odenwald dessen Art »mit dem Hammer zu theologisieren« auf einen nietzscheanischen Impetus zurückführt. Nietzsche wird in diesen Zeilen als eine prophetische Figur stilisiert, die einen Blick für die Krisis der
Friedrich Rittelmeyer, Art. Nietzsche, in RGG1 Bd. 4, Tübingen 1913, 794–800, 798. Rittelmeyer, Art. Nietzsche, 798. Rittelmeyer, Art. Nietzsche, 799. Odenwald war Professor der Theologie in Heidelberg und spielte während der Nazizeit eine unrühmliche Rolle mit seiner Begeisterung für die nationalsozialistische Idee und dem Aufkommen der Deutschen Christen. 334 Theodor Odenwald, Art. Nietzsche, in RGG2 Bd. 4, Tübingen 1930, 552–556, 555. 335 Odenwald, Art. Nietzsche, 555.
330 331 332 333
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Gegenwart besaß, deren Weitblick und prophetisches Wissen jedoch seinen Lesern und Interpreten erst nach und nach vor Augen treten würden. II.2.4.7 Zusammenfassung und der Versuch einer Rasterung Sechs unterschiedliche Theologen und ihre jeweiligen Zugänge und Verständnisse Nietzsches wurden vorgestellt. Im Folgenden soll nun jeweils eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Autoren stehen. Bei Friedrich Nitzschs Auseinandersetzung fallen verschiedene Dinge ins Auge. Zuallererst der Umstand, dass sich für Nitzsch kein spezifisch theologisches Interesse an Nietzsche finden lässt, sondern lediglich ein feuilletonistisches. Diese Einordnung Nietzsches als eines Feuilletonisten, der ein moralisches Ideal des Übermenschen verfolge, welches nicht einmal besonders originell, sondern verschiedene Quellen in der Geschichte habe, zeigt an Nietzsche kein explizit wissenschaftliches Interesse. Nietzsche wird von Nitzsch viel eher diese akademischwissenschaftliche Sphäre entzogen. Daneben versucht Nitzsch Nietzsche auf eine Art zu entmythologisieren und hinter die Fassade des Aphoristikers zu blicken und dort nicht viel mehr zu entdecken, als einen erheblichen Mangel an philosophischer Systematik und Intelligenz. Daneben wird Nietzsche in einem herausstechenden und beinahe krankhaften Individualismus gezeichnet. Für Julius Kaftan hingegen wird gerade ein theologisches Interesse an Nietzsche bei der Auseinandersetzung leitend, setze Nietzsche doch zum Angriff gegen die magna charta des Christlichen an. Einen Zugriff auf Nietzsche gewinnt Kaftan durch einen biographischen Zugang zu Nietzsche, wobei er besonders Nietzsches »Also sprach Zarathustra« als Werk und dessen Hauptfigur entscheidende Bedeutung zumisst. Für Kaftan wird dabei deutlich, dass sich Nietzsche Zeit seines Lebens auf Gottessuche befunden hatte, was ihn an einem inneren überzeichneten Individualismus kranken und leiden ließ. In Nietzsches Werk werde ein irregeleitetes religiöses Bedürfnis erkennbar und daher sei der Philosophie und dem Angriff Nietzsches nicht argumentativ zu begegnen, sondern dadurch, die verdeckte Psychologische offen zu legen und zu beschreiben. Der Exeget Weinel greift sich einen speziellen Angriff Nietzsches auf Paulus heraus und begegnet dieser nietzscheanischen These von einer akademisch argumentativen Seite aus. Seine Auseinandersetzung mit Nietzsche wird für Weinel daher dringlich, da er in Nietzsche einen weitaus größeren Kritiker des Christlichen als einen lediglich gewöhnlichen modernen Atheisten erkennt. Denn Nietzsche formuliere seinen Angriff nicht als Außenstehender, sondern als einer, der sich in religiösen Gefühlswelt beheimatet weiß. Gleichzeitig missbrauche Nietzsche seine religiöse Begabung in seinem hasserfüllten Blick auf das Christentum und gebe dem wahrheitssuchenden Blick keinen Raum, den Weinel selbst wiederum antreibt und die Angriffe Nietzsches abschmettern lässt. Daher un-
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terstellt Weinel Nietzsche an bestimmten Stellen die paulinischen Gedanken schlicht – absichtlich oder unabsichtlich – missverstanden zu haben bzw. die paulinische Theologie nicht in Gänze wahrgenommen zu haben. Gleichzeitig nutzt Weinel Nietzsches Kritik dazu – sei sie nun gerechtfertigt oder nicht – das genuin Christliche neu herauszustellen und in Abgrenzung zu Nietzsches Thesen zu profilieren und von ihnen ausgehend ein geläutertes Christentum anzustreben. Odenwald wiederum charakterisiert Nietzsche nicht als Philosophen eines Systems, sondern eher als den Propheten und Künder einer präreligiösen Weltsicht, von dem aus die Lösung der religiösen Krisis der Gegenwart angegangen werden könne. Er bezeichnet Nietzsche als einen religiösen Propheten und sieht dessen Hauptwerk darin, eine Art Religionsersatz erschaffen zu wollen. Dabei habe Nietzsche auf ein erhöhtes religiöses Bedürfnis seiner Zeit reagiert und versucht, diesem zu entsprechen. Gleichzeitig sieht es Odenwald jedoch als problematisch an, bei Nietzsches Verkündigung von einer Religion zu sprechen und verweist sie stattdessen in den Bereich des Präreligiösen, da ihr ein Transzendenzbezug fehle. Eine ähnliche Interpretation liefert auch Rittelmeyer, wenn er Nietzsche attestiert, ein feines Gespür für gesellschaftliche Veränderungen und Bruchstellen gehabt zu haben, selbst jedoch kein geeignetes Instrumentarium zur Gestaltung dieser Herausforderung anbieten zu können. Nietzsche selbst wird von Rittelmeyer als Mahnmal des gottlosen Menschen stilisiert, der in den eigenen Antworten auf seine Fragen keine Erfüllung finden konnte. Diese erkannten Bruchstellen der Gegenwart gelte es nun mit der Hilfe von Nietzsches Beschreibungen gestalterisch anzugehen. Gallwitz fällt gegenüber den anderen Autoren aus dem allgemeinen kritischen Raster. Er seinerseits betont, dass bei Nietzsche von der Schale zum Kern vorgedrungen werden müsse. Seine These lautet, Nietzsche setze die moralisch christlich-religiöse Linie ausgehend von Jesus über Paulus und Luther in die Gegenwart hinein fort. Seiner Ansicht nach würden alle dasselbe christlichreligiöse Menschenbild vertreten. Sein konsequentes Fazit lautet dementsprechend, dass Nietzsches Denken von einem, wenn auch verdeckten, inneren evangelischen Ideal geleitet sei. Eine solche Kritik Nietzsches zeigt sich dabei als besonders krude, da sie nicht nur die argumentative Stichhaltigkeit von Nietzsches Gedanken bestreitet, sondern sogar dessen inhaltliche Grundausrichtung. Folgende schematische Rasterungsfelder ergeben sich aus dieser Übersicht: a) Die Popularität Nietzsches Nietzsche ist populär und trifft für eine große Mehrheit der Zeitgenossen den Kern einer krisenhaften Gegenwartsbeschreibung, in kulturellen wie religiösen Belangen. Unterschiedlich beurteilt wird dabei, ob Nietzsche dabei eher Anzeiger der Krise, Ursache der Krise oder ein Helfer zur Überwindung der Krise sein könnte.
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b) Die Person Friedrich Nietzsche Wer ist Friedrich Nietzsche? Ein sachorientiert argumentierender Philosoph (Weinel) oder ein affektgeleiteter religiöser Feuilletonist (Kaftan, Nitzsch, Odenwald)? c) Friedrich Nietzsches Angriff auf und Verhältnis zum Christentum a) Nietzsches Angriff auf das Christentum Zielen seine Argumentationen auf den Kern des Christlichen (Kaftan) oder nur auf dessen fehlgeleiteten Irrwege und zu reformierenden Bereiche des Christlichen (Weinel, Rittelmeyer)? Und daraus folgernd: Ist seiner Philosophie durch eine evangelische Theologie argumentierend richtigstellend (Weinel), biographisch aufdeckend (Kaftan), durch eine Einordnung in die Philosophiegeschichte (Nitzsch) oder im Genre des Feuilletons zu begegnen? b) Nietzsches Verhältnis zum Christentum Befindet sich Nietzsche innerlich auf einer Gottessuche (Kaftan, Odenwald) bzw. ist er ein tief religiöser Mensch (Weinel)? Und schafft sich Nietzsche davon ausgehend in seiner Suche einen Religionsersatz, jedoch ohne jeden Transzendenzbezug (Odenwald), der damit von vornherein das vermissen lässt, wonach Nietzsche eigentlich sucht? Oder ist Nietzsche im Grunde seines Herzens nie vom christlichen Glauben und seinen Überzeugungen abgefallen, sondern deren eigenwilligster Verfechter (Gallwitz)?
II.3
Nietzsche als hermeneutischer Zugang zur Gegenwart der Jahrhundertwende
Was ist aus diesen Nietzsche-Rezeptionen und ihren Verknüpfungen zu zeitgenössischen Krisendebatten und Gegenwartshermeneutiken unter den vorgestellten Stichwörtern für den Fortgang dieser Studie zu lernen? Ehrlicherweise scheint es vermessen, ein abschließendes Fazit vorlegen zu können. Viel eher können die Problemkreise deutlicher offengelegt werden, um die sich die theologische Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende drehten. Zu Beginn ist festzuhalten, dass eine Auseinandersetzung mit Nietzsche für Theologen lohnend oder gar geboten erschien, auch wenn ihre theologischen Motivationen unterschiedlich gewesen sein mögen. Diese unterschiedlichen Motivationen können u. U. differente Sichtweisen auf Nietzsche, ja auf ein schillerndes Nietzschebild der jeweiligen Gegenwart bezeugen. War er der Künder einer neuen Religion, die es aus theologischer Sicht kritisch zu beleuchten galt? War er ein philosophischer Christentumskritiker, dem auf wis-
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senschaftlichem Niveau zu begegnen war oder war er ein getriebener Polemiker, ein Problem und Irrtum, dem all jene zujubelten, die sich an den Rand der gesellschaftlichen Mitte gedrängt sahen und in Nietzsche ihren Propheten erkannten, der in ihrem Sinne eine sich anbahnende Weltverbesserung prophezeite? Die unterschiedlichen Sichtweisen auf Nietzsche einend war die Ansicht, wonach Nietzsche als Schlüssel zur Problemskizze der eigenen Gegenwart gesehen werden konnte. In dieser besonderen Disposition zur Beschreibung der zeitgenössischen krisenhaften Veränderungen336 wurde er auch von seinen Zeitgenossen verstanden, dabei wohl weniger als deren Überwinder, sondern deutlicher als deren personenhafte Ausformung.337 Wer Nietzsche in Auseinandersetzung und Rezeption ernst nahm und sich an eine Kritik wagte, der sah die Geschichte und eigene Gegenwart an einem neuralgischen Wendepunkt. Dieser neuralgische Punkt kann m. E. im Verhältnis der eigenen Gegenwart zur allgemeinen Relativität und Bedingtheit aller Geschichtlichkeit erkannt werden. Welche Auswirkungen haben vergangene Ereignisse, historisch überlieferte Einsichten und Wahrheiten für die individuell-subjektive Festsetzung von Wahrheit, Sinn und Ziel des eigenen Lebens? Wohin entwickelt sich die Zukunft, die scheinbar auf unsicheren Fundamenten zu stehen scheint? Overbeck, Nitzsch und Kaftan stellen mit ihren Persönlichkeiten beispielhaft Grundtypen der theologischen Positionierung dar, bei denen jeweils deutlich wird, dass das eigene theologische Arbeiten Auswirkungen auf die NietzscheRezeption hat. Overbeck, der mit einer grundsätzlichen Anfrage an die Verquickung von Kultur und christlichem Glauben und der Berechtigung einer theologischen Wissenschaft umging, wusste mit Nietzsche einen scharfsinnigen und wortgewaltigen Mitstreiter an seiner Seite. Nitzsch, Kaftan und in gewisser Weise wohl auch Troeltsch waren theologische Inbegriffe dessen, wogegen sich diese Nietzsche kritisch aufnehmende Lesart zu wenden suchte: das Amalgam eines Christentums, das sich mit einer modernen Kultur und ihrer Gesellschaft positiv-unkritisch verschmolzen hatte und die Möglichkeit einer kritischen Begleitung der gesellschaftlichen Prozesse verwirkt hatte. Deutlich wurde auch, dass nicht selten die Rezeption und Kritik Nietzsches auf Umwegen beschritten worden war und nicht ein direkter unmittelbarer 336 Köster hält fest, dass der Sitz im Leben der Nietzsche-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts eindeutig die Krisis des Christlichen sei. Vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 180. 337 Die Krankheit Nietzsches könnte dabei eine entscheidende Rolle für seinen Personenkult gespielt haben. Denn die Krankheit wurde als erlittenes Martyrium interpretiert und ein regelrechter Kult um den Toten Nietzsche entfacht. Vgl. Hubert Cancik, Der Nietzsche-Kult in Weimar. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der wilhelminischen Ära, (Nietzsche-Studien, Bd. 16), Berlin/New York 1987, 405–429.
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Zugang zum Werk Nietzsches aufgrund dessen philosophischer Schärfe und Tiefe an sich leitend war. Entweder über die Interpretation Nietzsches durch andere Zeitgenossen oder aber die bereits angedeutete Wahrnehmung einer Krisis in der eigenen Gegenwart ebnete den Weg vieler theologischer Rezipienten zu Nietzsche. Diese kritische Gegenwartsbeschreibung und eine Gesellschaft im Umbruch konnten in den Beschreibungen Tillichs und Bonhoeffers bestätigt gesehen werden und wurde ebenso von Overbeck in der theologischen Disziplin als selbst vorfindlich beschrieben. Diese Beobachtungen scheinen für die Beschreibung der theologischen Nietzsche-Rezeption zentral, da an ihnen deutlich wird, dass Nietzsche auch immer der Philosoph war, für den andere ihn hielten oder machten und wohl erst in zunehmend zeitlichem Abstand und Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung zu dem Philosophen wurde, der er nach eigenem Verständnis sein wollte.338 Nietzsche wurde zur Figur des gesellschaftlichen Konflikts zwischen Modernität und Konservatismus und von Gegner wie Befürwortern als Gallionsfigur benutzt. Wichtig ist dabei im Blick zu halten, dass sich mit Nietzsche einem Philosophen genähert wird, der diesen Konflikt als Krise der Gegenwart zu beschreiben vermochte und wohl auch durch sein philosophisches Werk zu überwinden suchte. Er selbst verstand sich als der »unzeitgemäße« Beobachter und Denker seiner eigenen Lebenszeit, was nicht zuletzt durch seine »Unzeitgemäßen Betrachtung« besonders in seiner »Unzeitgemässe Betrachtungen II.« von ihm selbst so herausgestellt und zum Ausdruck gebracht wurde. Wo Nietzsches eigene Gegenwart den Historismus und seine Denkart feierte, setzte er sich, wie der Titel es deutlich vor Augen führt, kritisch mit ihm auseinander – sprichwörtlich unzeitgemäß. Nietzsche selbst propagierte »eine postmoderne Überwindung des Nihilismus und der Dekadenz durch den Übermenschen«339 und avancierte so zum Vordenker der Post-Moderne, da anhand seiner Gedanken die Unglaubwürdigkeit jeglicher Großideologien, den kommenden, wie den bereits erlebten, des Kapitalismus, Faschismus, Nationalismus und Marxismus-Leninismus, deutlich herausgearbeitet werden konnte.340 Wo Schriftsteller wie Balzac, Keller und Philosophen wie Hegel das Ende der Ambiguität 338 Dies wiederum lässt die Frage offen, inwieweit diese Entwicklung zu beklagen und auszumerzen sein sollte. Wird Nietzsche nicht gerade dadurch zu einem populären Philosophen, der als Sprachrohr allgemeiner gesellschaftlichen Entwicklungen und Hoffnungen fungieren konnte? Gleichzeitig werden Nietzsche und seine Philosophie zu einem Rahmen, der mit eigenen Gedanken und Verständnissen gefüllt werden kann. Für den Fortgang der Arbeit gilt es diese Beobachtung angemessen zu beachten und als Problemstellung vor Augen zu haben, wenn die spezifische barth’sche Nietzschelesart in den Blick genommen wird. 339 Zima, Moderne/Postmoderne, 31. 340 Vgl. Zima, Moderne/Postmoderne, 33f.
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und Ambivalenz zwischen »Sein und Schein, Wahr und Falsch, Gut und Böse« propagieren wollten, trat Nietzsche als Postmoderner Denker auf, der dieser Idee in seiner Philosophie eine deutliche Absage erteilte, indem er ihnen entgegen die schlicht anzuerkennende Indifferenz zwischen diesen Werte lauthals propagierte.341 Friedrich Nietzsche wurde zu dem epochenübergreifenden Phänomen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, denn »nahezu alle wichtigen Themen der postmodernen Philosophien werden von Friedrich Nietzsches Werk antizipiert, sofern es als eine Reaktion auf den europäischen Idealismus gelesen wird: auf dessen Kernbegriffe wie Geschichte, Notwendigkeit, Subjekt, Wesen, Wahrheit, Totalität, Dialektik und Arbeit«.342
341 Vgl. Zima, Moderne/Postmoderne, 42f. 342 Zima, Moderne/Postmoderne, 130.
III.
Barths Römerbriefkommentar in I. (1919) und II. Auflage (1922)
III.1 Zwischen universitärer Theologie, pfarramtlicher Praxis und den gesellschaftlichen Herausforderungen Im Jahr 1957, und damit in einem zeitlichen Abstand von mehr als 40 Jahren, erinnerte sich Karl Barth in seinem Vorwort zur »Geschichte der Evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert« folgendermaßen an einen besonders neuralgischen Punkt seiner Biographie – seinen Bruch mit der sogenannten »liberalen Theologie«: »Mir persönlich hat sich ein Tag am Anfang des Augusts jenes Jahres (sc. Kriegsausbruch 1914) als der dies ater eingeprägt, an welchem 93 deutsche Intellektuelle mit einem Bekenntnis zur Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. und seiner Ratgeber an die Öffentlichkeit traten, unter denen ich zu meinem Entsetzen auch die Namen so ziemlich aller meiner bis dahin gläubig verehrten theologischen Lehrer wahrnehmen musste. Irre geworden an ihrem Ethos, bemerkte ich, dass ich auch ihrer Ethik und Dogmatik, ihrer Bibelauslegung und Geschichtsdarstellung nicht mehr werde folgen können, dass die Theologie des 19. Jahrhunderts jedenfalls für mich keine Zukunft mehr hatte.«343
Eine genaue Datierung und den genauen Auslöser dieses Bruches im theologischen Denken Karl Barths zu eruieren, ist ein viel diskutierter Schritt in der Entwicklung seiner dialektischen Theologie und schon seit jeher von zentralem Interesse für die Barthforschung gewesen. 1975 veröffentliche Wilfried Härle in der ZThK seinen Artikel »Der Aufruf der 93 Intellektuellen und Karl Barths Bruch mit der liberalen Theologie« in dem sich erstmals auf die Suche nach dem genauen Wortlaut344 dieses Aufrufs an die 343 Karl Barth, Evangelische Theologie im 19. Jahrhundert (Theologische Studien 49), ZollikonZürich 1957, 6. 344 Laut Härle findet sich der älteste Wortlaut in der Ausgabe der Frankfurter Zeitung, Nr. 275 vom 4. Oktober 1914. Vgl. Wilfried Härle, Der Aufruf der 93 Intellektuellen und Karl Barths Bruch mit der liberalen Theologie, in ZThK Nr. 72 (1975), 207–224, 209.
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Kulturwelt gemacht und versucht wurde, diesen auf dem Hintergrund der autobiographischen Aussage Barths für dessen theologischen Werdegang nachzuvollziehen. Ein erstes wichtiges Ergebnis Härles lautet dahingehend, dass sich nicht mehr genau feststellen lässt, wer die maßgeblichen Initiatoren und Wortführer dieser Einlassung gewesen sind. Wohl aber lassen sich unter den Unterzeichnenden maßgebliche Professoren für Barths Studium und frühes theologisches Denken, wie Adolf von Harnack, Adolf Schlatter und Wilhelm Herrmann finden. Härle vermag es im Laufe seiner Untersuchung aufzuzeigen, dass für den Karl Barth des Jahres 1914 dieser Aufruf nicht den Stellenwert eines dies ater eingenommen zu haben scheint, sondern erst für den Barth des Jahres 1957, der sich im Rückblick auf den sagenumwobenen Bruch mit der liberalen Theologie zu besinnen versuchte. Es wird vielmehr deutlich, dass Barth im Nachdenken über seinen theologischen Werdegang ganz selbstverständlich von einer datierbaren und eindeutigen Bruchlinie ausgegangen zu sein scheint, die sein theologisches Denken maßgeblich verändert hatte. Wo Härle noch davon ausgeht, dass der Bruch Barths mit der liberalen Theologie bereits vor 1914 inhaltlich und programmatisch deutlich im Anbruch war345, argumentiert McCormack deutlich vorsichtiger und schreibt: »Wenn Barths Enttäuschung über das ethische Versagen seiner theologischen Lehrer für ihn der Anlass war, nach einer neuen Theologie zu suchen, dann hatte seine Suche nach einer neuen Welt bereits viel früher begonnen«, was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht bedeutet haben musste, dass Barth sich grundsätzlich »von ihrem Ausgangspunkt und ihrer Methode verabschiedet« hätte, sondern nur an bestimmten materiellen Differenzierungen interessiert gewesen scheint.346 Bruce L. McCormack entwickelt in seiner Studie »Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936« die bis dato umfassendste und fundierteste Darlegung der barth’schen theologischen Entwicklung. Mit Schwöbel347 und McCormack sollten verschiedene sich ablösende und ineinander übergehende Phasen in Karl Barths früher Theologie beschrieben werden.348 Denn Barths theologisches Denken war 345 Vgl. Härle und seine Interpretation eines Vortrags Barths aus dem Jahr 1911 unter dem Titel »Jesus Christus und die soziale Bewegung« in dem er eindeutige Anzeichen eines beginnenden Bruches auszumachen versucht. Härle, Aufruf, 219f. 346 Vgl. Bruce L. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, Aus dem Englischen von Matthias Gockel, Zürich 2006, 88. 347 Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel. Mit einer Einleitung hg. v. Christoph Schwöbel, Gütersloh 1981. Hier besonders 9–58. 348 Für eine differenzierte und feinere Unterscheidung sei an dieser Stelle auf McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus und das Barth Handbuch, hrsg. v. Michael Beintker, verwiesen.
Universitäre Theologie, pfarramtliche Praxis, gesellschaftliche Herausforderungen
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nach dem universitären Studium herausgefordert, die eigene pfarramtliche Praxis theologisch zu reflektieren und von dort aus der konkreten Not der Menschen zwischen sozialer Ungerechtigkeit und unheilvollem Kriegsgeschrei theologisch fundiert zu begegnen. Die drei Stichworte von universitärer Theologie, einer pfarramtlichen Praxis in Genf und Safenwil und einer überaus bewegten gesellschaftspolitischen Zeit, zwischen sozialen Ungerechtigkeiten und bis dato ungekannten kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa rahmen und verdichten diese prägenden Jahre in Barths Biographie.
III.1.1 Der Marburger theologische Hintergrund Eine erste Station auf diesem Wege bildete die Abkopplung von der durch Barths Vater vertretenen konservativen Theologie und die Hinwendung zur liberalen Theologie in Marburg349, fußend auf Schleiermacher, Harnack und Ritschl. Deren liberale Wortführer waren in Marburg der Ethiker Wilhelm Hermann (1846–1922) und der Dogmatiker Martin Rade (1857–1940). Rade selbst war neben seiner Hochschularbeit auch der Begründer und Herausgeber der damaligen hochpopulären Zeitschrift »Christliche Welt«. Dabei war diese Zeitschrift zur Zeit der Jahrhundertwende das zentrale Organ der theologischen Auseinandersetzung im deutschen Reich. Rade selbst war neben seiner redaktionellen Arbeit für seine zugängliche und offene Art gegenüber Studenten bekannt und bot Barth im Anschluss an dessen Examen für ein Jahr die Möglichkeit, als Lektor bei der »Christlichen Welt« mitzuarbeiten. Doch nochmals zurück zum Spezifikum Marburg und der dortigen Theologie. »Die Marburger Theologie gehörte zum linken Flügel der Ritschl-Schule«350 und wies sich von daher als überaus liberal aus. Eine Denkrichtung, für die Barth in seiner Studienzeit ein erhebliches Interesse zeigte, jedoch erst mit dem Segen seines Vaters im letzten Semester seines Studiums nachkommen und damit seine theologischen Studien in Marburg zu Ende bringen durfte. Vor diesem speziellen Marburger Hintergrund sind die beiden ebenfalls dort lehrenden Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp zu versammeln, denen es ihrerseits daran gelegen war, die Rolle der Religion in der Moderne zu beschreiben und mit ihrem »Marburger Neukantianismus« sowohl Barths Lehrer Herrmann als auch Barth selbst stark beeinflusst haben. McCormack beschreibt die Charakteristik dieses Denkens wie folgt:
349 Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 51ff. 350 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 55.
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»Der Marburger Neukantianismus351 war ein typisches Produkt der Welt, die mit dem Ersten Weltkrieg in Schutt und Asche zerfiel. Ein System, das bewusst als eine wissenschaftliche Begründung des Fortschritts der deutschen Kultur angelegt war, konnte nach dem beinahe vollständigen Zusammenbruch dieser Kultur nicht mehr akzeptiert werden.«352
Johann Friedrich Lohmann hat mit seiner Studie »Karl Barth und der Neukantianismus« eine dezidierte Untersuchung dieser philosophischen Richtung vorgelegt und zeigt bereits durch seinen Titel an, dass dieser Neukantianismus entscheidende Einflüsse auf Barth in seinen Römerbriefauflagen genommen zu haben scheint. Lohmann wagt sich an eine Beschreibung dieser »weitgehend in Vergessenheit geratenen«353 philosophischen Schule und versucht anhand von fünf paradigmatischen Grundbegriffen, die Charakteristik des Neukantianismus zu umreißen, denen sich in kurzen Thesen im Folgenden genähert wenden soll. Als erstes Spezifikum benennt Lohmann: »Der Neukantianismus betont einen engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Wissenschaft«.354
Die zunehmende erkenntnistheoretische Verschiebung hin zu den empirischen Naturwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätte die Philosophie zunehmend ins Abseits gedrängt, was sie ihrerseits zu einem Versuch geführt habe, die »Wissenschaftlichkeit der Philosophie« an sich zu betonen.355 Damit einhergehend wurde sich mit der Frage beschäftigt, was »Philosophie zur wissenschaftlichen Philosophie« mache und fand ihre Beantwortung dahingehend, die Aufgabe der Philosophie derart zu beschreiben und darzustellen, »was die einzelnen Wissenschaften verbindet und wie Wissenschaft bzw. generell Erkenntnis zustande kommt«.356 Ein zweites, sich auf das erste aufbauende, Charakteristikum beschreibt Lohmann wie folgt: »Philosophie ist für Neukantianer immer kritische Philosophie. Kritik wird dabei als »Erkenntniskritik« verstanden und steht für eine erkenntnistheoretische Fundierung der Philosophie und der Wissenschaft.«357 351 Für weitere und detaillierte inhaltliche Ausführungen vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 60–64. 352 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 64. 353 Vgl. Johann Friedrich Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, (Theologische Bibliothek Töpelmann Bd. 72), Berlin/New York 1995. 354 Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 37. 355 Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 38. 356 Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 40. 357 Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 43.
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Es gehe dabei darum, die »apriorischen, bzw. allgemeinen und notwendigen, Grundlagen der Erkenntnis« zu beschreiben, wobei sich die bloße »Behauptung der Existenz solcher Grundlagen« als Spezifikum der neukantianischen Schule erweise.358 Eine dritte Komponente bilde das Resultat »dieser kritischen Untersuchung, […] [wonach sie] stets eine Erkenntnistheorie [sei], die »die Subjektkomponente im Erkenntnisvorgang« mehr oder weniger stark betont«.359 Gemeint ist damit, dass von den Neukantianern zwar die »Annahme eines erkenntnistheoretisch transzendenten Gegenstands« gelte, gleichwohl um »dessen Näherbestimmung« gerungen werde.360 Dieser transzendente Gegenstand bedeute dabei gerade der Vorstellung entgegenzutreten, wonach »in der weiten Welt nichts existierte, als die Vorstellungsmassen der Individuen«.361 Stattdessen existiere mit Kant argumentierend eine Dimension, die, die bloße Subjektivität des Denkens übersteige, dabei zwar keine Objekte beinhalte, wohl aber allgemeingültige Formen, Werte, Prinzipien des Denkens und Vorstellungen von Wahrheit in sich berge. Das vierte von Lohmann aufgestellte Charakteristikum zeichnet sich als ein doppelt kritisches gegenüber einerseits »einseitig spekulativen« und andererseits »einseitig empiristischen« Formen von Philosophie aus362 : »Philosophische Entwürfe, die eine derartige erkenntniskritische Fundierung nicht oder nur unzureichend ausführen, verfallen dem Verdikt des Dogmatismus. Betroffen sind davon einerseits die traditionelle Metaphysik und der deutsche Idealismus, andererseits Materialismus, Empirismus und Positivismus.«363
Als abschließende und den Neukantianismus grundlegende Komponente betont Lohmann, dass die vorangegangenen Charakteristika alle »unter ausdrücklicher Berufung auf Kant« ausgearbeitet werden.364 An dieser Stelle sei der Blick auf die beiden in Marburg lehrenden neukantianischen Philosophen Hermann Cohen (1848–1918) und Paul Natorp (1854– 1924) gelenkt. Besonders die Begrifflichkeit und Definition des »Ursprungs« als erkenntnistheoretische Grundkomponente sollte hierbei näher bedacht werden. Dieser Ursprung ist es nämlich für Cohen, der als Garant der Reinheit und Logik des Denkens fungiert. Im Ursprung manifestiere sich sozusagen das Idealbild des Denkens, an dem sich ein jegliches davon ableitende Erkenntnis zu orien358 359 360 361 362 363 364
Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 44. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 45. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 48. Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 48. Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 48. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 48. Lohamnn, Barth und der Neukantianismus, 50. Nach Lohmann lassen sich die genannten Spezifika allesamt mit Aussagen aus Kants »Kritik der reinen Vernunft« in Verbindung bringen. Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 50–52.
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tieren habe.365 Interessant wird hierbei, wie Cohen diesen Ursprungsgedanken auf Gott im Anschluss an jüdische religionsphilosophische Gedanken anwendet: »Maimonides aber unterscheidet […] das Sein Gottes vom Leben. […] Nur das Sein ist Gegenstand unserer Gotteserkenntnis; das Dasein gehört unter die negativen Attribute […]«366
Weiter profiliert er den monotheistischen Gottesgedanken im Anschluss an rabbinische Schriftauslegungen in dessen »absolute[n] Differenz des göttlichen von allem anderen Sein«367, wobei das positive Weltverhältnis Gottes in seiner »immanente[n] Beziehung auf das Werden, indem es dessen Grundbedingung sei«, gefunden werden könne.368 Somit wird der Gedanke des »Ursprungs« von Cohen »auf den monotheistischen Schöpfungsgedanken«369 angewendet und nach seinen eigenen Worten hätte »der Ursprung […] nicht nur für den ersten Anfang einzustehen – das wäre mythologisch -, sondern er muß den Fortbestand und demgemäß die Forterhaltung in sich begründen«370. So gesehen, wird von Cohen mit dem Ursprungsgedanken eine wirkmächtige Vitalität zum Ausdruck gebracht, die ihre Vitalität nicht singulär, sondern immer wieder neu unter Beweis zu stellen vermag. Herrmann selbst war zu Beginn seiner Studien- und Lehrtätigkeit stark durch die religionsgeschichtliche Schule in der Prägung Albrecht Ritschls beeinflusst und beschäftigte sich Zeit seines Lebens eingehend mit der zentralen Frage seiner Zeit, nämlich nach dem Verhältnis von Glauben, Wissen und Geschichte. Im Vorwort zur fünften Auflage seiner Ethik von 1921 beschreibt Herrmann die Hauptaufgabe der Ethik dahingehend, »die Frage nach dem Wesen der Religion und ihrem Verhältnis zu Wissenschaft und Sittlichkeit«371 zu stellen. Herrmanns Fragstellung steht somit sinnbildlich für die Herausforderung der Religion in der Moderne, ihrer spezifischen Funktion in ihr und ihres Verhältnisses zu dieser. Herrmann bearbeitete in den Jahren 1884–1892 zunächst und grundlegend in einem seiner Hauptwerke »Der Verkehr des Christen mit Gott« die Problematik des individuellen Glaubens, der in der geschichtlicher Offenbarung Gottes als Selbstoffenbarung in Jesus Christus begründet sei. Herrmann löst die Pro365 Vgl. die genaue Untersuchung Lohmanns »2.2 Cohens Konzept des Ursprungs«, Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 100–117. 366 Hermann Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie (Philosophische Arbeiten Bd. X 1. Heft), Gießen 1915, 47. 367 Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 112. 368 Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 113. 369 Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 115. 370 Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln 21959 [1919], 79. 371 Wilhelm Herrmann, Ethik, (Grundriss der theologischen Wissenschaften; [Reihe 1], Tl. 5, Bd. 2), Tübingen 51921, XIII.
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blemstellung so auf, dass er »die geschichtliche Tatsache der Person Jesu«372 zu einem »Bestandteil«373 des eigenen subjektiv-religiösen Lebens werden lässt und zwar nicht in der Form einer historisierenden Anerkenntnis der in den Evangelien beschriebenen Taten und Lebensdaten Jesu, sondern des »inneren Leben Jesu«374, das es als das eigene religiöse Gefühl nachempfinden zu gelte. In Jesus von Nazareth sei Gottes lebensverändernde und rettende Macht geschichtlich und somit auch so für den individuellen Glaubenden existentiell erfahrbar geworden, »wenn wir nur mit dem inneren Leben Jesu als der Macht, die uns zu Gott erhebt, verbunden bleiben«375. Für Herrmann ergibt sich daraus die Möglichkeit, von der Gleichzeitigkeit und damit Überzeitlichkeit des inneren Lebens Jesu in der Beziehung zum individuellen Glaubensleben des Einzelnen zu sprechen. Diese Einsicht führt für Herrmann zu einer notwendigen Entschlackung des christlichen Glaubens von historischen Dogmen und Glaubenssätzen, hin zum einfachen Erleben der sittlich-inneren Wahrheit des christlichen Glaubens, wie sie in der geschichtlichen Person Jesus Christus vorgelegen hätte. Für Herrmann ergeben sich daher zwei objektive Gründe für die Wahrheit der christlichen Religion: »Erstens die geschichtliche Tatsache der Person Jesu. […] Zweitens das Bewusstsein davon, dass die sittliche Forderung uns selbst beansprucht.«376
Deutlich wird, dass Herrmanns Theologie bedeutend von Schleiermacher und dabei besonders von dessen Reden beeinflusst worden ist, in denen Herrmann seine These des inneren religiösen Lebens und Empfindens, als Kern der Geschichtlichkeit und Inhalt des Religiösen, bestätigt fand. Herrmann kann daher auch die Urform der Reden von 1799 als die »wichtigste Schrift, die seit dem Abschluß des Kanons des Neuen Testaments«377 verfasst worden sei, bezeichnen. Daneben war Herrmann wohl auch in besonderer Weise durch die Kantlektüre beeinflusst. Hier sind für ihn besonders die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« genannt. In seiner letzten Schaffensperiode ergab sich in Herrmanns Theologie insofern eine entscheidende Veränderung, als dass er die alleinige Offenbarung Gottes in Jesus Christus relativierte und in der Sittlichkeit »dieselbe Offenbarung Gottes
372 Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dargestellt, Stuttgart und Berlin 41904 [1886], 84. 373 Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, 84. 374 Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, 96. 375 Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, 96. 376 Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, 84. 377 Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Gütersloh 51994 [1975], 49.
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in anderer Form«378 vorzufinden konnte, wobei er deren Korrelation dort speziell hervorhob, wo Religion und Sittlichkeit auf die Frage nach der Wahrhaftigkeit des Lebens gerichtet seien. Religion wird so bei Herrmann zum individuell-existentiellen Erlebnis im Leben des Einzelnen, das im Verhältnis und in der Beziehung zum wirkmächtigen Urgrund des Religiösen steht.379 Diese innere Nähe zu Schleiermacher und Kant, die ihren unbestreitbaren Niederschlag in Herrmanns Theologie finden, zeigen dementsprechend auch auf Barth Auswirkungen, die in seinen frühesten theologischen Veröffentlichungen nachgewiesen werden können, wie McCormack herausstellt.380 Barth selbst schreibt in einer autobiographischen Skizze aus dem Jahr 1927 über seine theologischen Erkenntnisse in Marburg: »Diese 3 Semester in Marburg bilden schlechtweg meine schönste studentische Erinnerung. Ich habe Herrmann mit allen Poren in mich aufgenommen. Ich meinte mich durch eingehendes Studium von Kant und Schleiermacher endgültig theologisch zu fundamentieren. Ich bekam durch meine Arbeit an der Christl. Welt interessantesten Kontakt mit der damaligen theologischen und kirchlichen Zeitbewegung.«381
In dieser ihn so prägenden Marburger Zeit lernte Barth auch für sein weiteres theologisches Arbeiten entscheidende Persönlichkeiten wie Rudolf Bultmann, Wilhelm Loew, sowie seinen lebenslangen engen Freund und theologischen Wegbegleiter Eduard Thurneysen kennen.382 Einen frühen vorsichtigen Bruch mit der liberalen theologischen Denkrichtung kann in Barths erstem in der ZThK383 abgedruckten Aufsatz »Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit«384 aus dem Jahr 1909 erkannt werden, in dem er sich kritisch mit dem Verhältnis des »modernen« theologisch-wissenschaftlichen Betriebes zur pfarramtlichen Praxis auseinandersetzte.385 Aufhänger ist für Barth das Desinteresse examinierter Studenten an der Mitarbeit in der äußeren Mission. Im Aufsatz selbst wirft Barth der akademischen Theologie vor, 378 Theodor Mahlmann, Art. Wilhelm Herrmann, in TRE Bd. 16, Berlin/New York 1986, 165– 172, 168. 379 Vgl. Mahlmann, Art. Wilhelm Herrmann, 168f. 380 Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 79–86. 381 Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1922–1966, hg. v. Bernd Jaspert (Gesamtausgabe, Abt. V), Zürich 21994 [1971], darin Autobiographische Skizzen, 301–311, 305. 382 Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 56 und Barth, Autobiographische Skizzen, 305. 383 Die Herausgeber der Zeitschrift sind in dieser Zeit die Marburger Ordinarien Herrmann und Rade. 384 Zitiert nach Karl Barth, Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit, in ZThK 19 (1909), 317– 321; jetzt in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1905–1909, 334–366. 385 Daneben verweist Schwöbel als Anzeichen dieser bröckelnden Fassade und kritischeren Betrachtungsweise Barths auf die einschlägigen Rezensionen Barths von verschiedener theologischer Fachliteratur aus dieser Zeit, die seine Überzeugung eines mangelnden Verhältnisses ebenfalls deutlich hervortreten lassen. Vgl. Barth – Rade, Briefwechsel, 16.
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die sich selbst als »modern« versteht und der sich Barth in dieser Zeit noch selbst zurechnet, eine aus ihren eigenen theologischen Prämissen sich ergebende386 Abgehobenheit und Zurückhaltung in Bezug auf das pfarramtliche Dasein zu zelebrieren. Barth schreibt: »Es ist ungleich schwieriger, aus den Kollegiensälen Marburgs oder Heidelbergs zur Tätigkeit auf der Kanzel, am Krankenbett, im Vereinshaus überzugehen, als aus denen Halles oder Greifwalds.«387
Gegenüber seiner eignen Marburger Schule bescheinigt er der konservativen theologischen Richtung, dass diese ihre Schüler mit »normative[n] begriffe[n] und Vorstellungen«388 zu den pfarramtlichen Problemkreisen versorgen könne. Eine sich durch die Veröffentlichung des Artikels anbahnende kontroverse Diskussion389 blieb nicht aus und Rade als Herausgeber und Förderer des jungen Barths musste sich mehr als einmal schützend vor seinen jungen streitbaren Autor stellen.
III.1.2 Pfarramt, soziale Missstände und der I. Weltkrieg Am 16. September 1909 begann Barth als Hilfsprediger (»pasteur suffragant«) seinen pfarramtlichen Dienst in Genf bei der dortigen deutschen Gemeinde. Angekommen in dieser pfarramtlichen Wirklichkeit wurde ihm wohl nicht zuletzt aufgrund der immensen Arbeitsbelastung der wissenschaftliche theologische Betrieb, und wohl auch seine eigenen theologischen Fundamente, zunehmend fremd, was sich an den Briefen Barths an Rade ablesen lässt.390 1911 bekam Barth schließlich eine eigene Pfarrstelle im aargauischen Safenwil und charakterisierte diese mit eigenen Worten als »Bauern- und Arbeitergemeinde«391. Barth schreibt weiter : 386 Barth nennt hier die Schlagworte von »religiösem Individualismus« und »historischen Relativismus«, die die moderne Theologie zum Punkte führe, von wo aus »der Rückzug auf äußere Autoritäten und Normen versperrt« sei. (Vgl. Barth – Rade, Briefwechsel, 17) »Die Religion kennt nur individuelle Werte, die Historie kennt nur allgemeingültige Tatsachen.« Barth, Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit, 319. 387 Barth, Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit, 317. 388 Barth, Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit, 320. 389 E. Chr. Achelis, Noch einmal: Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit, ZThK 19 (1909), 406–410. Achelis charakterisiert den Artikel Barths dabei mit seinen eigenen Worten als Ausdruck »für die theologischen und kirchlichen Nöte […] des Verfassers«. P. Drews: Zum dritten Mal: Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit, ZThK 19 (1909), 475–479. Jetzt beide in Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1905–1909, 334–366. Vgl. Barth – Rade, Briefwechsel, 67, Fußnote 2. 390 Vgl. Barth – Rade, Briefwechsel, 70ff. 391 Barth, Autobiographische Skizzen, 306.
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»In dem Klassengegensatz, den ich in meiner Gemeinde konkret vor Augen hatte, bin ich wohl zum ersten Mal von der wirklichen Problematik des wirklichen Lebens berührt worden.«392
Die Not der dortigen Arbeiterklasse sehend, ließ Barth theologisch nach neuen praxistrauglichen Ansätzen fahnden. Inspiriert durch die sozialistisch geprägten reformierten Theologen Hermann Kutter (1863–1931) und Leonhard Ragaz (1868–1945) tendierte Barth einige Zeit zu einem politisch wie theologisch sich verstehenden religiösen Sozialismus. In deren Gedankenwelt erhoffte sich Barth durch politisch-sozialdemokratische Anstrengungen, die Idee des Reiches Gottes verwirklichen und so die gesellschaftlichen Missstände innerhalb seiner Gemeinde beseitigen zu können.393 Im Gegensatz zu der allgemeinen und einseitigen Betonung der Individualität des Glaubens in der Moderne, setzte Barth in seiner Beschäftigung mit dem Sozialismus solchen individualistischen Tendenzen innerhalb der Kirche die Idee des solidarischen Kollektivs gegenüber, welche aus der gemeinsamen Hoffnung auf Gott ihre Gestalt, Kraft und Ziele gewinnen.394 Jedoch stellte sich bei Barth rasch die ernüchternde Erkenntnis ein, dass eine religiös-sozialistische Idee des Christentums nicht die nötige theologische Grundlage bilden könne, die anstehenden und herausfordernden Aufgaben zu reflektieren und zu gestalten. Der Ausbruch des I. Weltkrieges 1914 fiel mitten hinein in die Zeit in Safenwil und ließ wohl bei Barth zwei Wahrnehmungen besonders deutlich hervortreten. Barth schreibt im Rückblick: »Eine Wendung brachte erst der Ausbruch des Weltkrieges. Er bedeutete für mich konkret ein doppeltes Irrewerden: einmal an der Lehre meiner sämtlichen theologischen Meister in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschien – sodann am Sozialismus, von dem ich gutgläubig genug noch mehr als von der christlichen Kirche erwartet hatte, daß er sich jener [sc. Kriegs-] Ideologie entziehen werde, und den ich nun zu meinem Entsetzen in allen Ländern das Gegenteil tun sah.«395
Der Kriegsausbruch entzauberte auf eine ungeahnte Art und Weise Barths bisheriges theologisches Fundament. In mehreren Briefen des Septembers 1914 greift Barth seine Lektüre der »Christlichen Welt« gegenüber Thurneysen auf und hält am 4. September 1914 fest:
392 Barth, Autobiographische Skizzen, 306. 393 Vgl. Christian Link, Barth und der religiöse Sozialismus, in Barth Handbuch, hg. von Michael Beintker, Tübingen 2016, 71–76. 394 Vgl. hierzu die Auswertung Schwöbels von Barths damaligen Artikeln in der Christlichen Welt und der ZtHK in Barth – Rade, Briefwechsel, 21–27. 395 Barth, Autobiographische Skizzen, 306f.
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»Marburg und die deutsche Kultur verliert in meinen Augen etwas, und zwar für immer, durch diesen Zusammenbruch«396.
Was meint Barth genau mit diesem Zusammenbruch? Am 31. August 1914, also vier Wochen nach Kriegsausbruch, verfasste Barth einen aufgebrachten Brief an Rade, in dem er die letzten Ausgaben der »Christlichen Welt« und ihre in seinen Augen kriegstreibende Rhetorik aufs Schärfste kritisierte.397 Er schreibt, »wie sehr [ihm] die letzten 3 Nummern der Chr. W. (32–34) eine Enttäuschung, religiös geredet ein »Ärgernis«»398 gewesen seien. Ein besonderes Ärgernis ist für Barth die Einbeziehung der christlichen Religion in die Frage rund um Recht und Unrecht in Bezug auf den Ausbruch des Krieges. Barth kritisiert, dass die Zeitschrift, und mit ihr ihre Herausgeber, die allgemeine Überzeugung in sich trügen, wonach »Deutschland Recht hat in diesem Krieg«399. Barth schreibt weiter : »[D]as ist mir das Allertraurigste in dieser traurigen Zeit, zu sehen, wie jetzt in ganz Deutschland Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlicher Glaube in ein hoffnungsloses Durcheinander geraten und wie nun auch die Chr. W. prinzipiell tut, wie ganz Deutschland tut.«400
Barth versucht im Laufe des Briefes deutlich die politisch-weltliche Sphäre von der religiösen zu trennen und unterstellt den Herausgebern der »Christlichen Welt« angesichts des Krieges eine Bankrotterklärung abgegeben zu haben, wenn sie zu meinen glauben, dass in diesem Kriege und am Siege Deutschlands Gottes Wille erkennbar werde. Barths Paradigma lautet für dieses aufkommende gefährliche Verwechslung von menschlichem und göttlichem Willen: »Hominum confusione et Die providentia mundus regitur, wir wehren uns gegen die confusio, so lange es geht, fügen uns ihr in bitterer Beschämung, wenn es nicht mehr geht, und glauben dann, daß Gottes providentia trotz uns zustande bringt, was er haben will.«401
396 Karl Barth – Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, hg. von Eduard Thurneysen (Gesamtausgabe, Abt. V), Zürich 21987 [1973], 10. 397 Wie weit allerdings Barth und Rade im Blick auf den Krieg und einer etwaigen missbräuchlichen religiösen Interpretation desselben auseinanderlagen, müsste nochmals eingehender untersucht werden. Schwöbel hält grundlegend fest: »Gewiss, Rades Haltung im Weltkrieg ist oft sehr widerspruchsvoll und häufig von subjektiven Situationseindrücken bestimmt. Doch auch unter diesem Vorbehalt trifft die Kritik Barths eher auf die Mehrheit der deutschen Theologen zu als auf Martin Rade«. Vgl. Barth – Rade, Briefwechsel, 30. 398 Barth – Rade, Briefwechsel, 95. 399 Barth – Rade, Briefwechsel, 96. 400 Barth – Rade, Briefwechsel, 96. 401 Barth – Rade, Briefwechsel, 97.
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Es kam zu einem erneuten Bruch mit Barths eigener Vergangenheit und zu einer zunehmenden Entfremdung, wie es sich im Briefwechsel zwischen Barth und Rade bildreich zeigen lässt.402 All diese Entwicklungen im persönlichen Umfeld, wie auf der weltpolitischen Ebene, ließen Barth wohl zunehmend nach dem so dringend benötigten neuerlichen theologischen Fundament fahnden. Wohl angeleitet durch die biblische Theologie der beiden Blumhardts, fand Barth in diesem herausfordernden Kontext zur Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung403, speziell zum Römerbrief des Paulus. Barths Hinwendung zu den biblischen Quellen des Christlichen, und hier speziell zum Römerbrief, ist als »der Beginn einer neuen post-liberalen Theologie Karl Barths«404 zu sehen. Pfleiderer beschreibt diese neue Art der Theologie wie folgt: »Ab 1915 verschiebt Barth darum die erkenntnistheoretische Basis seiner performativethischen Geschichtstheologie in das autopoietische Arkanum des Offenbarungsbegriffs. Damit wird die bewusstseinstheoretische Basis der Theologie zugunsten einer neuen Form spekulativ-dialektischer Theologie preisgegeben, in der »Gotteserkenntnis« nicht mehr philosophisch-metatheoretisch abgesichert, sondern gänzlich aus der Selbstbewegung der Gottesgeschichte als Grund- und Gegengeschichte aller Geschichte in der Geschichte abgeleitet werden soll.«405
Zwar scheint dieses abschließende Fazit Pfleideres aufgrund einer rein deskriptiven Auswertung der barth’schen frühen Phase nicht gänzlich zutreffend, weist aber im groben den Weg, wohin sich Barths Theologie mit den Römerbriefkommentaren zu entwickeln schien, nämlich hin zu seinem berühmten Diktum »Gott ist Gott und Mensch ist Mensch«. Denn eine Gotteserkenntnis könne sich lediglich aus Gott selbst ergeben und von dort aus menschlichem Missbrauch und eine einseitige Vereinnahmung des Evangeliums für politische Zwecke Einhalt geboten werden. Nicht die Geschichte der Menschen hat die die Geschichte Gottes auszulegen, sondern Gottes Geschichte bietet Ziel und Rahmen für den Menschen und die Bewegungen seines Lebens.
402 Vgl die Einleitung Schwöbels zum Briefwechsel zwischen Barth und Rade, Briefwechsel, 27– 35. 403 Vgl. Barth, Autobiographische Skizzen, 312. 404 Georg Pfleiderer, Liberale Phase, in Barth Handbuch, hg. v. Michael Beintker, Tübingen 2016, 184–189, 184. 405 Pfleiderer, Liberale Phase, 188.
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III.2 Barths Nietzsche-Lektüre An dieser Stelle wird nun in einer Art zwischengeschobenen Exkurs auf Barths Nietzsche-Rezeption einzugehen sein und diese anhand der zugänglichen Quellen eruiert und dargestellt werden. Die Sichtung der Quellen zur NietzscheLektüre Barths stellt selbstredend ein entscheidendes und grundlegendes Instrument der kritischen Beurteilung der barth’schen Nietzsche-Rezeption dar. Bereits an diesem Punkt soll eine Gesamtschau über die sich durch Barths Leben ziehende Nietzsche-Lektüre geboten werden und nicht nur über diejenige, die sich im speziellen auf die RÖ-Auflagen bezieht. Aufschluss über diese Lektüre sollen neben privaten Aufzeichnungen Barths, wie beispielsweise sein Briefwechsel mit seinem engen Freund Eduard Thurneysen, in welchem sich ein verdichtetes Bild dessen wiederspiegelt, was Barth theologisch wie persönlich beschäftigte, auch die Auswertung des Literaturbestandes in Bezug auf Nietzsche im Karl-Barth-Archiv ergeben. Den ersten Vermerk auf Nietzsches Werk findet sich am 27. Dezember 1919, und damit nach der Veröffentlichung der 1. Auflage des RÖ, in einem Brief Thurneysens an Barth. Thurneysen berichtet, dass er als Weihnachtspräsent zwei Nietzsche-Bände erhalten habe, schweigt sich jedoch über die genauen Titel aus.406 Am 7. Juni 1920, und damit wiederum nach Fertigstellung der 1. Auflage, jedoch bevor deren Neubearbeitung, schreibt Barth an Thurneysen, dass er sich nach der Lektüre eines frömmelnden Buches407 »nach einem kräftigen Atheismus« sehne und sich daher anschließend an die Lektüre Nietzsches machen werde, wobei auch er über den genauen Titel schweigt.408 Den nächsten Hinweis auf Nietzsche findet sich wenige Wochen später in einem Brief vom 4. Juli 1920. In diesem Brief setzt Barth Thurneysen über sein Gespräch mit seinem Bruder Heinrich in Kenntnis, in dem er versucht hatte Missverständnisse bezüglich seines theologischen Denkens auszuräumen. Heinrich Barth und auch Barth selbst bringen in ihrem Gespräch die neue dialektische Theologie in die Nähe von Personen wie »Dostojewski, Nietzsche und Ibsen« und machen damit auf die umstürzlerischen Ideen als Verbindung zwischen jenen und Barth selbst aufmerksam. Zudem zeigt sich Barth froh
406 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 363. Dies zeigt andererseits, dass Barth nicht jede seiner Lektüren an den Freund Thurneysen gemeldet hat, sodass es wohl im Dunkel bleiben muss, wann genau Barth zum ersten Mal Nietzsche studiert haben könnte. 407 Friedrich Heiler, Das Gebet: eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 1918. 408 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 395.
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darüber, »dass [er] alle diese Leute erst jetzt richtig lese409 und nicht, wie so viele, schon als Gymnasiast oder Student vermeintlich hinter [sich] gebracht habe«.410 Am 7. August 1920 erwähnt Barth in seinem Brief, dass er ein »›Ketzerbuch‹ studieren«411 werde und meint damit höchstwahrscheinlich das Buch von Ernst Bertram »Nietzsche. Versuch einer Mythologie« (1918). Eine sich über längere Zeit erstreckende Nietzsche-Lektüre Barths lässt sich aus seinem Brief vom 1. Oktober 1920 erschließen. Er schreibt dort: »Ich lese weiter Nietzsche und bin immer noch abwartend-unproduktiv dran«412. Am 17. Dezember 1920 und damit mitten hinein die Zeit der ersten Reaktionen auf den RÖ I, schreibt Barth, dass ihn »ein Unbeteiligter in den »Münchner Neuesten Nachrichten« [7. 12. 1920], von Nietzsche [her] kommend, das Overbeck-Büchlein anerkennend anzeigt und mich (neue Variante!) als den »eigenartigen Führer einer neureligiösen Bewegung« beschimpft413. Die Auswertung des privaten Buchbestandes Barths im Karl Barth-Archiv in Basel öffnet und verdichtet nochmals auf spezifische Art den Blick auf die Beurteilung seiner Nietzsche-Rezeption. Glücklicherweise beherbergt das Archiv die Bibliothek Barths in dessen Wohnhaus in der Bruderholzstraße, wie er sie mit seinem Tode 1968 zurückließ. In der persönlichen Bibliothek Barths lassen sich insgesamt 19 Bücher und Studien inklusive einer gesammelten Werkausgabe Nietzsches finden, die allesamt mit Nietzsche in Verbindung stehen. Die 19 Titel des Karl-Barth-Archivs sollen im Folgenden nun chronologisch dargestellt, jeweils kurz besprochen und ausgewertet werden. Sodann muss für die Auswertung der Bände und der ihnen sich befindlichen Anstreichungen und Bemerkungen zugleich die Einschränkung gemacht werden, dass diese Vermerke nicht unbedingt zwangsläufig von Barth selbst stammen müssen, sondern ebenfalls von anderen Personen stammen könnten, die zu Lebzeiten Barths Zugang zu seiner Bibliothek hatten. In Barths persönlicher Arbeitsbibliothek, die er sich selbst angeordnet und ausgestattet hat, finden sich die Gesammelten Werke Nietzsches in der Krönerschen Klassiker-Ausgabe in acht Bänden plus Ergänzungsband, erschienen in den Jahren 1906–1922.414 Laut den ex libris Vermerken kommen die Bände 409 Was Barth genau mit »richtig lesen« meinen könnte, bleibt undeutlich. Meint er eine objektive und reifere Auseinandersetzung mit diesen Autoren oder vermutete er sich selbst nun soweit theologisch und persönlich gefestigt, dass er sich an die Auseinandersetzung mit solchen Werken machen kann? 410 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 404. 411 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 419. 412 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 426. 413 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 455. 414 Friedrich Nietzsche, Nietzsches Werke: Bd. 1: »Die Geburt der Tragödie« / »Schriften aus den Jahren 1869–1873«, Bd. 2: »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« / »Unzeitgemässe Betrachtungen«, Bd. 3: »Menschliches Allzumenschliches I« / »Vermischte
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1920 in den Besitz Barths, was Fragen zu der bereits früher stattgefundenen Lektüre Nietzsches damit leider offenlässt. Es ist davon auszugehen, dass Barth andere Ausgaben in früheren Jahren besessen haben muss, die er dann vielleicht im Laufe der Jahre bzw. im Zuge der Anschaffung der Gesammelten Werke womöglich verschenkt oder anderweitig entliehen haben könnte. So lassen sich aufgrund des Archivbestandes für die frühe Nietzsche-Lektüre, wie auch für die Arbeiten am RÖ I, keine weiteren spezifischen Aussagen treffen. In den einzelnen Bänden der Werkausgabe finden sich Unterstreichungen mit Bleistift und einige wenige schriftliche Bemerkungen. Interessanterweise sind dabei nicht alle in den Werken Barths befindlichen Nietzsche-Bezüge und Textpassagen, v. a. des Petitdrucks in der KD III/2, in den jeweiligen Bänden unterstrichen oder gar mit einem Vermerk versehen. Im Folgenden in aller Kürze zu den einzelnen Bänden: Band 1. »Die Geburt der Tragödie und Schriften aus den Jahren 1869–1873«. Die Geburt der Tragödie wurde von Barth durchgearbeitet und es finden sich Unterstreichungen verschiedener Textpassagen. Band 2. »Über Wahrheit und Lüge und Die unzeitgemäßen Betrachtungen«. Wie aus der Untersuchung zu RÖ II noch deutlich werden wird, bezieht sich Barth für seine Arbeiten teilweise sehr ausführlich auf die »Unzeitgemässen Betrachtungen II.« Dieses Ergebnis kann anhand der Vermerke im entsprechenden Band bestätigt werden. Die »Unzeitgemässen Betrachtungen II.« gliedert Barth durch am Rand stehende römische Zahlen in fünf Abschnitte. Längere Textpassagen, die Barth im RÖ II zitiert, sind in der Werkausgabe unterstrichen. Band 3. »Menschliches, Allzumenschliches und Vermischte Meinungen und Sprüche«. Die Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« scheint Barth durchgearbeitet zu haben und es finden sich an verschiedenen Stellen einzelne Begriffe als Randbemerkungen. »Kierkegaard« steht unter dem Abschnitt 115.: »Mit Vortheil religiös sein.«. »Kutter!« zu den letzten drei unterstrichenen Sätzen des Abschnitts 124.: »Sündlosigkeit des Menschen.«. Der Begriff »Kirche« beim Abschnitt 468.: »Unschuldige Corruption.«. Und schließlich »Pfarrer« beim Abschnitt 565.: »Je nach der Stimme die Rolle.«. Band 4. »Der Wanderer und sein Schatten und Morgenröthe«. Bei der Morgenröthe finden sich sehr wenige Unterstreichungen. Band 5. »Die fröhliche Wissenschaft und Dichtungen«. Barth verwendete für den Petitdruck in der KD III/2 zwei Gedichte aus »Die Fröhliche Wissenschaft«, Meinungen und Sprüche (Menschliches Allzumenschliches II, erste Abtheilung)«, Bd. 4: »Der Wanderer und sein Schatten (Menschliches, Allzumenschliches II, zweite Abtheilung)« / »Morgenröthe«, Bd. 5: »Die fröhliche Wissenschaft« / »Dichtungen«, Bd. 6: »Also sprach Zarathustra«, Bd. 7: »Jenseits von Gut und Böse« / »Zur Genealogie der Moral«, Bd. 8: »Schriften aus dem Jahre 1888«, Bd. 9: »Der Wille zur Macht«, Leipzig 1906–1922.
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die in der Werkausgabe einmal mit einem »x« gekennzeichnet sind und bei der anderen Textbezugnahme sich eine Unterstreichung finden lässt. Band 6. »Also sprach Zarathustra«. V. a. im ersten Buch des Zarathustra finden sich viele Unterstreichungen Barths. Im Abschnitt zu den »Predigern des Todes«, den Barth auch in seinem RÖ zitiert, findet sich die Randbemerkung »Römerbrief S. 76«. Des Weiteren im Abschnitt »Vom Wege des Schaffenden« der Vermerk »vgl. ein Gedicht in fröhl. Wissenschaft«. Band 7. »Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der Moral«. In diesem Band finden sich nur wenige Unterstreichungen. Wahrscheinlich hat Barth diesen Band nicht in Gänze studiert. Band 8. »Der Fall Wagner. Nietzsche contra Wagner / Götzendämmerung / Der Antichrist / Ecce homo / Dionysos Dithyramben« V. a. das im Petitdruck der KD III/2 von Barth vielfach zitierte Werk »Ecce homo« zeigt sich aufmerksam durchgearbeitet und mit vielen Unterstreichungen versehen. Dabei sind nicht alle von Barth verwendeten Zitate und Textpassagen Nietzsches auch in der Werkausgabe angestrichen oder speziell angemerkt. »Der Antichrist« scheint von Barth ebenfalls studiert worden zu sein, ohne jedoch allzu viele Unterstreichungen aufzuweisen. Der Ergänzungsband »Der Wille zur Macht« zeigt ebenfalls nur wenige Unterstreichungen. Des Weiteren finden sich die von Carl Albrecht Bernoulli ausgearbeiteten Bände zu »Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche«415, wobei Barth in der Lektüre dieser Bände v. a. darum bemüht schien, kleinere Druckfehler zu korrigieren und nur sehr vereinzelt Unterstreichungen zu hinterlassen. Weiter findet sich ein 1916 herausgegebener Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck.416 Barths Auswahl beherbergt auch das Buch von Ernst Bertram zu Nietzsche417, in dem sich im Inhaltsverzeichnis Unterstreichungen bei den Kapiteln zu »Einleitung: Legende«, »Ritter, Tod und Teufel« und »Krankheit« finden lassen. In den jeweils angestrichenen Kapiteln finde sich darüber hinaus jedoch keine weiteren spezifischen Bemerkungen bzw. Unterstreichungen. Zwischen den Seiten 77 und 78 findet sich eine einzelne blonde Locke.
415 Carl Albrecht Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, eine Freundschaft: nach ungedr. Dokumenten u. im Zusammenhang mit d. bisherigen Forschung dargestellt / Carl A. Bernoulli, Franz Overbeck, Friedrich Nietzsche, 2 Bände, Jena 1908. 416 Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck, hg. von Richard Oehler und Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig 1916. 417 Ernst Bertram, Nietzsche: Versuch einer Mythologie, Berlin 41920.
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Weiter ein 1923 herausgegebener Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und Erwin Rohde, der auf den ersten Blick ungelesen wirkt.418 Zudem ein 1924 herausgegebener Band zu ausgewählten Gedichten Nietzsches.419 Auf Auskunft von Herrn Zocher, den derzeitigen Archivar im KarlBarth-Archiv, kam dieser Band über die Bibliothek Charlotte von Kirschbaum in Barths Besitz und damit wohl frühestens Ende der 1920iger Jahre. Ein ebenfalls 1924 herausgegebener Band von Nietzsches Korrespondenz mit Peter Gast,420 höchstwahrscheinlich ungelesen. Des Weiteren eine von Wolfgang Trillhaas mit persönlicher Widmung übersandte kleine Studie zu »Psychologie und Christentum bei Friedrich Nietzsche«421, in der sich aber keine weiteren Unterstreichungen finden lassen. Die Studie von Harald Landry »Friedrich Nietzsche«422 aus dem Jahr 1931, die ebenso den Eindruck ungelesen zu sein, erweckt. Die 1936 von Hans Joachim Schoeps veröffentliche Studie zu den »Gestalten an der Zeitenwende«423, wohl ebenfalls ungelesen. Eine von Erich Przywara 1936 erarbeitete Studie zu »Thomas von Aquin, Ignatius von Loyola, Friedrich Nietzsche«424, in der sich keine weiteren Unterstreichungen finden lassen. Das vom späteren Prorektor der Universität Basel und Laudator für Barth Edgar Salin 1938 geschriebene Buch mit Titel »Jakob Burckhardt und Nietzsche«425 mit wenigen Unterstreichungen. Walter Schubarts Studie »Dostojewski und Nietzsche«426 aus dem Jahr 1939, in dem sich bei den Kapiteln »Nietzsches verborgenes Gottsuchertum«, »Sozialismus« und »Für und wider Christus« ein paar wenige sporadisch wirkende Unterstreichungen finden lassen. Die Studie von Wilhelm Michel »Nietzsche in unserem Jahrhundert«427 aus dem Jahr 1939 mit Unterstreichungen im Kapitel zu »Die Entscheidung gegen Gott«.
418 Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde, hg. von E. Förster-Nietzsche … [et al.], Leipzig 31923. 419 Gedichte / Friedrich Nietzsche, Leipzig 1924. 420 Briefe an Peter Gast / Friedrich Nietzsche, hg. von Peter Gast, Leipzig 31924. 421 Wolfgang Trillhaas, Psychologie und Christentum bei Friedrich Nietzsche, Sonderdruck aus Zeitwende, Jg. 6 (1930), H. 6, Juni, 531–544. 422 Harald Landry, Friedrich Nietzsche, Berlin 1931. 423 Hans Joachim Schoeps, Gestalten an der Zeitenwende: (Jakob) Burckhardt, (Friedrich) Nietzsche, (Franz) Kafka, Berlin 1936. 424 Erich Przywara, Thomas von Aquin, Ignatius von Loyola, Friedrich Nietzsche, Innsbruck 1936. 425 Edgar Salin, Jakob Burckhardt und Nietzsche, Basel 1938. 426 Walter Schubart, Dostojewski und Nietzsche : Symbolik ihres Lebens, Luzern 1939. 427 Wilhelm Michel, Nietzsche in unserem Jahrhundert, Berlin 1939.
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Das Buch »Von Hegel zu Nietzsche«428 von Karl Löwith aus dem Jahr 1941, das keinerlei Unterstreichungen aufweist. Dieses Ergebnis verwundert ein wenig, da der Inhalt des Buches u. U. höchst interessant für Barths Auseinandersetzung mit Nietzsche im Zusammenhang mit Goethe und dem deutschen Idealismus in der KD III/2 hätte gewesen sein können. Die 1944 erschienene Studie von Ulrich Gutersohn »Friedrich Nietzsche und der moderne Mensch«429, die ebenso ungelesen wirkt. Heinrich Scholz 1948 erschienene »Begegnungen mit Nietzsche«430 mit wenigen Unterstreichungen. Eine Rezension aus dem Jahr 1948 von Werner Kaegi zur Studie von Alfred von Martin »Nietzsche und Burckhardt«431 ohne weitere Bemerkungen. Und schließlich eine Studie von Maria Bindschedler mit Titel »Nietzsche und die poetische Lüge«432, die die Verfasserin Barth mit Widmung übersendet und auf den ersten Blick ungelesen wirkt. Die Anzahl der Titel, sowie deren Bearbeitung durch Barth in Anmerkungen und Unterstreichungen, könnten in ihrem bloßen quantitativen Ausmaß kaum auf eine intensivere Nietzsche-Lektüre Barths schließen lassen. Sicherlich ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass Barth weitere Titel zu Nietzsche besaß, die er jedoch an die eigenen Söhne oder andere interessierten Personen verschenkt haben könnte. Eine weitergehende und die Studie besonders tragende Interpretation dieses Ergebnisses fällt dabei nicht ganz leicht. Gleichzeitig ist es nicht zu unterschätzen, dass Barth Nietzsche hauptsächlich und vor allem im Original und nicht durch die Brille verschiedener Interpreten gelesen, reflektiert und wahrgenommen zu haben scheint. Es gilt sich daher verstärkt auf die textimmanente Ebene der Schriften Barths und den darin sich angelegten Sachdiskussion zu beziehen, um die NietzscheRezeption in ihrer Tragweite darzustellen, wie es in den folgenden Kapiteln nun geschehen soll.
428 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche: der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts: Marx und Kierkegaard, Zürich 21944. 429 Ulrich Gutersohn, Friedrich Nietzsche und der moderne Mensch, St. Gallen 1944. 430 Heinrich Scholz, Begegnungen mit Nietzsche, Tübingen 1948. 431 Werner Kaegi, Rezension von Alfred von Martin: Nietzsche und Burckhardt, in Zeitschrift für Schweizerische Geschichte. – Jg. 28(1948), H. 1, 128–132. 432 Maria Bindschedler, Nietzsche und die poetische Lüge, Basel 1954.
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III.3 Der Römerbriefkommentar (Erste Fassung) 1919 [RÖ I] In den ersten Juniwochen des Jahres 1916 beschlossen Barth und Thurneysen angesichts der Ereignisse ihrer Zeit und der Sprachlosigkeit ihrer theologischen Lehrer, wie in III.1 beschrieben, einen neuerlichen und der Gegenwart gegenüber tragfähigen Weg in ihrer theologischen Reflexion beschreiten zu müssen.433 Barth schreibt geradezu emphatisch am 29. Juni 1916 an Thurneysen: »Unsere Erwägungen von vor drei Wochen über erneutes Philosophie- und TheologieStudium gehen mir nach und werden mir, von allen Seiten betrachtet, immer wichtiger […] Es geht nicht weiter damit, daß mein schärfstes und gründlichstes Denken allwöchentlich dem gilt, was ich sagen will, sonst ist eines Tages nichts oder zu wenig mehr da zum Sagen; […] Ferner sage ich mir, daß eine so gewagte Position, wie wir sie einnehmen, einfach der Ordnung halber, solid unterbaut sein muß, und das geschieht nicht mit einem gelegentlichen metaphysischen Konstruktiönlein zwischen Zeitung und Unterweisung.«434
Bereits knapp drei Wochen später am 19. Juli 1916435 schreibt Barth an Thurneysen über seine vertiefte Lektüre des paulinischen Römerbriefes. Was sich in diesem Brief aus dem Jahr 1916 noch eher als eine Randnotiz über die Beschäftigung Barths mit dem Römerbrief lesen lassen könnte, entwickelte sich in den nächsten Monaten und Jahren für Barth zum zentralen theologischen Topos auf dem Weg, die absolute Souveränität Gottes als die Grundlegung seiner theologischen Reflexion zu etablieren. Barth beendet436 seine Arbeiten an der Römerbriefkommentierung im letzten Kriegsjahr 1918, wobei besonders die Ereignisse des schicksalhaften Kriegsjahres 1917 zwischen Stellungskriegen, russischer Februar- und Oktober-Revolution und den Diskussionen rund um das religiös-soziale gesellschaftliche Ethos im Ganzen seines Werkes durscheinen. Pfleiderer hält für dieses theologisch-literarische Zeit Barths treffend fest: »Bibel und Zeitung werden sozusagen zusammen gelesen und interpretiert.«437
Dabei scheint es für Barth zentral, dass »die Theologie […] wieder bei der Bibel und ihrer Fremdheit einsetzen [sollte] und in der Arbeit des gemeinsamen Lesens der Bibel wieder Hörerin des Wortes [zu] werden.«438 Van der Kooi erkennt 433 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 144f. Die Idee zu diesem Vorhaben entwickelte sich wohl bei einem Besuch Barths bei Thruneysen während eines gemeinsamen Spaziergangs. 434 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 144f. 435 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 146. 436 Zum genaueren Verlauf der Arbeiten Barths am RÖ I sei auf McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 132–134 und Cornelis van der Kooi, Erster Römerbrief, in Barth Handbuch, hg. v. Michael Beintker, Tübingen 2016, 189–194, 189f. verwiesen. 437 Van der Kooi, Erster Römerbrief, 189. 438 Van der Kooi, Erster Römerbrief, 190.
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darin die von Barth geschaffene Möglichkeit eines Freiraumes, in dem Barth den bekannten Bibeltext »entfremdet« und in diesen Freiraum die Aktualität seiner Zeit einfließen lassen kann. »Paulus hat als Sohn seiner Zeit zu seinen Zeitgenossen geredet. Aber viel wichtiger als diese Wahrheit ist die andere, daß er als Prophet und Apostel des Gottesreiches zu allen Menschen aller Zeiten redet.«439
Wie es in den berühmt gewordenen ersten Sätzen seines Vorworts deutlich wird, geht es Barth um eine konsequente existentielle Auslegung des paulinischen Römerbriefes für das Hier und Jetzt von konkreten Menschen in ihrer konkreten geschichtlichen Existenz. Dabei verzichtet Barth in seiner Kommentierung auf die sonst für exegetische Arbeiten obligatorische und zu erwartende Sachlichkeit des wissenschaftlichen Arbeitens. Er betont die Botschaft der Bibel in erster Linie als eine den individuell-subjektiven Menschen in seiner konkreten Lebenswirklichkeit direkt angehende Botschaft: »Die Bibel bringt eine Wirklichkeit und Erkenntnis zur Sprache, in die der Glaubende als Teilhaber immer schon einbezogen ist.«440
Es geht also für Barth nicht länger zuvorderst um die Auslegung eines individuellen frommen Seins Mithilfe der Bibel, sondern zuerst um die Wahrheit und die Offenbarung der biblischen Texte, die sich aus sich selbst heraus ergibt und von dort aus wiederum in das individuelle existentielle Sein eingebunden werden sollte. »Die Voraussetzung des Verstehens besteht darin, dass man sich unter dasselbe Wort stellt, das Paulus getroffen hat, und dass man in die Bewegung oder Geschichte dieses Wortes immer schon einbezogen ist.«441
Daneben ist schon von zeitgenössischen Kritikern wie beispielsweise Rade bemerkt worden, dass der RÖ I (und auch RÖ II) kein wissenschaftliches Projekt im eigentlichen Sinne darstellt und Barth daher in den Fußnoten zu außerbiblischen Belegen sehr frei umgegangen ist, was Untersuchungen zu unterschiedlichen Rezeptionen Barths erschwert. Diese wenigen Vorbemerkungen sollen an dieser Stelle genügen, um Barths Römerbrief in seiner zur damaligen Zeit revolutionären und singulären Rolle zu beschreiben. Der Fortgang der Studie ist stärker daran interessiert, wie Nietzsches Philosophie Einfluss in dieses besondere Werk Barths gefunden hat. Um den Eindruck Nietzsches noch deutlicher herauszuarbeiten, soll neben der Auflistung und Einordnung von Barths Bezugnahmen auf Nietzsche, auch ein 439 Karl Barth, Der Römerbrief: (Erste Fassung) 1919 (Gesamtausgabe II), Zürich 1985, 3. 440 Van der Kooi, Erster Römerbrief, 190. 441 Van der Kooi, Erster Römerbrief, 191.
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Vergleich mit anderen literarischen und außertheologischen Autoren stehen, die Barth in seinen Römerbriefkommentar einfließen ließ.
III.3.1 Nietzsche im Römerbrief (Erste Fassung) 1919 Im RÖ I lassen sich verschiedene Kategorien einer Nietzsche-Rezeption feststellen. Interessant wird hierbei, dass Barth nicht immer deutlich zu machen scheint, wenn er etwa Begriffe oder markante Textausschnitte aus Nietzsches Werk für seine Schrift benutzt, sondern sie teilweise ohne weitere Zitation, dabei sogar teilweise wortwörtlich, einbaut. Folgende Arten der Bezugnahmen lassen sich feststellen: 1. Barth verwendet Begriffe und Schlagwörter aus Nietzsches Werk ohne ihn explizit zu nennen. 2. Barth baut ersichtlich Nietzschezitate ein. Der Name Nietzsche wird von Barth explizit genannt, jedoch findet sich keine genauere Literaturangabe. 3. Barth baut ohne darauf hinzuweisen, ganze Gedankengänge Nietzsches frei oder wörtlich ein.442 Die folgende Auflistung geht chronologisch anhand des RÖ I vor. Zum besseren Verständnis werden die Belegstellen jeweils nach den biblisch kanonisierten Gliederung des Römerbriefes und Barths Sinneinheiten innerhalb der Kapitel vorgestellt und besprochen. III.3.1.1 Röm 2 »Die Gerechtigkeit der Menschen« Röm 2 14–29 »Umwertung aller Werte« Einen ersten Verweis auf Nietzsche findet sich zu Röm 2 und darin genauer im Abschnitt Röm 2, 14–19. Diesen Teil überschreibt Barth mit »Umwertung aller Werte«443 und spielt damit deutlich auf ein Vorhaben Nietzsches an, welches dieser in seiner »Genealogie der Moral« ankündigte.444 Bei Paulus geht es in diesem Abschnitt um die Geltung des Gesetzes und in welchem Nichtgläubige zu dem442 Um diese zu entdecken, sind Blicke in Barths Handexemplar und den darin sich befindenden handschriftlichen Notizen hilfreich. 443 Barth, RÖ I, 53. Schmidt weist darauf hin, dass dieses Nietzschezitat erst nach der völligen Umarbeitung des 2. Kapitels im Sommer 1918 Einzug in die Druckfassung findet, vgl. aaO., 610. 444 Nietzsche schreibt: »Ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe.« Friedrich Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 409.
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selben stehen. Barth kommt es in seiner Interpretation des biblischen Textes dabei weniger um die objektive von außen vorzunehmende Unterscheidung zwischen »Unreligiösen« und »Religiösen« an, bzw. wer nach den Worten Paulus unter dem Gesetz steht und wer nicht, als vielmehr auf die Wahrheit Gottes, die sich »längsschnittartig durch jene auf der Oberfläche der alten Weltgeschichte445 erkennbaren Grade oder Schichten verschiedener Gottesnähe hindurch[zieht]«446. Ähnlich wie Nietzsche in dessen radikalem Vorhaben einer »Umwertung aller Werte«, pointiert Barth die Aufdeckung einer Wahrheit, die sich aus sich selbst heraus Bahn bricht und sich radikal zum Vorfindlichen, zum Menschen unter dem Gesetz stellt. Dieses Aufbrechen markiert dabei den Übergang von etwas »Altem« hin zu etwas »Neuem«. Die Wahrheit Gottes befreie aus der »Gefangenschaft« und aus den »schattenreichen Tälern der Menschheit«447. Sie werde so zur radikalen und befreienden Umwertung der bisherigen Werte und Ideale anleiten. III.3.1.2 Röm 8 »Der Geist« Röm 8 12–27 »Das Gegenwärtige« Den nächsten Verweis auf Nietzsche findet sich im Abschnitt Röm 8, 12–27 und hierbei genauer zu den Versen 19–22. Barth schreibt vom »Blick [ …], der in die Tiefe der Sache dringt«448 und beschreibt mit Worten Nietzsches aus dessen »Also sprach Zarathustra« den Blick Gottes als einen solchen unnachahmlichen, der sich nicht trügen lässt, sondern die Wahrheit hinter dem Schein der weltlichen Wirklichkeit aufzudecken vermag: »Wahrlich eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein heilbringender, und eine neue Hoffnung.«449
Barth zitiert hier wortwörtlich aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra« und beschreibt das Sein in Christus als die Stätte der Genesung von der aus befreit und freudvoll im Sinne des Blickes Gottes auf die »gegenwärtige Lage«, auf das »Ziel der Schöpfung« geblickt werden könne.450 Die Möglichkeit eines erkenntnistheoretischen Blickes hinter den Schein der 445 Hierbei scheint es wichtig, Barths Unterscheidung von »eigentlicher Geschichte« und »sogenannter Geschichte« kurz ins Auge zu fassen. Barth begegnet der »Zeit-EwigkeitDialektik« derart, dass die eigentliche Geschichte, die als die Heilsgeschichte Gottes mit seiner Schöpfung zu fassen ist, als der tiefere und eigentliche Sinn in der sogenannten Geschichte durscheint und dieser ihren Sinn verleiht. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 138 und Barth, RÖ I, 67. 446 Barth, RÖ I, 53. 447 Barth, RÖ I, 53f. 448 Barth, RÖ I, 329. 449 Barth, RÖ I, 328 und bei Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 101. 450 Vgl. Barth, RÖ I, 329.
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Wirklichkeit zeigt dabei Auswirkungen auf die Existenz des Menschen, die sowohl Nietzsche auch als Barth unter dem Stichwort einer erlösenden Genesung beschreiben. Nietzsche schaltet dem Gedanken im Kontext des Zitats noch zusätzlich eine Aussage über den Übermenschen vor, die wiederum stark an 1. Petrus 2, 9–10451 erinnert: »Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: – und aus ihm der Übermensch.«452
Und auch Barth spricht im Kontext vom Menschen, der sich diesem neuen Sein gegenüber öffnet und sich damit von einem »alten« abzusetzen weiß: »Wie sich im Sohn und in den Söhnen Gottes der Mensch als Mensch wieder finden soll (8,15), erlöst von den tödlichen Hemmungen der alten Weltzeit, so möchte sich in dem neues Wesen, dem alle Dinge entgegengehen, die Natur der Natur, wie sie von Gott gemeint ist, befreit von der durch den Fall des Menschen eingetretenen Entleerung und Vergröberung, die freudige, friedliche, in sich klare und einige Natur offenbaren.«453
Im selben Abschnitt weist eine Fußnote der kritischen Ausgabe des RÖ I auf die handschriftliche Notiz im Handexemplar Barths »Nietzsche II, 283«454 hin. Ausgehend von den Barth vorliegenden Nietzscheausgabe bedeutet dies wohl einen Bezug auf die »Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher«455. Im Abschnitt des RÖ I beschreibt Barth das Warten auf das Reich Gottes und dessen Aufbrechen in der gegenwärtigen Wirklichkeit. Der Mensch wird dabei zum Ort der Offenbarung für die ganze Schöpfung. Dabei kommt es Barth darauf an zu zeigen, dass die Wirklichkeit und Offenbarung Gottes nicht neben oder abseits der menschlichen Wahrnehmung und Wirklichkeit stattfinden könne: 451 9Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht; 10die ihr einst nicht sein Volk wart, nun aber Gottes Volk seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid (Hosea 2,25). 452 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 100f. 453 Barth, RÖ I, 329f. Weltuntergang und Weltbefreiung gehören für Barth und für Nietzsche zusammen. 454 Barth, RÖ I, 331. 455 »Und wenn die gesammte Natur sich zum Menschen hindrängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint.« Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher«, in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd 1, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 378.
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»Der Mensch ist inmitten der ganzen Schöpfung der Ort, an dem ihr Gottes Herrlichkeit einst unmittelbar gegenwärtig war, dann verloren ging und nun sich wieder öffnen will.«456
Nietzsche selbst problematisiert einen solchen Anthropozentrismus und seine Auswirkungen auf die Epistemologie der Dinge. Denn für Nietzsche wird in dieser relational anthropologischen Vorstellung der Dinge in Bezug auf die Erkenntnis der wirklichkeitsentfremdende Gedanke installiert, wonach »das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutung erscheint«457. In der Konsequenz werde damit proklamiert, dass wenn zur Erlösung bzw. Sinngebung der Welt der Mensch vonnöten sei, sich dieser in einer erdachten qualitativen Abgrenzung zwischen Mensch und Tier zu setzen habe. Dieser Ansicht hält Nietzsche entgegen, »dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist«458 und daher kein sich qualitativ unterschiedener epistemologischer Zugang zur Wirklichkeit zwischen Tier und Mensch auszumachen sei, von dem ausgehend der Mensch zu einer höherwertigen Erkenntnis und Verhältnis zur Welt gegenüber dem Tier gelangen könnte.
III.3.1.3 Röm 12 »Der Wille Gottes« Röm 12 16c–13 10 »Überlegenheit« Auch für diesen Nietzscheverweis muss auf eine handschriftliche Notiz verwiesen werden, die jedoch keinen Eingang in die Druckfassung fand. Im Abschnitt Rö 12, 16c–13,10 den Barth mit »Überlegenheit« tituliert, kommt Barth im Unterabschnitt 12,21–13,8 auf die Rolle des Staates und seines Verhältnisses zur christlichen Gemeinde zu sprechen. Im ersten Unterpunkt beschreibt Barth die menschliche Wirklichkeit nach der Vertreibung aus dem Paradies unter den damit einhergehenden Lebensminderungen von »Krieg, Hunger und Pestilenz«459. Unter diese Lebensmiderungen gehöre ebenfalls der menschliche Staat als »der Machtstaat der Gegenwart […] [, der sich] den Absichten Gottes diametral entgegensetzt; […] [und] an sich böse«460 sei. Um diese negative Sicht auf den Staat zu untermauern, rekurriert Barth auf ein Zitat Jacob Burckhardts, das für ihn seinerseits wiederum in einer inhaltlichen Nähe zu einem Zitat Nietzsches in »Also sprach Zarathustra« und aus Overbecks »Christentum und Kultur« steht, was Barth selbst im Handexemplar so vermerkt. Auch Nietzsche zieht im 456 457 458 459 460
Barth, RÖ I, 331. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 378. Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, 81. Barth, RÖ I, 501. Barth, RÖ I, 501.
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angegebenen Abschnitt aus »Also sprach Zarathustra« eine positive Rolle des Staates für das Sein des Menschen in Frage und schreibt: »Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat a u f h ö r t, – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen? –«461
In einem dritten Unterpunkt zum gleichen Abschnitt findet sich wiederum im Handexemplar Barths ein Hinweis auf Nietzsche und die »Unzeitgemässen Betrachtungen III.« Barth geht in diesem dritten Unterpunkt darauf ein, dass der Christ nie ganz in der Liebe zum eigenen Vaterland aufgehen dürfe, da der Christ im Letzten der göttlichen Wirklichkeit und nicht im Vorletzten der irdischen Machtstrukturen verhaftet sein solle. Bart schreibt: »Ihr werdet also nie im Ernst, mit eurem Herzblut, mit wirklichem Pathos Untertanen, Bürger, Angehörige einer Nation oder Partei sein können.«462
Und was in den Worten Nietzsches wie folgt klingt: »Der, welcher den furor philosophicus im Leibe hat, wird schon gar keine Zeit mehr für den furor politicus haben und sich weislich hüten, jeden Tag Zeitungen zu lesen oder gar einer Partei zu dienen.«463
Der furor philosophicus wird von Barth also durch die christliche Existenz ersetzt, die lebenspraktischen Auswirkungen bleiben jedoch beinahe identisch. III.3.1.4 Entwürfe zum Vorwort Einen weiteren Hinweis auf Nietzsche findet sich in den verschiedenen VorwortEntwürfen Barths zu seinem Römerbriefkommentar. Dabei sind diese Entwürfe des Vorworts als ein kondensierter Ausdruck dessen zu verstehen, was und wie Barth seine neuerliche Entdeckung der biblischen Überlieferung und der reformatorischen Theologie verstanden wissen wollte. Vom dem her scheint es interessant, in diesem zentralen Textkorpus des RÖ I auf Nietzschezitate zu stoßen, zeigen diese doch, welchen Stellenwert Nietzsches Gedanken für Barth gehabt haben scheinen. Gleichzeitig muss jedoch bedacht werden, dass die Nietzsche-Verweise keinen Eingang die endgültige Druckfassung gefunden haben. Mit einem Zitat Nietzsches aus dessen »Unzeitgemässe Betrachtungen: Vom 461 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 63f. 462 Barth, RÖ I, 505. 463 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 409.
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Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« lässt Barth einen ersten Entwurf enden. Nietzsche schreibt in seiner »Unzeitgemässe Betrachtungen II.« über das Interesse am Historischen: »Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr erraten, was in dem Vergangnen wissens- und bewahrenswürdig und groß ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangne zu euch nieder.«464
Deutlich spricht aus diesen Worten die nietzscheanische Historismuskritik, die auch Barth sich bis zu einem gewissen Grad für seine neue Bibeltheologie zu eigen machte. Da man Vorworte zu Werken für gewöhnlich – so auch Barth – am Ende der Arbeiten schreibt, scheint es zu mindestens erwägenswert, dass Barth bei Abschluss seiner Arbeiten auf eine tiefergehende Übereinstimmung seiner eigenen Gedanken mit denen Nietzsches beim Thema des Historismus aufmerksam geworden sein könnte.
III.3.2 Zusammenfassung und Beurteilung – Nietzsche im Römerbrief (Erste Fassung) 1919 Wohl deutlich ist in den barth’schen Bezugnahmen auf Nietzsche, wie sie sich in der Übersicht der zitierten Schriften zeigen, ein doppelter Eklektizismus auszumachen, nämlich ein inhaltlicher und ein werkbezogener. Die Nietzsche-Belege stammen aus vier Werken, was vermuten lässt, dass Barth Nietzsche zu diesem Zeitpunkt nicht in Gänze, sondern lediglich in Auszügen studiert haben könnte. Barth zitiert aus den folgenden Werken Nietzsches: »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, »Zur Genealogie der Moral«, »Also sprach Zarathustra«. Daneben zeigen die wenigen Verweise auf Nietzsche keinen eindeutigen thematischen Schwerpunkt, bei dem Nietzsche als Antipode oder Referenzpunkt wiederkehrend aufgerufen wird. Der Versuch einer inhaltlichen Rasterung der Bezugnahmen auf Nietzsche zeigt, dass Barth ihn weder entsprechend eines philosophischen Systems oder gar im Ansinnen zentrale oder besonders pointierten Aussagen Nietzsches zum Christentum, Moral und seinen Ideen des Übermenschen zu zitieren und von dort aus kritisch zu würdigen versucht. Vielmehr scheinen die Aussagen des paulinischen Römerbriefes und die Auslegung derselben, Barth zu einzelnen passenden und diese Interpretation sprachlich wie inhaltlich stützenden Passagen und Stichwörtern bei Nietzsche zu führen. 464 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 293f.
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Barth kommt es so gesehen in seinen Bezugnahmen weniger auf eine spezifisch theologische oder gar umfassende Kritik Nietzsches an, als vielmehr auf die Untermauerung der eigenen Gedanken. Nietzsche wird sozusagen von Barth nicht in dessen eigenem Werk und Denken umfänglich oder in einem wissenschaftlichen diskursiven Duktus dargestellt, sondern Barth zeigt sich als eigenwilliger Interpret Nietzsches, der in Nietzsche neben dem allgemeinen Nimbus des Christentumskritikers eine solche sprachliche und denkerische Ebene entdecken kann, die an der Beschreibung von Wahrheit und Wirklichkeit interessiert ist und von hier aus auch für Barth von Interesse wird. Barth scheint dabei besonders den sprachlichen Duktus Nietzsches entdeckt und geschätzt zu haben, der ihm in den Bezugnahmen auf ihn dazu verhilft, seine eigenen Gedanken sprachlich schärfer und inhaltlich pointierter vortragen zu können. Die Zusammenschau der Ergebnisse ist daher nun mit der Frage zu verbinden, ob die relativ kleine Werkauswahl direkte Auswirkungen auf die inhaltliche Rezeption Nietzsches nach sich gezogen haben könnte und Barth Nietzsche nur deshalb so wenig und unsystematisch zitiert, weil er ganz einfach zu dieser Zeit nur rudimentäre Kenntnisse der Philosophie Nietzsches aufweisen konnte. Leider lässt sich der Befund der eklektischen Bezugnahmen nicht in Bezug auf die angezeigten Quellen und Verweismöglichkeiten in der Lektüre Nietzsches durch Barth verdeutlichen. So können lediglich begründungsbedürftige Mutmaßungen in der Interpretation der Ergebnisse angedeutet werden, die jedoch erst am Ende dieses Kapitels, und damit nach Auswertung aller weiteren Ergebnisse, gerade auch im Verhältnis zur Nietzsche-Rezeption im RÖ II, vorgetragen werden sollen.
III.4 Der Römerbriefkommentar (Zweite Fassung) 1922 [RÖ II] III.4.1 Der Weg zum Römerbriefkommentar in seiner zweiten Fassung (1922)465 »Karl Barth war ein Denker, der sich im Dialog mit anderen entwickelte.«466
Diese Feststellung liefert einen tiefen und wohl auch sehr treffenden Einblick in Barths theologisches Denken und Wirken zur Zeit seiner RÖ-Auflagen.467 465 Hierbei beziehe ich mich u. a. auf die Ergebnisse der beiden Herausgeber des RÖ II, die sie in ihrer Hinführung zur textkritischen Fassung, I–XXXVI darlegen. Vgl. Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922 (Gesamtausgabe, Abt. II.), Zürich 2010. 466 Barth, RÖ II, XIII. 467 McCormack macht auf den expressionistischen Stil Barth aufmerksam und hierbei besonders auf die Verbindung zum künstlerischen Stil des Expressionismus. Dieser galt als Ausdruck von »Unruhe, Sehnsucht, [und] eine[r] fundamentale Opposition gegenüber allem Bestehenden« und daher von Außenseitern und Kritikern des Establishments in
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In einem Brief vom 27. Oktober 1920 schrieb Barth an Thurneysen von einem Besuch mit Gogarten, in dessen Anschluss er zur Erkenntnis kam, dass sein RÖ »an Haupt und Gliedern reformiert werden muß«468.469 So sah sich Barth bereits kurz nach Veröffentlichung des RÖ I zu einer grundlegenden Überarbeitung seines RÖ gezwungen. Nach den Aufzeichnungen Barths in seinem Kalender dauerte die Überarbeitung ein knappes Jahr (25. Oktober 1920–22. September 1921).470 Die erste Auflage des Römerbriefs hatte unzählige Reaktionen und auch Missverständnisse ausgelöst. Auch Barth selbst hatte nicht aufgehört, nach der Veröffentlichung seines Römerbriefes, sich mit den dort dargelegten Themenkreisen und der paulinischen Theologie auseinanderzusetzen.471 »Barths Römerbrief schlug gleich bei seinem ersten Erscheinen […] wie eine Bombe auf dem Spielplatz der Theologen ein […]«472 so K. Adams Meinung. Und auch der Erlanger Professor K. Müller bescheinigte dem Römerbriefkommentar eine besondere und neue theologische Denk- und Sprechweise, die in die theologischen Kreise mit ungeahnter Wucht einschlug.473 Anders beurteilte Barths früherer Lehrer Harnack dessen Publikation und übte bei einem Treffen der Freunde der Christlichen Welt am 3. Oktober 1921 eine harsche Kritik, die Martin Rade in einem Brief vom 13. Oktober 1921474 Barth übermittelte. Barth selbst fühlte sich wohl von seinen Gegnern erheblich missverstanden und in unlautere denkerische und ideologische Ecken475 gedrängt. Im Vorwort zur erneuerten Auflage spricht Barth von den folgenden vier Punkten, die ihn zu einer Überarbeitung nötigten: »Erstens und vor allem: die fortgesetzte Beschäftigung mit Paulus.«476 »Zweitens Overbeck«477 und dessen posthum veröffentliche Schrift Christentum und Kultur. »Drittens: die bessere Belehrung über die eigentliche Orientierung der Gedanken
468 469 470 471 472 473 474 475 476 477
Anspruch genommen wurde. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 54. Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 435. Schwöbel spricht von der »«Gruppe Barth-Gogarten»«, die sich nach den ersten Nachkriegsjahren herauszubilden scheint. Vgl. Barth – Rade, Briefwechsel, 40. Barth, RÖ II, XI, Fußnote 5. Vgl. Cornelis van der Kooi, Zweiter Römerbrief, in Barth Handbuch, hg. von Michael Beintker, Tübingen 2016, 195–200, 195. K. Adam, Die Theologie der Krisis, in Gesammelte Aufsätze zur Dogmengeschichte und Theologie der Gegenwart, Augsburg 1936, 319–337, 325. Ich verweise und beziehe ich mich dankbar auf die Arbeit der Herausgeber des RÖ II und der sich dort befindlichen Informationen im einleitenden Kapitel. Vgl. Barth, RÖ II, XIIf. Barth – Rade, Briefwechsel, 161f. Hier sind Namen wie Rudolph Steiner, Walther Rathenau, Oswald Spengler oder Johannes Müller zu nennen, die den ideologischen Vorwurf verdeutlichen, welchen Barth abzuwehren versuchte. Vgl. Barth, RÖ II, XIV. Barth, RÖ II, 6. Barth, RÖ II, 7.
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Platos und Kants.«478 Und »Viertens: die genaue Verfolgung der Aufnahme, die meine erste Auflage gefunden hat.«479
Im Blick auf diese vier von Barth genannten Punkte zeichnet sich ein detailliertes Geflecht dessen, was Barth in der Zeit seiner Römerbriefkommentare gedanklich umtrieb. Auf zwei Punkte dieser Liste Barths soll im Folgenden genauer eingegangen werden. »Drittens: die bessere Belehrung über die eigentliche Orientierung der Gedanken Platos und Kants.«480
McCormack481 verweist bei diesen Stichwörtern Barths besonders auf zwei Vorträge seines Bruders Heinrich Barths, seinerseits außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Basel: »Gotteserkenntnis« (1919) und »Das Problem des Ursprungs in der platonischen Philosophie«, die Barth genau wahrgenommen zu haben scheint, was nicht zuletzt aus seinem Briefwechsel mit Thurneysen deutlich wird.482 Bezeichnenderweise verortete sich Heinrich Barth selbst in der Nähe des Marburger Neukantianismus und schloss so die gedankliche Brücke zwischen Karl Barths Marburger Zeit und dessen Arbeiten am Römerbriefkommentar. Die genannten Vorträge Heinrich Barths befassen sich dabei grob gezeichnet mit der »Verankerung der Erkenntnis in einer nichtgegenständlichen, transzendenten Realität«483 und damit in jenem Themengebiet, welches auch Karl Barth im Zuge seiner Römerbriefkommentare und der sich ausbildenden dialektischen Theologie bearbeitete. Heinrich Barth schreibt: »Wenn von Gott und dem Göttlichen geredet sein soll, so muß es sich um ein ganz Neues, um ein unbedingt Überlegenes, um ein prinzipielles Übertreffen jener Denkweise [sc. »dinglich-dynamische Denkweise«] handeln.«484
Heinrich Barth kommt im kritischen Anschluss an Descartes und in »engen Parallelen zu den Gedanken Cohens und Natorps«485 zum Schluss, dass die 478 479 480 481 482
483 484 485
Barth, RÖ II, 7. Barth, RÖ II, 7. Barth, RÖ II, 7. Eine detaillierte Untersuchung findet sich bei McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 197–203. Vgl. Barths Brief an Thurneysen vom 13. April 1919: »Heiners Vortrag [damit ist der Vortrag »Gotteserkenntnis« gemeint] ist mir zum Antrieb geworden, das totaliter aliter des Gottesreiches noch viel kräftiger ins Auge zu fassen.« Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 325. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 198. Heinrich Barth, Gotteserkenntnis, in Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1. Karl Barth – Heinrich Barth – Emil Brunner, hg. von Jürgen Moltmann, Teil 1, Gütersloh 61995 [1962], 219–255, 236. Lohmann Barth und der Neukantianismus, 166. Für eine detaillierte Darstellung der Parallelen verweise ich auf Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 166–172.
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»Begründung des Subjekts und seiner Gegenstände in einer nichtgegenständlichen, absolut überlegenen Realität«486 und damit schlussendlich in Gott selbst zu verorten sein müssten. Den Vortrag »Gotteserkenntnis« hielt Heinrich Barth 1919 vor der aargauischen Studentengemeinschaft und ist als »eine »Programmschrift« für Heinrich Barths gesamtes späteres Werk»487 zu bezeichnen. Heinrich Barth entwirft dabei ausgehend von einer krisenhaften Situationsanalyse, den Versuch eines grundsätzlichen Ansatzes für eine philosophische Denkweise zur Gegenwartsbewältigung. Er schreibt: »Unsere Zeit steht im Zeichen der Katastrophe; nicht wenige werden ihr darum Größe und überragende Bedeutung zuschreiben. Denn von der Katastrophe erwarten sie Scheidung von Licht und Finsternis, Befreiung aus dem Halbdunkel von Gut und Böse, grundsätzliche, klare Lösungen in den großen, prinzipiellen Lebensfragen.«488
Dieser Ansatz führt ihn zur Frage, von wo aus die Beantwortung dieser existentiellen und grundlegenden Herausforderungen angegangen werden könnte. Dabei verwirft er naturalistische Denkweisen und schreibt: »Viele einsichtige Betrachter unseres Zeitalters haben darin die Wurzel seiner tiefen Nöte erkannt, daß die moderne Menschheit wie kaum ein früheres Geschlecht die Herrschaft über das Leben verloren hat und zum Knecht der geschaffenen Welt, zum Sklaven der Dinge geworden ist. […] unser Leben [wird] von der seelenfremden Potenz beherrscht.489 […] Die Scheinwelt naturalistischen Denkens und Lebens ruft nach erlösenden Mächten; sie fordert von übernatürlichen Potenzen Befreiung von jener Knechtschaft, die das theoretische wie das praktische Bewußtsein an die »Natur der Dinge« bindet.«490
Dies bedeute jedoch nicht in den Ausdrucksformen der »erstarrten Kirchlichkeit«491 die Erkenntnis zu suchen, sondern in der Vitalität ihres reinen Ursprungs, im Gottesgedanken: »Wir aber sehnen uns nach Freiheit von Mächten und Gewalten. […] Eine radikale Überwindung der Natur allein kann uns von ihrem Banne befreien, eine prinzipielle Negation492 muß stattfinden, wenn das Göttliche in seiner Reinheit erkennbar werden soll.«493 486 487 488 489 490 491
McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 197f. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 173. H. Barth, Gotteserkenntnis, 221. H. Barth, Gotteserkenntnis, 226f. H. Barth, Gotteserkenntnis, 230. Hierunter versteht H. Barth solche religiösen Formen, die nicht in der Erkenntnis Gottes die Freiheit suchen. Vgl. H. Barth, Gotteserkenntnis, 231. 492 Laut Lohmann ist dies mit kleineren Abweichungen das Erkenntnisprinzip der Marburger Schule. Vgl. Lohmann Barth und der Neukantianismus, 177. 493 H. Barth, Gotteserkenntnis, 234.
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Stattdessen postuliert er seine Lösung wie folgt: »Um den befreienden Ausweg aus all dieser Problematik zu finden, haben wir einen radikalen Bruch mit den Kategorien dinglich-dynamischer Denkweise zu vollziehen. […] Wenn von Gott und dem Göttlichen geredet sein soll, so muß es sich um ein ganz Neues, um ein unbedingt Überlegenes, um ein prinzipielles Übertreffen jener Denkweise handeln.«494
Gott als Ursprung495 alles Erkennens gedacht, bedeutet für Heinrich Barth: »Einen scheinbaren Nullpunkt müssen wir erreichen, um die letzte Voraussetzung aller aufbauenden Arbeit zu gewinnen. […] Orientierung am Ursprung heißt immerwährendes Brechen mit dem Gewordenen.«496
Und weiter : »Im Hinblick auf den klaren logischen und ethischen Sinn dieses Gedankens erkennen wir es deutlich und scharf: das Geschiebe von Vorstellungen, Gedankenlosigkeiten, Wünschen und Zwecken, das unser Leben mehr als wir es je ahnen, als stehendes Servitut belastet, ist nicht das Leben selbst; wir suchen es vielmehr dort, wo Sinn und Wille kein anderer ist, als das schwer lastende Gewölbe zu sprengen und den Durchblick zum offenen Himmel zu erzwingen. Neuentdecker möchten wir alle werden […]«497.
In der Idee des Ursprungs findet Heinrich Barth die Vitalität mit einem weltverändernden Potential, zu der es sich zu besinnen gelte: »Das Göttliche stellt sich dem Leben nicht als etwas Abgelöstes, Begrenztes, in sich selbst Verschlossenes gegenüber. Es schafft Beziehung, es bewirkt Gestaltung. […] Dieser schöpferische Reichtum des Göttlichen ist es vor allem, der uns kraft seiner in der Idee begriffenen Ursprünglichkeit klar vor Augen steht.«498
494 H. Barth, Gotteserkenntnis, 236. 495 Zur Begrifflichkeit des Ursprungs schreibt H. Barth: »Denn adäquate Deutung des Geisteslebens verlangt das Zurückgehen an einen Ort, der allen Weltsphären und Seinszusammenhängen physischer und psychischer Art prinzipiell enthoben ist […] [S]ie findet ihre Begründung in der einzig legitimen, echten und wahren Transzendenz des Ursprungs.« H. Barth, Gotteserkenntnis, 238. Grube begründet im Anschluss an Lohmann die Identifizierung des Ursprungsgedankens mit Gott bei H. Barth damit, dass er zwei verschiedene, ein logisches und ein ethisches, Ursprungsprinzipien unterscheidet, wobei der ethische einen Vorrang genieße. Diese ethische Überordnung sei dabei mit Platons Idee des Guten verknüpft und »lässt sich nun mehr [in den] Gottesbegriff [eintragen], so daß Ursprungsund Gottesbegriff sowie die Idee (des Guten) bei Heinrich Barth eine konzeptionelle Synthese bilden […].« Dirk-Martin Grube, Unbegründbarkeit Gottes?: Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, 105. 496 H. Barth, Gotteserkenntnis, 239. 497 H. Barth, Gotteserkenntnis, 240. 498 H. Barth, Gotteserkenntnis, 250.
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Es fällt hierbei auf, dass Heinrich Barth, im Gegensatz zu Cohen und Natorp, »das Prinzip des ›Ursprungs‹ primär als Negation entwickelt«499, wobei nicht im Negativen verharrt wird, sondern diese lediglich den Wendepunkt hin zum Positiven zu bilden scheint. Lohmann weist auf entscheidende Einsichten hin, die in den Fortgang einzuflechten sind. Der Begriff des »Ursprungs« sei für Karl Barth bereits in RÖ I eine entscheidende Kategorie des »erkenntnistheoretische[n] Anti-Subjektivismus, wie er in der Philosophie Cohens und Natorps und in gesteigerter Form bei Heinrich Barth vorliegt«500, jedoch sei Barth in der Erstauflage noch verstärkt durch eigene Arbeiten zu Platon und Kutter beeinflusst und zeige daher eher Spuren einer romantischen Sprache bezüglich des Ursprungs, den er als Synonym für den »verlorenen Urzustand, das unmittelbare Verhältnis von Gott und Mensch«501 versteht. Dies ändere sich jedoch im Zuge der Arbeiten an RÖ II, in dessen Vorfeld Lohmann besonders auf Barths »Tambacher Rede« aus dem Jahr 1919 verweist, in der »sich bereits das Motiv einer nur über eine radikale, »kritische Negation« des »Gegebenen« erreichbaren »echten Transzendenz« Gottes als des »Ursprungs«« entdecken lasse.502 Zu dieser Einsicht kommt Barth, wie Lohmann betont, wohl erst in dieser Form durch den oben dargestellten Vortrag seines Bruders, wobei sich »z. T. wörtliche Übereinstimmungen zwischen beiden Vorträgen« feststellen lassen.503 Lohmann kann diese fortgesetzte Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Barth an verschiedenen Merkmalen innerhalb des RÖ II verifizieren. Karl Barth verstärke den »erkenntnistheoretischen Anti-Subjektivismus« derart, dass die »erzeugend-schöpferische Kraft des »reinen Denkens« zum Gedanken einer theonomen Begründung der Erkenntnis»504 führe. Die logische Denkfigur des »Ursprungsgedanke« als Inbegriff von Vitalität und kritischem Potential wird in der Römerbriefauslegung von Barth auf den christlichen Gottesbegriff angewendet. »Karl Barth übernimmt die Rede von Gott als »Ursprung« mit der Intention, über den Gegensatz von Gott und Welt bzw. Mensch die »ursprünglich-endliche« Einheit beider zum Ausdruck zu bringen.«505
499 500 501 502 503
Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 182. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 400. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 262. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 400. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 400. Lohmann weist weiterhin darauf hin, dass Barth in der Suche nach einer Begründung der absoluten Souveränität Gottes auf die Konzepte seines Bruders zurückgriff, um einen »Gottesbegriff, der nicht zum Zwecke der bloßen Legitimation profanen Handelns mißbraucht werden konnte«, etablieren zu können. Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 402. 504 Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 401. 505 Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 401.
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Grube weist in seiner Studie zur Erkenntnistheorie Barths ebenfalls darauf hin, dass Barth in seinem Werk einen »Kampf gegen die aufklärerische Vorordnung der Epistemologie vor die Ontologie« auszufechten versuche, wobei die Vorordnung nicht »etwa kantianisch mit unüberschreitbaren menschlichen Erkenntnisgrenzen bzgl. des Transzendenten, sondern theologisch, nämlich mit dem totaliter aliter Gottes« begründet werde. 506 »Unter Voraussetzung einer übergeordneten undialektischen Position [sc. Gott/Ursprung], die als solche die Dialektik von Negation und Position ermöglicht […]: Nur weil Gott Gott ist, und dieses undialektisch feststeht, ergibt sich überhaupt die Möglichkeit, das Nein so stark zu machen.«507
Grube verdeutlicht jedoch, dass der Ursprungsgedanke, wie er im RÖ II vorfindlich ist, mit seinen Postulaten aus der Negation zur Erkenntnis zu gelangen und im absoluten totaliter aliter Gottes Gegenüber dem Menschen Gott selbst erkennen zu können, nicht monokausal durch den Einfluss Heinrich Barths erklärt werden dürfe, sondern ebenfalls der Einfluss Kierkegaards bedacht werden müsse.508 Sein Fazit lautet: »Stellt der Ursprungsbegriff bei Heinrich Barth das ganze Schiff dar, ist er bei Karl Barth nur dessen Motor. Dieser treibt vor allem seine Dialektik an, das im Ursprungsbegriff implizierte transzendentale Potential übernimmt Karl Barth aber nicht.«509
Echtes Leben findet im Gegensatz zur Todeslinie des menschlichen Seins in der Erkenntnis Gottes statt, jenseits einer dem menschlichen Leben an sich inhärenten Fragwürdigkeit, Sinnlosigkeit und Begrenztheit. Vitales und die Potentialität entsprechend seines Ursprungs ausschöpfendes Leben wird in der göttlichen Offenbarung, die als die Anrede Gottes an den Menschen zu denken ist, geschenkt. Der religiöse Mensch erkennt in sich selbst eine Selbstentzweiung, die ihn in zu der Erkenntnis im Gegensatz zu Gott zu sein und gerade dort im Akt der göttlichen Anrede angesprochen sein lässt.510 Der Ursprung des Ichs wird in 506 Grube Unbegründbarkeit Gottes?, 89. 507 Grube Unbegründbarkeit Gottes?, 98. 508 Grube macht seine Kritik an den beiden Sachverhalten der »Vorrangstellung der Negation« und des »totaliter aliter« Gottes deutlich und betont, dass an beiden Stellen der Einfluss Kierkegaards auf Barth miteinbezogen werden müsse. Denn gerade Heinrich Barth betone nicht die absolute Differenz zwischen Diesseits und Jenseits im Ursprungsgedanken, sondern deren Verwiesenheit für die Letztbegründung der Ethik in der menschlichen Wirklichkeit. Und ebenso könne die Dimension der Negation als Erkenntnisgrund nicht monokausal auf Heinrich Barth zurückgeführt werden, sondern erhalte ihre barth’sche Prägung erst im Lichte einer Kierkegaard-Rezeption. Vgl. Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, 114–117. 509 Grube, Unbegründbarkeit Gottes?, 122. 510 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 515–520.
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dieser Negation zu Gott gefasst, die den Menschen im Modus des Glaubens zur Erkenntnis des geschöpflichen Seins im Gegensatz zum Schöpfer führt und von dort zum wahren Ich bringt, jenseits der subjektiven Eigenvorstellungen. »Zweitens Overbeck«511 und dessen posthum veröffentliche Schrift »Christentum und Kultur«.
Franz Overbeck und dessen Einfluss auf Barth wurde schon im II. Kapitel angedeutet, soll jedoch auch an dieser Stelle nochmals eine spezifische Erwähnung in der Begrifflichkeit der »Urgeschichte« finden. Overbeck ging es in seinem Einleitungskapitel von »Christentum und Kultur« darum, eine kritische Geschichtsphilosophie zu beschreiben, die sich grundsätzlich ablehnend gegenüber dem Vorhaben stellt, durch wissenschaftliche Untersuchung historischer Gegenstände, sich einem vergangenen Sein als Lebendigem nähern zu können und darin geradezu einen ungebrochenen Zugang zum Vergangenen zu finden meint. Overbeck schreibt: »Für jede denkende Betrachtung der Geschichte, die, wie jede denkende Betrachtung eines Dinges, an dieses Ding als Objekt und an das Subjekt, das es betrachtet, gebunden ist, bedeutet die in unserer modernen Welt vollkommen gewordene Zweideutigkeit des Begriffs Geschichte eine fatale Unbequemlichkeit.«512
Der Begriff der »Urgeschichte« wird für Overbeck zu einem Schlagwort, dem sich der Historismus und seine theologischen Denker in einer religionsgeschichtlichen Spielart verschrieben hätten. Dabei sei es ihr Ziel, mithilfe von historisch religionsgeschichtlichen Arbeiten das Religiöse des Christlichen zu fundieren und zu vertiefen.513 Dies sei jedoch ein aporetischer Versuch, denn das religiöse Moment an sich könne mithilfe der wissenschaftlichen Theologie nie beschrieben oder gar fundiert werden: »Theologie ist der zu Gunsten der Religion geführte, aussichtslose Ringkampf mit gewissen Unwahrheiten […] z. B. daß geschichtliche Betrachtung niemals eine Religion in ihrem Ansehen, ihrer Geltung zu erhalten vermag«.514
Für Overbeck eröffnet sich ein unüberwindbarer Graben zwischen Vergangenem und dem eigenen Jetzt, der an sich nie bezwungen werden könne. Barth selbst hingegen folgt hier der inhaltlichen Füllung des Begriffs der »Urgeschichte« mit einem kritisch geschichtsphilosophischen Duktus nicht515, son511 Barth, RÖ II, 7. 512 Overbeck, Christentum und Kultur, 33. 513 »An der deutschen protestantischen Theologie ist zur Zeit nichts zweideutiger, – um nicht zu sagen falscher als ihr Interesse an Religionsgeschichte.« Overbeck, Christentum und Kultur, 48. 514 Vgl. Overbeck, Christentum und Kultur, 45. 515 Vgl. McCormacks Hinweis auf Barths und Overbecks unterschiedliches Verständnis der
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dern interpretiert Overbecks Begriff der Urgeschichte anders und entgegen dessen ursprünglichen Sinngehalt. Für Barth wird die overbeck’sche Kategorie der »Urgeschichte« zum »Synonym für den unhistorischen, unbekannten und (menschlich gesehen) unerkennbaren Ursprung der Welt und der Menschen und damit zu einer theologischen Kategorie«516. Wichtig wird für Barth dabei, dass mit diesem Verständnis einer übergeschichtlichen »Urgeschichte« das Historische nicht genuin und exklusiv zum christlichen Glauben gehört, sondern es zu dieser Welt, und damit gerade nicht zu Gott gehörig, gedacht werden muss. Es drängt sich die Frage auf, ob Barth womöglich über Nietzsche zu seinem Verständnis der Urgeschichte als jenseits der Geschichte und zu seinem Vorhaben, die göttliche Offenbarung in der Geschichte, aber nicht aus der Geschichte517 beschreiben zu können, gefunden haben könnte. »Obwohl Barths Interpretation von Overbeck teilweise willkürlich erscheint, muss die Entdeckung von Overbecks nachgelassenen Schriften als entscheidender Anstoß für die Ausarbeitung seines neuen Eschatologiemodells angesehen werden.«518
Gerade die philosophische Auseinandersetzung mit Heinrich Barth um die Idee des »Ursprungs« und Franz Overbecks grundlegende Theologiekritik mit dem Begriff der »Urgeschichte« haben entscheidenden Anteil für Barths veränderte Sicht und Grundlegung seines Eschatologiemodells im RÖ II, wie es nun im Folgenden beschrieben werden soll. III.4.1.1 Veränderungen gegenüber dem Römerbriefkommentar (Erste Fassung) 1919 Wie gemeinhin und vielfach festgestellt, liegt eine der entscheidenden theologischen Veränderung zwischen RÖ I und RÖ II in der veränderten Sichtweise Barths in Bezug auf die Eschatologie. Wo Barth im RÖ I noch von einer »dialektischen Theologie im Schatten einer Prozesseschatologie519« ausgeht, verla-
516 517 518 519
historischen Arbeit: »Wie er [sc. Barth] im Vorwort zum 2. Römerbrief freimütig erklärte, zweifelte er nicht an den Fähigkeiten der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, viel oder sogar sehr viel über die geschichtliche Welt des Textes (z. B. im Hinblick auf den Autor und seine Adressaten) herausfinden zu können«. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 208. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 206. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 209. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 207. Dieser Prozess sei in der Weise zu verstehen, dass das Neue des Reich Gottes bereits jetzt angebrochen sei und sich jedes Mal einstelle, wenn Menschen Ja zu Christus und somit sein Evangelium in der Welt verkündigen. »Die neue Welt ist ja angebrochen.« Barth, RÖ I, 86 McCormack hält dies wie folgt fest: »Das Reich Gottes, das in Jesus Christus angebrochen ist, setzt sich inmitten unserer brüchigen und sündhaften Existenz fort, erreicht hier und
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gert sich im RÖ II diese Eschatologie in eine konsequent »dialektische Theologie im Schatten einer konsistenten Eschatologie«520. Diese Veränderung der »Eschatologiemodelle«521 hängt wiederum, wie McCormack herausstellt, mit Barths Beantwortung seiner zentralen Frage zusammen, »wie Gott sich den Menschen zu erkennen geben kann, ohne dabei aufzuhören, zu jedem Zeitpunkt das Subjekt der Offenbarung zu bleiben«522. Barth beschäftigte sich also in seinen beiden Auflagen des Römerbriefes mit den Problematiken von menschlicher Erkenntnis und göttlicher Erwählung in der Korrelation zur Gotteserkenntnis, die sich gerade als Gabe seiner Offenbarung zeige.523 Für Barth kann einerseits nur das vom Menschen erkannt werden, was ihm von außen verstehbar entgegentrete. Daher müsste nun auch Gott in solchen, dem Menschen verschiedenen und doch erfahrbaren Gegenständen erkannt werden. Daraus wiederum ergibt sich das Problem der absoluten Souveränität und Freiheit Gottes, die sich mit einer solchen Vergegenständlichung schwerlich verträgt. »Wie kann Gott »Gott sein«, nicht nur vor der Offenbarung, sondern auch in ihr und nach ihr?«524
Daneben beinhaltet für Barth der Gedanke der göttlichen Erwählung die Einsicht, wonach die Unmöglichkeit einer Erkenntnis Gottes durch den sündigen Menschen lediglich »durch einen souveränen und gnädigen Akt Gottes überwunden wird«525. Die entstandenen Missverständnisse bezüglich des RÖ I »zeigten Barth, wie leicht eine Gotteserkenntnis, die ihren Ausgangspunkt in Gott nahm, im Prozess des Erkennens in ein Denken vom menschlichen Erkenntnissubjekt aus verwandelt werden konnte«526. Daher sah sich Barth zum Wechsel seines Erklärungsmodells der Offenbarung genötigt und ersetzte die Prozesseschatologie im RÖ I durch eine »radikal, futurische, konsistente Eschatologie«527 im RÖ II. Der biblisch bezeugte Gott ist nicht länger ein Gott der Zukunft, sondern ein Gott der Ewigkeit. Aus dem Gott einer Nachzeitigkeit wird ein Gott der Gegenwart. So gedacht, wird das Eschatologiemodell aus einem linearen Geschichtsmodell herausgelöst und in ein zyklisches, da außerhalb der Zeit stehendes Modell, überführt. Gottes Ewigkeit steht dem menschlich linea-
520 521 522 523 524 525 526 527
dort vorläufige Siege und etabliert sich graduell.« McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 138. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 190 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 190. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 189. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 190. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 189. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 189. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 190. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 190.
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ren Geschichtsverlauf gegenüber und führt dies, ohne von menschlichen Kategorien gänzlich ergriffen werden zu können, zu einer dem Menschen verständlichen Erkenntnis der Krisis des menschlichen Seins und dessen Gestaltung. Dieses Modell der Eschatologie wird für Barth zum Medium der Offenbarung Gottes im Jetzt. Diese eschatologische Offenbarung darf dabei nicht als ein zeitlicher Prozess missverstanden werden, sondern im Sinne einer präsentischen Eschatologie, die aus der Überzeitlichkeit Gottes in die Geschichte des Menschen hereinbreche. Gott offenbare sich in der Zeit ohne ihr teilhaftig zu werden. Van der der Kooi macht deutlich, dass diese Offenbarung Gottes von Barth mit einem zweifachen Inhalt gedacht wird. »Offenbarung ist einmal die kritische, also eschatologische Durchleuchtung des Gehaltes und der Möglichkeit der Geschichte.«528 In diesem Licht der offenbarenden Wahrheit Gottes zeige sich lediglich die »Dürftigkeit, Endlichkeit, Nacktheit, Relativität und Negativität«529 der Welt. Ein denkerisches Analogon dieses Offenbarungsgehalts für die Sicht des Menschen auf sich selbst und die Welt bilde das Kreuz Christi zwischen Leid und Triumph, zwischen Tod und Leben. Der zweite Inhalt dieser Offenbarung sei dabei jedoch genau dieses Moment der Krisis, des negativen Urteils, des grundsätzlichen Neins. Denn dieses eindeutige negative Urteil bilde die Bedingung für das göttliche Ja zum Leben und damit zu Hoffnung und Heil.530 Der Begriff und das Schlagwort der Krisis wird von hier aus deutlich konturiert. Die Offenbarung Gottes führt zu einer Krisis des Vorfindlichen, die jedoch im Lichte der göttlichen eschatologischen Hoffnung den Schrecken ihres negativen Urteiles verliert. Dialektische Theologie bedeutet damit im eigentlichen Sinne: »Die Welt, die sich zuvor noch in Identität mit sich selbst befand, wird in den Lichtkreis der Offenbarung gestellt und gerade damit von der offenbar gewordenen Wirklichkeit unterschieden.«531
Zusammengefasst heißt dies: »Barth will von der Gegenwart Gottes (in der Offenbarung, dem Reich Gottes, der neuen Menschheit etc.) in der Geschichte so sprechen, dass zugleich klar wird, dass diese Realitäten nicht aus ihr stammen.«532
528 529 530 531 532
Van der Kooi, Zweiter Römerbrief, 197. Van der Kooi, Zweiter Römerbrief, 197. Vgl. van der Kooi, Zweiter Römerbrief, 197. Van der Kooi, Zweiter Römerbrief, 198. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 190.
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III.4.2 Nietzsche im Römerbriefkommentar (Zweite Fassung) 1922 Für die Untersuchung des RÖ II kann auf eine textkritische Ausgabe mit einem fundierten Fußnotenapparat zurückgegriffen werden. Die Herausgeber des RÖ II unterteilen Zitate und Anspielungen Barths in die folgenden sechs Kategorien533 : 1. In diesen Fällen benennt Barth lediglich den Namen des Autors ohne weitere Quellenangaben zu vermerken. 2. In diese Kategorie fallen Zitate, die weder als solche gekennzeichnet noch mit einem Verweis auf den eigentlichen Autor versehen sind. 3. Es gibt auch solche Bezugnahmen, bei denen Ausdrücke in Anführungszeichen gesetzt werden, ohne dass der Autor eigens benannt wird. 4. Ähnlich der dritten Kategorie setzt Barth bestimmte Ausdrücke in Anführungszeichen, die sich nicht direkt auf ein anderes Werk, wohl aber auf virulente zeitgenössische oder theologische Diskussionen beziehen. 5. Diese Gruppe umfasst Bezugnahmen, die von Barth als solche gekennzeichnet werden. Bei den entsprechenden Autoren lassen sich jedoch keine Belegstellen finden. 6. In der letzten Kategorie gruppieren »Anspielungen auf Äußerungen und Personen ohne Namensvermerk«534. Bevor nun die einzelnen Stellen wiederum in den Blick genommen werden, kann festgestellt werden, dass die Bezugnahmen auf Nietzsche quantitativ gegenüber dem RÖ I erheblich zunehmen. Mindestens 20 Stellen lassen sich finden, die in die oben eingeführten Kategorien eingeordnet werden können.
III.4.2.1 Vorworte Im Vorwort zur fünften Auflage des RÖ II, die im Jahr 1926 erschien, stellt sich Barth der Frage, warum sein Werk eine derart große Verbreitung gefunden habe. Eine seiner eigenen Mutmaßungen lautet dahingehend, dass er das geschrieben habe, »wonach den Leuten die Ohren jückten«535, dass er »gestraft werden musste, ziemlich weitgehend Mode zu werden«536. Er schreibt weiter : »Habe ich mich über die Welt und über mich selbst dahin getäuscht, dass ich als schlechter Theologe nolens volens der Knecht des Publikums gewesen bin, täuscht sich auch der Leser, der etwas für geistgemäß hält, was doch nur zeitgemäß, für Paulus, 533 534 535 536
Vgl. Barth, RÖ II, XXIII–XXXIII. Barth, RÖ II, XXVII. Barth, RÖ II, 35. Barth, RÖ II, 35.
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Luther und Calvin, was doch nur ein Absud aus Nietzsche, Kierkegaard und Cohen ist.«537.
Barth unterstellt sich in diesen Worten selbst, dem Geist der Zeit nachgeplappert zu haben und daneben Eigentliches mit Uneigentlichem verwechselt zu haben. Interessanterweise wird Nietzsche für Barth in diesen Sätzen zu einer Art Modephilosophen, den es im Ausweis der eigenen Modernität zu zitieren gilt, ohne ihn wirklich verstanden zu haben. III.4.2.2 Röm 2 »Menschengerechtigkeit« Röm 2 14–29 »Das Gericht« Die erste Bezugnahme im Text des Kommentars ist im Abschnitt zu Röm 2, 14– 29 und hierbei genauer im Verweis auf Vers 16 auszuamchen. Dort findet sich eine Anspielung Barths auf den Titel der Schrift Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« (1886), wobei Barth es unterlässt, den Namen Nietzsche zu nennen. Barth schreibt: »Jenseits von ihrem Gut und Böse ist der Arm Gottes in Bewegung« und spielt dabei auf die Vorläufigkeit einer jeden »Menschengerechtigkeit« und ihrer moralischen Werturteile an, die sich stets gewahr sein müsse, dass »Gott der Richter ist«.538
Im gleichen Abschnitt zu den Versen 26–29 geht es Barth ähnlich wie bei der ersten Bezugnahme darum, die Unmöglichkeit einer menschlichen Gerechtigkeit und einer jedwedem Zweifel enthobenen Moralität aufzuzeigen. Gott schafft Gerechtigkeit und nicht der Mensch, auch »keine sichtbaren Kreise von Heiligen, Ausgenommenen, Helden, Übermenschen und Gerechten«539. Die inhaltsreiche Anspielung und kritische Bezugnahme auf die Figur des nietzscheanischen Übermenschen, den dieser mit seinem Zarathustra zu etablieren versucht, ist im Zitat unverkennbar.540
537 538 539 540
Barth, RÖ II, 35. Vgl. Barth, RÖ II, 103. Barth, RÖ II, 109. Nietzsche schreibt: »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?« Der Übermensch steht dabei für den kommenden Typus Mensch, der Altes hinter sich lässt und als Schaffender und Freier seine Wirklichkeit formt: »Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm.« Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 14.
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III.4.2.3 Röm 3 »Gottesgerechtigkeit« Röm 3 21–26 »Jesus« Eine nächste explizite Bezugnahme auf Nietzsche findet sich im Abschnitt zu Röm 3, 21–26. Barth stellt in der Versexegese zu den Versen 22b–24 heraus, dass das, was Menschen untereinander vereint und solidarisch sein lässt, nicht deren positiven Eigenschaften wie »«religiöse Anlage«, »sittliches Bewusstsein«, »Humanität«« seien, sondern sie »in dem [vereint seien], was ihnen fehlt«, dem »Negativen«.541 Barth schreibt: »Als Brüder erkennen wir uns, indem wir uns als Sünder erkennen.«542
Von diesem Ort und dieser Erkenntnis aus, so Barth, werde erst die göttliche »Vergebung, die einzige Rettung, die in Betracht kommt«543, spürbar. Diese Einsicht dürfe jedoch nach Barth nicht zu frömmelnden oder religiösen Haltungen des »Pessimismus, Zerknirschtheit und Sündenjammer, mit der »dicken Schwermut« der »Prediger des Todes«« führen. Eine innere Haltung, die für Barth an sich selbst noch nichts »mit dem [von Nietzsche vorgetragenen und unterstellten] Gegensatz von orientalischer Selbstzerfleischung und griechischer Heiterkeit« zu tun hätte.544 In der Aufzählung falscher Konsequenzen dieser Erkenntnis finden sich direkte Zitate aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, die von Barth auch als solche gekennzeichnet werden und mit dem Namen Nietzsches in Klammern vermerkt sind. Der Begriff »Prediger des Todes« ist eine Zwischenüberschrift Nietzsches in dessen »Also sprach Zarathustra«, unter der sich ebenfalls die anderen aufgeführten Begriffe finden lassen545. »Eingehüllt in dicke Schwermuth und begierig auf die kleinen Zufälle, welche den Tod bringen: so warten sie [sc. die Prediger des Todes] und beissen die Zähne aufeinander.«546
Nietzsche und in seinen Worten Zarathustra predigen das Gegenteil dieser »Prediger des Todes« und der Selbstzerfleischung547, nämlich das vitale und ungezähmte Leben. Deutlich ist diesen Worten Zarathustras die Kritik an der christlichen Botschaft und deren Prediger als eine lebensmindernde zu hören, 541 542 543 544 545 546 547
Barth, RÖ II, 141. Barth, RÖ II, 141. Barth, RÖ II, 142. Vgl. Barth, RÖ II, 142. Vgl. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 55–57. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 56. »Das sind die Fürchterlichen, welche in sich das Raubthier herumtragen und keine Wahl haben, es sei denn Lüste oder Selbstzerfleischung.« Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 55.
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auch wenn Nietzsche weder den Begriff des Christlichen noch der christlichen Verkündigung explizit benutzt. Und doch atmet dieser Abschnitt des Zarathustra Nietzsches grundsätzliche Sicht auf das Christentum und dessen Botschaft, die das Sein und das Leben in deren Genuss mindere. Diese nietzscheanische Kritik an der christlichen Verkündigung erkennt Barth wiederum in einem gewissen Rahmen an und benutzt Nietzsche seinerseits dazu, innerhalb des Christlichen verbreitete Frömmigkeiten auszuhebeln und gegenüber der göttlichen Gnade als ungebührlich darzustellen. Denn in der Sicht Barths versuchen solche Strömungen den Religionsbegriff aus der Sicht des menschlichen Bedürfnisses heraus zu füllen. Auch Barth benutzt sozusagen die Bildworte des Todes und des Lebens, um diejenige Verkündigung der göttlichen Botschaft zu stärken, die dem befreiten Leben und nicht dem jammervollen Tod dient.
III.4.2.4 Röm 4 »Die Stimme der Geschichte« Röm 4 13–17a »Glaube ist Schöpfung« In Röm 4 zur Versexegse 15 findet sich der Name Nietzsches im Fließtext des Kommentars ohne ein weitere direkte schriftliche Bezugnahme. Im Zusammenhang dieses Abschnitts, unter der Thematik »Das Gesetz verschafft Zorn«548, geht es Barth um die Problematisierung der »religiösen Gebärde«549 an sich. Barth schreibt: »Denn keine menschliche Gebärde ist an sich fragwürdiger, bedenklicher, gefährlicher als eben die religiöse Gebärde«, wenn sie sich aufspielt »aus letzten Motiven, höherer Sendung und höherer Botschaft« legitimieren zu wollen550.
Doch nicht nur der Ausdruck einer menschlich geformten Religiosität ist für Barth zweideutig, sondern auch »alles, was sich am Gegensatz zu der religiösen Erscheinungswelt orientiert: also das religiöse Jasagen sowohl wie das antireligiöse Neinsagen, das Tempelbauen und das Tempelstürzen«551. Unter dieser Rubrik eines »durch höhere Sendung und höher Botschaft« gespeisten antireligiösen Neinsagens fasst Barth Nietzsche, da er in dessen Angriff auf das Christentum den »Protest gegen die religiöse Gebärde überhaupt« erkennt und zudem vorwirft, im Ausdruck seiner umfassenden Kritik lediglich sich selbst zu rechtfertigen und zu vergöttlichen.552 548 549 550 551 552
Vgl. Barth, RÖ II, 186–188. Barth, RÖ II, 187. Barth, RÖ II, 187. Barth, RÖ II, 187. Vgl. Barth, RÖ II, 188.
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»Wo immer die religiöse oder antireligiöse Gebärde nicht ausdrücklich und bewusst über sich selbst hinausweist, sondern, und wäre es als Glaube, Liebe und Hoffnung, und wäre es als die dionysische Geste des Antichrist, sich selbst rechtfertigen will.«553
Im sich direkt anschließenden Abschnitt »Sofern aber Gesetz nicht ist, ist auch Übertretung nicht«554, findet noch einmal der Name Nietzsches Verwendung. Barth beschreibt im Abschnitt lediglich eine solche religiöse Gebärde als gerechtfertigt, die ihre Rechtfertigung und ihre Existenz dem Glauben verdankt. Diese glaubende Rechtfertigung zeichne sich dabei »[bewusst] demütig [gegenüber] der Wirklichkeit seiner ganzen seelisch-geschichtlichen Erscheinungsform [aus], sofern er sich als positive oder negative menschliche Haltung zugleich seiner reinen Negativität Gott gegenüber«555 sehe. Das Wesen dieses Glaubens liege nach Barth auf »jener kritischen Linie […], die den Religiosus Luther von dem Religiosus Erasmus, den Antireligiosus Overbeck von dem Antireligiosus Nietzsche trennen dürfte«556. Barth definiert diese kritische Linie anhand ihrer teleologisch-inhaltlichen Ausrichtung genauer : »Sofern die religiöse oder die antireligiöse Gebärde darin ihr Schwergewicht hat, dass sie über sich selbst hinausweist, verliert das Fragwürdige ihrer Erscheinung sein Gewicht und die absolute Skepsis ihr Recht.«557
Barth unterstellt Nietzsche also, in seiner Kritik nicht über sich selbst hinausgewiesen zu haben, sondern lediglich sich selbst gepredigt zu haben und so gesehen unter dem Zorn des Gesetzes zu stehen. Röm 4 17b–25 »Vom Nutzen der Historie« »Vom Nutzen der Historie«558, so überschreibt Barth seine Auslegung des Abschnitts 4, 17b–25 und spielt damit wohl auf Nietzsches »Unzeitgemässe Betrachtungen II.« an. In der Auslegung zu Vers 17b geht es Barth um die Rückbindung des JetztGlaubenden an die historisch-biblische Figur des Abrahams. Dabei komme es darauf an, diesen Rückbezug nicht »im Fleische, im Anschaulichen, sondern in dem Unanschaulichen, dass er unser aller Vater ist vor Gott«559 zu suchen. Für Barth ist also gerade nicht im Versuch der historischen Bezugnahme und Genealogie des glaubenden Individuums auf die historische Person Abraham die existentielle Kraft des Glaubens zu beschreiben, sondern grundsätzlich in des553 554 555 556 557 558 559
Barth, RÖ II, 188. Vgl. Barth, RÖ II, 188f. Barth, RÖ II, 189. Barth, RÖ II, 189. Barth, RÖ II, 189. Barth, RÖ II, 191. Barth, RÖ II, 193.
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sen unhistorischen Moment560, wie er sich in einem jedem geschichtlich-realen Menschen zeige. Abraham wird nicht durch eine historisch-genealogische Vaterschaft zum Vater aller Glaubenden, sondern in der idealisierten und stilisierten Figur des in den Herausforderungen seines Lebens geprüften und gesegneten glaubenden Menschen. Barth hält dazu fest, dass »nie […] die Geschichte, nie die geschichtliche Persönlichkeit des Menschen ganz ohne dieses urgeschichtliche Oberlicht«561 sei und spielt damit auf das Verhältnis von Geschichte und Glaube, von göttlicher Offenbarung in der Zeit aber nicht aus der Zeit, bzw. des historischen Faktums und die, die Existenz unmittelbar angehende Erkenntnis einer Wahrheit an. Gottes Offenbarung und der sich daraus ergebende Glaube ereigne sich zwar in der Geschichte, begründe sich aber nicht in ihr. Gottes Wort bricht von außen in die Lebenswirklichkeit hinein und verändert diese in ihrem Innersten. In diesem Zusammenhang finden sich mehrere Zitate aus Nietzsches »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, die auch als solche von Barth gekennzeichnet werden. Nietzsches Thema im zitierten Abschnitt ist die Schädlichkeit eines übersteigerten Interesses am Historischen, »bei dem das Lebendige zu Schaden kommt«562. Dabei verweist Nietzsche auf die Balance zwischen dem »Unhistorischen« und dem »Historischen«, »[so]dass man eben so gut rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert, davon dass man mit kräftigem Instincte herausfühlt, wann es nötig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden«563. Nietzsche setzt den Begriff des »Historischen« im Gegenüber zum »Lebendigen« und verdeutlicht damit seinen Zweifel an der Überzeugung eines sinnversprechenden Mehrwerts der historischen Betrachtung und Forschung für die Bestimmung eines gegenwärtigen und daraus sich entwickelnden zukünftigen Seins. Und gleichzeitig ist das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart, zwischen dem Gewordenen und dem Werdenden, eine Grundkonstante des menschlichen Lebens. In der nun folgenden Bezugnahme auf Nietzsche illustriert Barth, dass dabei nicht alles Gewordene des menschlichen Seins durch eine historische Betrachtungsweise seziert und damit ergründet werden könne. Es bleibt das Momentum des »Unhistorischen«, des »Urgeschichtlichen«, das seinen unhintergehbaren Einfluss auf die menschliche Existenz habe und für Barth gerade in der Sphäre der Offenbarung und des Glaubens gefasst werden kann.
560 Vgl. Barth, RÖ II, 192: »[…] die ungeschichtliche, d. h. aber ur-geschichtliche Bedingtheit aller Geschichte, das Licht des Logos aller Geschichte und alles Lebens erkennen.« 561 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 250. 562 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 250. 563 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 252.
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Barth zitiert die folgenden ausgewählten Sätze aus Nietzsches »Unzeitgemässe Betrachtungen II.« wörtlich: »Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich das Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden.564 […] Wo finden sich Thaten, die der Mensch zu thun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein?565 […] Sollte Einer im Stande sein, diese unhistorische Atmosphäre, in der jedes grosse geschichtliche Ereigniss entstanden ist, in zahlreichen Fällen auszuwittern [und nachzuathmen]566, so vermöchte ein Solcher vielleicht, als erkennendes Wesen, sich auf einen überhistorischen Standpunkt zu erheben,567 […]568 er wäre selbst davon geheilt, die Historie von nun an noch übermässig ernst zu nehmen: hätte er doch gelernt, an jedem Menschen, an jedem Erlebniss, unter Griechen oder Türken, aus einer Stunde des ersten oder des neunzehnten Jahrhunderts, die Frage sich zu beantworten, wie und wozu gelebt werde [Barth schreibt: wird].569«
Barth findet sich inhaltlich eng an Nietzsche gebunden und kann Nietzsches Gedankengang zur Untermauerung der eigenen Gedanken benutzen. In der Auslegung zu den Versen Röm 4, 23–25, in der es Barth wiederum auf den Nutzen und Tragweite des Historischen für den Glauben und die Betrachtungsweise des Menschen geht, zitiert er abermals Nietzsche aus dessen »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«. Der erste Teil des Zitates wiederum findet sich bereits in RÖ I, hier jedoch lediglich in einem Entwurf für das Vorwort. Barth versucht deutlich zu machen, dass die Geschichte nur dann von Nutzen und Auswirkung für die eigene Existenz sein könne, wenn es zu einem »Selbstgespräch« komme, die die »Gleichzeitigkeit« von Damals und Jetzt ins Spiel bringe. Im Zusammenhang des Glaubens bedeute dieses Gespräch jenseits historisierender Betrachtungen des Bibeltextes die existentielle Einsicht, »dass dem Abraham sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet wurde«570 und damit, dass dieses Faktum überzeitlich für jeden Gläubigen gelte. Die historische Erzählung gewinne nur dann Relevanz, wenn sie in ihrer inneren Aussage auf die eigene Gegenwart bezogen werden könne. »Denn »wirklich« ist nicht dasselbe wie wahr, »interessant« ist noch nicht dasselbe wie sinnvoll und eine in einer Fülle von Geschichten uns anschauende Vergangenheit ist darum noch keine redende, verstandene und erkannte Vergangenheit.«571 564 565 566 567 568 569 570 571
Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 252. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 253. Fehlt in Barths RÖ II. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 254. Barth schaltet hier einen eigenen Textabschnitt dazwischen. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 254f. Barth, RÖ II, 199. Barth, RÖ II, 200.
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Nietzsche schreibt: »Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr erraten, was in dem Vergangnen wissens- und bewahrenswürdig und groß ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangne zu euch nieder.«572 […] Geschichte schreibt der Erfahrene und Ueberlegene. Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen. Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen.«573
Diese Bezugnahmen entsprechen dabei Barths grundlegendem Impetus seiner dialektisch-existentiellen Theologie, wie er sie im Vorwort zur zweiten Auflage seines RÖ II beschreibt: »Die Unterschiede zwischen einst und jetzt, dort und hier, wollen beachtet sein. Aber der Zweck der Beachtung kann nur die Erkenntnis sein, dass diese Unterschiede im Wesen der Dinge keine Bedeutung haben.«574
Die Kritik am Historismus mit dessen historisierender Betrachtung des menschlichen Lebens eint Barth und Nietzsche dort, wo die Kategorie des Geschichtlichen als letztgültiger Begründung des menschlichen Seins herangezogen wird und damit zum Spielball kontingenter und mehrheitsfähiger gesellschaftlicher Überzeugungen wird. III.4.2.5 Röm 5 »Der nahende Tag« Röm 5 12–21 »Die Neue Welt« Zu Röm 5,12 und im Zusammenhang der »Neuen Welt«, wie Barth diesen Teil überschreibt, kommt er in einer Anspielung auf Nietzsche zu sprechen, wonach der derzeitige Mensch überwunden werden müsse. Barth benutzt diese nietzscheanische Überzeugung des Überwindens des »Alten« für seine Auslegung des paulinischen Bildes vom alten und neuen Adam: »Adam, der erste, d. h. der psychische, der irdische, der geschichtliche Mensch ist das, was überwunden werden muss.«575
Der Name Nietzsche selbst fällt jedoch nicht.
572 573 574 575
Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 293f. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, 294. Barth, RÖ II, 3. Barth, RÖ II, 237.
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III.4.2.6 Röm 7 »Die Freiheit« Röm 7 1–6 »Die Grenze der Religion« Röm 7 überschreibt Barth mit die »Die Freiheit« und verhandelt die Verse 1–6 unter der Überschrift »Die Grenze der Religion«. In der Interpretation zu Vers 6 findet sich die nietzscheanische Formulierung und Buchtitel des »Menschliches, Allzumenschliches«576. Barth verwendet diese Formulierung, um den Menschen und dessen Sein unter dem Gesetz zu veranschaulichen. In einer Art rhetorischen Frage kommt Barth auf Nietzsche und seine Vorstellung des Übermenschen zu sprechen: »Welcher vom Weibe Geborene wäre der Übermensch, der nicht mit Christus unter das Gesetz getan wäre, solange er lebt?«577
Barths kritische Spitze gegenüber Nietzsches Übermenschen, der von sich aus und aus sich selbst dieses neue Sein jenseits der alten Grenzen und Gesetzmäßigkeiten zu finden meint, ist deutlich zu hören. Im Zusammenhang des Seins des Menschen unter dem Gesetz und der Unmöglichkeit durch menschliche Bemühungen sich von diesem zu lösen, äußern die Hrsg. des RÖ II den Verdacht, Barth könnte im direkten Kontrast zu einer Passage aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra« seine Worte gewählt haben: »Als den Pfeil vom anderen Ufer, das wir nie betreten werden, der aber uns getroffen hat, als die Wahrheit jenseits der Grenze, die wir nie überschreiten werden, die aber von dorther zu uns geredet hat.«578
In dieser Passage geht es Barth darum, den neuen Seinsbereich des Menschen gegenüber eines alten herauszustellen, wenn er durch den Glauben aus dem Geltungsbereich des Gesetzes enthoben wurde. Nietzsche spricht in der fraglichen Stelle ebenfalls von zwei verschiedenen Sphären, zwei Ufern, die sich gegenseitig ausschließen und keine Vermischung denkbar ist. Nietzsche schreibt: »Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer.«579 […] »Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht.«580
Nietzsches Gedanken zum Pfeil der Sehnsucht erinnern an die mythische Erzählung des griechischen Gottes der Liebe, der mit seinen Pfeilen die sehnsuchtsvolle Liebe in Menschen entfachen kann. In Zarathustras Reden ist diese Sehnsucht das Erwarten des Übermenschen und seiner Tugenden für die 576 577 578 579 580
Barth, RÖ II, 327. Barth, RÖ II, 327. Barth, RÖ II, 327. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 17. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 17.
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kommende Welt. Für Barth hingegen wird der Pfeil der Sehnsucht zum Inbegriff des ungebührlichen und schädlichen Verlangens des in sich selbst verhafteten Menschen, zur Chiffre seiner Kritik an der religiösen Gebärde und deren Versuch, sich der Selbstverliebtheit und Selbstrechtfertigung hinzugeben. Dieser durch den Pfeil infizierte Mensch fristet sein Sein unter dem Gesetz, das die Sündhaftigkeit des Menschen an sich zu verleugnen suche. III.4.2.7 Röm 8 »Der Geist« Röm 8 11–27 »Die Wahrheit« Ich rechne, dass die Leiden der Zeit des Jetzt nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die sich an uns offenbaren wird. (8,18).
Barth betont in seiner Auslegung des paulinischen Verses die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis, die sich gerade in der Auseinandersetzung mit dem Leiden in der Welt und im eigenen Leben als der Frage nach der Theodizee verdeutliche. Für den gläubigen Menschen gebe es keine Möglichkeit am Leiden »vorbeizusehen«, sondern »das ist’s ja, das Geheimnis des Leidens und seine Offenbarung, dass Gott Gott sein will und ist und dass er in diesem seinem Wollen und Sein von uns erkannt und geliebt werden muss.«581 Barth kommt es in seiner Deutung auf die Ausweglosigkeit einer eigenständigen menschlichen Erkenntnis zur Wahrheitsfindungen an, die erst im Lichte und in der Wahrheit Gottes aufgelöst werden könne. Erst die Offenbarung Gottes verhelfe dem Menschen zu wahrer Einsicht und Wahrheit über sich selbst und ebenso über Gott. Dies jedoch nicht vorbei an der eigenen Wirklichkeit, sondern gerade in und mit ihr. »Das Kind Gottes sieht nicht vorbei am Leiden […] Es hört die Stimme der Wahrheit im Leiden, an der Wurzel aller menschlichen Fragen und Antworten. Es »will in allen Dingen bis auf den hoffnungslosen Grund sehen« (Nietzsche), weil dort die Hoffnung ist.«582
Dieses von Barth ausgewiesene Zitat findet in sich in den »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«. In seinem ganzen Satzzusammenhang lautet es dort: »Der heroische Mensch verachtet sein Wohl- und Schlecht-Ergehen, seine Tugenden und Laster und überhaupt das Messer der Dinge an seinem Maasse, er hofft von sich aus nichts mehr und will in allen Dingen bis auf diesen hoffnungslosen Grund sehen.«583 581 Barth, RÖ II, 418. 582 Barth, RÖ II, 418. 583 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 375.
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Interessanterweise ersetzt Barth für seine Zwecke quasi lediglich die nietzscheanische Chiffre des »heroischen Menschen« durch den paulinischen Begriff des »Kindes Gottes« und kann die näheren Attribute und Beschreibungen damit wörtlich für sein Interpretation übernehmen. Fast direkt anschließend zitiert Barth eine ganze Passage Nietzsches im gleichen Sinnzusammenhang, die von der inneren Dialektik der endlichen menschlichen Erkenntnis handelt, wenn sie auf den oben zitierten hoffnungslosen Grund gestoßen sei: »Die alten Denker suchten mit allen Kräften das Glück und die Wahrheit – und nie solle einer finden was er suchen muss, lautet der böse Grundsatz der Natur. Wer aber Unwahrheit in allem sucht und dem Unglücke sich freiwillig gesellt, dem wird vielleicht ein anderes Wunder der Enttäuschung bereitet: etwas Unaussprechbares, von dem Glück und Wahrheit nur götzenhafte Nachbilder sind, naht sich ihm, die Erde verliert ihre Schwere, die Ereignisse und Mächte der Erde werden traumhaft, wie an Sommerabenden breitet sich Verklärung um ihn aus. Dem Schauenden ist, als ob er gerade zu wachen anfinge und als ob nur noch die Wolken eines verschwebenden Traumes um ihn her spielten. Auch diese werden einst verweht sein: dann ist es Tag.–«584
Barths Verwendung deckt sich insoweit mit dem inhaltlichen Bezugsrahmen Nietzsches, wonach er den »bösen Grundsatz der Natur« als die Sündhaftigkeit und damit als die mangelnde Erkenntnismöglichkeit des Menschen interpretiert. Für Barth wird das von Nietzsche Erwartete, die Veränderung, der Tag, jedoch zur transzendent-göttlichen und extrovertierten Offenbarung und nicht, wie bei Nietzsche, zu einer welt-immanenten und introvertierten menschlichen Erkenntnis. Diese Offenbarung selbst wiederum zeigt sich für Barth in der Dialektik zwischen der Realität des Menschen und der Wirklichkeit Gottes. Barth schreibt: »Blind und stumm und gerade darum sehend und redend, fraglos und antwortlos und gerade damit fragend und antwortend, leidend und gerade darin triumphierend erkennen und lieben die Kinder Gottes ihren Vater«585.
Im Zusammenhang des Gedankens zu »Denn die Aufmerksamkeit des Geschaffenen wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes«586 (Rö 8,19) greift Barths nochmals explizit und ausführlich auf Nietzsche zurück. Dabei findet sich ein Zitat, das sich bereits im RÖ I, dort ebenfalls zu 8,19, finden lässt: »[U]nd wenn die gesammte Natur sich zum Menschen hindrängt, so gibt sie dadurch zu verstehen, daß er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Tierlebens nötig ist und daß endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben 584 Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 375; so auch in Barth, RÖ II, 419. 585 Barth, RÖ II, 419. 586 Barth, RÖ II, 420.
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nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege man wohl: wo hört das Thier auf, wo fängt der Menschen an! Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist!587 […] wir kommen für gewöhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen. Aber es giebt Augenblicke , wo wir dies begreifen: dann zerreissen die Wolken, und wir sehen, wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrängen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht [hervorgehoben bei Barth].588 […] Aber wir fühlen zugleich, wie wir zu schwach sind, jene Augenblicke der tiefsten Einkehr lange zu ertragen und wie nicht wir die Menschen sind, nach denen die gesammte Natur sich zu ihrer Erlösung hindrängt [hervorgehoben bei Barth]: viel schon dass wir überhaupt einmal ein wenig mit dem Kopfe heraustauchen und es merken, in welchen Strom wir tief versenkt sind. Und auch dies gelingt uns nicht mit eigner Kraft589 […]«590
Barth schließt seinen Gedanken folgendermaßen ab: »Das ist die Wahrheit: die Aufmerksamkeit des Geschaffenen wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Sie wartet mit uns, nein sie wartet auf uns.«591
Auch Barth denkt wie Nietzsche in der revolutionären Kategorie eines neuen Menschen, der sich entgegen dem Bestehenden und seiner restaurativen Kräfte offenbaren müsse. Für Barth kann ein solcher Mensch jedoch erst durch Gottes Gnade offenbar gemacht werden. Nicht der Mensch selbst könne zur Erlösung des Menschen werden, sondern allein Gott. »Wo hört das Thier auf, wo fängt der Mensch an?«, bei Barth wird diese Frage zum Ausdruck der göttlichen Erlösung zwischen altem und neuem Adam, zwischen dem Menschen unter dem Gesetz und dem Menschen im Licht der rechtfertigenden Gnade, zu der die ganze Schöpfung hindränge. Die menschliche Erkenntnis ist dabei für Barth endlich und auf Gottes Offenbarung angewiesen, denn sie könne – wie es Nietzsche an sich selbst unfreiwilliger Weise aufzeige – niemals die Tiefe und Einsicht Gottes nachempfinden. Zu Röm 8,20, »denn der Leehrheit wurde das Geschaffene unterworfen«, findet sich nochmals ein Nietzschezitat aus dem obigen Zusammenhang der »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«. Barth ersetzt dabei in der zitierten Bezugnahme auf Nietzsche dessen »wahrhafte Menschen, jene Nichtmehr-Thiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen«592 durch die paulinischen Söhne Gottes: 587 588 589 590 591 592
Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 378. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 378. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 380. So auch in Barth, RÖ II, 422. Barth, RÖ II, 422. Barth, RÖ II, 425.
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»Bei ihrem Erscheinen [RÖ II: Beim Erscheinen der Söhne Gottes593] und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male [RÖ II: erstenmale] am Ziele«594.
Barth ändert sozusagen den Zieltypus der Offenbarung, der die Natur und die Welt in Ekstase versetzen wird. Ist dies bei Nietzsche sein Ideal des Menschseins, verkörpert in der Krönung des Übermenschen, ist dies für Barth mit den Worten Paulus der glaubende und damit freie und gerechtfertigte Mensch. Die Reaktion der Umwelt auf dieses Erscheinen bleibt jedoch identisch. Den dazugehörenden Abschnitt lässt Barth mit einem Nietzschezitat aus dessen »Also sprach Zarathustra« enden: »Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender, – und eine neue Hoffnung!«595
Und auch hier geht Barth wieder nach einem ähnlichen Muster vor. Er verändert das Zitat nicht grundlegend, widerspricht ihm nicht, sondern verändert den interpretatorischen Rahmen, in dessen Zusammenhang das Zitat zu stehen kommt. Ist bei Nietzsche der interpretatorische Rahmen eindeutig der erwachte Mensch, der sich im Vorbild Zarathustras selbst von Altem und Einengendem befreit, ist für Barth der interpretatorische Rahmen das rettende und heilmachende Offenbarungsgeschehen Gottes in Jesus Christus. Und doch stimmt er mit Nietzsche darin überein, dass diese innere Genesung des Menschen im Hier und Jetzt schon ihren Anfang und ihre Auswirkungen annimmt und zeigt. Röm 8 28–39 »Die Liebe« Barth schließt seine Gedanken zu den Versen Röm 8,31–32 mit einer wortgetreuen Anspielung auf ein Werk Nietzsches ab. Im Zusammenhang seiner Gedanken fällt das Schlagwort der »Morgenröte«. Es ist dabei nicht ganz eindeutig zu klären, in welcher Weise sich Barth hier auf Nietzsche zu beziehen versucht. Zwei Erklärungen sind denkbar. Entweder bezieht sich Barth auf das Buch Nietzsches mit dem Titel »Morgenröte« oder aber auf einen Aphorismus Nietzsches aus dessen »Die fröhliche Wissenschaft«. Barth schreibt den Begriff der Morgenröte in folgendem Zusammenhang: »Wir können nicht reden, aber auch nicht nicht reden von der Morgenröte, die wir gesehen haben.«596
Der fragliche Aphorismus findet sich in Nietzsches Buch »Die fröhliche Wissenschaft«: 593 594 595 596
Barth, RÖ II, 425. Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.«, 380. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 101. Barth, RÖ II, 448.
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»In der That, wir Philosophen und ›freien Geister‹ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ›alte Gott todt‹ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt«597.
Die Herausgeber des RÖ II verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Studie zur barth’schen Dialektik von Werner M. Ruschke598, der in diesem Zitat und dem Bild der anbrechenden Morgenröte die fundamentale Gegensätzlichkeit von Barth und Nietzsche verkörpert sehen will.599 Denn wo Nietzsche den Tod Gottes als die Morgenröte bezeichne, gehe es Barth gerade darum, im wiederentdeckten Offenbarungsgeschehen Gottes, diese für die Menschheit anbrechende Morgenröte zu erkennen. Nach dieser Interpretation hätte Barth also seine Worte mit Bedacht gewählt, um der nietzscheanischen Überzeugung der Morgenröte seine Sicht entgegenzustellen. Wie überzeugend diese interpretierende Lesart sein könnte, sei dahingestellt. Überblickt man die von Barth angeführten Werke Nietzsches, so lässt sich feststellen, dass Barth auf alle zitierten Werke mehrmals bezieht. Das Werk »Die fröhliche Wissenschaft« findet jedoch an keiner weiteren Stelle des RÖ II Verwendung.
III.4.2.8 Röm 9 »Die Not der Kirche« Röm 9 14–29 »Der Gott Esaus« Die Verse Röm 9, 14–29 überschreibt Barth mit »Der Gott Esaus«. Die Auslegung Barths zum Versteil Röm 9, 14 »Ist da nicht eine Unbotmäßigkeit auf Seiten Gottes« zielt auf die grundsätzliche Problematik der Prädestinationsgedanken. In der damit zusammenhängenden Herausforderung eine erwählende und verdammende Gerechtigkeit mit der Gnade Gottes zusammenzudenken, wie es sich in der Verkündigung Jesu spiegele, findet auch Nietzsche als ein in der Sicht Barths tiefgründiger und scharfer religiöser Denker seinen Platz. Nietzsche wird von Barth als Mensch herangezogen, der »in seiner wilden Auflehnung gegen Gott besser gewusst zu haben scheint, als die unbedachte direkte Gläubigkeit derer, die es wagen, ihn [sc. Gott?] deshalb [sc. die göttliche Prädestination: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst« (Röm 9,13)] zu verdammen600. Interessanterweise wird Nietzsche für Barth trotz all seiner Polemik gegen das 597 Friedrich Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft« in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 574. 598 Vgl. Barth, RÖ II, 448. 599 Vgl. Werner M. Ruschke, Entstehung und Ausführung der Diastasentheologie in Karl Barths zweitem Römerbrief (Neukirchener Beiträge zur systematischen Theologie, Bd. 5), 1987, 59f. 600 Barth, RÖ II, 476.
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Christentum zu einem religiösen Menschen, der die Tiefen und verborgenen Besonderheiten des gläubigen Bewusstseins in der Beziehung zu Gott, hier im speziellen in der Problematik einer doppelten Prädestination, kenne und diese auszudrücken vermag. Barth schreibt: »Jene Krisis [sc. der Prädestination Gottes zwischen Leben und Tod] darf aber eben darum nicht umgangen und darum auch das Ärgernis der zweiseitigen Wolkensäule nicht weggewünscht werden.«601
Nietzsche bewerkstelligt es in den Augen Barths zielgenau und pointiert die Schwierigkeiten und denkerischen Herausforderungen des christlichen Gottesbegriffs darzustellen und wohl auch in einem gewissen Sinne auszuhalten. Leider belegt Barth seine Einschätzung Nietzsches nicht näher durch ein Zitat oder die Darstellung eines bestimmten Gedankens bei Nietzsche. Barth spricht im Zusammenhang seiner Auslegung von Röm 9, 19–21 von der Aufgabe der Kirche, sich als Ort der Verkündigung des göttlichen Evangeliums zu verstehen. Diese Aufgabe hätte sie gerade auch im kritischen gegenüber zur Welt und ihren scheinbaren Wahrheiten und Überzeugungen zu erfüllen. Nietzsche fungiert für Barth dabei in einer Aufzählung mit anderen als das Paradebeispiel, eines an den eigenen Machtphantasien erkrankten Menschen, »der die Wahrheit nicht zu ertragen vermag«602. In Barths eigenen Worten: »Der Ausgang von Dostojewskis »Idiot«, das Ende eines Hölderlins oder Nietzsche […], sie können doch nur erschütternd klar machen, dass der Mensch in seiner vermeintlichen Fülle, Gesundheit und Gerechtigkeit an der Wahrheit nur sterben kann.«603
Nietzsche als Mensch wird hier von Barth als das abschreckende Exempel einer menschlichen Hybris in Bezug auf die Erkenntnis seiner Selbst und der ihn umgebenden Wirklichkeit stilisiert. Nietzsche wird damit zum Spiegel für jeden einzelnen Menschen, der diese Hybris in sich trage und an Nietzsche beobachten könne, zu welchem Ende es komme, wenn sich der Hybris ergeben werde und nicht auf die göttliche Gnade und Wahrheit gehofft und vertraut werde. »Wir sehen sie [sc. die Krankheit], dass es uns misslingen und immer wieder misslingen möchte, von Gottes Freiheit, Macht und Gnade so zu reden, dass nicht ein Ausbruch menschlicher Willkür, sondern Erkenntnis des Willens Gottes daraus erwächst.«604
601 602 603 604
Barth, RÖ II, 477. Barth, RÖ II, 482. Barth, RÖ II, 482f. Barth, RÖ II, 483.
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III.4.2.9 Röm 11 »Die Hoffnung der Kirche« Röm 11 25–36 »Das Ziel« Im Zusammenhang der endzeitlichen Errettung Israels und dessen Verhältnis zur christlichen Kirche kommt Barth zur Feststellung, dass allein in Gottes Erbarmen das Heil für die gesamte Menschheit liege, das er im Glauben an ihn dem Menschen zuteilwerden lasse und so den Menschen neu konstituiere: »Dieser kommende neue Mensch, durch Gottes Offenbarung gerettet, gerechtfertigt, lebendig gemacht, ist mit den Erwählten aus Israel die in Christus erwählte Heidenschaft.«605
Gleichzeitig unternimmt es Barth in diesen paulinischen Aussagen von Israel und Heidenchristen, von altem und neuem Bund, einen tieferen Sinn und die metaphorische Redeweise von altem und neuem Menschen zu entdecken, die er in die paulinischen Gedanken über Israel und der Christusoffenbarung einzuflechten versucht. Barth schreibt weiter : »Die Errettung der Verlorenen, die Rechtfertigung der nicht zu Rechtfertigenden, die Auferstehung der Toten muss genau von dorther kommen, woher ihre Katastrophe gekommen ist. Die Kirche ist die Verkörperung des Menschen, der die Offenbarung Gottes empfängt.«606
Diese grundsätzliche ekklesiologische Einsicht, aus der die Aufgabe der Kirche erwachse, versucht Barth im Folgenden genauer in Bezug auf den einzelnen Menschen zu beleuchten. Barth verwendet zur Veranschaulichung seines Gedankens ein, als ein solches gekennzeichnetes Bildwort aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, genauer aus dem »Grablied«: »Und nur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen. –«607 und Barth ergänzt »aber wo immer Gräber sind, da sind Auferstehungen.«608
Erst wenn der Mensch seine eigene Endlichkeit als Begrenztheit an Kraft und Weisheit eingestehe, erst dann wird er im »im Futurum resurrectionis, in der Anschauung der unanschaulichen Existentialität Gottes […] gerettet werden«609. Nietzsches Grablied wird so für Barth zu einer Art Prophezeiung und Richtschnur für das kommende Heil und den Sinn der Kirche. Tod und Auferstehung gehören zusammen. Nur dort, wo es zu einem Ende kommt, kann es ebenso zu einem Neuanfang kommen. 605 606 607 608 609
Barth, RÖ II, 559. Barth, RÖ II, 559. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 145. Barth, RÖ II, 560. Barth, RÖ II, 560.
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»Rettung, Rechtfertigung und Auferstehung ist nur davon zu erwarten, dass durch die Offenbarung Gottes an den Menschen der neue Mensch geschaffen wird […].«610
III.4.2.10 Röm 12–15 »Die große Störung« Röm 12 21–13 7 »Die große negative Möglichkeit« Beim berühmten paulinischen Diktum »Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege im Guten das Böse«611 kommt Barth auf den Sinn und den Wert bestehender Ordnungen zu sprechen. Laut Barth stelle »jede bestehende Ordnung« den Menschen »vor die Frage nach dem Sieg des Rechts über das Unrecht«.612 Dabei beschreibt Barth die bestehenden Ordnungen als diejenigen, die von der Mehrheit als solche akzeptiert sind und eine »Sicherung des normalen Weltlaufs gegen die Beunruhigung«613 darstellen. Für den gottsuchenden Menschen könnten diese bestehende menschliche Ordnung lediglich den »Eindruck […] des verkörperten triumphierenden Unrechts«614 darstellen. Denn für diesen glaubenden »Einen« werde die Ordnung zur »Verschwörung der Viel zu Vielen«615, aus der er sich nicht befreien könne. Das Bild von der Verschwörung der »Viel zu Vielen« gegen den stilisierten einzelnen Menschen auf Wahrheitssuche, entlehnt Barth dabei höchstwahrscheinlich von Nietzsche, jedoch kennzeichnet Barth diese Worte mit keinerlei Verweis. Bei Nietzsche kommt dieser Gedanke in »Also sprach Zarathustra« zur Sprache. »Viel zu viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden!«616 und: »das, was die Viel-zu-Vielen Ehe nennen, diese Überflüssigen.«617
Barth schließt sich sozusagen dem Grundduktus der nietzscheanischen Worte an und übertragt sie in den Zusammenhang seiner Auslegung. Diese bestehenden Ordnungen sind für Barth auf einer Metaebene derart zusammengefasst:
610 Barth, RÖ II, 559. Hier ist der Hinweis auf Barths Lebensbegriff und der mit ihm verbundenen Todesweisheit entscheidend. Barth interpretiert den Tod als die Grenze der menschlichen Humanität und Selbsterkenntnis, denn erst durch die Erfahrung des leiblichen Todes kann sich der Mensch mithilfe der Offenbarung Gottes in Gänze erkennen. An dieser Stelle, in der Erfahrung von Leben und Tod, wird der Unterscheid zwischen Schöpfer und Geschöpf für Barth am deutlichsten. 611 Barth, RÖ II, 640, Rö 12,21. 612 Barth, RÖ II, 640. 613 Barth, RÖ II, 640. 614 Barth, RÖ II, 640. 615 Barth, RÖ II, 640. 616 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 62. 617 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 91.
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»[D]ass er, der Tor, sich wieder einmal eine Viertelstunde Aufschub in der Vollstreckung seines Todesurteils erbettelt hat«, sprich der Mensch die Augen vor sich selbst verschließe und sich über sein eigenes Sein in »heuchlerlicherweise« täusche.618
In diesem Zusammenhang kommt Barth auf Nietzsche in zweifacher Weise zu sprechen. Zum einen verortet er Nietzsche in einen illustren Kreis besonders kritischer Denker in Bezug auf die Weltwirklichkeit, welcher »von der Offenbarung Johannes bis zu Nietzsche, von den Täufern bis zu den Anarchisten«619 reiche. Diesen Kreis verbinde ihr Vorhaben, die bestehenden menschlichen Ordnungen in ihrer »Qualität«620 anzugreifen und durch ihre eigenen menschlichen Ordnungen ersetzen zu wollen und dabei Heil und Erlösung für die Menschheit zu verkünden. Und zum anderen erkennt Barth in Nietzsche einen solchen Tor, der sich vermeintlich aus eigener Kraft diesen bestehenden Ordnungen mit neue Normen entgegenstellen wollte und dabei nicht eingestehen konnte, dass er diese bestehenden Ordnungen nicht habe einreißen können, sondern in seinem blinden Wüten sogar ihr Bestehen noch befördert habe.
III.4.3 Zusammenfassung und Beurteilung – Nietzsche im Römerbriefkommentar 1922 (Zweite Fassung) Auffallend ist in der Übersicht der zitierten Werke im RÖ II, dass Barth Nietzsche wiederum wie in RÖ I nur aus einer sehr begrenzten Werkauswahl zitiert. Er zitiert und bezieht sich auf die Werke »Unzeitgemässe Betrachtungen II.«, »Unzeitgemässe Betrachtungen III.« und »Also sprach Zarathustra«. Damit zeigt sich, dass sich die Werkauswahl Nietzsches gegenüber RÖ I nochmals reduziert hat, nämlich um »Die Genealogie der Moral«. Anders als noch in der Rezeption im RÖ I lassen sich im RÖ II deutliche Themenkreise herausstellen, bei denen Nietzsche gehäuft Verwendung findet. Zur besseren Strukturierung sollen im Folgenden zunächst zwei inhaltliche Themen und ein sich damit verbindender sprachästhetischer Bezugsrahmen in der Rezeption Nietzsches im RÖ II voneinander unterschieden werden. (I.) Die Rezeption Nietzsches als Person und seines Werkes in Verbindung mit anthropologischen Fragen (II.) Die Rezeption der Philosophie Nietzsches im Bereich der Historismuskritik und (III.) Die Rezeption Nietzsches als wirkmächtiger Sprachgestus zur Untermalung barth’scher Einsichten. 618 Barth, RÖ II, 641. 619 Barth, RÖ II, 641. 620 Barth bemängelt an all diesen Vorhaben, dass sie die bestehende Ordnung lediglich qualitativ zu verändern und nicht in ihrer Existenz zu beseitigen gesucht hätten. Ob dies nach Nietzsches Verständnis ebenfalls auf sein eigenes Vorhaben zugetroffen haben könnte, sei an dieser Stelle zumindest in Frage gestellt.
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Barths Römerbriefkommentar in I. (1919) und II. Auflage (1922)
Beginnend mit dem Blick auf den dritten Bereich der Rezeption zeigt sich ein ähnliches sprachliches Interesse an Nietzsche, wie es auch schon im RÖ I vorgefunden werden konnte. Diese Bezugnahmen auf den besonderen Sprachgestus Nietzsches weisen hierbei keine spezifisch inhaltlichen Systematiken auf, sondern viel eher wird Barths grundsätzlicher Versuch, Einsichten des Bibeltextes mit den Gedanken und dem besonderen Sprachduktus außerbiblischen Autoren zu untermauern, deutlich. Dass Nietzsche hier von Barth überhaupt erwähnt wird, zeigt, dass Nietzsches spezielle radikale und revolutionäre sprachliche Aura auch Barth bleibend angesprochen haben muss. Der erste Bereich einer spezifisch inhaltlichen Rezeption Nietzsches zeigt sich bei Barth darin, Nietzsches Person und Philosophie im Sinne pointierter anthropologischer Charakterisierungen zu nutzen. Diese inhaltliche Bezugnahme überwiegt dabei im Vergleich zur zweiten quantitativ merklich. Es geht Barth im Umfeld dieser Bezugnahmen auf Nietzsche um die folgenden anthropologischen Fragen: Was kann der Mensch und wie ist er beschaffen? Was sind die Grenzen seiner Schaffens- und Erkenntniskraft? Welchen Allmachtsphantasien erliegt der Mensch in Bezug auf sich selbst (Gerechtigkeit, Selbstrechtfertigung, Erschaffung eines neuen Seins)? Kann der Mensch sich selbst rechtfertigen bzw. erlösen? Nietzsche findet in diesem Themenkreis in einer zweifachen Weise Verwendung. Zum einen mit literarischen Bezugnahmen auf seine philosophischen Werke und zum anderen als reale Person, die an verschiedenen Stellen von Barth als die Personifikation absurder menschlicher Allmachtsphantasien gezeichnet wird. Gleichzeitig erfährt die Person Nietzsches dort eine Wertschätzung durch Barth, wo auf Nietzsches besonderes religiöses Gespür und Ahnung rekurriert wird. Im Vergleich dazu ist der zweite inhaltliche Themenkomplex auf den ersten Blick quantitativ deutlich weniger oft im RÖ II zu finden und ist doch gleichzeitig von besonderem qualitativen Gewicht. Diese Rezeptionslinie bezieht sich auf Barths Sicht zu Fragen rund um den Historismus: Welchen Stellenwert darf das Historische für die eigene Gegenwart einnehmen? Welche Rolle nimmt das geschichtlich Gewordene für das aktuelle menschliche Sein ein und wie kann ein »Überhistorisches/Unhistorisches« in seiner existentiellen Dimension für das menschliche Leben und dessen Verständnis beschrieben und gefasst werden? Wo im ersten Themenkomplex zu den anthropologischen Grundaxiomen Nietzsche fast ausschließlich als Negativfolie fungiert, auch wenn dies in den Zitaten nicht immer explizit wird, ist Nietzsche bei der grundsätzlichen Kritik am Historismus ein willkommener Verbündeter, auf den Barth teilweise sogar in größeren wörtlichen Textpassagen und Zusammenhängen zurückgreift. Nietzsches Gedanken, v. a. aus seiner »Unzeitgemässen Betrachtung II«. bilden für Barth ein geeignetes Interpretament zur Gängelung historisierender All-
Der Römerbriefkommentar (Zweite Fassung) 1922
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machtsphantasien im Blick auf den Menschen und der Begründung und Gestaltung seines Seins. Gerade auf dem Hintergrund der signifikanten Veränderung der Eschatologiemodelle und des damit jeweils verknüpften Offenbarungsverständnisses in der Geschichte, verstanden als linearer Prozess oder des Hereinbrechens des Überzeitlichen ins Zeitliche zwischen erster und zweiter Fassung des Römerbriefkommentars, muss Barths Bezugnahme auf Nietzsche eine besondere Beachtung finden. Wie beschrieben, interpretiert Barth Overbecks Begriff der »Urgeschichte« neu und gelangt über diesen Begriff zu seiner Überlegung, wonach sich die Offenbarung Gottes zwar in der Geschichte ereigne, sich jedoch gerade nicht mit dem Blick auf die Genese der Geschichte legitimieren und erklären lasse. Barth führt diesen Gedanken anhand der biblischen Figur des Abrahams aus, der von Paulus als glaubender Urahne aller nach ihm kommenden Generationen stilisiert wird. In der Figur des Abrahams entdeckt Barth wiederum jenen Gedanken der »Urgeschichte« und seines Offenbarungsverständnisses, wonach Gott, und damit der Glaube an ihn, sich zwar in der Geschichte manifestieren, jedoch gerade nicht aus ihr entstammen. Abraham ist daher das Sinnbild für den in der Geschichte existierenden und glaubenden Menschen an sich, und nicht in erster Linie als historische Figur zu erkennen, aufgrund derer, der Glauben von nachfolgender Generationen zu begründen ist. Barths Bezugnahmen auf Nietzsche in dieser Interpretationsweise der »Urgeschichte«, als eine überzeitliche und gerade darin das zeitliche als eine fremde und sich höchst ambivalente bestimmende Dimension des Menschen ausweisende, lässt den Verdacht aufkommen, wonach Barth durch die Lektüre Nietzsches Overbeck interpretiert haben könnte und mithilfe Nietzsches scharfer Historismuskritik zu seinem Bild der Offenbarung Gottes und seines Verhältnisses zur Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz gestoßen sein könnte. In diesem Zusammenhang ist auf die Studie Kleffmans621 hinzuweisen, der die Historismuskritik Barths in den Sinnzusammenhang seines Lebensbegriffes stellt, den er in gewissen strukturellen Analogien mit Nietzsche teile. Im Übergang zwischen der Todeslinie zur Lebenslinie finde sich die Frage nach dem Umgang mit der geschichtlichen Historie, in deren Beschäftigung nicht die Lösung zur Überwindung der existentiellen Krisis liegen könne, da sie selbst als Teil der menschlichen Geschichte in den Verstrickungen der menschlichen Fallibilität gefangen sei. Auch Nietzsche entdeckt in einem historisierenden Wirklichkeitsverständnis keinen Ausweg aus falschen Wert- und Moralvorstellung des menschlichen Lebens. Wo Nietzsche jedoch nur auf das eigene Jetzt und die eigene Schöpferkraft des Willens setzt, argumentiert Barth mit der Vokabel der un-zeitlichen Urgeschichte, die die Dimension der Offenbarung und damit 621 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 528–535.
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das absolut Nicht-eigene und Nicht- Weltliche in die menschliche Erkenntnis des Lebens einfließen lässt. Gleichzeitig sollten diese Beobachtungen zur barth’schen Nietzsche Rezeption bezüglich einer Kritik und möglichen Überwindung des Historismus mit den Ergebnissen zum Marburger Neukantianismus, speziell in der Ausformung bei seinem Bruder Heinrich Barths und des »Ursprungsgedanken« in Verbindung gebracht werden. Festgestellt wurde, dass Barth im Besonderen auf die »kritische Negation« des »Gegebenen« und den »erkenntnistheoretischen AntiSubjektivismus« abzielt und im RÖ II diese beiden Aspekte theologisch ausarbeitete. Die hier nun festgestellten Rezeptionscluster lassen sich in dieses grundsätzlich kritische erkenntnistheoretische Schema einordnen und können vielleicht eine mögliche Interpretation und Bewertung der Nietzsche-Rezeption liefern. Nietzsche könnte Barth dabei daher also eine Übersetzungshilfe gedient haben, mit deren Unterstützung er seine offenbarungstheologische Grundeinsicht mit den philosophischen Überlegungen zum Ursprungsgedanken verknüpft haben könnte. Barth entdeckt in der paulinischen Sicht auf Gott und die Wirklichkeit jene dem Christentum inhärente kritische Negation des weltlich Gegebenen und den absoluten erkenntnistheoretischen Anti-Subjektivismus, dem er mit seiner Offenbarungstheologie zu begegnen suchte. Nietzsche wiederum ist ihm in diesen Themen ein philosophischer Gewährsmann, der einerseits die Kritik am scheinbar Gegebenen teilt und andererseits in seiner Person die Abgründe eines solchen erkenntnistheoretischen Subjektivismus vor Augen führen kann, der die transzendente Dimension der Offenbarung für sich ausschließen möchte. Der eingangs festgestellte Befund einer Selektivität kann also nicht automatisch mit einer mangelnden Genauigkeit bzw. mit einer oberflächlichen Lektüre verwechselt werden. Denn deutlich wird, dass hinter Barths Nietzsche-Rezeption im RÖ II wohl eine beginnende umfassendere Interpretationsthese Nietzsches zu stehen scheint, die sich gerade in der pointierten Selektivität der Bezugnahmen zeigt und sich in der Rezeption in der KD fortsetzen und festigen wird. RÖ I und II sind dabei als das Manifest eines neuerlichen theologischen Aufbruchs zu beurteilen, was sich nicht zuletzt in seiner Form und in seinem Stil zeigt. Daher stehen wohl auch die verschiedenen literarischen und inhaltlichen Rezeptionen Barths in den Römerbriefkommentaren unter dieser speziellen Voraussetzung und Zielsetzung. Dieses Werk ist eine Streitschrift Barths, die in hohem Maße von zeitgenössischen Einflüssen provoziert und durchzogen ist und wohl gerade nur in dieser zeithistorischen Verortung angemessen interpretiert werden kann. Die KD ist demgegenüber in ihrer Entstehung und ihrer Intention anders zu betrachten. Und gleichzeitig sollte diese Beobachtung nicht zum Missverständnis führen, von einer sich grundsätzlich verändernden Nietzsche-Interpretation und einer sich daraus speisenden Rezeption bei Barth
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auszugehen. Zwar haben der Anlass der Schriften und die jeweilige, bis dato stattgefundene Nietzsche-Lektüre unbestreitbare Auswirkungen auf die Art der schriftlichen Rezeption, jedoch nicht zwangsläufig auf die im Hintergrund stehende inhaltliche und grundsätzliche Interpretationsthese, die sich nach und nach zu festigen und zu kristallisieren scheint, was es im Folgenden zu zeigen gilt.
III.5 Vergleich mit anderen Einflüssen Die große und dieses Kapitel beschäftigende Frage lässt sich wohl folgendermaßen zusammenfassen: Wer ist Friedrich Nietzsche für den Theologen und Pfarrer Karl Barth während seiner dialektischen Phase? Um zur Charakterisierung der Philosophie Nietzsches aus der Sicht Barths vorzudringen, muss geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Verständnis Barth Nietzsche liest. Ist Nietzsche der Christentumskritiker schlechthin und damit als ein philosophisch-theologischer Gegner auf einer Stufe mit Kant, Hegel oder auch Schleiermacher zu bewerten? Oder doch eher nur ein interessanter und gesellschaftlich wirkmächtiger literarischer Denker wie Dostojewski oder Goethe, den es lohnt an der einen oder anderen Stelle zu zitieren? Oder ist Nietzsche vielmehr der angedeutete philosophische Ideenraum für die Ausarbeitung seiner, die absolute Souveränität Gottes jenseits menschlicher Erkenntnis und Anstrengung betonenden dialektischen Theologie?
III.5.1 Dostojewski und Goethe Zu Barths Goethe622 und Dostojewski Rezeption liegen seit wenigen Jahren Studien vor, die an dieser Stelle von Interesse sind, da sie wie im Falle Nietzsches eine nichttheologische Person und deren Werk in ihrer barth’schen Rezeption untersuchen. Von diesen Untersuchungen ausgehend, kann sich daher aufzeigen lassen,623 ob sich die Nietzsche-Rezeption grundsätzlich von anderen literari622 Thomas Xutong Qu, Barth und Goethe. Die Goethe-Rezeption Karl Barths 1906–1921. Mit einem Vorwort von Michael Welker, Heidelberg 2013. 623 Ähnlich häufig werden in den Römerbriefauflagen die außerbiblischen und nichttheologischen Autoren Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und etwa Carl Spittler erwähnt. Die Verweise auf die beiden deutschen Lyriker Schiller und Goethe werden von Barth oftmals bereits im Druckbild deutlich hervorgehoben und des Öfteren größere Abschnitte aus deren Werken zitiert. Deutlich wird an den Bezugnahmen auf diese Schriftsteller nochmals die grundsätzliche Verwendung Barths von außerbiblischen Quellen. Es geht um die Unterstreichung des in der Bibel entdeckten Wahrheitsgehaltes.
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schen Rezeptionen im RÖ I und II unterscheidet oder nach ähnlichen Mustern verläuft. Ein erstes Augenmerk soll dabei auf Barths Dostojewski Rezeption liegen, die nun erstmals in der Studie von Hong Liang »Leben vor den letzten Dingen. Die Dostojewski-Rezeption im frühen Werk von Karl Barth und Eduard Thurneysen (1915–1923)«624 dargestellt wurde. Grundsätzlich kann sich gefragt werden, warum Barth gerade diesen russischen Poeten in der Zeit seiner Römerbriefarbeiten so aufmerksam wahrgenommen zu haben scheint. Dazu einleitend einige Hinweise. Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) muss als Persönlichkeit mit hoher zeitgenössischer Popularität und einer, sich daraus ergebenden breiten Rezeption und Bekanntheit seiner Romane gezeichnet werden. Daneben, wohl noch entscheidender, war Dostojewski in seiner eigenen Person und seinem Werk ein Literat, der sich der Beschreibung des menschlichen Seins in seinen Hoffnungen und schonungslosen Abgründen625 verschrieben hatte und somit in Themenkreise vorzudringen vermochte, die Barth in der Zeit auf dem Weg zur dialektischen Theologie selbst sehr umtrieben. Und nicht zuletzt darf wohl die Rolle und der Austausch mit Thurneysens nicht unterschätzt werden, der Barth, wie es der Briefwechsel an verschiedenen Stellen nahelegt, in der Dostojewskilektüre angeleitet hatte.626 Liang unterteilt die Bezugnahmen Barths auf Dostojewski in vier Kategorien.627 In solche, bei denen Barth den Namen des Schriftstellers explizit nennt, 624 Hong Liang, Leben vor den letzten Dingen. Die Dostojewski-Rezeption im frühen Werk von Karl Barth und Eduard Thurneysen (1915–1923), Neukirchen-Vluyn 2016. 625 An dieser Stelle sollen einige wenige Beispiele genügen. In seinem Roman »Schuld und Sühne« (1866) geht es um den mittelosen ehemalige Jura-Student Rodion Romanowitsch Raskolnikow, der eine alte Pfandleiherin wegen Geldes tötet und im Verlauf von verschiedenen Verhören und selbstkritischen Gedanken zur Reflexion über sein Sein und sein Tun veranlasst wird. Oder auch das Familiendrama, welches Dostojewski in seinem Hauptwerk die »Brüder Kamarasow« (1878–1880) zwischen Mord, Verrat und Liebe zeichnet. Eine ironisch-sarkastische Bemerkung Barths, die dieses Bild auf Dostojewski bestätigt, findet sich in einem Brief an Thurneysen vom 14. Oktober 1920: »Er [sc. Wolf Mayer, ein Gast] sah mich an etwa wie eine Gestalt aus Dostojewski: menschlich, von Natur sündig, von allerlei Begierden umgetrieben, letzten Abgründen und letzten Steilflügen der Leidenschaft oder auch des Gebets nicht fremd, aber das alles als Kosmos, als s\qn klar umrissen, in sich gerundet, ohne die pseudo-eschatologischen Ansprüche der Patmos-Brüder, ohne die idealistisch-christlichen Illusionen der Neu-Werkleute, vielleicht zu seinem Glück auch ohne unsere fast allzu große theologische Weisheit und ihre besondere Hybris-Gefahr […].« Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 432. 626 So schreibt Barth am 22. Februar 1922: »Unbedingt mußt du hinkommen, Dostojewski hin und her. Ich nehme die Karamasoff mit auf die Reise und lasse mir dann gerne von dir [sc. Thurneysen] Aufklärung geben.« Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 472. 627 Grundsätzlich gilt es in der Beobachtung der Dostojewski-Bezugnahmen den größeren Bezugsrahmen zu betrachten, innerhalb dessen sich die barth’sche Dostojewski Lektüre zu
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daneben solche, bei denen sich Barth auf Romangestalten Dostojewski bezieht. Drittens direkte Zitate aus den Romanen und viertens »implizite Anspielung[en] Barths auf Dostojewski Roman Schuld und Sühne«.628 Der Autor der Studie weist mit Recht darauf hin, dass die Bezugnahmen auf außerbiblische Autoren für Barth eine deutlich untergeordnete Rolle im Vergleich zur Aussage des biblischen Textes spielen. Sie untermauern lediglich den Sinn und die Interpretation der biblischen Überlieferung mit ihren Texten und Gedanken. Auf die Rezeption Dostojewskis in Bezug auf anthropologische Grundfragen soll sich im Folgenden konzentriert werden. Liang hält fest, dass Barth in Dostojewski einen »Zeugen Gottes« entdeckte, dem ein besonderer »Offenbarungseindruck« zu eigen war und daher die »religiösen Romangestalten Dostojewskis« für Barth zu einer Blaupause einer »kritische[n] Korrektur der institutionell-kirchlichen Verkündigung« wurden.629 Dabei attestiere Barth Dostojewski eine sehr sensible und genaue Wahrnehmung der eigenen Gegenwart und des menschlichen Seins, wie es Liang mit verschiedenen Verweisen und Zitaten aus dem RÖ II darlegen kann. »Dostojewski zeigt einerseits die Sehnsucht nach Gnade630 und Ewigkeit631, andererseits die hysterische Zerrissenheit632, die seine Persönlichkeit und Romane prägt.«633
Barth betrachte die Figuren Dostojewskis interessanterweise »als dem Schriftsteller beinahe gleichwertig«634. Sie werden für Barth zu eigenständigen zeitlosen Personen mit je eigenen Charakterzügen mithilfe derer, er bestimmte Gedanken zum menschlichen Sein zwischen Verantwortungslosigkeit, Freiheit und der Endlichkeit des menschlichen Lebens zu verknüpfen vermochte. Auch zeigt Liang für den Fall Dostojewskis auf, dass die Bezugnahmen einen spontanen Charakter und die persönlichen Vorlieben Barths unter Beweis stellen. Die Rezeption folgt also nicht einer strengen systematischen Order in Bezug auf das Werk Dostojewski und dessen Thematiken, sondern eher Barths individueller Lektüre. Liang attestiert dem Dostojewski-Bild Barths daher einen gewissen
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bewegen scheint. Barth ist an der russischen Geschichte und Politik sehr interessiert und so lässt sich in Bezug auf die Dostojewski-Lektüre ein größeres Netz spannen, innerhalb dessen Dostojewski für Barth von Interesse wird. So hält Barth beispielsweise verschiedene Vorträge rund um diese Themen. Vgl. einen Brief Barths vom 13. April 1919: »Dazu eine Serie von Bolschewiki-Abenden im Arbeiterverein mit Betrachtungen über die Lenin’schen Vorder- und Hintergründe (der Dostojewskische russische Christus, das Elias-CalvinCromwell-Problem des Reiches Gottes!)« Barth – Thurneysen, Briefwechsel 324. Vgl. Liang, Leben vor den letzten Dingen, 128. Vgl. Liang, Leben vor den letzten Dingen, 173. Barth, RÖ II, 577. Barth, RÖ II, 346. Barth, RÖ II, 379. Liang, Leben vor den letzten Dingen, 173. Liang, Leben vor den letzten Dingen, 174.
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systematischen Mangel, wie er sich unweigerlich aus einer unspezifische und selektive Lektüre ergebe.635 Besonderes Augenmerk lenkt Liang auf die Figur des Großinquisitors aus dem Roman »Die Brüder Kamarasoff«, bei der er Barth, gerade im Hinblick auf seine sonst unsystematische Lektüre, ein ausgereiftes Verständnis attestiert.636 Diese Figur bezeichnet er für Barth »als [die] ideale Verkörperung des Verrats des Menschen an der Freiheit Gottes, die die Quelle der Lebendigkeit des Lebens«637. »Damit rückt er die Gestalt des Großinquisitors ins Zentrum seiner Religionskritik, Ekklesiologie und Sozialethik, die sich ausnahmslos an Gottes Freiheit orientieren. Als eine zentrale Denkfigur dient der Großinquisitor Barth hier dazu, die Unvermeidlichkeit des Verrats an der Freiheit Gottes in Religion, Kirche und Gesellschaft zu illustrieren«638.
Liang kommt am Ende seiner Studie zum Fazit, dass Dostojewski für Barth eine zentrale Rolle bei dessen Gedankengang zur »Entdeckung des eschatologischen Sinnes vom menschlichen Leben«639 gespielt habe. Für Barth wird Dostojewski zum »Wortführer der lebenstheologischen Implikationen [seiner] eschatologischen Umorientierung«640. Interessanterweise verweist Liang, ähnlich wie es bei Nietzsche im II. Kapitel dargestellt wurde, auf eine sehr disparate zeitgenössische Dostojewskiinterpretation, die in diesem Schriftsteller je nach persönlichem Standpunkt eigene Phantasien und Vorstellungen verwirklicht sah: »Denn sowohl van den Brucks Ostideologie, welche Dostojewski im Zusammenhang des politischen Gewichts Russlands für Deutschlands Machtexpansion betrachtet, als auch jene Wiederherstellung des Panslawismus Dostojewskis bei [sc. Dimitri Sergejewitsch] Mereschkowski sind für die beiden Theologen [sc. Barth und Thurneysen] nichts anderes als Machtehrgeiz des Menschen, der unter Gottes Gericht steht.«641
Erst im eschatologischen Lichte zwischen Gericht und Gnade werde das Ganze des menschlichen Lebens sichtbar und charakterisiert. Dostojewski verhilft 635 Liang erklärt dies durch den sehr regelmäßigen und vertrauten Briefwechsel Barths mit Thurneysen, der ihm daher Vorschläge zur weiteren Lektüre unterbreitet hätte. Vgl. Liang, Leben vor den letzten Dingen, 173. 636 Liang verweist auf Barths ansonsten stark durch Thurneysen gelenkte Interpretation Dostojewskis, die er jedoch bei der Gestalt des Großinquisitors und deren Interpretation nicht feststellen kann. Vgl. Liang, Leben vor den letzten Dingen, 173. 637 Liang, Leben vor den letzten Dingen, 174. 638 Liang, Leben vor den letzten Dingen, 174f. Die barth’sche Einschätzung der Figur und Charakterisierung des Großinquisitors liest sich dabei fast so, als dass sie ebenso auch auf Nietzsche als Person zutreffen könnte. 639 Liang, Leben vor den letzten Dingen, 254. 640 Liang, Leben vor den letzten Dingen, 260. 641 Liang, Leben vor den letzten Dingen, 206f.
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dabei Barth dazu, seinen Begriff der überzeitlich richtenden und befreienden Eschatologie in eine Lebenstheologie zu überführen, die den Menschen angesichts seines Lebens mit Hoffnungen und Sorgen zum gelingenden Leben anleite. Liang hält fest: »In Barths und Thurneysens Interpretation Dostojewskis lässt sich die breite kulturelle Anschlussfähigkeit ihrer Lebenstheologie deutlich erkennen. Mithilfe Dostojewskis, der um den ersten Weltkrieg herum zunehmende anti-bürgergesellschaftlich rezipiert wird, zeigt ihre Lebenstheologie deren unverkennbaren kulturkritischen Charakter. […] Dieses Leben vor den letzten Dingen bezeichnet nicht nur ein waches Leben, das die Fragwürdigkeit und Endlichkeit des diesseitigen Lebens realistisch in den Blick nimmt, sondern auch ein gehorsames Leben, das den unbekannten und jenseitigen Gott als Schöpfer und Erlöser des Lebens verehrt.«642
Im Folgenden nun ein kurzer Überblick zu Barths Goethe-Rezeption. Qu unterscheidet in der barth’schen Goethe-Rezeption vier Phasen, die sich jeweils im Gegenüber zu seiner theologischen Arbeit, als eine Bewegung der Hin- und Abwendung zum Werk Goethes zeichnen lassen. Die erste Phase bildet dabei Barths starke Bezugnahme auf Goethe »bis 1918, wobei Röm I den abschließenden Höhepunkt darstellt«643. Die Goethe-Rezeption dieser Phase ist wohl ein Relikt der barth’schen liberalen Phase, wobei ihm speziell Harnack einen Zugang zu Goethes Werk vermittelt zu haben scheint. Die zweite Phase, in der sich barth’sche theologische Neuformierung der RÖ-Auflagen abspielt, zeichnet sich demgegenüber in einer abnehmenden Goethe Lektüre ab, die »Goethe nicht wie vorher als eine normative Größe, wenn es die Offenbarung Gottes angeht«644, erwähnt. Die dritte Phase beginnt mit den 1930iger Jahren und bezeugt eine neuerliche Beschäftigung mit Goethe als dem Exempel eines spezifischen humanistischen Heidentums. Die letzte Phase führt den späten Barth nochmals zurück zu Goethe und »veranlasst ihn […] zu nuancierten Äußerungen zu Goethe im Zusammenhang mit Mozart und dem deutschen Schriftsteller Carl Zuckmayer«645. An dieser Stelle interessiert im speziellen der Übergang von der ersten Phase zur zweiten und die sich darin einzeichnende Goethe-Rezeption in den beiden Römerbriefauflagen. Hierzu soll ein Blick auf die Goethe-Rezeption in Barths wichtigem und paradigmatischen Aufsatz »Der christliche Glaube und die Geschichte« aus dem Jahr 1910 geworfen werden.646 Aus persönlichen Briefen Barths an seinen Vater kann Qu nachweisen, dass Barth sich in diesem Aufsatz 642 643 644 645 646
Liang, Leben vor den letzten Dingen, 264f. Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 17. Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 18. Vgl. Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 18. Zur genaueren Darstellung des Vortrages vgl. III.5.2.4.
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»absichtlich und ausdrücklich auf Goethe beruft, um sich mit einer solchen provokativen Geste von den frommen Christen auf der Tagung und in seinem Publikum inhaltlich-theologisch distanzieren«647 zu können. Goethe erhält sozusagen zuerst eine dezidiert provozierende Funktion und von dort aus eine inhaltlich-konstruktive. Im RÖ I ist Goethe eine der drei häufigsten außertheologischen Bezugnahmen Barths.648 Für den RÖ I findet Barth in Goethe, wie es Qu darstellt, einen »außerbiblische[n] Wegbegleiter auf seinem theologischen Weg« um u. a. eigene »theologischen Gedanken zu verdeutlichen«649. Daneben gehe es Barth darum, die Kategorie einer biblischen Hermeneutik mit derjenigen einer weltlichen zu harmonisieren und »im Rahmen von solch einem hermeneutischen Programm erlaubt sich Barth, Goethes Aussage als »prophetische Formulierung« für die im ewigen Geist begründete Wahrheit zu zitieren»650. Wo die Bezugnahmen im RÖ II auf Goethe erheblich abnehmen, steigen sie für Nietzsche dagegen merklich an und ersetzen in gewisser Weise evtl. Goethe in seiner Funktion für Barths Argumentation. Denn Barth kritisiert stets »Goethe und dessen Humanismus«651 scharf und lässt ihn »als ein negatives Beispiel für das vergebliche Bemühen des Menschen«652 fungieren, sich mithilfe eigener Ideen und Kulturleistungen der allgemeinen Krisis zu entziehen. Goethe wird für Barth so zum lyrischen Übersetzer der »derzeit herrschenden »Fakultätstheologie«»653 und damit zum ästhetisch herausstechenden Symptom des grundsätzlicheren Problemkreises in der Verhältnissetzung von Gott und Mensch.
III.5.2 Die Vitalität des Ursprungs – Religion als Lebensgefühl – »Christlicher Glaube und Geschichte«
Überblickt man die theologischen Publikationen der Jahre 1900–1920 fallen im Speziellen zum einen die vielen einschlägigen historischen Arbeiten zu den Themen rund um das sogenannte Urchristentum und zum Werk und der Person Paulus ins Auge. Daneben rücken vermehrt Studien in den Fokus, die sich ausgehend von einer Gegenwartskritik einer neuerlichen Ausrichtung des Religiösen verschrieben haben. Es zeigt sich in all diesen Arbeiten, und den damit 647 Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 75. 648 Vgl. Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 152. Die anderen sind Friedrich Schiller und Carl Spittler. 649 Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 178. 650 Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 179. 651 Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 211. 652 Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 212. 653 Qu, Goethe-Rezeption Karl Barths, 212f.
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im Hintergrund verbundenen Gedanken, ein verstärktes Interesse an den Ursprüngen des Christentums, eine Art Rückbesinnung zum wahren Kern, von dem aus wiederum eine moderne und gegenwartsrelevante religiöse Praxis und Reflexion gezeichnet werden kann, die durch eine markante Diskontinuität und den damit einhergehenden Traditionsbrüchen sich den Herausforderungen der anbrechenden Moderne gewachsen zeige.654 Dabei gilt es im Blick zu behalten, ob auch diese Versuche sich auf einen zeitgenössisch-populären Nietzsche berufen, wenn sie ein ähnliches Unterfangen wie Barth beginnen, für die gelebte Religion und ihre theologische Reflexion einen Neuaufbruch zu wagen.655 Als drei herausragende Beispiel lassen sich hierfür Albert Kalthoffs »Die Religion der Modernen« aus dem Jahr 1905, Paul Göhres Veröffentlichung »Der unbekannte Gott« aus dem Jahr 1919 und Arthur Bonus in seinen schriftlichen Zeugnissen der 1910 Jahre benennen. Die Gedanken Bonus, Göhres Werk und ebenso Kalthoffs Studie handeln vom modernen Menschen, den es in seiner Verbindung zur Religion zu beschreiben gelte. Es geht um die Vergewisserung des eigenen Seins, des Glaubens und der Frömmigkeit angesichts der Umbrüche in der individuellen Wirklichkeit, die es nicht länger mit dem bloßen Verweis auf eine haltgebende Tradition zu erreichen gelte. Für Barth soll im Vergleich zu diesen Ansätzen sein Vortrag »Christlicher Glaube und Geschichte«, den er am 5. Oktober 1910 auf einer Pastoralkonefernz hielt656, näher in den Blick genommen werden.
III.5.2.1 Albert Kalthoff »Die Religion der Modernen« Albert Kalthoff beginnt seine Studie mit dem Versuch, eine »Charakteristik der Moderne« zu entwerfen und schreibt: »Was an der Zeit der Gegenwart angehört, was ihr ihr eigentümliches Gepräge ausdrückt und sie von der Vergangenheit unterscheidet, das nennen wir das Moderne an ihr. Und wenn jede Zeit in gewissem Maße ihre Modernität der Gegenwart etwas ganz 654 Auch an dieser Stelle sei auf Kleffmanns Untersuchung verwiesen, der die »Generation der zwischen 1884–1889 Geborenen« wie Werner Elert, Emmanuel Hirsch, Paul Tillich und auch Albert Schweitzer v. a. durch die Erlebnisse des I. Weltkrieges gezeichnet sieht. Vgl. Kleffmann, Begriff des Lebens, 354–368. Im Falle der vorliegenden Studie sollen jedoch lediglich diejenigen theologischen Neubegründungen im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Römerbriefkommentierung Barths in den Blick genommen werden. 655 Hierzu schreibt Bertram im Jahr 1918: »Der Mythos, der diesen umtosten Namen trägt, ist noch immer in seinem Beginn. […] Aber der tiefe Eindruck des Erlebnisses Nietzsche auf eine ganze Generation ist von solcher vergleichenden Höhenwertung ja ganz unabhängig«. Bertram, Nietzsche, 7. Diese These würde der vorgestellten Vermutung Barths im Vorwort zur fünften Auflage des RÖ II entsprechen. 656 Karl Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte (1910), in ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914 (Gesamtausgabe, Abt. III), Zürich 1993, 149–212.
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Besonderes: ein Erfülltsein der Seele mit allen den Kräften, die dem Heute angehören, ohne Rücksicht auf das Gestern, das diese Kräfte aus seinem Schoße geboren.«657
In diesen allgemeinen charakteristischen Zug der Moderne, der sich in einer absoluten Gegenwartsbezogenheit manifestiere, fügt Kalthoff auch die Religiosität des modernen Menschen ein, die sich daher in der Konsequenz nicht länger Klassikern und ihren religiösen Ausdrucksformen zuwende, sondern als »Religion der Modernen« sich um »das innerste Herz der Zeit [und] ihr geheimstes Sehnen und innerstes Wesen [sammle]«658. Auch Nietzsche findet in der historischen Anbahnung dieser modernen Religion Erwähnung und wird von Kalthoff als »Pfadfinder des neuen Menschen«659 beschrieben. Das spezifische Interesse an der Geschichte und am Vergangenen scheint nach Kalthoff dem modernen Menschen abhandengekommen zu sein. Daher vermöge es die alte Religion auch kaum mehr emotionale Begeisterung im modernen Menschen zu entfachen: »Die Herzen der Modernen sind von diesem Staube [sc. »Bibel und Babel«] vollständig unberührt geblieben. So viel auch über das Wesen des Christentums, über seine Entstehung, seinen menschlichen oder übermenschlichen Ursprung geschrieben sein mag: die eigentlichen modernen Geister werden davon gar nicht berührt, sie verstehen gar nicht das leidenschaftliche Interesse, das diesen Schriften heute noch in weitesten Kreisen unseres Volkes entgegengebracht werden.«660
Kalthoff formuliert in seinen Worten den Umstand eines Desinteresses bezüglich religiöser Entwicklungen und ihrer Ursprünge, da dem modernen Menschen eine sich darin ermöglichende existentielle Ergriffenheit nicht länger einsichtig werde. Dies bedeute in Bezug auf das persönliche Leben und die den modernen Menschen angehenden anthropologischen Grundfragen, dass im »Staube« dieser Geschichte nicht länger nach Antworten gefahndet werden könne. Es brauche vielmehr eine Religion, die sich aus der Umklammerung alter Dogmen und Normen löse und »aus dem Quell des eigenen Lebens geschöpft und aus der Tiefe des eigenen Gemüts geboren«661 werde. Kalthoff setzt seine Studie mit Untersuchungen zu Lessing, Schiller und Goethe, Friedrich von Gallet, Paul Hense und Friedrich Hebbel fort, die je auf ihre Weise zu dieser Befreiung der Religion beigetragen hätten, bevor er auf »Das neue Weltbild« und »Der neue Mensch« zu sprechen kommt. Im Abschnitt über den neuen Menschen findet auch Nietzsche seinen Platz, den Kalthoff als einen der »weitschauenden Geister, die für den pochenden Herzschlag der Zeit ein 657 658 659 660 661
Albrecht Kalthoff, Die Religion der Modernen, Jena und Leipzig 1905, 2. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 3. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 3. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 6. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 7.
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tiefes Verständnis offenbaren« und die »Geburt eines neuen Menschenbildes« vorbereiten, charakterisiert.662 Kalthoff stilisiert den neuen Menschen im Sinne der Gedanken Nietzsches zum Übermenschen folgendermaßen: »Er ist der Zukunftsmensch, der all seine Vergangenheit und Gegenwart nur dem Werdenden verschreibt, der seiner Väter Land verläßt, um seiner Kinder Land zu suchen«.663
Diese sich durch seine Studie ziehende Stilistik des Neuaufbruchs führt Kalthoff im Kapitel »Christus bei den Modernen« fort und schreibt: »Der moderne Mensch lehnt es ab, sich von der Vergangenheit meistern zu lassen, weil er selbst sich als Meister und Richter über die Vergangenheit fühlt. […] Das ist ihr höheres Daseinsrecht, daß sie einen Ausblick schaffen und nicht einen Rückblick, daß sie das empfinden, was werden soll, nicht dasm was gewesen ist.«664
Kalthoff sieht Nietzsche in diesem Neuaufbruch als einen Vorreiter, als eine neuerliche Erlösergestalt, die die Menschheit zur vermeintlichen Wahrheit über sich selbst verhelfen wolle, da sie »seit achtzehn Jahrhunderten durch das Christentum in ihrem Fortschritt zur Wahrheit und Gerechtigkeit gehindert worden sei«665. Als Erweis, dass dieser durch Nietzsche angestoßene Neuaufbruch im Bereich des Religiösen bereits im Gange sei, führt er in seinen Worten mit dem Versuch des sogenannten Kulturprotestantismus religionsgeschichtlicher Schule vor Augen und formuliert: »Es ist ein bekanntes Gesetz der Geschichte, daß immer erst ein Altes zerfallen muß, damit ein neues Leben sich regen kann. Nun wird der Verfall des Christentums durch nichts so markiert, wie durch jene Theologie, die auf der Suche nach einem menschlichen Stifter für das Christentum zuletzt bei ihrem historischen Jesus angekommen ist, einem jungen Mann aus Palästina, von dem die Gelehrten eigentlich nur wissen, dass er gerade das nicht gewesen ist, was er nach den Schriften der Bibel gewesen sein soll […]«666.
Kalthoff unterstellt sozusagen dieser theologischen Stoßrichtung ein fehlgeleitetes Interesse am Historischen, welches keine Kräfte für das existentiell-individuelle Jetzt in sich bergen könne. Der Versuch des Kulturprotestantismus muss deshalb scheitern, weil er nicht erkannt zu haben scheint, in welcher Weise Religiosität und ihr Verhältnis zur Geschichte sinnvoll gedacht werden muss. Nicht in einem Begründungszusammenhang, sondern als Aufweis, wonach die 662 663 664 665 666
Kalthoff, Die Religion der Modernen, 86. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 88. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 177. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 178. Kalthoff, Die Religion der Modernen, 181.
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Religiosität solche Kräfte in sich birgt, das individuelle Leben sinnvoll und kraftvoll zu leben. Im Laufe der Studie findet sich auch ein eigenes Kapitel über Nietzsche. Über ihn und seine Religiosität als Kontingenzbewältigung schreibt Kalthoff: »Das ist der Übermensch, wie Nietzsche ihn nennt, der Gottmensch, wie wir in der Sprache der Religion ihn nennen: nicht Mann oder Weib, nicht dieser oder jener, nicht Kaufmann oder Handwerker, Gelehrter oder Künstler, sondern Mensch, ihnen allen ein Ziel ihrer Sehnsucht zeigend. Es ist der Mensch, der alle Leidenszustände seiner Seele überwunden hat, so daß es für ihn kein Schicksal mehr gibt, keine blind über ihm waltende und willenlos mit ihm schaltende eherne Notwendigkeit, nur die eigene Tat, die auch das Geschick sich unterwirft und jede Notwendigkeit gestaltet zu einer Kraft des eigenen Willens.«667
Kalthoff trifft mit dieser Charakteristik des Übermenschen wohl sehr genau Nietzsches Überzeugungen und profiliert gleichzeitig seine Auffassung des christlichen Glaubens, die sich vom Verständnis der Norm und des Dogmas des Christlichen früherer Generationen deutlich unterscheidet. Früher »stand es in den neutestamentlichen Schriften jedem lesbar und klar als der Inhalt des Glaubens, aus dem die Christengemeinde jegliche Regel ihres gemeinsamen Lebens ableitete«668. In dieser Form der Religiosität wurde die norm- und wertorientiernde Kraft des Christentums ausschließlich in der Auslegung ihrer ursprünglichen Geschichtlichkeit propagiert. »Denn wer den Schlüssel zum wahren Bibelverständnis, die sogenannte historische Kritik, gefunden habe, dem stelle sich die Sache ganz anders dar, er lerne damit das »ursprüngliche« Christentum erst wahrhaft kennen […]«669
In Nietzsche und in seinem Verständnis des Menschseins hingegen, so könnte man vielleicht die Gedanken Kalthoffs fortführen, kann demgegenüber eine Religiosität der Ursprünglichkeit entdeckt werden, die sich nicht in der bloßen Auslegung tradierter Schriften und historischer Abläufe genügt, sondern sich im religiösen Gefühl an sich orientiert weiß und somit nicht rückwärtsgewandt, sondern zukunftsbefähigend ist, weil es sich als existentiell angehend erweist. Kalthoff formuliert: »Nicht die Geschichtsfragen des Christentums, sondern seine Herzensfragen bringen uns seinen Ursprüngen in der Menschenseele näher. Was die Menschen in tiefster Seele geahnt und empfunden, als sie vom Gottessohne und dem Menschensohne geredet, was ihr innerstes Sehnen und Hoffen gewesen, wenn sie ihren Christus kommen sahen in den Wolken des Himmels, um die Lebendigen und die Toten zurichten, wie ihre Seele 667 Kalthoff, Die Religion der Modernen, 279. 668 Kalthoff, Die Religion der Modernen, 288. 669 Kalthoff, Die Religion der Modernen, 290.
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erbebte und jubelte, wenn sie vom Tage des Zornes und der Erlösung sangen […]: das ist der ewige Boden der Menschenseele […]«670
III.5.2.2 Paul Göhre »Der unbekannte Gott« Auch Paul Göhre671 (1868–1924) kommt wie Kalthoff im Aufbau seiner Studie von der Beschreibung des »Modernen Menschen« zur Problemanzeige seiner Gegenwart, die er als die Charakteristik der Moderne tituliert, nämlich als »Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Christentum und modernem Menschen«. Er schreibt im ersten Satz seines Buches programmatisch: »Wer heute Religion sucht, neue Religion, der muß zuerst den modernen Menschen suchen gehen. Ist Religion heute überhaupt noch möglich, dann allein mit ihm und durch ihn. Neue Religion kann nur von neuen Menschen gezeugt und getragen werden.«672
Göhre charakterisiert diesen neuen Menschen im Gegensatz zu einem früheren als »Diesseitigskeitsmensch«, »Tatsachenmensch« und »Tatmensch«, der bildreich beschrieben nicht mehr in die metaphysisch »grenzenlose Ferne« schweift, sondern im wahrnehmbaren Diesseits orientiert und verhaftet sei.673 Interessanterweise lehnt sich Göhre in der Beschreibung dieses neuen Menschentypus eng an Formulierungen und Gedanken Nietzsches an, ohne dabei auf solche explizit zu verweisen. So charakterisiert er diesen neuen Menschentypus als einen solchen, der sich vom unwandelbaren Schicksal geleitet fühlt, als einen Menschen, der sich selbst, die eigene Wahrnehmung und moralischen Überzeugungen674 stets neu justiere und dabei auf überlieferte Tradition verzichte. Der moderne Mensch werde ganz im Sinne Nietzsches zum Schaffenden von individuellen Werten und Wahrheiten.675 Als letzte Charakterisierung bescheinigt Göhre dem modernen Menschen, »ein seelisch noch unausgeglichener Mensch« zu sein und erkennt in ihm, gerade im Gegensatz zu den vorherigen Punkten, einen »Zug des Unfertigen, des Widerspruchsvollen, des Unausgeglichenen am Innenleben«.676 Nach Göhre fehle es an übergeordneten Werten und Wahrheiten und diese Ermangelung 670 671 672 673 674
Kalthoff, Die Religion der Modernen, 294f. Paul Göhre, Der unbekannte Gott, Leipzig 1919. Göhre, Der unbekannte Gott, 11. Vgl. Göhre, Der unbekannte Gott, 12ff. Göhre schreibt: »Auch die Moral ist zu etwas rein Diesseitigem, Innerweltlichem, Relativem geworden: alle moralischen Werte sind als schwankende, gleitende, veränderliche Größen aufgedeckt.« Göhre, Der unbekannte Gott, 21. 675 »Aus dem Menschen von einst, der sich mühsam auf der Welt gegen die Naturgewalten behauptete, ward heute der schöpferische Mensch […] Ein leidenschaftlicher Wille zur Macht erfüllt ihn.« Göhre, Der unbekannte Gott, 25. 676 Vgl. Göhre, Der unbekannte Gott, 26f.
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überfordere den modernen Menschen in der Herausbildung seiner Werte- und Handlungsorientierung677: »So liegt also das Gefühlsleben des modernen Menschen vor uns: unsicher und kompliziert, differenziert und chaotisch, rätselfroh und schöpfungssüchtig, launisch und voller Extreme, ruhlos und widerspruchsvoll, hastig, springend, noch in tiefster Seele glücklos. Der moderne Mensch, in einer Welt von Diesseitigkeiten und Tatsachen vergraben, ist nur erst Tatmensch, noch nicht ausgeglichene, geschlossene Persönlichkeit.«678
Diese je unterschiedlich individuell kulturgeschichtlich geprägte Persönlichkeit treffe nun ihrerseits auf den Kern des Christlichen, den Göhre in einer »Doppelweltanschauung« verortet, die das Heil des Menschen konsequent im Überirdischen suche. In Jesus verkörpere sich diese Sicht auf besondere Art und Weise. Göhre kommt es im Folgenden darauf an, in den geschichtlichen Personen Jesus von Nazareth und Paulus, sowie einer kurzen dogmengeschichtlichen Abhandlung, die besondere Sicht und Wertortierung dieser Menschen und damit den Kern des Christlichen zu beschreiben. Sein Fazit lautet, »[D]aß das Christentum weltabgewandt, eine Religion der Passivität, des geduldigen Wartens und Stilleseins ist.«679
Auch Göhre beweist an dieser Stelle ein besonderes Interesse an einem Ursprungsgedanken des Christlichen, der sich in einer inneren Haltung und Gestimmtheit und gerade nicht in einer historisierenden Betrachtung finden lasse. Aus der Beschreibung des modernen Menschen und dem Kern des Christlichen ergibt sich für Göhre ein »vollendete[r] und unüberbrückbare[r] Gegensatz […]: Alles, was jenes an Erkenntnis besitzt, ruht auf göttlicher »Offenbarung«; alles, was dieser besitzt, auf menschlicher Arbeit»680. Das Christentum befinde sich nach Meinung Göhres in dieser Konstellation jedoch eindeutig im Niedergang begriffen.681 Er schließt sein Werk mit Gedanken zur Voraussetzung und der Beschreibung einer »Neuen Religion« ab682 und schreibt: 677 Hier findet auch Nietzsche nun seinen Platz: »Bald bildet die Tageszeitung mit ihrem geistigen Flugsand, bald Marx und Nietzsche mit ihren quaderschweren Gedanken den Boden, auf denen heute das geistige Leben erwächst und sich erneuert.« Göhre, Der unbekannte Gott, 28. 678 Göhre, Der unbekannte Gott, 29. Dieser Passus liest sich dabei fast wie ein mögliches Psychogramm zu Nietzsche, das auch Barth teilweise in seinen Verweisen auf Nietzsche im RÖ I und II zu zeichnen versucht. 679 Göhre, Der unbekannte Gott, 58f. 680 Göhre, Der unbekannte Gott, 63. 681 »Das Christentum ist für den modernen Menschen erledigt.« Göhre, Der unbekannte Gott, 85. 682 Die entscheidenden »Feststellungen« in Bezug auf die Religion sind für Göhre zum einen
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»Die Religion, die nach alledem heute allein noch möglich ist, ist die Religion des unbekannten Gottes. Für den modernen Menschen wenigstens, der religiös begabt und bedürftig ist, gibt es keine außer ihr. Im Glauben an den unbekannten Gott erschöpft sich alle Religion der Zukunft.«683
Göhre unternimmt in diesem Kapitel unter den Begriffen »Gottesgewißheit« und »Gottesferne« den Versuch, das religiöse Momentum als Paradox für den modernen Menschen zu beschreiben und dieses von »tausend falsche[n] Hüllen [zu befreien], um ihre Schwere unspürbar und ertragbar zu machen«684. Göhre fährt sozusagen ein Programm der schonungslosen Offenheit und Befreiung, um die Religion wieder an ihren ursprünglichen und wahrhaftigen Kern zu führen. Diese neue Religion entspricht dabei genau jener vorgeführten Beschreibung des modernen Menschen und beinhalte die nötigen Hilfestellungen für dessen Sein und Suchen. Vorgedrungen zu diesem Kern, bedürfe es der Entledigung von traditioneller und geschichtlich überlieferter Kultformen. Neue müssten stattdessen gefunden und erprobt werden, die dem inneren Kern der neuen Religion entsprechen.685 Göhre lässt seine kleine Studie mit einer Art Aphorismensammlung enden, die in ihrer Stilistik (ein »Ich«, das sich in der Gegenüberstellung von »Ihr« und »Wir« diesem »Wir« wiederum in aufklärerischer Mission zuwendet) und ihrem Inhalt (»das Heerdenthier Mensch«, »Starke und Schwache«, »Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit […]«686) stark an Nietzsches Werk erinnert. »Schleiermacher sagte: die Religion haßt die Einsamkeit. Wir aber sagen: Religion ist Einsamkeit, vollkommenste Einsamkeit.«687 »Die neue Religion ist keine Religion für Schwache, Zerbrochende, Unmündige, sondern für Starke, Gesunde, Reife, Erwachsene. Für Männer nicht für Kinder. Für Kampfwillige und Kampffähige. Für Gegenwarts-, nicht für Vergangenheitsmenschen. Für Diesseitigkeits-, nicht für Jenseitigkeitsnaturen.«688 »Macht Ernst, ganz Ernst mit dem Satz: Gott unnahbar und unerforschlich – und ihr habt die ganze neue Religion, die nie wieder veralten wird, nie mehr vergeht.«689
683 684 685 686 687 688 689
deren innere Triebkraft (Wurzel) (vgl. Göhre, Der unbekannte Gott, 85ff), deren Gottesgedanken (vgl. aaO. 90ff), eine »besondere menschliche Veranlagung« (vgl. aaO. 94ff.) und deren jeweilige kultur- und zeitgeschichtliche Ausformung (vgl. aaO. 103ff). Göhre, Der unbekannte Gott, 111. Göhre, Der unbekannte Gott, 126. Göhre macht sogar konkrete Vorschläge zu Gebeten, Glaubensbekenntnissen, Weihefesten, sowie zu einer den speziellen Anforderungen gerecht werdenden Architektonik religiöser Gebäude. Vgl. Göhre, Der unbekannte Gott, 132–135. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 11. Göhre, Der unbekannte Gott, 146. Göhre, Der unbekannte Gott, 149. Göhre, Der unbekannte Gott, 150.
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III.5.2.3 Arthur Bonus Im Sommer 1897 traf sich ein Zirkel bestehend aus »Freunden der Christlichen Welt«, um sich über das Thema »Der moderne Mensch und das Christentum« auszutauschen. Aus diesem Treffen erwuchs die Idee, einen Wettbewerb in der »Christlichen Welt« mit folgender Aufgabenstellung auszurufen: »Eine Charakteristik des modernen Menschen, auslaufend in wegweisende Worte über sein Verhältnis zum Christentum und das Verhältnis des Christentums zu ihm.«690
Diesem Aufruf folgend, verfasste Arthur Bonus (1868–1941) eine Antwort auf die Fragstellung, in der er die grundsätzliche Schwierigkeit betont, wie vom modernen Menschen, der selbst Teil dieser noch unabgeschlossenen Entwicklung ist, zu sprechen sein könnte und daneben seine Zeitgenossen als im höchsten Grade religiös offen und multipel interessiert beschreibt. »Was ist der Mensch? Ein Chaos, von den mannigfaltigsten Kräften durchwogt, die alle versuchen, alleinherrschend zu werden, teils mit großem, teils mit kleinem, teils mit gar keinem Erfolg.«691
Die Modernität des Menschen ergibt sich für Bonus dabei schlichtweg aus dessen chaotischer Umgebung, in der er sich mit sich mit den unterschiedlichsten Überzeugungen und deren Künder, die als Pädagogen auftreten, auseinanderzusetzen habe. »Kurzum die Moderne ist in vollem Übergang aus einem schlaffen, nervösen, suchenden zu einem harten, straffen, nüchternen und ›gesinnungstüchtigen‹ Zeitalter.«692
Diese Bestimmung der Moderne, als einer Zeit ohne verbindliche Weltanschauung, verbinde sie dabei mit der Antike und der Rolle des Christentums in dieser Zeit. Bonus arbeitet sich u. a. in seiner Schrift »Religion als Schöpfung«693 am gängigen Muster einer zu Ende gehenden Ära des Religiösen ab und gesellt sich dabei in eine enge inhaltliche Nähe zu Overbeck, wenn er darauf insistiert, Religion und die theologischen Zunft strikt voneinander zu trennen. Es komme nicht auf ein dogmatisch reines und damit ein ideell-abstraktes religiöses Sein an, sondern auf das innere Erlebnis der Religion, den Umbau »der Fremdreligion zur Erlösungsreligion«694 :
690 Hefte zur »Christlichen Welt« Nr. 34/35, Der moderne Mensch und das Christentum. Skizzen und Vorarbeiten I von Arthur Bonus, Adolf Perino und Martin Schian, Leipzig 1898, 4. 691 Bonus, Der moderne Mensch und das Christentum, 9. 692 Bonus, Der moderne Mensch und das Christentum, 13. 693 Arthur Bonus, Religion als Schöpfung. Erwägungen über die religiöse Krisis, Jena 1909. 694 Bonus, Religion als Schöpfung, 14.
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»Sie hat die Aufgabe, umfassend, energisch und furchtlos die Voraussetzungen und Stützen der christlichen Gesetz- und Fremdreligion abzubauen, damit die wirklich in uns vorhandene Religion zu Selbstbewusstsein, zu energischer Selbstdeutung und dadurch zur Aktionskraft und zu freiem Leben kommen – erlösend werden kann.«695
Bonus charakterisiert als Kern des Christentums dessen »Erlösung vom Gesetz«, was das Neue sich Bahn brechen lasse, ohne sich dabei länger an das »Denkgesetz der Orthodoxie« und an das »Sittengesetz des Rationalismus« gebunden zu fühlen.696 Jesus wird für ihn dabei zum absoluten Exempel eines, aus dieser innerlichen Gängelung der bürgerlichen Moral nach Leben trachtenden Menschen: »Er wollte nichts als sie »retten«. Aus dem Tode zum Leben. Und er verstand darunter ein Leben im festen, das Bewußtsein erfüllenden, erhebenden, gegen jedes Schicksal behauptenden Zusammenhang mit dem Unendlichen.«697
Dieses religiöse Bewusstsein sei »das intime persönliche Element, das Aktuelle, das Schöpferische Tätige, Kräftige und Mächtige […] wo sein Selbstbewußtsein sich zum Gottmensch-, Gottkind-Bewußtsein erhöht«.698 Dieses schaffendschöpferische Bewusstsein konstituiere den religiösen Menschen und keine irgendwie geartete Anerkenntnis lehrhafter Formen bringe diesen »höheren Typus Mensch«699 hervor. »Endlich ist der Religiöse der Zuversicht, in der Bildung eines inneren Kräftezentrums, daß sich den Schicksalen überlegen erweist und mit den wirklichen treibenden Kraft der Entwicklung berührt, etwas aus sich selbst zu schaffen, das dem Begriff der Zeit nicht untersteht, weil es zum zeitlosen Wesen der Dinge gehört.«700
In seiner Schrift »Zur religiösen Krisis« versammelt Bonus in seinem ersten Band verschiedene Studien zur »Zur Germanisierung des Christentums«701 und plädiert dafür, in der religiösen Ausformung den Kern einer Volksidentität zu entdecken: »Was ist Religion anderes als der zusammengefaßte selbstbewußt gewordene, innere, geistige oder Gemütsgehalt eines Volkes? sozusagen sein Geistleib, seine Persönlichkeit, seine Individualität«.702 Bonus, Religion als Schöpfung, 15. Bonus, Religion als Schöpfung, 16. Bonus, Religion als Schöpfung, 19. Bonus, Religion als Schöpfung, 27. Bonus, Religion als Schöpfung, 47. Bonus, Religion als Schöpfung, 34. Arthur Bonus, Zur religiösen Krisis, Bd. 1: Zur Germanisierung des Christentums, Jena 1911; Bd. 2: Religion und Fremdkultur, Jena 1911; Bd. 3: Religiöse Spannungen: Prolegomena zu einem neuen Mythos, Jena 1912; Bd. 4: Vom neuen Mythos: eine Prognose, Jena 1911. 702 Bonus Zur Germanisierung des Christentums, 11.
695 696 697 698 699 700 701
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So betrachtet, kann Bonus die Attribute »modernes« oder »germanisiertes« Christentum gleichsetzen.703 Bonus bezeichnet den Evolutionsgedanken Darwins als den zentralen seiner Gegenwart, der dem Denken neue Räume eröffne und aus alten Verstrickungen befreit habe. Der Gedanke einer evolutionären Entwicklung könne nun endlich um sich greifen, der sich auch nicht länger vor dem Menschen und seiner Religiosität zu verschließen brauche. Gerade die Religiosität, die als die gelebte innerliche Befreiung verstanden wird, führe den Menschen zu einem höheren Wesen seiner selbst und zu verständigeren Erkenntnisstufen der religiösen Mythologie. III.5.2.4 Karl Barths Vortrag »Christlicher Glaube und Geschichte« In seinem Vortrag geht es Barth nicht weniger als um das s.E. im Titel des Vortrages aufgeworfene zentrale »Problem der protestantischen Theologie der Gegenwart«704. Dieses Problem selbst wiederum unterteilt Barth in zwei Fragestellungen. »Erstens: Wie verhält sich der Glaube selbst, d. h. wie verhält sich die Frömmigkeit zu ihrer Geschichte«705 und zweitens »welcher Art ist das Verhältnis […] jener gegenwärtigen und inneren Tatsächlichkeit, das Verhältnis der Glaubensgedanken zu irgendwelchen gewesenen Glaubensgedanken«706.
Barth nähert sich seiner Aufgabe dabei von unterschiedlichen Seiten und beschreibt in seinem »psychologischen« Teil den Glauben folgendermaßen: »Glaube ist Gotteserlebnis, unmittelbares Bewußtsein von der Gegenwart und Wirksamkeit der übermenschlichen, überweltlichen und daher schlechthin überlegenen Lebensmacht.«707
Barth zielt in seiner Beschreibung auf das »trans-individuelle« des Glaubensaktes ab, das dem Glaubenden erlaube, mithilfe seines Glaubens, »die auf völlig verschiedenen Flächen liegenden Probleme des Ich, des einzelnen Menschen, des individuellen Lebens das des gesetzlichen Bewußtseins, der Menschenkultur, der Vernunft«708 in den Blick zu nehmen. »Der christliche Glaube hat seine Eigentümlichkeit darin, daß hier das passiv-aktive Gotteserleben geschichtlich irgendwie bedingt und bestimmt ist durch die innerhalb der menschlichen Sozietät dagewesene Persönlichkeit Jesu.«709 703 704 705 706 707 708 709
Vgl. Bonus, Zur Germanisierung des Christentums, 12. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 155. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 155. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 155. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 161. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 164. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 164.
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Dieses »irgendwie geschichtliche Bedingtsein« des christlichen Glaubens wird in der Beziehung des glaubenden Individuums zur Person Jesus von Nazareth fassbar und bringt Barth im weiteren Verlauf zur Frage, ob für den christlichen Glaubensakt die Begegnung mit der geschichtlichen Person Jesu eine Bedingung sine qua non bilden könne. Für Barth gilt dies selbstredend als ausgeschlossen und wurde bereits von Paulus dezidiert theologisch zurückgewiesen. Barth findet gerade hierin das spezifische der paulinischen Gedanken zum Glaubensakt, wonach es um die individuell-spirituelle Begegnung des Glaubenden mit dem Evangelium in der Form einer existentiell-aneignenden Offenbarung gehe, die eine »wirksame Bekanntschaft mit Christus erzeugt, wachhält, vertieft und vollendet«710. Zum Beleg seiner Gedanken kommt Barth auf Luther zu sprechen und schreibt: »Luther hat keineswegs zuerst das Neue Testament als Autorität anerkannt und dann seine Lehre daraus geschöpft, sondern bei Gelegenheit seiner Augustinustudien ist er auf den einen Paulus gestoßen, hat sich in die Gedankenwelt wie in die Frömmigkeit dieses Glaubenszeugen eingelebt, und auf Grund einer so entdeckten resp. Aktualisierten inneren Verwandtschaft mit Paulus ist ihm aus seinem Zeugnis der entgegengetreten, zum Glaubensgrund und zur Glaubensautoriät geworden, von dem Paulus zeugt.«711
Im Glaubensakt lasse sich daher durch die Unterscheidung von »notitia – assensus – fiducia« ein Glaubensgrund und eine Glaubensautorität712 unterscheiden, deren Verhältnissetzung und Aneignung sich unterschiedlich beantworten lassen. Barth macht sich Schleiermachers Glaubensdefinition zu eigen und definiert die beiden zentralen Begriffe des Religiösen von »Anschauung« und »Gefühl« folgendermaßen: »Anschauung ist das Aufnehmen des Eindrucks, den der ewige Gehalt im Dasein auf unser Selbstbewußtsein ausübt.«713 »Das religiöse Gefühl [ist] das Gewirkte im Selbstbewußtsein, das in der Anschauung entstandene Ergriffensein von der im Endlichen wahrgenommenen ewigen Welt.«714
Religion ereigne sich also dann, »wenn in der Anschauung Gefühl entsteht«715. Barth überträgt diese religionsphilosophischen Begriffe für den christlichen Sprachgestus in die Begriffe von »Glaube« und »Rechtfertigung«:
710 711 712 713 714 715
Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 167. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 166. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 173. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 182. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 183. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 183.
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»In der Anschauung, im Sehen der Wirksamkeit Gottes, im Glauben, im sittlichen Gehorsam wird das Gefühl, das durch Gott Gewirkte, die Rechtfertigung, die Erwählung Tatsache.«716
Dies wiederum übertragen auf das konkret geschichtliche Sein des Menschen bedeute: »[D]as Individuum findet die Offenbarung, die es in der Religion anschaut und aufnimmt, in der Menschheit, d. h. aber in der Geschichte. Das schöpferische Prinzip aber, durch das die Anschauung zu Stande kommt, ist die Liebe, ist das persönliche innere Erlebnis reiner Hingabe und reiner Gemeinschaft.«717
Für Barth beinhaltet diese Einsicht, dass es eine reine Anschauung des Religiösen ohne dessen Erleben nie geben könne: »Die Methodik des christlichen Glaubens kennt nur einen Christus außer uns. Sie kennt keinen Christus an sich. Sie kennt nur einen Christus in uns.«718
Barth kommt es also darauf an, die Geschichtlichkeit des Glaubens in einen rechten Bezug zum existentiellen Ergriffensein im Glauben zu stellen. Geschichtlichkeit kann in dieser Sicht vielleicht eine Art Glaubensautorität darstellen, die die persönliche Aneignung des Glaubensgrundes mit anderen menschlichen Aneignungen und deren Ausformung in Abgleich bringen lassen kann. Im Ursprung des Christusgeschehens kann jedoch eine besondere Wirksamkeit gefunden werden, wobei dieser Ursprungsgedanke gerade nicht in erster Linie in einer historischen Erforschung der Religion vermutet werden müsse719, sondern wie Luther zeige, in einem solchen Zeugnis gefunden werde, welches sich diesem Ursprung in besonderer Weise existentiell verbunden fühlt und sozusagen vergegenwärtige. III.5.2.5 Zusammenschau In der Durchsicht der Werke Bonus, Göhres und Kalthoffs ist festzuhalten, dass die Besinnung auf einen von falschen Vorstellungen freimachenden vitalen Ursprungsgedanken, und von dort aus zu einem tragfähigen, weil lebensdienlichen 716 717 718 719
Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 186. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 187f. Barth, Der christliche Glaube und die Geschichte, 188. Anders beurteilt dies Harnack in seiner berühmten Vorlesung »Das Wesen des Christentums«: »Was wir sind und haben – im höheren Sinn – haben wir aus der Geschichte und an der Geschichte […] Davon aber reine Erkenntnis zu gewinnen, ist nicht nur Sache und Aufgabe des Historikers, sondern eines jeden, der den Reichtum und die Kräfte des Gewonnenen selbstständig in sich aufnehmen will.« Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums: sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultaeten im Wintersemester 1899/1900 an der Universitaet Berlin, Leipzig 1913, 3.
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religiösen Ansatz zu gelangen, sich als ein populäres Ansinnen der Theologie der Jahrhundertwende ausweist. Dabei zeigen alle drei ein jeweils spezifisches Interpretationsmuster ihrer Gegenwart, welches dabei Auswirkungen auf ihr jeweiliges Nietzsche-Verständnis zeigt. Auch wenn die Versuche Kalthoffs, Göhres, Bonus und Barths ganz sicherlich in ihrer genaueren Ausführung erhebliche Unterschiede zeigen, eint sie doch ihr spezielles Interesse an einem existentiell belebenden Ursprung, der gleichbedeutend mit Wahrheit und Freiheit in Bezug auf existentielle Fragen und Herausforderungen charakterisiert werden kann. Im Versuch, dieses Interesse am Ursprungsgedanken mit Heinrich Barths philosophische Einsichten und deren theologische Übersetzung Karl Barths mit Nietzsches Rolle in Fragen des Historismus und der Rückbesinnung auf die reinen Ursprungsgedanken des Seins zu übertragen, erweisen sich bemerkenswerte Überschneidungslinien. Wie genau ist jedoch Barths Interesse an der Urgeschichte des Christlichen zu fassen, das, wie an Kalthoff, Göhre und Bonus gezeigt, Auswirkungen auf die Gegenwartsanalyse und von dort zu einem spezifischen Verständnis Nietzsches anleitet? Für Barth gibt es eine Art Vitalität des Ursprungs im christlichen Glaubensleben, den er in den paulinischen Gedanken des Römerbriefes findet und in sich selbst darin bestehend definiert, im ursprünglich Ergriffensein des Glaubensaktes das eigene Leben zu deuten und zu erkennen, wie die umgebende Realität verstanden und verändert werden kann. Nicht in der Aneignung der religiösen Geschichte und in der historischen Erforschung des Urchristentums liegt der Schlüssel zur Vitalität des Religiösen, sondern im Versuch sich des existentiellen Ergriffenseins der geschichtlichen Person zu nähern und darin ein lebens- und glaubensorientierendes Wissen freizulegen. Dem Text aus dem Jahr 1910 ist wohl noch sehr deutlich Barths Marburger Hintergrund, im Besonderen der theologischen Denkrichtung eines Wilhelm Herrmanns anzumerken, jedoch scheinen diejenigen Grundüberzeugungen Barths zu einer konsistenten, weil existentiell-offenbarungstheologischen Theologie auf eine interessante und pointierte Weise durch. Ist daher für Barth eventuell die Erfahrung der Auferstehung Jesu diese Kategorie des Ursprungs, die sich in den geschichtlichen Menschen ihres existentiellen Ergriffenseins zeigt? Dies könnte bedeuten, dass für Barth der Ursprung als transzendentaler Bezugspunkt gedacht wird, zu dem der Mensch sich selbst als abgeschnitten erfährt, nur durch die transzendente offenbarende Macht Gottes überwunden und damit zu sich in Beziehung gesetzt werden kann. In diese Richtung argumentiert Kleffmann, der bei Barth in der Betrachtung des Todes und der Auferstehung Jesu jene für jedes menschliche Sein exemplarische Kategorie des
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Umschlags von Tod zum Leben, von der Lüge zur Wahrheit, von Nicht-Identität zur Identität erkennt.720 In einer strukturellen Analogie zu Barth kann Nietzsche mit seiner Historismuskritik der »Unzeitgemässen Betrachtungen II.« verstanden werden, in der er der akademischen Philosophie und Geschichtswissenschaft vorwirft, gerade nicht das Vitale und Lebendige der Geschichte in den Blick zu nehmen, sondern deren historische Manifestationen, die zu ehernen Epigonen erhoben würden. Die lebensdienlich-vitale Lebensphilosophie lenke demgegenüber den Blick auf denjenigen Kern geschichtlicher Prozesse, der hinter den historisch zu beschreibenden Prozessen und Ereignissen als deren motivierender Impetus zu denken ist. Die Religion blickt auf die innere Gefühlswelt, auf den Affekt des Menschen, der diesen wiederum zu Handlungen antreibt. Diese innere Gefühlswelt, dieses Ergriffensein und zur Tat drängende Erlebnis interessiert auch wiederum Barth speziell an Paulus und am Urchristentum. Angesichts der kirchlichen Umwälzungen zwischen Säkularisierung, Romantik, Moderne und Nationalismus zeigen sich in philosophischen, gesellschaftlichen und religiösen Beiträgen, die Versuche einer Re-Konfiguration des Christlichen. Bei Barth nicht im Versuch, die Scherben und Brüche lediglich neu zu ordnen, sondern in einer regelrechten Neuschöpfung, die sich aus einer Rückbindung auf den Ursprung und dessen handlungsleitenden Orientierungswissen einen daraus speisenden theologischen Entwurf anzubieten versuchte. Die »Urgeschichte« des Christentums, sein vitaler Ursprung ist nicht die Beschreibung einer geschichtlichen Faktizität oder deren Ereignisse, sondern die existentielle Begegnung mit einer lebensschöpferischen göttlichen Kraft vom Tode zum Leben, zwischen Kreuz und Auferstehung.
III.6 »Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches« Wie kann nun die Rolle Nietzsches in den RÖ-Auflagen aufgrund der Bisherigen verortet werden? Dazu soll zuerst ein Blick auf Niklaus Peters Aufsatz »Karl Barth als Leser und Interpret Nietszches«721 geworfen werden. Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildet für Peter eine mögliche Interpretationsthese der barth’schen Nietzsche-Rezeption, die der Prorektor der Universität Basel in der Laudatio für den nunmehr emeritierten Karl Barth 1962 vortrug. Salin sprach, unter einigem Gemurmel im Publikum, in direkter Ansprache zu Barth:
720 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 535–537. 721 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 251–264.
»Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches«
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»Hier ist Nietzsches Willen, Dynamit722 in die Welt zu schleudern, in Sie eingegangen.«723
Salin behauptet demnach, dass Barth und Nietzsche ein ähnlicher Impetus des Traditionsbruches und Neuanfangs angetrieben habe und dieser Wille beide auf eine besondere Art und Weise miteinander verbunden habe. »Welch reformatorisches Wagnis ist es, welche Nietzsche-Antinietzsche Vermessenheit braucht es, um als Einzelner die Wege des Glaubens und des Wissens ab ovo neu zu umschreiben und neu zu begehen?«724
Salins Interpretation der barth’schen Nietzscheinterpretation zeigt sich dabei als eine geradezu grundsätzliche. Denn den inneren Antrieb zu Barths Wirken und Schaffen entdeckt Salin in einer nietzscheanischen Grundstruktur, nämlich im Willen Neues zu erschaffen und Altes hinter sich zu lassen. Eine zugespitzte und sehr scharfe Interpretation, die, wie Peter zeigt, zwar einer genaueren Untersuchung nicht standhalten kann, gleichzeitig einen ersten pointierten Zugangspunkt zur Bewertung der barth’schen Nietzscherezeption aufweist. Peter datiert die rezeptionsrelevante Nietzsche-Lektüre Barths »in die ersten Juniwoche des Jahres 1920« und damit »nach der Publikation der Erstauflage des »Römerbriefes«, aber noch vor der Einsicht im Oktober 1920, daß das Buch unverändert« weiterverkauft werden dürfe.725 Mit Peter ist dabei festzuhalten, dass Barth nicht erst durch die Lektüre Nietzsches zum Vorhaben des Römerbriefes und der damit verbundenen Neuausrichtung des theologischen Nachdenkens gekommen ist. Jedoch muss genauer untersucht werden, ob, wie Peter schreibt, eine wirkliche Lektüre und Rezeption Nietzsches erst nach der Fertigstellung der 1. Auflage angenommen werden kann. Peter verweist dabei darauf, dass wenn man sich an »die Prüfung derselben [sc. der zehn NietzscheBelege im RÖ I] macht, so wird man rasch finden, daß sie auf zwei zusammenschrumpfen, die keinerlei spezifische Rezeption verraten«726. Zudem könne ein Brief Barths an Thurneysens zur Untermauerung herangezogen werden. Hier schreibt Barth am 4. Juli 1920:
722 Peter untersucht ebenfalls für Barth wie für Nietzsche die Vokabel des Dynamits und deren Belegstellen in den jeweiligen Schriften. Bei Barth falle dabei in den RÖ-Auflagen die besondere Kriegsmetaphorik auf und bei Nietzsche das Auftauchen in dessen autobiographischem Werk »Ecce homo«: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.« Vgl. Nietzsche, »Ecce homo«, 365. 723 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 251. 724 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 253. 725 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 255. 726 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 255.
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»Ich bin sehr froh, daß ich alle diese Leute [sc. Dostojewski, Nietzsche und Ibsen] erst jetzt richtig lese und nicht, wie so viele schon als Gymnasiast oder Student vermeintlich hinter mich gebracht habe.«727
Aus Barths Briefwechsel mit Thurneysen wird deutlich, dass es seit dieser Juniwoche im Jahr 1920 für Barth ein erheblich größeres und feineres Interesse an Nietzsche gegeben zu haben scheint. Peter führt dieses veränderte und entfachte Interesse auf »eine Vortragseinladung nach Deutschland im Jahr 1919« zurück, bei der »Barth die dortige Kulturkritik wahrnimmt« und »Gogarten kennenlernt und darauf intensiv Kierkegaard [und] Dostojewski« studiert.728 So gesehen, kommt Barth über den Umweg einer wahrgenommenen Gegenwartskritik zu einem genaueren Studium Nietzsches. In der zweiten Auflage des RÖ, so Peter, hätte sich die Rolle Nietzsches »nicht auf die eines Statisten beschränkt«, sondern Barth hätte sich geradezu von Nietzsche »inspirieren« lassen.729 Weiterhin hält Peter fest, dass Barth in Bezug auf Nietzsche zwar dessen »Kritik wissenschaftlicher Historie« rezipiert, diese jedoch »aus ihrem lebensphilosophischen und kulturpsychologischen Kontext« löst und sie für seine theologische Argumentation entlehnt.730 Peter kann m. E. stringent nachweisen, dass die von Salin vorgestellte These zur Interpretation der barth’schen Nietzscherezeption nicht haltbar ist, wonach erst Nietzsches Angriff auf das Christentum ihn zur Neuorientierung aufforderte. Diese Neuorientierung ergab sich für Barth vielmehr aus der grundlegenden Kritik des theologisch wie gesellschaftfpolitisch Vorfindlichen, die Barth bereits umtrieb. Die inhaltliche Motivation Nietzsches wie Barths zur Ausarbeitung ihres Werkes ist diametral widerstreitend zu denken und nur in der strukturelleren Ausarbeitung analog zueinander : »Der Ausgangspunkt seines [sc. Barths] theologischen Weges war die Einsicht, daß Offenbarung nicht Bestätigung, nicht Überhöhung [sc. wie bei Nietzsche], sondern befreiende Kritik bedeutet.«731
Peter hält in diesem Fazit die interessante Einsicht fest, dass es Barth ,wie weithin bekannt, um eine »theologische Religionskritik« ging, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte »Kritik an christlichen und kirchlichen Verabsolutierungen sehr menschlicher Interessen«732 zu üben. In dieser Sicht müsse auch die Rezeption 727 Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 404. Dieser Hinweis darf dabei nicht unterschätzt werden, zeigt er doch, dass Barth Nietzsche als einen Denker betrachtet, der sich einer eingehenderen Betrachtung lohnt. 728 Vgl. Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 257f. 729 Vgl. Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 259f. 730 Vgl. Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 260. 731 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 262. 732 Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 262.
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Nietzsches verstanden werden. »[O]b Barth damit den fundamentalen Charakter des Angriffs, den Friedrich Nietzsche auf Christentum und Theologie insgesamt führte, wirklich zur Kenntnis genommen und beantwortet hat«, könne hierbei nach Peter als eine offene Frage gestellt werden.733 Gleich wie man die These Peters bezüglich einer unspezifischen NietzscheRezeption im RÖ I und einer systematischeren in RÖ II beurteilen möchte, zeigt der Vergleich der Nietzsche-Rezeption in beiden Auflagen unbestreitbar gewisse Veränderungen. Gleichzeitig bleibt die zentrale Frage dabei, wie diese Veränderung zu deuten sind. Sind sie wirklich Zeugnis einer vertieften, systematischeren oder gar veränderten Nietzschelektüre Barths? Oder aber verdeutlichen und verfestigen die Bezugnahmen im RÖ II vielleicht nur das, was im RÖ I und den dort zu findenden Nietzschebezügen bereits angelegt wurde? Da nicht davon ausgehen ist, dass Barth erst durch die literarische und denkerische Beschäftigung mit Nietzsche seine neuerlichen Gedanken in Bezug auf Wirklichkeit und Glauben gewonnen zu haben scheint, sondern er diesen Impetus vor aller Nietzsche-Lektüre in sich trug, ist damit ebenso mit einiger Sicherheit die Vorstellung abzulehnen, dass Barths theologisch-inhaltlichen Veränderungen in der zweiten Auflage des RÖ zentral von einer veränderten Nietzsche-Lektüre herrühren könnten. Nietzsche ist, ähnlich wie Dostojewski oder auch in gewissem Sinne Goethe und andere außerbiblische Autoren, Gewährsmann, nicht der Initiator barth’scher theologischer Gedanken. Es scheint also von Bedeutung zu sein, sich die entscheidenden thematisch-inhaltlichen Veränderungen zwischen erster und zweiter Auflage zu verdeutlichen und diese wiederum mit der Nietzsche-Rezeption ins Gespräch zu bringen. Dabei ist es ebenfalls zentral darzustellen, in welchem inhaltlichen Verhältnis RÖ I und II gedacht werden. Der wohl größte und eindrücklichste Unterschied zwischen beiden Auflagen liegt in der Beschreibung der Eschatologiemodelle. Barth ersetzt das Modell einer sich evolutionär-zeitlich einstellenden Eschatologie in der ersten Auflage mit einem Modell der Eschatologie, die jederzeit und immerwährend im Jetzt einbricht in der zweiten Auflage. Dieses immerwährende Einbruch der göttlichen eschatologischen Offenbarung führt sozusagen die eigene Existenz und die weltlichen Überzeugungen in die Krisis. Diese Eschatologie der Krisis wird für Barth zum krisenhaften Grund und Ursprung einer tragfähigen Neubesinnung auf die Offenbarung Gottes als deren heilswirksamen Lebenszeugnis in Jesus Christus. Dieses eschatologische Einbrechen des Ewigen im Jetzt stellt eine Präzisierung der barth’schen Vorstellung dar, die u. U. auch mit seiner vertieften Nietzsche-Lektüre korrelieren könnte. Da sich leider keine spezifischeren autobiographischen Belege Barths bezüglich seines Interesses an und Lektüre von
733 Vgl. Peter, Karl Barth als Leser und Interpret Nietzsches, 262.
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Nietzsche finden lassen können, kann nur versucht werden, sich der Problematik schrittweise anzunähern. Zuerst ist sich daher der grundsätzlichen Frage zuzuwenden, warum Barth Nietzsche in seinen RÖ-Auflagen überhaupt Beachtung schenkt. Werden Barths eigene Gedanken durch Nietzsche deutlicher, konturierter oder gar einsichtiger? Ist es die Beobachtung Barths, dass wenn Bibel und Gegenwart miteinander verbunden werden sollen, es gerade auf eine präzise Gegenwartshermeneutik und Exegese ankommt, zu der Nietzsche ihm einen Weg weist und sich ihm als Gewährsmann anbietet? Ist Nietzsche für Barth ein solcher Prophet der eigenen Gegenwart, der die Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts in ihren Umwälzungen und Herausforderungen treffend beschreibt und interpretiert? Nietzsche vielleicht gerade dafür Ausdruck und sprachlich unnachahmlich wirkmächtige Bilder findet, was der Gesellschaft in ihren Umbrüchen verloren zu gehen droht und andererseits, auf was es sich zu besinnen gilt, um in diesen Umwälzungen zu bestehen? Untermauert werden diese Vermutungen durch einzelne Belege in der Bezugnahme Barths, bei denen er explizit auf das religiösanthropologische Gespür Nietzsches verweist und ebenso durch die im Nietzschebuch Bertrams vorgetragene Sicht auf Nietzsche bestätigt werdeb, welches Barth selbst gelesen hatte734. »Weil dieser Mann mit seltener Reinheit das Seelengeschick seines Jahrhundertaugenblicks verkörperte und verdeutlichte, weil er die Unheilbarkeit seines Jahrhunderts zugleich war und sah, bekämpfte und erlitt.«735
Dieses Gespür für das menschliche Sein in seinen erkenntnistheoretischen und gesellschaftlichen Verstrickungen und dessen Beschreibung führt, wie Liang aufzeigen kann, Barth ebenfalls zur Rezeption Dostojewskis. Könnte sich die Nietzsche-Rezeption also in das ähnliche Themenmuster bei Barth fügen? Deutlich wird gerade für die literarischen Bezüge Barths in den RÖ-Auflagen, dass es für Barth etwas Vorbegriffliches, etwas lediglich existentiell Erlebbares in der Religion zu geben scheint, das gerade nicht durch logisch-philosophische Darlegungen oder rein theologische Konstrukte ergriffen werden kann, sondern dessen sich vielmehr durch die Form der künstlerisch-literarischen Ästhetik genähert werden kann. Gerade hierin liegt wohl der entscheidende Grund, dass Barth Poeten und Literaten gleichberechtigt zu theologischen Auslegungstraditionen im Kommentar seines Römerbriefes zu Wort kommen lässt und von ihnen Klärung des und Annäherung an das religiöse Erleben erhofft. Wohl auch
734 Vgl. Barth – Thurneysen, Briefwechsel, 419. 735 Bertram, Nietzsche, 7f.
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der vielzitierte barth’sche expressionistische Schreibstil ist höchstwahrscheinlich ein Ausdruck dieser Überzeugung.736 Könnte diese Fähigkeit wiederum vielleicht gerade in Nietzsches, so auch von Barth an verschiedener Stelle bescheinigten, unterschwelligen und tiefsinnigen Gespür für das Religiöse und seiner Gefühlswelten exemplarisch deutlich werden? Nietzsche selbst entdeckte in der christlichen Religion eine bemerkenswerte, geradezu widernatürliche innere instinkthafte Antriebsfähigkeit, die die Gläubigen in ihrem religiösen Eifer absichtlich in der Unwahrheit über ihr Sein verharren ließe und so – zwar in fataler Weise – die eigene Wirklichkeit ordne und scheinbare Wahrheiten schaffe: »Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig-stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werthe der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrt.737 […] [D]ieser depressive und contagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Werth-Erhöhung des Lebens aus sind.738«
Dieses christlich-religiöse Missverhältnis der Werte, das Nietzsche »auf den falschen Boden, wo jede Natur, jeder Natur-Werth, jede Realität die tiefsten Instinkte der herrschenden Klasse wider sich hatte«739, zurückführt, gelte es abzustreifen und zum wahren und vitalen Ursprung religiös-instinkthafter Gedanken zu gelangen. Diese lebensdienliche, weil existentiell befreiende Religiosität entdeckt Nietzsche im inneren »idiotenhaften« Seelenzustand des Wanderpredigers Jesus von Nazareth, der in seiner Verkündigung eklatant missverstanden worden sei. Nietzsche schreibt: »[…] Idiot. […] Man übersetzte sich einen solchen physiologischen habitus in seine letzte Logik – als Instinkt-Hass gegen j e d e Realität, als Flucht in’s ›Unfassliche‹, in’s ›Unbegreifliche‹, als Widerwille gegen jede Formel, jeden Zeit- und Raumbegriff, gegen alles, was fest, Sitte, Institution, Kirche ist, als Zu-Hause-sein in einer Welt, an die keine Art Realität mehr rührt, einer bloss noch ›inneren‹ Welt, einer ›wahren‹ Welt, einer ›ewigen‹ Welt … ›Das Reich Gottes ist in euch‹ …«740
736 »Unruhe, Sehnsucht, eine fundamentale Opposition gegenüber allem Bestehenden« – mit diesen Schlagwörtern charakterisiert McCormack Barths und Thurneysens gemeinsame Sicht in ihrer frühen Schaffensperiode, die sie mit der »Außenseiterposition« des Expressionismus verband. »In Barths Schriften der Vorkriegszeit lässt sich eine Kollision von zwei Welten feststellen: eine vergehende Welt und eine Welt, die geboren werden wollte.« McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 54. 737 Nietzsche, »Der Antichrist«, 171. 738 Nietzsche, »Der Antichrist«, 173. 739 Nietzsche, »Der Antichrist«, 197. 740 Nietzsche, »Der Antichrist«, 200.
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Nietzsche stellt einen auffallenden Unterscheid zwischen dem ursprünglichen jesuanischen Religionsgedanken und eines sich daraus ergebendenWirklichkeitsverständnis, im Gegenüber zur Religiosität des vorfindlich Christlichen fest, den es unter allerlei Anstrengungen zu eliminieren gelte: »Einstweilen klafft ein Widerspruch zwischen dem Berg- See- und Wiesen-Prediger, dessen Erscheinung wie ein Buddha auf einem sehr wenig indischen Boden anmuthet, und jenem Fanatiker des Angriffs, dem Theologen- und Priester-Todfeind […] die ersten Jünger in Sonderheit übersetzten ein ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmendes Sein erst in die eigne Crudität […].«741
Auch Nietzsche sieht das menschliche Sein in einer Krisis verhaftet, die auf den Menschen hereinbricht und diesen an den Rand der eigenen Existenz zu führen hat. Die Erkenntnis der Krisis ist dabei der nötige Ausgangspunkt für einen neuerlichen Aufbruch. Obwohl es keine direkten textlichen Belege dafür gibt, dass Barth diese Passagen Nietzsches gekannt haben könnte, markieren diese Ausschnitte gleichzeitig solche Grundüberzeugungen Nietzsches zur Krisis des Menschlichen, wie sie auch in den von Barth zitierten Sinnabschnitten schemenhaft gefunden werden können. Sie können daher schemenhaft andeuten, in welchen strukturellen Interpretationsmustern Nietzsche von Barth verortet und geschätzt wurde. Denn auch Barth macht sich an eine umfassende Religionskritik, die er dadurch zu legitimieren sucht, dass die religiöse Gebärde Ausdruck eines Missverhältnisses und einer inneren Krudität bezüglich einer wahren Glaubenspraxis darstellte.742 Beiden geht es um eine lebensdienliche Authentizität zwischen Grund und Bestimmung des menschlichen Seins.
741 Nietzsche, »Der Antichrist«, 202. 742 Vgl. hierzu IV.2.3.4.
IV.
Die »Kirchliche Dogmatik«
IV.1 Vom Dialektiker zum Dogmatiker – auf dem Weg zur »Kirchlichen Dogmatik« Wohl eindeutig kann in Karl Barths theologischem Œuvre die »Kirchliche Dogmatik« (KD) als sein opus magnum ausgemacht werden, in dem er sein theologisches Denken und dessen gestalterischen Anspruch für die Gegenwart bündeln und ausbreiten konnte. Selbstverständlich gab es auf dem Weg zu diesem epochalen Werk Zwischenschritte, einschneidende theologische Begegnungen und Fragestellungen, die Barth zu Justierungen und Korrekturen seiner Theologie brachten. Für die Studie geht es nun nicht in erster Linie darum, diese Entwicklungen minutiös und chronologisch darzustellen, sehr wohl jedoch darum, diesen Weg in seinen entscheidenden systematischen Schritten nachzuvollziehen, um Barths Nietzsche-Rezeption in der KD entsprechend verstehen und würdigen zu können. Auf diesem Wege zur Erarbeitung und Veröffentlichung der KD sind wohl besonders die drei akademischen Werke Barths »Unterricht in der christlichen Religion«743 (1924–1926), »Die christliche Dogmatik im Entwurf. Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik«744 (1927) und »Fides quaerens intellectum«745 (1931) von besonderer Bedeutung. Alle drei Arbeiten
743 Karl Barth, »Unterricht in der christlichen Religion, Bd. I Prolegomena (1924), Bd. II Die Lehre von Gott/Die Lehre vom Menschen (1924/1925), Bd. III Die Lehre von der Versöhnung/ Die Lehre von der Erlösung (1925/1926) (Gesamtausgabe Abt. II), Zürich 1985–1990. 744 Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. I. Band: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik (1927) (Gesamtausgabe, Abt. II), Zürich 1982. Diese Arbeit stellt eine Überarbeitung des I. Bandes des »Unterrichtes« dar, wobei mit McCormack und Beintker die Überarbeitung inhaltlich nicht als zu gravierend eingeschätzt werden darf. »Tatsächlich enthalten die Prolegomena von 1927 wenig Neues. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 318. 745 Karl Barth, fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms (Gesamtausgabe, Abt. II), Zürich 1981.
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Die »Kirchliche Dogmatik«
sind Werke, in denen Barth sein theologisches Konstrukt sukzessive nach verschiedenen Seiten absicherte, damit schrittweise fokussierte und korrigierte. Den äußerlichen Grund für einen wirkmächtigen Einschnitt in Barths Schaffen nach den RÖ-Auflagen, bildete sicherlich in erster Linie sein Abschied aus dem Gemeindepfarramt in Safenwil und sein universitärer Ruf, zuerst als Honorarprofessor nach Göttingen im Herbst 1921 und zum WS 1925/1926 auf die ordentliche Professur für Reformierte Theologie nach Münster. Als besonders markant zeigte sich in dieser beruflichen Veränderung dabei Barths Hinwendung zum Themengebiet der Dogmatik, die sich in einer intensiven Beschäftigung mit dem materialen Bestand der christlichen Religion zeigte. Beintker charakterisiert diese Veränderung folgendermaßen: »Hatte Barth in der Zeit der Arbeit am Römerbrief Theologie primär als Verkündigung und Schriftauslegung praktiziert, was durchaus seiner Tätigkeit als Gemeindepfarrer entsprochen hatte, so unterscheidet er nun zwischen Theologie als Verkündigung und Theologie als dogmatischer Lehre.«746
Barth unternahm erste Versuche, die in den Römerbriefauflagen beschrittenen theologischen Wege in dogmatischer Weise abzusichern und so ein tragfähiges theologisches Konstrukt zu entwickeln. Dabei blieb sich Barth – so viel kann jetzt schon festgehalten werden – im Kern seiner theologischen Begründungslinie stets treu, sah »die Begründung der Theologie im Wahrheitsanspruch des göttlichen Wortes verankert« und gerade nicht, wie manche seiner Zeitgenossen, in einer »neuzeitliche[n] Theologie [mit ihren] historisierenden Neigungen, cartesianischen Subjektbegründungen oder propädeutisch gemeinten Anknüpfungen an die Situation des heutigen Menschen«.747 In seiner Göttinger Zeit und der sich anschließenden Münsteraner Zeit »rückt das Dogma als Kristallisationskern theologischer Lehre ins Zentrum«748. In der Definition Barths bedeutet Dogmatik: »Die Bemühung um die Erkenntnis des rechtmäßigen Inhalts christlicher Rede von Gott und vom Menschen«.749
Barth macht damit deutlich, dass sich eine Dogmatik immer auf eine christliche Rede zu beziehen habe, die ihr vorgängig sei und zu der sie sich in korrektiver Weise als »Bemühung um die Rechtmäßigkeit« und »Sachgemäßheit ihres Inhalts« in Verbindung zu setzen habe.750 Dabei grenzt Barth die Dogmatik und ihre Wirksamkeit auf die christliche Rede von der Homiletik, als einer »Bemü746 Michael Beintker, Der Dialektiker als Dogmatiker, in Barth-Handbuch, hg. von Michael Beintker, Tübingen 2016, 206–210, 207. 747 Beintker, Der Dialektiker als Dogmatiker, 207f. 748 Beintker, Der Dialektiker als Dogmatiker, 209. 749 Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 1. 750 Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 1.
Vom Dialektiker zum Dogmatiker – auf dem Weg zur »Kirchlichen Dogmatik«
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hung um die rhetorische Wirksamkeit« und von der Apologetik, als einer »Bemühung um ihre inhaltliche Überzeugungskraft für die Angeredeten« ab.751 So gesehen, wird die christliche Rede insofern zum Inhalt der dogmatischen Aufgabe, als dass sie sich aus der »Wirklichkeit« und »Offenbarung« des Wortes Gottes speist, wie es sich in der »Heiligen Schrift« bezeugt und in der »Verkündigung der Kirche« ausgesprochen und tradiert wird. Dabei festigte sich Barths grundsätzliche Überzeugung, wonach die sogenannten Prolegomena »nicht als wissenschaftstheoretisch abgesicherter Begründungsdiskurs vor der Dogmatik«752 zu entfalten seien, sondern selbst bereits Dogmatik sind. Barth schreibt im Einleitungskapitel seines »Unterricht in der christlichen Religion«: »Prolegomena hat eine Wissenschaft dann nötig, wenn sie ihrer Voraussetzungen nicht mehr recht oder noch nicht wieder sicher ist, wenn man sich erst wieder darüber einig werden muß, was man da eigentlich treiben will, mit welchem Recht und mit welchen Mitteln man das, was man will, treiben will, wenn man die Selbstverständlichkeiten, mit denen jede Wissenschaft anfängt, leider nicht mehr – oder eben, hoffnungsvoller ausgedrückt: noch nicht wieder – versteht«.753
Daher könnte man unter Umständen Barths Römerbriefkommentare unter diese Kategorie eines solchen absichernden Versuch der Prolegomena subsumieren, in denen er das Verhältnis von Gott und Mensch und der den Menschen in seiner Offenbarung ansprechenden Gott ausbreitete. Denn im biblischen Zeugnis, und dessen existentieller Botschaft vom rettenden Gott und vom zu erlösenden Menschen, findet sich genau jene Voraussetzung, die jegliche theologische Rede von Gott, dem Menschen und seinem Glauben erst möglich macht. Als die Grundlage der christlich-theologischen Rede von Gott gilt für Barth schlicht das Faktum der Offenbarung Gottes, das »deus dixit«, welches er in seiner berühmten Ausformulierung der dreifachen Form des göttlichen Wortes in »Das Wort Gottes als Offenbarung [das Reden Gottes]«, »Das Wort Gottes als heilige Schrift« und »Das Wort Gottes als christliche Predigt« begreift.754 »Man kann das Problem der Möglichkeit der Offenbarung ernsthaft nur aufwerfen und behandeln wissend um ihre Wirklichkeit, man kann sie grundsätzlich nur a posteriori konstruieren. Alles Nachdenken darüber, wie Gott sich offenbaren kann, ist wirklich nur ein Nach-Denken der Tatsache, daß Gott sich offenbart hat.«755
Neben dieser dogmatischen Annäherung an die Offenbarungskategorie als dem unhintergehbaren Grund einer christlichen Rede von Gott, zeigt sich auch eine christologisch-dogmatische Erkenntnis Barths als eine entscheidende Weg751 752 753 754 755
Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 1. Beintker, Der Dialektiker als Dogmatiker, 24. Barth, Unterricht in der christlichen Religion I, 24. Vgl. Barth, Unterricht in der christlichen Religion I, V. Barth, Unterricht in der christlichen Religion I, 185.
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Die »Kirchliche Dogmatik«
marke. Die christlogische Erkenntnis dieser Jahre ist Barths »Entdeckung der altkirchlichen Vorstellung der Anhypostasie und Enhypostasie der Person Christi«756. In den Auseinandersetzungen der Alten Kirche rund um die Themengebiete des christologischen Dogmas kamen die Synoden des 4. und 5. Jahrhunderts zum Schluss, dass »Christus als eine Hypostase (=Person) in zwei Naturen (=Wesen)«757 gedacht werden muss und verstanden so Jesus Christus wesensgleich mit dem Vater und ebenso wesensgleich mit der Menschheit, wobei beide Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar zu denken sind.758 Für Barth wird hierbei nun interessant, dass durch diese altkirchlichen Gedanken zum Personsein Christi die »Dialektik von Verhüllung und Enthüllung« Gottes in der Welt in seiner Theologie dogmatisch neu ausbuchstabiert werden konnte.759 Die zweite Person der Trinität wird so gesehen zum alleinigen Subjekt des Handelns und Denkens in der menschlichen Person Jesus von Nazareth und die Rede von Jesus als dem Christus erhält eine dogmatisch anschlussfähige Interpretationsweise. McCormack hält darüber hinaus für entscheidend, dass Barth nun die »kritische Unterscheidung zwischen Gott und Mensch«760 nicht länger in der eschatologisch gedachten »Zeit-Ewigkeit-Dialektik« lokalisieren musste, sondern nun christologisch in der menschlichen Gegenwart fundiert werden konnte. In der Person Jesu Christi musste nun die überzeitliche und transzendente göttliche Offenbarung »nicht länger auf einen »mathematischen Punkt« (das Ereignis des Kreuzes)« beschränkt werden, sondern »konnte nun die gesamte irdische Existenz des Mittlers umfassen«.761 Durch die altkirchliche Vorstellung von Anhypostasie und Enhypostasie »kann er [sc. Barth] die Gegenwart der zweiten Person der Trinität in der Geschichte als den vollständigen Eingang eines Subjekts in den Widerspruch der menschlichen Existenz sowie dessen Überwindung denken, ohne dass damit die Offenbarung historisiert würde«762. Das göttliche Sein ist damit jederzeit in der geschichtlichen Person vorstellbar, ohne mit ihr identisch zu werden oder gar auf einer erkenntnistheoretischen Ebene gänzlich und vollumfänglich beschreibbar zu werden. Eine Einsicht, die im Besonderen auf Barths christologischer Anthropologie einen entscheidenden Einfluss nehmen wird. 756 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 281. 757 Christian Danz, Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 77. 758 Vgl. Glaubensbekenntnis von Chalkedon (DH 301 f; NR 178). Rochus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, Göttingen 42009, 279. 759 Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 281. 760 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 281. 761 Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 281f. 762 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 310.
Vom Dialektiker zum Dogmatiker – auf dem Weg zur »Kirchlichen Dogmatik«
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IV.1.1 »Fides quaerens intellectum« – Barths Auseinandersetzung mit Anselm von Canterbury Karl Barth wurde in den Jahren 1938 und 1948 von der amerikanischen Zeitschrift »The Christian Century« »dringend [dazu] aufgefordert […], in Kürze die Frage nach den in den je vorangegangenen zehn Jahren erfolgten Veränderungen seiner Einstellung und seiner Ansichten zu beantworten«763. Dieses schriftliche Ergebnis bietet auf seinen wenigen Seiten zwar einerseits einen sehr subjektiv-autobiographischen Zugang zu Barths theologischem Werden und zeigt doch andererseits gleichzeitig den Barth, wie er sich im Werden seines Denkens selbst verstand und wohl auch verstanden wissen wollte. So gewinnt dieser Artikel für die vorliegende Betrachtung an Brisanz, da er Barth im Rückblick ermöglichte, die zentralen und gewichtigen Veränderungen selbst auszuleuchten und darzustellen.764 Zu Beginn der Skizze verwundert es daher wenig, dass Barth zuerst festhält, dass es in den vergangenen Jahrzehnten an seiner grundlegenden Orientierung am Wort Gottes als der, »die christliche Kirche, Theologie, predigt und Mission begründende[n], erhaltende[n] und weiterführende[n]«765 Kategorie nichts verändert habe. Vielmehr beschreibt er die Veränderung dieser zehn Jahre zwischen 1928 und 1938 mit den beiden Stichwörtern »Vertiefung und Anwendung«766. Unter dem Begriff der »Vertiefung« verweist Barth auf seine Auseinandersetzung mit Anselms Theologie und schreibt: »Ich hatte mich in diesen Jahren von den letzten Resten einer philosophischen bzw. anthropologischen […] Begründung und Erklärung der christlichen Lehre zu lösen. Das eigentliche Dokument dieses Abschieds ist […] das 1931 erschienene Buch über den Gottesbeweis des Anselm von Canterbury, das ich von allen meinen Büchern mit der größten Liebe geschrieben haben meine […]«767
Weiter schreibt Barth, dass er durch diese Beschäftigung zur Erkenntnis gelangt sei, »daß die christliche Lehre ausschließlich und folgerichtig und in allen ihren Aussagen direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als von dem uns gesagten 763 Barth, »Parergon«. Karl Barth über sich selbst, in Evangelische Theologie, 8. Jahrgang 1948, 268–282, 268 Fußnote. 764 Gleichzeitig muss hier mit der historisch-kritischen Brille McCormacks ohne jeden Zweifel die Frage nach der Objektivität dieser biographischen Aussagen gestellt werden und damit dieser Artikel nicht als das letztgültige Zeugnis der barth’schen theologischen Entwicklung gesehen werden. Für die genaue und detaillierte Entwicklung verweise ich auch an dieser Stelle auf die grundlegende Arbeit McCormacks, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 352–354. 765 Barth, Parergon, 269. 766 Die Anwendung dieser Einsicht sieht Barth in seinem Engagement in der Bekennenden Kirche vollzogen. Vgl. Barth, Parergon, 273–275. 767 Barth, Parergon, 272.
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lebendigen Wort Gottes sein muß«768. So gesehen, verstand Barth Anselms Gottesbeweis »im Rahmen seines [sc. Anselm] theologischen Programms, das heißt als Teil eines Wegs des theologischen Erkennens«769. Entsprechend beschreibt Barth seine, sich daran anschließenden Werke, im Sinne einer »christologischen Konzentration« inspiriert. Interessanterweise geht Barth in den folgenden Zeilen auf den Vorwurf ein, sich durch diese christologische Konzentration hinter die »chinesische Mauer«770 einer theologisch-religiösen Sphäre zurückgezogen zu haben ein und widerspricht, dass er sich seit dieser Konzentrierung nie so sehr intensiv mit kulturellen wie poetischen Werken auseinandergesetzt und die Welt um sich herum in den Blick genommen zu haben. Diese Selbsteinschätzung lässt speziell aufhorchen und fragen, ob auch ein neuerlicher oder veränderter Zugang zu Nietzsche hier einen ursächlichen Ausgangspunkt gefunden haben könnte. Über die Frage, als wie neu und revolutionär sich Barth in seinem AnselmBuch präsentiert und dieses womöglich den Anlass der grundlegenden Überarbeitung seiner »Christlichen Dogmatik« hin zur »Kirchlichen Dogmatik« gebildet haben könnte, herrscht in der Forschung eine breite Diskussion, die hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden soll. Grundsätzlich steht dabei die Frage im Raum, in welcher Kontinuität bzw. Diskontinuität das Anselm Buch im Œuvre des barth’schen Werkes verortet werden muss. Im Folgenden soll sich der stichhaltigen Meinung Beintkers771 und McCormack772 angeschlossen werden und im Anselm-Buch keine Revolution des barth’schen Denkens entdeckt werden, sondern vielmehr eine Art stringente Summa der bisherigen Ansichten und Kumulierung seiner grundlegenden Gedanken, die zu einer »theologischen Rationalität«773 im Sinne einer spezifischen Ausdifferenzierung seiner dialektischen Methode führte.774 Barth nennt als Motivation zur Abfassung seines Anselm-Buches sehr verschiedene Punkte. Zum einen sei da eine über Jahre sich erstreckende Beschäftigung mit Anselm zu nennen775, die ihn im Sommersemester 1930 zu 768 769 770 771 772 773 774 775
Barth, Parergon, 272. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 354. Barth, Parergon, 272. Vgl. Michael Beintker, Fides quaerens intellectum, in Barth-Handbuch, hg. v. ders., Tübingen 2016, 211–216, 214f. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 354. Michael Beintker, Die Dialektik in der »dialektischen Theologie« Karl Barths. Studien zur Entwicklung der Barthschen Theologie und zur Vorgeschichte der »Kirchlichen Dogmatik«, München 1987, 193. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 362–368. Ein erstes Seminar zu Anselm bot Barth im Sommersemester 1926 an, wobei schon 1924 im Unterricht Anselms Bonmot des »credo ut intelligam« fällt. Vgl. Beintker, Fides quaerens intellectum, 213.
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einem neuerlichen Anselm-Seminar brachte und in dessen Verlauf es zu einem Gastvortrag, auf Einladung seines »philosophischen Freundes Heinrich Scholz«776, gekommen sei. Dabei sei es ihm vor allem darum gegangen, sich »mit dem problematischsten Anselm, dem Anselm von Proslogion 2–4, zu beschäftigen, [seine] Stellung zu ihm zu befestigen und konkret zu klären«777. Beintker verweist für diesen Zusammenhang der Entstehung des AnselmBuches auf eine aufschlussreiche Rezension Gogartens über Barths »Christliche Dogmatik im Entwurf«, die dieser 1929 in der Theologischen Rundschau veröffentlichte und Barth selbst in der KD I/1 128–136 in ihrer inhaltlichen Kritik als rechtmäßig anerkannte. Gogarten wirft Barth in seiner inhaltlich am Kapitel 5, I »Das Wort Gottes und der Mensch als Prediger« aufgehängten Kritik grundsätzlich das »Fehlen einer eigentlichen Anthropologie«778 vor, den im »Widerspruch zu Gott und mit sich selbst befindlichen Menschen«779 nicht eigens und ausführlich zu thematisieren. Zwar stimmt Gogarten mit Barth überein, dass eine solche noch zu erarbeitende Anthropologie eine besondere theologische Prägung aufweisen müsse und nicht dem »weithin verbreiteten Wissenschaftsbegriff«780 entsprechen dürfe. Dies führe jedoch nach Gogarten unweigerlich zur speziellen Thematik der Prolegomena, nämlich zur »Frage des Verhältnisses von Theologie und Philosophie und was sonst damit zusammenhängen mag. […] Daß diese Untersuchung fehlt, hängt auf das allerengste zusammen mit der Unterschätzung der Anthropologie«781, so das Fazit Gogartens. »Da heute die theologischen Probleme fast alle in religionswissenschaftliche umgebogen sind, so ist es von unerläßlicher Wichtigkeit, daß die Begriffe, die man in der theologischen Untersuchung gebraucht, losgelöst werden von der mit ihnen herkömmlicherweise verbundenen Problemfassung.«782
Beintker vermutet, dass diese Auseinandersetzung um den angemessenen Raum für eine christliche Anthropologie für Barth im Hintergrund in der Auseinandersetzung mit Anselm gestanden haben könnte und versteht diese Beschäftigung durchaus als eine geeignete Lesebrille für die barthsche Interpretation der Rolle des zeitgenössischen Anselm Kritikers Gaunilo von Marmoutiers783. Hinter 776 Barth, Fides quaerens intellectum, 1. 777 Barth, Fides quaerens intellectum, 1. 778 Friedrich Gogarten, Karl Barths Dogmatik, in Theologische Rundschau, 1. Jahrgang 1929, 60–80, 66. 779 Gogarten, Karl Barths Dogmatik, 66. 780 Gogarten, Karl Barths Dogmatik, 66. 781 Gogarten, Karl Barths Dogmatik, 66f. 782 Gogarten, Karl Barths Dogmatik, 67. 783 »Gaunilo hat in Barths Interpretation unverkennbar cartesianische Ambitionen; in seinen Fragen schattet sich der subjektfixierte Paradigmenwechsel des 17. Jahrhunderts ab.« Beintker, Fides quaerens intellectum, 215.
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dieser Figur, so vermutete Beintker, seien »unschwer auch die Positionen Gogartens und Brunners auszumachen«784. Anselm wird für Barth der Denker mit dessen Hilfe er dieser aufkommenden Kritik einer mangelnden anthropologischen Fokussierung seiner Theologie zu begegnen versucht. Im Zusammenhang mit Barths Anselm-Buch ist nochmals auf den spezifischen theologischen Zugang Barths zur Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes, als dem allem anderen vorangehenden »deus dixit« hinzuweisen. McCormack fasst Barths Grundannahme, wie sie sich in seiner »Christlichen Dogmatik im Entwurf« gerade auf dem Hintergrund der altkirchlichen Vorstellung von Anhypostasie und Enhypostasie zeige, wie folgt zusammen: »Das Wort Gottes, ist der Gegenstand des dogmatischen Denkens, ist kein »Objekt« im gewöhnlichen Sinn. Das Wort Gottes ist das Subjekt, das sich in gewöhnlichen Objekten verhüllt oder verbirgt, um sich bekannt zu geben. Dabei verwandelt es sich aber nicht in diejenigen Objekte, durch die es verhüllt wird. Es macht sich selber gegenständlich in unserer Welt, ohne seine Nichtgegenständlichkeit uns seine unaufhebbare Subjektivität aufzugeben.«785
Bereits zur Zeit seines ersten Dogmatik-Entwurfs hatte sich Barth mit Anselm und dessen Erkenntnisweg auseinandergesetzt und kommt dort auf Anselm zu sprechen, wo es ihm um das »intelligere« der Existenz Gottes geht: »Welcher Erkenntnisweg führt mich zu der Wirklichkeit, wer oder was gibt mir das Recht, mit der Wirklichkeit überhaupt zu rechnen, deren Existenz ich da verstehen will?«786
Einen Weg zu dieser Erkenntnis kann Anselm nach Barth nur in der Form des Gebets finden, also im Zutrauen auf die souveräne Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes, was von Barth entsprechend in seinem Leitsatz ausgedrückt wird: »Die Wirklichkeit des Wortes Gottes beruht schlechterdings in sich selber.«787 »Credo ut intelligam heißt: Mein Glaube selbst und als solcher ist mir Aufruf zum Erkennen.«788
So gesehen, geht es daher prinzipiell um eine »An-Erkenntnis« und ein »NachDenken«789, ein intelligere dessen, was als credo geglaubt wird. Diese Formel entspricht dabei Barths grundsätzlichem Verständnis der Theologie als Erklärung des Credos: 784 785 786 787 788 789
Beintker, Fides quaerens intellectum, 214. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 354f. Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 131. Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 135. Barth, Fides quaerens intellectum, 16. Vgl. Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 136.
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»Intelligere kommt zustande durch Nachdenken des vorgesagten und vorbejahten Credo«790.
Salopp fasst Barth seine Einsicht in einer Klammerbemerkung zusammen: »Anselm ist nicht Descartes!«791 und macht damit deutlich, dass die Existenz Gottes und eine Erkenntnis derselben nie in einem irgendwie gearteten begründenden Zusammenhang mit dem menschlichen Denken stehen könne. Vielmehr konträr sei demgegenüber die Selbstgewissheit des Menschen aus einer Gottesgewissheit heraus zu denken: »Die Theologie muß ganz primitiv umkehren von der Frucht zum Mut, sich zu ihrer wahren Meinung durch die Tat zu bekennen: die Selbstgewißheit des Menschen von der Gottesgewißheit aus zu verstehen und nicht umgekehrt, den Logos in uns vom Logos Gottes aus und nicht umgekehrt.«792
Mit Anselm unterscheidet Barth eine noetische ratio auf menschlicher Seite von einer ontischen ratio auf göttlicher Seite. »Das intelligere ist [dann] erfolgreich, wenn es zu einer vera ratio führt, wenn also die Vernunft des Suchenden (die noetische ratio) der Rationalität des Gegenstandes (der ontischen ratio) konform wird.«793
Das bedeute jedoch nach Barth nicht, dass das intelligere bereits aus der bloßen Anerkenntnis des Credos als Übereinkunft der göttlichen ratio mit der menschlichen ratio entspringen könne, sondern die anselmische ontische ratio wird »noch einmal in die ratio fidei des Credo und die dahinter liegende ratio veritatis«794 unterschieden. Diese ratio veritatis ist selbst jedoch »im Credo bzw. in der Bibel verborgen, und muß sich offenbaren, um sich uns bekannt zu machen. Sie tut dies aber nur, wenn und indem die Wahrheit, Gott selbst dies tut«795. Diese von Barth durchgeführte doppelte Unterscheidung entspricht dabei nicht ganz der Überzeugung Anselms, der selbst die ratio fidei mit der ratio veritatis gleichsetzt. Für Barth jedoch bleibt das intelligere Gottes stets ein Ereignis, das nie als abgeschlossen beurteilt werden könne: »Alle theologischen Aussagen sind ihrem Gegenstande inadäquat. Das uns gesagte Wort Christi als solches ist seinem Gegenstande nicht inadäquat, wohl aber jede, auch die höchste und beste gedachte oder gesprochene Wiedergabe dieses Wortes unsererseits.«796 790 Barth, Fides quaerens intellectum, 26. 791 Barth, Fides quaerens intellectum, 142. 792 Barth, Christliche Dogmatik im Entwurf, 145. So auch in Barth, KD I/1, 203–206. Vgl. dazu auch Beintker, Fides quaerens intellectum, 215. 793 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 359. 794 McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 359. 795 Barth, Fides quaerens intellectum, 47. 796 Barth, Fides quaerens intellectum, 28.
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Am Ende dieser Annäherung an Barths Beschäftigung mit Anselms Theologie kann der ambivalente Eindruck zurückbleiben, wonach Barth nicht unbedingt als ein besonders aufmerksamer und genauer Rezipient fremder Werke gesehen werden kann. Dieser gewonnene Eindruck kann nun auch in Bezug auf die Nietzsche-Rezeption einige kritische Anfragen zurücklassen. Diesem Eindruck gilt es insoweit entgegenzutreten, als dass in der Art wie Barth Anselm rezipiert, eine eklektische und subjektive Bezugnahme nicht abgestritten werden kann, wie sie auch in Bezug auf Nietzsche in den RÖ-Auflagen festzustellen ist. Bei Anselm ist es ein spezifisches Interesse, das Barth zur Lektüre und Auseinandersetzung führt und dort solche fruchtbare bzw. irritierende Versatzstücke entdecken lässt, die für sein theologisches Konstrukt dienlich und weiterführend zu sein scheinen. Daher macht sich Barth sozusagen mit Gedanken und bis dato ungelösten Problemen seiner eigenständigen theologischen Arbeiten an die Lektüre Anselms und kommt entsprechend seines Interpretamentes zu Einsichten, die sein theologisches Arbeiten abstützen bzw. deutlicher werden lassen. Dass diese spezifische anselmische Interpretation nicht einer genauen Exegese und Auslegung von Anselms eigener Intention entspricht, ist dabei für die Fragestellung dieser Studie zweitrangig, da genau jene vorfindliche Auslegung von Anselm Barth zu seiner weiteren theologischen Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung bringt, die es hier zu betrachten gilt. In gleicher Weise gilt dies auch für Rezeption Nietzsches in Barths theologischem Denken. Denn es würde andererseits für die Beurteilung der Rezeption Nietzsches im systematischen Ansatz dieser Studie wenig Ertrag versprechen, Barths Anselm- oder auch Nietzsche-Rezeption in der bloßen Stringenz und Konsistenz zu ihrer jeweiligen Bezugsgröße zu exegetisieren und zu bewerten. Es geht vielmehr darum, die wirkungsästhetischen Auswirkungen der Nietzsche-Rezeption – in der Analogie wie dies bereits für die Anselm-Rezeption geschehen – in den Blick zu nehmen.
IV.2 Die »Kirchliche Dogmatik« 1932 veröffentlichte Karl Barth den ersten Teilband seiner »Kirchlichen Dogmatik« und schrieb im Vorwort: »Als ich vor nunmehr fünf Jahren die Lehre vom Worte Gottes« als ersten Band einer »Christlichen Dogmatik im Entwurf« an die Öffentlichkeit gab […] [zeigte] der gedruckt vor mir liegende erste Band […] mir zu deutlich […], wie viel ich selbst geschichtlich und sachlich noch zu lernen habe«.797 797 Vgl. Barth, KD I/1, 1.
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Zweifellos kam es in den Jahren 1927–1932 in Barths Denken zu Veränderungen und Klarstellungen, die im Vorherigen an ausgewählten autobiographischen und schriftlichen Ausschnitten versucht wurden, nachzuzeichnen. Herms benennt als den übergeordnete Bezugspunkt der Veränderungen in Barths Denken, die zwischen der ersten Fassung einer »Christlichen Dogmatik im Entwurf« und seiner »Kirchlichen Dogmatik« stattgefunden haben, die Entdeckung der Kategorie der Kirche »als den exklusiven Möglichkeitsraum für alle menschliche Theologie […] und als solche zugleich auch das exklusive Subjekt der Theologie und ihr Gegenstand, durch den der Theologie nicht nur alle ihre Aufgaben gestellt, sondern zugleich auch die Mittel zu deren Lösung an die Hand gegeben seien«798. Die Kirche wird somit zur entscheidenden Kategorie der theologischen Reflexion und einer daraus folgenden Verkündigung. Denn christlicher Glaube bedeutet für Barth, sich inmitten eines wirklichkeitsverändernden Ereignisses wiederzufinden, das es zu beschreiben und weiterzugeben gilt. Daher verändert sich mit der Fokussierung von einer »Christlichen« hin zu einer »Kirchlichen« Dogmatik Entscheidendes. Barths früheres reines Interesse am Dogma lichtet sich und wird wieder in die je konkrete Verkündigungssituation überführt, denn das Problematische der eigenen Gegenwart fordert den christlichen Glauben dazu heraus, seine überzeitliche Wahrheit konkret in dieser Krisis der Gegenwart zu reformulieren. Für diese Reformulierung bedarf es jedoch einer Verständigung darüber, was den christlichen Glauben im Kern als dessen inhaltliche und strukturierende Grammatik begründet und zusammenhält. Nach Herms sollten in dieser zunehmenden ekklesiologischen Profilierung der barth’schen Theologie im Sinner eines spezifischen Möglichkeitsraum göttlicher Offenbarung und christlicher Rede, verschiedene Wegmarken näher ins Auge gefasst werden. Als Ausgangslage der Entdeckung beschreibt Herms »die Erfahrung des Mißverhältnisses der Universitätstheologie, wie Barth sie selbst kennengelernt hatte, zu den von ihm in Safenwil erlebten realen Aufgaben des pfarramtlichen Dienstes, insbesondere der Predigt«799. Es ist diese Erfahrung der pfarramtlichen Wirklichkeit wohl eine solche, die Barth Zeit seines Lebens in sich trägt und ihr zu begegnen versucht. Sein berühmtes Diktum aus seinem Vortrag »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie« (1922) des nicht Redenkönnens bei gleichzeitigem Redensollens des göttlichen Wortes und dieses 798 Eilert Herms, Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie als Rahmentheorie der Dogmatik und seine Kritik am neuzeitlichen Protestantismus, in Karl Barth in Deutschland (1921– 1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. Bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, 141–186, 141. 799 Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 141. Wobei hier auf den bereits dargestellten frühen Aufsatz Barths Reichsgottesarbeit verwiesen werden muss, der diese Erfahrung schon 1909 ins Auge fasste.
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scheinbare Dilemma als Verkündigungssituation bewusst anzuerkennen und auszuhalten, hebt die Problematik eines Missverhältnisses der je konkreten Predigtsituation in eine dogmatisch greifbare Ebene und ist damit für Barth auf die »Situation der Kirche schlechthin«800 zu übertragen. Damit bildet die Verkündigungssituation als Mensch von Gott zu sprechen »nicht eine zufällige, sondern eine strukturelle« Situation kirchlichen Seins und ihrer Verkündigung ab.801 Für Barth wird eine Theologie nur dann sachgemäß, wenn sie um diese Notsituation weiß und zur Erkenntnis dieses Problems aus der Besinnung auf ihre Situation gelange, als die Kirche Jesu Christi zu Menschen zu sprechen. Barth postuliere in seinem Denken letztendlich das »Paradigma einer Theologie, die sich durch die gegenwärtige Situation kirchlicher Verkündigung in Dienst genommen und verpflichtet findet, den Gesichtspunkt der Besinnung, der Erinnerung, des Begreifens durchzuhalten, um auf diesem Wege zu einem praxisleitenden – und dabei Verrat am geschichtlichen Wesen des Glaubens vermeidenden und zu wesenserneuernden Reformen kräftigen – Verstehen des Sinnes dieser gegenwärtigen Situation zu gelangen, zum Verstehen ihrer konstitutiven Wesenszügen und zum Verstehen ihrer aktuellen Herausforderungen.«802 Diese definitorisch knappe Beschreibung des theologischen Programms, das Barth innerhalb seiner KD in eine dogmatische Form zu gießen versucht, gilt es nun noch etwas spezifischer darzustellen. Erik Peterson veröffentlichte 1925 einen Aufsatz mit Titel »Was ist Theologie?«, den er als eine direkte Antwort auf Barths bereits erwähnten Aufsatz »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie« konzipierte. Herms geht dabei soweit, »den Peterson-Aufsatz geradezu als die Skizze des Arbeits- bzw. Forschungsprogramms für die kommenden Jahre bis zur KD zu lesen«.803 Demnach habe 800 Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 146. 801 Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 147f. 802 Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 155. Herms sieht bei Barth die im Hintergrund stehende Sachfrage zu diesem Zeitpunkt dahingehend noch ungeklärt, ob diese Beschreibung einer persönlichen Erfahrung geschuldet sein könnte, oder doch auf eine strukturelle Ebene verweise. 803 Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 170, Fußnote 148. Peterson selbst wehrt sich seinem Aufsatz »Was ist Theologie?« (in ders. Theologische Traktate, München 1951, 9–43) vehement dagegen, mit dem dialektischen Ansatz Barths wahrhaftig von Gott »reden« zu können. Für ihn führt eine dialektische Redeweise gerade nicht zum Geheimnis Gottes und des christlichen Dogmas. Eine Dialektische Redeweise gehöre vielmehr in die Sphäre des Mythos und der Schriftstellerei, von der sich Theologie dezidiert abzusetzen habe. Er schreibt: »Denn das gehört gerade zu dem Ernste Gottes, daß er konkret sichtbar und daß er ganz undialektisch da ist, […] Und darin unterscheidet sich gerade der Ernst des Dialektikers von dem Ernste Gottes, daß, während der Ernst Gottes da ist, der Ernst des Dialektikers doch niemals da ist, sondern nur in der Form eines Ernstnehmens aller Möglichkeiten mythisch da ist, das heißt in einem nüchternen Sinne verstanden niemals da ist.«
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sich für Barth die wissenschaftliche Theologie nicht nur dem Dogma verpflichtet zu fühlen, sondern auch und gerade der jeweiligen gesellschaftlichen und damit kirchlichen Wirklichkeit, in der die Kirche ihr Zeugnisamt ausübe. Herms fasst den Ertrag dieser Auseinandersetzung mit Erik Peterson für Barth wie folgt zusammen: »Die konkrete Autorität, der die Theologie konkreten Gehorsam schuldet, ist die Autorität nicht nur des Dogmas, sondern der gegenwärtigen Zeugnissituation der Kirche, wie sie resultiert aus der Vergegenwärtigung der Offenbarung vermittelst des durch die Offenbarung selbst eingesetzten Zeugnisamtes der Kirche. Und der konkrete Gehorsam gegenüber der so verstandenen konkreten Autorität ist eine theologische Erkenntnisarbeit, die eben dieser geschichtlich-gegenwärtigen Situation des kirchlichen Zeugnisamtes dient, indem sie sich auf seine Konstituenten besinnt und dadurch für Orientierung in dieser Situation und ihren Zentralaufgaben sorgt.«804
Daher wird von Barth die spezielle Zeugnisbereitschaft der Kirche für ihre je eigene Gegenwart betont, in der sie sich zu den gegenwärtigen Herausforderungen und Anfragen zu stellen hat. Als letzte Pointe der Entdeckung einer ekklesiologischen Rahmentheorie für die Theologie benennt Herms Barths Ansicht, wonach »der Gegenstand der Theologie nicht abstrakt »das Dogma«, sondern konkret die »Vergegenwärtigung der Offenbarung«»805 bilde und dies wiederum von Barth unter zwei Aspekten näher bearbeitet werde. Zum einen, in welcher Beziehung »die gegenwärtige Zeugnissituation der Gesamtkirche als Vergegenwärtigung der Offenbarung zur Offenbarung selber steht« und daneben, welche ethischen Implikationen ein solches Verständnis der Theologie nach sich ziehe.806 Auch hier fasst Herms prägnant zusammen: »So enthüllt sich an der Dogmatik exemplarisch der Sinn der Theologie insgesamt: Sie »dient« der gegenwärtigen Zeugnissituation der Gesamtchristenheit, indem sie das menschliche Handeln in ihr (hier die Verkündigungsspähre, die Predigt) an dem in dieser gegenwärtigen Situation selbst manifesten Wesen der Glaubensgemeinschaft, am »Sein der Kirche«, prüft, indem sie damit von den diesem Sein und Wesen widersprechenden Vollzügen die ihm entsprechenden zu unterscheiden und folglich auch zu vollziehen erlaubt, und indem sie damit eine wesensgemäße Zeugnispraxis möglich macht.«807
804 805 806 807
(aaO. 13) Und weiter betont Peterson: »Wenn aber Theologie kein Schreiben von Gott und kein Reden von Gott ist, wenn sie keine Prophetie, keine Exegese, keine Predigt, keine Verkündigung, keine Bezeugung und keine Lehre ist, was ist sie dann? Antwort: Die Theologie ist die Formen konkreter Argumentationen sich vollziehende Fortsetzung dessen, daß sich die Logos-Offenbarung ins Dogma hinein ausgeprägt hat« (aaO. 27). Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 169. Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 170. Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 170f. Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 179.
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Somit gewinnt wohl für Barth auch die Auseinandersetzung mit Nietzsche in der KD an Brisanz, da sich Barth in Nietzsche einer spezifischen Gegenwartshermeneutik gegenübersieht, zu der es sich aus kirchlicher Sicht zu verhalten gilt. In der Verschiebung der Fokussierung der überzeitlich-abstrakten Kategorie des »Christlichen« hin zur eher konkret-zeitgeschichtlich gebundenen Kategorie der »Kirche«, die sich in ihrem Verkündigungsauftrag des Überzeitlichen in die Konkretheit des Zeitlichen versetzt sieht, greift Barth die »konstitutive Zusammengehörigkeit der Wirklichkeit der Kirche mit der Wirklichkeit des Wortes Gottes«808 pointiert heraus und kürt sie zur Aufgabenstellung seiner »Kirchlichen Dogmatik«. Diese Einsicht lässt damit auch die Bezugnahmen auf Nietzsche in einem besonderen Licht erscheinen, da sie für Barth wohl weniger als ein ewiger und überzeitlicher Angriffs auf das Christentum zu werten sind, sondern vielmehr als die zeitgebundene herausfordernde Verkündigungssituation der Kirche und ihrer Botschaft in der Moderne.
IV.2.1 Bezugnahmen in der »Kirchlichen Dogmatik« Bei den einzelnen Bezugnahmen in der KD ist mit der grundsätzlichen Schwierigkeit umzugehen, dass bis dato keine textkritische Ausgabe der KD vorliegt und deshalb in erster Linie auf Registereinträge der KD-Bände zurückgegriffen werden muss, um eine Nietzsche-Rezeption zu eruieren. Damit wird es jedoch schwierig bis unmöglich, alle Bezugnahmen auf Nietzsche zu entdecken. Und gleichzeitig ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass durch die Registerverweise und v. a. die ausführlichere Auseinandersetzung im Petitdruck der KD III/2 ein stimmiges und vollumfängliches systematisches Bild der barth’schen Nietzsche-Rezeption gezeichnet werden kann, auch wenn nicht jede einzelne Bezugsstelle im Werk der KD angezeigt und analysiert werden kann. Die folgende Auflistung geht wiederum chronologisch anhand der KD-Bände vor, wobei die Auseinandersetzung im Petitdruck der KD III/2 als eine Art Summa aufgefasst wird und daher am Ende der Aufzählung zu finden ist. Wichtig wird dabei jeweils sein, die Bezugnahme auf Nietzsche in die Gesamtarchitektur der KD und des übergeordneten Paragraphen einzuzeichnen und so die Nietzsche-Rezeption adäquat exegetisieren und würdigen zu können.
808 Herms, Ekklesiologie als Rahmentheorie, 142.
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IV.2.1.1 KD I – Die Lehre vom Worte Gottes KD I/2 – II. Kapitel: Die Offenbarung Gottes, Dritter Abschnitt: Die Ausgießung des Heiligen Geistes, § 18. Das Leben der Kinder Gottes, 3. Das Lob Gottes Mit § 18. beschreibt Barth nach den vorherigen Paragraphen über die objektive Seite der Herkunft und inhaltlichen Füllung der Offenbarung des Wortes Gottes nunmehr deren »subjektive Seite: wie sie [sc. die Offenbarung Gottes] zum Menschen kommt – anders ausgedrückt: mit einer Entwicklung des Glaubens, dann des diesem Glauben zugewandten Verstehens hinsichtlich der Freiheit, die Gott für uns, und hinsichtlich der Freiheit, die wir für Gott haben, hinsichtlich Jesu Christi also und hinsichtlich des Heiligen Geistes.«809 Diesen, die »Offenbarung empfangende[n], d. h. glaubende[n] und erkennende[n] Menschen«810 beschreibt Barth in der Trias eines neuerlichen innerlichen Seins, welches sich in seinem (1.) Handeln in der (2.) Liebe ausdrücke und dem (3.) Lobe Gottes zu dienen habe. Unter dem dritten Unterpunkt »Das Lob Gottes« behandelt Barth das Verhältnis von Gottes- und Menschenliebe im sogenannten Doppelgebot der Liebe, in dessen Zusammenhang er nochmals in einer genaueren Unterscheidung auf die Frage zu sprechen kommt, wer der jeweils Nächste sei und wie dieser zu qualifizieren sei. Barth spricht hierbei von der christlichen Nächstenliebe wiederum in einem Dreierschritt. So bedeute es in christlicher Nächstenliebe tätig zu werden, dass die Gläubigen zuerst »mit dem [1.] Nächsten reden von Jesus Christus und das wir ihm [anschließend] unseren [2.] brüderlichen Beistand leisten«811. Der dritte Aspekt drehe sich nun darum, in der Handlung selbst eine evangelisch-christliche Gesinnung durscheinen zu lassen und so von dem Zeugnis abzulegen, was vom Handelnden als die Wahrheit in Jesus Christus erkannt wurde. »Es geht um das Zeugnis einer Haltung in Wort und Tat, die in einer bestimmten Haltung Ereignis werden.«812
Barth selbst problematisiert diese dritte Anforderung einer durchscheinenden Haltung im Gespräch und in der Tat des Menschen dahingehend, dass sie sich als schwerlich konsequent einzuhalten und einzufordern zeige. Barth schreibt, ohne den Namen Nietzsche explizit zu nennen: »Was kann ich aber tun dafür, daß das Bild, das ich in meiner Person biete, ein evangelisches und weder ein heidnisches noch ein gesetzliches sei? […] Erlöster müßten mir die Erlösten aussehen.«813 809 810 811 812 813
Barth, KD I/2, 397. Barth, KD I/2, 398. Barth, KD I/2, 497. Barth, KD I/2, 496. Barth, KD I/2, 497.
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Barth formuliert die entscheidende Zuspitzung dieser ethischen Forderung mit Worten Nietzsches aus dessen »Also sprach Zarathustra« und ändert dabei den Wortlaut im Vergleich bei Nietzsche etwas ab. Im Original steht dort: »Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!«814
Barth nimmt sozusagen die Kritik des nietzscheanischen Zarathustras als die karikierende Überspitzung der Problemstellung einer authentischen Ausgestaltung der christlichen Lehre im menschlichen Leben an und fordert von der christlichen Haltung eine solche zu sein, die sich im Verantwortungsbewusstsein der Authentizität nicht nur punktuell, sondern generell im Leben und im Gegenüber zu anderen spürbar werden sollte. Es gelte ein Zeugnis »in Wort, Tat und Haltung«815 zu leben, wobei die letztendliche Verantwortung, dass die evangelische Gesinnung auch wirklich beim Nächsten ankomme, bei Gott liege, was jedoch nicht bedeute des Menschen »Verantwortungsbewußtsein« gänzlich von sich weisen zu können. Nietzsches Kritik einer mangelnden Authentizität der christlichen Botschaft und deren Künder wird zum Illustrator und Zuspitzer der barth’schen Argumentation, wobei Barth den Bezugsrahmen ändert. Wo Nietzsche die grundsätzliche Möglichkeit einer Authentizität des christlichen Glaubens bezüglich einer erlösten und damit lebensförderlichen Lehre verneint, wird von Barth die Kritik in einen binnenkirchlichen Kontext überführt und gefordert, dass die Überzeugungen des Glaubens und das Handeln des Glaubenden im Sinne einer authentischen Haltung in Kongruenz zueinander zu bringen seien. IV.2.1.2 KD II – Die Lehre von Gott KD II/2 – VII. Kapitel: Gottes Gnadenwahl; § 35. Die Erwählung des Einzelnen, 1. Jesus Christus, die Verheißung und ihre Empfänger Barth schließt sein VII. Kapitel über die Gnadenwahl Gottes nach den Paragraphen über die Erwählung Jesu Christi (§ 33.), die Erwählung der Gemeinde (§ 34.) im vorliegenden § 35. mit dem Blick auf das erwählte glaubende Individuum ab. Barth beschreitet so gesehen bereits in der systematischen Anlage seiner Erwählungslehre eine spezifische Pointierung derselben. Nicht das zu erwählende Individuum steht als Ausgangs- oder Zielpunkt im Mittelpunkt einer theologischen Erwählungslehre, sondern deren Grund und ekklesiologische Bezugsgröße, in dessen Rahmen wiederum auch das glaubende Individuum seine Stellung zu finden hat. 814 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 118. 815 Barth, KD I/2, 499.
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Im § 35. geht es Barth im Blick auf das erwählte Individuum um »die Frage nach der ewigen (positiven oder negativ bestimmten) Ordnung des zwischen Gott und allen einzelnen Menschen bestehenden Privatverhältnisses«816. Im Petitdruck der ersten einleitenden Seiten des Paragraphen beschreibt Barth nun in einer Art geistesgeschichtlichem Abriss, wie es zum folgenschweren Missverständnis einer »Selbstverständlichkeit« kommen konnte, diese individuelle Sicht auf die Prädestinationslehre über Jahrhunderte hinweg in den Mittelpunkt der theologischen Überlegungen zu rücken. Barth schreibt einleitend im Petitdruck: »In der Entwicklung, in der es dazu gekommen ist, spiegelt sich diejenige Linie der allgemeinen Geistesgeschichte des Abendlandes, welche, in der ausgehenden Antike anhebend, in der Renaissance zum Durchbruch gekommen, zur Entdeckung und zu jener Wertschätzung des menschlichen Individuums führte, die die sogenannte Neuzeit beherrscht hat.«817
Im Verlauf seiner Ausführungen kommt Barth zum Schluss, dass sich der religiöse Individualismus in den Couleurs von »Pietismus und Rationalismus« und der säkulare Individualismus »(von J.J. Rousseau und dem jüngeren Schleiermacher über Max Stirner und Kierkegaard bis zu Ibsen und Nietzsche)«818 gegenseitig beeinflusst hätten. Diese individualistisch verstandene Prädestinationslehre wird für Barth zum konsequenten Ausdruck des Menschenbilds der Neuzeit, kondensiert in der »Überzeugung, [wonach] in der einzelnen menschlichen Person der Anfang und das Ende aller Wege Gottes oder gar der Inbegriff aller göttlichen Wirklichkeit zu erkennen und zu verehren sei«819. Nietzsche wird so zur Personifizierung des neuzeitlichen individualistischen Menschenbildes, darin jedoch lediglich zu einer prägnanten Ausformung derselben unter anderen und gerade nicht zu einer solipsistischen Erscheinung. KD II/2 – VIII. Kapitel: Gottes Gebot: § 36 Ethik als Aufgabe der Gotteslehre, 1. Das Gebot Gottes und das ethische Problem Nach Barths Auffassung besteht zwischen Gott und den Menschen ein Bund, der begründet in der göttlichen Gnadenwahl und inhaltlich gefüllt im göttlichen Gebot beschrieben werden könne. Daher wird für ihn deutlich, dass Dogmatik und Ethik nicht getrennt voneinander behandelt, sondern gerade erst in ihrer wechselseitigen Verschränkung konsistent ausgestaltet werden können. Denn gerade beides, die Gnade, wie auch die sich daraus ergebende ethische Entsprechung zu dieser Gnade, zeige sich in der Person und im Wirken Jesu Christi 816 817 818 819
Barth, KD II/2, 336. Barth, KD II/2, 337. Barth, KD II/2, 338. Barth, KD II/2, 339.
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in seiner konkreten und unüberbietbaren Ausformung: Als dessen Beziehung von Gott her und von dort aus den Menschen zugewandt. In Entsprechung bedeute dies für den Menschen: »In und mit seiner Bestimmung durch Gott, wie sie in der Prädestination Ereignis ist, erhebt sich die Frage nach des Menschen Selbstbestimmung, nach seiner Verantwortung und Entscheidung, nach seinem Gehorchen und Tun.«820
Der Mensch steht also in der Verantwortung, sich aus dem Gebot Gottes ein ethisches Verhalten in der Welt zu begründen, welches seiner Erwählung und seiner daraus erwachsenen Verantwortung entspricht. Gleichzeitig kommt es Barth darauf an, eine genauere Definition dessen abzugeben, was er unter »Ethik« versteht und welche Problemfelder er mit diesem Begriff in Verbindung sieht: »Die ethische Frage ist die Frage nach dem Grunde und der Möglichkeit dessen, daß es in der Menge und Vielfältigkeit der menschlichen Handlungen auch Handlungsweisen, d. h. gewisse Stetigkeiten, gewisse Gesetze, Regeln, Gewohnheiten, Kontinuitäten gibt. Sie ist die Frage nach der Richtigkeit dieser Stetigkeiten […]«821
Wiederum im Petitdruck zur genaueren Beschreibung des Begriffs des Ethischen zwischen Moral, Sittlichkeit und deren Verhältnissetzung, fällt der Name Nietzsche in einer Aufzählung unterschiedlicher Denker, die das sogenannte Naturgesetz des Menschlichen mit dem Sittengesetz als identisch angesehen hätten. In dieser Aufzählung fallen die Namen »J. J. Rousseau, L. Feuerbach, M. Stirner, Friedr. Nietzsche und E. Haeckel«. In eine besondere inhaltliche Nähe in der Frage zur Entsprechung von Natur- und Sittengesetz werden von Barth im Folgenden Rousseau und Nietzsche beschrieben. Von beiden sei in besonderer Form diese Identifikation nicht nur dargestellt worden, sondern sogar »in Form bestimmter imperativistischer Inanspruchnahmen des menschlichen Wollens und Handelns«822 angegangen worden und sei bei beiden von dort aus zu »einer leidenschaftlichen Verkündigung«823 geworden. In der Form der Verkündigung entdeckt Barth einen Mangel an Argumenten, denn wer die Lösung des sittlichethischen Problems in dieser Form predige, der diskreditiere sich und seine Meinung selbst. »[D]a enthüllt sich die angebliche Identifikation des Sittengesetzes mit dem Naturgesetz als eine bloße Praedikation und verrät sich die ursprüngliche Verschiedenheit beider«824. 820 821 822 823 824
Barth, KD II/2, 566. Barth, KD II/2, 569. Barth, KD II/2, 569. Barth, KD II/2, 570. Barth, KD II/2, 570.
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Barth wirft Nietzsche sozusagen eine argumentative Schwäche im Blick auf seine Moralkritik vor, die dieser nicht anders hätte lösen können, als dass er seine Überzeugung umso lauter und pathetisch angehauchter in die Welt zu schreien versucht hätte.825 IV.2.1.3 KD III – Die Lehre von der Schöpfung KD III/4 – XII. Kapitel: Das Gebot Gottes des Schöpfers; § 55. Freiheit zum Leben, 1. Die Ehrfurcht vor dem Leben Unter der Verwendung der berühmten Formel Albert Schweitzers von der »Ehrfurcht vor dem Leben«826 bestimmt Barth den Menschen in der Beziehung zu Gott berufen und dem Mitmenschen zugewandt. Der Mensch sei in »dieser besonderen, der menschlichen Struktur«827 zum Leben aufgefordert. Erst in der vertikalen Verbindung zu Gott hin und in der horizontalen dem Mitmenschen verpflichtet, sei er in diesem Beziehungsgeflecht als Mensch konstituiert. Diese beiden Dimensionen, wie Barth sie beschreibt, greifen hinein in den »Bereich des Natürlich-Menschlichen und also hinein in seinen Daseinsakt als solchen«828. Sie durchwirken ihn und lassen sein Menschsein ohne diese doppelte Beziehungsform undenkbar werden. Die Konsequenz daraus lautet für Barth, dass das natürliche Leben nicht vom sittlichen Leben getrennt werden kann und damit das Leben, im christlichen Sinn verstanden, in seiner Gestaltung einer dem Gebot Gottes verpflichteten Ethik zu gestalten ist. Barth bringt Nietzsches ethische Vorstellungen des menschlichen Lebens im Petitdruck in die Nähe solchen Ethiken, die er mit eudämonistischen, hedonistischen, utilitaristischen, naturalistischen und vitalistischen Überzeugungen in Verbindung sieht. Als Vertreter dieser Richtungen führt Barth Personen wie
825 Barth verwendet diese Argumentationsfigur in einem sehr ähnlichen Wortlaut bereits in seiner Ethik-Vorlesung im Sommersemester 1928 in Münster. Auch hier kommt er in § 1 auf das Verhältnis zwischen der »Sittlichkeit im Sinn der ethischen oder moralischen Frage« und dem »Naturgesetz menschlichen Wollens und Handelns« zu sprechen und exemplifiziert die Möglichkeiten ihrer Verhältnissetzung anhand verschiedener Philosophen, u. a. auch Nietzsche. Vgl. Karl Barth, Ethik, 1. Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1930 (Gesamtausgabe, Abt. II), Zürich 1973, 2. Nietzsche wird neben Max Stirner zum leidenschaftlichen Verkündiger »des ethischen Naturalismus« und wie Rousseau zum Prediger der »Identität zwischen Naturgesetz und Sittengesetz« (ebd.). 826 In der Ethik-Vorlesung 1928 baut Barth Albert Schweitzer zu einem »Gegenspieler Nietzsches unter den naturalistischen Ethikern« auf, der den Willen zum Leben »umfassend und wuchtig […] auf die notwendige Bestimmtheit eines guten Willens« definiert habe. (Barth, Ethik I, 231). 827 Barth, KD III/4, 367. 828 Barth, KD III/4, 369.
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Mill, Spencer, Comte, Fouill8e, Guyau, Nietzsche, Haeckel und Schweitzer an und schreibt: »Das Gemeinsame aller dieser Denker ist die von ihnen angestrebte Grundorientierung der Ethik am Begriff des Lebens: gleichviel, ob dabei mehr an das physische oder an das geistige, mehr an das individuelle oder mehr an das soziale, mehr an ein glückliches oder doch angenehmes oder mehr an ein tragisches und heroisches Leben, mehr an den Willen zum Leben oder mehr an die Ehrfurcht vor ihm gedacht wurde. Das Leben selbst und als solches wir auf dieser ganzen Linie als der eigentliche ethische Herr, Lehrer und Gebieter des Menschen verstanden.«829
Der Begriff des Lebens wird damit in seiner inhaltlichen Vielstimmigkeit als die strukturelle Bezugsgröße in den jeweiligen Ethiken gedacht, dem die Moral in ihrer reflexiven Form als Ethik zu dienen habe. Damit kommt es darauf an, den jeweiligen Lebensbegriff inhaltlich näher zu definieren, um auch die Rolle der Ethik beschreiben zu können.830 Barth beschreibt die inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen anderen Ethiken, die sich um einen Lebensbegriff scharen, lediglich in einer »Begegnung« vorstellbar, was nicht bedeute, »daß wir ihm überhaupt aus dem Wege gehen dürften«831. Sondern: »In dieser tyrannischen, totalitären Funktion ist der Begriff des Lebens in einer theologischen Ethik nicht anwendbar.«832
Im gleichen Unterkapitel fällt noch einmal der Name Nietzsches. Im Abschnitt zum Begriff der Freude führt Barth aus: »Wille zum Leben heißt auch Wille zur Freude, zur Lust, zum Glück.«833
Im Petitdruck zu seinen Gedanken über die Freude, die Dankbarkeit und dem damit sich verbindenden Gefühl des Augenblicks einer Zeitlosigkeit, welche zum sehnlichen »Verlangen nach Dauer«834 wird, kommt Barth in der Illustration 829 Barth, KD III/4, 369. 830 In leichter sprachlicher Abwandlung findet sich dieser inhaltliche Gedankengang ebenfalls in der Ethik-Vorlesung von 1928. (Barth, Ethik I, 197f.) Des Weiteren erwehrt sich Barth entgegen der Auffassung, dass der Begriff des Lebens als der alleinige Gesichtspunkt einer Ethik postuliert werden dürfe und damit »einen naturalistischen Imperativ« aufnötige. (aaO. 200). Nietzsche wird von Barth dabei zu einem unerbittlichen ethischen Naturalisten, an dessen Beispiel »die Begrenztheit des naturalistischen Gesichtspunktes« deutlich werde. Auf der anderen Seite, in der Form des »spiritualistischen Moralismus«, findet sich Wilhelm Herrmann. Nach Barth müsse es jenseits der Absolutheitsansprüche des ethischen Naturalismus und Idealismus zu einer, dem göttlichen Gebot gegenüber verantwortlichen, theologischen Ethik kommen. 831 Barth, KD III/4, 369. 832 Barth, KD III/4, 369. 833 Barth, KD III/4, 426. 834 Barth, KD III/4, 429.
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seines Gedankens einer emotionalen Füllung des menschlichen »Lebenswillens« auf Goethe und Nietzsche zu sprechen. Auch sie beschreiben für Barth den emotionalen Zustand eines lebensbejahenden Lebenswillens. Es ist dasjenige Leben zu bejahen, das den Menschen zur Freude, zur Lust und zum Glück verhilft. Die goethesche Faust hätte dabei eine innere Klärung in Bezug auf sein Lebensverständnis hinter sich. Denn wo er sich erst noch weigere »zum [einzelnen] Augenblicke je zu sagen: »Verweile doch, du bist so schön!««, gebe er diese Haltung im Verlauf seines Denkens auf. Und so stimme Goethe Schiller in dessen Ausspruch »«Den Glücklichen schlägt keine Stunde« und sogar Nietzsches: »Alle Lust will Ewigkeit«»835 zu, dass das Glück, die Freude und die Lust des Lebens dann erreicht werden, wenn sich der Wunsch nach Ewigkeit für diesen Moment einstelle. Das Zitat Nietzsches entnimmt Barth dem »NachwandlerLied« aus »Also sprach Zarathustra«. Die Phrase »Denn alle Lust will – Ewigkeit« fällt in dieser Rede Zarathustras an mehreren Stellen und spielt mit den zeitlichen Dimensionen von Vergehen und Ewigkeit. Zarathustra charakterisiert die Lust als den Inbegriff des Lebens, die nach allem dürstet und sich nach dem auszudehnen versucht, was das Leben als lebenswertes auszeichnet: »Denn alle Lust will sich selber, drum will sie will sie auch Herzeleid! Oh glück, oh Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr höheren Menschen, lernt es doch, Lust will Ewigkeit, – Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.«836
Zwar füllt Barth die Begriffe des Glücks, der Freude und der Lust aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Gottesbeziehung anders als Nietzsche, jedoch sieht er sich darin in struktureller Analogie zu Nietzsche, wonach der Lebenswille des Menschen nach Lebensbejahung- und nicht Lebensverneinung verlange. Barth beendet seine Überlegungen dieses Unterkapitels mit einer Anspielung auf Nietzsches Diktum vom »Willen-zur-Macht« und schreibt: »Wir schließen unsere Übersicht über den dem Menschen gebotenen Willen zum Leben, indem wir ihn (in etwas gewagter Formulierung) als Willen zur Macht bezeichnen.«837
Deutlich wird, dass Barth mit der Provokation rechnet, die diese Formulierung wohl für seine Leserschaft mit sich bringen wird. Barth macht durch seine Ausführungen deutlich, dass er diesen »Willen-zu-Macht« inhaltlich kategorial 835 Barth, KD III/4, 429. 836 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 403. Kleffmann beschreibt die Lust für Nietzsche als die »unmittelbare Selbsterfahrung des Lebens in der Überwindung eines Momentes der Krise« und die daher nach »Bestand [und] reine Gegenwart« verlangt. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 289f. 837 Barth, KD III/4, 445.
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anders füllt als Nietzsche und es gerade nicht um eine »unqualifizierte Macht« und damit »eine Macht zu allem und jedem«838 gehe. »Es gehört zu dem ihm als Gottes Geschöpf anvertrauten »Talent«, für dessen Verwaltung er verantwortlich, nach dessen Verwendung er gefragt ist. Alles, was er tut oder läßt, hat auch den Charakter von Treue oder Untreue, von Irrtum und Betrügerei oder von Klarheit und Redlichkeit, von Gebrauch und Mißbrauch seines Umgehens mit diesem seinem Potential.«839
Diesen menschlichen und von Gott zugedachten »Willen-zur-Macht« charakterisiert Barth durch vier Kriterien. Zum ersten840 sei die Macht des Menschen stets als eine von Gott ihm gegebene und aufgegebene zu verstehen, zweitens841 sei Macht nicht an sich zu denken, sondern stets als eine konkrete an einen bestimmten Menschen geknüpfte. Drittens ist sie darin charakterisiert842, dass das Ausüben der Macht keinen Luxus von Tun oder Nicht-Tun in sich berge, sondern den Charakter des »Notwendigen« besitze und schließlich viertens843, dass sie die menschliche Anerkenntnis dessen sei, dass Gott allein bestimme, was er unter Macht, Können und Vermögen verstehe und allein in diesem Sinne dem Menschen auftrage.844 838 839 840 841 842 843 844
Barth, KD III/4, 446. Barth, KD III/4, 446. Vgl. Barth, KD III/4, 447f. Vgl. Barth, KD III/4, 448f. Vgl. Barth, KD III/4, 450f. Vgl. Barth, KD III/4, 452f. Auch dieser Passus findet sich in sehr ähnlicher Form bereits in der Ethik-Vorlesung von 1928. Eine »extensive Lebensbejahung« führe als »Wille zum Leben« zum »Willen-zurMacht«. (Barth, Ethik I, 222f) Auch im Folgenden der Ethik-Vorlesung kommt Barth auf den Vergleich zwischen Nietzsche und Burckhardt ob ihrer Vorstellungen über den Begriff der Macht zu sprechen. Deutlich umfassender als in der KD fällt die Behandlung Nietzsches aus. Barth zeichnet Nietzsches Lehre vom Übermenschen, als »lachender Löwe jenseits aller moralischen Bindung« nach, die mit dem Vorwurf einer sich bahnbrechenden und damit sich selbst diskreditierenden schieren Brutalität nicht zu erledigen sei, sondern schlichtweg dem konsequenten nietzscheanischen Willen zur »Verwirklichung des neuen Menschen« entspreche, dem es auf anderer Ebene zu begegnen gelte. Weiter führt Barth aus, dass Nietzsche »die Moral des Christentums als Sklavenmoral haßte«: »Wille zur Macht heißt bei Nietzsche – er war ein Bewunderer des lateinischen, besonders auch des französischen Geistes im Gegensatz zum deutschen – Wille zur Gestalt, d. h. zur Aristie der Gestalt.« (aaO. 224) Sich daran direkt anschließend kommt Barth auf die zeitgenössische NietzscheRezeption zu sprechen und unterstellt der »französischen Kriegspropaganda eines der böswilligsten Mißverstädnnisse« kolportiert zu haben und in »Nietzsche einen typisch deutschen Propheten der Gewalt« identifiziert zu haben. (aaO. 224) Andererseits sei durch Nietzsche aber positiv zu lernen, dass Phänomene wie »das römische Cäsarentum« oder deren »Reinkarnationen in gewissen Papstgestalten, in Napoleon I. und in unseren Tagen offenbar Benito Mussolini nicht notwendig außerhalb des Lichtes der sittlichen Idee« zu stehen kommen müssen. (aaO. 224f.) Für Barth wird dabei im Folgenden wichtig, dass Burckhardt und Nietzsche ihre sich diametral widersprechenden Ansichten zur Macht aus
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Im Petitabschnitt spricht Barth von »zwei berühmten Männern«845 des 19. Jahrhunderts, die jeweils eine entgegensetzte Meinung zur »Macht an sich« vertreten hätten, Nietzsche und Jacob Burckhardt (1818–1897). Nietzsches Konzept fasst Barth dahingehend zusammen, dass er Macht als den »Wertmaßstab im Leben des Einzelnen, der Gesellschaft, der Völker« betrachtet hätte, der wiederum »der Inhalt des neuen, besseren Gebotes [sei], das im 20. Jahrhundert die christliche Moral ablösen und zur Herrschaft kommen werde«846. Burckhardts Sicht widerspreche Nietzsches kategorial und charakterisiere Macht als grundsätzlich »böse, ihr Kultus [als] die Quelle des großen Unheils«847. Etwas zynisch hält Barth hierzu fest: »Beider Prophezeiungen hinsichtlich des 20. Jahrhunderts ist denn auch bis jetzt pünktlich in Erfüllung gegangen.«848
In diesen Bezugnahmen wird Nietzsche wiederum von Barth in dessen Denken kritisch bewertet und in die größeren Denkschemata der Geistesgeschichte eingeordnet. Nietzsche wird damit wiederum nicht zum Solisten stilisiert, sondern zu einer markanten und besonderen Stimme innerhalb eines Denkens, deren inhaltliche Axiome auch bei anderen jedoch in schwächeren Ausformungen gefunden werden können. IV.2.1.4 KD IV – Die Lehre von der Versöhnung KD IV/1 – XIV. Kapitel: Jesus Christus, der Herr als Knecht: § 59: Der Gehorsam des Sohnes Gottes, 1. Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde »Daß Jesus Christus wahrer Gott ist, erweist sich in seinem Weg in die Fremde, in der er, der Herr, zum Knecht wurde.«849
845 846 847 848 849
den gleichen »fürstlichen und päpstlichen Gewaltmenschen der italienischen Renaissance« (aaO. 225) heraus erarbeitet hätten und schlussfolgert daraus die allgemeine Erkenntnis, dass die menschliche Wirklichkeit nie eindeutig sei, sondern sich stets ambivalent auslegen lasse. Zudem hätte Nietzsche in seiner ihm eigenen Naivität geglaubt, sein Idealbild des »Willens-zur-Macht« als die Umwertung aller Werte verwirklichen zu können. Dem gegenüber hält Barth fest: »Der Umwertung aller Werte, der radikalen Krisis, in der alles menschliche Wollen und Tun sich befindet, ist vielmehr auch diese Form menschlichen Wollens unterworfen« und damit gerade auch anfällig für Missbrauch und Schuld (aaO. 226f). Barth, KD III/4, 446. Barth, KD III/4, 446. Barth, KD III/4, 446. Barth, KD III/4, 446. Barth, KD IV/1, 171.
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Barth versteht die Versöhnung zwischen Gott und Mensch als ein Ereignis, welche sich im Lebenszeugnis Jesu Christi letztgültig offenbarte. Dieses Ereignis beschreibt Barth als das Geheimnis Gottes, in welchem der ewige Gott als Herr Knecht wird, ohne dabei gleichzeitig aufzuhören, Herr zu sein. Wichtig wird es Barth festzuhalten, dass die eigentliche Bewegung der Versöhnung von Gott ausgeht, der in Solidarität mit seinen Geschöpfen Fleisch annimmt: »Er, der erwählende, ewige Gott wollte selber auch der verworfene und darum vergehende Mensch sein.«850
In der Metaphorik des in die Fremde Gehens Gottes beschreibt Barth den »Leidensgehorsam« des Sohnes in dessen irdischen Leben: »Er erniedrigte sich selbst; er tat das aber nicht, indem er aufhörte zu sein der er war : Er ging in die Fremde, er wurde aber auch in der Fremde und gerade in der Fremde kein sich selbst Fremder.«851
Innerhalb seiner Verhandlung der denkerischen Aporien eines normativen Gottesgedankens im Verhältnis zur Fleischwerdung in Jesus Christus betont Barth, dass Gott dies »in seiner Freiheit und also in Übereinstimmung und nicht in Widerspruch mit sich selbst«852 vollbringe. Unter der anselmischen Überschrift Cur deus homo? und der grundsätzlichen Frage, wie das Endliche im Unendlichen eingehen könne, kommt Barth im Petitdruck auf die neutestamentlichen Grundlagen der »Entäußerung und Erniedrigung« zu sprechen. Barth beschreibt diese Konzeption in den Texten des Neuen Testaments als eine dem menschliche Sein entsprechend gedachte: »Was gibt der neutestamentlichen Ethik gerade diese Ausrichtung, Tendenz, und Dynamik, gerade diesen, wie man doch immer wieder mit Recht empfunden hat, beherrschenden, unwidersprechlichen, alle Einwände und Ausreden beiseiteschiebenden Zug und Riß von allen Höhen herunter in die Tiefe, vom Reichtum der Armut, vom Sieg der Niederlage, vom Triumph dem Leiden, vom Leben dem Tod entgegen?«853
Diese christlich-ethische Grundhaltung, die in der Person Jesu entdeckt werden könne, wird dabei von Barth als genau jene beschrieben, die Nietzsche »in der Zeit der Dekadenz der Antike [als die] triumphierende perverse Philosophie des kleinen Mannes so schrecklich an die Nerven gegangen ist«854.
850 851 852 853 854
Barth, KD IV/1, 191. Barth, KD IV/1, 196. Barth, KD IV/1, 206. Barth, KD IV/1, 208. Barth, KD IV/1, 208.
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KD IV/1 – XIV. Kapitel: Jesus Christus, der Herr als Knecht: § 60: Des Menschen Hochmut und Fall, 2. Des Menschen Hochmut »Des Menschen Hochmut ist eine konkrete Gestalt dessen, was man, allgemeiner definierend, mit Recht des Menschen Ungehorsam und im Bereich der christlichen Erkenntnis mit besonderem Recht, des Menschen Unglauben genannt hat.«855
Als den grundsätzlichen Hochmut des Menschen sieht Barth dessen Bemühungen und Verlangen an, Gott selbst sein zu wollen und gerade in diesem Verlangen nach göttlicher Macht und Stärke nicht auch in gleichem innerlichem Verlangen der Demut Gottes nacheifern zu wollen. In Jesus Christus entdeckt Barth die vollendete Form der Unterwerfung, die nicht nur gewollt, sondern auch wirklich vollzogen wurde. Auf menschlicher Seiter verortet Barth solche nacheifernden Vorhaben des Menschen als Inbegriff des menschlichen Hochmuts, die versuchen, in göttlicher Vollmacht als Herr und gerade nicht als der demütige Knecht, über das eigene Leben und Verhalten verfügen und bestimmen zu können. Dieses menschliche Unternehmen definiert er wie folgt: »Er spielt die Rolle des der Welt und dem Mitmenschen, sich selbst und seinem Schicksal, auch seiner Beziehung zu Gott überlegenen, dieses Ganze von sich aus überblickenden, durchschauenden, meisternden und regierenden Wesens: die Rolle der Zentralmonade, vor der alle anderen sich […] zu verneigen bestimmt sind.«856
Barth spricht im Folgenden von Beispielen in der Geschichte, die diesen Hochmut im Extrem gelebt haben: »Man denke auch an die großen weltgeschichtlichen Karrikaturen, die dabei je und je herauskamen: Nero, Caligula, Napoleon, Nietzsche, Mussolini, Hitler. Aber die haben ja das Unzureichende, das Groteske des menschlichen Unternehmens nur ausgeplaudert.«857
KD IV/1 – XIV. Kapitel: Jesus Christus, der Herr als Knecht: § 61: Des Menschen Rechtfertigung, 4. Die Rechtfertigung allein durch den Glauben Barth fragt, wer der Mensch sei, der durch Gottes Gericht freigesprochen und so gerechtfertigt worden ist und versucht im anschließenden Petitdruck diesem Menschen und dessen kulturellen Entwicklungen durch die geschichtlichen Transformationsprozesse der Neuzeit hindurch zu folgen. In dieses Vorhaben flechtet er auch den Namen Nietzsches als den Inbegriff einer kulturell-moralischen Bewegung ein, die einer pessimistischen und weltflüchtigen Existenzform des menschlichen Seins in besonderer Weise entspreche: 855 Barth, KD IV/1, 459. 856 Barth, KD IV/1, 480. 857 Barth, KD IV/1, 480.
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»Oder der tief mißvergnügte Mensch jener heimlich Verschworenen am Anfang unseres Jahrhunderts, die von Schopenhauer und Nietzsche, von Ibsen, Björnson und Strindberg […], von Tolstoi und Dostojewski gelernt hatten, daß mehr oder weniger alles wert sei zugrunde zu gehen, daß es wohl das Beste wäre – wüßte man nur wohin! – aus der Welt auszutreten wie aus einem Klub, an dessen Leistungen man keine Freude mehr haben kann, die wohl gelegentlich auch zum Neuen Testament griffen, um sich dort wenigstens in dieser Stimmung bestätigen zu lassen?«858
KD IV/2 XV. Kapitel: Jesus Christus, der Knecht als Herr: § 65. Des Menschen Trägheit und Elend, 2. Des Menschen Trägheit In einem dritten Unterpunkt zur Charakterisierung der menschlichen Trägheit als Sünde definiert Barth diese Trägheit als »Angst, Lebensangst, Weltangst«859. Die Sünde wird in dieser Weise als die »Abscheu« vor dem Begrenztsein des menschlichen Lebens und der darin gesetzten befristeten Dauer aller »Lust unserer Gedanken und Gefühle ebenso wie von der Lust unserer Sinne«860 verstanden. Barth verwendet in diesem Zitat die bereits angeführte Wendung »Alle Lust will Ewigkeit« aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra«. Dieses Mal jedoch nicht in inhaltlicher Übereinstimmung mit Nietzsche, sondern in Absetzung. Barth charakterisiert mit dieser Bezugnahme auf Nietzsche den Menschen als einen solchen, der »aus der Einheit und Ganzheit des menschlichen Lebens nach oben oder nach unten oder nach beiden Seiten«861 auszubrechen versucht, was Barth wiederum in seiner Struktur unter des Menschen Trägheit subsumiert. KD IV/3 – XVI. Kapitel: Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge: § 71: Des Menschen Berufung, 5. Der Christ in der Bedrängnis Barth beschreibt den Christen in seinem Verhältnis zur Welt in einer spezifischen Zeugenschaft, da sein Tun »ganz und gar abhängig von der Wahrheit und Wirklichkeit des von ihm Bezeugten«862 sei. Im Petitdruck zu dieser Charakterisierung beschreibt Barth in biblischen Bildern dieses Gesandtsein des Christen in die Welt, speziell mit Mt 10,16 und dem Wort Jesu, wonach er seine Anhänger wie Schafe unter die Wölfe entsende. Christen hätten sich also nicht in erster Linie als Hirten und auch nicht als solche Tiere zu verstehen, die sich den Wölfen in ihrer Physiognomie als gewachsen ansehen könnten, sondern als Schafe, die den Mächten der Welt ausgesetzt seien. Über die dem Gläubigen damit aufgegebene Rolle schreibt Barth in süffisantem Ton gegenüber Nietzsche:
858 859 860 861 862
Barth, KD IV/1, 679. Barth, KD IV/2, 522. Barth, KD IV/2, 522. Barth, KD IV/2, 522. Barth, KD IV/3, 721.
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»Kein sehr heroischer und auch kein sehr tröstlicher Aspekt der christlichen Existenz! Nichts für Nietzsche!«863
IV.2.1.5 Unveröffentlichte Texte zur KD § 42 Der Schöpfer und seine Offenbarung Die Hrsg. der unveröffentlichten Texte betonen für den Band KD III/1 die besonderen Mühen, die Barth auf die Abfassung dieses Abschnittes seiner KD verwendet zu haben scheint.864 So finden sich weit umfangreiche Vorarbeiten und gegenüber der endgültigen Druckfassung erheblich anders geartete Textentwürfe, die teilweise an anderer Stelle in der KD schlussendlich ihren Platz gefunden haben. So trug das Typoskript auch noch nicht den endgültigen Titel »Das Ja Gottes des Schöpfers« und auch der erste Unterpunkt »Schöpfung als Wohltat« trug in diesem Entwurf noch den Titel »Gott und Götter«. In diesem ersten Unterpunkt dekliniert Barth die Offenbarung des Schöpfergottes wie folgt durch: »Die Offenbarung Gottes des Schöpfers ist die Götterdämmerung, in der die Götter ihre göttliche Autorität verlieren, ihre göttlichen Ansprüche aufgeben müssen, ihrer göttlichen macht entkleidet werden, in der sie sich als Götter auflösen, in der ihr ursprünglich nicht-göttliches, sondern kreatürliches Wesen wieder sichtbar wird.«865
In seiner kritischen Besprechung einer bisherigen Theologiegeschichte charakterisiert Barth die in der kantischen Vorstellungswelt und im deutschen Idealismus hin zur Romantik sich ausformenden Gottesvorstellungen als solche, die sich zwischen Vernunft, sittlich-religiöser Autorität, Natur und dem reinen Geist situiere. Mit der anspielungsreichen Frage »Ist er [sc. der Geist] nur apollinisch und nicht auch dionysisch?«866 leitet Barth eine längere Nietzsche würdigende Passage ein. Nach Kritizismus und Romantik, sei »das Bewusstsein und Erlebnis des Ich und seines Vermögens und […] auch die ganze Welt der menschlichen Affekte, Instinkte und Triebe«867 in den Mittelpunkt getreten, als dessen exemplarischen und konsequentesten Vertreter er Nietzsche sieht, der »die Naturbezogenheit der Geisteswelt zu neuer Ehre gebracht«868 habe. Nietzsche habe dabei mit seinem Werk »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« »die dionysische Deutung des Geistes durchgeführt«869 und gerade in 863 864 865 866 867 868 869
Barth, KD IV/3, 722. Vgl. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 3–6. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 9. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 46. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 46f. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 47. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 47.
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dieser konsequenten Beschreibung eines dionysischen Gottes, diese Deutung »zum Abschluss mit allen Umdeutungen des von der Kirche verkündigten Gottes, aber auch zum Abschluss mit allen sterilen Leugnungen dieses Gottes«870 geführt. Nietzsche lebe in seiner Philosophie die Konsequenz eines andersartigen Gottes, die dazu führe, dass nunmehr falsche Götter vom wahren Gott eindeutiger unterscheidbar und damit definierbar gemacht werden können. »Wir könnten sie in ihrer Göttlichkeit wahrscheinlich nicht so rekognoszieren und analysieren, wie wir es können, wenn wir die von Nietzsche geleistete Demonstration seines anderen Gottes nicht so deutlich vor Augen hätten.«871
Im gleichen Unterkapitel kommt Barth auf das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen und dem christlichen Glauben zu sprechen. Er verwehrt sich solchen Annahmen, die versuchen, Weltanschauungen »nicht mehr im Gegensatz, sondern gewissermaßen in Parallele [zu zeichnen] […], welche [damit die Ansicht kolportieren,] in anderen Worten, in exotischer Gestalt, das Gleiche meinen und wollen wie der Glaube in seiner esoterischen Gestalt und Sprache«872. Barth verwehrt sich solchen Ansichten, denn es sei nicht das Selbstverständnis des christlichen Glaubens, sich selbst in Einklang mit anderen Wirklichkeitstheorien bringen zu müssen, denn der Glaube fuße auf einer überlegenen Perspektive. Daher hält Barth die Rolle der christlichen Weltanschauung derart fest, dass sich die Überlegenheit und Stärke der christlichen Position dadurch am eindrücklichsten demonstrieren lasse, »den Anderen gelten [zu] lassen, um ihn doch sofort zu durchschauen, besser zu verstehen, als er sich selbst versteht, und ihn daraufhin gewissermaßen friedlich zu expropriieren«873. Interessanterweise erinnert diese Bezugsstelle bei Barth stark an die im II. Kapitel vorgestellten und von Zeitgenossen unternommenen Versuche, Nietzsches Person und Philosophie in Einklang mit christlichen Überzeugungen zu bringen, die Barth für sich abzulehnen scheint. Und auch Barth selbst kommt in der Kritik solcher zeitgenössischen Versuche im Petitdruck explizit auf Nietzsche zu sprechen und bescheinigt einigen nicht namentlich genannten Theologen die verquere Ansicht zu vertreten, in »den modernen Weltanschauungen bis hin zu der von Nietzsche, Haeckel, Steiner, Heidegger und Rosenberg«874 vermeintlich christliche Anklänge gefunden zu haben und damit ihre Anschlussfähigkeit für eine christliche Theologie propagieren zu können. Eine weitere Bezugnahme auf Nietzsche findet sich im Abschnitt, in welchem 870 871 872 873 874
Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 47. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 47. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 266f. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 267. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 270.
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Barth von der »Weltgestaltung« des Glaubens spricht und den Glauben als einen solchen Raum definiert, der den Menschen in den »Formen seines Verhaltens und Handelns in der Welt frei«875 mache. Denn der Glaube speise sich aus einer göttlichen Wahrheit, die sich darum über die bloße Wirklichkeit der Welt hinaus abbilden könne, weil sie frei von menschlichen Vorstellungen und Utopien sei. Zu einem solchen Abbildcharakter seien Weltanschauungen qua innerer Denkstruktur nie im Stande. Daher sei der Glaube, und die ihm innewohnende Wahrheit, auch »nicht die Rückkehr zur Natur«876, sondern der ewige Fingerzeig über sie hinaus. Die Hrsg. vermuten in diesem Satz eine Anspielung Barths auf Nietzsche, die sich in dessen »Götzen-Dämmerung« findet. Nietzsche schreibt dort selbst in einem Rückgriff auf Rousseau: »Fortschritt in meinem Sinne. – Auch ich der von ›Rückkehr zu Natur‹, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst fruchtbare Natur und Natürlichkeit […] ›Rückkehr zur Natur‹ – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? –«877
Für Nietzsche ist der Begriff der Natur moralisch unvoreingenommen und damit im Endeffekt positiver besetzt, da sie für ihn den allein wahren und erstrebenswerten Möglichkeitsraum des Menschen bildet. Barth wiederum erkennt diesen Möglichkeitsraum exklusiv in der Dimension des Glaubens und nicht in einem grundsätzlich korrumpierten und damit ambivalenten Naturbegriff. § 44 Die menschliche Natur, 2. Der Mensch und die Menschheit Das komplette X. Kapitel der KD »Das Geschöpf« wurde von Barth vollständig überarbeitet und neu konzipiert. Von der ursprünglichen Fassung ist lediglich § 44. 2 erhalten geblieben878, wobei Teile dieses ursprünglichen § 44. Eingang in die endgültigen §43. und § 46. fanden.879 Wie es der Titel vermuten lässt, versucht sich Barth an der grundsätzlichen Charakterisierung des Menschen und seiner Natur aus christlicher Sicht abzuarbeiten. Im Abschnitt, in dem er auf Nietzsche Bezug nimmt, behandelt Barth das individuelle Sein des Menschen, das selbst wiederum in seiner Individualität in kulturelle, politische, religiöse und geschichtliche Kollektive eingebunden sei. Beide Seiten, das Individuelle und das Kollektive, stellen für ihn dabei Grundkonstanten des Menschseins dar, die niemals ineinander aufgehen bzw. das Eine im Anderen aufgelöst werden könnte. 875 Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 296. 876 Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 296. 877 Friedrich Nietzsche, »Götzen-Dämmerung«, in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 150. 878 Vgl. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 412. 879 Vgl. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 412.
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»Er [sc. der Mensch] kann schon in seiner physischen Existenz nur lauter gemeinschaftliche Elemente des menschlichen Geschlechts im weiteren Sinn und seiner besonderen Gestaltung bis herunter zu seinem besonderen Stammbaum verkörpern. Er verkörpert [Hervorhebung MB] sie neu, besonders und einmalig.«880
Die direkte Anspielung auf Nietzsche findet sich im Begriff des »Übermenschen«, den Barth als eine Unmöglichkeit desavouiertt, da der Mensch »schon physisch nicht dazu fähig und bestimmt [sei], als Über- oder Untermensch aus dem Zusammenhang des Menschengeschlechts und seines besonderen Kreises innerhalb des Ganzen hinauszutreten«881. Im Fortgang des Kapitels erörtert Barths nochmals spezifischer »die notwendige Vermittlung in der das gemeinschaftliche Menschliche jedem Einzelnen Gegenwart wird« und betont dabei die Gefahr, »sich diesem gemeinschaftlich Menschlichen zu entfremden zugunsten eines Menschlichen, das nun doch nur besonderes und insofern »allzu« Menschliches, ein irgendwie borniert Menschliches und insofern dann überhaupt nicht mehr das wahrhaft Menschliche wäre»882. Barth spielt hier zugleich in seiner Argumentation auf Nietzsches Idee des Übermenschen in Verbindung mit dessen Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« an. Eine letzte Bezugnahme in diesem Paragraphen findet sich wiederum im Petitdruck zum Zusammenhang der Stichwörter »Individualismus« und »Humanität«. Individualität besitze zwar nach Barth ihre eigene Berechtigung, nicht jedoch eine solche, die gegen den Gemeinschaftscharakter der menschlichen Natur ausgespielt und in Stellung gebracht werden dürfe. »Abstrakte Individualität ist das Prinzip zielloser Revolution, sinnloser Auflösung, unfruchtbarer Zerstörung. […] Sie bedeutet in jedem Fall – auch in ihren milderen und gemäßigten, auch in ihren ästhetischen und religiösen Formen – die Inthronisation des Gottes Dionysos, in dessen Reich die vermeintliche Sklavenbefreiung das Erste, die Aufrichtung des brutalen Rechtes des vermeintlich Stärkeren das Zweite, der Freudenrausch der vermeintlich Überlegegenen, Weisen und Reichen das Dritte, das große, endlich und zuletzt auch die vermeintlichen Herren der Erde selbst verzehrende Schadenfeuer das Vierte und Letzte ist.«883
Eine solche abstrakte Individualität wird dabei für Barth nicht nur zu einer denkerischen Herausforderung, sondern sei eine konkrete Bedrohung, wie es an Nietzsche deutlich werde. Ohne weiteres lässt sich in diesen skizzenhaften Abriss Nietzsches Person und Werk im Verständnis einer chronologischen Entwicklung hin zur Idee einer abstrakten und absoluten Individualität einflechten. 880 881 882 883
Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 477. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 477. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 493. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 552.
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Vom ästhetischen Ausgangspunkt einer Individualität in der »Geburt der Tragödie«, über die moralgenealogischen Offenlegungen in den Schriften »Genealogie der Moral« und »Jenseits von Gut und Böse«, bis hin zum großen und »ewigen« Angriff des »Antichristen« und der Ermöglichung einer eigenen Verkündigung des Individuums und dessen Wahrheit in »Also sprach Zarathustra«, was schließlich zum autobiographischen und summarischen »Ecce homo. Wie man wird, was man ist.« führen konnte. In dieser Ausbreitung des ungebändigten und absoluten Individuums steht dabei für Barth stets das durch Krankheit und Nervenleiden gezeichnete Ende Friedrich Nietzsches im Hintergrund. Und gerade auch der Versuch, durch einen »abstrakten Humanismus« einem solchen Individualismus Einhalt zu gebieten, bringe »keine wirkliche Überwindung des Individualismus«, denn »gerade das, was er austreiben möchte, [pflegt er] früher oder später wieder zu bringen […]. So geschah es schon in der späteren Antike, so im Mittelalter, so in der Renaissance, so in der Wandlung der Aufklärung hin zum Sturm und Drang, so im Ausgang des Idealismus in der Romantik, bei Hölderlin und Nietzsche.«884
Barth identifiziert im Folgenden das Gemeinschaftliche und das Einzelne des menschlichen Lebens mit den Göttern und Metaphern Nietzsches von Apollo und Dionysos, wobei »beide wohl Götter, aber nicht Gott sind, in besonderem Blick auf Dionysos gesagt: weil er keine göttliche Macht über den Menschen hat, weil das abstrakte Prinzip der Individualität, das als solches die Humanität verneinen könnte, nur eine Scheinwirklichkeit ist, deren Behauptung so sinnlos ist wie der Versuch, ihr durch Entgegenstellung eines anderen, ebenfalls nur vermeintlichen Gottes, des abstrakten Prinzips der Humanität, widerstehe zu wollen, um ihr als deren Negation eben damit neue Konsistenz zu geben usw. in ewigem circulus vitiosus.«885
Die einzige Möglichkeit einer konsistenten Entgegnung, die nicht den Aporien eines abstrakten Humanismus erliegen will, wird daher eine konkrete Humanität sein, wie sie nach Barth in der göttlichen Selbstoffenbarung in Jesus Christus zu finden ist und in der Wahrheit des christlichen Glaubens nachzusprechen ist.
884 Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 555. 885 Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 556.
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IV.2.2 KD III/2 – X. Kapitel: Das Geschöpf: § 45. Der Mensch in seiner Bestimmung zu Gottes Bundesgenossen, 2. Die Grundform der Menschlichkeit Im Zusammenhang der Darlegung einer christlichen Anthropologie kommt Barth in einem längeren Abschnitt des Petitdruckes (KD III/2, 276–290) auf Nietzsche zu sprechen. Deutlich ist diesem Abschnitt der Versuch einer umfassenden Kritik und Entgegnung Nietzsches Angriff auf das Christentum anzumerken. Barth versteht Nietzsche nach eigener Aussage »als Vertreter einer Konzeption von Humanität, die er mit der Klassik und dem Deutschen Idealismus teile, nämlich eines Selbst- und Menschenverständnisses, das auf der Subjektivität des Menschen aufbaut.«886 Barth behandelt Nietzsche wohl sehr bewusst in dieser Ausführlichkeit an diesem Punkt in der KD, da er seine eigene Konzeption der Humanität des Menschen in einem diametralen Gegensatz zu der Nietzsches sieht. »[Z]ur christlichen Humanität […] [hat Nietzsche] ebenso entschlossen und leidenschaftlich Nein gesagt, Nein sagen müssen. [Und] wir unsererseits, ruhiger als er, aber mit der gleichen Entschiedenheit zu jener von ihm exemplarisch vertretenen Konzeption der Humanität Nein sagen müssen.«887
Für die Studie bedeutet die Konzentration auf diese Seiten innerhalb der KD III/2 eine Art zusammenfassende Möglichkeit der Sichtweise Barths auf Nietzsche. Damit einher geht die Chance, die in der restlichen KD ausgelegten NietzscheRezeption an dieser Stelle konzentriert zu bündeln. Zu Beginn sei jedoch zuerst ein kurzer Blick auf den systematischen Kontext des vorliegenden Petitdrucks gelegt. Die Abhandlung zu Nietzsche findet im zweiten Unterkapitel »Die Grundform der Menschlichkeit« ihren Platz. Der Mensch wird dort von Barth als Wesen in der Beziehung zwischen Schöpfer und Mitmenschen beschrieben. Die menschliche Humanität wird für Barth nicht zur Beschreibung eines Zustands, eines esse, sondern eines existere, einer Bewegung: »Ich bin, indem Du bist«888.
In der Beschreibung dieser Grundform kann sich Barth dagegen verwehren, das Menschsein in einer abstrakten und isolierten Form zu denken oder gar analysieren zu können. Vielmehr wird die Beschreibung seiner Grundform nur im schöpfungstheologisch begründeten Sein des Menschen, in der Beziehung von Gott her und zum Mitmenschen hin, wie sie im Menschsein Jesu Christi auf886 Barth, KD III/2, 263f. 887 Vgl. Barth, KD III/2, 276f. 888 Barth, KD III/2, 296.
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scheine, möglich. Barth legt Wert darauf, dass aus seiner Sicht eine abstrakte Humanität wie sie im Folgenden nun Nietzsche zugeschrieben wird, keinerlei inhaltlich-argumentativen Dekonstruktion bedürfe, jedoch das Interesse an deren Konzeption und das Verständnis ihrer Quellen durchaus hilfreich für die eigene Darlegung sein könne. Grundsätzlich baut Barth seine kritische Würdigung dreigeteilt auf. In einer Art Einleitung beschreibt Barth sein bereits oben angedeutetes Interesse an Nietzsche und dessen Gedanken bezüglich einer anthropologischen Konzeption ohne Gott. Im selbstbiographischen »Ecce homo« entdeckt Barth dabei eine Art stringente Zusammenfassung nietzscheanischer Überzeugungen bezüglich eines reinen und solipsistischen Ichs.889 Im zweiten Teil der inhaltlichen Auseinandersetzung versucht Barth Nietzsche mit seiner Form der Humanität und Denkens in die Tradition des europäischen Humanismus einzuordnen (S. 276– 282), bevor er sich im dritten Teil dezidiert mit Nietzsches Christentumskritik auseinandersetzt (S. 282–290). Zur Motivation sich mit Nietzsches Gedanken zu beschäftigen, nennt Barth zwei inhaltliche Punkte. Zum einen denke Nietzsche seine Art der Humanität »mit einer Hellsichtigkeit und Konsequenz sondergleichen zu Ende«890 und hätte damit zum anderen zum Konzept der christlichen Humanität »leidenschaftlich Nein gesagt, Nein sagen müssen«891. Beides rufe den Theologen Barth auf den Plan. Wie auch beim Römerbriefkommentar liest Barth die Werke Nietzsches in der Krönerschen Klassiker-Ausgabe892 und bezieht sich in seinen Ausführungen auf die darin enthaltenen Schriften »Menschlich, allzu Menschliches«, »Die fröhliche Wissenschaft«, »Also sprach Zarathustra«, »Der Antichrist«, »Ecce homo« und »Der Wille zur Macht«. Im ersten Teil bringt Barth Nietzsches Konzept der Menschlichkeit auf den einfachen Nenner : »Humanität ohne den Mitmenschen«893. Interessant ist, dass er Nietzsche als Endpunkt einer humanistischen Tradition sieht, die sich dem deutschen Idealismus verpflichtet fühle und sich mit Goethe »auf demselben Wege«894 befinde. Barth verwendet einigen Raum dazu, Nietzsche und Goethe 889 Barth geht selbst auf Nietzsches Erkrankung ein, die die Veröffentlichung dieses Werkes mit der Zurückhaltung des Manuskripts durch Overbeck fürs Erste verhinderte. Dieses Vorgehen hält er für menschlich zwar verständlich, »sachlich berechtigt war es nicht, denn ob Nietzsche, als er dieses Buch schrieb, noch gesund oder schon krank war : er hat sein Wollen und sein Werk gerade hier in seinen letzten Intentionen, die ihm von Anfang an eigentümlich waren, richtig gesehen und zusammengefaßt«. Barth, KD III/2, 277. 890 Barth, KD III/2, 277. 891 Barth, KD III/2, 277. 892 Vgl. Barth, KD III/2, 277. 893 Barth, KD III/2, 277. 894 Barth, KD III/2, 277.
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miteinander zu vergleichen und Goethe dabei ein gewisses Maß an diplomatischem Geschick zu attestieren, der in seinen Aussagen »Maß zu halten« wusste, da sein »Selbstbewußtsein [gedanklich zu ergänzen: im Gegensatz zu Nietzsche] sich fortwährend aufs neue füllte mit aufmerksamsten, aufs tiefste interessiertem Weltbewußtsein«895. Goethes Wirken ist für Barth »der ruhige Vollzug eines fast ununterbrochenen der Außenwelt zugewendeten Werkens«896. Anders Nietzsche. Er »hat im Grunde, wenn er nicht polemisierte, sondern positiv redete, immer nur von sich selbst geredet«897. Der Unterschied zwischen Nietzsche und Goethe bestünde nur darin, dass, wo »Goethe [dieses Konzept] ruhig lebte, davon mußte Nietzsche krankhaft reden und immer wieder reden«898. Barth bemängelt dabei das Fehlen einer objektiv-gegenständlichen Problemdiskussion bei Nietzsche und findet bei ihm stattdessen ein egozentrisches Eigeninteresse an den Dingen vor: »Was nicht er selbst war, das hat ihn, wenn es ihn und wenn er es nicht abstieß, immer nur als Paradigma und Symbol […] als Projektion seiner selbst – interessiert.«899
So wäre Nietzsche auch mit historischen und zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Strömungen und Personen verfahren und hätte sie so lange für sich in Anschlag gebracht, bis sie »als Paradigma seiner selbst nicht mehr brauchbar war[en]«900. Barth wirft Nietzsche damit vor, im Endeffekt, egal über wen oder was er geschrieben hatte, doch nur über sich selbst gesprochen und gedacht zu haben. Barth sieht dabei seine These über Nietzsche in dessen Umgang mit Schopenhauer und Wagner eindrücklich bestätigt, die dieser nur so lange rezipiert und positiv besprochen habe, wie Nietzsche in ihnen eigene Gedanken verwirklicht sah. Im Werk »Also sprach Zarathustra« sieht Barth nun die Vollendung des solipsistischen Nietzsches manifestiert und bezieht sich auf verschiedene Sätze Nietzsches aus »Ecce homo« in denen dieser die Einzigartigkeit seines Zarathustras als Geschenk für die Menschheit beschreibt. In der Verbundenheit mit der deutschen Geistesgeschichte seit dem Idealismus sieht Barth in Nietzsche deren Ideal von Humanität zu einem vorläufigen Ende gebracht.901 Kritikwürdig erscheint Barth Nietzsches Grundkonzeption, wonach, um vom wahren Menschen zu sprechen, der Mensch isoliert und alleine gedacht werden müsse. Aufgrund Nietzsches Vorstellung des Seins ohne den Mitmenschen könne er von seinen Mitmenschen nur das annehmen, was er als 895 896 897 898 899 900 901
Barth, KD III/2, 277. Barth, KD III/2, 277. Barth, KD III/2, 277. Barth, KD III/2, 278. Barth, KD III/2, 278. Barth, KD III/2, 278. Vgl. Barth, KD III/2, 277.
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Paradigma seiner selbst ansähe. Vollendet sieht Barth diese Botschaft in Nietzsches Figur des Zarathustra beschrieben. Zarathustra sei für Nietzsche sein größtes Geschenk an die Menschheit, da kein früherer Denker »einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu atmen wissen würde«902. Das Ich ohne den Mitmenschen darf für Barth hier »ungebändigt, maßlos und völlig nackt auf den Plan treten […]: Ich bin – in »azurner Einsamkeit«»903. Barth sieht Nietzsche in seiner Konzeption vor dem existentiellen Dilemma, dass ein Übermensch qua Definition nichts annehmen darf, ohne seine eigene Natur zu verraten: »Wem soll er sich da – wem soll sich der Übermensch, das wirklich absolute »Ich bin« schenken?«904
Er könne sich nicht verschenken, da er auch kein anderes annehmen könne, er sei zur Einsamkeit verdammt: »Es gehört ja auch zum Übermenschen, zu Dionysos, zu Zarathustra, daß der Schmerz darüber, Übermensch, Dionysos, Zarathustra und also in jener Einsamkeit sein zu müssen, ihn oft fast zerreißen will.«905
Barth zitiert zur Bestätigung seiner Einsicht aus den »Dionysos-Dithyramben« Nietzsches: »Aber wer sollte dich auch lieben, den Überreichen [bei Nietzsche: du Überreicher]? Dein Glück macht rings trocken Macht arm an Liebe – ein regenloses Land …«906 »Denn wenn es Andere für ihn gäbe, dann wäre er nicht Zarathustra.«907
Unter dem Stichwort des »Ekels am Menschen« sieht Barth daher Nietzsches Konzept der Humanität konzentriert und zitiert hierzu aus dem »Ecce homo«: »– eine extreme Lauterkeit gegen mich ist meine Daseins-Voraussetzung, ich komme um unter unreinen Bedingungen […] meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Menschen ist, sondern es auszuhalten, dass ich ihn mitfühle … Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung.«908 902 Barth, KD III/2, 278. Barth bezieht sich hier ohne dies kenntlich zu machen auf ein wörtliches Zitat aus Nietzsches »Ecce homo«: »Dass ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu athmen wissen würde, dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal – […]« Nietzsche, »Ecce homo«, 343. 903 Barth, KD III/2, 279. 904 Barth, KD III/2, 279. 905 Barth, KD III/2, 279. 906 Barth, KD III/2, 279. Friedrich Nietzsche, »Dionysos-Dithyramben«, in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, Berlin/New York 1967–77 und München 2 1988, 409. 907 Barth, KD III/2, 279. 908 Barth, KD III/2, 280 und Nietzsche, »Ecce homo«, 275f.
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Diese erfolgreiche Selbstüberwindung attestiert Barth Nietzsche909 und beschreibt das Interesse Zarathustras am Menschen unter neuen Gesichtspunkten. Für Zarathustra stelle sich der Mensch als ein unbehauener Stein dar, der durch einen Bildner geformt werden müsse: »Wie den Hammer zum Stein, so und nur so treibt es ihn zum Menschen.«910 Das Geschenk Zarathustra hätte also nichts mit Menschenliebe zu tun, sondern sei eher als eine Art Schicksal zu verstehen, welches auf Verwendung dränge.911
Und selbst wenn die Figur des Zarathustras als der personifizierte Übermensch geliebt würde, hätte der Übermensch keine Verwendung dafür, da er diese Liebe nicht erwidern könne, sondern derartige Formen der Menschlichkeit in ihm einen »Ekel am Menschen« hervorrufen, von denen er sich nur befreien könne, wenn er sich in die einsamen Höhen seiner Einsamkeit flöhe.912 Die Einsamkeit sei der einzige Zufluchtsort des Übermenschen, da durch das Ideal der »azurnen Einsamkeit« der Übermensch seinen Mitmenschen gar nicht als solchen sehen könne und somit ein unüberbrückbarer qualitativer Unterschied zwischen beiden entstehe.913 Für Barth lebt dieser Übermensch, dieser Zarathustra, im Dilemma zwischen Klage und Jauchzen über sein Sein und den darin mitgesetzten Implikationen von gleichzeitig gewollter und zu erleidender Einsamkeit. Barth versucht dies mit einer Passage aus dem »Ecce homo« zu belegen: »Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, daß ich der wohltätigste sein werde.«914 909 Hier zitiert Barth einen Ausschnitt aus dem »Ecce homo«, in dem Nietzsche von der einsamen Lebensform der Zukunft in den Metaphern der einsamen Höhen der Adler und reiner Nahrung der Starken spricht. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 126. 910 Barth, KD III/2, 280. Des Weiteren zitiert Barth hier einen Ausschnitt aus Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 111: »Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild, das Bild der [bei Nietzsche: meiner] Bilder! Ach, daß es im härtesten, häßlichsten Stein schlafen muß! Nun wütet mein Hammer grausam gegen sein Gefängnis. Vom Steine stäuben Stücke: was schiert mich das?« 911 Auch Himmelmann bestätigt, dass der Beweggrund für Zarathustras Abstieg aus seinen Höhen nicht die Liebe zu den Menschen darstellt, sondern sein Überreichtum an Kräften, die verwendet werden wollen und das Bedürfnis den Grad er eigenen Souveränität beweisen zu können. Vgl. Beatrix Himmelmann, »Geprobte Göttlichkeit«, in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹, Basel 2001, 143–157, 145 und 148. 912 Vgl. Barth, KD III/2, 280. 913 Vgl. Barth, KD III/2, 287. 914 Barth, KD III/2, 281. Nietzsche, »Ecce homo«, 366. Hier ist wohl mit Kleffmann an Barths Sicht auf Nietzsche Kritik zu üben bzw. auf interpretatorische Mängel hinzuweisen. Richtig ist, dass sich der Übermensch als Selbst-Lebender wesentlich in der Einsamkeit befindet, da er sich von jeglichen denkerischen oder physischen Verbindungen lossagt. Erst in der reinen Einsamkeit kommt das Leben zu sich selbst. Gleichzeitig führt diese Einsamkeit wesentlich zu einer Selbstliebe, präziser zu einer Selbstentzweiung: »Gerade die gesunde Liebe zu sich selber findet ihr Ziel nicht in einer festzuhaltenden Sichselbstgleichheit (Identität) des Lebenden im Leben, sondern im zu schaffenden ›Werk‹, im Über-sich-
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Aufgrund von Barths bereits angedeuteter Einordnung Nietzsches in die deutsche und europäische aufklärerisch-humanistische Geistesgeschichte, sieht er in Nietzsches Form der Humanität lediglich die Endgestalt der europäischen Humanität von Goethe, Hegel, Kant und Leibniz915 herkommend verkörpert und wie sie in der italienischen Renaissance begründet war.916 Daher kommt Barth zu seinem Urteil, dass »es doch ein sehr folgenschweres, sehr verantwortliches Unternehmen [sei], sich der von Nietzsche vertretenen Humanität gegenüber nun wirklich zu distanzieren«917 und sich damit gegen eine ganze geistesgeschichtliche Entwicklung zu stellen. Im zweiten Teil seiner Kritik beschränkt sich Barth vor allem auf Nietzsches Angriff auf das Christentum. »Nietzsche hat die Philosophie, die Moral, die Kunst, die Wissenschaft, die Zivilisation seiner Zeit und der meisten früheren Zeiten angegriffen, und es gibt keines unter diesen Feldern, wo er nicht Verwundete und Tote in Menge hinter sich zurückgelassen hätte.«918
Dieser Angriff wird für Barth erst in einer grundlegenden Lektüre Nietzsches verständlich und wenn in dieser erkannt werde, dass für den Immoralisten und »Antiesel«919 / Antichristen Nietzsche Moral und Christentum »in eine einzige verabscheuungswürdige Gestalt«920 zusammengefallen sind, die es zu bekämpfen gelte. Nietzsche selbst betrachtete sich als denjenigen Akteur, der diese Verquickung der Öffentlichkeit publik gemacht hätte. Barth beschreibt dabei den Kampf Nietzsches gegen das Christentum durch persönliche Ärgernisse motiviert:
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hinaus-Schaffen, schließlich im Leben als Selbst-Überwindung.« (Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 268) So gesehen leidet der Einsame nur als Ausgangspunkt zur Überwindung an seiner Einsamkeit, die sich in einer Selbstverachtung ausdrückt: »er liebt sich, indem er sich als bloße Identität verachtet, sich von ihr abstößt und ›zu Grunde geht‹« (aaO. 269). Erst wenn dieses einsame Schaffen wiederum gelehrt werde, finde die Macht der Selbst-Überwindung zu ihrer letzten Konsequenz. Erst im Schaffen vergewissert sich der Einzelne seiner absoluten Einsamkeit, die ihn in der Abgrenzung zu anderem auszeichne, in der er sich selbst in seiner eigenen Selbstüberwindung nochmals reflektieren könne. Vgl. Barth, KD III/2, 281. Und auch Nietzsche selbst bezieht sich auf diesen besonderen Typus Mensch der Renaissance, den er wohl in Cesare Borgia und im Werk Machiavellis »Der Fürst« entdeckt zu haben scheint. »Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtF, moralinfreie Tugend.« Nietzsche, »Der Antichrist«, 170. Barth, KD III/2, 282. Barth, KD III/2, 282f. Barth, KD III/2, 283: »Er war immer gegen das, wofür jedermann war.« Barth benutzt aus Nietzsches »Ecce homo« den Begriff des »Antiesels par execellence« (Nietzsche, »Ecce homo«, 302) für Nietzsche selbst. Barth, KD III/2, 283.
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»Da ärgert sich der moderne Mensch in ihm [sc. Nietzsche] ganz schlicht über die unglaubliche Tatsache des im Christentum aus ferner Vorzeit in die Gegenwart hineinragenden Altertums«921.
Des Weiteren »ärgere sich der moderne Philolog«922 Nietzsche über unvorsichtige und falsche Exegese der neutestamentlichen Schriften. Nietzsches Kritik an der Kirche und des sogenannten »Alltagchristentums« führt Barth dabei auf die Freundschaft mit Overbeck zurück. Barth konstatiert, dass es Nietzsche in all seinen Angriffen auf das Christentum stets nur auf seine moralischen Werte und weniger auf den Gottesgedanken an sich gegangen sei. Diesen Angriff sieht Barth in der Tatsache begründet, wonach Nietzsche das Christentum »auf dessen eigenstem Feld als letzter Feind begegnet«923, auf dem Feld einer Idee der menschlich ethischmoralischen Praxis. In diesem Zusammenhang verweist Barth auf die letzten Kapitel des »Ecce homo« in denen Nietzsche jene Moral des Christentums und ihre Entdeckung als seine eigene Heldentat explizit beschreibt. Barth charakterisiert anhand weiterer Werke Nietzsches Sicht auf die verwerflichen moralischen Überzeugungen des Christentums. In der Gegenüberstellung seiner Moral der Starken, die sich durch den »Willen-zur-Macht« und der bewussten Abkehr von seinen Mitgeschöpfen auszeichne und der christlichen Moral der Schwachen, die »dem Übermenschen den Gekreuzigten vor Augen«924 führe und diesen Gekreuzigten Menschen in ihrer Spitzenthese als das Göttliche postuliere, zeige Nietzsche nach Barth in einer zwingenden Weise auf, auf was das Christentum beharren müsse, um sich nicht selbst zu verraten. Barth begibt sich anschließend auf die Suche nach genealogischen Fäden in der Biographie Nietzsches, die ihn zu diesem Generalangriff auf Christentum geführt hätten. Dabei versucht er wiederum Nietzsches Kritik in eine Linie mit der Christentumskritik des deutschen Humanismus von Goethe, Kant, Fichte, Schelling, Hegel zu stellen925, wobei noch keiner dieser Denker vor Nietzsche sich derart explizit außerhalb der christlichen Moral gestellt hätte, die bis dato den Denkhorizont anzeigt hätte, indem einzig und allein ein Philosophieren möglich gewesen sei.926 »Das Neue bei Nietzsche war eben wirklich dies, daß die Entwicklung der Humanität ohne den Mitmenschen – die heimlich schon die Humanität des Olympiers Goethe, auch die Humanität der anderen Klassiker und dann auch die jener Mittelmäßigen gewesen war – bei ihm in ein ungleich fortgeschritteneres, reizbarereres, gefährlicheres 921 922 923 924 925 926
Barth, KD III/2, 284. Barth, KD III/2, 284. Barth, KD III/2, 285. Barth, KD III/2, 285. Vgl. Barth, KD III/2, 286. Vgl. Barth, KD III/2, 283.
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und doch auch gefährdeteres – sollen wir sagen: in ihr letztes? – Stadium getreten war.«927
Nietzsche wäre als »rechtmäßiger Erbe, Nachfolger und Prophet der Renaissance und ihrer ganzen Deszendenz«928 durch die Etablierung seines Übermenschen gezwungen das Christentum zu kritisieren, da es seiner »höchsten, reifsten Frucht den elenden und leidenden Menschen entgegenstelle: Es verlangt von ihm, daß er durchaus nicht ohne ihn, sondern nur mit ihm zusammen Mensch sein dürfe, daß er gerade mit ihm zusammen aus einer Quelle trinken müsse […] Es will, daß er in ihm und in ihnen seine Nächsten, noch mehr : sich selbst erkenne.«929 So gesehen übertrifft Nietzsches Kritik des Christentums in den Augen Barths »die erhabene Ablehnung Goethes […], wie die spekulative Umdeutung der idealistischen Klassiker, wie die aufklärerische Bestreitung jener Nachfahren«930 bei weitem. Jene hätten ihre Kritik noch nicht in letzter Entschlossenheit vorgetragen, die von ihrem Inhalt her zwar auch schon in ihnen angelegt war, jedoch noch nicht wie bei Nietzsche zu voller Blüte und Konsequenz gelangt war. »Nietzsche aber war im Positiven konsequent gewesen, war den Weg der Humanität ohne den Mitmenschen zu Ende gegangen.«931
Und gleichzeitig sieht Barth diese Konsequenz, den Angriff Nietzsches, nicht »zeitgeschichtlich« oder gar »psychologisch-psychopathologisch« bedingt, sondern allein aufgrund des geistesgeschichtlich ideellen Erbes hätte Nietzsche seinen Angriff auf das Christentum führen müssen, da »es im Inventar der abendländischen Kultur, allen Ablehnungen, Umdeutungen und Bestreitungen zum Trotz, unerledigt trotz aller Erledigungen, mindestens in Gestalt des immer noch vorhandenen griechischen Neuen Testamentes [immer noch] so etwas wie das Christentum gab«932. Und doch säße auch Nietzsche in seinem Angriff auf das Christentum lediglich einer Karikatur, und dabei nicht einmal einer originellen, des Christlichen auf. Nämlicher einer Geschichtskonstruktion, die »die Entstehung des Christentums aus einer Art Sklaven- und Proletarieraufstand« erkläre, der wiederum »dann von Paulus und anderen heimtückischen Priestern metaphy927 Barth, KD III/2, 287. 928 Barth, KD III/2, 289. 929 Barth, KD III/2, 288. Interessanterweise setzt Barth den Übermenschen und auch den »Dionysos-Zarathustra« mit ihrem Erschaffer Nietzsche gleich. Werk und Person werden nicht streng systematisch unterschieden, sondern autobiographisch zusammengelesen. 930 Barth, KD III/2, 287. 931 Barth, KD III/2, 289. 932 Barth, KD III/2, 289.
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sisch unterbaut und überbaut« worden wäre.933 Barth attestiert Nietzsche in dieser Geschichtskonstruktion eine zeitbedingte und für das 19. Jahrhundert in dessen Sicht auf das Evangelium als einer »Sozialistenlehre« durchaus typische Meinung.934 Somit hätte Nietzsche im Sinne seines Angriffs eine, seiner radikale Kritik passende, Karikatur des Christlichen entworfen und gleichzeitig diesen Angriff in bis dato unbekannter Zielsicherheit geführt, was gerade der Theologie auf die Sprünge helfen könnte, ein verantwortliches und konsistentes Bild des Menschen und des Christentums zu zeichnen: »Er hat mit seiner Entdeckung des Gekreuzigten und seines Heeres das Evangelium selbst in einer Gestalt entdeckt, wie es dessen Vertretern – um von seinen Gegnern nicht zu reden – jedenfalls im 19. Jahrhundert so nicht gelungen ist.«935
IV.2.3 Zusammenfassung und Beurteilung – Nietzsche in der Kirchlichen Dogmatik Ausgehend von den Textbeobachtungen soll nun an dieser Stelle eine Zusammenfassung stehen, welche die disparaten Bezugnahmen Barths auf Nietzsche in der KD im Sinne eines Überblicks summarisch zu bündeln und inhaltlich zu strukturieren sucht. Wie es sich schon in den RÖ-Auflagen andeutete, lassen sich grundlegend zwei verschiedene Ebenen der Rezeption Nietzsches bei Barth in der KD unterscheiden. Zum einen gibt es eine im Vergleich zu früheren Bezugnahmen profiliertere inhaltliche Auseinandersetzung mit der Person und der Philosophie Nietzsches und andererseits das Spiel mit dem sprachlichen Duktus und den wirkmächtigen Sprachbildern Nietzsches für Barths eigene Zwecke. Beide Ebenen der Rezeption können dabei von Barth schillernd ineinander übergeleitet werden. Im Blick auf die von Barth zitierten Textpassagen und Begrifflichkeiten Nietzsches zeigt sich, dass Barth in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Nietzsche, die textlichen Bezüge entsprechend ihrer ursprünglichen Zielrichtung im Zusammenhang der Philosophie Nietzsches in seine eigenen Gedanken als theologisch zu kritisierende Antipoden einbauen kann. Daneben verhilft Barth in ähnlicher Weise die Bezugnahme auf Nietzsche als Person dazu, die eigene theologische Begründungsfigur in der gezielten Absetzung zu bisherigen geistesgeschichtlichen Entwicklungen und atheistischen Positionen inhaltlich zu profilieren und damit an theologische Schärfe gewinnen zu lassen. Damit 933 Barth, KD III/2, 289. 934 Barths Meinung hierzu: »Jeder hilft sich wie er kann.« Vgl. Barth, KD III/2, 289. 935 Barth, KD III/2, 290.
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wird deutlich, dass die inhaltlich sich absetzende Bezugnahme auf Nietzsche als Person und dessen philosophisches Werk den gleichen Grundvoraussetzungen unterliegen. Nietzsches philosophisches Werk ist für Barth ein extravagantes und prophetisches Manifest und im speziellen seiner Person, das literarische wie leibhaftig existierende Abbild dieser Überzeugungen. Nietzsche und sein Werk sind in die bisherigen geistesgeschichtlichen Genealogien und Systemen eingebettet, was es ermöglicht, deren Pointen und Aporien in ihrer konsequentesten Form zu erkennen. Damit bildet Nietzsche für Barth als Philosoph, der als das personifizierte Abbild seiner Philosophie existierte, einen für die Theologie folgenschweren Absetzungspunkt, da sich in ihm zu kondensieren scheint, was die Theologie gegenüber philosophischen Wirklichkeitstheorien im Blick auf die Welt und den Menschen dezidiert anders zu akzentuieren hat. Die zweite Ebene der Rezeption zeigt sich darin, dass Barth Begrifflichkeiten oder wirkmächtige Sprachbilder Nietzsches entgegengesetzt oder zu mindestens losgelöst aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang zur Verdeutlichung seiner eigenen theologischen Aussagen nutzen kann. Wenn derart verwendet, wurde unverkennbar, wie leicht für Barth die inhaltliche Auseinandersetzung in eine sprachwirkmächtige Rezeption wechseln kann und die Begrifflichkeiten Nietzsches, in der ihnen eigenen sprachlichen Strahlkraft, als Begründungsfiguren in den Argumentationen Barths auftreten. Sehr deutlich wurde dies am nietzscheanischen Ausschnitt »Alle Lust will Ewigkeit«, der auf beiderlei Weise Verwendung in der KD findet und daher die zwei Ebenen der Rezeption gut zu verdeutlichen vermag. Zum einen findet dieses Satzstück aus »Also sprach Zarathustra« im theologisch motivierten Versuch der inhaltlichen Entgegnung von Nietzsches philosophischer Überzeugungen Verwendung oder aber als das wirkungsästhetische Sprachbild eines theologischen Gedankens seinen Ort in Barths Argumentationszusammenhängen. Auch bei den Begriffen des »Übermenschen« oder dem »Willen-zur-Macht« spielt Barth sehr ähnlich mit den beiden Ebenen der Rezeption. Einerseits mit deren verbreiteten und durch Nietzsche selbst gesetzten Bedeutung als inhaltlicher Kumulationspunkt seiner Philosophie. Andererseits nutzt sie Barth auch seinerseits dazu, die Radikalität der Sprachbilder an sich aufnehmend, diese in seinem Sinne umzudeuten, wie es im Speziellen am Begriff des »Willens-zur-Macht« deutlich wurde und damit seine eigene theologische Position durch die Wirkmächtigkeit des Begriffes zu profilieren. Die Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung, und der damit zu verbindenden theologischen Absetzung von den philosophischen Überzeugungen Nietzsches, sei im Folgenden noch etwas differenzierter beschrieben. In den Bezugnahmen Barths auf Nietzsche geht es inhaltlich zuallermeist nicht um Abstracta der Philosophiegeschichte, sondern um die konkreten Thematiken des Menschseins und dessen ethischer Gestaltung zwischen »Leben
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und Tod«, »Wahrheit«, »Freiheit« und »die Bestimmung des Menschlichen als eines sozialen Wesens«, die es zu interpretieren und zu gestalten gilt. Diese anthropologischen Grundfragen sind dem Großbereich einer Hermeneutik des Humanen zuzurechnen, wie es Barth auch im entsprechenden Petitdruck der KD III/2 selbst beschreibt. Spezifischer geht es um das Sein des Menschen als Individuum und in der Gemeinschaft, seine Bezogenheit auf sich selbst und andere, die Möglichkeiten seiner Selbsterkenntnis und Sinnsetzung und um die Frage, aus welchen ideellen Quellen sich das moderne Bild des Menschen speise. Für die Ebene der inhaltlich-kritischen Auseinandersetzung mit Nietzsche ordnet Barth das von Nietzsche vorgetragene ideengeschichtlich geformte Verständnis des Menschen und seine Kritik des Christlichen in eine bestimmte geistesgeschichtliche Tradition ein, die sich eine Geschichtskonstruktion des Christlichen zu eigen gemacht hätte. Somit hätte Nietzsche lediglich die Karikatur und nicht das Selbstbild des christlichen Glaubens angegriffen und durch seine Kritik obsolet zu machen versucht. Daher kann Nietzsches Angriff auf das Christentum nach Barth gar nicht die Legitimität des Christlichen an sich in Frage stellen und zu einer theologischen Selbstvergewisserung nur insoweit beitragen, als dass sie mit Nietzsche von ihrer Fehlerhaftigkeit und Verirrungen entkleidet wird. Die Dekonstruktion dieses karikierten Christentums, das sich nach Barth einer verbreiteten Geschichtskonstruktion verdankte, sei Nietzsche dabei auf einmalige und konsequente Art und Weise geglückt. So sei es also u. a. dem Angriff Nietzsches zu verdanken, dass eine Gesellschaft und mit ihr die christliche Theologie aufgezeigt bekommen habe, in welchen Irrungen und Sackgassen sie sich durch die geistesgeschichtlichen Entwicklung befinde und nun, ermahnt durch die Kritik, wieder das Eigentliche des christlichen Glaubens profilieren könne. Auch wenn Barth in der KD sichtbar nur eine Skizze seiner Interpretation und Hermeneutik der Philosophie Nietzsches vorstellt, wird doch erkennbar, dass hinter dieser skizzenhaften Nietzsche-Rezeption eine durchdachte und systematisch klare Auslegung steht. Deutlich wurde auch, dass sich Barth in seiner inhaltlichen Beurteilung der Philosophie Nietzsches teilweise in den gängigen zeitgenössischen Schemata bewegt und dennoch gleichzeitig darüber hinausweist, wenn er in Nietzsche einen irritierenden und gleichzeitig wirkmächtigen Interpretationsraum für das Selbstverständnis des Christentums und dessen theologischer Reflexion entdeckt. Die in der KD III/2 explizit gemachte Verhältnissetzung Nietzsches mit Goethe fällt auf besondere Weise ins Auge. Qu verweist auf eine verstärkte Goethe-Lektüre Barths im Jahr 1932, die für Barth darin begründet lag, »das Leben und das Denken Goethes im Rahmen der Vorgeschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert [zu] behandeln«936. Dabei sei es ihm je936 Qu, Barth und Goethe, 223.
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doch nicht in erster Linie um die theologische, als vielmehr um die geisteswissenschaftliche Vorgeschichte der protestantischen Theologie gegangen. Qu verweist weiterhin auf einen Vortrag, »den ein Pfarrer namens Ernst Friedrich Eymann am 21. September [1932] vor dem evangelisch-theologischen Pfarrverein in Bern hielt« und als Thema »das Verhältnis zwischen Anthroposophie und Christentum« behandelte.937 Diese Beobachtung lässt aufhorchen. Könnte hier Barths Auseinandersetzung im Petitdruck mit Goethe und Nietzsche im Sinne des geistesgeschichtlichen Gewordenseins der Gegenwart neues Feuer gefunden haben? Der Versuch, Barths Beschäftigung mit Nietzsche in der KD III/2 mit anderen schriftlichen Zeugnissen von ihm in dieser Zeit in Verbindung zu bringen und damit die interpretierende Grundskizze Nietzsches bei Barth noch deutlicher nachzeichnen zu können, scheitert leider daran, dass sich in der Bibliographie938 Barths 937 Qu, Barth und Goethe, 224. 938 In den Predigten der fraglichen Zeit zwischen 1935–1952 finden sich lediglich drei Bezugsstellen. Vgl. Karl Barth, Predigten 1935–1952 (Gesamtausgabe, Abt. I), Zürich 1996. In der Predigt über Psalm 130, 1–4, die Barth u. a. am 24. 10. 1943 in der St. Jakobskirche in Basel gehalten hat, findet sich im abschließenden Teil seiner Auslegung das Zitat aus Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, welches ebenfalls in der KD I/1 Verwendung findet, »Erlöster müßten die Erlösten aussehen.« (aaO. 281) Von Barth wird das Zitat in ganz ähnlicher Weise wie in der KD verwendet, wonach Nietzsche in seinem Aufruf Recht zu geben sei. In einer zweiten Predigt über Klagelieder 3,21–23, die er am 22. 10. 1944 in Safenwil und am 29. 10. 1944 im Basler Münster gehalten hat, kommt Barth auf Nietzsches 100. Geburtstag zu sprechen. Jeder Mensch hätte seinen begrenzten Lebenskreis, in dem er wirke und von anderen geschätzt würde, wobei diese Grenze von keinem Menschen überschritten werden könne. »Es kann vorkommen, daß er dann gelegentlich, vielleicht an seinem 100. Geburtstag – wie vor kurzem Friedrich Nietzsche – wieder entdeckt wird, und dann betrachtet man noch einmal sein Bild, dann liest man noch einmal einiges über ihn, und vierzehn Tage später redet wieder niemand mehr von dem längst Entschwundenen.« (aaO. 296f.) Die Hrsg. weisen in diesem Zusammenhang auf verschiedene Zeitungsartikel zu Nietzsches Jubiläum hin, wobei es wohl in Basel zu keiner speziellen Jubiläumsfeier gekommen sei. (Vgl. aaO. 296, Fußnote 8.) Könnte es also sein, dass Barth aufgrund dieses Jubiläums neuerlich auf Nietzsche aufmerksam wurde? Eine letzte Bezugnahme findet sich in der Predigt vom 10. 11. 1946 zu 1. Joh 2,17, gehalten in der St. Jakobskirche in Basel. Barth predigt über die Vergänglichkeit der Welt, die er genau darin als Gottes gute Schöpfung charakterisieren möchte und baut Nietzsche als menschlichkorumperte Stimme ein, die sich dieser Vergänglichkeit in Hybris entgegenstelle. Auch hier kommt ein Textbezug vor, der auch in der KD Verwendung findet, nämlich die Schlusszeilen aus »Das andere Tanzlied« im Zarathustra Nietzsches: »Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit« (aaO. 344). Leider kann diese Stichwortsuche noch nicht auf die »Vorträge und kleinere Arbeiten« Barths oder auch auf seinen Briefwechsel mit Thurneysen aus der entsprechenden Zeit ausgeweitet werden, da die entsprechenden Bände der Gesamtausgabe bis dato noch nicht erschienen sind. Gleichzeitig ist für diese noch ausstehende Untersuchung unter aller Voraussicht mit einem ähnlich mageren Ergebnis einiger weniger Stichwortbezugnahmen zu rechnen und nicht mit einer ausführlichen und eine über die Interpretation des Petitdrucks in der KD III/2 hinausgehenden oder inhaltlich anders gearteten Beschäftigung. In diesem Zuge fällt auch auf,
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der fraglichen Zeit keinerlei weitere literarische und damit aussagekräftige Auseinandersetzung mit Nietzsche finden lässt. In Anbetracht dieses Ergebnisses wird nun für den Fortgang der Studie nicht mehr nur nach textlich auffindbaren Abhängigkeiten und Bezugnahmen geschürft, sondern der Blick in Richtung einer inhaltlich-thematischen Auseinandersetzung in Analogie und Kritik zwischen Barth und Nietzsche geweitet werden. Dieser Blick verbindet sich damit folgerichtig mit der spezifischen Fragestellung nach einer grundierenden Rezeptionsebene, die gerade erst im Zusammenhang mit dem für Barth im Hintergrund stehenden Interpretationsmuster Nietzsches und damit in einer etwaigen gemeinsamen Fragestellung von Nietzsche und Barth entdeckt und konturiert werden kann. Zur Annäherung an diese Fragen ist die Untersuchung, wie schon für die RÖAuflagen angeklungen, nun darauf angewiesen, die Rezeption Nietzsches in verschiedenen Metabenen einzuordnen und zu bewerten. Dem angedeuteten Ergebnis der oben vorgestellten Zusammenfassung der barth’schen NietzscheRezeption folgend, soll daher die barth’sche Interpretation Nietzsches nun unter Einbeziehung von Barths Sichtweise auf die ideengeschichtliche Einbettung der Theologie und seiner Einschätzung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie im Gegenüber zu seiner dialektischen Phase konturiert werden. Daneben soll auch die barth’sche Nietzschelesart in den Blick genommen werden und ein genauerer Blick auf die am meisten zitierte Schrift Nietzsches, dessen »Ecce homo«, geworfen werden, um Barths interpretierende Grundmuster konturieren zu können. Als Letztes soll im Rückgriff auf die Studien von Mourkojannis und Kleffmann zur Nietzsche-Rezeption in der Theologie und im speziellen bei Barth, ein erster Versuch stehen, eine die Interpretation Nietzsches leitende und gemeinsame Grundfragstellung zwischen Barth und Nietzsche in den Blick zu nehmen. In diesem Vorhaben soll auf den jeweiligen Lebensbegriff von Barth und Nietzsche Einsichten gewonnen werden, den es für beide anhand einer Religionskritik herauszustellen gilt. Am Abschluss steht daher die Frage, wie der Ertrag der Rezeption Nietzsches in der KD gedacht werden kann: In einer grundsätzlich positionellen Legitimierung des theologischen Denkens im Gegenüber zu Nietzsche oder eher in einer durch Nietzsches Philosophie angestachelten theologischen Begriffsschärfung.
IV.2.3.1 Nietzsche als Endpunkt einer geistesgeschichtlichen Entwicklung »Weil die Gegenwart immer wieder eine andere ist, darum kann die Theologie nicht in der Feststellung und Mitteilung von schon gewonnen Resultaten irgend einer klassidass sich in Barths gesamten schriftlich hinterlassenen Bibliographie kein Titel finden lässt, der explizit Nietzsches Werk oder seine Person zum Inhalt hätte.
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schen Zeit, darum muß sie in immer erneuter Besinnung bestehen, darum muß die theologische Arbeit in vollem Ernst immer wieder, und zwar immer wieder ab ovo getan werden.«939
In Barths Werk »Die Theologie des 19. Jahrhunderts«, welches aus zwei unvollständigen Vorlesungen des Wintersemesters 1932/1933 und des Sommersemesters 1933 hervorgegangen ist, versammelt er die seiner Ansicht nach namhaften Taktgeber für die Theologie des 19. Jahrhunderts940 und unternimmt den Versuch, das Gewordensein der Theologie auf dem Hintergrund einer philosophischen wie theologischen Geistesgeschichte zu beschreiben. Dabei unterteilt er seine Arbeit in eine »Vorgeschichte« und eine »Geschichte«941 und wird damit seinem Vorwort gerecht, wonach man dem »lebendigen Mensch«942, der der »Gegenstand der Geschichtswissenschaft«943 sei, erst gerecht werde, wenn man die theologischen Diskurse in ihrer historischen Genese versteht und sich diese wiederum in seinem Denken und Verständnis zu eigen mache.944 Barth macht in seinen Ausführungen zweierlei deutlich. Zum einen seien Gedanken und Theoreme stets in ihrem jeweiligen geschichtlichen und kontextuellen Bezugsrahmen zu betrachten und dürften nicht selektiv und solipsistisch für eigene Wahrheiten zu Recht gestutzt oder interpretiert werden. Zweitens hätten geschichtliche Entwicklungen spürbare Auswirkungen auf das je eigene Jetzt, das es zu verstehen und gestalten gelte. »Die Geschichte sind die lebendigen Menschen, die gerade, wenn sie gestorben sind, gerade weil ihr Werk dem guten Willen unserer Auffassung und Deutung wehrlos ausgeliefert ist, schon den Anspruch auf unsere Ritterlichkeit haben, den Anspruch, sich mit ihrem eigenen Anliegen hören lassen zu dürfen und nicht einfach als Mittel zu unseren Zwecken verwendet werden.«945 939 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 31960, 2. 940 Leider vermisst man einen gesonderten Abschnitt über Nietzsche. Anscheinend war Nietzsche für Barth keine so prägende Gestalt, als dass sie einen gesonderten Artikel verdient hätte. Namentlich nennt Barth Nietzsche in diesem Werk an sechs Stellen, jedoch jedes Mal in einer kurzen Stichwortverbindung und lediglich als Inbegriff der philosophischen Christentumskritik des 19. Jahrhunderts. Um eine echte Auseinandersetzung scheint es Barth nicht zu gehen oder hat Barth vielleicht zu diesem Zeitpunkt selbst noch die Rolle Nietzsches für das 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende unterschätzt und wie anders er sie später in seiner KD III/2 zum Vorschein kommen lässt. 941 Mit den Begriffen der »Vorgeschichte« und »Geschichte« greift Barth wohl einen Gedankengang Overbecks auf, den dieser in seiner posthum veröffentlichten Studie »Christentum und Kultur« (1919) dargelegt hatte. Diese Begriffsunterscheidung hilft ihm wohl dabei, direkte von eher numinosen Einflüssen der Vergangenheit auf die Gegenwart beschreiben zu können. 942 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2. 943 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2. 944 Vgl. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2. 945 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 8.
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Um diesen Selbstanspruch einzulösen, fordert Barth von der Theologie den Blick über den eigenen theologischen Horizont hinauszuwagen946 und betont, dass es eine Theologiegeschichte immer im Kontext von »Kultur-, Kunst und Literaturgeschichte«947 zu betrachten gelte.948 Barth benennt bereits für das 18. Jahrhundert als Grundthema der Aufklärung und die daraus resultierende akademische Theologie deren humanisierende Fokussierung.949 Für diese Humanisierung benennt Barth vier Gesichtspunkte: 1. Staatskirchentum bzw. Verstaatlichung der Kirche (65ff.). 2. Verbürgerlichung oder Moralisierung des Christentums (71ff.). 3. Verwissenschaftlichung oder Philosophierung des Christentums (80ff.). 4. Individualisierung oder Verinnerlichung des Christentums (92ff.). Er formuliert mit seiner These einer Humanisierung den an verschiedenen Stellen geäußerten und stets gleichlautenden Verdacht, wonach die Theologie – speziell die im schleiermacher’schen Sinne argumentierende sogenannte »Liberale Theologie« – zunehmend nicht mehr von Gott gesprochen habe, sondern vom Menschen in einer göttlichen Überhöhung. Der Mensch sei sich »seiner Macht zur Wissenschaft und durch die Wissenschaft bewußt«950 geworden, »der eigentliche Gegenstand des Forschens der Menschheit sei der Mensch«951. Nietzsche selbst wird von Barth in seiner Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts sechsmal explizit benannt. Barth führt ihn dabei jeweils als bestechendes Signum einer virulenten und zerstörerisch vorgetragenen Gegenwartskritik an. So bescheinigt Barth an einer Stelle den jeweiligen theologischen Strömungen, den damaligen gesellschaftlichen Aufbrüchen zeitlich nicht Schritt gehalten zu haben. Der von Ritschl entworfene theologische Positivismus sei dabei bereits in seinen Anfängen durch Nietzsche zerstört gewesen.952 Die größte Häufung Nietzsches findet sich jedoch im Kapitel über den Theologen David Friedrich Strauß. Nietzsche wird dabei von Barth als scharfsinniger Kritiker und
946 Vgl. dazu die Studien von Cornelis van der Kooi, Anfängliche Theologie. Der Denkweg des jungen Karl Barth (1909–1927), München 1987 und Thomas Kucharz, Theologen und ihre Dichter : Literatur, Kultur und Kunst bei Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich, München 1987. 947 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 11. 948 Diesem Hinweis kommt Barth in den ersten Kapiteln seines Buches, die mit »Vorgeschichte« überschrieben sind, selbst nach und zeichnet die naturwissenschaftlichen und historisch-politischen Ereignisse und ihre Auswirkungen auf die theologische Reflexion nach. Im Werk Barths angelegt zeigt sich auch wiederum die selektive und subjektive Wahrnehmung dessen, was Epochen und Perioden ausmachen und welche Ereignisse jeweils angeführt werden, um das eigene geschichtliche Verständnis zu verifizieren. 949 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 64. 950 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 22. 951 Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 23. 952 Vgl. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 116.
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bloßstellender Entlarver der Strauß’schen »systematischen Impotenz«953 gezeichnet. In Strauß entdeckt Barth genau jenen »Bildungsphilister«, den Nietzsche mit seinem Werk auf positivste Weise zu entlarven und zu kritisieren wusste. Im Zusammenhang der Romantik und deren Überwindung findet unter dem Stichwort des »modernen Menschen« auch Nietzsche seinen Platz. Barth schreibt: »Alle [sc. u. a. Nietzsche] nun freilich auch, jeder in seiner Weise, Einzelgänger, moderne Menschen in irgend einer originellen Weise und eben damit nur um so repräsentativer für die verborgenen Strebungen dieser von der Romantik scheinbar so entfernten Zeit.«954
Diese Einschätzung Barths über Nietzsche, als Philosoph des »modernen Menschen« und des »Einzelgängers«, führt sich im speziellen in den Ausführungen im Petitdruck der KD III/2 inhaltlich konsequent fort. IV.2.3.2 »Idee und Schicksal« – Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie Gegen Ende der 1920iger nahm Barths Auseinandersetzung mit dem sogenannten Neuprotestantismus spürbar ab, was wohl unter anderem daran lag, »dass die Kritiker mehr daran interessiert waren, seine Theologie durch sozialpsychologische Analysen quasi weg zu erklären, als daran, sich mit seinen theologischen Anliegen auseinanderzusetzen«955. Im Zuge von Barths Hinwendung zur materialen Dogmatik wurde er zunehmend auf den Katholizismus aufmerksam und fand hier »einen herausfordernden Gesprächspartner«956. Auf eine solche Auseinandersetzung soll nun im Folgenden ein Fokus gelegt werden und sich mit Barths Vortrag – wohl mit dem Gesprächspartner Erich Przywara und seiner Vorstellung der analogia entis im Hintergrund957 – »Schicksal und Idee«958 auseinandergesetzt werden. Anhand dieses Vortrages kann Barths Verständnis der Verhältnissetzung der Theologie zur Philosophie deutlich konturiert werden. Im Rahmen einer Art studium generale erklärte sich Barth 1929 bereit, eine Vorlesung zu übernehmen und las über vier Abende im Februar und März 1929 hinweg zum Thema »Idee und Schicksal«.959 953 954 955 956 957 958
Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 493. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 304. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 319. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 321. Vgl. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 325. Karl Barth, Schicksal und Idee in der Theologie (1929), in ders. Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930 (Gesamtausgabe, Abt. III), Zürich 1994, 344–392. 959 Vgl. Barth, Schicksal und Idee, 344f.
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McCormack fasst das Anliegen Barths in dieser Studie treffend zusammen: »»Schicksal und Idee« diskutiert zwei grundsätzlich verschiedene Orientierungen in der Theologie, von denen jede einer bestimmten Orientierung in der Philosophie entspricht. Die beiden Orientierungen sind der Realismus und der Idealismus.«960
Für Barth stehe jedoch gleichzeitig fest, dass beide Orientierungen ihre berechtigten Anliegen hätten, die für das theologische Denken angemessen zu berücksichtigen seien. Für den Realismus sei davon auszugehen, dass Gott »eine objektive Existenz« besitze, unabhängig von und vorgängig dem menschlichen Wissen von ihr.961 Entsprechend konträr definiert sich der Idealismus in Bezug auf die Objektivität eines Gottesgedankens: »Idealismus ist kritisches Denken, das sich seiner selbst bewusst geworden ist. Es sucht eine nicht-gegebene, nicht gegenständliche, unbedingte Wahrheit, die die notwendige ontische und noetische Voraussetzung des Gegebenen, Gegenständlichen und Bedingten darstellt.«962
Mit einem etwas genaueren Blick in den Vortrag selbst, soll nun die darin angelegte Verhältnissetzung und Definition von Philosophie und Theologie beschrieben werden. »Wo grundsätzliche Besinnung über die Existenz, in der wir Menschen uns vorfinden, auch nur einigermaßen in die Tiefe ging, da stieß sie irgendwie auf die beiden durch diese und ähnliche Begriffspaare963 bezeichneten Endpunkte menschlichen Denkens, auf das Problem ihrer Beziehung zueinander, auf das Problem der Überordnung, weil Ursprünglichkeit je des einen oder des anderen, auf das Problem ihrer höheren Einheit.«964
Zu Beginn seines Vortrages gibt Barth über den Titel Auskunft und erklärt mit dem Begriffspaar »Schicksal und Idee« das »Grundproblem aller Philosophie«965 angehen zu wollen. »Wir leben ja unser Schicksal, und wir leben doch unserer Idee«.966 Barth will in seinem Vortrag nicht lediglich »bloße Begriffe« behandeln, sondern es geht ihm »um Lebensmächte«, die das menschliche Sein seiner Meinung nach be960 961 962 963
McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 325. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 325. McCormack, Theologische Dialektik und kritischer Realismus, 327. Hier nennt Barth die folgenden: »Wirklichkeit und Wahrheit«, »Natur und Geist«, »Das Besondere und das Allgemeine«, »Das Gegenständliche und das Nicht-Gegenständliche«, »Das Bedingte und das Unbedingte«, »Sein und Denken«, »Heteronomie und Autonomie«, »Erfahrung und Vernunft«, »Realismus und Nominalismus«, »Romantik und Idealismus«. Vgl. Barth, Schicksal und Idee, 346. 964 Barth, Schicksal und Idee, 346. 965 Barth, Schicksal und Idee, 346. 966 Barth, Schicksal und Idee, 346.
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stimmen und strukturieren.967 Im ersten Abschnitt verwendet Barth einige Absätze darauf, die Möglichkeiten der Theologie zu beschreiben. Sie ist »als Theologie des verkündigten Gottes, des Gottes, den wir nicht erst zu suchen haben, sondern der sich uns zu finden gegeben hat und noch gibt«968 zu definieren. Gott ist für Barth Objekt, weil Subjekt der Theologie. Theologie und Philosophie seien dabei in ihrer Zielsetzung miteinander verbunden, eine »Besinnung über die Existenz in der wir Menschen uns vorfinden«, vorzulegen, wobei die Theologie aufgrund ihres Hörens auf die göttliche Offenbarung und damit Wahrheit über das menschliche Sein in dessen Bestimmung über ein gewisses Mehr verfüge.969 Gleichzeitig dürfe sich dieses Mehr der Theologie jedoch keineswegs als eine übergeordnete Kategorie der Erkenntnis vorgestellt werden, »mittels derer sie ihr Wissen, das Wissen um das Wort Gottes, vom Wissen der Philosophen als ein besonderes endgültig abzugrenzen vermöchte«970. Sie könne vielmehr nur »innerhalb der Grenzen der [allgemeinen] Humanität bestimmte, relativ außerordentliche Zeichen aufrichten«971. Barth beschreibt im Folgenden die Aufgabe des Theologen dahingehend, in der Welt und dabei gerade nicht aus ihrem Wissen heraus zu reden und verdeutlicht damit, dass die göttliche Wahrheit nicht in menschliche Worte zu kleiden und sie von ihrer göttlichen Sphäre abzutrennen sei. Anders bei der Philosophie, sie lebe aus der Weltweisheit des Menschen, die sie zu reflektieren und zu systematisieren sucht. Der Theologe dagegen stünde vor der Aufgabe, Gottes Offenbarung und Wahrheit über das menschliche Sein stets in Abhängigkeit zueinander in Verbindung zu halten, um so das »Außergewöhnliche« und »Unähnliche« im Gegenüber zu den menschlichen Erkenntniswegen zu bewahren. »Ist das Beste, was sie sagen kann, etwas anderes als eben das Tiefste, was die Philosophie auch sagen kann, nur eben besser, zugänglicher, umfassender, im Namen jedes Menschen sagen kann?«972
Für Barth bleiben Theologie und Philosophie daher in ihren Sprechweisen über die Wirklichkeit getrennt, auch wenn das, was sie »trennt, nur die Breite einer Ritze hat«973. Das spezielle Anliegen der Theologie, das sie von der Philosophie trenne, beschreibt Barth wie folgt: 967 968 969 970 971
Vgl. Barth, Schicksal und Idee, 347. Barth, Schicksal und Idee, 348. Vgl. Barth, Schicksal und Idee, 349. Barth, Schicksal und Idee, 348. Vgl. Barth, Schicksal und Idee, 349. Barth vergleicht die Möglichkeiten von Theologie und Philosophie im Ringen um wahre Aussagen mit dem Wettstreit von Mose und Aaron mit den Priestern des Pharaos in Ex 7,10f. 972 Barth, Schicksal und Idee, 352. 973 Barth, Schicksal und Idee, 353.
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»Menschlich, auf der ganzen Linie menschlich, allzu menschlich denkend und redend, nun dennoch das Wort Gottes sich gesagt sein zu lassen und also, Gottes Gnade vorbehalten, in tunlichster Sachlichkeit an Gott und nicht an die Endpunkte menschlichen Denkens zu denken und von Gott und wiederum nicht von diesen Endpunkten menschlichen Denkens zu reden«974.
So gesehen kommen Philosophie wie Theologie zwar auf die gleichen existentiellen Fragen des Menschseins zu sprechen, jedoch rechne die Theologie in der menschlichen Rede von sich selbst und der Welt mit einem Mehr, welche diese zwar nicht obsolet mache, jedoch in ihrer Vorläufigkeit deutlich hervortreten lasse. Philosophie wie Theologie kämen beide nicht umhin, die Grundsätzlichkeit von Schicksal und Idee975 im menschlichen Leben zu behandeln. Sie bedenken beide den »Doppelaspekt der Wirklichkeit«976, wobei der Unterschied »des Wortes Gottes zu den letzten tiefsten Menschenworten«977 genau jenen Abgrund von Vorläufigkeit und Letztgültigkeit zwischen beiden Wirklichkeitszugängen definiere. Im Folgenden beschreibt Barth das Verhältnis von Schicksal und Idee in ihrer theologischen Charakteristik und weist den theologischen Gedanken von sich, im Schicksalhaften, im eigenen subjektiven wie objektiven Sein und damit in einer Art Realismus, einer analogia entis, das Sein und die Wirklichkeit Gottes finden zu können. »Um Empirismus, um die Entdeckung Gottes oder die Begegnung mit Gott in einem dem Menschen innerlich-äußerlich, subjektiv-objektiv zustoßenden, ihm zu mächtig werdenden und ihn gefangen nehmenden, in schlechthinnige Abhängigkeit versetzenden Schicksal geht es doch offenbar auf der ganzen Linie.«978
Den Begriff der »Idee« als »zweiten, entfernteren Schritt der Erkenntnis«979, verhandelt Barth in der Fragestellung über die Verhältnissetzung von Wirklichkeit und Wahrheit: »Die Frage: Was ist Wahrheit? ist die Frage nach einer der Wirklichkeit überlegenen, die Wirklichkeit als solche legitimierenden, ja letztlich die Wirklichkeit begründenden Instanz, insofern also die Frage nach einem Nicht-Gegebenen, Nicht-Gegenständlichen, Unbedingten als der noetischen und ontologischen Voraussetzung des Gegebenen, Gegenständlichen, bedingten, nach einem nicht zu Sehenden, sondern nur zu 974 Barth, Schicksal und Idee, 354. 975 Beide Begriffe sind dabei auch zentrale Begriffe in der Philosophie Nietzsches, die in dem Sinne als eine Lebensphilosophie beschrieben werden können, als dass sie die zentralen existentiellen Kategorien des Menschseins in den Blick nehmen. 976 Barth, Schicksal und Idee, 354. 977 Barth, Schicksal und Idee, 355. 978 Barth, Schicksal und Idee, 359. 979 Barth, Schicksal und Idee, 368.
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Schauenden als dem Inbegriff, als dem Ort der Aufhebung alles Sichtbaren, insofern also die Frage nach der Idee.«980
Die idealistische Idee zeichne sich dabei durch den Zweifel und die generelle Infragestellung einer Korrelation zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Objekt und Subjekt und dem sich daran anschließend Gedanken aus, ob hinter der Subjekt-Objekt-Korrelation noch eine Sphäre des »Gegenüberstehendes, NichtGegebenen«981 stehen könnte. Barth definiert den erkenntnistheoretischen Weg des Idealismus folgendermaßen kritisch: »Der Mensch kommt zur Vernunft gegenüber dem objektiv-subjektiv noch so mächtigen Schicksal, um in der Beschränkung, die er sich ihm gegenüber auferlegt, mindestens sein Meister zu werden«.982
Gerade die Theologie eröffne dabei »den entscheidenden Anlaß«983, in dieser Weise idealistisch auf die Welt zu blicken, da sie von einem Wesen aus gehe, das jeglicher Korrelation gegenüberstehe und nur – gerade nicht in einer analogia entis oder similitudo dei – in der via negativa (Thomas v. Aquin) beschrieben werden könne. Diese Beschreibung führe selbst wiederum »nicht nur wie beim Realismus ein zweites, erklärendes und korrigierendes, sondern das erste und grundlegende Wort«984. Im Fortgang seines Vortrages kommt es Barth verstärkt darauf an, einen solchen Idealismus im Raum der Theologie zu installieren, der »nicht nur den in sich wesenden Gott als die Idee, die Wahrheit [postuliere], sondern er wird auch die Ideen, die Wahrheiten, die Prinzipien, die theoretischen und praktischen Begriffe aufsuchen und verkündigen in Bezogenheit zu Gott als ihrem Ursprung«985. Der »christlich-theologische Idealismus« wird für Barth als unhintergehbarer Ausgangspunkt der Krisis verstanden und von dort aus »als kritisches Verständnis des Gegebenen, der Offenbarung« postuliert.986 Anders jedoch als der philosophische Idealist könne der idealistische Theologe an diesen Punkt nicht durch die reine menschliche Vernunftwahrheit gelangen, sondern lediglich durch eine von Gott geschenkte Offenbarung, welche selbst also keine »allgemeine Möglichkeit«, sondern eine »besondere« darstelle.987 Des Weiteren müsse der »idealistische Theologe« sich darüber im Klaren sein, dass er lediglich »ein Nachzeichnen der göttlichen Wahrheitswirklichkeit oder Wirklichkeitswahrheit 980 981 982 983 984 985 986 987
Barth, Schicksal und Idee, 368f. So auch die grundsätzliche Frage Nietzsches. Barth, Schicksal und Idee, 369. Barth, Schicksal und Idee, 369. Barth, Schicksal und Idee, 370. Barth, Schicksal und Idee, 370. Barth, Schicksal und Idee, 373. Barth, Schicksal und Idee, 373. Barth, Schicksal und Idee, 373f.
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mit den Mitteln menschlicher Begrifflichkeit«988 angehen könne. Es gehe im strengen Sinne nicht um »Erkenntnis«, sondern um »An-Erkenntnis«. Philosophie und Theologie befänden sich zwar »im gleichen Raume« des »menschlichen Denkens [zwischen] Wahrheit und Wirklichkeit«989, so das Fazit Barths, jedoch mit unterschiedlichen Anliegen. Dieses Anliegen sei für die Theologie das Wort Gottes, welches sie sich gesagt sein lasse und deshalb »in keinem Sinn und unter keinem Vorwand Anthropologie, Besinnung auf die Wirklichkeit und Wahrheit des Menschen sein wolle«.990 Theologie und Philosophie können dabei bis zu dem Punkt eine »wohlwollende Neutralität« wahren, ja sogar in einer »lehrreiste[n] Arbeitsgemeinschaft leben, solange die Philosophie keine »Theosophie sein wollte«.991 Denn jede menschliche Anstrengung zu einer existentiellen Wahrheitsfindung stehe unter dem »Begriff der Sünde«, die »den Menschen für ein Gebilde blanker Illusion erklären muß« und den Glauben an »Schicksal« und »Idee« als »Abgötter, eigenmächtig vergötterten »Mächten, Fürstentümern und Gewalten«« titulieren müsse.992 »Wenn der Mensch ein verlorener und verdammter Sünder ist und wenn nun dieser Mensch seine Wirklichkeit und Wahrheit zusammenfaßt in ein letztes Wort und dieses sein letztes Wort seinen Gott nennt, wie soll es dann eigentlich anders sein, als daß es um diesen Gott so steht, daß die erspekulierte majestas kein andere ist als die majestas Diaboli?«993
In der Festschrift für Barths Bruder Heinrich Barth, schrieb Barth einen Beitrag mit dem Titel »Philosophie und Theologie«.994 Im Jahr 1960, also 31 Jahre später, macht er sich neuerdings an das Verhältnis von Philosophie und Theologie und beschreibt die Gegenüberstellung als »das Gegenüber gewisser verschieden interessierter, verpflichteter und beschäftigter Menschen«995. Das Gegeneinander beider Disziplinen verort Barth darin, wonach »die Probleme ihrer Forschung und Lehre an sich dieselben sind, nur eben – und das macht ihr Miteinander zu einem Gegeneinander – in entgegengesetzter Ordnung und Folge«996 bestünden. So gesehen behandeln Philosophen wie Theologen die gleichen Fragen und Probleme, jedoch aus der sich voneinander unterscheidenden Warte einer ver988 989 990 991 992 993 994
Barth, Schicksal und Idee, 376. Barth, Schicksal und Idee, 381. Barth, Schicksal und Idee, 384. Barth, Schicksal und Idee, 384f. Barth, Schicksal und Idee, 385. Barth, Schicksal und Idee, 386f. Karl Barth, Philosophie und Theologie, in Philosophie und christliche Existenz. Festschrift für Heinrich Barth zum 70. Geburtstag am 3. Februar 1960, Basel und Stuttgart 1960, 93– 106. 995 Barth, Philosophie und Theologie, 93. 996 Barth, Philosophie und Theologie, 93.
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schiedener Gewichtung und Ableitung. Dass sie sich im Ringen um die gleichen grundsätzlichen Fragen in einem gleichen Wirklichkeitsraum befänden, verbinde beide Disziplinen als Forschungsbereiche in der sie den jeweils anderen als »Mitmenschen« erkennen und sich in der Suche miteinander verbunden wissen. Aus dieser Mitmenschlichkeit folge zum einen die tolerante Anerkenntnis, den jeweils andern in der Wahrheitssuche in dem Wissen zu begleiten, dass sie die eine Wahrheit in die Gemeinsamkeit als Menschen miteinander rufe und herausfordere. Zum zweiten ergebe sich daraus die Erkenntnis, dass keiner von beiden im Wahn, die Wahrheit alleine zu besitzen, predigen oder dozieren dürfe. Man könne der Wahrheit vielmehr »nur zur Verfügung stehen, ihr nur dienen wollen«997. Der Gegensatz zwischen Theologie und Philosophie »entsteht und besteht [gerade nur] im Raum der ihnen Beiden leuchtenden und ihnen Beiden überlegenen einer ganzen Wahrheit, die als solche ihrer Beider Hoffnung, auch die große Hoffnung jenseits ihres Streites ist«998. Beide beschäftige theologisch gesprochen die Wahrheit und die Beziehung von Schöpfer und Geschöpf, philosophisch formuliert das Verhältnis der Idee und ihrer Erscheinung. Ist die Trennung zwischen Theologie und Philosophie damit lediglich als eine rein sprachliche zu fassen, die sich leicht ineinander übersetzen lassen könnte?999 Auf einer sprachlichen Ebene erkennt Barth an, dass es zu einem fruchtbaren Austausch, ja sogar einem sehr anregenden Gespräch kommen könne, nicht jedoch zu einer Auflösung der beiden Problemskizzen in eine übergeordnete. Denn die bloß sprachliche Ebene reiche nicht aus, um die grundsätzlichere Frage der Ordnung und Verhältnissetzung der Begriffe von Schöpfer und Geschöpf, Idee und Erscheinung adäquat und entsprechend ihrer Komplexität zu fassen. Für die Theologie sei eindeutig, dass nur vom Schöpfer aus auf das Geschöpf geblickt werden könne, wobei diese eindeutige und unumkehrbare Ordnung aus der Sicht des Theologen in dieser Konsequenz nicht in der Philosophie postuliert werden könne. Für die Philosophie bestehe eine »facultas« trotz »post Christum natum« an der in Jesus Christus offenbarten Weise, über die Idee und ihre Erscheinung zu reden und zu denken. Und dennoch sollten beide aneinander interessiert bleiben, vielleicht gerade nur dazu, »sich dabei aufs neue darüber klar zu werden, was ihm selbst im Unterschied zu Jenem geboten und verboten ist« und auch »der Eine beim Anderen, vielleicht ganz unerwartet und programmwidrig, faktisch dies und das für seine eigenes Unternehmen auch positiv Bedeutsame zu lernen, dankbar aufzunehmen finden möchte«.1000 Und dennoch schränkt Barth ein, dass wenn 997 998 999 1000
Barth, Philosophie und Theologie, 95. Barth, Philosophie und Theologie, 101. Vgl. hierzu V.4. Barth, Philosophie und Theologie, 103.
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»der Eine, von dem der Andere etwas zu lernen scheint, nicht erwarten dürfe, von diesem in seiner eigenen Intention »verstanden« zu sein.«1001 Der Theologe »bewundere ihn [sc. den Philosophen] als umsichtigen Ausleger von dessen Selbstverständnis und Selbstdarstellung, als Sprecher seiner Wissenschaft, Technik, Kunst und Politik, als priesterlicher Verwalter des Geheimnisses seiner Elevation und der Weihe seiner Natur und Kultur«, kurz als »Weltweisen«.1002 Die Philosophie werde so für die Theologie nicht zum advocatus diaboli, sondern zum »advocatus hominis et mundi,« mit deren spezifischen Blick auf die Welt und in der Sicht des Menschen auf sich selbst geschaut werden dürfe.1003 Mit diesem Verständnis Barths vom Verhältnis von Philosophie und Theologie wird eine grundsätzliche Verschiebung deutlich, wie Barth die absolute und gerade darin dem Menschen zugewandte Souveränität Gottes zu beschreiben suchte. Die hier von Barth vorgetragene Sicht auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie entspricht insoweit nicht mehr der Zeit seiner RÖAuflagen, als dass Gottes Offenbarung nicht länger in den philosophischen Kategorien eines Ursprungsgedankens gefasst und für die Theologie fruchtbar gemacht werden, sondern die Offenbarung Gottes erhält eine Dimension sui generis, eine offenbarungstheologische Erkenntnistheorie, die in sich Gottes absolute Souveränität als Ursprung und Ziel allen Seins aufweist.1004 So gesehen, verfolgen Philosophie und Theologe das strukturell analoge Vorhaben einer Wahrheitsfindung für die letztgültige Bestimmung des Seins. Sie können sich aber in dieser Wahrheitssuche über dieses strukturelle Moment hinaus keine inhaltlich zu füllende konstruktive Arbeitsgemeinschaft teilen.1005 IV.2.3.3 Nietzsches »Ecce homo« und »Dionysos-Dithyramben« Die übergroße Mehrheit der Bezugnahmen des resümierenden Petitdrucks in der KD III/2 speisen sich aus Nietzsches »Ecce homo«, welches Barth, wie bereits beschrieben, als Ausgangspunkt seiner Interpretation und als das Vermächtnis Nietzsches benennt. Damit nimmt die Schrift auch für die vorliegende Studie einen hervorgehobenen Stellenwert ein. Ähnlich wie Barth beschreiben auch andere Rezipienten einhellig das Werk »Ecce homo« als »Ausgangspunkt von Gesamtdeutungen von N.s Denken und Leben«1006. Barth entspricht diesem Verständnis des »Ecce homo«, wenn er 1001 1002 1003 1004
Barth, Philosophie und Theologie, 103. Barth, Philosophie und Theologie, 104. Barth, Philosophie und Theologie, 105. Als theologischen Gewährsmann nutzt Barth, wie unter IV.1.2 beschrieben, Anselm und seine Theologie des »credo ut intelligam«. 1005 Vgl. Lohmann, Barth und der Neukantianismus, 350–354. 1006 Vgl. Andreas Urs Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos
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ausgehend von diesem Werk Nietzsche selbst und seine inhaltliche Grundkonzeption des Menschen ohne den Mitmenschen profilieren will. Fast scheint es so, dass Barth ausgehend von »Ecce homo« und den dort getätigten Aussagen einzelne Ausflüge in andere Schriften unternimmt, um seine grundsätzliche im »Ecce homo« angelegte Interpretationslinie zu untermauern. Bei der genaueren Betrachtung der Bezugnahmen1007 fallen gewisse Kumulationen auf. So konzentriert sich Barth bei der Rezeption in der KD III/2 auf die einleitenden Kapitel des »Ecce homo« »Warum ich so weise bin«, »Warum ich so klug bin« und »Warum ich gute Bücher schreibe«. Bei den späteren Kapiteln, in denen Nietzsche einzeln auf seine Werke zu sprechen kommt, finden sich die Bezugnahmen bei »Menschliches, Allzumenschliches«, »Also sprach Zarathustra«, dem abschließenden Kapitel »Warum ich ein Schicksal bin« und in den angehängten »Dionysos-Dithyramben«. Nietzsches »Ecce Homo« [EH] kann nicht in erster Linie als eine klassische Autobiographie gelesen werden, da Nietzsche die »autogenealogischen Überlegungen um die Entstehungsbedingungen seiner Werke« darlegen will und nur dort autobiographische Einschübe vornimmt, wo sie diesem übergeordneten Ziel behilflich sind.1008 So gesehen, erfüllt »Ecce homo« einen »propagandistischprotreptischen Zweck«, der seine Leserschaft prospektiv wie retrospektiv schulen will: »Prospektiv auf die angekündigte ›Umwerthung aller Werthe‹, retrospektiv auf den bisherigen Verlauf« von Nietzsches Denken.1009 »EH [sc. »Ecce homo«] hält Rückblick auf eine Verfallsgeschichte der Kultur und will den Ausblick auf eine verheißungsvolle Zukunft eröffnen, die von der Umwertung aller Werte bestimmt werden wird. Im exemplarischen Ich, das in EH spricht, verdichten sich nicht nur individuelle Vergangenheit und Zukunft zu einer dionysischen Gegenwart, sondern die Weltgeschichte insgesamt soll in diesem Ich, das sich nach Ausweis des letzten Kapitels für ein »Schicksal hält«, gewissermaßen ihr Nadelöhr finden.«1010
Sommer stellt darüber hinaus heraus, dass »Ecce homo« eine »positive Genealogie« des Selbst erarbeite:
1007
1008 1009 1010
Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken Bd. 6/2, Berlin/Boston 2013, 347–349. Die folgende Auflistung geht chronologisch entsprechend der Bezugnahmen aus dem »Ecce homo« im Petitdruck Barth, KD III/2, 276–290 vor, die Seitenzahl nach dem Doppelpunkt entspricht den Bezügen im »Ecce homo«: S. 277: 257, 16f., 374, 31f.; S. 278: 326, 21f., 293, 7, 298, 21, 259, 16, 343, 10f. (nicht als Zitat ausgewiesen); S. 279: 343,19f., 287, 6f., 387, 8f., 410, 8f, 335, 8f., 259, 19f., 389, 18f, 409, 15f., 305, 30f.; S. 280: 297, 16f., 275– 277, 349; S. 281: 365, 8f, 366, 16f., 322, 21f., 319, 17 u. a., 356, 9f.; S. 283: 370f, 371, 19f.; S. 284: 373, 14f., 278, 22f.; S. 285: 398, 11f. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 326. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 327. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 327.
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»Das umwertende Ich, das sich bislang an so vielen Dingen kritisch-genealogisch abgearbeitet hat, findet in EH den letztlich einzigen ihm würdigen Gegenstand, nämlich sich selbst« und dies nicht nur »in seiner destruktiven Kraft […], sondern performativ in seiner Positivität.1011 […] EH soll demonstrieren, wie ein Leben mit N.s Denken sich konkret gestaltet und wie notwendig für jedes Individuum der Vollzug einer eigenen Umwertung der Werte ist, um damit zu einem emphatisch positiven, einem »dionysischen« Selbst- und Weltverhältnis zu gelangen.«1012
Die dem »Ecce homo« angefügten »Dionysos-Dithyramben1013 schrieb Nietzsche kurz nach Abschluss seiner Arbeiten am »Ecce homo« Ende des Jahres 1888 nieder, wobei er zu Beginn des Jahres 1889 die abschließende Druckfassung bestehend aus teils alten Aphorismen, teils aus neuen Textabschnitte überarbeitete, da die Dithyramben von ihm zuerst als Supplement der Zarathustrareden konzipiert waren. Bei der inhaltlichen Ausrichtung der nietzscheanischen Dithyramben ist festzuhalten, dass Nietzsches »genialisch-hoher dichterischer Anspruch teilweise auf den – vergeblichen – Anspruch auf die Verkündigung von ›Wahrheit‹«1014 abziele. In den Dithyramben lassen sich drei Hauptmotive ausmachen: der Tod (I), die Wahrheit (II) und die Einsamkeit (III).1015 (I) Der Tod »Das Todesmotiv bildet zusammen mit dem schon früh akzentuierten ›Tragischen‹, mit dem Furor des Zerstörens und Vernichtens und dem aus der Ahnung eigener Gefahren beschworenen ›Untergang‹ ein dichtes motivisches und gedankliches Gewebe.«1016
Gleichzeitig verbindet Nietzsche diesen emphatischen Vernichtungsgedanken mit einem Gerichtsgedanken, der an eine christliche Vorstellung der eschatologischen Endzeitdimension erinnert. In der Vernichtung, die im Vollzug auch zur Selbstvernichtung des sie denkenden Philosophen führt, versucht Nietzsche jedoch auch das kontradiktorische Konzept einer solchen Lebensbejahung als Gegenpol stark zu machen, wie sie in der griechisch-mythologischen Erzählung des Dionysos zwischen Lust und Tod ausgestaltet wird.
1011 Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 345. 1012 Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 346. 1013 Zum historischen Ursprung des Dionysos-Kults und der Dithyramben-Dichtung vgl. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 644–646 und die zu Nietzsche zeitgenössische philologisch-historische Untersuchung von Gottfried Bernhardy, Grundriß der griechischen Litteratur : 2. Band: Geschichte der Griechischen Poesie, Halle 1845. 1014 Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 647. 1015 Vgl. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 648–656. 1016 Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 648.
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(II) Die Wahrheit Die von Nietzsche bereits in seiner Frühschrift »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« »entfaltete skeptische Infragestellung der Wahrheitsfähigkeit von Sprache überhaupt, wie sie im Platonismus und seiner »metaphysischen ›Hinterwelt‹ der platonischen Ideen«1017 vertretenen wurde, findet ihre inhaltliche Fortsetzung in den Dithyramben. So hält Nietzsche gegenüber dem Platonimsus und seiner späteren Spielarten fest, »dass es nur durch den genialen Schaffensprozess verbürgte, und das heißt auch: nur aus dem individuellen Selbst entspringende Wahrheiten gebe«1018. (III) Die Einsamkeit Die Einsamkeit ist eine wiederkehrende Gefühlsmotivik, die sich durch Nietzsches Werk und persönliches Leben zu ziehen scheint, was sich gerade auch an verschiedenen Briefen deutlich erkennen lässt. Mit Sommer lassen sich wohl zwei Argumentationslinien in den Dithyramben für dieses omnipräsente Gefühl der Einsamkeit ausmachen. Zum einen »aus der Ausnahmestellung, die den wagemutigen Denker über alle Normalität wie auf eine steil abstürzende Gebirgshöhe erhebt, auf die ihm, aus Scheu vor dem Blick in den Abgrund, niemand folgen mag«1019. Andererseits resultiert die Einsamkeit »aus einer Verfallenheit an sich selbst, die dazu führt, dass das Ich immer tiefer in sich selbst einzudringen versucht und in endloser Selbstreflexion sich selbst zu verlieren und zu untergraben droht«1020. Nietzsches Ausweg aus dieser Einsamkeit ist jedoch nicht das Leiden an genau diesem Gefühl, sondern im spürbaren nahenden Ende »beruhigt sich das ich im Wunschbild eines letzten, nun von Glück erfüllten Augenblicks«1021. Vor allem die Thematiken von »Tod« und »Einsamkeit« werden auch von Barth in seinen Bezugnahmen auf die Dithyramben stark gemacht und pointiert, um gerade darin Nietzsches philosophisches Erbe zu fassen und zu bedenken. IV.2.3.4 »Religionskritik als Lebenskunst« – Studien zur Nietzsche-Rezeption bei Karl Barth von Daniel Mourkojannis und Tom Kleffmann Die Religionskritik als den Zugang zu einer lebenbejahenden Lebenseinstellung zu nutzen, die sich jenseits von moralistischen und philosophischen Vertrös1017 1018 1019 1020 1021
Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 650f. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 651. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 652. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 652. Sommer, Nietzsche-Kommentar »Ecce homo«, 653.
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tungen definiert, verbindet Barth wie Nietzsche in ihrem philosophischen und theologischen Denken, wie es den Bezugnahmen Barths auf Nietzsche in der KD deutlich wurde und auch schon in den RÖ-Auflagen angelegt war. Der Vorgang einer zu vollführenden Religionskritik wird dabei von beiden ausgehend von der Erkenntnis einer lebenshemmenden, weil unter falschen Voraussetzungen postulierten und damit zu dekonstruierenden Sicht auf die Wahrheit und einer sich daraus ergebenden Lebensmoral angegangen. Nach der Dekonstruktion dieser falschen Vorstellungen wird sowohl für Nietzsche als auch für Barth es möglich, in neuerlicher Weise eine lebensdienliche Bestimmung und Einstellung zum Leben zu gewinnen. Fraglich scheint nun, in welcher rezeptionellen Abhängigkeit dieses analoge Vorhaben von Barth und Nietzsche gesetzt werden sollte und welche Rückschlüsse es auf die hinter aller Nietzsche-Rezeption befindliche Barth’sche Grundinterpretation zu ziehen gilt. Mit diesem Unterkapitel wird sich daher auf spezifische Art der Frage genähert, auf welcher Rezeptionsebene Barth mit Nietzsche agiert. Ist es der von Köster proklamierte Selbstverständigungsprozess der Theologie, die sich durch Nietzsches Philosophie der radikalen Infragestellung ihrer Legitimität gegenübersah1022 oder aber mit Mourkojannis eher in ihrer Rezeptionshermeneutik als »wirkungsästhetisch« zu verstehen ist, die die »positionelle Profilierung und Radikalisierung der Theologie«1023 nach sich zog und von Kleffmann anhand des Lebensbegriffes so ausbuchstabiert wird, dass in der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Philosophie inhaltliche Klärungen und Profilierungen vorgenommen werden können. Den Begriff des Lebens in Verbindung zum »Willen-zur-Macht« zu profilieren bildet ein zentrales Vorhaben im philosophischen Werk Nietzsches ab. Dabei erweist sich dieser »Wille-zur-Macht« als ethische Bezugsgröße des menschlichen Lebens, welche zu einer sich radikalisierenden Schaffenskraft anleitet, die als solche von Nietzsche als Modus propagiert wird, um sich dem Vorfindlichen zu entledigen. Ausbuchstabiert wird daher die Religionskritik basierend auf diesem »Willen-zur-Macht«, der jenseits allgemeiner menschlicher Wertmaßstäbe und scheinbar tradierter religiöser Wahrheiten in seiner Radikalität den Zugang zu einer erstrebenswerten Lebenseinstellung in sich berge. Ein ähnlicher radikaler Modus ist auch in Theologie Barths vorfindlich. Dies sei im Folgenden näher betrachtet. Kleffmann zeigt in seiner Studie1024, dass sich Barths »Auseinandersetzung mit Nietzsches Auffassung vom Leben als »Willen-zur-Macht« (sowie mit A.
1022 Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption, 176. 1023 Mourkojannis, Ethik als Lebenskunst, 13f. 1024 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens.
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Schweitzers Begriff eines Willens zum Leben1025)«1026 bereits im RÖ II, sowie in seiner Ethik von 1928/29 findet, wobei zwischen dem RÖ II und der Ethik keine signifikante theologisch-inhaltliche Veränderung festzustellen sei.1027 Dabei bleibt fraglich, in welcher inhaltlichen Nähe Barths und Nietzsches Lebensbegriff in seinen von moralischen Implikationen befreiten Definition gedacht werden muss.1028 Mourkojannis plädiert dabei für eine solche, die über den RÖ II zur Ethikvorlesung bis hin zur KD als eine deutliche Abhängigkeit zwischen »Nietzsches Ästhetisierung des Lebensbegriffs« und »Barths Moralkritik« charakterisiert werden sollte.1029 Barth argumentiere gegen einen moralischen Gottesbegriff und verabschiede sich so von der Gottesvorstellung »als [einer] Repräsentation einer universell verbindlichen moralischen Ordnung jenseits des individuellen Lebens«1030. Hier hätte er in Nietzsche einen engen Verbündeten gefunden, der selbst meinte, im moralischen Gottesbegriff den »Widerspruch des Lebens« entdeckt zu haben. »Die Suspendierung Gottes als Begründungsinstanz einer in ihren einfachen und auch in ihren komplexen Regularien auf allgemeine Akzeptanz abzielenden Moral bedeutet für Barth aber keineswegs Antimoralismus. Statt dessen muß es in der theologischen Ethik […] darum gehen, dem Individuellen und Einmaligen des [individuellen] Lebens gerecht zu werden«1031.
Mourkojannis betont damit die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Nietzsches und Barths Moral des Lebens, die sich jeweils aufgrund einer unhintergehbaren Individualität des menschlichen Seins und jenseits kategorischer Imperative zu ereignen habe. Barth selbst schreibt hierzu: »Christliche Ethik ist nicht kollektiv, d. h. im Sinne der christlichen Ethik geschieht alles wahrhafte Menschsein in eigener freier Entscheidung und Stellungnahme, welche es dem Einzelnen nicht erlaubt, sich an irgendwelche Vorentscheidungen einer höheren Autorität zu klammern oder auch an den Willen einer Masse, der er angehört.
1025 Entsprechend der Auffassung Barths von einem wahren Lebensbegriff, verweist Kleffmann darauf, dass Barth sich teilweise auch etwas spitzzüngig und kritisch gegen das Diktum Schweitzers stellte und dessen Lebensbegriff im RÖ II als »Ehrfurcht des PseudoLebens« bezeichnen kann. Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 534 Fußnote 210 und Barth, RÖ II, 292. 1026 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 501. 1027 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 501. 1028 Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 502, besonders Fußnote 12 in der er diejenigen Autoren auflistet, die Barths RÖ II deutlich in die Nähe Nietzsches rücken. 1029 Vgl. Mourkojannis, Ethik als Lebenskunst, 136. 1030 Mourkojannis, Ethik als Lebenskunst, 136f. 1031 Mourkojannis, Ethik als Lebenskunst, 138.
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Gehorsam im Sinne der christlichen Ethik geschieht immer wieder in der Einsamkeit des Menschen vor dem einen Gott.«1032
Von Nietzsche wie Barth wird so der einmalige Ereignischarakter des menschlichen Lebens als Entscheidung bzw. Gehorsam jenseits einer falsch verstandenen Normierung gefasst, wie Mourkojannis betont: »Jedenfalls ergeht das Gebot Gottes, so wie Barth den Kern der Meta-Ethik jetzt interpretiert, konkret individuell an den einzelnen, ohne zugleich inhaltlich konkret zu sein. Der nicht normierende, einmalige, unwiederholbare und situative Charakter der jeweiligen Handlung, die Orientierung der Ethik also and der Unabgeschlossenheit des Lebens in der Vielzahl seiner individuellen Formen, bleibt erhalten.«1033
Wo sich Barth jedoch von Nietzsche zu unterscheiden wisse, ist die Verbindung dieser individuellen Moral mit der grundsätzlichen Einsicht in eine Ehrfurcht vor dem Leben, was als deren Konsequenz die Verantwortung der Menschen in ihrer ethischen Schaffenskraft im Zusammenhang der Schöpfung nach sich ziehe. Denn es gehe nach Barth nicht um die Verwirklichung des eigenen Selbst, sondern um die moralisch-ethische Entsprechung der »in Christus offenbarte[n] relationale[n] Grundstruktur allen Seins«1034, »der Barmherzigkeit des einen Gottes, die allen Menschen gilt«1035. Barth schreibt: »Gut im christlichen Sinne ist das Verhalten, das Tun des Menschen, welches dem Verhalten und Tun Gottes in dieser Geschichte entspricht. Also: gut ist das menschliche Werk, in welchem der Mensch es annimmt und nicht nur annimmt, sondern bejaht, daß Gott sich für ihn gedemütigt hat, damit er, der Menschen leben und sich freuen dürfe.«1036
Kleffmann urteilt in Bezug auf Abhängigkeit vorsichtiger und stellt aufgrund seiner detaillierten Untersuchung berechtigterweise zur Disposition, ob sich die festzustellende Analogie von Barths Historismus-, Religions- und Moralkritik zwangsläufig in ihrer Entstehung und Durchführung auf eine Nietzsche-Rezeption zurückführen lasse oder nicht vielmehr Barths theologisch gefärbter Lesart Nietzsches geschuldet sein könnte. Dieser vorsichtigeren Beurteilung der festzustellenden strukturell ähnlich individual-ethischen Grundgedanken soll sich im Folgenden angeschlossen werden. »Man kann sagen, Barth beanspruche in seinem Römerbriefkommentar zusammengefaßt genau dies mit Paulus, die Bewegung »vom Leben zum Tode zum Leben« zu 1032 Karl Barth, Christliche Ethik. Vortrag, gehalten im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a.M. am 15. Juni 1946 (Theologische Studien Heft 23), Zürich 1947, 20–28, 26. 1033 Mourkojannis, Ethik als Lebenskunst, 168. 1034 Vgl. Mourkojannis, Ethik als Lebenskunst, 172. 1035 Barth, Christliche Ethik, 26. 1036 Barth, Christliche Ethik, 24.
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beschreiben, und zwar als allein in Gott wirkliche Bewegung zum Leben in Gott bzw. »in Christus«.«1037
Dabei befindet sich dieses Leben in der Ambivalenz, entweder die eigene Bruchstückhaftigkeit und Fehlerhaftigkeit anzuerkennen oder aber sie zu leugnen. Wie Kleffmann ausführlich im Rückgriff auf RÖ II zeigen kann, empfindet und beschreibt Barth das Sein des Menschen als eine Krisis der Sinnsuche im Horizont der eigenen Begrenztheit, Vergänglichkeit und scheinbarer Sinnlosigkeit. Diese Sinnsuche breche im Angesicht des Todes auf, die dann von dort aus den Menschen automatisch zur Frage nach Gott führe. Es gehe dem Menschen um die Suche nach wahrem Leben, jenseits von religiösen, moralischen oder philosophischen Vertröstungen. Daher gelte es die Wahrheit dieser Krisis anzuerkennen. Und auch Nietzsche hätte sich in seiner Weise auf die Fragwürdigkeit des Lebens bezogen und in seiner Vorrede zur 2. Auflage der »Die fröhliche Wissenschaft« deutlich geschrieben: »Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem«, das nun anzugehen sei, um »aus dem Siechthum des schweren Verdachts, neugeboren zurück[zukehren].«1038
Für Barth versinnbildliche sich dieses »Neugeboren sein« im menschlichen Glaubensakt der Erkenntnis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Hier verwandle sich die krisenhafte Todeslinie zu einer hoffnungsvollen Lebenslinie. Mit Nietzsche verbinde nun Barth dessen Ablehnung des Bedürfnisses Vitalität und Ewigkeit in einem falsch oder missgedeuteten Religionsbegriff zu suchen. Im Namen des individuell-vitalen menschlichen Lebens wird eine konsequente Religionskritik geführt, die so bei Nietzsche und Barth gefunden werden könne.1039 Im Religionsbegriff finde sich nach Barth eine »verkehrte Wirklichkeit der Religion«1040, die sich in der irrigen Annahme manifestiere, ein positives und kein rein negatives Gottesverhältnis postulieren zu können: »Die Erkenntnis der wirklichen Fragwürdigkeit, des reinen Gegensatzes zu Gott könnte man eben sowohl als [nietzscheanischen] dionysischen Enthusiasmus auffassen […].«1041
So hält Kleffmann abschließend fest, dass s.E. »Barths Auffassung von der Problematik oder Krise des Lebens und dem wahren Leben als Leben des Nicht-Ich [sich] dabei in dem Zarathustra-Zitat zusammenfassen [lassen kann], daß der Mensch überwunden werden muß […].«1042 1037 1038 1039 1040 1041 1042
Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 504. Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, 350f. Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 520. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 521. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 521 und Barth, RÖ II, 75f. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 528.
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Der entscheidende Unterschied zwischen Barth und Nietzsche liege dabei jedoch in der Beantwortung der Frage, wie sich diese Überwindung vollziehe, transzendent-offenbarungstheologisch oder immanent durch den reinen schöpferischen Willen eines individuellen Menschen. Besonders in der auch von Barth zitierten Schrift »Menschlich, Allzumenschliches« findet sich diese Vorstellung des Wechsels, einer Verwandlung zusammengefasst in Nietzsches Diktum vom »Himmelreich des Wechsels«1043. In dieser Phrase kondensiere Nietzsche seine Vorstellung des neuen Individuums, das seine Individualität nicht durch einen transzendenten Bezugspunkt gewinne, sondern »seine Welt […] von vornherein geschichtlich, oder besser : als stets im Werden begriffen versteht«1044. Zu diesem immer gleichen Werden setze sich nun der individuelle Mensch in Beziehung und erreiche so sein je eigenes subjektives neues Leben und seine neue subjektive Erkenntnis desselben. »Das Zu-sich-Kommen als Denker setzt je das Aufgeben der aktuellen Selbsthabe, Sichselbstgleichheit als Person (etwa in bestimmten Ansichten) voraus,«1045ja »der Erkennende findet sich in das Gegenüber ›zum gesamten Dasein‹ einschließlich der Geschichte seines Bewußtseins gestellt […]«1046.
In »Die Fröhliche Wissenschaft« ziehe sich dieser Gedanke so fort, dass Nietzsche dieses neue Sein, und ein darin begründetes Erkennen, in der Verabschiedung eines Gottesbegriffes postuliert sieht: »Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen«1047, was mit Kleffmann derart interpretiert werden sollte: »Reflektiertes, d. h. im Verhältnis zum Leben reflektiertes Erkennen kann allein dies heißen, die vom Menschen geschaffene, ererbt gedeutete Welt als Irrtum erkennen, und ihr Werden, das Werden des Irrtums menschlicher Deutung, als faktischen Sonderfall des allgemeinen Werdens.«1048
So gesehen, gewinne für Nietzsche das Leben erst in einem absoluten für sich seienden Selbstsein an Bedeutung und bestätigt so gesehen Barths grundsätzliche Kritik an Nietzsches individualistisch-subjektorientierter Lebensphilosophie. Auf die Spitze getrieben und als »einsamste Einsamkeit« gedacht, wird der Gedanke der absoluten Individualität in Nietzsches Gedanken von der »ewigen
1043 Vgl. Friedrich Nietzsche, »Menschliches, Allzumenschliches«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 386. 1044 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 223. 1045 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 224. 1046 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 241. 1047 Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, 540. 1048 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 239.
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Wiederkehr des Gleichen«, bzw. wie er es in der »Fröhlichen Wissenschaft« beschreibt, in der ewigen Wiederkunft desselben Lebens.1049 »Der Gedanke der ewigen Wiederkunft desselben Lebens scheint zunächst nur, als hypothetischer Gedanken, die Probe drauf zu machen, wie sich der Lebende zu sich und zum Leben verhält.«1050
Nur wenn sich der Mensch in dieser letzten Krise seiner Erkenntnis, in der »jeder Lebensakt, jedes Sich-Verhalten in Bezug auf eine zu erreichende Identität in der Welt bzw. Geschichte sinnlos ist«1051, dazu durchringe, sein Leben in absoluter individueller Selbstbejahung zu leben, findet er jene absolute Lebensbejahung. Sinn und Erlösung können also nach Nietzsche gerade nur im reinen und absoluten schöpferischen Selbstsein und keiner irgendwie gearteten Relation oder Verhältnis zu anderem gefunden werden, da diese Relationen und Verhältnisse im ewigen Kreislauf der Wiederkehr gefangen seien. »Der Gedanke fordert, das Leben bzw. Erleben in der Bestimmtheit seines Scheins so zu schaffen, daß es für die Ewigkeit gewollt wird.«1052
Wirft man einen Blick in §73. »Der Heilige Geist und die christliche Hoffnung« der KD IV/3 findet sich dort Barths Gedanken bezüglich eines christlich individuellen Lebens in dessen eschatologischen Verortung. Auch Barth profiliert in einem ähnlichen Grundgedanken wie Nietzsche die Idee, wonach Sinn und Erlösung nicht im einem vorfindlich, historisch gewachsenen oder erlebbaren Ereignis oder Einsicht gefunden werden können, sondern nur in der christlichen Hoffnung, wie sie im »universalen, exklusiven, ultimativen«1053 Wort und Offenbarung Jesu Christi ihren unüberbietbaren Ausdruck finde. Christliches Leben bedeutet so, ein Leben in der Hoffnung auf diese Offenbarung zu sein. Leben in der Hoffnung wird damit als positive Veränderung des status quo qualifiziert, die das Leben in der Endzeit »in ihrer ganzen Dunkelheit, Proble1049 Nietzsche beschreibt das Gedankenexperiment, wonach ein »Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche« und dort den Menschen mit der Erkenntnis konfrontiere, dass alles Sein in den Kreislauf einer ewigen Wiederkehr eingebunden sei, aus dem es kein Entrinnen gebe und sich keine Einzigartigkeit oder Unwiederholbarkeit des einen Augenblicks finden werde. Vgl. Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, 570 und Friedrich Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1884–1885«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 11, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 498: »Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt wieder zusammenkommen.« Vgl. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 225, Fußnote 204. 1050 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 255. 1051 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 255. 1052 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 256. 1053 Barth, KD IV/3, 1067.
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matik, Versuchlichkeit und Gefährlichkeit«1054 neu und in diesem eschatologischen Licht qualifizieren lässt. Dieses Licht verhilft dem Menschen dazu, das »scheinbar ganz seiner eigenen Gesetzlichkeit und Kontingenz überlassene Weltgeschehen samt seiner eigenen, in diese tief verwobene Lebensgeschichte«1055 neu zu bewerten und Auswege zu erblicken. Und gleichzeitig verhelfe die christliche Hoffnung dazu, sich nicht in das Wechselbad optimistischer oder pessimistischer Bilder »der jeweiligen Weltlage oder seiner persönlichen Situation«1056 zu verheddern: »Der Christen vorläufiges Hoffen ist ein diesen beiden Möglichkeiten gegenüber freies, und in dieser Freiheit Liebes oder Leides in gleicher Zuversicht als Zeichen des Heils erwartendes und so echtes Hoffen.«1057
Und so wird für Barth ein »Leben in Hoffnung [ein] Leben aus Gott«, denn »aus sich selbst heraus, im Ergebnis irgendwelcher intellektueller […] oder moralischer oder religiöser Bemühung und Anstrengung oder auch in irgendeiner spontanen Elevation seines Gemüts- oder Gefühlslebens hat noch niemand in Hoffnung gelebt.«1058 Eine solche Zukunftserwartung bleibt doch immer in sich selbst und in dem sie denkenden und hoffenden sündigen Menschen verhaftet. Christliches Leben beinhaltet so gesehen auch immer das Moment der Freiheit, das es von Hemmnissen und Verwirrungen befreit. Im Blick auf Jesu Leben und Passion, die ihn zum Tode am Kreuz führte, kommt es Barth verstärkt darauf an beides, sein Leben und seine Passion, in eine enge strukturelle und inhaltliche Beziehung zueinander zu stellen. »Die Passion ist also kein Fremdkörper in seinem Lebenswerk: daß dieses von Anfang an und in entscheidender Bedeutsamkeit gerade unter diesem Zeichen stand, wurde sichtbar, als sie Ereignis wurde, aber auch schon vorher […] nicht einfach unsichtbar.«1059
So wird die »Todesdimension« in Jesu Leben für Barth zu einem essentiellen Bestandteil, die nicht hätte abgewendet werden können. Die »Todesdimension« wird zur Selbstbestimmung, die sich im absoluten Einklang mit dem göttlichen Willen versteht. Der Begriff des Lebens und dessen moralethische Implikationen könnte daher womöglich für Barth als eine Art Ausgangspunkt für eine wirkungsästhetische Interpretation Nietzsches bezeichnet werden. Im Begriff des Lebens lässt sich in kondensierter Weise abstrahiert interpretieren, in welchen Abläufen 1054 1055 1056 1057 1058 1059
Barth, KD IV/3, 1076. Barth, KD IV/3, 1077. Barth, KD IV/3, 1078. Barth, KD IV/3, 1078. Barth, KD IV/3, 1079. Barth, KD IV/2, 278.
Theologische Schärfung durch philosophische Irritation
249
und Kontingenzerfahrungen sich das menschlichen Leben zwischen Lüge und Wahrheit, Nicht- Ich und Ich, Tod und Leben und einem schöpferischen Willen einzeichnen lassen muss, um von dort aus zu seinem eigentlichen Ursprung und Zielsetzung zurückgeführt werden zu können. So scheint Mourkojannis und Kleffmann insoweit Recht geben zu sein, als dass eine Grundthese Barths für die Interpretation Nietzsche entdeckt worden ist, wonach in einer theologischen Auseinandersetzung mit Nietzsche eine inhaltliche positionelle Schärfung des Theologischen möglich wird. Gleichzeitig stellt sich jedoch die Frage, ob diese positionelle Schärfung des Theologischen noch auf eine grundlegendere Ebene geweitet werden könnte.
IV.3 Theologische Schärfung durch philosophische Irritation Wie vermutet, laufen im Petitdruck der KD III/2 die Fäden der barth’schen Nietzsche-Rezeption in der KD zusammen und zeigen sich gegenüber seiner früheren Rezeption thematisch orientiert. »Die Hermeneutik des Humanen« oder anders formuliert »des Menschen Humanität« wird für Barth zur zentralen Thematik in der Auseinandersetzung mit Nietzsche und in den Bezügen zu ihm. Eine Humanität des Menschen ohne den Mitmenschen zu postulieren, ist dabei für Barth keine einmalige nietzscheanische Denkweise, sondern eine strukturell abgeleitete aus den geistesgeschichtlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte. Nietzsche wird so zum personhaften, wie noetischen negativen Absetzungspunkt der barth’schen theologischen Argumentation und Vorstellung des Menschseins, von welchem ausgehend Barth sein theologisches Verständnis der menschlichen Humanität profiliert, nicht jedoch kausal begründet. Damit wird Nietzsche für Barth weniger zu einem gefährlichen Christentumskritiker, der das Christliche seiner Legitimität zu berauben vermag, als vielmehr zu einem pointierter Charakterisierer und Augenöffner dessen, was die Kirche in der Gegenwart ihrer Verkündigung wieder voranzustellen und in Absetzung zu den Weltanschauungen und ihren philosophisch-anthropologischen Konstrukten zu postulieren hat.1060 Deutlich wurde dies an Barths Einordnung der Philosophie Nietzsches in eine allgemeine religionskritische Tradition, die sich eine Karikatur des Christlichen konstruiert hätte und in die sich Nietzsche mit seinem aphoristischen und prophetischen Werk als eine Art evolutionärer Schlussakkord eingereiht hätte. Nietzsche verkörpert ideell wie 1060 Besonders deutlich wird diese Gegenwartsrelevanz Nietzsches und seiner Gedanken für die kirchliche Wirklichkeit anhand der geistesgeschichtlichen Entwicklungen, in die Nietzsche von Barth jeweils als stilbildender Philosoph eingebaut wird. Nietzsche steht stilprägend für eine bestimmte wirkmächtige Sicht auf die Wirklichkeit und den Menschen in der Sicht auf sich selbst.
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Die »Kirchliche Dogmatik«
persönlich diese ideengeschichtliche Tradition in einer bis dato unbekannten und für unmöglich gehaltenen konsequenten und letztgültigen Art und Weise. Barth gibt selbst am Ende des Abschnitts des Petitdrucks in der KD III/2 zu Nietzsche den entscheidenden Hinweis darauf, was er in positiver Weise in der Philosophie Nietzsches und den dort vorgetragenen Gedanken zu Christentum und der Hermeneutik der Humanität des Menschen zu entdecken vermag. Nämlich die hinter aller Kritik und Polemik sich verbergende bereichernde Irritationskraft einer konsequenten und darin radikalen Wirklichkeitstheorie, die das theologisches Denken und Argumentieren herauszufordern hat. »Er [sc. Nietzsche] hat mit seiner Entdeckung des Gekreuzigten und seines Heeres das Evangelium in einer Gestalt entdeckt, wie es dessen Vertretern – um von seinen Gegnern nicht zu reden – jedenfalls im 19. Jahrhundert so nicht gelungen ist. Und wenn er es gerade in dieser Gestalt bestreiten mußte, so hat er uns den guten Dienst geleistet, uns vor Augen zu führen, daß wir gerade an dieser Gestalt ebenso unbedingt, wie er sie verworfen hat, festhalten müssen: in selbstverständlichem Gegensatz nicht nur zu ihm, sondern zu der ganzen Tradition, für die er auf letztem verlorenen Posten gefochten hat.«1061
Barth hat sozusagen ein Bild und Verständnis von Nietzsche im Hintergrund, welches er vorträgt und in seine Zusammenhänge einfügt. Er verzichtet dabei weitgehendst auf polemische oder saloppe diffamierende Bezugnahmen auf Nietzsche und liest Nietzsche entsprechend aufmerksam und dem radikalen und revolutionären Selbstverständnis seiner Philosophie folgend. Nämlich dahingehend eine Lebensphilosophie zu sein, die auf das Ganze des Seins zielt. Es sind die Grundfragen nach Gott, dem Menschen und der Welt, die Barth in seiner skizzenhaft vorgetragenen Rezeption Nietzsches andeutet und wohl als die interpretatorische Grundthese und Fragestellung im Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche zu sehen sind. Und dabei ist dieses Bezogensein wohl im Rahmen einer derartigen kritischen Auseinandersetzung zu zeichnen, die sich im Antagonismus zweier sich inhaltlich diametral widersprechender Wirklichkeitstheorien für die Letztbegründung allen Werdens konturieren lässt. So gesehen, ist wohl an dieser Stelle Köster insoweit zuzustimmen, wonach bei Barth die Nietzsche-Rezeption dort zur Selbstvergewisserung und Aufweis der eigenen theologischen Legitimität zu dienen hatte, wo er ihn zu Ende dachte und Nietzsche zum personhaften Endpunkt einer geistesgeschichtlichen Entwicklung stilisiert. Und gleichzeitig weist Barth selbst den Weg zu einer darüber hinausweisenden Rezeptionsebene, die dazu anleitet, im Sinne des nietzscheanischen Impetus »Altes« zu zerstören und »Neues« zu implementieren. Nietzsches Gedanken sind für Barth wirkungsästhetisch, also in der Sache selbst als moderne Fehldeutungen der Wirklichkeit theologisch zu 1061 Barth, KD III/2, 290.
Theologische Schärfung durch philosophische Irritation
251
Ende zu denken und ihnen entgegen, die genuin christliche Vorstellung von Sein und Werden der Wirklichkeit zu verdeutlichen. Somit wird deutlich, dass sich jenseits der Darstellung und Beurteilung einer rein literarischen Rezeption Nietzsches in den Werken Barths, sich auch die Herausarbeitung einer solchen wirkungsästhetische Rezeption als gewinnbringend erweist, die Barth und Nietzsche um die Sache miteinander ins Gespräch bringt. In diesem Sinne soll nun im Folgenden das Verständnis Nietzsches und Barths vom Menschseins rekonstruiert und aufeinander bezogen werden: Was ist der Mensch und was ist die Wahrheit über ihn und sein Sein?
V.
Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Dieses Kapitel soll durch die Matrix von vier Fragestellungen strukturiert werden. I. Was ist der Mensch? II. Wie kommt der Mensch zur Selbsterkenntnis? III. Welche Bestimmung hat der Mensch? IV. In welchem Modus ist vom Menschen angemessen zu denken und zu sprechen? Diese vier Fragestellungen stellen in der Beziehung zueinander den Versuch dar, sich an eine konsistente Hermeneutik des Menschlichen in der Auseinandersetzung mit Nietzsche und Barth zu wagen und jenseits der existentiell erlebten Ambivalenz des Seins, Modi der Wahrhaftigkeit in Bezug auf den Menschen zu beschreiben. »Was ist der Mensch?« In dieser prägnanten und allgemeinen Frage können dabei auch jenseits der spezifischen Untersuchung bei Nietzsche und Barth, die philosophischen und theologischen Diskussionsstränge über die Beschreibung der menschlichen Natur seit der Renaissance und ihren auf den Menschen zentrierten Blick inmitten der Schöpfung kondensiert werden. Es ist die zentrale Frage, auf die, die unterschiedlichen Konzepte der Humanität durch die Jahrhunderte hindurch, ganz gleich ob sie eher philosophisch oder theologisch gefärbt sind, eine Antwort zu geben versuchen. Und in jedem Antwortversuch zeigt sich, dass die Beantwortung dieser anthropologischen Grundfragen zur übergeordneten Hermeneutik des Seins des Menschen und damit stets an die Grundüberzeugungen von Leben und Tod, Eigentlichem und Uneigentlichem, Wahrheit und Lüge in Bezug auf das Sein an sich führen. Bevor in spezifischer Weise auf Nietzsche und Barth geblickt wird, soll sich anhand einer historischen Annäherung an die Definition der Humanität des Menschen gewagt werden, um von dort aus Analogien, Diskontinuitäten und spezifische Eigenheiten der Humanität in der Sichtweise Nietzsches und Barths in den Blick nehmen zu können.
254
V.1
Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
V.1.1 Eine historische Annäherung Zunächst sei in einigen gröberen Zügen ein Blick auf schulbildende Definitionen und Herangehensweisen an die Grundfragen der Humanität, als der besonderen Auszeichnung des Menschen als Mensch geworfen. Im Versuch der Erarbeitung einer lexikalischen Übersicht für den Begriff der Humanität lassen sich im theologisch-philosophischen Denken zwei Struktur gebende Hauptlinien ausmachen. Zum einen, ein ethisch motiviertes Verständnis der Humanität, als einer Maxime des eigenen Tuns. Zum anderen, ein normatives Verständnis der Humanität, als der Bestimmung und Definition des menschlichen Wesens in dessen besonderer Stellung inmitten der umgebenden Wirklichkeit. So gesehen, verbindet sich das Verständnis der Humanität stets mit moralisch-ethischen Folgerungen, die sich aus der normativen Beschreibung des menschlichen Seins ergeben und denen ethisch zu entsprechen versucht wird. Dieses Verständnis der Humanität zeigt bereits an dieser Stelle an, dass die Hermeneutik des Humanen ein komplexes und diffiziles Unterfangen darstellt, das für sein Gelingen auf seine jeweiligen begründenden Grundüberzeugungen durchsichtig gemacht werden muss und erst von dort aus, zu entwerfen ist. Grundsätzlich zeigen sich im Sprachgebrauch der ethischen Dimension einer traditionell kirchlich verstandenen Humanität zwei verschiedene Grundmuster, die mit den Begriffen einer asymmetrischen und einer symmetrischen Humanität wiedergegeben werden können.1062 Unter der asymmetrischen Humanität wird die Zuwendung zwischen zwei ihrem sozialen oder machtpolitischen Status verschiedenen Personen beschrieben. Bei dieser Art der Humanität handelt es sich um eine »freundlichherablassende Gesinnung«1063, aus der heraus eine Person ihre hervorgehobene soziale Stellung zum Wohl des Bedürftigen einsetzt. Dabei ist zu beachten, dass im Akt der Humanität der soziale Unterschied nicht aufgehoben wird, sondern in der Handlung der Anteilnahme die Differenz zwischen beiden Beteiligten konstitutiv erhalten bleibt. Erst die Differenz eröffnet den Raum, sich human verhalten zu können. Vor allem der fürsorgliche Akt eines Herrschers gegenüber seinen Untertanen hatte sich seit der Renaissance als »lexikalische Fixierung der ›Menschenliebe‹ durchgesetzt«1064 und darf als beispielhafte praktische Umsetzung der asymmetrischen Humanität verstanden werden. 1062 Vgl. Thomas Zippert, Art. Humanität, I. Dogmatisch, in RGG4, Bd. 3, Tübingen 2003, 1947f. 1063 Vgl. Zippert, Humanität, 1947. 1064 Eilert Herms, Art. Humanität, in TRE, Bd. 15, New York/Berlin 1986, 661–682, 662.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
255
Die symmetrische Humanität begründet ihren Akt der Menschenfreundlichkeit dagegen mit der grundsätzlichen »Wesensgleichheit aller Menschen«1065, die die Individuen dazu verpflichtet, einander im Geiste der Mitmenschlichkeit zu begegnen. Aufgrund dieser Behauptung kann Menschlichkeit grundsätzlich von jedem Menschen unabhängig seines gesellschaftlichen Status oder Zugehörigkeit gefordert werden, da im Akt der Humanität im Anderen nicht der Unterschied, sondern das Verbindende hervortritt. Im Anderen wird sich der Handelnde selbst gewahr und äußere Faktoren, wie gesellschaftliche Rahmenbedingen von Reichtum, sozialem Status ö.ä. treten in den Hintergrund. Der Mensch an sich kommt zum Vorschein, dem zu Hilfe zu eilen ist, da er sich seinem Wesen nach gerade nicht von einem selbst unterscheidet. In dieser Art der Humanität geht es um die Wahrnehmung des Menschen in seiner Ganzheit und nicht um die Aufsplitterung in einzelne Bereiche, die mit sich selbst qualitativ verglichen werden können. Die Motivation zur Humanität bildet die Wesensgleichheit des Menschen an sich.1066 Beide Arten der Humanität können dabei in direkter Art und Weise in der christlichen Lehrtradition beschrieben werden. Im Neuen Testament wird humanitas vor allem »zum Begriff der Menschenliebe Gottes«1067 gegenüber seinen Geschöpfen und somit in der Tradition der Herrscherzuwendung gegenüber seinen Untertanen gestellt. Ausgehend von Titus 34 wird die vikamhqyp_a Gottes seit dem frühen Christentum weithin in einer ethischen Implikation als »Barmherzigkeit, mitempfindende, fürsorgliche Zuwendung zu den Schwachen«1068 interpretiert und so auch vom Menschen als dessen Geschöpf eine solche, dieser göttlichen vikamhqyp_a entsprechende humanitäre Lebensweise, eingefordert. Erst seit Cyprian und Lactantius wird die symmetrische Beschreibung der Humanität in den Vordergrund gestellt und bezeichnet seither die »Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe«1069 und im Besonderen einen »nicht weiter erklärungsbedürftige[n] und so konsensstiftende[n] Inbegriff aller ethisch gerechtfertigten und verbindlichen Handlungsziele«1070 in jeglichen menschlichen Handlungsfeldern. Der normative Begriff der Humanität zur Beschreibung des menschlichen Seins fasst im Rückgriff auf Johann Gottfried von Herder (1744–1803) unter verstärkt philosophischen Denkmustern mit dem Begriff der Humanität die
1065 Vgl. Zippert, Humanität, 1947. 1066 Wie diese zu begründen ist, muss natürlich an geeigneter Stelle bedacht und reflektiert werden und kann nicht einfach vorausgesetzt werden. 1067 Zippert, Humanität, 1947. 1068 Herms, Humanität, 662. 1069 Zippert, Humanität, 1947. 1070 Zippert, Humanität, 1947.
256
Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
»Stellung und Bestimmung des Menschen in der Welt«1071 als Geschöpf zusammen. Dabei wird Humanität jedoch nicht als Gattungsbegriff herangezogen, sondern zum Wesensbegriff des Menschen, der durch die »Explikation des christologischen Dogmas von der Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur in der Person Jesu Christi«1072 begründet wird. Herder kann als der maßgebliche Vordenker in der Definition dieser normativen Humanität in christlicher Couleur angesehen werden, da er die »Traditionen der kirchlichen Lehre und der laizistischen Kultur zu einer gedanklichen Einheit verbunden«1073 hatte. Herms fasst Herders philosophische und theologische Grundüberzeugung wie folgt zusammen: »Inhalt der christlichen Predigt sind die gewissen Wahrheiten über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, über die geschöpfliche Abhängigkeit des Menschen von Gott, über seine ewige Bestimmung und damit über die Pflicht des Menschen; also alle die Wahrheiten, die dem Menschen mit ihm selbst bekannt machen, durch deren Kenntnis und Anerkennung die Besserung des Menschen geschieht und von deren Befolgung seine Glückseligkeit abhängt.«1074
Herder entwickelt dabei eine starke pädagogische Ausprägung des Humanen, da das Menschengeschlecht durch Erziehung in Richtung der Besserung voranschreiten sollte. Fortschrittsglaube und Entwicklungsgedanke lassen Herder die Menschennatur in Merkmale aufsplittern, die sich jeweils ausgehend von ihrem status quo entwickeln lassen. Für Herder wird dabei der Begriff der Humanität eine Zusammenfassung dessen, wie er »sich aus einer Reflexion auf die Stellung und Funktion des Menschen im System der geschaffenen Natur«1075 ergibt. Herder unterteilt das durch Gottes Willen ins Sein gerufene »System der geschaffenen Natur« in verschiedene Systeme, »die auf verschiedenen Stufen der Organisation nach festen Gesetzen interagieren«.1076 Die besondere geschöpfliche Würde des zur Selbstbestimmung berufenen Menschen, definiert Herder mit dessen »aufrechte[n] Gang, manuelle[r] Geschicklichkeit, Instinktfreiheit und seiner Begabtheit mit Reflexivität«1077. Gleichzeitig stehe der Mensch jedoch nicht außerhalb der Natur, sondern in ihr und unterliege ihren Gesetzmäßigkeiten von »Selbsterhaltung« und »Selbstvervollkommnung«, in deren Zusammenhang er sich selbst zum Zwecke werde, indem er in seiner »SelbstbestimHerms, Humanität, 662. Herms, Humanität, 663. Herms, Humanität, 666. Eilert Herms, Art. Johann Gottfried von Herder (1744–1803), in TRE, Bd. 15, New York/ Berlin 1986, 70–95, 71. 1075 Herms, Humanität, 661. 1076 Herms, Humanität, 661. 1077 Herms, Humanität, 661.
1071 1072 1073 1074
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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mung« sich dem Mittel der Bildung bediene, die ihn auf dem Weg zur Selbsterhaltung und Selbstvervollkommung voranbringe.1078 »Diese – naturgesetzlich auf Selbsterhaltung und Selbstvervollkommnung tendierende – Existenz des Abbildes Gottes in der Natur bezeichnet Herder mit dem Begriff »Humanität«.«1079
So gesehen, kondensiert Herder dasjenige im Begriff der Humanität, was den Menschen vom Tier unterscheidet und was genau in dieser Verschiedenheit zu seiner Bestimmung wird. Das zu erreichende Ideal in Bezug auf den Menschen kann dabei vielleicht als eine Art Vorgriff der eschatologischen Hoffnung verstanden werden, die als eine ideale Gemeinschaft mit »optimalen Bedingungen für die Selbstvervollkommnung aller Einzelnen«1080 zu denken ist. Deren Verwirklichung könne durch Bildung gesichert und angestrebt werden.1081 Etwas von dieser Position verschieden pointiert Friedrich Schiller (1759– 1805) den Begriff der Humanität und versteht diesen in erster Linie als eine Bildungsgeschichte zum »innere[n] Gleichgewicht der Einzelpersonen, nämlich auf das – vor allem im Spiel erreichte – Gleichgewicht zwischen der ›Naturbestimmung‹ und ›Vernunftbestimmung‹ des Menschen«1082. Humanität wird so zu einer ästhetisch geformten Erziehung »des persönlichen Lebens«.1083 Interessanterweise ändert Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) sein Konzept der Humanität im Laufe seines Lebens ab, distanziert sich von seiner früheren Überzeugung der »Verbindung von Schönheit und Nützlichkeit als Wesen der Humanität« und findet zum »Ideal einer reinen Menschlichkeit«, welches in der Distanzierung vom »politischen Tagesgeschehen« und von »der historischen, politischen und gesellschaftlichen Realität« in einem Bildungsprozess zu realisieren sei.1084 Eine weitere folgenreiche Veränderung in der Humanitätsvorstellung wurde durch Wilhelm v. Humboldt (1767–1835) angestoßen. Humanität wird bei Humboldt zum Inbegriff einer personalisierten Entwicklung des einzelnen Individuums, das zwar durch die Selbstoffenbarung eines schöpferischen Weltprinzips angestoßen werde, aber in jedem einzelnen Individuum zu je eigenen Ausformungen finde. »Die Humanitätsidee […] verliert ihren Charakter als inhaltlich bestimmte unveränderliche Idee und damit ihre normative Rationalität.«1085 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085
Herms, Humanität, 661. Herms, Humanität, 661. Herms, Humanität, 667. Zu Herders Vorstellung der Humanität vgl. auch V.5.1. Herms, Humanität, 667. Herms, Humanität, 667. Herms, Humanität, 667. Herms, Humanität, 668.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
So müsse jeweils offenbleiben, wohin sich die Humanität in der Moderne entwickle und zu welchen individuellen Ausformungen sie finde. Humboldt liberalisiert auf eine gewisse Art und Weise den Begriff der Humanität. Johann G. Fichte (1762–1814) unterscheidet in seiner Begrifflichkeit, anders als sein zeitgenössischer philosophischer Taktgeber Immanuel Kant1086, zwischen Menschheit und Humanität und versteht unter der Humanität »den gebildeten Zustand des Menschen«, der sich selbst wiederum in einer »völlige[n] Übereinstimmung jedes einzelnen mit sich selbst in der Gemeinschaft mit anderen«1087 realisiere. Wo Fichte noch an den überlieferten Humanitätsideen festhält, lösen sich andere Philosophen, wie beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), von solchen und entfachen die Diskussion, die in Humboldts liberaler Auffassung angelegt war : Wohin führt die Humanität den Menschen? Zu einer bestimmten Humanität, die durch einen individuellen oder gesellschaftlichen Bildungsprozess vorangetrieben wird, dem selbst eine inhaltlichen Bestimmung des Menschen zugrunde liegt und damit zur »Übereinstimmung des Menschen mit seinem Wesen«1088 führt? Oder aber wie Max Stirner (1806–1856) festhielt: »Egoismus und Menschlichkeit (Humanität) müßten das Gleiche bedeuten […] Der Mensch ist ein Ideal, die Gattung nur ein Gedachtes. Ein Mensch sein, heißt nicht das Ideal des Menschen erfüllen, sondern sich den Einzelnen darstellen. Nicht, wie Ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Aufgabe zu sein, sondern wie Ich Mir selbst genüge. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster u. dergl. Möglich, daß Ich aus Mir sehr wenig machen kann; dies Wenige ist aber Alles und ist besser, als was Ich aus Mir machen lasse durch die Gewalt Anderer, durch die Dressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, des Staates u.s.w.«1089
Das neuzeitliche Konzept der Humanität entspringt, in Entsprechung zu den aufklärerischen Tendenzen des 18. und 19. Jahrhunderts und einer ihr zugrundeliegenden Kosmologie und Anthropologie der antiken Stoa, damit weniger »kirchlich-theologische[r], sondern bürgerlich-aristokratische[r] Traditionen«1090 und beschreibt eine geistige Haltung, welche das pädagogische Bemühen in sich trägt, »eine menschenwürdige und dem Wesen des Menschen 1086 Für Kant bildet entsprechend seinen Ausführungen in der »Kritik der Urteilskraft« § 60 der Begriff der Menschheit den grundsätzlicheren, da in ihm diejenige Moralität des Menschen ausgedrückt werden könne, die den Menschen zu einer reflektierten und freien Wahl seiner zu erstrebenden und zu realisierenden Ziele befähigt. Vgl. Herms, Humanität, 669. 1087 Herms, Humanität, 669. 1088 Herms, Humanität, 668. 1089 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften. Ausgewählt und mit einem Nachwort hg. von Hans G Helms, München 1968, 124f. 1090 Herms, Humanität, 663.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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adäquate Lebensgestaltung«1091 zu gewährleisten. Geprägt wurde das moderne Verständnis der Humanität daher besonders in pädagogischen Diskussionen des beginnenden 19. Jahrhunderts, wo es in Gegenüberstellung zu einer solchen Bildungskonzeption in Stellung gebracht wurde, die auf eine reine Nützlichkeit der Bildung ausgerichtet war. Im Gegensatz hierzu wird der in der Humanität fußende Humanismus als ein Bildungsideal beschrieben, welches sich an der römischen und griechischen Antike orientiert und dabei Ziele und Vorstellungen vertritt, die »zur Ausbildung der höheren und damit eigentlichen Natur des Menschen«1092 beitragen. Die Idee des Humanismus als Bildungstheorie findet sich erstmals explizit in Ciceros Schriften mit der Idee eines viergliedrigen Bildungsideal bestehend aus Rhetorik, Wissen um Recht, Philosophie und humanitas beschrieben.1093 Die antiken Vorstellungen einer humanistischen Bildungstheorie wurden im Zeitalter des aufblühenden europäischen Humanismus im Grundgedanken »einer Wiedergeburt der Antike«1094 mit verstärkt »antichristlichen Tendenzen«1095, die zum Kern des Renaissance-Humanismus gerechnet werden müssen. Für die weiteren Überlegungen bleibt festzuhalten, dass im Humanismus die Humanität als Teil der Vervollkommnung des Menschen durch Bildung ihren Platz findet und Humanität unabhängig von christlichen Glaubenssätzen definiert werden kann. Bezeichnenderweise kommt es erst nach dem I. Weltkrieg in der evangelischtheologischen Zunft zu einer neuerlichen theologischen Auseinandersetzung mit dem neuzeitlich-bürgerlichen Humanitätsgedanken. Bei Tillich mit seiner Unterscheidung von Essenz und Existenz, Sein und Bestimmung des Menschen und bei Hirsch, der die Grundgedanken der Humanität von Freiheit und Vernunft als Fundamente sinnstiftender anthropologischer Konzeptionen, einer grundsätzlichen Kritik unterzieht.
1091 Manfred Landfester, Art. Humanismus. I. Zum Begriff, in RGG4, Bd. 3, Tübingen 2003, 1938. 1092 Landfester, Humanismus, 1938. 1093 Vgl. Lewis W. Spitz, Art. Humanismus/Humanismusforschung, in TRE, Bd. 15, New York/ Berlin 1986, 639–661, 639. 1094 Spitz, Humanismus, 639. 1095 Landfester, Humanismus, 1938.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
V.1.2 Karl Barths Sicht auf den Menschen V.1.2.1 Barths Zugang zur Beschreibung einer theologischen Hermeneutik des menschlichen Seins Im Jahr 1949 sprach Barth bei einem internationalen und interdisziplinären Treffen in Genf über die christliche Sicht auf den Humanismus.1096 Barth hält dabei provozierend fest: »Weder der katholische noch der protestantische Theologe wird Ihnen ja verschweigen können, daß die christliche Botschaft heute wie zu allen Zeiten mißverstanden wäre, wo sie als ein theoretisches, moralisches oder ästhetisches Prinzip oder System neben anderen, ein -ismus in Konkurrenz, in Harmonie oder in Konflikt mit anderen -ismen aufgefaßt würde, sondern daß sie heute wie zu allen Zeiten den Sinn hat, dem Menschen, allen Menschen und allen menschlichen Meinungen und Bestrebungen gegenüber den Willen, das Werk und die Offenbarung Gottes zu bezeugen.«1097
Barth macht in dieser Aussage unmissverständlich seine Überzeugung des Verhältnisses von Theologie und anderen Geisteswissenschaften in der Diskussion, um die Konturierung des Begriffs des Humanismus deutlich. Als das zentrale Thema des Christlichen benennt Barth: »Die christliche Botschaft handelt vom Humanismus Gottes«,1098 welcher in der Inkarnation Jesu Christi ein für alle Mal bezeugt werde und von dort aus auch das Sein des Menschen definieren lasse. Dabei bewahre, so hält Barth etwas kryptisch fest, die christliche Botschaft von der Humanität des Menschen gegenüber »Nietzsche die Bindung« (das Sein des Menschen in Gemeinschaft) und gegenüber »Marx die Freiheit«.1099 So gesehen, hält nach Barth die Theologie essentielle Spezifika der menschlichen Humanität in Händen, die in philosophischen oder soziologischen Sichtweisen verrückbar oder diskutabel erscheinen könnten. Im, die Tagung resümierenden Vortrag hält fest Barth, dass im Laufe der Diskussionen verstärkt deutlich wurde, wie der »Humanismus und seine Definition von größtem Dunkel und Widerspruch umgeben waren«.1100 Es hätten sich Debatten darüber entsponnen, in welchem Verhältnis sich der »neue Humanismus« zum »klassisch-okzidentalen Humanismus« verhalte und aus welchen Quellen sich dieser speise. So wurde festgehalten: »Humanismus sei […] die aus der Kombination griechischer und römischer, jüdischer und christlicher Mentalität und Überlieferung hervorgegangene Überzeugung vom Wert der menschlichen Person in ihrer Einheit von Herz und Gehirn, Wissen und 1096 1097 1098 1099 1100
Vgl. Karl Barth, Humanismus (Theologische Studien Heft 28), Zürich 1950. Barth, Humanismus, 4. Barth, Humanismus, 5. Vgl. Barth, Humanismus, 9. Vgl. Barth, Humanismus, 14.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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Gewissen. Seine Grundlage sei der Glaube an den Menschen, sein entscheidendes Anliegen das Recht des Individuums im Rahmen freiheitlicher Institutionen, sein Ideal der Weltbürger im Stil von Leonardo, Erasmus, Leibniz, Goethe.«1101
Barth erwehrt sich im Folgenden nochmals vehement dagegen, den Humanismus in christlicher Sicht als Prinzip oder System zu beschreiben. So gesehen, setze das Evangelium keine andere Definition des Humanismus den menschlichen Überlegungen zum Sein des Menschen gegenüber, sondern sei als die göttliche Offenbarung im Ereignis des menschlichen Lebens zu verstehen. Das Humane am Menschen ist kein abstraktes Programm oder kein zu erreichendes Ideal, es ist für Barth vielmehr die Anerkenntnis der geschöpflichen Bezogenheit des Menschen auf Gott, mit den all darin angelegten Implikationen und Folgerungen. Im Vortrag Barths über die Menschlichkeit Gottes, den er einige Jahre später hielt1102, lassen sich spezifischere Gedankengänge zu Barths theologischer Verwurzelung der Humanität und seiner Hermeneutik des Menschlichen finden. Seine These lautet: Der Mensch kann sich selbst weder ohne Gott verstehen, noch sich selbst Trost zusprechen oder das Ziel seines Lebens selbst bestimmen. Barth formuliert daher am Ende des Vortrages resümierend: »Anima humana naturaliter christiana!«1103, denn die Bestimmung und Verpflichtung des Menschen zur Humanität lasse sich nur in seiner Beziehung zu Gott verstehen. Und so betont Barth: »Die Menschlichkeit Gottes […]: Gottes Beziehung und Zuwendung zum Menschen – Gott, der mit dem Menschen redet in Verheißung und Gebot – Gottes Sein, eintreten und Tun für ihn – die Gemeinschaft, die Gott mit ihm hält – Gottes freie Gnade, in der er nicht anders denn als Gott des Menschen Gott sein will.«1104
Barth kommt es zu Beginn seiner Ausführungen darauf an, die »Göttlichkeit« Gottes, wie er sie v. a. in der frühen Phase seiner dialektischen Theologie prononcierte, nicht gegen dessen »Menschlichkeit« auszuspielen. Viel mehr verweise das eine genau auf das andere, wie Barth nicht müde wird zu betonen.1105 1101 Barth, Humanismus, 16. 1102 Karl Barth, Die Menschlichkeit Gottes. Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweiz. Ref. Pfarrvereins in Aarau am 25. September 1956 (Theologische Studien, Bd. 48), Zürich 1956. 1103 Barth, Menschlichkeit Gottes, 23. 1104 Barth, Menschlichkeit Gottes, 3. 1105 Die »frühere Theologie« (Barth, Menschlichkeit Gottes, 4), von der sich Barth und seine Mitstreiter lossagten, hätte nicht länger die Göttlichkeit Gottes zum Thema der Theologie gemacht, sondern sei dazu übergegangen Theologie humanistisch zu betreiben. Der Mensch und seine Frömmigkeit wurden »das Phänomen und Thema« (aaO. 5) der Theologie, um das sie sich in ihren Reflexionen, Dogmatiken, ethischen Vorstellungen und
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
»Gottes recht verstandene Göttlichkeit«1106 schließe seine Menschlichkeit mit ein. Die Göttlichkeit Gottes existiert für Barth nicht in Abstraktheit, sondern nur in der konkreten Begegnung mit seinen Geschöpfen: »Wer Gott, und was er in seiner Göttlichkeit ist, das erweist und offenbart er nicht im leeren Raum eines göttlichen Fürsichseins, sondern authentisch gerade darin, daß er als des Menschen (freilich schlechthin überlegener) Partner existiert, redet und handelt.«1107
Für Barth ist diese Annahme »erlaubt und [sogar] geboten«1108, da sie in der Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi, ihre unüberbietbare offenbarte Letztgültigkeit erhalte. Im Wirken und Leben Jesu werde deutlich, dass sich Göttlichkeit und Menschlichkeit nicht ausschließen, sondern sich ineinander verschränken, da sich Gott hier als der zeige, der in seiner göttlichen Freiheit »des Menschen Partner und allmächtiger Erbarmer und Heiland sein will«1109. In Jesus Christus verschränke sich also beides, Gott und Mensch auf vollkommene Weise und lasse den wahren Menschen Ereignis werden. Im Nachdenken über die Christologie erschließe sich daher auch, wer der Mensch ist und was das Sein des Menschen ist, da dieses Sein und Wesen im konkreten Ereignis der Beziehung von Gott her und zu Gott hin bestimmt werde. Barth schreibt: »Wer und was Gott und wer und was der Mensch in Wahrheit ist, das haben wir nicht frei schweifend zu erforschen und zu konstruieren, sondern dort abzulesen, wo ihrer beider Wahrheit wohnt: in der in Jesus Christus sich kundgebenden Fülle ihres Zusammenseins, ihres Bundes.«1110
Diese Überlegungen haben nun für Barth Konsequenzen, die sich unter der Begrifflichkeit der Humanität fassen lassen, die er in fünf Punkten näher zu konturieren versucht. Dabei wird deutlich, dass sich nach Barth gerade aus der spezifischen Göttlichkeit Gottes die entsprechende Menschlichkeit des Menschen begründen lässt. (I.) Durch die göttliche »Auszeichnung des Menschen als solchen«1111 komme in jedem einzelnen Menschen die göttliche Zuneigung zu diesem Geschöpf zum Vorschein. Diese Auszeichnung beziehe sich auf all das, durch was ihn Gott
1106 1107 1108 1109 1110 1111
auch »in ihrer Bibelauslegung kreiste und ohne Ausweg ins Freie kreisen zu müssen schien« (aaO. 5). Um von Gott zu reden sei »in erhöhtem Ton« (aaO. 5) vom »christlich religiösen Menschen« (aaO. 5) gesprochen worden. Barth, Menschlichkeit Gottes, 10. Barth, Menschlichkeit Gottes, 10. Barth, Menschlichkeit Gottes, 10. Barth, Menschlichkeit Gottes, 14. Barth, Menschlichkeit Gottes, 11. Barth, Menschlichkeit Gottes, 16.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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»begabt und ausgerüstet«1112 hat, sprich seine »Humanität«. Diese Humanität des Menschen ist das Sein »in einer besonderen Leiblichkeit, in der er freilich mit Pflanze und Tier auch noch genug gemein hat, und als vernünftig denkendes, wollendes, sprechendes, als zu eigener Verantwortung und spontaner Entscheidung bestimmtes, vor allem als von Haus aus mitmenschlich konstruiertes, verbundenes und verpflichtetes Wesen«1113 zu sehen sei. Für Barth erstreckt sich diese geschöpfliche Auszeichnung ebenso auf das menschliche »Wirken«, seine »menschliche Kultur«, die Barth als den durchaus ambivalenten »Versuch des Menschen [wertet], Mensch zu sein und also die gute Gabe seiner Humanität zu Ehren zu ziehen und ins Werk zu setzen«.1114 Von daher gelte es (II.) für die Theologie in der Annäherung an die Humanität des Menschen, sich nicht mit demjenigen »anthropozentrischen Mythus«1115 zu beschäftigen, der in der Betrachtung Gottes an sich oder auch des Menschen an sich begründet liege. Diesem entgegen gelte es die Betrachtung des Menschen mit derjenigen Gottes zu verbinden und als die »Zwiesprache und Geschichte, in der ihre Gemeinschaft Ereignis wird und zu ihrem Ziel kommt« zu interpretieren, wie sie die »Heilige Schrift« beschreibe, »laut derer der Bund in vollem Vollzug ist und in der er, in der Jesus Christus sich selbst bezeugt«.1116 In dritter Konsequenz (III.) rufe das Bisherige »nach einer bestimmten Haltung und Ausrichtung«1117. Diese christliche Botschaft von Gott und dem Menschen sei daher »nie im leeren Raum, nie in bloßer Theorie«1118 zu äußern, sondern in der anredenden dialogischen Struktur von Gebet und Predigt. Die christliche Botschaft spreche den Menschen konkret und direkt auf seine Humanität und Bestimmung an, gerade auch dort, wo er sie nicht hören kann oder will. Diese Botschaft sei dabei stets mit dem Ziel verbunden, dass der Mensch »sich selbst erkennt«1119. Diese in der Beziehung Gottes zum Menschen sich ereignende Humanität weise nun auch (IV.) für das Geschöpf Mensch ethische Implikationen auf, die darin liegen, dieses grundsätzliche göttliche »Ja« auch gegenüber dem Anderen in positiver Weise bezeugend zu leben und zu wirken.1120 So könne sich auch die 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118 1119 1120
Barth, Menschlichkeit Gottes, 16. Barth, Menschlichkeit Gottes, 17. Barth, Menschlichkeit Gottes, 18. Barth, Menschlichkeit Gottes, 18. Barth, Menschlichkeit Gottes, 18. Barth, Menschlichkeit Gottes, 20. Barth, Menschlichkeit Gottes, 20. Barth, Menschlichkeit Gottes, 21. Wobei bedacht werden muss, dass im Akt der Humanität wohl weniger eine imitatio dei im Vordergrund steht, als vielmehr ein Gehorsam gegenüber der göttlichen Offenbarung. Im anderen Fall besteht die Gefahr, dass das totaliter aliter Gottes gegenüber dem Menschen vernachlässigt wird, Gottes Sein auf die Humanität beschränkt wird und andere göttliche
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Humanität des Menschen (V.) nicht solipsistisch-egoistisch ereignen, sondern nur in der durch Gottes Geist konstituierten kirchlichen Gemeinschaft, der man sich tätlich verpflichtet und geistig zugehörig fühle. »Wir glauben die Kirche als den Ort, wo in christokratischer Bruderschaft die Krone der Humanität des Menschen Mitmenschlichkeit, sichtbar werden darf – und mehr als das: als den Ort, wo Gottes Ehre auf Erden wohnen, wo nämlich die Menschlichkeit Gottes schon in der Zeit und hier auf Erden greifbare Gestalt annehmen will«1121.
V.1.2.2 »Der Mensch als Problem der Dogmatik.« Barths theologische Begründung der Anthropologie in der KD III/2 Im X. Kapitel der KD im Abschnitt der »Lehre von der der Schöpfung« behandelt Barth den Menschen in fünf Paragraphen, die diesen in seinen grundlegenden Dimensionen beschreiben sollen. »Indem der Mensch Jesus das offenbarende Wort Gottes ist, ist er die Quelle unserer Erkenntnis des von Gott geschaffenen menschlichen Wesens.«1122
Dieses Zitat verdeutlicht sowohl das Ziel als auch die Vorgehensweise in Barths Darlegung seiner Anthropologie in der KD. Das Ziel seiner Ausführungen ist die Beschreibung des wahren Menschen. Da aber der Mensch, wie er sich in unserer Wirklichkeit darstelle, sündig sei und daher seine wahre Art des Menschseins verdeckt würde, müsse die Anthropologie von dem Menschen ausgehen, der frei von Sünde ist, nämlich von Jesus Christus. Daher kann für Barth eine wahrhaftige und aussagekräftige Anthropologie nur auf Grund der Christologie gedacht werden. Jedoch dürfe der unüberbrückbare Unterschied zwischen Jesu Menschsein in seiner Besonderheit und dem allgemeinen Menschsein nicht vergessen werden.1123 Es könne daher nicht darum gehen, direkt aus der Christologie eine Anthropologie abzuleiten, da in diesem Falle vergessen würde, dass Jesus eben nicht nur der wirkliche Mensch, sondern auch wahrer Gott sei.1124 Die Vorgehensweise ist somit klar : Barth wird »bei der Entfaltung der Lehre vom Menschen Punkt für Punkt zunächst auf das Wesen des Menschen blicken müssen, wie es uns in der Person des Menschen Jesus entgegentritt, um dann erst und von da aus – immer von jenem hellen Ort her fragend
1121 1122 1123 1124
Aspekte seines Wesens, wie das des Schöpfers, des Richters und des Allmächtigen vergessen werden könnten. Barth, Menschlichkeit Gottes, 27. Barth, KD III/2, 1 und 47. Vgl. Barth, KD III/2, 55–63. Vgl. Barth, KD III/2, 54.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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und antwortend – auf das Wesen des Menschen zu blicken, wie es das Wesen jedes Menschen, aller anderen Menschen ist.«1125
Der einleitende Überschriftssatz zu § 43. »Der Mensch als Problem der Dogmatik« lautet dahingehend bereits vielsagend: »Weil der Mensch – unter dem Himmel, auf der Erde – das Geschöpf ist, dessen Verhältnis zu Gott uns in Gottes Wort offenbar ist, darum ist er der Gegenstand der theologischen Lehre vom Geschöpf überhaupt. Indem der Mensch Jesus das offenbarende Wort Gottes ist, ist er die Quelle unserer Erkenntnis des von Gott geschaffenen menschlichen Wesens.«1126
In der Exegetisierung dieser zwei Sätze wird bereits Barths volles theologischchristologisches Denken in Bezug auf die Anthropologie deutlich, wie er sie in den folgenden Paragraphen ausführen wird. Diese anthropologisch-theologische Grundthese soll im Folgenden anhand der entsprechenden Paragraphen der KD III/2 nachvollzogen werden: § 43.: Aus dem, dem Menschen selbst erfahrbaren Sein in der Ambivalenz von Sünde und Gnade, Gut und Böse und der sich daraus ergebenden dialektischen Prägung des menschlichen Lebens, erschließe sich das Problematische am Menschen, das es theologischer Sicht recht zu fassen gilt. »Der wirkliche Mensch ist der Sünder, der Gottes Gnade teilhaftig ist.«1127
Das menschliche Wesen wird so gesehen aus der Blickrichtung seiner phänomenalen Ausprägung problematisch diskutabel und erst im Blick auf sein wahres Sein, welches in der göttlichen Offenbarung des Wortes Gottes deutlich wird, jenseits der Ambivalenz phänomenologischer Betrachtungen eindeutig und wahrhaftig. § 44.: Das Sein des Menschen ist als die Geschichte einer Bestimmung von Gott her und zu Gott hin zu verstehen und nicht als ein abstrakt gedachter Zustand. Dieses Sein als Bestimmung könne auf einzigartige Weise im Blick auf Jesus Christus beschrieben werden, in dessen Lebensgeschichte das konkrete Ereignis einer vollzogenen Bestimmung, das wahre Wesen des Menschseins zum Vorschein kommen lasse. Erst in den ereignishaft-schicksalhaften Kontingenzen des Lebens, wenn der Mensch sich selbst fragwürdig wird und über sich selbst hinausgreifen müsse, um sich zu finden, komme er zur Erkenntnis über sein wahres Wesen. Dieses wahre Sein des Menschen definiert Barth in vier Punkten. (1.) Gott ruft den Menschen in diese Bestimmung »als ein Zusammensein mit dem ihm real gegenüberstehenden transzendenten Gott«1128. (2.) Des Menschen 1125 1126 1127 1128
Barth, KD III/2, 54. Barth, KD III/2, 1. Barth, KD III/2, 36. Barth, KD III/2, 194.
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Sein ist »ein Sein von Gott her«1129. (3.) Des Menschen Sein ist »ein Sein, das auf Gottes Erwählung beruht«1130. (4.) Des Menschen Sein ist »ein Sein, das im Hören des Wortes Gottes besteht«1131. So gesehen, empfängt der Mensch sein Sein in dessen Herkunft und Zielsetzung und definiert beides niemals aus sich selbst heraus. § 45.: Das Sein des Menschen ruft den Menschen in die Begegnung mit Gott und seinen Mitmenschen. Erst in der Begegnung zwischen »Ich« und »Du« entspricht der Mensch seiner Bestimmung und lebt das Gleichnis seines Schöpfers. § 46.: Der Mensch hat eine bestimmte »Beschaffenheit«, die sich von seinem Sein her bestimmen lässt. Er ist »Seele« und »Leib«. Er hat einen Grund, eine Existenz und eine Absicht, die ihn in einer bestimmten Weise, gerade auch ambivalent, leben und handeln lässt. In der offenbarten Erkenntnis des Grundes seiner Existenz, und damit in der rechten Verhältnissetzung von Leib und Seele, ergibt sich für den auf Beziehung angelegten Menschen das Ziel seines Lebens. Der Mensch wird nicht zum Sklaven seines Leibes, sondern aufgrund der Berufung Gottes in die Freiheit von sich selbst und seines Begehrens geführt. § 47.: »Der Mensch ist [sc. lebt] in der ihm gegebenen Frist seines vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebens.«1132
Die Zeit ist die reale Form des menschlichen Daseins und Soseins und ist also solche, eine interpretationsbedürftige theologische Begrifflichkeit, da sie an die Kernpunkte des Menschlichen führt. Der Mensch vermag es nämlich nicht, das eigene Sein in der Zeit weder durch Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges abzusichern oder gar zu gründen. Gott schenkt in der positiv zu fassenden, weil befreienden und damit entlastenden Befristung des menschlichen Seins, die Erfüllung der Zeit des eigenen Lebens. Dieses Sein des Menschen selbst ist in der ihm gegebenen Zeit horizontal auf Divinität und vertikal auf Humanität angelegt.1133 Die Endlichkeit des Seins ist nicht abstrakt, sondern im Rahmen der Beziehung des Geschöpfs mit seinem Schöpfer zu deuten. Barth erstellt ausgehend vom Bisherigen eine Übersicht, wer der Mensch1134 ist und was seine Besonderheit gegenüber den übrigen Geschöpfen ausmacht.1135 1129 1130 1131 1132 1133 1134
Barth, KD III/2, 194. Barth, KD III/2, 195. Barth, KD III/2, 195. Barth, KD III/2, 524. Vgl. Barth, KD III/2, 673. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, muss darauf hingewiesen werden, dass wenn Barth an diesen Stellen »den Menschen« beschreibt, er zu allererst den einzig wahren Menschen Jesus Christus vor Augen hat. 1135 Vgl. Barth, KD III/2, 78.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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(1.) Im Menschen sei die Gegenwart Gottes »unübersehbar, denknotwendig«1136. (2.) Diese Gegenwart sei nicht nur ein Sachverhalt, sondern eine Tat.1137 (3.) Das Handeln Gottes im Menschen bleibe souverän und in der göttlichen Freiheit begründet.1138 (4.) »Der Mensch – dieser Mensch – ist das kommende Reich Gottes.«1139 (5.) Gott benutze diesen Menschen nicht als ein Werkzeug, um sein Werk zu vollbringen, sondern das göttliche Geschöpf bleibe souverän.1140 (6.) Fazit: »Das ist der Mensch: das Wesen, das für Gott ist.«1141 Trotz der augenscheinlichen Ungleichheit zwischen dem Menschsein des Menschen Jesu und dem vorfindlich individuell existierenden Menschsein1142, gäbe es »in irgendeiner Grundform eine Übereinstimmung«1143 zwischen beiden. Sie besteht laut Barth in demjenigen Aspekt der Humanität, ein Sein in der Begegnung mit anderen zu sein. V.1.2.3 Barths Vierstufenmodell der Humanität »So ist Humanität die Bestimmtheit unseres Seins als ein Sein in der Begegnung mit dem anderen Menschen.«1144
Barth beschreibt in seinen Ausführungen der KD III/2 eine Definition von Humanität, die er anhand seines Vier-Stufenmodells inhaltlich füllen und beschreiben will. Die erste Stufe wird von Barth wie folgt beschrieben: »›Sein in der Begegnung‹, das ist 1. ein solches Sein, in welchem der Eine dem Anderen in die Augen sieht.«1145
1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142
Barth, KD III/2, 79. Barth, KD III/2, 79. Vgl. Barth, KD III/2, 80. Barth, KD III/2, 80. Vgl. Barth, KD III/2, 81. Barth, KD III/2, 82. Dieser Unterschied wird von Barth in der Begrifflichkeit der Sünde beschrieben. Sünde ist für Barth das Brechen des Bundes, den Gott mit den Menschen eingegangen ist. Der wirkliche Mensch kann ohne Gott nicht existieren, da Gott ihn auf sich hin geschaffen hat. (Vgl. Barth, KD III/2, 242f.) Unter Sünde versteht Barth nun »das unbegreifliche wahnsinnige Können, die Tatsache des Menschen« (aaO. 244) seine Bezogenheit auf Gott zu verleugnen. Die Sünde hat dabei jedoch keine schöpferische Macht, sondern kann das wahre Menschsein des Menschen nur verdecken, jedoch nie beenden oder zerstören. (Vgl. aaO. 244f.) 1143 Barth, KD III/2, 296. 1144 Vgl. Barth, KD III/2, 296. 1145 Barth, KD III/2, 299; für die weiteren Ausführungen dieses Abschnitts vgl. Barth, KD III/2, 299–302.
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In Abgrenzung zum Sehen eines Gegenstandes zeichne das spezifische Sehen eines Menschen die Möglichkeit aus, den anderen in die Augen zu sehen und darin sich selbst erkennen zu können. Für dieses Sehen gibt es nach Barth auch keine Ausnahme, sondern sobald im Anderen der Mensch an sich sichtbar werde, werde es zu einem spezifisch Sehen des Humanen im Anderen. Doch dieses Sehen beinhalte auch den Aspekt des sich Sehen lassens. Der Sehende könne sich also nicht neutral gegenüber dem Anderen stellen, sondern müsse auch sich sehen lassen und in eine Beziehung treten. Für beide Parteien bedeute das, dass sie sich einander in der Begegnung öffnen müssen und sich mit allem begegnen müssen, was sie jeweils ausmache. Der Andere werde damit nicht als wie als das eigen Ich gedacht, sondern als Etwas-wie-Ich. Das Ich und das Du bleiben souverän. In der Begegnung gehe es daher vielmehr um das wahrzunehmende und zu bestimmende verbindende Etwas. Barths Grundmoment aller Humanität ist somit »diese doppelseitige Offenheit«1146, wo sie fehlt oder in einem in einem falschen Verhältnis1147 besteht, kann keine Humanität entstehen. Auf diesem Grundelement basierend, muss nun der nächste Schritt folgen, welcher für Barth im humanen Sinn der Sprache zu finden ist. Denn »Humanität als Begegnung muß zum Ereignis der Sprache werden«1148. Nach der gegenseitigen Offenheit müsse nun also der Austausch über das verbindende Etwas folgen, man müsse »miteinander rede[n] [und] aufeinander hör[en]«1149. Erst hier fände eine wirkliche Begegnung statt und bliebe nicht in einem lediglich rudimentär-interpretierenden Blick auf den Anderen stehen. Indem man sich mitteilt, kommt für Barth der Eine dem Anderen in der offenen Wahrnehmung zu Hilfe und teilt ihm seine Sicht der Dinge und seine Selbstinterpretation mit. Dabei darf es aber in der Kommunikation nicht zuvörderst darum gehen, möglichst von vorneherein jegliche missverständliche Interpretationen vermeiden zu wollen, indem im Blick des Anderen von sich erzählt werde, denn in diesem Falle verliere die Beziehung den sie konstituierenden Aspekt der Offenheit und Ehrlichkeit. Diese sprachliche Kommunikation sei keine Sache, die geschehen könne oder auch nicht, sondern sie sei als Pflicht zu verstehen, weil von dem Umstand ausgegangen werden müsse, dass der Eine immer nur ein bruchstückhaftes Bild vom Anderen habe. Wenn der Eine sich dem Anderen mitteile, »erlaub[e]«1150 er sich den Anderen zu stören, ja ihn aufzufordern für
1146 Barth, KD III/2, 300. 1147 Ein falsches Verhältnis ist hier so zu verstehen, dass beispielsweise nur einseitig der Eine sich dem Anderen öffnen will, der Andere sich aber verschließe und sich nicht zeigen möchte. 1148 Barth, KD III/2, 303; für diesen Abschnitt vgl. Barth, KD III/2, 302–312. 1149 Barth, KD III/2, 303. 1150 Barth, KD III/2, 307.
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ihn da zu sein. Darüber hinaus müsse ihm diese »Störung«1151 als ein »Lebenselement«1152 entgegentreten, das ihm »selbst unentbehrlich ist«1153. Barth kann damit behaupten, dass das »Ich gar nicht Ich sein kann, ohne diesen Anspruch des Anderen zu vernehmen«1154. Die Stufen 1 und 2 dürfen aber lediglich als Bedingungen verstanden werden, für das, was in Stufe 3 der Humanität Barths zur Sprache kommt. Die gegenseitige Begegnung ziele nämlich durch das Sehen und Hören darauf, einander tätig Beistand1155 zu leisten. Nach Barth ruft der Eine den Anderen in der Begegnung um Beistand und dieser Beistand kann in einer offenen Beziehung nicht verweigert oder gar darauf verzichtet werden, da nur der Mensch dem Menschen so nahe kommen kann, dass er ihm »die richtige […] Hilfe […] leisten [kann]«1156. Jedoch würde der Beistand durch die göttliche Allmacht begrenzt, da der Eine für den Anderen nicht seine Lebensaufgabe übernehmen könne, sondern ihn nur in ihrer Umsetzung unterstützen könne. Die Humanität hat nach Barth aber erst ihre Vollendung gefunden, wenn die bisher vollzogenen Schritte »gerne«1157 geschehen: »Die menschliche Natur ist in ihrer Eigentlichkeit […] nicht einsam sondern zweisam1158. Sie besteht […] in der Freiheit eines gegen den Mitmenschen offenen Herzens. […] Der Mensch ist darin menschlich, daß er gerne mit seinem Mitmenschen ist.«1159
Dabei ist es Barth wichtig, diese Beschreibung gegenüber zwei möglichen Missverständnissen abzusichern. Zum einen müsse darauf geachtet werden, dass sich der Eine an den Anderen nicht verlieren darf. Beide müssten als Individuen erkennbar und souverän bleiben, ansonsten käme es zu einer Begeg1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157
1158 1159
Barth, KD III/2, 308. Barth, KD III/2, 308. Barth, KD III/2, 308. Barth, KD III/2, 309. Die Definition von Beistand nach Barth lautet: »[A]ktives Stehen bei dem Anderen« (Vgl. Barth, KD III/2, 314), d. h. »ich habe den Beistand des Du so nötig wie der Fisch das Wasser« (aaO. 315). Barth, KD III/2, 315. Wichtig ist dabei ist zu beachten, dass das Gegenteil von »gerne« handeln nicht etwa ungern handeln ist, sondern nach Barth sich gegenüber dem Anderen neutral zu verhalten. Denn selbst wenn man etwas ungern tue, handle man. Wer aber in der Neutralität verharre, beraube sich jeglicher Handlungsmöglichkeit und verleugne so sein genuines Menschsein. Die Fragestellung bleibe aber hypothetisch, da bei ihrer Zulassung Humanität nicht zu seinem Menschsein gehören würde, wenn er sich überlegen könnte, ob er gern oder ungern in einer Beziehung zu seinem Mitmenschen stehe: »Sie [ sc. die Humanität] ist [nicht] so etwas wie ein Hut, den man aufsetzen oder auch abnehmen kann«. Vgl. Barth, KD III/2, 320ff. Vgl. Gn 1, 27: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Barth, KD III/2, 335.
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nung in einem ungleichen Verhältnis. Das zweite Missverständnis geht genau in die entgegengesetzte Richtung. Es dürfe auch nicht geschehen, dass der Eine im Anderen nur sich selbst zu finden suche. Auch hier würde wiederum das Gegenüber nicht als souveräner Mensch wahrgenommen. »Das Sein in der Begegnung ist wie keine passive [unter den Anderen], so auch keine aktive Unterwerfung [des Anderen].«1160
Im gerne tun sieht Barth das »kleine Geheimnis«1161 der Humanität. Aus dem geschaffenen Sein durch Gott seien die Menschen als Geschöpfe dazu bestimmt, eine derartige beschriebene Humanität walten zu lassen. Die augenscheinliche Diskrepanz zwischen der Bestimmung des Menschen und der praktischen Umsetzung seiner Bestimmung führt Barth auf eine falsch verstandene Freiheit zurück. So gehöre es nicht zu der von Gott gesetzten menschlichen Natur, die »Unmenschlichkeit wie die Menschlichkeit zu wählen«1162, sondern die Ursache der Diskrepanz liege im »von nirgendwoher zu erklärenden und zu begründenden Abfall von Gott und [damit] von sich selbst«1163. Kurz gesagt liege das Problem im sündhaften Sein des Menschen, das ihn von einem falschen Freiheitsbegriff ausgehen lasse und aus welchem er erst und ausschließlich durch die Gnade Gottes befreit werden könne.1164 V.1.2.4 Barths Humanität als Sozialität und die Sprache als Inbegriff von Sozialität – Martin Buber und Emmanuel Lévinas Nach Barth tritt dem Menschen im Mensch Jesus Christus dessen wahres Selbst entgegen, welches in der je individuellen Wirklichkeit und Wahrnehmung durch die Sünde verdeckt wird. Die grundsätzliche Stärke dieser Grundannahme liegt 1160 Vgl. Barth, KD III/2, 325. 1161 Vgl. Barth, KD III/2, 319. Das große Geheimnis der Humanität ist für Barth »des Menschen, Bestimmung Gottes Bundesgenosse zu sein […] daß er zu Gott gehört, daß Gott für ihn, und zwar in der Person des Menschen Jesu, für ihn ist.« Dieses Gott-Mensch Verhältnis nun zwischen Menschen umzusetzen, ist für Barth das kleinere Geheimnis. 1162 Barth, KD III/2, 329. 1163 Barth, KD III/2, 329. 1164 An dieser Stelle scheint ein rudimentärer Exkurs zu Barths Analogieverständnis hilfreich: Das Ich wird für Barth durch die beiden Teile Humanität und Divinität konstituiert. D. h. Gott steht mit dem Menschen in einem Verhältnis und dieses Verhältnis ist analog zwischen Menschen zu verwirklichen. Praktisch heißt das, dass sich im Leben das Verhältnis von Gott zum Menschen in der Begegnung zwischen Mensch und Mensch abbilden sollte. (Vgl. Barth, KD IV/2, 185f.) In Vollkommenheit sei dies am Leben und Wirken Jesu Christi zu erkennen. Aus der Divinität ergäbe sich, dass die Beziehung Gott – Mensch nicht unterwandert werden könne. Selbst wenn alle menschliche Beziehung versagt, bleibe die Gottesbeziehung bestehen, die das Ich erhält. In zwischenmenschlicher Beziehung soll diese Gott – Mensch Beziehung erfahrbar werden. Vgl. Eberhard Jüngel, Barth-Studien, Zürich/Köln 1982 (Ökumenische Theologie, Bd. 9), 210–232.
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darin, dass trotz des Eingeständnisses der unvollkommenen Art der Humanität, wie sie sich in der Wirklichkeit dem Menschen zeigt, eine vollendete und wahre Humanität an der geschichtlich fassbaren Person Jesu Christi aufgezeigt werden kann. Von daher wird nochmals deutlich, dass Barth die Humanität nicht als Ideal, Tugend oder uneigentliche Metapher beschreibt, da in seiner Annäherung an die Anthropologie nicht von einer »Hypothese« des Menschen ausgegangen werden muss, die sich selbstreferentiell erdacht wurde und nun zu erfüllen wäre. Denn all diesen hypothetischen Annahmen vom wahren Menschen ist zu eigen, falls sie sich als nicht praktikabel erweisen, darauf verwiesen werden könne, »daß der wirkliche Mensch nun einmal ein ganz anderes Wesen sei«1165 und der wahre Mensch eben nur immer nur annäherungsweise beschrieben werden könne. Barth verweigert sich damit all jenen Vorstellungen von Humanität, die erst einmal vom isolierten Menschen ohne seine Mitmenschen ausgehen, um von diesem Standpunkt aus den Begriff der Humanität zu füllen.1166 Nach Barth wird hier von einer »Traumgestalt« des Menschen ausgegangen, die »es nicht gibt und auch nicht geben kann«.1167 Das Sein in der Mitmenschlichkeit sei die Form der Humanität, die dem Menschen entspreche. Erst in der Alterität zum Anderen profiliere sich das eigene »Ich« und könne sich selbst setzen und bestimmen. Das bedeute, dass wenn vom Menschen Humanität verlangt wird, ihm nichts Wesensfremdes zugemutet werde, sondern nur er darauf angesprochen werde, »bei seiner ihm anerschaffenen Bestimmtheit als Mensch«1168 zu bleiben. V.1.2.4.1 Martin Bubers Humanität zwischen »Ich« und »Du« Die Bestimmung der Humanität des Menschen in ihrer besonderen Relationalität zwischen Divinität und Humanität zeigt deutlich, dass Barth die Anthropologie nicht in erster Linie als die Aufzählung bestimmter menschlicher Merkmale und damit als Gattungsbegriff versteht, sondern als ein Wesensbegriff, als ein Sein in Beziehung, welches in der Sozialität konkret wird und im Ereignis der Sprache zur Begegnung führt. Diese Grundform der Beschreibung der Humanität des Menschen erinnert stark an die Überlegungen Martin Bubers, auf die Barth selbst in der KD III/2 § 45. hinweist und mit welchen er sich auf den folgenden Seiten seiner Dogmatik explizit auseinandersetzt.1169 Buber stellt sich wie Barth in Abgrenzung zum deutschen Idealismus mit dessen Ausgangspunktes, eines abstrakt-nackten Individuums und setzt dem Idealismus eine Theorie der dialogischen Wirklichkeit entgegen: 1165 1166 1167 1168 1169
Barth, KD III/2, 317. So auch für Barth der Versuch des deutschen Idealismus und Nietzsches. Barth, KD III/2, 317. Barth, KD III/2, 318. Barth, KD III/2, 333ff.
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»Sein bedeutet für den Menschen ein In-Beziehung-Sein.«1170
Grundsätzlich unterscheidet Buber in diesem Beziehungsgeflecht zwei Modi. Den Modus des »Ich-Es« und des »Ich-Du«.1171 Die »Ich-Es« Begegnung steht bei Buber sinnbildlich für die moderne Gesellschaft, in der vom »Ich« ausgegangen und das Gegenüber nur als Ding und nicht als Subjekt wahrgenommen werde. Das »Es« fungiere lediglich als ein Mittel zur Erreichung der Vorstellungen des »Ichs«. Anders verhalte sich die Beziehung zwischen einem »Ich« und einem »Du«. Hier werde der Andere als eigenständiges Subjekt wahrgenommen, das auf das »Ich« wirke und es auch beeinflussen könne.1172 Die Begegnung zwischen »Ich« und »Du« stellt sich somit für Buber als eine »Urkategorie des menschlichen Seins dar«1173. Daher wird für Buber ein »Ich« erst durch das »Du« existent und beschreibbar. »Der Ich-Du Modus ist es, der dem Menschleben eine geistige Dimension verleiht«1174 und als dessen systematisch-strukturelles Urbild die Begegnung zwischen dem Menschen und Gott stehe. Barth selbst schreibt in der KD III/2 im Zusammenhang seiner theologischen Anthropologie über seine Grundform der Menschlichkeit: »Es ist wohl wahr, daß die theologische Anthropologie hier auf ihrem eigenen Weg und indem sie diesen entschlossen zu Ende geht, zu Sätzen kommt, die denen ganz ähnlich sind, in denen die Humanität auch schon von ganz anderer Seite (z. B. von dem Heiden Konfuzius, von dem Atheisten L. Feuerbach, von dem Juden M. Buber) beschrieben worden ist. Sollten wir uns darum von diesen Aussagen abhalten lassen?«1175
Mit Askani kann nun gefragt werden, wie diese etwas rudimentäre Aussage Barths bezüglich der Ähnlichkeiten zwischen Bubers und seinen eigenen Gedanken zur Mitmenschlichkeit gelesen und verstanden werden sollten. Askani bietet zwei Möglichkeiten der Interpretation an: »a) als etwas schäbiges Kaschieren eines Verdankens von Einsichten, die auch für Barth nicht vom Himmel gefallen sind; oder b) als tatsächliche Verhältnisbestimmung theologischer und philosophischer Anthropologie, d. h. genauer gesagt als retrospektives Hervorheben der Eigenart des beschrittenen theologischen Wegs.«1176
Askani selbst plädiert aufgrund der Untersuchung unveröffentlichter Texte zur KD dafür, beide Erklärungsversuche miteinander zu verschränken, wobei er schwerpunktmäßig b) als die plausiblere Erklärung stark macht. Denn in diesen 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176
Christian Schütz, Art. Martin Buber in TRE, Bd. 7, New York/Berlin 1981, 253–258, 254. Vgl. Yehoyada Amir, Art. Martin Buber, in RGG4, Bd. 1, Tübingen 1998, 1807–1809, 1809. Vgl. Amir, Buber, 1809. Schütz, Buber, 255. Amir, Buber, 1809. Barth, KD III/2, 333. Hans-Christoph Askani, Karl Barth und Martin Buber, in Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, 239–259, 250.
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Supplementen zur KD findet sich eine 15-seitige Beschäftigung mit Buber an deren Ende in Askanis Worten die Erkenntnis Barths über Buber steht: »Was er sah, verdankt er seinem Jude-Sein, was er nicht sah, verdankt er seinem JudeBleiben.«1177
Barth würdigt zwar Buber bezüglich seiner »Größe und das Verdienst«, seine Konzeption der »Ich-Du-Beziehung« mit »unerbittlicher Klarheit und Konsequenz« gedacht zu haben, die selbst vielen christlichen Theologen in dieser Entschlossenheit so nicht zu eigen war.1178 Gleichzeitig beschreibt Barth bei Buber jedoch ein »doppeltes Verkennen«. Nämlich, die entscheidenden Veränderungen des Neuen gegenüber dem Alten Testament nicht erkennen zu können, die als die Offenbarung und Verbrüderung Gottes mit den Menschen zu benennen sei, welche vollendet in der Person Jesus Christus zu beschreiben sei. So bezeuge das Neue Testament, und die sich daraus entwickelnde Trinitätstheologie, dass im Blick auf das Göttliche, den Heiligen Israels, dieser »sich nicht begnügt hat, ewiges Du zu sein und zu bleiben«, sondern »in der Erfüllung seines in und mit der Schöpfung anhebendes Bundes, dem Menschen zugute auch menschliches Du und Ich« zu werden.1179 Und auch im Blick auf den Menschen, auf Bubers israelitischen Menschen, hätten sich durch die Bezeugung des Neuen Testaments entscheidende Veränderungen ergeben, die darin zu sehen seien, dass der Mensch nicht länger »darauf angewiesen ist, dem ewigen Du im Du der Natur, des Menschen und der geistigen Wesenheiten zu begegnen«, sondern »er vielmehr das Wesen ist, dem das ewige Du Treue geschworen und gehalten hat trotz seine Untreue und dem es sich ohne dessen Wesenstat und ihr entgegen zum Erlöser gesetzt hat.«1180 Nach diesen, für Barth grundsätzlichen theologischen Verschiebungen zwischen Altem und Neuem Testament, geht er weiter und buchstabiert diese materiell an Bubers Überlegungen kritisch aus. So sei es als ein Mangel zu erkennen, dass bereits der Titel von Bubers Schrift »Ich und Du« sich nicht inspiriert zeige von »jener [wie oben beschrieben] Umkehrung der theologischen Grammatik«.1181 Also nicht das (göttliche) Du in der Vordergrund rücke, sondern im Ich als Ausgangs- und Zielpunkt verhaftet bleibe. Bubers »Problem ist und bleibt das Ich: seine Not […], seine Befreiung […], seine Zwiespältigkeit […], seine Erlösung.«1182
1177 1178 1179 1180 1181 1182
Askani, Barth und Buber, 251. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 373. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 373. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 373. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 374. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 374.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Zwar behaupte Buber beständig, dass das »Ich« nur vom »Du« her bestimmt werden könne, buchstabiere dies jedoch an keiner Stelle konsequent aus. Der Primat des »Ichs« gegenüber dem Du werde so gesehen nicht zurückgenommen. Einen zweiten gewichtigen Einwand formuliert Barth in einem mit dem Primat des Ichs einhergehenden verharmlosenden Sündenbegriff, wonach Bubers Not des Menschen »aus der er erlöst werden kann, verhältnismäßig harmlos die IchEs-Beziehung ist«.1183 Die Substanz des »Ich« bleibe vom sündhaften Sein unberührt und daher sei »die Sache des Menschen […] eben keine verlorene«, da dem Hang des Menschen zu einer »Ich-Es«-Beziehung nichts Irreparables innewohne, das dieser nicht in einer neuerlichen Vergewisserung »des im Menschen, in der Natur, in den geistigen Wesenheiten latenten und seiner harrenden Du« ausmerzen könne.1184 Vielmehr sei für Buber der sündhafte Abfall des Menschen von Gott, und damit von sich selbst, der einfachen Dialektik der Schöpfung zuzuschreiben, die dieser seinsmäßig inhäriere. In den Ausführungen und der Würdigung in der KD III/2 zu Buber benennt Barth den entscheidenden, und damit alle auffindbaren Ähnlichkeiten marginalisierenden Punkt zwischen beiden, den, dass in seiner theologischen Anthropologie, die »Menschlichkeit in ihrem Wesen zutiefst und zuhöchst in der Freiheit seines Herzens für den Anderen besteht«.1185 »Die Krone des Humanitätsbegriffs […] besteht nicht in der Freiheit eines gegen den Mitmenschen verschlossenen, sondern in der Freiheit eines gegen den Mitmenschen offenen Herzens.«1186
Kondensiert wird diese Überzeugung Barths im 4. Punkt seiner theologischen Anthropologie, die sich im »gerne tun« inhaltlich komprimiert zeigt. Buber selbst wandte sich 1954 in einem Nachwort zu seiner Studie »Schriften über das dialogische Prinzip« an Barth und dessen Kritik und schreibt: »Zu allen Zeiten wohl ist geahnt worden, daß die gegenseitige Wesensbeziehung zwischen zwei Wesen eine Urchance des Seins bedeutet, und zwar eine, die dadurch in die Erscheinung trat, daß es den Menschen gibt. Und auch dies ist immer wieder geahnt worden, daß der Mensch eben damit, daß er in die Wesensbeziehung eingeht, als Mensch offenbar wird, ja daß er erst damit und dadurch zu der ihm vorbehaltenen gültigen Teilnahme am Sein gelangt, daß also das Du-Sagen des Ich im Ursprung alles einzelnen Menschwerdens steht.«1187 1183 1184 1185 1186 1187
Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 374. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 374f. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 334. Barth, Unveröffentlichte Texte der KD, 334f. Martin Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip. Ich und Du / Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Mit einem Nachwort, Heidelberg 1954, 287.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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Ausgehend von dieser fundamentalen Einsicht in die Wesensbestimmung des Menschen als eines sozialen Wesens, benennt Buber verschiedene Philosophen zur Untermauerung seiner These. An erster Stelle findet sich der Rekurs auf Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) und seine »Fliegenden Blätter« aus dem Jahr 1785. Aus diesen Studien benennt Buber das Zitat »Ohne Du ist das Ich unmöglich« für die historisch folgenden Diskussionen als stilbildend. So hätte auch Ludwig Feuerbach in seiner Philosophie den Menschen in der Begegnung mit anderen Menschen seine Bestimmung finden lassen, wohingegen Kierkegaard den Menschen gerade nicht in der bloßen Begegnung mit seinesgleichen seine wahre Bestimmung finden ließe, sondern einzig und allein in der Begegnung mit Gott. Dies hätte nach Ansicht Bubers wiederum zu einer »aufbrechenden Seinskluft zwischen [göttlichem] Du und [menschlichem] Du«1188 geführt, die erst Jahrzehnte später neuerlich durch Hermann Cohen und seinen Schüler Franz Rosenzweig in dieser Weise beschrieben und diskutiert worden sei. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung verweist Buber auf den »von Krankheit und Depression schwer heimgesuchte[n] Volksschullehrer in der österreichischen Provinz Ferdinand Ebner«1189 und dessen Werk »Das Wort und die geistigen Realitäten« (1921). In der »Icheinsamkeit« beschreibt Ebner den fehlgeleiteten und durch Blaise Pascals Philosophie losgetretenen Versuch »der deutschen Philosophie, in einem subjektiv gewendeten Idealismus die Existenz des Ichs zu retten«1190 und sich dadurch dem menschlichen Wesen, seinem »Ich«, zu nähern. Der Fehlschluss liegt für Ebner darin begründet, dass die Existenz des »Ichs« »nicht in seinem Bezogensein auf sich selbst, sondern […] in seinem Verhältnis zum Du« liege.1191 »Die Icheinsamkeit ist nichts Ursprüngliches im Ich, sondern das Ergebnis eines geistigen Aktes in ihm, einer Tat des Ichs, nämlich seiner Abschließung vor dem Du.«1192
»Ich« und »Du« bilden so für Ebner die »geistigen Realitäten des Lebens«, die dadurch miteinander in Verbindung kommen und sich gegenseitig ermöglichen, als dass die Sprache »in der Geistigkeit ihres Ursprungs […] das Verhältnis des Ichs zum Du einerseits voraussetzt, andererseits herstellt«.1193 Den tiefsten Ausdruck dieser Fundierung des »Ichs« durch das »Du« findet sich laut Ebner in der Gottesbeziehung des Menschen: »In den letzten Gründen unsres geistigen Lebens ist Gott das wahre Du des wahren Ichs im Menschen« und »konkretisiert« damit kein »ideelles Ich der Philosophie«, die 1188 Buber, Ich und Du, 290. 1189 Buber, Ich und Du, 291. 1190 Ferdinand Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, Innsbruck 1921, 15. 1191 Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, 15. 1192 Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, 15. 1193 Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, 16f.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
»schwebende Abstraktion […], eine Seifenblase des spekulativen Verstandes […], sondern das wirkliche Ich«.1194
Ebner entdeckt in der geistigen Komponente der Sprache eine Scharnierstelle des personalen Bewusstseins. Denn auf der einen Seite müsse Sprache die Beziehung zwischen »Ich« und »Du« im Sprechakt voraussetzen und andererseits sei die Persönlichkeit des »Ichs« und des »Dus« ohne »die Beziehung zum Wort nicht zu denken«.1195 »Das Fürsichsein des Ichs in seiner Einsamkeit ist kein ursprüngliches Faktum im geistigen Leben des Menschen […], sondern das Ergebnis seiner Abschließung vor dem Du. Diese Abschließung aber ist nichts anderes als der ›Abfall von Gott‹; der Versuch des Menschen, in gottloser ›Innerlichkeit‹ […] zu existieren, der erste Mißbrauch und verkehrte Gebrauch der ›Freiheit‹, der von Gott in den Menschen gelegten ›Personalität‹ des Existierens.«1196
Auf den letzten Seiten der Replik Bubers findet sich eine dezidierte Auseinandersetzung mit der eingangs beschriebenen Kritik Barths an Buber, eine Religionsphilosophie der doppelten Verkennung zu betreiben. Buber unterstellt seinerseits, dass Barth seine »Darlegung der »Grundform der Menschlichkeit« solchen philosophischen Bewegungen zu verdanken habe, die zwischen »einem unkirchlich gläubigen Idealisten und einem ungläubigen Sensualisten« des 18. und 19. Jahrhunderts angebahnt worden war und im 20. Jahrhundert in einem nicht unerheblichen Anteil durch gläubige Juden »zugänglichen Ausdruck gefunden hatte«.1197 Daher sei es für Barth einfach nur schwerlich zu akzeptieren und seine unbotmäßige Kritik darauf zurückzuführen, dass eine »Scheidung zwischen Es und Du und des wahren Seins des Ichs«1198 schlicht auch außerhalb der christlichen Tradition und seiner christologischen Rede stichhaltig und konsistent begründet werden könne. V.1.2.4.2 Das Menschsein bei Emmanuel Lévinas zwischen »Bedürfnis« und »Begehren« Mit Emmanuel L8vinas (1906–1995) öffnet sich der Blick auf einen weiteren Philosophen, der in seinem Werk verstärkt auf die Grundkonstitution des Menschen als soziales Wesen der Alterität rekurrierte. Nach L8vinas stelle sich die Alterität als Transzendenz in der Wirklichkeit dem in sich selbst gesättigten individuellen Leben gegenüber. L8vinas und seine Philosophie des Antlitzes, die 1194 1195 1196 1197 1198
Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, 17. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, 18. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, 21. Buber, Ich und Du, 303. Buber, Ich und Du, 303.
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als ein Hereinbrechen der Alterität in die »heile Genußwelt des Selbst«1199 zu verstehen ist, wurde zwar von Barth nie literarisch rezipiert1200, jedoch zeigen sich in den Ausführungen L8vinas über dessen philosophische Gedankengänge enge systematische Verbindungslinien zu Barths Konzeption der Anthropologie und seiner Bezugnahmen auf Buber. An dieser Stelle kann es jedoch nur darum gehen, die Philosophie L8vinas in einen zugeschnittenen Diskurs zur Fragstellung dieses Kapitels zu beschreiben. Huizing schreibt über die Philosophie L8vinas: »Kontextlos oder nackt nennt L. das Antlitz, um zu betonen, daß es seine Bedeutung nicht den konstitutiven Akten des Selbst verdankt, sondern umgekehrt, aufgrund der Bedeutungskraft des nackten Antlitzes, das den Imperativ »Du sollst nicht töten« ausdrückt, öffnet sich das Selbst und teilt dem Anderen die Welt mit, übernimmt für den Anderen Verantwortung, die bis zur Stellvertretung geht, und wird damit erst zum Mensch im Vollsinn des Wortes«.1201
Damit wird es für L8vinas von zentraler Bedeutung festzuhalten, dass das Andere in Bezug auf das Eigene gerade seine Andersheit nicht in der Bezugnahme auf das Eigene konturiere und damit nicht im Abgleich zum Eigenen seine Beschreibung und Definition als Fremdes finde. Das Andere wird daher nicht ausgehend vom eigenen Selbst bestimmt, sondern gerade in seiner absoluten und selbstständigen Andersartigkeit, die L8vinas mit der Vorstellung einer »Idee des Unendlichen« zu fassen versucht. Das Andere bleibt dem Eigenen »transzendent« und verdeutlicht damit seine »absolute Unabhängigkeit, die sich nicht durch ein Entgegensetzen setzt«1202, sondern vor aller nachgeordneten Setzungen existiert. Für L8vinas gibt es also nicht das Selbe hinter allem, unter dessen Deckmantel das Selbst und die Andersheit aufgelöst bzw. harmonisiert werden könnten. Bestärkt wird diese Einsicht durch L8vinas Unterscheidung jener Transzendenz in ein »Bedürfnis« und in ein »Begehren«. »Das Begehren ist ein Streben, das vom Begehrten belebt wird; es entsteht von seinem ›Gegenstand‹ her, es ist Offenbarung. Das Bedürfnis dagegen ist eine Leere der Seele, es geht vom Subjekt aus.«1203
So unterschieden, kann das Andere nicht nur in den Bereich des Begehrens des Selbst gerechnet werden, da das Bedürfnis lediglich einen (eigens festgestellten) 1199 Vgl. Klaas Huizing, Art. L8vinas, in RGG4, Bd. 5, Tübingen 2002, 296–297. 1200 Johan F. Goud, Emmanuel Levinas und Karl Barth. Ein religionsphilosophischer und ethischer Vergleich, Bonn/Berlin 1992, 8. 1201 Huizing, L8vinas, 297. 1202 Emmanuel L8vinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriotität. Übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1987, 78. 1203 L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 81.
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Mangel befriedigen würde, der noch nicht notwendigerweise über sich selbst bzw. zur Exteriorität hinausführen müsse, sondern im Rahmen des Selbst verhaftet bleibe und so gerade nicht der absoluten Andersheit entspreche. Davon abgesetzt findet das Begehren seine Quelle nicht in sich selbst wie das Bedürfnis, sondern in seinem Gegenstand, wobei es kein »›Gegenstand‹ einer Erkenntnis« sei, sondern von L8vinas mit der eingangs genannten Idee des Unendlich verknüpft wird: Denn »bei der Idee des Unendlichen geht die Bewegung vom Gedachten aus und nicht vom Denker.«1204 »Das Begehren ermißt die Unendlichkeit des Unendlichen; denn gerade auf Grund der Unmöglichkeit des Maßes ist das Begehren das Maß.«1205
L8vinas beschreibt den Ursprung der Trennung zwischen Selbst und dem Anderen im Genuss des »Egoismus«. »[S]ie vollzieht sich im Glück, in dem das Ich sich identifiziert« und genau darin »in einem hervorragenden Sinne«, in diesem Genuss des Glücks »existiert« es ohne einen zum Bedürfnis werdenden Mangel.1206 Jedoch könne das »Ich« in der Bewegung des Begehrens noch über diesen Zustand hinausfinden: »Auf der Höhe seines Seins, strahlend im Glück, egoistisch, sich selbst setzend als Ich – siehe! da übertrifft es sich selbst, da ist es eingenommen, von einem anderen Seienden.«1207
Gerade hierin zeigt sich für L8vinas die Wahrheit als »eine Modalität der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen«1208, die sich in der Sprache1209 formuliere und so gerade nicht in sich selbst, sondern nur extrovertiert in der Begegnung mit dem Anderen ereignen könne. Im »Antlitz« des Anderen führt L8vinas diesen Gedankengang des transzendenten Begehrens jenseits eines in sich selbst genügsamen und sich lediglich statisch manifestierenden Bedürfnisses weiter. »Das Antlitz ist eine lebendige Gegenwart, es ist Ausdruck. […] Das Antlitz spricht«1210 und verkörpert so den Anspruch auf Wahrheit jenseits des eigenen Selbst und seines physischen wie psychischen Begehrens in seiner bloßen Gegenwart: »Diese Gegenwart bricht hervor angesichts des Antlitzes als Spitze des Blickes, der dich fixiert; diese Gegenwart ist gesagt.«1211 L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 81. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 81. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 82. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 82. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 84. »Sprache als Beziehung in der die Termini sich aus der Beziehung ablösen und in der Beziehung absolut bleiben.« L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 85. 1210 L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 87. 1211 L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 87.
1204 1205 1206 1207 1208 1209
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So wird die Sprache in der Begegnung mit diesem Antlitz »nicht nur eine Modifikation der Anschauung (oder des Denkens), sondern eine ursprüngliche Beziehung mit dem äußeren Seienden […] Die Rede ist Ereignis von Sinn«.1212 »Den Anderen anerkennen heißt also, ihn durch die Welt der besessenen Dinge erreichen, aber zugleich durch die Gabe der Gemeinschaft und die Universalität stiften. Die Sprache ist universal, weil sie der eigentliche Übergang vom Individuellen zum Allgemeinen ist, weil sie Dinge, die mir gehören, dem Anderen anbietet. Sprechen heißt, die Welt gemeinsam machen, Gemeinplätze schaffen. Die Sprache bezieht sich nicht auf die Allgemeinheit der Begriffe, sondern legt das Fundament für einen gemeinsamen Besitz. Sie schafft das unveräußerliche Eigentum des Genusses ab.«1213
L8vinas setzt sich dort von Buber ab, wo er mit der Figur des Unendlichen die Begegnung mit dem Anderen über die bloße »Ich-Du« Struktur hinausführen will. Denn diese »Ich-Du« Struktur könnte sich der Kritik ausgesetzt sehen, im Du bereits eine Beziehung zum Ich vorauszusetzen, daher nicht dem Anspruch einer absoluten Andersheit zu entsprechen und in der l8vinas’schen Figur des Bedürfnisses verhaftete zu bleiben. L8vinas gelingt es die Rede Barths von der Beziehung des Menschen zu Gott und damit zum Menschen, die wiederum nur von Gott ins Gang gesetzt werden kann und gerade aus der diametralen Verschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf lebt, in ein valides philosophisches Konstrukt von Selbst, Andersheit, Unendlichkeit, Bedürfnis und Begehren zu überführen.1214 Gerade auch dort, wo L8vinas die zentrale Bedeutung der Sprache betont, die die Gemeinschaft sozusagen erst stiftet, vermag er es damit auch der theologischen Reflexion Rechnung zu tragen, wonach es das den Menschen ansprechenden Wort Gottes ist, welches ihn aus seinem sündhaften Sein ruft und in die Gemeinschaft mit Gott und damit mit dem Anderen führt.
V.1.3 Der Mensch bei Friedrich Nietzsche »Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst schafft.«1215
In diesem Diktum Volker Gerhardts kann wohl in bestechender Kürze und Prägnanz die Anthropologie Nietzsches zusammengefasst werden. Heinrich Schipperges legte 1975 seine Studie »Am Leitfaden des Leibes. Zur Antropologik und Therapeutik Nietzsches« vor und betonte dabei den entscheidenden Para1212 1213 1214 1215
L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 88. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 104. Vgl. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 109ff. Volker Gerhardt, »das Thier das versprechen darf«. Mensch, Gesellschaft und Politik bei Friedrich Nietzsche, in Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, 134–156, 138.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
digmenwechsel in Nietzsches Philosophie, der darin zu sehen sei, nicht länger den Geist, sondern den Leib als Ursprung und Ziel jeglichen Philosophierens zu postulieren.1216 Diese am Leib orientierte Grundstruktur der Anthropologie Nietzsches soll nun im Folgenden nachgezeichnet werden. Dabei ist gleich zu Beginn anzumerken, dass in Nietzsches Philosophie das Sein des Menschen nie als definitorisches System beschrieben wird, sondern in konsequenter Weise als das je individuelle Ereignis, eines nach absoluter Lebensbejahung trachtenden Wesens, wie es sich in seinen speziellen Ausführungen des Zarathustra und den Gedanken zum Übermenschen widerspiegelt, die selbst jedoch aufgrund systematischer Überlegungen erst an späterer Stelle dargestellt werden sollen. Im Grundsatz seines Erkennens begreift und bewertet der Mensch nach Nietzsche sich selbst und seine Wirklichkeit stets in der Relation zu seinen Bedürfnissen und nicht etwa im jeweiligen Fürsichsein der Dinge. Nietzsche zeigt damit in einer wertneutralen Position auf: »[G]erade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. […] aber sie [sc. die Welt] ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne »Perspektivismus«. Die menschlichen Bedürfnisse sind es, die »die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider«.1217
Der Mensch erschafft sich sozusagen seine eigene Wirklichkeit entsprechend seiner Bedürfnisse, die er als den interpretatorischen Zugang zur Welt und zum Leben versteht. Nietzsches Anthropologie lebt daher sozusagen strukturell aus einer in ihr individuell angelegten Verschiedenheit und Wandlungsfähigkeit, die darin die Selbsterschaffung des einzelnen Menschen impliziert, insofern der Mensch die Deutung und Nutzung der Welt aufgrund seiner eigenen Bedürfnisse hervorzubringen und zu deuten hat. Damit gibt es auch im Sinne dieser Selbsterschaffung des Menschen keinerlei Verantwortung mehr, das Leben entsprechend einer objektiven oder von außen vorgenommenen inhaltlichen Bestimmung zu leben. »Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen.«1218
Für Nietzsche ist der Mensch auch dort nicht länger in seiner Lebensführung an bestimmende metaphysische Wahrheiten gebunden, wo er sie bis dato so erfahren hat. Die Kategorien der Bewertung und Bewunderung der menschlichen 1216 Heinrich Schipperges, Am Leitfaden des Leibes: zur Anthropologik und Therapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1975. 1217 Friedrich Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1885–1887«, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 12, Berlin/New York 1967–77 und München 21988, 315. 1218 Nietzsche, »Menschliches, Allzumenschliches«, 103.
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Handlungen können von nun an lediglich die ästhetischen von Kraft, Schönheit und Fülle sein. Damit sind auch keine moralisch-ethischen Betrachtungen des Menschen und seiner Humanität mehr möglich, da die Dimension einer metaphysischen Kategorie von Wahrheit und Lüge, von Gut und Böse, der sich der Mensch in der Bestimmung seines Lebens gegenüber verantwortlich zeichnen müsste, aufgelöst wurden. Der befreite und der darin angelegte reine Selbstgenuss steht im Zentrum der nietzscheanischen Humanität. Als »das noch nicht festgestellte Thier« zeichnet Nietzsche diesen in den subjektiv-ästhetischen Dimensionen des dionysischen Weltbildes denkenden und handelnden Menschen. Im Bild des Tieres wird dabei von Nietzsche des Menschen Triebnatur betont, die durch den »Willen-zur-Macht« angetrieben wird. Der Mensch wird nicht länger in erster Linie durch seinen vernünftigen Intellekt oder Verstand als Gestalter seines Lebens gedacht, sondern in seiner intuitiven Triebnatur. Der Mensch steht nach Nietzsche wie das Sein an sich unter dem alles andere relativierenden Trieb zur Macht, der als die Letztbegründung allen Werdens gezeichnet wird. Sich selbst in diesem Sinne zu erschaffen bedeutetet für Nietzsche daher in einer letzten radikalen Konsequenz, die Ambivalenz von Freud und Leid im Leben auszuhalten, zu bejahen und nicht wie bisher stets nach dessen Grund und Nutzen zu fragen und damit in Vermeidungsstrategien zu verfallen. »Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost.«1219
Dabei ist für Nietzsche die Ambivalenz des Seins gerade nicht an sich durch moralische Werturteile eliminieren, sondern die Ambivalenz wird ihrer bisherigen kritischen Wertbeurteilung bezüglich einer Nützlichkeit für das Leben entkleidet und als das ungezähmte und unverstellte Wesen des Seins erkannt und gelebt. Die Erschaffung der neuen Humanität des Menschen hat sich damit jenseits der vermeintlich vernünftig-nützlichen und allgemeinen Wahrheitskonstruktionen zu vollziehen, die die Grundemotionen des Lebens durch »Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von Täuschungen und Schutz vor bedrückenden Überfällen«1220 in der bisherigen Geschichte eindämmen und zähmbar machen wollten. Diese Hervorbringung des höherwertigen Menschen obliegt somit für Nietzsche in letzter Konsequenz denjenigen triebhaften Willensstrukturen, die durch ihre rein immoralischen lebensbejahenden und lebensförderlichen Vollzüge, im Gegensatz zu solchen Konstruktionen, welche auf lebensmindernden, weil 1219 Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, Berlin/New York 1967–77 und München 2 1988, 890. 1220 Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 890.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
moralisch aufgeladenen Idealen, Normen und Werte beruhen, sich im Sinne eines »survival of the fittest« durchsetzen werden. Unter diesem Anspruch und Zielsetzung versteht sich Nietzsche in seiner Philosophie wohl selbst, wenn er schreibt: »Da erhob sich Zarathustra und sagte zu seinem Herzen: […] Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn […]. Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch. Aber noch bin ich ihnen ferne, und mein Sinn redet nicht zu ihren Sinnen. […] Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustra’s.«1221
V.1.3.1 »Der Antichrist. Fluch auf das Christentum« Ausgehend von der wohl schärfsten und pointiertesten Schrift Nietzsches gegen das Christentum soll versucht werden, eine detaillierte Beschreibung des nietzscheanischen Menschenbildes darzulegen. Nietzsche baut in seiner Schrift einen Gegensatz zwischen den Starken, dem »höherwerthigeren Typus«1222 Mensch und den Schwachen, dem »kranken Thier Mensch«1223, auf. Um diese Konstellation zu veranschaulichen, verwendet er verschiedene Metaphern und Vergleiche. So kann das Verhältnis mit Bildern aus dem Tierreich (Adler vs. Lämmer) oder auch mit Vergleichen aus der mythologischen Welt (»Wir Hyperboreer« im Gegensatz zu den »Südländern«1224) vollzogen werden. Zu den Starken werden von Nietzsche diejenigen gerechnet, die sich von der Moral der herrschenden Klasse des Christentums lösen konnten und bereit sind, ihren »Willen-zur-Macht« ohne Rücksicht auf andere auszuleben. Dieser Typus konnte schon singulär in der Geschichte der Menschheit entdeckt werden1225 und ist nicht auf genauer definierbare Prädikate einzugrenzen, da »er […] wohl per definitionem Projekt bleiben [muss].«1226 Der Übermensch lässt sich somit nur durch Komparative beschreiben1227, die ihn in der Beschreibung vom jetzigen Menschen absetzen. Die Starken sehen sich jedoch dem Problem gegenüber, dass die Schwachen, 1221 1222 1223 1224 1225
Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 23. Nietzsche, »Der Antichrist«, 170. Nietzsche, »Der Antichrist«, 170. Nietzsche, »Der Antichrist«, 167. Beispiele für solche Menschen kann man aus einem Brief Nietzsches an Cosima Wagner entnehmen: Buddha, Dionysos, Alexander, Caesar, Voltaire, Napoleon, … Vgl. Eugen Biser, Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums, Darmstadt 2002, 110. 1226 Andreas Urs Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 101. 1227 Der »höherwerthigere, lebenswürdigere, zukunftsgewissere« Mensch. Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 170 und dazu Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 101.
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um nicht unterzugehen, eine Moral der verkehrten Werte eingeführt hätten.1228 Wohl am meisten hätte das Christentum dazu beigetragen1229, dass die wahren Werte, die den »Willen-zur-Macht« in sich tragen, verteufelt und in Misskredit gebracht wurden. Stattdessen wurde von ihnen eine Moral eingeführt, die die Schwachen stützte und jegliche Handlungen gegen sie verbot, ja sogar zur tätlichen Nächstenliebe aufrief. Doch diese Moral stehe im völligen Gegensatz zu der eigentlichen menschlichen Natur, die sich im »Willen-zur-Macht« manifestiere. Nietzsche behauptet sogar, dass diese Moralvorstellungen die Entwicklung des Menschen behindern und abgelegt werden müssen, so dass der Mensch endlich zu dem werden kann, was er eigentlich ist. Deutlich wird somit die Vorstellung Nietzsches, wonach die menschliche Natur absichtlich unterdrückt wurde und wieder zum Vorschein kommen muss. »Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.«1230
Den Begriff der Schwachen an dieser Stelle konkreter zu füllen erscheint schwierig, da nicht klar wird, ob sich der Begriff auf eine »biologistische, ständeoder rassenpolitische, moralische oder religiöse«1231 Einteilung von Menschen bezieht. Klar wird nur, dass die Schwachen, wie oben beschrieben, keinen »Willen-zur-Macht« in sich spüren oder ihn gar bewusst aus Feigheit ablehnen. Die Schwachen empfinden in ihrem Leben ständige Angst und versuchen sie 1228 Nietzsche spricht auch von einem anerzogenen »Heerdenthierinstinkt«, der gezüchtet und gewollt wurde. Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 170. 1229 Wobei nach Nietzsche nicht übersehen werden darf, dass das Christentum stark von jüdisch geprägten Gottesvorstellungen abhänge (vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 192: »[…] dass heute noch der Christ antijüdisch fühlen kann, ohne sich als die letzte jüdische Consequenz zu verstehn.«). Nietzsche wirft dem Judentum eine Entwertung des Gottesbegriffs vor. Ein Gott muss für Nietzsche all die natürlichen, männlichen und starken Werte vertreten, die er auch im Übermenschen verkörpert sehen will. Und dies schafft nach Nietzsche nur ein Volk, »das noch an sich selbst glaubt«. (Vgl. aaO. 182–183.) Obwohl das jüdische Volk in seiner Geschichte mehrmals »vor die Frage von Sein und Nichtsein« (aaO. 191.) gestellt wurde und damit die Frage nach der Existenz ihres Gottes im Raum stand, entledigten sie sich nicht von ihrem schwächelnden Gott, sondern veränderten ihre Vorstellungen von ihm und hätten somit eine natürliche Gottesvorstellung pervertiert. Diesen Vorgang, der sich nunmehr auch durch die jüdischen Werte- und Moralvorstellungen vollzog, nennt Nietzsche den »Sklavenaufstand in der Moral«: Was durch den Willen zur Macht und die Macht des Stärkeren zum Untergang geweiht scheine, klammere sich durch die Umwertung von Moralvorstellungen an das Leben (aaO. 192.) und treibe damit ihre Moralvorstellungen voran. Diese wurden vom aufstrebenden Christentum übernommen und an der Spitze dieser »d8cadence-Bewegung sieht Nietzsche den Priester, der aus eigenem Nutzen und Ausdruck dieses jüdischen Überlebenswillen ein Interesse daran hat, »die Menschheit krank zu machen« (aaO. 193.). 1230 Nietzsche, »Der Antichrist«, 170. 1231 Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 95.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
durch »die Instinkt-Ausschliessung aller Abneigung, aller Feindschaft«1232 zu beherrschen. Um der Angst gegenüber dem Anderen zu begegnen, hätten die Schwachen die Liebe zum Prinzip zwischenmenschlicher Begegnungen erhoben, um sicher zu gehen, dass man sich gegenseitig nicht schade. Der neue Typus Mensch verzichte stattdessen auf dieses Ideal und lebe sein Leben auch auf die Gefahr einer Eskalation hin.1233 Besonders stark in diesem Zitat erscheint die Verbindung zwischen »zu Grunde gehen« und »Menschenliebe«. Nietzsche führt diese Konnexion sehr bewusst ein, um eine Emotion bei seiner Leserschaft hervorzurufen.1234 Ganz auf der Linie seiner Umwertung aller Werte beschreibt Nietzsche hier seine neue Art der zwischenmenschlichen Begegnung. Menschenliebe heißt nicht länger dem Anderen hilfreich zur Seite zu stehen, sondern aus Liebe zu seinen eigenen Interessen den Anderen fallen zu lassen. »Man nennt das Christenthum die Religion des Mitleidens. […] Man verliert Kraft, wenn man mitleidet. […] Es [sc. das Mitleid] erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zu Gunsten der Enterbten und Verurtheilten des Lebens, es giebt durch die Fülle des Missrathenen aller Art, das im Leben festhält, dem Leben selbst einen düsteren Charakter.«1235
Aus diesem Zitat wird Verschiedenes deutlich. Mitleid als ein Affekt, der zur Humanität auffordert, wird von Nietzsche als ein tonischer und lebensfeindlicher Affekt gebrandmarkt. Institutionalisiert und zur Nachahmung empfohlen wurde der Begriff durch das Christentum. Für Nietzsche beinhaltet dieser Begriff jedoch nichts Positives, da er den natürlichen Lauf der Dinge aufhalte und sogar dem Leben an sich einen »düsteren« Charakter geben kann, da im Leben gehalten werde, was ihm nicht würdig sei. Sommer hält fest, dass »in der ganzen Argumentation gegen das Mitleiden ein […] medizinischer Jargon vor[herrsche]«1236. Dies verdeutlicht, dass Nietzsche nicht etwa an einem ethischen Diskurs über Mitleid interessiert ist, sondern die Praxis an sich diffamieren will.1237 Es kann festgehalten werden, dass das Christentum für Nietzsche den Begriff der Menschenliebe durch einen falschen verstandenen Begriff von der Liebe zum Leben geprägt hatte und somit »eine Gesammt-Einbusse an Leben und Lebensenergie erreicht«1238 hat. In seiner abschließenden Auffassung über das Christentum in § 62 kommt 1232 Nietzsche, »Der Antichrist«, 200. 1233 Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 200f. 1234 Nicht ein Dogmatismus, sondern der evokatorischer Effekt ist hier herauszustellen. Vgl. Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 96. 1235 Nietzsche, »Der Antichrist«, 172f. 1236 Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 120. 1237 Vgl. Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 120. 1238 Nietzsche, »Der Antichrist«, 173.
»Was ist der Mensch? …« – Über das Sein des Menschen
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Nietzsche zu einem verheerenden, wie er es nennt zu einem »ewigen« Urteil über das Christentum und stellt nochmals auf herausragende Weise seinen affektvollen Schreibstil zur Schau. Zweimal spricht er im Paragraphen von den scheinbaren »humanitären Segnungen« des Christentums und beschreibt damit die für ihn eindrücklichsten »Verderbnisse« der christlichen Kirche.1239 Zum einen ist sie für ihn »die höchste aller denkbaren Corruptionen«1240, d. h. in ihr ist nach Nietzsche der letztmögliche Wille zum Widernatürlichen verkörpert. Die Kirche besetzte durch ihre Wert- und Moralvorstellungen alle menschlichen Lebensbereiche und erhielt damit einen größtmöglichen Einfluss auf die menschliche Natur. Jedoch nutzte die Kirche ihre Macht nur zur Verderbnis der Menschheit, zerrüttete die menschliche Natur und war dabei immer im Stand, durch die aktive Schaffung von »Nothständen«, aus denen scheinbar nur sie retten konnte1241, sich selbst vor der Gefahr der Bedeutungslosigkeit zu schützen. Ein zweites verderbtes humanitäres Moment an der Kirche entdeckt Nietzsche in der Vorstellung der »Gleichheit der Seelen vor Gott«1242. Für Nietzsche stellt diese Annahme eine eklatante Lüge dar, da sie eine natürlich gesetzte Ungleichheit der Menschen postuliere, die durch die Angst der Schwachen verneint wurde und durch den »Unsterblichkeitsegalitarismus«1243 umgedeutet wurde. Nietzsche erkennt in dieser Gleichheit das »christliche Dynamit«1244, das zum »Niedergangs-Princip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist«1245. Aus dem Gedanken der humanitas1246 wird für Nietzsche in der christlichen Kirche1247 der Wille zur Selbsttäuschung. Aufgrund einer scheinbaren Menschenliebe würde die eigene menschliche Natur belogen und verneint. Verneint würde der eigene »Wille-zur-Macht« und durch die etablierte Jenseitshoffnung der Wille zum Leben: 1239 1240 1241 1242 1243 1244
Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 252. Nietzsche, »Der Antichrist«, 252. Zum Beispiel die Erfindung der Sünde. Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 252. Nietzsche, »Der Antichrist«, 252. Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 407. Die Metapher des Dynamits rechtfertigt nach Sommer Nietzsches drakonische Vorgehensweise gegen das Christentum. Dem Christentum ist nicht mit Argumenten bei zu kommen, sondern nur mit dem gleichen Terror, mit dem es die Welt verändert hat. Gegenoffenbarung antwortet auf Offenbarung. Vgl. Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 653. 1245 Nietzsche, »Der Antichrist«, 252. 1246 Sommer weist darauf hin, dass Nietzsche bei Paul de Lagarde gelernt hätte, dass Humanität und Christentum ursprünglich wenig miteinander zu schaffen hätten. Vgl. Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 653. 1247 Interessant ist die Beobachtung, dass Nietzsche christliche Kirche und das Christentum in eins setzen kann und wahlweise verwendet. Ein Christentum, das sich in einer Kirche manifestiert – fast schon eine römisch-katholische Vorstellung. Anscheinend lohnt sich nach Nietzsche keine Unterscheidung. Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 210.
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»Das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat, – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgerathenheit, Tapferkeit, Geist, Güte, der Seele, gegen das Leben selbst …«1248
Am Ende dieser Annäherung an Nietzsches Humanitätsbegriff muss ihm wohl recht gegeben werden, wenn er die »Umwerthung aller Werthe! …«1249 gerade im Blick auf die Beschreibung des Seins des Menschen als Ziel seines Unterfangens propagiert. Nietzsche scheint nicht daran interessiert, die gängige, durch das Christentum geprägte Vorstellung von Humanität abzuändern, sondern greift den christlichen Humanitätsbegriff an sich an und behauptet in ihm eine absichtliche Verfälschung der Realität gefunden zu haben. Das Christentum hätte nach Ansicht Nietzsches einen bestehenden Begriff mit eigenen Vorstellungen völlig neu besetzt und hätte sich in dieser Neudeutung diametral gegen das menschliche Sein an sich gestellt. Den Ursprung dieser Begriffsverfälschung sieht er in seiner nicht falschen Analyse der jüdischen Gottesmetaphorik. Was andere als eine Stärke des Gottesbegriffs ausweisen, ist für Nietzsche gerade der Schwachpunkt des jüdischen Glaubens. Nämlich ein Glaube, der von einem deskriptiven Gehalt des Gottesbegriffs ausgeht und daher seinen Glauben immer wieder anhand der erlebten Geschichten überprüft und angleicht.1250 Nietzsche versucht den Gottesbegriff normativ zu beschreiben, den dieser jeweils zu erfüllen hat. Der Glaube an Götter ist für Nietzsche bei Nichterfüllung der normativen Postulate schlicht abzulegen. Andernfalls verliert eine Gottesvorstellung für Nietzsche ihren Sinn. Somit wird klar, wie sich Nietzsche die Verfälschung des Humanitätsbegriffs vorstellt. Über eine Gottesvorstellung, die nichts mehr mit göttlichen Attributen von Männlichkeit, Kraft und »Willen-zur-Macht« zu tun hatte, kam es aufgrund von Nachahmern dieses göttlichen Seins zu Vorstellungen über Werte und Ideale, die der menschlichen Natur völlig zuwiderlaufen. Somit wurde den Menschen etwas aufoktroyiert, was erstens nie zu ihrer menschlichen Natur gehörte hätte und zweitens absichtlich mit dem Zweck erfunden wurde, um gerade das natürliche Sein des Menschen zu diskreditieren. Aus diesem Grund lässt sich Humanität bei Nietzsche auch nicht in einem Schema wie bei Barth fassen, sondern nur in mehr oder weniger aussagekräftigen Thesen vom »Willen-zur-Macht« und dem naturhaften lebensbejahenden Wesen des Menschen. Humanität wird als eine Art offener metaphorischer Rahmen verstanden, der 1248 Nietzsche, »Der Antichrist«, 253. 1249 Nietzsche, »Der Antichrist«, 253. 1250 So kann ein Gott, der sein Volk in das Exil führt, kein starker Gott sein. Spätestens zu dieser Zeit und der Abfassung des Jesaja-Buches und seiner theologischen Profilierung hätte sich vom einst die Israeliten aus Ägypten führenden Gott abgewendet werden müssen. Stattdessen hätte es nach Nietzsche eine Konversion zum neuen leuchtenden und starken Gott am Horizont, dem Gott der Sieger aus Babylon geben müssen.
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durch christliche Vorstellungen in falschen Bildern ausgedrückt wurde und nun durch Nietzsche wieder lebensfördernd gefüllt werden kann. Ist Nietzsches Impetus somit lediglich das Aufdecken eines falschen Verständnisses der Humanität? Ist dies die Menschenliebe, die Nietzsche den NochNicht-Übermenschen zuteilwerden lassen will? Im Vorwort zum »Antichristen« schreibt Nietzsche: »Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann mit Nothwenidgkeit versteht […] Man muss geübt sein, auf Bergen zu leben – das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich sehn. Man muss gleichgültig geworden sein, man muss nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängniss wird … Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand heute den Muth hat; der Muth zum Verbotenen; die Vorherbestimmung.«1251
Diesem Passus ist zwar ein gewisser pathetischer Duktus nicht abzusprechen, zeigt gleichzeitig jedoch, in welcher FaÅon Nietzsche seine Philosophie verstanden wissen will: Es ist der verbotene Reiz eines provozierenden Manifestes und in dieser Provokation die Möglichkeit eröffnend, eine Lebensphilosophie zu beschreiben, in welcher die bisherigen gesellschaftlichen Denkschemata von Gut, Schlecht und Glück in Bezug auf den Menschen und sein Tun durchbrochen werden können.1252 Nietzsche verfolgt somit wohl nur in einem ersten Schritt seiner Philosophie das Programm einer Erweckungspädagogik, die den bereits erkennenden und gleichgültig gewordenen Menschen nun in den Höhen der Selbsterkenntnis dem immoralischen Trieb zur Macht überlässt. Der Begriff der Humanität wird somit nach der Aufdeckung seiner ehemaligen lügenhaften Strukturen und Inhalten zu einer leeren Worthülse, die jeder Übermensch für sich selbst im Sinne seines »Willens-zur-Macht« zu füllen hat. Nietzsches Pathos sollte in dieser Fragestellung ganz ähnlich seiner Zarathustra-Figur gezeichnet werden. In »Also sprach Zarathustra« macht sich ein nach Taten drängender Prophet auf den Weg seine Lehre zu verkünden, ohne dabei die Anderen explizit und ausschließlich als Rezipienten seiner Lehre im Auge zu haben.1253 Zarathustra befindet sich nicht auf der Mission eine nachzueifernde Lehre zu verkündigen. Viel eher muss das von Zarathustra ange-
1251 Nietzsche, »Der Antichrist«, 167. 1252 »Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird. Nietzsche, »Der Antichrist«, 170. 1253 Vgl. Nietzsches Ausführungen zur Niederschrift seines Zarathustras. Es geht bei der Verschriftlichung und Veröffentlichung um innere Regungen und Affekte, die »ausgelebt« werden müssen; nicht um wissenschaftlich-systematische Abhandlungen.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
sammelte Wissen kundgetan werden, es drängt ungeachtet der Aufnahme der Gedanken auf praktischen Vollzug und eine breite Öffentlichkeit.1254
V.2
»Wie kommt der Mensch zur Selbsterkenntnis?« – Über Wahrheit und Lüge in Bezug auf das Sein des Menschen
Der Mensch lebt sowohl für Nietzsche als auch für Barth in einem Zustand der Verkehrung und der Lüge. An dieser Stelle soll es nun darum gehen, diesen status corruptionis in dessen Herkunft und Befreiung bei Nietzsche und Barth genauer in den Blick zu nehmen. Es gilt zu untersuchen, in welchen Verstrickungen sich der Mensch in der Hermeneutik seiner Humanität befindet und wie er sich aus dieser befreien kann, um im Sinne seines wahren Seins zu seiner eigentlichen Bestimmung zu gelangen. David Deane unternimmt in seiner Studie »Nietzsche and Theology« den Versuch, Nietzsche und Barth auf der Ebene einer in der Realität festzustellenden fundamentalen Differenz zwischen Schein und Wirklichkeit in Bezug auf das menschliche Sein und dessen Bestimmung zusammenzuführen. Zu diesem Zweck profiliert er bei Nietzsche ausgehend von dessen Wahrheitsbegriff eine »Semiotics as the Ground of Perspectivism«1255, der wiederum bei Nietzsche zwangsläufig als Zwischenstadium zu einer Art Nihilismus führen musste, den es dann wiederum im Sinne des befreiten und schaffenden Individuums, des Übermenschen, zu überwinden gilt. Als valides und Wahrheit versprechendes Fundament dieser neuerlichen Sinnsuche benennt Dean bei Nietzsche den »Willen-zur-Macht« als die »Ontology of Violence« gegenüber allem Bestehenden und scheinbar Wahrem.1256 »Nietzsche’s semiotics […] is grounded in his fundamental ontology, his doctrine of will-to-power«.1257
In struktureller Analogie beschreibt Dean »the same process functioning within the mechanics of Barth’s anthropology, as once again, a perspectival epistemology and semiotics will be seen to be rooted in a fundamental ontology«.1258 Auch für Barth komme es aufgrund der Erkenntnis der grundsätzlichen menschlichen Korrumpiertheit seiner Erkenntniskraft zu einem Nihilismus über Wahrheit und Sinn des Seins, der wiederum gerade nur in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus überwindbar scheint. 1254 1255 1256 1257 1258
Vgl. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 11f. Deane, Nietzsche and Theology, 7. Vgl. Deane, Nietzsche and Theology, 43. Deane, Nietzsche and Theology, 115. Deane, Nietzsche and Theology, 115.
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Beide begründen also in der grundsätzlichen »ontological situation« des Menschen und des sich hieraus ergebenden »perspectival semiotics« einen »relativism«, der selbst wiederum nur durch eine neuerliche und radikale Grundierung und Vergewisserung des Sein und Wahrheit überwunden werden könne.1259 Wie dargestellt, besteht auch in Barths Theologie eine profilierte Vorstellung in der Diskrepanz zwischen Wahrheit und Lüge in Bezug auf die Hermeneutik des menschlichen Seins, die erst im Lichte der christlichen Offenbarung, die in unmittelbaren Bezug auf Gott als dem Grund des Seins in Beziehung steht, recht beurteilt werden könne. Dean weist darauf hin, dass Barth diese Diskrepanz in der menschlichen Wahrnehmung über sich selbst und die Welt in dessen status corruptionis beschreibe, wie er in der KD IV als »Hochmut und Fall«, »Trägheit und Elend« und »Lüge und Verdammnis« beschrieben werde. Dieser grundsätzlich ambivalente Blick auf das eigene Sein werde durch die Rechtfertigung bzw. die Versöhnung in Jesus Christus jedoch aufgehoben und in eine neue Wahrnehmung im Lichte Gottes geführt. Im Folgenden soll die Motivik einer korrumpierten Sicht auf Sein und Wahrheit, die es zu überwinden gilt, bei Nietzsche und Barth nachgezeichnet werden.
V.2.1 »Ueber Wahrheit und Lüge« in Bezug auf die Epistemologie menschlicher Erkenntnis und menschlicher Semiotik bei Friedrich Nietzsche In seinem Aufsatz »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« (1873)1260 geht Nietzsche der »in einen theoretischen Diskurs eingebetteten Frage nach der objektiven Wahrheit« in Bezug auf die »Erkenntniskraft des [menschlichen] Intellekts« nach, die sich wiederum in der Frage nach der »Referentialität des (künstlerischen) Sprachbildes« spiegelt.1261 1259 Deane, Nietzsche and Theology, 115. 1260 Vgl. Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 873–890. Nietzsche selbst begründete die späte Veröffentlichung dieses Werkes, welches er bereits vor seinen »metaphysikkritischen, ›außermoralischen‹ Werken« verfasst hatte, mit der »›Unzeitgemäßheit‹ der Schrift: So wie ich über moralische Dinge denke, bin ich zu langem Stillschweigen verurtheilt gewesen.« (Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1884–1885«, 248f.) Scheibenberger geht sogar weit, in dieser Schrift ein inneres gedankliches Gedankenlaboratorium Nietzsches zu entdecken, in dem er die Grundkonstanten seiner späteren Philosophie bereits ideell angelegt hätte. Vgl. Sarah Scheibenberger, Kommentar zu Nietzsches Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, Band 1/3, Berlin/Boston 2016, 9. 1261 Vgl. Scheibenberger, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 15.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Der Mensch als ein in Gemeinschaft existierendes Wesen bräuchte, um sich in seiner Realität zurechtzufinden, festgelegte Sprachbilder, die es ihm erlauben, seine Wirklichkeit zu systematisieren und somit überhaupt erst beleb- und berechenbar zu machen. Grundaxiom dieses auf die Verhinderung des »bellum omnium contra omnes«1262 ausgerichteten gemeinschaftlichen Lebens ist nach Nietzsche die Etablierung eines zu befolgenden Wahrheitsethos. Aufgrund dieses Wahrheitsethos hätte sich der Mensch eine »Gesetzgebung der Sprache«1263 erfunden, die es von nun an erlaube, bei fachgerechter Anwendung, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Es sei eine Konvention im Gebrauch von Metaphern und Begriffen getroffen worden, von der ausgehend, der Mensch sein Leben in Bezug auf andere Menschen und die Natur beschreiben und deuten könne. Gleichzeitig sei es unabdingbar geworden, dass diese Konvention eingehalten werde, um den menschlichen Friedensschluss zu erhalten. Der Mensch sei also dazu gezwungen, existierende Sprachbilder sachgerecht zu verwenden, um das von der Gesellschaft höher veranschlagte Gut des Friedens gegenüber der individuellen Verwirklichung bzw. dem nietzscheanischen »Willen-zur-Macht« zu erhalten. Nietzsche prangert diesen Zwang zur Konvention an, da im Laufe der Zeit vergessen wurde, dass das, was der Mensch in seinen Vereinbarungen als Wahrheit bezeichnet, so gar nichts mit dem wirklichen Sein zu tun haben muss, sondern lediglich eine von ihm willkürlich gesetzte Prämisse der Wahrnehmung der Wirklichkeit darstelle.1264 Daher kommt Nietzsche zu der Frage, wie ein Wesen, das seine Umwelt mit seinem »Trieb zur Metaphernbildung«1265 nur indirekt durch zu interpretierende Reize wahrnimmt, davon ausgehen kann, in seiner Form der sprachlichen Beschreibung adäquat und absolut von der Wirklichkeit zu sprechen. Vom Menschen in den bisherigen Vereinbarungen Wahrhaftigkeit zu verlangen heißt für Nietzsche nichts anderes, als den Menschen dazu zu zwingen, in diesen Formen der verzweckten metaphorischen Beschreibungen der Dinge zu verharren, »nach festen Konventionen zu lügen«1266 und langsam aber sicher zu vergessen, dass alle menschlichen Bezeichnungen der Wirklichkeit Metaphern sind und nie den Anspruch erheben dürfen, die Wirklichkeit an sich zu beschreiben.1267 Der Mensch stellt sich für Nietzsche »als ein gewaltiges Baugenie [dar], dem 1262 Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 877. 1263 Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 877. 1264 »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen […].« Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 880. 1265 Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 887. 1266 Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 878. 1267 Vgl. Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 879f.
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auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Auftürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes gelingt«1268. Aufgrund des Rekurses auf einen Gott, konnte sich die menschliche Gesellschaft in Europa eine christlich vorgeprägte Wirklichkeit zurechtlegen, die es ihr erlaubte, das tägliche Leben und dessen Ereignisse mit einem göttlichen Wesen in Verbindung zu bringen und ihren Grunderfahrungen damit Sinn und Ziel zu geben. Die großen Ideale und Tugenden im menschlichen Leben von Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Humanität erhielten seit dem Siegeszug des Christentums in der europäischen Geistesgeschichte ihre Geltung durch den Rekurs auf den christlichen Gott. Nietzsche als ein Philosoph der Extreme stellt sich der Frage, was geschähe, wenn sich der Mensch wieder dieser »primitiven Metaphernwelt«1269 und der ihr zuallererst zugrundeliegenden »Urerlebnisse« als individuelle und einmalige Ereignisse bewusstwürde und sich damit wieder »als künstlerisch schaffendes Subjekt«1270 wahrnähme. Da sich für Nietzsche die christliche Wirklichkeit und ihre nach vernünftig-moralischen Konventionen sich ordnende Metaphernbildung als eine lügenhafte Verquickung erweist, die seiner Ansicht nach den Verrat am menschlichen Sein in sich trägt, muss er den Begriff der Humanität seiner metaphysischen Begründung entkleiden, um ihm von dort neue Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen. Nietzsche stellt so gesehen in Bezug auf das menschliche Sein und dessen gegenwärtiges Verständnis eine Differenz zwischen Begriff und Sache auf, die nur damit überwunden werden kann, indem die lediglich konstruierte Übereinstimmung von Begriff und Urerlebnis verabschiedet werde und die wahre Ontologie des Seins, die jenseits moralisch normierender und vernünftiger Kategorien zu finden sei, zum Ausgangspunkt aller menschlichen Epistemologie und einer darauf aufbauenden Semiotik genommen werde. Dieser Ausgangspunkt ist der freie, unfiltrierte und unbelehrbare1271 Bezug auf die Urerlebnisse des Lebens zwischen Leiden und Glück, jenseits sprachlicher und moralischer Fixierungen.1272 1268 1269 1270 1271 1272
Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 882. Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 883. Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 889. Vgl. Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 889f. Unterstrichen wird dieses Ergebnis durch Einsichten, die im Blick auf Nietzsches »Ecce homo« gewonnen werden können. In diesem Werk spielt der Gedanke einer Umkehr bzw. Umkehrung eine zentrale Rolle, wie er in der Metapher des Arztes, der Genesung verspricht, deutlich wird. Es geht also um die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands, einer ursprünglichen Bedeutung von Sinn des für den Menschen lebensdienlichen Bezuges auf die Welt und auf sich selbst. Dieser wird in den Ausführungen Nietzsches in den Bewegungen zwischen einer »Umkehr (Nietzsche, »Ecce homo«, 326) und Rückkehr (aaO. 326) und Genesung (aaO. 326)« ausgedrückt. Gespeist werden diese Vollzüge durch »Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft (aaO. 339)« und in diesem Sinne
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In gewisser Weise deckt sich die festgestellte Sicht Nietzsches auf das Christentum, in dessen auf den Menschen Einfluss nehmenden Struktur, mit Augustin Sündenlehre. Im Aufweis dieser Strukturanalogien lassen sich die Gedanken Nietzsches zum status corruptionis des vorfindlichen Menschen nochmals auf einer anderen Ebene explizieren. Der Mensch wird von Augustin in seiner Schrift »de libero arbitrio« mit einem geschöpflich gegebenen freien Willen gedacht, der innerhalb einer vollkommenen Ordnung agiert.1273 »Die Sünde besteht in einer Störung dieser Ordnung: Der Mensch erkennt die Ordnung nicht an, er wendet sich von den göttlichen und bleibenden Realitäten ab und den geschaffenen und wandelbaren zu.«1274
Diese Abkehr geschehe dabei freiwillig und bringe die Abwendung von der Wahrheit mit sich, in deren Licht er bisher den Zustand der Sorglosigkeit genossen hatte. »Das augustinische Sündenverständnis wird hier im Kontext einer christlichen Philosophie entwickelt, welche die Selbstbestimmung des Menschen zur beatitudo lehrt.«1275
Dabei unterliege die Hinwendung des Menschen zur Sünde keinem äußerlichen Zwang, sondern seinem eigenen Willen, was den Menschen in Konsequenz selbst verantwortlich macht, sich der Sünde zu- oder abzuwenden. Weiter hält Augustin fest, dass die Hinwendung zur Sünde entweder durch den eigenen spontanen Einfall des Menschen geschehen könne oder aber durch eine persuasuio alterius, die so die ganze Menschheit betreffen könne. Ist der Mensch erst einmal unter dem Wirkbereich der Sünde, dann verändert sich auch seine Natur, die ihn fortan unter dem wirkmächtigen Eindruck der concupiscentia daran hindert, »sich frei das Richtige zu wählen«1276. Diese concupiscentia wurde dabei von Adam als sogenannter »Erbschaden« ausgelöst und durch das peccatum originale, welches Augustin als superbia definiert, auf alle Menschen übertragen. Im Blick auf die sich logisch aufeinander aufbauenden Strukturen des status corruptionis, entsprechen sich Nietzsches Vorstellung bezüglich des verderbli-
1273 1274 1275 1276
von Nietzsche als »Inspiration (aaO. 339 u. 340) sowie Offenbarung (aaO. 339)« beschrieben werden kann. Vgl. Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 105. Schank selbst verfolgt diese Ereignisse minutiös im »Ecce homo« nach und kann eine detaillierte Skizze der aufeinanderfolgenden Zustände von Umkehr und Inspiration vorlegen. Vgl. Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 106–108. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Untersuchung Winrich Löhrs, Sündenlehre bei Augustin, in Augustin-Handbuch, Tübingen 2007, 498–506. Löhr, Sündenlehre, 498. Löhr, Sündenlehre, 498. Löhr, Sündenlehre, 499.
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chen Charakters der christlichen Lehre für Erkenntnis des wahren Seins der Dinge mit der Sündenlehre in Augustins Auslegung. Der freie Wille des Menschen wurde laut Nietzsche durch falsche Lehren von der Wahrheit entfremdet und lasse den Menschen unter der concupiscentia mit falschen Werten und Moralvorstellungen zurück. Auch die Eigenverantwortlichkeit des Menschen für seinen jetzigen Zustand betont Nietzsche, an die er wiederum mit seiner Philosophie zu appellieren versucht. Die Menschheit stehe unter einem gefährlichen Bann, der sie das verkehrte Denken und Tun lässt und es braucht das eine Ereignis, das die Menschheit aus diesem Zustand der Verstrickung befreien könne. Nietzsche fordert so gesehen mit seinem »Angriff auf das Christentum« zur Eigenverantwortlichkeit des Menschen auf, seinem freien Willen wieder gerecht zu werden und der »Wahrheit« zuzustreben, die gerade im Sinne seiner Lebensphilosophie eine uneingeschränkte, weil von hinderlichen und unwahren Moralvorstellungen befreite Lebensbejahung bedeute.
V.2.2 Die Worttheologie Barths als Ausgangspunkt der menschlichen Erkenntnis Auch Barth wandte sich dem in der Philosophie Nietzsches aufgeworfenen Problem der Übereinstimmung von menschlichen Begriffen und des Dings an sich in unterschiedlichen Perioden seines theologischen Arbeitens zu. Gerade als »Worttheologe« ist er in besonderer Weise an der Beschreibung des Wortes Gottes, als dem erkenntnistheoretischen Grund menschlichen Erkennens und Handelns interessiert. In diesem Vorhaben soll sich im Folgenden Barths Worttheologie und deren Implikationen genähert werden. Wohl weit bekannt ist Barths anspielungsreiche Wendung aus den frühen 20igern von der »unmöglichen Möglichkeit«1277, als Menschen von Gott zusprechen. Von Gott könne nur er selber sprechen und der Mensch könne in gewissem Maße diese Selbstoffenbarung nachsprechen. In seiner KD klingt das menschliche Sprachproblem in Bezug auf das Wort Gottes in den Prolegomena KD I/1 an, wie es zu Beginn des IV. Kapitels in der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes angedeutet wurde. Ringleben1278 hält am Ende seiner kritischen Durchsicht der »Lehre vom Worte Gottes« (KD I/1) drei grundlegende Punkte fest, die für die 1277 »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beide, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsere Bedrängnis.« Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze (Gesamtausgabe, Abt. III), Zürich 1990, 144–175, 151. 1278 Vgl. Joachim Ringleben, Sprachloses Wort? Zur Kritik an Barths und Tillichs Worttheologie – von der Sprache her, Göttingen 2015.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Beschreibung des Sprachproblems bei Barth zentral zu sein scheinen. Zum einen bestimme Barth das »›Wort Gottes‹ als Gottes sog. ›Selbstwort‹ und damit prinzipiell ohne Zusammenhang mit dem menschlichen Wort, d. h. mit der Sprache«1279. Der daraus folgenden apriorischen Setzung des Wortes Gottes verhilft Barth vielsagend zu keiner sprachtheoretischen oder sprachphilosophischen Untermauerung und drittens »depotenziert [Barth] aus theologischen Gründen faktisch die Sprache überhaupt zu einem transitorischen Mittel für die außersprachliche, flüchtige Gegenwart Gottes.«1280 Dies sei im Folgenden ausgeführt. Barth insistiert in KD II/1 § 26. darauf, dass Gott nur aus sich selbst heraus in seiner Offenbarung erkannt werden könne. Die Erkenntnis Gottes vollziehe sich als Ereignis für den Menschen, da er aufgrund seiner eigenen Geschöpflichkeit, und der damit einhergehenden Sündhaftigkeit, keine Möglichkeit von sich aus besitze, sich dem Sein Gottes anzunähern.1281 Grundtenor der barthschen Theologie ist die Überzeugung, wonach erst in der Offenbarung Gottes durch sein Wort Wahrheit in Bezug auf die Schöpfung und ihre Bestimmung gefunden werden könne. Eine konkrete systematisch-dogmatische Ausformulierung findet diese Worttheologie in der christologisch begründeten Anthropologie. Barth attestiert hier, wie dargestellt, den epistemologischen Bruch in der Erkenntnis und in der Beschreibung zwischen dem wahren/wirklichen und dem konkretsündhaften Menschen. Biblisch gesprochen, greift er die paulinische Rede von altem und neuem Adam auf und beschreibt den Graben zwischen beiden als einen solchen, der nur durch die Referenz auf Gott als dem epistemologischem Urgrund überwunden werden könne, da Gott selbst das wahre Sein der Dinge in sich selbst begründet und damit auch in der Beziehung zu ihm offenbart. Erst in Bezug auf Gott, als dem bestimmenden Seinsgrund aller Dinge und der in der Offenbarung seines versöhnenden Werkes in Jesus Christus, das zum existentiellen Ereignis im menschlichen Leben werde, komme es zur Einheit zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, von Begriff und Sache. Dies gilt gerade und besonders für den Bereich der Humanität des Menschen als dessen Sein und Bestimmung. »Dieser andere, neue Mensch in ihm selber ist der für Gott bereite Mensch, nach dem wir uns vergeblich umsahen, solange wir auf den Menschen als solchen, auch auf den christlichen Menschen, gesehen haben. Wir sehen uns aber nicht mehr vergeblich nach ihm um und dann auch nicht mehr vergeblich nach der Erkennbarkeit Gottes für den Menschen, wenn wir uns klar machen, daß nicht der Mensch als solcher und auch nicht 1279 Ringleben, Sprachloses Wort, 152. 1280 Ringleben, Sprachloses Wort, 152. 1281 Gegen die katholische analogia entis führt Barth die analogia fidei ein, die den Menschen in seiner Beziehung und Erkenntnis Gottes beschreibt. Vgl. Barth, KD II/1, 86–92.
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der christliche Mensch, sondern Jesus Christus, der ins Fleisch gekommene Sohn des Vaters, offenbart in seinem Kreuz und in seiner Auferstehung, die Wahrheit und das Leben des Menschen ist: der wirkliche Mensch, an den wir uns zu halten haben, wenn wir nicht sinnlos und ergebnislos, sondern endlich gehaltvoll vom Menschen und von seiner Beziehung zu Gott, von seiner Bereitschaft für ihn reden wollen.«1282
Die christliche Offenbarung wird von Barth als allein wahrhaftiger Zugang zur Wirklichkeit und Wahrheit profiliert, da die menschliche Erkenntnisleistung durch den gefallenen Menschen grundsätzlich, und damit auch seine Semiotik der Begriffe und Dinge, fehlbar oder gar irregeleitet sei.1283 »Man kann den Menschen, der ein Feind der Gnade [an anderer Stelle: der Wahrheit] ist, nicht in einen Freund der Gnade uminterpretieren«.1284
Die Korrumpiertheit des Menschen sei dabei ganz und vollumfänglich zu denken und zu beschreiben: »Der Mensch findet sich selbst nie und nimmer in sich selbst.«1285
In KD/II § 27. bemüht sich Barth darum, die Grenzen in der Erkenntnis Gottes zu beschreiben und definiert diese Grenze als terminus a quo et ad quem: »Menschliches Erkennen vollzieht sich nun aber in Anschauungen und Begriffen. Anschauungen sind die Bilder, in denen wir Gegenstände als solche wahrnehmen. Begriffe sind Gegenbilder, mit denen wir uns jene Wahrnehmungsbilder zu eigen machen, indem wir sie denken, d. h. indem wir sie ordnen.«1286
Daraus ergibt sich für Barth die Grundfrage, ob von Gott grundsätzlich »in menschlichen Worten« gesprochen werden kann. Diese Anfrage kann nur dann positiv beantwortet werden, wenn »sie [sc. die Menschen] Gott offenbar zuvor anschauen und begreifen, d. h. wahrnehmen und denken«1287 können. Gleichzeitig könne dieses Erkennen Gottes nicht aufgrund der den menschlichen Begriffen innewohnenden Kraft oder Vermögen, bzw. normativen Übereinstimmung von Gegenstand und Anschauung vonstattengehen, sondern doch wohl nur so, dass in der göttlichen Offenbarung von sich selbst der Weg der Erkenntnis und Beschreibung Gottes ihren Anfang nehme: »Gott wird nur durch Gott erkannt« und so beginne alle Erkenntnis Gottes »mit der Erkenntnis der Verborgenheit Gottes«.1288 1282 Barth, KD II/1,171. 1283 Einen davon abweichenden Zugang zum Menschen und zu Gott tituliert Barth an verschiedenen Stellen mit dem Begriff der »natürlichen Theologie«. 1284 Barth, KD II/1, 162. 1285 Barth, KD II/1, 167. 1286 Barth, KD II/1, 203. 1287 Barth, KD II/1, 203. 1288 Barth, KD II/1, 205.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Erst in der Anerkenntnis, dass es in Bezug auf Gott keine vom Menschen ausgehende Erkenntnis geben könne, auch keine irgendwie »metaphysisch« »Sprachbildung« über die »Unfaßbarkeit des Unendlichen, des Absoluten, des in sich aus sich selbst Existierenden« göttlichen Wesens, werde Gott in der Klarheit seines Seins erkannt.1289 In Bezug auf Gott und seiner Beschreibung geht Barth von einer absoluten Inadäquatheit menschlicher Gedanken und Sprache aus, da der Mensch nur das begreifen und beschreiben könne, dem er selbst teilhaftig ist. So gesehen verhilft die göttliche Offenbarung zu einem neuen Wirklichkeitsverständnis, das die Wahrheit hinter den scheinbaren weltlichen Wirklichkeiten eröffnet und in adäquater Weise von der Wahrheit des Lebens, des Menschen und Gottes sprechen lässt. Nicht jedoch als ein dem Menschen zur Verfügung gestelltes Wissen, sondern immer nur im Ereignis des Glaubens, als geschenkte unverfügbare göttliche Gnade. »Die Wahrhaftigkeit der Offenbarung Gottes bewährt sich darin, daß sie das Denken und die Rede des Menschen wahrhaftig in Anspruch nimmt.«1290 Und weiter : »Was wir tun in unserem in Anschauungen, Begriffen und Worten zu vollziehenden Erkennen seiner Schöpfung, das hat seine uns verborgene Wahrheit in ihm als ihrem und unserem Schöpfer.«1291 »Unser Erkennen hat seine Wahrhaftigkeit von seinem Ziele, seine Bestimmung und Grenze aber von seinem Anfang her.«1292
Anteil bekomme der Mensch an dieser Wahrheit und Offenbarung allein durch Jesus Christus und im Modus des Glaubens an ihn. Diese Überzeugung führt damit zu einer exklusiven christologischen Absicherung der menschlichen Erkenntnis Gottes.1293
V.2.2.1 Des Menschen Sünde – Barths Hamartiologie als Weg zur Selbsterkenntnis Wie angedeutet, besteht auch in Barths Theologie eine profilierte Vorstellung von der Diskrepanz zwischen Wahrheit und Lüge in Bezug auf die Hermeneutik des menschlichen Seins, die erst im Lichte der christlichen Offenbarung recht beurteilt werden könne. Dean weist darauf hin, dass Barth diese Diskrepanz in 1289 1290 1291 1292 1293
Barth, KD II/1, 210. Barth, KD II/1, 237. Barth, KD II/1, 258. Barth, KD II/1, 242. Vgl. hierzu auch Barths Beschäftigung mit Anselm und seines theologischen Versuchs eines, dem Glauben nachgeordneten Verständnis dessen, was da im Glauben geschaut und erfahren wurde.
Über Wahrheit und Lüge in Bezug auf das Sein des Menschen
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der menschlichen Wahrnehmung über sich selbst und die Welt in dessen status corruptionis beschreibe, wie sie in der KD IV als »Hochmut und Fall«, »Trägheit und Elend« und »Lüge und Verdammnis« beschrieben werde. Dieser Blick auf das eigene Sein werde durch die Rechtfertigung bzw. die Versöhnung in Jesus Christus jedoch aufgehoben und in eine neue Wahrnehmung und damit Semiotik geführt. Ähnlich der eschatologischen Vorstellung in RÖ II, die von einer präsentischen Eschatologie im je eigenen Jetzt ausgeht und als das Einbrechen der Ewigkeit in die Gegenwart verstanden und nicht in einer zeitlichen Abfolge einer unbestimmten zeitlich-futurischen Kategorie gedacht wird, versteht Barth auch den Fall des Menschen weder in einer abstrakten Vorstellung der Sünde gegenüber eines »abstrahierten Gesetzes«1294, noch in einer zeitlich datierbaren Historizität des Sündenfalls eines konkreten Menschen in grauer Vorzeit, der nun von Generation zu Generation weitervererbt werde. Er denkt ihn vielmehr als die erfahrbare Wirklichkeit im je konkret-gegenwärtig glaubenden und damit zu rechtfertigenden Menschen. »Denn nicht die Sünde wird [von Barth] systematisiert, sondern die Darstellung ihrer Wirklichkeit wird unter verschiedene Aspekte geordnet«.1295
Die Sünde ist ein Grundmuster der verblendeten menschlichen Selbsterkenntnis, die jedem Menschen innewohne und in jedem Menschen zu einer individuellen Ausformung finde. Entsprechend ist für Barth die Sünde auch nur im Lichte des Evangeliums, als die bereits vergebene Sünde in den Blick zu nehmen, da die Selbsterkenntnis des Menschen von Barth als vollumfänglich korrumpiert gedacht wird. Den Sündenbegriff und seine Vorstellung des Bösen benennt Barth mit dem Begriff des »Nichtigen«, das er als eine Macht jenseits der guten Schöpfung Gottes als »die unmögliche Möglichkeit«1296 oder »ontologische Unmöglichkeit«1297 versteht, die gerade von ihrem Nicht-Ort aus stark und mächtig auf das Sein und Streben des Menschen ziele. »Das Nichtige beweist seine »nichtende«, zerstörende Macht demnach darin, dass es sich der geschöpflichen Wirklichkeit bedient und bemächtigt, um sie zu zerstören. Es macht sie sinn- und grundlos zunichte.«1298
1294 Vgl. Wolf Krötke, Art. Sünde und Nichtiges, in Barth-Handbuch, Tübingen 2016, 342–347, 342. 1295 Wolf Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, in Theologische Arbeiten Band 30, Berlin 1970, 56. 1296 Bspw. Barth, KD III/3, 405. 1297 Bspw. Barth, KD III/3, 408. 1298 Krötke, Art. Sünde und Nichtiges, 343.
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In seiner »Ontik des Nichtigen«, wie Barth die Sünde in der KD III/3 beschreibt, ist das Nichtige »substanzlos und leer«1299 und gewinnt seine Kontur und Macht erst im gegenüber zu einer geschöpflichen Wirklichkeit, derer es sich bedienen kann. In der Hamartiologie wird nach Barth »das Problem der in die Welt gekommenen Sünde, bzw. des Menschen als des verantwortlichen Täters, aber auch als des armen Opfers der Sünde, als des durch sie verblendeten und der Wahrheit verschlossenen Menschen«1300 beschrieben. Die Existenz der Sünde stelle sich als eine Problemstellung dar, der sich der Mensch gleichzeitig passiv ausgesetzt und aktiv an ihrer Verbreitung mitwirkend gegenübersehe. Die Sünde zeige sich als eine Macht, die ihre Stärke dadurch gewinne, dass sie den Menschen in seinem Sein und Tun verblende. Sie verschließe ihn vor der Wahrheit seines eigentlichen Seins und führe ihn so in Unfreiheit, Zwang und Angst. Sünde wird damit zu einem Zustand, in dem sich der Mensch nie selbst erkennen könne, geschweige denn aus dem er sich allein befreien könnte. Alles, was der Mensch aus sich heraus erkennt, falle in den Bereich des Vorläufigen und womöglich Verkehrten, da ihn die Sünde in seinem ganzen Denken und Handeln ergriffen habe. Die Verblendung reiche so tief, dass zur Erkenntnis der Wahrheit ein souveräner und freier Akteur von außen hinzutreten muss: Gott. Er stelle sich diesem Problem nicht neutral gegenüber, sondern trete der Sünde aufgrund seiner versprochenen Treue1301 aktiv entgegen, bekämpfe sie und besiege sie durch den Weg des Sohnes Gottes in die Fremde (KD IV/1). Bezeichnenderweise spricht Barth der Sünde, entsprechend seiner Rede vom Nichtigen, jedoch keinen eigenständigen ontologischen Status zu, sondern betrachtet sie als das Nein und das Nichtige, welches nur im Gegensatz zu Gottes Ja und Sein denkbar und existent wird. Die Sünde besitzt keine eigenständige schöpferische Macht, sondern »kann gerade nur verneinen, leugnen, destruieren, abbauen, auflösen«1302. Mit Röm 5, 12 gesprochen ist die Sünde ein Fremdling1303 und hat daher kein eigenständiges Recht zu existieren, sondern »west und existiert« nur aufgrund eines »eines gestohlene[n] Rechts des Un-
1299 1300 1301 1302 1303
Barth, KD III/3, 417. Barth, KD IV/1, 152. Vgl. hierzu Barth, KD IV/1, § 57. Barth, KD IV/1, 153. Barth geht eigens im christologischen §59. auf das Bild des in die Fremde gehenden Gottes ein und kann hier eindrücklich beschreiben, was es heißt, wenn sich Gott in die Fremde begibt ohne sich dabei selbst fremd zu werden, sondern auch in der Fremde der zu bleiben und zu werden, der er schon immer war und ist. So kann Barth auch die Begriffe des Sohnes Gottes und seines Gehorsams gegenüber dem Vater, welche automatisch den Unterton einer Rangfolge in sich tragen, einleuchtend in der Bewegung in die Fremde für die Rede vom trinitarischen Gott in der Versöhnung fruchtbar machen.
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rechts«1304. Hierbei wird aber auch schon deutlich, dass die Erkenntnis der Sünde nichts mit der Vorstellung einer wahrhaftigen lex naturae zu tun haben kann: »Sünde ist nicht irgendein Böses, sondern Sünde ist Bundesbruch, der als solcher Gott widerspricht und selber unter Gottes Widerspruch steht. […] Der Mensch verneint, er verachtet, er hasst die Gnade, er übertritt ihr Gebot: das Gesetz des Bundes. In diesem Geschehen wird die Sünde Ereignis, hat sie ihren Ort und ihre Wirklichkeit: als Abwendung des Menschen von Gott und damit dann allerdings auch als Perversion seiner eigenen Natur, als Missbrauch, Störung und Zerstörung der Möglichkeiten, als radikale Problematisierung der Bestimmung seines geschöpflichen Seins.«1305
Es wird damit deutlich, warum für Barth von Sünde angemessen nur in einem theologischen Diskurs gesprochen werden kann und der Begriff der Sünde damit in seiner ganzen Tiefe einem allgemeinen noetischen wie epistemologischen menschlichen Zugriff enthoben ist. Auf diese Weise gelingt es Barth dem Sündenbegriff, und damit auch der Versöhnung in besonderem Maße, eine neue Qualität zuzusprechen, die die Wirklichkeit und Erkenntnis dieser Vorgänge außerhalb des Menschen und seiner Denkleistungen platziert und fundiert. »Daß der Mensch böse ist, d. h. daß er sich im Widerspruch zu Gott und zu seinem Nächsten und darum und von daher auch zu sich selbst befindet, das kann er nicht aus sich selbst wissen, das kann er also aus keinem Selbstgespräch, das kann er aber auch aus keinem Gespräch mit anderen Mitmenschen erfahren.«1306
Im Versuch, auf menschlichen Wege sich der Sündenerkenntnis zu nähern, gilt für Barth, dass in diesem Gedankengang Gott zum »Spiegelbild unserer eigenen Existenz« wird und sich menschlich »sublimiert, dramatisiert, mythologisiert« zeigt.1307 Der Mensch konstruiere sich in diesem Sinne ein erdachtes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt: »Wird der Mensch sich selbst dann nicht erfinden als ein zwar nicht vollkommenes, aber doch unvollkommenes Wesen, nicht ohne Erkenntnis seines Abstandes von Gott, aber ohne die Erkenntnis eines unendlichen Abstandes, ohne die Erkenntnis eines Bruches, vielmehr in ruhiger Erkenntnis der nach wie vor unzerbrochenen Kontinuität des Verhältnisses zwischen sich und ihm«.1308
Barth veranschaulicht diese Verzerrung des menschlichen Seins aus der Blickrichtung des versöhnenden göttlichen Handelns in den drei Sündenparagraphen der KD IV und beschreibt das konkret Sündhafte jeweils in einem Dreischritt: Auf die (1) Erkenntnis der Sündhaftigkeit anhand der göttlichen Offenbarung 1304 1305 1306 1307 1308
Barth, KD IV/1, 153. Barth, KD IV/1, 154. Barth, KD IV/1, 397. Barth, KD IV/1, 403. Barth, KD IV/1, 429.
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folgt ein Aufweis der (2) Auswirkungen im menschlichen Leben, der in Ausführungen darüber, wie der der Sünder (3) vor Gott steht und den damit einhergehenden Auswirkungen auf die Gottesbeziehung mündet. In § 60. wird Barth das beschreiben, was er als des Menschen Überheblichkeit gegenüber der Versöhnungstat Gottes versteht. Der Mensch erkenne nicht an, was Gott für ihn tut, negiere dies sogar aktiv und verstehe Gott nicht als denjenigen, der sich in seiner Souveränität zu den Menschen begibt und mit ihnen Gemeinschaft pflegen will. »Die Sünde ist diese Trotztat des Menschen«1309, wenn er sich selbst zu rechtfertigen sucht. Dieser Hochmut fußt auf einer falsch verstandenen Freiheit, in der sich der Mensch unabhängig von seinem Schöpfer zu meinen glaubt. Der erste Mensch dieses Missverständnisses war Adam, dessen Schicksal und Verblendung als Grundmuster in jedem Menschen angelegt ist.1310 Mit dem § 65., und der Annäherung an die Trägheit des Menschen, buchstabiert Barth den eigensinnigen Lebensweg des Menschen aus, wobei der Mensch nicht den Weg geht, den Gott ihm »nicht nur gewiesen, sondern gebahnt«1311 hat, sondern seine eigenen Weg sucht, einem eigenen selbstgerechten Trott verfällt und sich nicht mehr daraus entheben lassen will. So gesehen bleibe der Mensch in seiner Trägheit »hinter den großen Möglichkeiten seines Menschseins« zurück, weil er sich der Beziehung zu Gott und damit zu seinem Mitmenschen zu entheben versuche.1312 § 70. beschreibt die Lüge des Menschen dahingehend, sich vor dem zu verschließen, was Gott für ihn getan hat. »Es geht um den Gehorsam gegen die uns gesagte Wahrheit«1313 und wer sich ihr verschließt, belügt sich selbst und handelt so selbstzerstörerisch gegen sich selbst und die Welt. Gott mache sich selbst zum Bürgen und Inhalt der Wahrheit, was damit bedeutet, dass sich der Mensch selbst belügt, sobald er sich von diesem Axiom entferne. Die Lüge ist nach Barth die eigentliche christliche Gestalt der Sünde, da sie »bewußt, planmäßig, absichtlich«1314 gegen die göttliche Wahrheit arbeitet und intrigiert.1315 Das Zusammenspiel von Fall und Versöhnung, von Gnade und Sünde wird bei Barth nicht mehr in einem »sich ausschließenden Verhältnis« gesehen, sondern es werden von ihm Möglichkeiten der »Kontinuität und Synthese« gesucht, wie sie sich aus dem stets sich neu ausformulierenden Trugschluss des menschlichen Selbstgespräch ergeben.1316 Daher ist die Versöhnung des Menschen im Zu1309 1310 1311 1312 1313 1314 1315 1316
Barth, KD IV/1, 157. Vgl. Krötke, Art. Sünde und Nichtiges, 345. Barth, KD IV/1, 157. Krötke, Art. Sünde und Nichtiges, 345. Barth, KD IV/1, 158. Barth, KD IV/3, 519. Vgl. Krötke, Art. Sünde und Nichtiges, 346. Barth, KD IV/1, 413.
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sammenhang der creatio continua zu deuten, wie Deane hervorhebt, »creation, fallenness and reconciliation are all ongoing processes«.1317 Die Schöpfung als je konkreter Akt der Gnade und der Fall des Menschen als die unmögliche Möglichkeit in den je individuellen Momenten des Lebens werden so für Dean zu »cotemporal-realities«, die sich in der Wirklichkeit des Seins stetig zeigen und sich gerade nicht als zeitliches Nacheinander verstehen lassen können, wenn sie in ihrer ganzen Tragweite für den Menschen und sein Leben gefasst werden wollen. Durch die göttliche Offenbarung in Jesus Christus bilde sich für den Menschen in dieser Begegnung beides ab, »the beauty and grace-filled plenitude of the naturla order but, more radically […] the brute reality of the natural order which also and at once groans für salvation«1318. So gesehen, befinde sich der Mensch in einer sich widerstreitenden Wirklichkeit von gefallener und erlöster Schöpfung. Wiederum konkret werde diese Überwindung von Einheit und Fremdheit innertrinitarisch im Gang des Sohnes in die Welt und damit in die Fremde ausbuchstabiert. Im Blick auf das Leben und Sterben Jesu Christi1319, und der dort angelegten Erwählung und Verdammnis1320 des menschlichen Seins, werde der Mensch in seiner von Sünde behafteten Geschöpflichkeit zum Sein in der Beziehung zu Gott befreit. In Jesus Christus, und dem durch ihn gerechtfertigten Menschen, könne der wirkliche Mensch nun real werden. Denn in der Humanität Jesu stimmen das »Reale« und das zu »Bezeichnende« aufgrund der Kongruenz von Bestimmung und Sein überein, die sich aus der ungetrübten Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf speist.1321
1317 Deane, Nietzsche and Theology, 143. 1318 Deane, Nietzsche and Theology, 145. 1319 Vgl. Dean, Nietzsche and Theology, 117 und Barth, KD IV/1 § 59. 1 Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde. 1320 Hier ist im speziellen auf die von Barth im Gegenüber zur reformierten Tradition anders akzentuierte Prädestinationslehre hinzuweisen. Wo die klassische Dogmatik ganze Menschengruppen zu den Erwählten oder auch zu den Verdammten zu zählen versucht, denkt Barth die doppelte Prädestination im individuellen Menschen vollzogen. So gibt es in jedem Menschen Bereiche, Handlungen und Gedanken, die dem Nein Gottes ausgesetzt sind, um gerade darin das Ja zum Menschen, das ebenfalls in jedem einzelnen Menschen angelegt ist, zu stärken und zu profilieren. In Jesus Christus und seinem Tod am Kreuz wurde im Nein Gottes all jenes vernichtet, was im Menschen gegen Gott, den anderen und damit gegen sich selbst ankämpft. Tod und Auferstehung Christi bilden sich so gesehen in jedem einzelnen Menschen als die Versöhnungstat Gottes stets aufs Neue ab. 1321 Dean beschreibt diese für die Theologie Barths entscheidende menschliche epistemologische Diskrepanz und einer sich daraus ergebenden semiotischen fehlerhaften Rede zwischen »the real an its referent« durch zwei Elemente. Zum einen mit dem unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Zeitlichem und Ewigem und zum zweiten mit der durch die Sünde korrumpierten menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis. Vgl. Dean, Nietzsche and Theology, 146.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
»Der Spiegel1322 des Gehorsams des Sohnes Gottes ist der Zwang – nein, sagen wir lieber : die Befreiung zu dieser Selbsterkenntnis.«1323
Alle anderen Versuche, sich einer möglichen Beschreibung der Humanität des Menschen zu nähern, wie derjenige Nietzsches als der Gipfel des menschlichsündhaften Hochmuts, scheitern für Barth aufgrund ihres epistemologischen Ausgangspunktes. Schlicht darin, im sündhaften Sein des Menschen ihren archimedischen Punkt finden zu wollen. Denn aus dieser Blickrichtung ist nur eine korrumpierte Wahrnehmung und Erkenntnis möglich. Daher ist auf diesem Wege der Graben zwischen Wahrheit und Lüge niemals zu überwinden und die Kongruenz von Sein und dessen eigentlicher Bestimmung nicht herbeizuführen.
V.3
»Welche Bestimmung hat der Mensch?«
In enger Verbindung zur Frage nach dem Sein des Menschen, das es wie im Vorherigen dargestellt ausgehend vom gegenwärtigen status corruptionis erst zu entdecken gilt, folgt die Frage danach, wer der Mensch aufgrund dieser Erkenntnis ist, wohin er dieses Sein entsprechend seiner Bestimmung führen will. Denn hat er erst einmal sein wahres Sein erkannt, kann er sich zu diesem Sein in Beziehung setzen und versuchen, es in der Bestimmung seines Lebens umzusetzen und so das Sein, die Bestimmung und das Ziel seiner Humanität in Kongruenz zueinander zu bringen.
V.3.1 Nietzsches zarathustrischer Übermensch Die Figur des Zarathustra ist in Nietzsches Schaffen schwer in einer abschließenden systematisierenden Kontur zu zeichnen. Dennoch wird klar, dass in dieser Figur viele Gedankenstränge Nietzsches zum Sein des Menschen, seiner Moral, Freiheit und Wahrhaftigkeit zusammenlaufen. Schon die Zeugnisse Nietzsches während der Niederschrift und Veröffentlichung der Zarathustra1322 Das Bild des Spiegels zeigt sich als vielschichtige Metapher, welche es Barth ermöglicht, die Erkenntnis des Menschen über sich selbst in einer sehr anschaulichen Form zu beschrieben. Christus wird so als das Medium verstanden, welches dem Menschen dazu verhilft, sich selbst in Gänze zu betrachten zu können und dabei Mängel und Teilansichten zu erkennen, die dem eigenen Blick auf sich selbst stets verschlossen bleiben. Jesus Christus wird so zur Möglichkeit des objektiven Blickes, welcher dem Menschen weder von sich aus, noch im Gespräch mit anderen möglich ist und ihm dabei auch nichts vor Augen führt, was er eigentlich nicht ist, sondern zeigt ihm sich selbst so, wie er ist und wie er sein sollte. 1323 Barth, KD IV/1, 458.
»Welche Bestimmung hat der Mensch?«
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Bände zeigen die Gedanken eines, in der Zarathustra-Figur zur Welt gekommenen und geborenen Schicksals. Nietzsche beschreibt die Arbeiten am Werk als aus einer Offenbarung inspiriert und spricht von einem Grundgedanken, der sich ihm in einer ewigen Wiederkunft geoffenbart hätte. Die Namensgebung Zarathustras wählt Nietzsche mit Bedacht, da er im historischen Zarathustra den Ausgangspunkt einer metaphysischen Begründung der Moral sieht und dieser sich nun selbst überwinden soll: Der Erlöser vom Erlöser soll an Ostern zur Welt kommen1324 : »Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. […] Zarathustra schuf diesen verhängnisvollen Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt«.1325
Allein schon der gesamte Titel der Schrift »Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Von Friedrich Nietzsche« benennt eine vielschichtige Programmatik, die nach Ansicht Villwocks bei Nietzsche das Gesamte als eine Art »perpetuum mobile eines Werk-Prozesses«1326 bezeichnen will. Auffallend ist dabei die im Titel bereits angelegte doppelte Autorenschaft des Werkes und die Frage nach dessen potentieller Leserschaft. Zarathustra und Nietzsche werden im Titel als Autoren genannt und »das Paradox des Adressatenkreises [angedeutet]: Alle sind potentiell betroffen, Keiner ist real schon betreffbar«1327. Villwock spricht von einer Kreisstruktur des Werkes, die das Ganze der Philosophie Nietzsches als eine in sich selbst abgeschlossene Einheit zeigen soll und an unterschiedlichen Stellen in »Also sprach Zarathustra« aufscheint. Beispielsweise zeigt sich diese Kreisstruktur bereits im bloßen Namen Zarathustras, der als metaphorisch-wörtliches Alpha und Omega, A und Z der Wirklichkeit gedeutet werden kann. Literarisch verarbeitet werde dieser Ansatz der Ganzheit in Zarathustras Weggang, Untergang und Wiederkehr, wie es Nietzsche in der Rede »Von der schenkenden Tugend« durch Zarathustra selbst beschreiben lässt: »Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren«.1328
1324 Vgl. Peter Villwock, »Zarathustra. Anfang und Ende einer Werk-Gestalt Nietzsches«, in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹, Basel 2001, 1–34, 9f. 1325 Nietzsche, »Ecce homo«, 367. 1326 Villwock, Zarathustra, 1. 1327 Villwock, Zarathustra, 2. 1328 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 101.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Die Veröffentlichung des Zarathustras I1329 wird von Nietzsche überaus reich orchestriert: »Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunftsgedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann – , gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf dem Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit«.1330
Nietzsche spricht weiterhin von »Empfängnis« und »Niederkunft« des Werkes und unterstreicht damit den schicksalhaften Offenbarungscharakter seines Zarathustras. Nach Nietzsches autobiographischen Skizzen im »Ecce homo« lagen zwischen Niederschrift und Veröffentlichung mystisch aufgeladene 18 Monate. Dem »indischen Volksglauben gemäss haben Elephanten eine 18monatige Schwangerschaft, und Buddha wurde von einem Elephantenweibchen geboren«1331. Nietzsche will dem Menschen zu sich selbst verhelfen. Daher entwirft er in »Also sprach Zarathustra« eine visionäre Propheten- und Lehrerfigur. Dieser Visionär zeichnet in poetischer Ausdrucksweise den Weg des Menschen zu sich selber nach.1332 Ziel dieser Entwicklung ist das Erreichen des absoluten Selbstbewusstseins und eine damit verbundene Befreiung vom gegenwärtigen zeitlichbegrenzten, innerweltlich existierenden Menschen.1333 Kleffmann fasst zusammen, dass in der Gestalt des Zarathustra Nietzsches Gedanken »vom Prinzip des Lebens als schöpferische Selbst-Überwindung«1334 zusammenfließen. Er ist der Künder des neuen Lebens. »Als Lehrer aber ist er stets »Fürsprecher des Lebens«, d. h. er vertritt das Leben, wenn es sich zur Selbst-Überwindung entscheiden muß – wenn /etwa im Moment des Leidens oder Mitleidens) seine Rechtfertigung in Frage steht, d. h. schließlich, wenn im Augenblick der ›schwersten‹ Erkenntnis (der ewigen Wiederkunft) die Selbstbejahung des Lebens im in sich geschlossenen Ganzen des Werdens gefordert ist.«1335
1329 Und auch die weiteren Teile sind in ihrer Niederschrift von Nietzsche mit legendhaften Umständen beschrieben worden. 1330 Nietzsche, »Ecce homo«, 335. 1331 Villwock, Zarathustra, 7. 1332 »Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde. […] Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren, welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch« (Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 14 und 23). Vorangehen muss aber ein denkerischer Weg der Reduktionen, der sich losgelöst von allen Denk- und Verantwortungsautoritäten weiß und versucht, von diesem Nichts ein Etwas zu entwickeln. Vgl. Peter Andr8 Bloch, »Die Rätselstruktur des Zarathustras«, in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹, Basel 2001, 91–124, 94. 1333 Vgl. Bloch, Die Rätselstruktur des Zarathustras, 97. 1334 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 262. 1335 Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 263.
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Die Figur Zarathustra predigt »den neuen Menschen als Alternative zur dekadenten, unbewussten, rein vegetativ-unbedeutenden Kleinexistenz seiner Zeitgenossen, die nichts anderes kennen als Zeitbezogenheit […] und alltägliche Sorgen«1336. Daher müsse der Mensch, um zum Übermenschen zu werden, seine bisherigen Ideale ablegen und all sein Tun auf seine Selbstverwirklichung ausrichten, um so über sich selbst hinaus zu gelangen.1337 Gleichzeitig bedeutet dies, dass der Mensch zuerst zu einer Selbsterkenntnis seiner selbst kommen muss, um die Möglichkeit der Selbstüberwindung zu ergreifen: »Die Selbsterkenntnis des Identischen ermöglicht seine Selbst-Überwindung (bzw. die des Lebens in ihm). Die Selbsterkenntnis umfaßt nun – in dem auf den Übermenschen zielenden Leben – aber auch schon die Selbst-Überwindung als Wesen des Lebens.«1338
Allerdings ist dieses Ablegen des alten Seins und seiner Ideale, der Aufbruch in Selbstvergewisserung und Freiheit nicht ewig möglich, sondern zeitlich begrenzt. Die Mahnrede Zarathustra in Zarathustra I, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die Initiative zu ergreifen, den Menschen hinter sich zu lassen und zum Übermenschen zu werden1339, erinnert damit stark an die biblisch überlieferte Verkündigung Johannes des Täufers.1340 In Zarathustra IV beschreibt Zarathustra das Wesen des Übermenschen.1341 Bündig formuliert zeichnet sich der Übermensch durch ein Selbstbewusstsein ohne Fremdbestimmung aus. Dieses Selbstbewusstsein generiert der Übermensch aus der Reduktion des Vorfindlichen »von Visionen, Verheissungen und Vorschriften«, um von dort aus auf den Grund der Dinge zu stoßen, dem Nichts.1342 Von dort ausgehend, könne der Übermensch als Überwinder und Künder von seiner Selbstgewissheit Gebrauch machen.1343 Der zarathustrische Übermensch ist kein Nachahmer irgendwelcher überlieferte Ideale und Ziele, sondern ein »Schaffender«.1344 Er ist in dem Sinn Schaffender, als dass er seine Existenz und Lebensweise aus eigenen Ideen und Zielen bewerkstelligt und sich nicht aus Angst oder Faulheit in den sicheren Hort geschichtlicher ÜberliefeBloch, Die Rätselstruktur des Zarathustras, 98. Bloch, Die Rätselstruktur des Zarathustras, 106f. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens, 286f. »Die Stunde, wo ihr sagt […]« Vgl. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 14–21. Vgl. bspw. Mt 3, 1–12. Der Weg vom Menschen zum Übermenschen ist für Nietzsche nötig, da der Mensch bis jetzt noch ein nicht »festgestelltes Thier« ist. Vgl. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 14–16. 1342 In der Metaphorik des Zarathustras: »Als Zarathustra dreissig Jahre alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, -« Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 11. 1343 Bloch, Die Rätselstruktur des Zarathustras, 94. 1344 Vgl. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 362.
1336 1337 1338 1339 1340 1341
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
rung oder Tradition von Lebensentwürfen begibt. Grundvoraussetzung dieses souveränen1345 Individuums jenseits aller Moralkonzepte ist jedoch der Tod des christlichen Gottes, um sich an dessen frei gewordene Stelle setzen zu können. Der Übermensch lasse sich nicht mit anderen gleichmachen, sondern verfolge seine je individuelle Selbstverwirklichung. Diesen Weg des Einzelnen in die Reduktion als »permanenter Denk- und Erfahrungsprozess«, der den Menschen auf dem Weg zu sich selbst mögliche »Widerstände und kritische Infragestellungen« abhandeln lässt, beschreibt den Gang Zarathustras durch die vier Bücher.1346 Bemerkenswerterweise erfährt die Person Jesu von Nietzsche eine hohe Wertschätzung. In seiner auf den ersten Blick missverständlichen Rede vom »Idioten Jesu« verdeutlicht Nietzsche, dass im Auftreten und Handeln Jesu durchaus Züge der Existenz eines Übermenschen erkannt werden können. Denn Jesus hätte sich, was auch Barth in seiner KD explizit hervorheben wird, durch die Etablierung einer eigenen Weltsicht gegen die herrschenden Konventionen und Machtverhältnisse gestellt, von der er auch im Angesicht seines eigenen Todes nicht abrückte, sondern sie nach biblischer Überlieferung mit seinem Tod am Kreuz verflocht.1347 Dabei bezieht sich die Bezeichnung des Idioten zuallererst auf Jesu Sein und »allenfalls sekundär [auf die Stellung] Jesu […] zur Gesellschaft oder Politik«1348. Der Ausdruck Idiot, den Nietzsche auch auf den Nibelungenhelden Siegfried anwendet, gewinnt seinen Gehalt in der Absetzung zur R8nan’schen Jesusbeschreibung als eines Genies und Helden und beschreibt somit pathologisch den Typus des Erlösers1349 :
1345 »Souverän meint: einer ›höheren Art‹ des Menschen gemäss, einer Art die der unbedingten Bejahung fähig ist, ›welche sich jeden grossen Luxus gönnen darf …, stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben, jenseits von gut und böse‹«. Vgl. Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 426 und Himmelmann, Göttlichkeit, 147. 1346 Vgl. Bloch, Die Rätselstruktur des Zarathustras, 97. 1347 Dies wird besonders in Jesu Verhör vor den Hohenpriestern deutlich (Vgl. Joh. 18, 12–40). Jesus wird in dieser Darstellung mehrmals die Möglichkeit eröffnet von seinen bisherigen Aussagen abzurücken oder sie wenigstens zu relativieren. Jesus jedoch verweigert sich diesen Anfragen und verweist auf die freie Entscheidung zu seiner öffentlichen Rede. Jesus bleibt wahrhaftig und relativiert seine Aussagen nicht, trotz eines drohenden Todesurteils. Dieser Befund kann unter der Begrifflichkeit des Idioten gefasst werden, denn nach der Interpretation Nietzsches beharrt Jesus nicht auf seiner Position, um etwas Heldenhaftes bzw. ein Ziel zu erreichen, sondern nur aufgrund seiner persönlichen Wahrhaftigkeit, die nicht auf bestimmte Ziele abzielt und daher die Treue zu sich und einem inneren Drang (seiner Gottesbeziehung) nachzeichnet. 1348 Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 288. 1349 Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 199.
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»Jesus steht, und insofern ist er _di~tg¬, außerhalb des zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Gefüges.«1350
Diese Stellung nimmt er jedoch nicht aus einem heldenhaften Impetus der Weltverbesserung ein, sondern aus einem inneren »idiotischen«1351, eines auf den ersten Blick ziellosen Dranges seiner Gottesbeziehung. Interessant erscheint es an dieser Stelle auch noch auf einen werkimmanenten Bezug zwischen Dionysos und Zarathustra einzugehen. In den Reden des Zarathustra fällt der Name Dionysos kein einziges Mal, wobei Villwock auf die unbestreitbare Ähnlichkeit beider Figuren verweist und darauf, dass die »Dionysos-Dithyramben« als Nietzsches letztes schriftliches Zeugnis bis kurz vor Drucklegung »Die Lieder Zarathustras« hätten heißen sollen. Den letzten Dithyrmbus »Von der Armuth des Reichsten« schließt Nietzsche mit den Zeilen: »[V]erschenke dich selber erst, oh Zarathustra! – Ich bin deine Wahrheit …«1352
Die Wahrheit des Künders vom neuen Menschen liegt daher in seiner Selbstüberwindung begründet, einer »Ewigen Wiederkehr«, eines ewigen Schaffens. Nietzsches Lebensmotto »Werde, der du bist.« wird aufgelöst zur Einsicht, aufzuhören danach zu streben, ein bestimmtes Selbst zu werden, sondern in aller Konsequenz sich selbst zu sein und zu leben.
V.3.2 Karl Barth: »Die Besonderheit des Christen ist eine Besonderheit innerhalb des allgemeinen Menschheitsvereins.« (KD IV/3, 611) Der Mensch erhält für Barth seine wahre Bestimmung in der Anerkenntnis seiner Geschöpflichkeit, die ihn im Kern seines Wesens und dessen Bestimmung auf Gott verwiesen sein lassen. Um diese Bestimmung des Menschen theologisch umfänglich zu umfassen, gilt es in umfassendere Strukturen seiner Theologie einzutauchen. Denn der Mensch wird für Barth durch die Einbettung in komplexere trinitätstheologischen Überlegungen in dessen Humanität bestimmt. Es geht in diesem trinitarischen Beziehungsgeflecht, und dessen Auswirkungen auf den Menschen, um die Verschränkung der Gotteslehre mit der Christologie und von dort aus die Anthropologie in der Verbindung zu beidem deutlich werden zu lassen.
1350 Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 288. 1351 Sommer, Nietzsches »Der Antichrist«, 288. 1352 Nietzsche, »Ecce homo«, 410.
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V.3.2.1 Das Munus triplex Christi in der Versöhnungslehre Barths Die Lehre vom dreifachen Amt gehört seit Beginn der Kirche zu ihren zentralen, aber auch umstritteneren Theologumena.1353 Abgeleitet aus hauptsächlich alttestamentlichen Zitaten, wurden Christus drei sich ergänzende Ämter zugeschrieben, die die Möglichkeit eröffnen sollen, sein Heilandswerk für und in der Welt näher zu beschreiben: das hohepriesterliche, das königliche und das prophetische Amt. In allen drei Ämtern kommt jeweils auf spezifische Art und Weise das eine Erlösungswerk Gottes am Menschen zum Ausdruck. So gesehen, ergänzt die Rede vom munus triplex andere Sprechweisen innerhalb der Christologie, wie die der Ständelehre und der Zwei-Naturen-Lehre. Besonders in der reformierten Tradition bildete sich die Lehre vom munus triplex Christi in der Reformationszeit in besonderer Art und Weise heraus. Wie Hanna Reichel in ihrer Studie1354 nachweisen kann, beschäftigte sich Barth seit 1919 und den Arbeiten am sogenannten »Tambacher Vortrag« bis in die späten 1940iger Jahre hinein, eingehend und wiederkehrend mit dem Heidelberger Katechismus und fand in der Auseinandersetzung mit diesem und seinen Fragen 311355 und 321356 zu seiner eigenen Form des munus triplex, welche ihn wiederum in besonderer Weise zum filigran durchkomponierten Aufbau seiner Versöhnungslehre KD IV/ 1–4 inspirierte. Besonders »für die Verbindung von Christologie und Ethik, Gotteslehre und Anthropologie, Trinitätslehre und Ekklesiologie oder kurz für das Problem ›Christus und Welt‹«1357 lieferte Barth das Denkschema des munus triplex eine geeignete Schablone, um von einer »abstrakten Christozentrik«1358, wie sie u. U. noch im RÖ I vorgefunden werden kann, zu einer konkreten zu gelangen, da sie die Möglichkeit einer spezifischen 1353 Vgl. die ausführliche Studie von Karin Bornkamm, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, Tübingen 1998. 1354 Hanna Reichel, Theologie als Bekenntnis. Karl Barths kontextuelle Lektüre des Heidelberger Katechismus, Göttingen 2015. 1355 »Frage 31: Warum wird er Christus, das heißt ›Gesalbter‹ genannt? Er ist von Gott dem Vater eingesetzt und mit dem Heiligen Geist gesalbt I. zu unserem obersten Propheten und Lehrer, der uns Gottes verborgenen Rat und Willen von unserer Erlösung vollkommen offenbart, II. und zu unserem einzigen Hohenpriester, der uns mit dem einmaligen Opfer seines Leibes erlöst hat und uns alle Zeit mit seiner Fürbitte vor dem Vater vertritt; III. und zu unserem ewigen König, der uns mit seinem Wort und Geist regiert und bei der erworbenen Erlösung schützt und erhält.« 1356 »Frage 32: Warum wirst aber du ein Christ genannt? Weil ich durch den Glauben ein Glied Christi bin und dadurch an seiner Salbung Anteil habe, damit auch ich seinen Namen bekenne, mich ihm zu einem lebendigen Dankopfer hingebe und mit freiem Gewissen in diesem Leben gegen die Sünde und den Teufel streite und hernach in Ewigkeit mit ihm über alle Geschöpfe herrsche.« 1357 Reichel, Theologie als Bekenntnis, 203. 1358 Reichel, Theologie als Bekenntnis, 205.
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dogmatischen Rede des Werkes Christi und des Verhältnisses des einzelnen Christen zu diesem und mit diesem eröffnete. In seinem wohl in enger zeitlicher Nähe zur Abfassung der KD III/2 abgehaltenen Seminar zum Heidelberger Katechismus im WS 1946/1947 beschreibt Barth die Lehre vom munus triplex Christi wie folgt: »Die drei Größen des munus triplex Christi: ›offenbart, erlöst, regiert‹ beschreiben das ganze Werk und die Person Christi.«1359 Und weiter hält Barth in den folgenden Sitzungen fest, dass nicht die Erlösungstat Christi an sich den Christen definiere, sondern erst dann, wenn er als Zeuge dieser Erlösungstat auftrete und »wenn man in mir die Drei Ämter Christi abgebildet sieht«.1360
In seiner Versöhnungslehre der KD IV/ 1–3 vermochte es Barth nun, diese Einsichten des munus triplex mit der Zwei-Naturen-Lehre und den beiden Ständen Christi filigran miteinander zu verschränken. Die Bände der Versöhnungslehre »Jesus Christus, der Herr als Knecht« (KD IV/1) und »Jesus Christus, der Knecht als Herr« (KD IV/2) verbinden dabei einerseits auf christologischer Ebene das hohepriesterliche Amt mit dem status exinanitionis und das königliche Amt mit dem status exaltationis. Andererseits werden in dieses Sein und Werk Christi hamartiologische, soteriologische, ekklesiologische und daraus resultierende ethische Themata einer Anthropologie eingetragen, die mit der Versöhnung einhergehen bzw. aus ihr folgen. Für KD IV/1 sieht diese Verschränkung wie folgt aus: §60. »Des Menschen Hochmut und Fall«, § 61. »Des Menschen Rechtfertigung«, 62. »Der Heilige Geist und die Versammlung der christlichen Gemeinde« und §63. »Der Heilige Geist und der christliche Glaube«. Für die KD IV, 2: § 65. »Des Menschen Trägheit und Elend«, § 66. »Des Menschen Heiligung«, § 67. »Der Heilige Geist und die Erbauung der christlichen Gemeinde«, §68. »Der Heilige Geist und die christliche Liebe«. So gesehen, wird von Barth in KD IV/1–2 durch die ersten beiden Ämter bereits das Heilandswerk Christi materialdogmatisch vollumfänglich in seinem Was, in seiner objektiven Seite herausgestellt. KD IV/3, und das darin angelegte prophetische Amt, überschreibt Barth mit »Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge« und füllt dies mit den Paragraphen § 70. »Des Menschen Lüge und Verdammnis«, §71. »Des Menschen Berufung«, »§72. Der Heilige Geist und die Sendung der christlichen Gemeinde«, »§73. Der Heilige Geist und die christliche Hoffnung«. Daher kommt dem dritten Amt, dem prophetischen, eine Sonderrolle zu, da es »zum Scharnier zwischen dem Amt Christi und dem Amt des 1359 Barth, Der Heidelberger Katechismus, 7. Sitzung am 4. Dezember 1946. Vgl. Reichel, Theologie als Bekenntnis, 209 Fußnote 32. 1360 Barth, Der Heidelberger Katechismus, 14. Sitzung am 12. Februar 1947. Vgl. Reichel, Theologie als Bekenntnis, 210 Fußnote 38.
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Christen«1361 wird. Erst hier wird deutlich, wie sich Barth die Verbindung und das Verhältnis des Christen zum Christus vorstellt. In diesem dritten Punkt wird Ereignis, was KD IV/ 1 und 2 versucht haben, abstrakt und objektiv zu erfassen. Der gerechtfertigte Mensch muss zum aktiven Zeugen seiner Rechtfertigung werden und so seine Heiligung vor der Welt bezeugen. »Zum Amt des Christen als Zeugendienst in Antwort auf Christi Zueignung des Heils gehört damit die Bezeugung und Verkündigung des hohepriesterlichen, des königlichen und des prophetischen Werkes Christi.«1362
V.3.2.2 »Der Mensch, der nicht Mitmensch ist, ist Unmensch.« (KD IV/2, 474) Im Folgenden soll anhand von zwei exponierten Stellen auf die Schlussfolgerungen dieser barth’schen Einsicht in den munus triplex Christi und dessen anthropologischer Verschränkungen geblickt werden. Auf den »Königlichen Menschen« in KD IV/2 § 64. als Erkenntnisgrund für die konkrete »Berufung« des Menschen entsprechend seiner Bestimmung in KD IV/3 § 71. V.3.2.2.1 KD IV/2 § 64. 3. »Der königliche Mensch« In Jesus Christus wird für Barth das vollkommene Menschsein erkennbar und beschreibbar. Dogmatisch präziser gefasst, wird für Barth im königlichen Amt Christi, in seiner Erhöhung als Menschensohn, damit auch seine menschliche Natur im Werk des königlichen Amtes zur Vollendung und zum eigentlichen Kern der menschlichen Existenz geführt. So weitet Barth im Abschnitt über den königlichen Menschen in KD IV/2 zum § 64. »Die Erhöhung des Menschensohnes« den Blick auf Leben und Handeln des wahren Menschen und versucht die Vollendung unter dem Terminus des königlichen Menschen zu fassen. Barth geht dabei so vor, dass er in den neutestamentlichen Schriften die Bezeugungen für die »Art, in der Jesus […] als Mensch unter den Menschen seiner Zeit da war« als eine besondere qualifizierte und unvergesslich-präsente Existenz beschreibt, die »unübersehbar und unüberhörbar« für jedermann sichtbar war und damit die »Entscheidung nicht nur forderte, sondern herbeiführte und vollzog«.1363 Die Existenz Jesu fasst Barth selbst als eine in die Wirklichkeit eingreifende, eine zur Tat drängende Entscheidung auf, die seit der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu über einen normalen menschlichen Lebenszyklus hinausreicht1364. Die Existenz Jesu Christi war und ist ein Ereignis:
1361 1362 1363 1364
Reichel, Theologie als Bekenntnis, 217. Reichel, Theologie als Bekenntnis, 220. Barth, KD IV/2, 175. Vgl. Barth, KD IV/2, 184.
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»In seiner Unübersehbarkeit und Unüberhörbarkeit, in seiner kritischen Funktion, in seiner unvergeßlichen Herrschaftlichkeit, in seiner die Schranken seiner Lebenszeit sprengenden und überschreitenden Unwiderruflichkeit.«1365
Dabei liegt die Betonung auf dem Menschen, d. h. der Mensch Jesus Christus hatte keine göttliche Vollmacht in sich, sondern war in seiner menschlichen Natur »deren unmittelbarer und vollkommener Zeuge […] und als solcher in ihrer Menge unmißverständlich ausgezeichnet«1366. Der königliche Mensch ist also allein aufgrund seines Menschseins königlich zu nennen. Im Zusammenhang mit der Typisierung von Nietzsches Übermenschen scheint eine Beschreibung des königlichen Menschen sehr interessant, von der im Weiteren ausgegangen werden soll: »Es gab für ihn [sc. den königlichen Menschen Jesus Christus] keinen Menschen, keine Natur- und Geschichtsmacht, kein Schicksal und keine Ordnungen und offenbar auch keine inneren Grenzen und Hemmungen, an die er gebunden war, […] die er zu fürchten hatte: eben weil es für ihn nur ein Müssen gab.«1367
Dieses eine Müssen im Tun und Handeln des königlichen Menschen sei die Verwirklichung des göttlichen Plans auf Erden. Der königliche Mensch handle entsprechend »zum Werk und zum Verhalten Gottes«1368. Daher beschreibt Barth den königlichen Menschen auch nicht als eine Person, die ihr Handeln an vorgegebene bestimmte Moralvorstellungen oder erzieherische Maßnahmen knüpft, sondern als einen Menschen wie Jesus, der sich seiner von Gott geschenkten Freiheit bewusst ist, dieses Wissen in der zwischenmenschlichen Begegnung verwirklicht und sich das Paradigma seines ethischen Handelns aufgrund seines Gegründetseins in Gott setzt und reflektiert: »Er existiert als Mensch analog zur Existenzweise Gottes«.1369
Barth macht am Beispiel des Lebens Jesu Christi klar, dass dieser von Gott königlich genannte Mensch gerade nicht in menschlichen Vorstellungen von Glanz und Macht auftreten muss1370, und sogar in einer bewusst-revolutionären Haltung auf Abgrenzung zu diesen scheinbaren Wahrheiten auf die »Umwertung aller Werte«1371 pocht.1372 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371 1372
Barth, KD IV/2, 184. Barth, KD IV/2, 180. Barth, KD IV/2, 180. Barth, KD IV/2, 186. Barth, KD IV/2, 185. Vgl. Barth, KD IV/2, 186. Barth, KD IV/2, 188. Vgl. Barth, KD IV/2, 201: Die Menschheit befindet sich in einem »diametralen Irrtum hinsichtlich dessen, was für sie gut, wahr, schön, tröstlich, hilfreich, befreiend, erlösend [ist]«.
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Dabei »vertrat, verteidigte und verfocht [er] kein Programm: weder ein politisches, noch ein wirtschaftliches, noch ein moralisches, noch ein religiöses, weder ein konservatives noch ein fortschrittliches«.1373
Vielmehr : »Er stellte – und das war das tief Beunruhigende seiner Existenz nach allen Seiten – alle Programme, alle Prinzipien in Frage.«1374
Dies konnte er tun, weil er in der »Freiheit des Reiches Gottes«1375 lebte und so alle bestehenden menschlichen Systeme und Wertvorstellungen in den ihnen durch das Reich Gottes gesetzten Grenzen sehen und interpretieren konnte. Barth warnt jedoch davor, diese Antipathie zum Bestehenden und die Solidarität mit den Armen und Schwachen als den entscheidenden Punkt des königlichen Jesu zu betonen, denn das Entscheidende sei nicht »ein von uns anderen Menschen her Zugängliches, für uns Griffbereites und Verfügbares«1376. Das entscheidende Charakteristikum, die bestimmende Antriebskraft des königlichen Menschen sei vielmehr seine Liebe zu den Menschen, analog der Liebe des Schöpfers zu seinem Geschöpf. Diese Antriebskraft sieht Barth jedoch nicht im Menschen selbst, sondern im göttlichen »Ja« zum Menschen begründet und auf einmalige Weise am Leben und Sterben Jesu Christi verwirklicht. Der königliche Mensch sei der Mensch für Gott und für die Menschen.1377 Wobei Barth hierbei darauf insistiert, dass dieses beschriebene Tun des königlichen Menschen kein Faktum darstellt, dass entweder vorhanden sein kann oder nicht, sondern der königliche Mensch »ist vielmehr Mensch, indem er Träger dieses Amtes ist«1378. D. h. das Amt und das damit verbundene Handeln des königlichen Menschen trete nicht zu seinem Menschsein hinzu oder vervollständige es in einem bestimmten Bereich, sondern er könne nur Mensch sein, indem er dieses, sein Amt ausführe: »Es gibt keine neutrale Menschlichkeit [des königlichen Menschen], in der er die Wahl hätte, das zu lassen, was er tut, oder an dessen Stelle etwas anderes zu tun«1379, da er dieses Amt durch Gott erhält (munus regium).
In Jesus Christus begegne dem Menschen auf einzigartige Weise das von Gott souverän ausgehende Erlösungswerk und daneben der wirkliche, sündlose Mensch, dem eine unmittelbare Gottesbeziehung ermöglicht werde. Vom »ver1373 1374 1375 1376 1377 1378 1379
Barth, KD IV/2, 191. Barth, KD IV/2, 191. Barth, KD IV/2, 193. Barth, KD IV/2, 200. Barth, KD IV/2, 201. Barth, KD III/2, 66. Barth, KD III/2, 66.
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söhnenden Gott« und vom »versöhnten Menschen« kann nach Barth nicht anders gedacht werden, als indem Jesus Christus als die in sich beides vereinigende Person zur Sprache kommt.1380 Das munus regium verhelfe dem königlichen Menschen Jesu durch dessen direkten göttlichen Bezug zur wahren Wirklichkeit des Menschseins und führe gegebenenfalls in eine Abwehrhaltung bzw. besser gesagt, zur Freiheit gegenüber verqueren gesellschaftlichen Vorstellungen von Moral, Wahrheit und Bestimmungen des Menschseins. Im königlichen Menschen Jesus sieht Barth jene großen Begriffe von Leben, Wahrheit, Heil und Humanität im Ereignis seines Lebens und im Glauben an Gott realisiert, ja sogar in letztgültiger Weise verwirklicht: »In der Tat seines Lebens wurde die Eigentümlichkeit seines Daseins, wurde auch seine Gottebenbildlichkeit wirklich und damit anschaulich und begreiflich.«1381
Die Unterscheidung zwischen Person und Werk führt für Barth an dieser Stelle in die Irre und auch die textliche Überlieferung der Evangelien vermag es nicht, Jesu Sein in seiner ganzen Tragweite darzustellen. Barth spricht vielmehr von einer »Lebenstat« und macht so nochmals sein Verständnis deutlich, wonach die Wahrheit des christlichen Glaubens und seine Auswirkungen auf das menschliche Sein und Denken immer nur ereignishaft greifbar und damit wahr werden können. Die »Tat seines Lebens« charakterisiert Barth dabei näher als das von Jesus gesprochene »Wort« und seine »konkreten Handlungen«.1382 Am königlichen Menschen Jesu wird mit diesen beiden Punkten nochmals dessen besondere Sozialität in seinem »Ja« zum Menschen ausbuchstabiert, das ihn in der Entsprechung zum göttlichen »Ja« denken und handeln lässt. Sozialität entsteht durch ein Sprachgeschehen und verwirklicht sich in den konkreten Handlungen des Menschen. Im Wort selbst, im »konkreten Reden« sei Jesu Existenz zur Tat für andere geworden, sei ihm zur »Lebenstat« geworden.1383 Jesus hätte sich dabei keiner speziellen Begrifflichkeit oder Sprachlichkeit bedient, sondern einer »sachlichen Originalität«, die ihm dazu verholfen hätte, »letztlich allein mit der besonderen Pointierung, Gegenüberstellung und Verknüpfung auch sonst bekannter Gedanken und Gedankengänge« diese Lebenstat zu vollbringen, die dabei so viel Wahrheit in sich barg, dass sie bis heute durch gleich wie viel Übersetzungen und Brechungen nichts an ihrer ihr eigentümlichen und innewohnenden Wahrheit eingebüßt hätte.1384 Dieses Reden wird für
1380 1381 1382 1383 1384
Barth, KD IV/2, 134. Barth, KD IV/2, 214. Barth, KD IV/2, 232. Barth, KD IV/2, 215. Vgl. Barth, KD IV/2, 216f. Barth spezifiziert das Reden Jesu im Folgenden Petitdruck mit den drei Verben eqaccek_feshai, did\sjeim und jgq}sseim.
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Barth so zum Ereignis, das es in den Evangelien stets als eine konkrete Handlung verstanden und beschrieben wird: Das Wort »ist als Handlung das Symptom dafür, daß es als Wort in der erfüllten Zeit von dem Erfüller gesprochen, daß es also nicht eine weitere Verheißung ist, sondern selbst das Verheißene: abschließendes Wort in der unzweideutigen Gestalt von abschließender Aktion.«1385
Besonders deutlich werde dieses abschließende Wort in Jesu Wundertätigkeit ausbuchstabiert: »Sie waren kraft ihrer besonderen konkreten Gestalt auch an sich, strukturmäßig, Abschlüsse und insofern wenigstens negative Zeichen eines Neuen, das er in seinem Wort verkündigte, das in seiner Existenz auf den Plan getreten war« und in der »Durchbrechung« der scheinbar »selbstverständlich und unzerbrechlich vorausgesetzten Normalität« sich zeigte.1386
Menschen erlangen durch dieses göttliche sie rechtfertigende Sprachereignis im Glauben an ihn, der zum existentiellen Ereignis wird, Freiheit von und die Freiheit zu. Die Freiheit von der eigenen Not, dem eigenen Sein im Schatten des Todes als »Weltangst, Lebensangst, Sündenangst, Höllenangst«1387. Damit eine Freiheit von der existentiellen Krisis des Menschlichen, die durch die Solidarität Gottes mit dem sündigen Menschen erreicht wird und von dort aus in die Freiheit zu einem Leben in der Entsprechung zu seiner Bestimmung führt. V.3.2.2.2 KD IV/3 § 71. »Des Menschen Berufung« In § 71. wird die barth’sche exzentrisch-relationale Profilierung der Existenz des Menschen darin deutlich, wonach Gott »das Wort der Gnade in der Macht seines Heiligen Geistes an ihn«1388, den Menschen, richte. Die dialogische Sprachstruktur, die den Menschen zur Bestimmung seines Seins anleitet, wird deutlich hervorgehoben und zur Frage formuliert: »Welches [ist] also die Existenzform, auf die seine Berufung ausgerichtet und abgezweckt ist?«1389
Die abstrakte Antwort Barths, die er im Folgenden zu konkretisieren versucht, lautet: »Die Absicht bei des Menschen Berufung ist die, daß er ein Christenmensch, ein homo christianus werde.«1390 1385 1386 1387 1388 1389 1390
Barth, KD IV/2, 232f. Barth, KD IV/2, 234. Barth, KD IV/2, 270. Barth, KD IV/3, 598. Barth, KD IV/3, 598. Barth, KD IV/3, 599.
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Was die christliche Existenz also als ein externes Angesprochensein auszeichnet, ist nicht in erster Linie als exklusive ontologische Seinsverschiebung vom Sünder zum Gerechtfertigten zu verstehen. Denn diese sei durch Christi Tod und Auferstehung ein für alle Mal und für die gesamte Menschheit bereits geschehen1391. Nein, diese besondere Existenzform des Christen gegenüber allen anderen Menschen zeichne sich als ein habituell-ontischer Modus aus, der dem göttlichen Angesprochensein des Menschen respondiert und dieses in eine Lebenstat übersetze. In dieser Vorstellung der Existenzform, die in der Beziehung zu Gott als deren Ursprung zu einer daraus resultierenden Beziehung zum Mitmenschen führt, wird deutlich, dass dieser habituelle Modus sich nicht in der bloßen Anerkenntnis einer Wahrheit, noch in moralischen Aufforderungen erschöpfen kann, sondern sich als tätliches Zeugnis dieses Ereignisses im Leben und Denken des Menschen zu manifestieren habe. Viel mehr ist die Berufung des Menschen in diese befreite Existenzform hinein als ein Auftrag zu verstehen, der nicht »aus der inneren Nötigung einer in ihnen wirksamen schöpferischen Kraft, einer von ihnen entdeckten Idee, einer von ihnen ergriffen Überzeugung« hervor geht und dessen »Ausführung nicht die Befriedigung des Bedürfnisses [zu Grunde liege], einem in ihnen selbst wohnenden Letzten, Höchsten, Tiefsten Genüge zu tun, es zu äußern, mitzuteilen, Austausch und Gemeinschaft zu finden, das, was sie innerlich bewegt, auszubreiten, zu propagieren, ihm unter den anderen Menschen Geltung«1392verschaffen zu wollen. Der Christ tue stattdessen Dienst im Willen dessen, der ihn ruft: »Dies also: das göttliche Wort, das Wort Christi ist das Telos und der Sinn ihres Dienstes.«1393
Dabei berufe Gott Menschen in der Freiheit seiner Gnade in seinen Dienst. Der Mensch »darf Hörer des Wortes sein, um sein Täter zu werden«.1394 Die Bedrängnis, die aus diesem Auftrag an den Einzelnen erwachse, sei »die Verfehmung, des Ostrazismus, dem sich der Christ als Zeuge ausgesetzt sieht: des odium humani generis sieht er sich angeklagt und das odium humani generis trifft ihn. Er hat doch der Welt als Zeige Christi nur Gutes, das Beste zu sagen – und findet sich nicht nur als Bringer böser Kunde, jenes der Welt allein vernehmbaren Nein, sondern, indem er sich mit dem, was er ihr zu sagen hat, wohl oder übel identifizieren muß, als böswilliger Störenfried angesehen und behandelt.«1395 Aus den besten Absichten des Christen für die Welt muss er »es erleben, daß sie mit ihm umgeht, als ob er ihr schlimmster Feind wäre«.1396 1391 1392 1393 1394 1395
Vgl. Barth, KD IV/3, 605. Barth, KD IV/3, 660. Barth, KD IV/3, 695. Barth, KD IV/3, 698. Barth, KD IV/3, 715.
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In der Bedrängnis selbst jedoch wird deutlich, dass die Bestimmung des Menschen über sich und die derzeitige Situation hinausweise, da er auf die eine große eschatologische Wende vertraue. Auf der persönlich-individuellen Ebene wird die Berufung des Menschen in den Dienst Gottes von Barth als dessen Befreiung verstanden, die er in der biblischen Vollzahl von sieben Punkten »anschaulich und verständlich«1397 zu machen versucht. »Des Christen Befreiung geschieht (1.) damit, daß er aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft geführt wird und hinübergeht.« Der Einzelne werde aus der »Misere der Isolierung« befreit und in die doppelte Beziehung zu Christus und damit zu allen Menschen gesetzt. Zwar sei diese doppelte Beziehung einer ständigen Krise ausgesetzt und der Ruf in die »Privatexistenz« und in die »bruderlose Einsamkeit« stehe als »Lockung und Versuchung« weiterhin im Raume, jedoch eher in einer Art der ängstlichen Rückwärtsgewandtheit und nicht als Option der befreiten eigenen Zukunft.1398 Als zweiten Punkt1399 (2.) versteht Barth die Befreiung des Menschen als dessen »Rettung aus dem Ozean der sich ihm scheinbar in unbegrenzter Zahl anbietenden Möglichkeiten durch seine Versetzung auf den Boden der Wirklichkeit des Einen Notwendigen«. Der Christ werde aus »der Horizontlosigkeit, Kontur- und Gestaltlosigkeit nach allen Seiten geöffneten, allen Winden preisgegebenen und so der Auflösung und Zerstreuung verfallenen« Existenz befreit, da die freie Gnadenwahl Gottes ihn in den Ruf und Dienst des Evangeliums stelle, an dem er zwar »verzagen und sich verfehlen« könne, den Dienst und den Ruf jedoch nie mehr als solchen abstreifen könne. Drittens1400 (3.) sei die Befreiung des Menschen ein »Übergang aus der Gewaltherrschaft der Sachen in das freie Land des Menschen und des Menschlichen« zu beschreiben. Damit rückt im Bestreben und Handeln des so befreiten Menschen die Sache des Anderen, seines Nächsten, in den Mittelpunkt seiner »(»humanistisch!«)« geformten Existenz. So wie auch in Jesus Christus die Sache für und mit den Menschen als Erweis der göttlichen Menschenfreundlichkeit deutlich werde. Die Befreiung führe viertens1401 (4.) dazu, »daß er nicht mehr begehren und fordern muß, sondern empfangen darf«. Die Befreiung als »Urbild der Gnade« ereigne sich am Menschen, ohne dass dieser etwas dafür tun könne oder müsste. Daher entspreche es der Existenz des befreiten Menschen als »eilende[s]« und »tätige[s] Warten« Empfangender und nicht mehr Fordernder zu sein. 1396 1397 1398 1399 1400 1401
Barth, KD IV/3, 715. Barth, KD IV/3, 761. Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 761f. Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 762f. Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 763–765. Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 765–767.
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Im fünften Punkt1402 (5.) spricht Barth von der Befreiung »aus der Ratlosigkeit heraus, hinein in die Tat«, was aufs engste mit den bereits genannten Punkten zusammenhänge. »Was soll und muß, darf und kann der Mensch tun, wenn Gott und der Mitmensch für ihn abwesend sind, wenn sein Dasein vor lauter unbeschränkter Willensfreiheit keinen Horizont hat, wenn er unter der Herrschaft der Sachen steht und ihnen zu dienen haben sollte, wenn er mit der Erlaubnis und unter dem Zwang des Begehrens und Forderns leben zu müssen meint?«
Und auch der so befreite Mensch wisse aus sich heraus keinen Ausweg aus dieser Verwirrung, sondern ein solcher werde ihm durch Jesus Christus gewiesen, welchem er in der »Tat des Gehorsams« folge. »Des Christen Befreiung besteht (6.)1403 darin, daß er nicht mehr in der Dialektik von Moral und Unmoral1404 existieren muß, sondern in der Dialektik von Vergebung und Dankbarkeit existieren darf.« Theologisch gesprochen definiert der Wechsel des Menschen unter dem Gesetz hin zum Sein unter dem Evangelium seine Befreiung aus der Krisis seiner Existenz. Daher sind für Barth die guten Taten des Menschen auch nicht eine Frage von Moral und Unmoral im menschlichen Gewissen, sondern gute Taten sind solche, die als »Barmherzigkeitstaten« getan werden, die ihrerseits die Menschenfreundlichkeit Gottes »widerspiegelt und abbildet«. Als siebten1405 (7.) und letzten Punkt benennt Barth die »Befreiung aus der Angst in das Gebet«. Im Gebet dürfe sich der Mensch ganz Gott anvertrauen und so abbilden, »was Gott in Jesus Christus für alle Menschen, für die ganze Welt geschehen ließ«. Die Angst, aus der der Mensch befreit werde, könne sich dabei sehr unterschiedlich ausdrücken: als »Lebensangst«, »Weltangst«, »Todesangst«, »pathologisch in offener Panik« oder auch »normal in ironischer Gelassenheit«. Befreiung aus dieser Angst erfahre der Berufene nicht durch die Kraft seiner eigenen Worte im Gebet, sondern Kraft dessen, den er im Gebet anrufe.
1402 Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 767f. 1403 Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 768–770. 1404 Die Anspielung auf Nietzsches Vorhaben klingt deutlich an, soll jedoch an anderer Stelle entsprechend gewürdigt werden. 1405 Vgl. für den Absatz Barth, KD IV/3, 770–772.
318
Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
V.3.3 Der »Übermensch« und der »königliche Mensch« – Eine vergleichende Annäherung Nietzsche wie Barth gehen in ihren Ausführungen einer wahren Humanität1406 des Menschen von einem freien, souveränen und damit schöpferischen Menschen aus, der sich seiner Freiheit bewusst ist, daraus lebt und sich nicht an allgemein festgelegten Normen und Werten orientiert, sondern diese hinterfragt und für sich gestaltet. Bei beiden ist der Mensch zu einer Selbstverwirklichung in der Selbst-Überwindung aufgerufen, zu der er sich durch eine je für sich letztgültige Wahrheit verpflichtet fühlt. Sei es die Wahrheit einer, durch die Selbstoffenbarung Gottes befreiten Existenz auf der einen Seite oder das Ausleben des »Willens-zur-Macht« als die letztgültige Wahrheit des Seins auf der anderen Seite. Die Übermenschen und königlichen Menschen gewinnen damit die Hermeneutik ihres Seins entweder durch einen selbstreferentiellen Willen zur Erschaffung einer Hermeneutik des übermenschlich Humanen oder aber einer kommunikativ vermittelten Offenbarung, die den königlichen Menschen aus der Krisis seiner Existenz befreit und entsprechend seiner geschöpflichen Struktur konstituiert sein lässt. Bemerkenswert scheint die oben angedeutete strukturelle Verbindungslinie, wonach um zur Hermeneutik der Humanität, zum eigentlichen Sein des Menschen vorzudringen, dieses in einer alles fundierenden ontologischen Ebene verortet wird, aus der heraus epistemologisch und damit auch semiotisch in wahrhaftiger Weise vom Menschen und seiner Humanität gesprochen werden könne. Nietzsche wie Barth gelangen in bewusster Nichtbeachtung weltlichmenschlich tradierter Erkenntnisse und Erfahrungen an die jeweilige Bewusstwerdung der wahren Humanität des Menschen. Denn für beide ist eindeutig, dass bei der Wahrheitsfindung gesellschaftliche Konventionen nur zu unvollkommenen oder lügenhaften Idealen führen. Für Barth aufgrund der allgemeinen durch die Sünde korrumpierten menschlichen Erkenntnis und für Nietzsche aufgrund des gesellschaftlichen Korsetts über Wahrheit und Lüge in der Epistemologie der Dinge an sich, die in der menschlicher Sprache zu einer lebenshemmenden Erstarrung geführt worden ist.1407 Beide Theoreme unter1406 Wahre Humanität bedeutet wohl im Zusammenhang des Bisherigen, eine dem Sein und Wesen des Menschen konforme Deutung und Gestaltung seiner Humanität. 1407 Diese Emphase in der Philosophie Nietzsches wurde mit seinem Aufsatz »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« näher in den Blick genommen. Gleichzeitig bleibt für die Beurteilung fraglich, inwieweit ein solches Ideal auch praktisch in der Lebenswirklichkeit des Menschen umsetzen ist oder auch von Nietzsche wirklich so gewollt werden kann. Für Nietzsche steht wohl eher das aus bisherigen Denkmustern und Beschränkungen befreite Philosophieren im Vordergrund, das sich nicht eingrenzen oder domestizieren lassen will, sondern mit der Provokation als einer anstachelnden und darin weiterführenden Emotion spielt.
»Welche Bestimmung hat der Mensch?«
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scheiden sich damit erst und doch darin fundamental, in welcher Weise dieser »befreiende« Bezugspunkt inhaltlich gefüllt wird, durch Gott oder den »Willenzur-Macht«. Barths königlicher Mensch kann sich von allen menschlichen Vorstellungen über Werte oder Ideale befreien, da er um sein gegründet Sein in Gott, ein Leben aus Gott, das ihn befreit und konstituiert, weiß. Der gerechtfertigte Mensch lebt nicht länger aus sich heraus, aus seinen eigenen Gedanken und Erkenntnissen, sondern befreit aus seiner Verstrickung in sich selbst in göttlicher Wahrheit und Freiheit.1408 Barth formuliert, dass die Sicht des Menschen auf sein Leben aufgrund seiner Geschöpflichkeit immer bruchstückhaft bleiben muss und an ein göttliches, allmächtiges und allwissendes Wesen geglaubt werden darf, welches mittels einer Selbstoffenbarung den Menschen das wahre Verständnis seiner selbst und seiner Stellung zu Gott und der Welt lehrt. Barth kann daher aus christlicher Sicht die Hermeneutik des menschlichen Seins absolut und letztgültig definieren. Menschliche Freiheit ist für Barth daher immer abhängige Freiheit, abhängig von der in Gott geschenkten Freiheit aus den sündhaften Verstrickungen und darin ein Rahmen zur Selbstverwirklichung des Menschen im Sinne seiner wahren Humanität. In Barths Offenbarungshumanität kommt es durch das göttlich rechtfertigende Geschehen zu einer Überwindung der korrumpierten menschlichen Natur bzw. zu einer Wiederherstellung des eigentlichen Seins des Menschen als dem Geschöpf Gottes. Nietzsches Begründung des Übermenschen steht dieser Position auf ihrer inhaltlichen Grundlage diametral entgegen. Auch hier entledigt sich zwar ein Mensch bzw. Übermensch festgelegter Konventionen, aber auf Grund seiner Erkenntnis, dass es eben kein Geschaffensein durch ein göttliches Wesen gibt und die menschlichen Denkmodelle über Götter nur erfunden wurden, um den Menschen in ihrer Entwicklung zu behindern und wahres Erkennen des Seins und des Lebens zu verhindern. Nietzsche verlässt die menschliche Welt, steigt in azurne Höhen auf, weil der Mensch seine Wirklichkeit selbst vernebelt hat und daher konsequenterweise sich auch selbst wieder daraus befreien kann. Das einzig wirkliche ist für Nietzsche daher auch der im Menschen angelegte »Wille-zur-Macht«, als der Grundtrieb des Menschen für dessen Erkenntnis und Lebensgestaltung. In den religiös-moralischen Wahrheits- und Wirklichkeitskonstruktionen werde der 1408 Daher muss überlegt werden, in welchem Ausmaß und in welcher Position Jesus als königlicher Mensch Vorbild sein kann und muss. Wohl nicht in dem Sinn, dass Jesu Handeln stur als ethischer Leitfaden verstanden werden darf, sondern eher dahingehend, dass in Jesus die Reinform eines Menschen für Gott und die Menschen dem noch sündhaften Menschen entgegentritt, an dem erkannt werden kann, wie aufgrund einer unmittelbaren Gottesbeziehung der Mensch sein Leben ausrichtet und bewerkstelligt. D. h. nach Barth müsste das Ziel nicht eine Nachahmung sein, sondern eine direkte Gottesbeziehung aus der heraus immer schon humane Handlungen folgen.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Mensch seiner zur Selbstverwirklichung angelegten Existenz beraubt. In dieser Erkenntnis liegt für Nietzsche die neu gewonnene Freiheit, nämlich die Freiheit, unabhängig von etwas Größerem zu sein. Er ist hier im wahrsten Sinn ein frei Schaffender, der Inbegriff des schöpferischen Menschen und nicht länger lediglich Nachahmer oder Vollstrecker lebenshemmender Ideale. Daher muss Nietzsches Übermensch auch den vorgeprägten Begriff einer christlichen Hermeneutik der Humanität ablehnen und für sich im Sinne des »Erschaffenden« den Sinn von Humanität suchen und definieren. Aus der Erkenntnis1409, die in bewusster Abgrenzung zu den Mitgeschöpfen geschieht, entspringt bei Nietzsche eine Menschenliebe, die dieses a-soziale Moment auch in ihrem praktischen Vollzug umsetzt, indem sie kein christlich-humanitäres Interesse am Anderen mehr zeigt, sondern den Anderen in dessen absoluter Individualität zu sich selbst als wesensfremd betrachten muss. Nietzsches Übermensch schafft sich gerade dort, wo er als das einsame Individuum sich selbst überwindet und zum Erschaffer seines eigenen Übermenschen wird. Der nach Nietzsche entscheidende Moment in dieser Erschaffung ist die Überwindung des christlichen Verständnisses vom leidenden Gott, in welcher der Inbegriff einer lebensbejahenden Selbstüberwindung des bisherigen unfreien und lebensverneinenden Menschenheitsideal verkörpert wird. Denn ein lebensdienlicher und -bejahender Gott muss vom Übermenschen entsprechend seiner aus dem »Willen-zur-Macht« entsprungenen Ideale neu erschaffen werden.1410 Damit wird die Definition eines Freiheitsgedankens bei Nietzsche wie Barth, als die konkrete Folge dieser Relationalität auf die Letztbegründung des Seins, für Beschreibung der wahren Humanität zentral. »In Nietzsches Konzeption ist die negative Freiheit [als die Freiheit von etwas] aber ein aktives Freiwerden von dogmatisch gewordenen Vorurteilen«1411 gedacht. In dieser befreienden Aufdeckung, die von Nietzsche als Leistung des freien Denkens beschrieben wird, ermöglicht sich der Mensch aus sich selbst heraus die Implementierung neuer Werte und mit diesen neuen Werten, »die Verwirklichung des eigenen Wollens«1412. So gesehen, beschreibt für Nietzsche der Freiheitsgedanke ein aufeinander aufbauendes Konstrukt, das den Menschen so schrittweise zu sich selbst zu führen hat. Die Freiheit der eigenen Reflexion führt zu einer Freiheit vom 1409 Nietzsche schreibt im Zarathustra: »Ich liebe Den, welcher lebt, damit erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der Übermensch lebe.« Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 17. 1410 Nietzsche schreibt im »Ecce homo«: »Der Begriff »Gott« [wurde] erfunden als GegensatzBegriff zum Leben, – in ihm [ist] alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht!« Nietzsche, »Ecce homo«, 373f. 1411 Dina Emundts, Aspekte des Begriffs Freiheit bei Friedrich Nietzsche, in Nietzscheforschung: Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft; Vol. 4 (1998), 85–101, 86. 1412 Vgl., Emundts, Aspekte des Begriffs Freiheit bei Friedrich Nietzsche 86.
Der Mensch als Sprachgeschöpf
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Kollektiv, was von dort aus zu einer individuellen Freiheit des eigenen Tuns und Wollens hin zu einer Selbstverwirklichung im eigentlichen Sinne des Wortes führe. Der Übermensch unter dem Eindruck des »Willens-zur-Macht« verwirklicht sich also im Sinne dieses Triebes immer selbst. Ein gewichtiger Unterschied bleibt jedoch noch zu benennen. Wo für Barth das wahre Sein des Menschen in Jesus Christus bereits leibhaftig-existentiell greifbar und damit beschreibbar war und uneinholbar ist, wird für Nietzsche der Übermensch, gerade auch in seiner zarathustrischen Ausformung, zu einer Art zukünftiger Zielvorstellung und Botschaft, die sich bis dato noch nicht verwirklicht hat, aber von Nietzsche als deren Botschafter verkündet wird.1413 Nietzsches Übermensch lebt daher sozusagen aus einem, auf sich selbst beziehenden Gedanken, der nicht nur über sein jetziges Sein in den eigenen Vorstellungen Auskunft gibt, sondern seine eigenen Gedanken auch in eine zu erwartende Hoffnung und Vorstellung einer besseren Zukunft projiziert.1414 Nietzsche ruft als Person und literarische Gestalt eines konsequent selbstreferentiellen Menschen den Theologen Barth auf den Plan und hält ihm sozusagen den irritierenden und herausfordernden Spiegel einer, in sich selbst gefangenen menschlichen Natur vor Augen. So gesehen, wird in Barths Ausführungen einer theologischen Anthropologie Nietzsches Beschreibung und Vorstellung des Übermenschen zu einem exakten und treffsicheren Inbegriff der menschlichen sündhaften Verstrickung in sich selbst, wenn sich ihr hemmungslos und konsequent hingegeben wird. In einer konsistenten Hermeneutik des Humanen wird für Nietzsche wie Barth das Ganze der Wirklichkeit deutlich, denn aus der ontologischen wie noetischen Letztbegründung des Seins, lässt sich erst der Mensch bestimmen und das Wesen der Welt erfassen.
V.4
»In welchem Modus ist vom Menschen angemessen zu denken zu sprechen?« – Der Mensch als Sprachgeschöpf
Die bisherigen Annäherungen an die Humanität des Menschen zeigen das konkrete Menschsein als ein ambivalentes Phänomen, das es in seinem Selbstverständnis in der Dimension von Wahrheit und Lüge zu differenzieren und 1413 Vgl. Nietzsche, »Ecce homo«, 355. 1414 Jedoch ist zu betonen, dass die Figur des Übermenschen bei Nietzsche nicht als die mythisch konkrete Vorstellung einer futurischen menschlichen Idealfigur zu denken ist, sondern vielmehr als Platzhalter für den sich frei von gesellschaftlichen Gängelungen erschaffenden kommenden Menschen. »– Man muss der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele, – durch Verachtung.« Vgl. Nietzsche, »Der Antichrist«, 168. Vgl. dazu auch V.5.1.
322
Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
damit jenseits der konkreten Existenz zu erkennen gilt, um es zu verstehen und von dort aus zu gestalten. Aufgrund welcher metaphysischer oder immoralischen Autorität und einem damit zusammenhängenden erkenntnistheoretischen Zugang lässt sich daher die Bestimmung des Menschseins formulieren? In der Annäherung an die Beantwortung galt es im Vorherigen für Nietzsche wie Barth das Eigentliche im Uneigentlichen freizulegen und von dort aus zu bestimmen. Sozusagen dem (absichtlich) gewordenen garstigen Graben zwischen Sache und Begriff, zwischen dem konkret-existentiellen menschlichen Individuum und der begründenden Ebene der Humanität des Menschen nachzugehen, um beides (wieder) in Kongruenz zueinander zu bringen. Sobald diese Bestimmungskategorie der Humanität erkannt wird, braucht es damit jedoch auch einen Sprachmodus, der in der Lage ist, diese begründende Ebene des Menschlichen adäquat in der Kommunikation um den Menschen abbilden zu können. In der Rede über die Bestimmung des Menschen und in der sprachlichen Kommunikation des Menschen über sich selbst muss sozusagen die noetische wie ontologische Grundlage seiner, sein Wesen bestimmenden Hermeneutik durchscheinen, um eine konsistente Anthropologie darlegen zu können. Ein solcher Versuch soll im Folgenden beschritten werden. Die Sprache an sich soll daher mit einer Auslegung des Sprachgeschöpfs Mensch bei Heidegger als die grundlegendste Tat des Menschen verstanden werden, in welcher er sein Sein und dessen Bestimmung unhintergehbar erstund letztgültig zu verdeutlichen und ihr zu entsprechen sucht. Von dort weitergehend soll auf die Sprachtheorie Luthers einer nova lingua geblickt werden, die beschreibt, wie im Sinne einer theologischen Rahmentheorie die Humanität des Menschen in der menschlichen Begriffssprache mit dessen göttlichem Sinnhorizont zusammengedacht und ausgesprochen werden kann. Eine am Abschluss dieses Dreierschritts stehende Annäherung an den Metaphernbegriff und dessen Implikationen soll in analoger Weise zur Sprachtheorie Luthers zu einer adäquaten sprachtheoretischen Beschreibung der Humanität des Menschen führen, da in einem metaphorischen Sprachmodus die ontologische Letztbegründung des Menschen im sprachlichen Ausdruck von und über ihn mitgesprochen werden kann.
V.4.1 »Seit ein Gespräch wir sind …« Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung Heidegger hielt den Vortrag »Hölderlin und das Wesen der Dichtung« im Jahre 1936 und setzte sich zum Ziel mit fünf »Leitworten« das Wesen der Dichtung schlechthin anhand der Sprachschöpfung Friedrich Hölderlins (1770–1843) zu
Der Mensch als Sprachgeschöpf
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illustrieren.1415 Hölderlin selbst verortet das Wesen des Menschen in seiner Sprachfähigkeit und weist damit der Sprache die Aufgabe einer den Menschen in seinen ontischen Verhältnisstrukturen fundierenden Rolle zu. Diese Einsicht Hölderlins bringt Heidegger seinerseits dazu, summarisch festzuhalten: »Wer ist der Mensch? […] Der Mensch ist der, der er ist, eben in der Bezeugung des eigenen Daseins.«1416
Erst die Sprache ermögliche es dem Menschen, sich selbst in seinem Sein für sich zu bezeugen und so für andere zu offenbaren. Der Mensch bestätige dabei konkret seine existentielle »Zugehörigkeit zur Erde«1417, die er ererbe und die ihn im Gebrauchen dieses Erbes als Lernender auszeichne, was die Geschichtlichkeit des Menschen einschließe. »Das Zeugesein der Zugehörigkeit in das Seiende im Ganzen geschieht als Geschichte. Damit aber Geschichte möglich sei, ist dem Menschen die Sprache gegeben. Sie ist ein Gut des Menschen.«1418
Gleichzeitig ist dieses Gut der Sprache nach Heidegger mit Gefahren verbunden. Einerseits sei die Sprache »die Gefahr aller Gefahren«1419, da erst die Sprache Seiendes als Etwas offenbare und somit in ihrem offenbarenden Charakter Seiendes in das Zwielicht von Sein und Nichtsein führen könne. Eine zweite Gefahr der Sprache entdeckt Heidegger im Gebrauch der Sprache selbst, da ihr aufgegeben sei »das Seiende als solches im Werk offenbar zu machen«1420, was jedoch nicht vor Missbrauch der Sprache und ihrer wirklichkeitsformenden Macht schütze. »Das Wort als Wort bietet daher nie unmittelbar die Gewähr dafür, ob es ein wesentliches Wort oder ein Blendwerk ist. […] So muß sich die Sprache ständig in einen von ihr selbst erzeugten Schein stellen und damit ihr Eigenstes, das echte Sagen, gefährden.«1421 1415 An dieser Stelle verweise ich auf Untersuchungen Christoph Schwöbels zum Menschen als Sprachgeschöpf, welche er im Rückgriff auf Hölderlin und Heidegger darlegt. Schwöbel unterzieht in seiner Studie über den Menschen als dem Sprachgeschöpf schlechthin die heidegger’sche Auslegung von Hölderlins Dichtung einer eingehenden Untersuchung und verbindet die dort gewonnen Einsichten mit Beobachtungen einer alttestamentlichen Anthropologie des Dialogs, wie sie v. a. in den Psalmen entdeckt werden können. Vgl. Christoph Schwöbel, »Seit ein Gespräch wir sind …« Der Mensch als Sprachgeschöpf, in Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 435– 449. 1416 Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, in ders., Gesamtausgabe 1. Abteilung Bd. 4, Frankfurt a.M. 1981, 33–48, 35. 1417 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 36. 1418 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 36. 1419 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 37. 1420 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 37. 1421 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 37.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Sprache stehe im Gebrauch des Menschen stets unter dem Vorzeichen der Ambivalenz von Wahrheit und Lüge und bleibe doch des Menschen herausragendes Gut, das ihm nicht nur als Werkzeug seiner Verständigung dient, »sondern dasjenige Ereignis, das über die höchste Möglichkeit des Menschseins verfügt«1422. Im Folgenden greift Heidegger auf einen Gedichtausschnitt Hölderlins zurück1423, um zu beschreiben, wie Sprache sich ereignet: »Wir – die Menschen – sind ein Gespräch. Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch.«1424
Dies bedeutet für Heidegger zum einen, dass zu einem Gespräch das Hören wie das Reden gehöre, was beides für das gemeinsame Gespräch gleich konstitutiv erscheint. Andererseits bilde gleichzeitig »die Einheit im Gegenstandsbezug«1425 den Bezugsrahmen zwischen den Gesprächspartnern, die das Gespräch und damit die Sprache erst gelingen lasse. In diesem Zusammenhang des Gesprächs und seiner Einheit kommt Heidegger auf den Modus der Zeit zu sprechen, die »aufgerissen« in »Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft« die Möglichkeit des Gesprächs böte, da der Mensch sich dem für das Gespräch konstitutiven Moment des Bleibenden bewusstwerde.1426 Gelingendes Gespräch zeichne sich nicht nur durch die horizontale Einheit in der Sache zwischen einem Hörenden und Redenden aus, sondern erst in der vertikalen Einheit, in der »Beständigkeit« und »Beharrlichkeit« und der damit einhergehenden Ermöglichung von Geschichtlichkeit.1427 Erst in dieser Erkenntnis werde die Gegenwart in Bezug auf die Geschichtlichkeit greifbar. Schwöbel führt in seiner interpretierenden Auslegung weiter aus, dass durch Heideggers Einbeziehung der Metapher der »Götter« folgendes deutlich werde: »Die Sprache ist damit ebenso wenig eine menschliche Leistung, wie das menschliche Dasein selbst aus seiner Selbstkonstitution verstanden werden kann.«1428
Die Dichtung selbst hat dabei für Heidegger einen das Sein selbst stiftenden Charakter : 1422 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 38. 1423 »Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander.« Friedrich Hölderlin, Sämtlich Werke, Bd. 2: Gedichte nach 1800, Stuttgart 1953, 141. 1424 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 38. 1425 Schwöbel, Der Mensch als Sprachgeschöpf, 438. 1426 Vgl. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 39f. 1427 Vgl. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 40. 1428 Schwöbel, Der Mensch als Sprachgeschöpf, 439.
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»Dichtung ist Stiftung durch das Wort und im Wort.«1429
So gesehen, muss das Sein »eröffnet werden, damit das Seiende erscheine. […] Der Dichter nennt die Götter und nennt alle Dinge in dem, was sie sind. Dieses Nennen besteht darin, daß ein vordem schon Bekanntes nur mit einem Namen versehen wird, sondern indem der Dichter das wesentliche Wort spricht, wird durch diese Nennung das Seiende erst zu dem ernannt, was es ist. So wird es bekannt als Seiendes. Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins.«1430 Daher dürfe das Wort des Dichters nicht lediglich als Nachsprechen einer vorfindlichen metaphysischen Wahrheit der Dinge missverstanden werden, sondern sich der Tragweite bewusstwerden, dass erst im Ausspruch des Dichters das Seiende wird, was es ist. Diese Bestimmung des Dichters und seiner Dichtung weitet Heidegger im Folgenden nun auf die Bestimmung des Menschen in seinem Dasein aus. Dazu fasst Heidegger in eigenen Worten den bisherigen Verlauf der Untersuchung zusammen: »Zuerst ergab sich: der Werkbereich der Dichtung ist die Sprache. Das Wesen der Dichtung muß daher aus dem Wesen der Sprache begriffen werden. Nachher aber wurde deutlich: Dichtung ist das stiftende Nennen des Seins und des Wesens aller Dinge – kein beliebiges Sagen, sondern jenes, wodurch erst all das ins Offene tritt, was wir dann in der Alltagssprache bereden und verhandeln. Daher nimmt die Dichtung niemals die Sprache als einen vorhandenen Werkstoff auf, sondern die Dichtung selbst ermöglicht erst die Sprache. Dichtung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes. Also muß umgekehrt das Wesen der Sprache aus dem Wesen der Dichtung verstanden werden. Der Grund des menschlichen Daseins ist das Gespräch als eigentliches Geschehen der Sprache. Die Ursprache aber ist die Dichtung als Stiftung des Seins.«1431
Schwöbel betont den »Zusammenhang zwischen der empfangenden Passivität der »Stiftung des Seins« und ihrer gebenden Mitteilung«, die Heidegger im Rückgriff auf Hölderlin in Anklängen an die reformatorische Rechtfertigungslehre profiliere.1432 Dem Dichter selbst obliege es dabei, dieses ihm Gegebene stets aufs Neue zu reformulieren und damit dieses selbst weiterzugeben. Angewandt auf die bisherigen Studien zu Barth und Nietzsche ergeben sich interessante Analogien und Diskontinuitäten. Für Barth finden sich dort im Speziellen Analogien, wo die Sprachfähigkeit und Alterität des Menschen als Ausdruck seines geschöpflichen Wesens deutlich wird. Das Gespräch, die Sprache, so wie das Leben des Menschen, sind Ausdruck seiner ihm gestifteten 1429 1430 1431 1432
Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 41. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 41. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 43. Vgl. Schwöbel, Der Mensch als Sprachgeschöpf, 441.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
Existenz und nicht Ausdruck seiner eigenen Anstrengung oder Leistung. Die Sprachfähigkeit des Menschen, die es ihm erlaubt das ihm passiv zuteil Gewordene gebend weiterzugeben, ist für Barth Abbild des trinitarischen Seins Gottes, welches das göttliche Sein als Entschluss versteht, in der Beziehung und im Gespräch nach innen wie nach äußern zu existieren. Bei Nietzsche wird eine enge Verbindungslinie in Bezug auf die seins- und sinnstiftende Dimension der Sprache deutlich. Nietzsche verabschiedet ein summum ens, das hinter allem Sein als eine verdeckte Wahrheit vermutet wird und verwirklicht in seiner Beschreibung des durch den »Willen-zur-Macht« geleiteten schaffenden Übermenschen die Überzeugung der Dichtung als Stiftung des Seins. Auch für Nietzsche ist der Mensch ein durch die Sprache schöpferisches Wesen. Der Übermensch erschafft sich durch sein Sprechen das Offenbarwerden des für ihn Seienden. Er schafft sich im wahrsten Sinn seine Wirklichkeit. Auch spricht keine bloße Beliebigkeit aus dem Übermenschen, sondern die Ernsthaftigkeit einer absoluten Lebensbejahung. Der Bezugsrahmen, der das gemeinsame Gespräch in einem übergeordneten Sinn gelingen lassen kann, ist für Nietzsche wohl im, in allen Menschen angelegten »Willenzur-Macht« zu erkennen. Sprache wird so auch für Nietzsche nie nur Mittel zum Zweck, sondern zum höchsten Ausdruck und Sinnbild des in seinem Sinne »Neues« erschaffenden Menschen. Das Sein wird gestiftet und in der Sprache wird diesem Stiftungscharakter allen Seins durch den Menschen entsprochen. Dieser derart grundlegenden und wohl nur schwerlich zu widerlegende Einsicht entspricht der Mensch, wenn er Sprache benutzt und in ihrem Gebrauch den ursächlichen und alles andere begründenden Urgrund des Seins nachzusprechen versucht. Aber wie kann sich dieses, dem Letztgrund entsprechende und damit die Wirklichkeit substantiell neu qualifizierende Nachsprechen konkret vorgestellt werden?
V.4.2 Luthers »novis linguis loqui« (Mk 1617): nova lingua – nova significatio In den späten Disputationen von 1539 über Joh 1,141433 und 1540 über »De divinitate et humanitate Christi«1434 profilierte Luther das besondere Sprachverständnis einer theologischen nova lingua, die auf der Wahrheit des Evangeliums fußend, menschlichen Begriffen neue Bedeutungen im Sinne ihrer göttlichen Sinnzusammenhänge geben könne. Christoph Markschies fasst das Vorhaben Luthers dahingehend prägnant zusammen, dass Luther »sich mit nova lingua auf einen durch Gott vermittels des biblischen Wortes im heiligen Geist 1433 Vgl. Luther, WA 39/II, p. 3–33. 1434 Vgl. Luther, WA 39/II, p. 93–121.
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den Menschen geschenkten Zugewinn an Sprache und damit auch an Erkenntnis«1435 beziehe. Durch den Fall des Menschen sei es zu einem Auseinanderbrechen der Einheit zwischen Wort und Sache gekommen, die nun durch das Erlösungswerk Jesu Christi wiederhergestellt wurde und daher in der Person und dem sich auf Christus beziehenden Glauben deutlich hervortrete. Das Wort Gottes, welches sich in Christus den Menschen offenbart, eröffnet also einen neuen theologischen Sprach- und Wirklichkeitsraum der menschlichen Erkenntnis und Semiotik, der ihr von ihr aus nie zugänglich ist. Luther selbst stößt auf das sprachliche Vermittlungsproblem theologischer Inhalte und deren adäquater sprachlicher Ausdrucksform durch die Auseinandersetzung über trinitätstheologische und christologische Aussagen in den Begrifflichkeiten von Person, Substanz und der »communicatio idiomatum« mit den beiden Scholastikern Pierre d’Aillys1436 und Gabriel Biel.1437 Wohl deutlich ist dieser Auseinandersetzung eine grundsätzliche Kritik Luthers an der scholastischen Methode in Bezug auf »das Verhältnis von Schriftautorität und Vernunft« abzulesen.1438 D’Ailly machte sich in weiten Teilen seines umfassenden theologischen Werkes daran, die theologische Trinitätslehre mit Hilfe der aristotelisch geprägten syllogistischen Form nachzuweisen und so philosophisch-logische mit theologischen Begründungssätzen zusammenzuführen, die nun derart begründet, auch vernünftig geglaubt werden könnten. Auch d’Ailly erkennt zwar an, dass »die Logik […] keine Worte für die Durchdringung der Begriffe Wesen und Person in der Trinität [habe]. Sie kann das hier begegnende Ineinander von Identität und Differenz nicht aussagen,«1439 aber er verortet diese Problematik dabei lediglich in formalen Fehlern, die in der Anwendung der syllogistischen Form zu suchen seien und nicht wie Luther, in der grundsätzlichen Differenz zwischen philosophischen und theologischen Aussagen in Bezug auf Gottes Sein
1435 Christoph Markschies, Luther und altkirchliche Trinitätstheologie, in Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, 37–85, 67. 1436 Peter d’Ailly (1351–1420) war Theologe in Paris und stand wie Luther selbst der »via moderna«, wie sie Wilhelm von Ockham lehrte, nahe. 1437 Streiff beschäftigt sich in seiner Studie über die Disputation von 1539 eingehend und umfassend mit Luthers Rede einer nova lingua und deren Implikationen und Auswirkungen auf das theologische Reden. Auf seine Ergebnisse sei im Folgenden rekurriert. Vgl. Stefan Streiff,«novis linguis loqui«. Martin Luthers Disputation über Joh 1,14 »verbum caro factum es« aus dem Jahr 1539, Göttingen 1993. 1438 Vgl. Streiff, »novis linguis loqui«, 41. Streiff weist nach, dass Luther bereits mit den der Disputation vorangestellten Schrift- und Kirchenväterzitate auf zentrale scholastische Verweisstellen rekurriert, die u. a. in den Sentenzen des Petrus Lombardus zu finden sind. 1439 Streiff, »novis linguis loqui«, 48. Steiff hält fest, dass die »Unfähigkeit der syllogistischen Logik, zwischen »essentia« und »persona« richtig zu unterscheiden«, zum denkerischen Fehlschluss innerhalb der trinitarischen Seinsstruktur Gottes führe (aaO. 49).
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
bzw. in der Unmöglichkeit, philosophisch sprachlogische Aussagen über die Trinität oder christologische Glaubenssätze treffen zu können. Luther schreibt in seiner zweiten These zur Disputation über Joh 1,14: »In theologia verum est, verbum esse carenem factum, in philopsophia simpliciter impossibile et absurdum.«1440
Luther selbst argumentiert damit, dass jeder Materie eine Form zugeordnet sei, die diese in rechter Weise ordnet und beschreibt. Im Falle des zum Scheitern verurteilten Versuchs durch Logik die Trinität bzw. Christologie zu fassen, liege also ein Materie-Form-Problem zugrunde, das auf dem Missverständnis fuße, die göttliche Freiheit und Einzigartigkeit in formal-logische Implikationen zwängen zu können.1441 Streiff hält fest: »Der Gegensatz von Philosophie und Theologie, von altem und neuem Wort erweist sich in Luthers Auseinandersetzung mit Biel und anderen scholastischen Theologen als Gegensatz zwischen zwei Sinnzusammenhängen, den die Vernunft nicht überbrücken vermag. Alle Worte stammen zwar aus dem alten Sinnzusammenhang der Philosophie. Wenn sie in den Sinnzusammenhang der Theologie übertragen werden, erhalten sie eine neue Bedeutung, der nur mit der neuen Sprache Ausdruck verliehen werden kann.«1442
Für Luther gilt es daher, eine theologische Glaubenssprache von einer philosophischen Logiksprache in einer grundsätzlichen Art und Weise zu unterscheiden, um die trinitätstheologischen Begriffe der göttlichen Personen, ihrer Substanz und ihrer jeweiligen Relationalität entgegen philosophischer Annäherungsversuche zu behaupten. Daher weist er der Philosophie die Rolle einer Art Spezialwissenschaft zu, die unter ihren epistemologischen Prämissen und sprachlogischen Argumentationsfiguren der Materie-Form-Annahme entsprechende Diskurse führen könne. Der Theologie gesteht Luther jedoch zu, dass sie in einer Art Alleinvertretungsanspruch religiöse Phänomene deuten dürfe und gerade aufgrund ihres göttlichen Erkenntnisgrundes sogar allgemeingültige Wahrheiten aussagen könne, auch wenn diese formal logisch auf philosophischen Wegen nicht nachzusprechen seien. Er schreibt: »Non quidem vitio formae syllogisticae, sed virtute et maiestate materiae, quae in angustias rationis seu syllogismorum includi non potest.«1443 1440 WA 39, II,3. 1441 These 26: »In his et similibus syllogismis est forma optima, sed nihil ad materiam.« WA 39, II, 4. Luthers Argumentationsfigur erinnert dabei an Barths Vorstellung des Verhältnis von Philosophie zur Theologie, wie er es in seinem Vortrag »Schicksal und Idee« darstellt. Siehe IV.2.3.2 und vgl. Streiff, »novis linguis loqui«, 52–62. 1442 Streiff, »novis linguis loqui«, 69. 1443 WA 39, II, 5.
Der Mensch als Sprachgeschöpf
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Darauf aufbauend, und sich von scholastischen Vorstellungen loszusprechend, wendet sich Luther einer Sprache der Medialität zu und differenziert zwischen einer instrumentellen wie einer medialen Begriffssprache, um damit im Stande zu sein, zwischen einer dem theologischen Topos eigentlichen und uneigentlichen Sprache unterscheiden zu können. In der 40. These schreibt Luther : »Rectius ergo facerimus, si dialectica seu philosophia in sua sphaera relictis discamus loqui novis linguis in regno fidei extra omnem sphaeram.«1444
Mediale Sprache komme im Gegensatz zur instrumentellen dort zu Wort, wo in der sprachlichen Kommunikation keine problemlose Bezugnahme zwischen Begriff und Sache mehr möglich sei, was im Gebrauch einer instrumentellen Sprache selbstverständlich vorauszusetzen sei. Eine solche mediale Sprache werde zum »Medium der Sinnbildung« und nicht zum »Instrument [einer] scheinbar problemlose[n] Bezugnahme«.1445 Streiff hält fest, dass die Rede einer nova lingua in der Theologie Luthers 1539 keinesfalls neu war, sondern ein Thema war, das sich bereits seit seinen früheren Schriften durch sein theologisches Werk zog. Schon in seiner Psalmenauslegung in den 1510’igern Jahren stellte Luther eine Ambivalenz zwischen »häretischer Sprache und echter Glaubenssprache«1446 fest. In Bezug auf das Neue Testament lassen sich wohl drei Themenkreise herausarbeiten, in denen Luther das Thema der nova lingua, die im Modus eines, dem Evangelium gemäßen, Glaubens ermöglicht wird, ausarbeitet. »Die Befreiung der Glaubenssprache thematisiert Luther konzentriert in verschiedenen Auslegungen von Mk 7,31–37«1447 und der Heilung eines Taubstummen. Von dort zieht sie sich weiter über die Auslegung des Pfingstwunders in Apg 2, hin zu seiner Auseinandersetzung über die Abendmahlsworte. Gerade in den Abendmahlsworten und Luthers Verständnis einer Realpräsenz Christi in den Gaben von Brot und Wein wird die Bedeutung einer nova significatio aufgrund der göttlich ermöglichten nova lingua, die über die menschliche Vernunft und ihren Sprachgebrauch hinausreicht, am deutlichsten. Die neue Sprache berührt Herz und Sinn des Menschen. »»Novis linguis« heißt […] durch die Erkenntnis dieser schriftgemäßen Bedeutung des Wortes [im Anschluss an Mk 16,17 »mit neuen Zungen zu reden«] auf das wahre Wesen der Dinge stoßen, etwas erkennen und aussagen von der ursprünglichen Ordnung der Dinge, die das Denken der Schrift in sich birgt.«1448
1444 1445 1446 1447 1448
WA 39, II, 5. Streiff, »novis linguis loqui«, 128. Streiff, »novis linguis loqui«, 136. Streiff, »novis linguis loqui«, 145. Streiff, »novis linguis loqui«, 172.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
So gesehen, stimmt Luthers Verwendung der nova lingua auch mit einer Metapherntheorien überein, wonach deren Gebrauch nicht auf eine höhere Ebene einer uneigentlichen Sprache über die Dinge führt, sondern gerade zu ihrem eigentlichen Kern und Ausdruck. Eberhard Jüngel hält dazu fest: »Wir haben es also mit einem Ereignis des Seins zu tun, wenn wir es mit dem SprachEreignis christologischer Metaphern zu tun haben. […] Luther verwendet die Figur der Metapher ihrerseits metaphorisch, und zwar nicht, um eine uneigentliche Redeweise noch uneigentlicher werden zu lassen, sondern um die christologisch-soteriologische Metapher kraft ontologischer Reduplikation als eigentliche Redeweise zu erweisen: derart, daß eine geschehene Seinsübertragung in der ihr entsprechenden Wortübertragung definitiv zur Sprache kommt. […] Insofern er [sc. Luther] bei allen seinen Aussagen den Gegensatz von Leben und Tod, von Gottes Heiligkeit und unserer Sünde, von Sein und Nichtsein als einen versöhnten, als überwundenen Gegensatz mit nennt, erschließt er dieser Welt einen eschatologisch neuen Sinn, der es nun auch erlaubt, definitiv zu reden.«1449
Luther gelingt es mit seiner Rede einer nova lingua eine Art Blocker zu implementieren, der ihm dazu verhilft, theologische Begrifflichkeiten nicht erst aus der deren inneren religiös-theologischen Bezugsrahmen lösen zu müssen, um sie formal-logisch erklären zu können und sie so in philosophischen Diskussionen nicht in eine scheinbare inhaltliche Aporie führen zu müssen. Die trinitätstheologischen Aussagen Gottes, oder auch die Rede von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus, lassen sich nur theologisch begründen und ergründen und in philosophisch-logischen Denkschemata lediglich schemenhaft nachzeichnen. Die Wahrheit und Botschaft des Evangeliums, und seiner Aussagen über das göttliche Wirken in der Welt und dem menschlichen Sein, lassen sich auf philosophischer Ebene formal-logisch nie gänzlich einholen. Es bleibt ein Überschuss, den nur die Theologie an- und ausdeuten könne. »Die vom Menschen entwickelte Grammatik kommt dem Schöpfungswort nicht bei, weil sie das verbum als Ton oder Laut auffaßt, weil sie den längst geschaffenen Dingen Namen zuteilt. […] Mit dem Fall geht dem Menschen die Kenntnis des ursprünglichen Wesens der Dinge und seiner selbst verloren, nicht aber den Dingen ihr ursprüngliches Wesen.«1450
Denn im Glauben finde sich der Mensch in einer Wirklichkeit, die ihm von sich aus nicht mehr bekannt ist. Es geht also nach Luther auch um eine Art Erkenntnisprozess, wenn das Wort Gottes, das Wahrheit spricht, mit menschlichen Gedanken in Verbindung komme. Im menschlichen Leben ereigne sich Neues, 1449 Eberhard Jüngel, Zur Bedeutung Luthers für die gegenwärtige Theologie, in Luther und die Theologie der Gegenwart. Referate und Berichte des fünften Internationalen Kongresses für Lutherforschung, Göttingen 1980, 17–80, 38f. 1450 Streiff, »novis linguis loqui«, 188f.
Der Mensch als Sprachgeschöpf
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was Luther in der Rechtfertigung des Sünders als das konkret existentielle Erlebnis beschreiben kann, welches anhand der Person Jesu Christi in den Evangelien zur Sprache komme und im Ereignischarakter des göttlichen Wortes, vermittelt durch die Geschichte Jesu Christi, sich für den Menschen existentiell ereigne. Es kommt zur ursprünglichen »Einheit von Wort und Sache«1451 im menschlichen Sein, die durch den Abfall Adams von der Wahrheit des göttlichen Wortes zunichte gemacht worden ist.
V.4.3 Das Sein des Menschen im Sprachmodus der Metapher »Religiöse Rede spricht der Wirklichkeit notwendigerweise mehr zu, als das jeweils Wirkliche aufzuweisen hat und als Wirklichkeit überhaupt aufzuweisen vermag.«1452
Jüngel betrachtet unter dieser Prämisse die Ausführungen Nietzsches in Bezug auf dessen Metapherntheorie und verbindet diese mit der Grundfrage, ob es angemessen sei, in den pragmatischen Metaphern des Alltäglichen kein Ereignis der Wahrheit wahrzunehmen, sondern lediglich eine verfälschende und dennoch notwendige Grundform der menschlichen Sprache.1453 Nietzsche kommt, wie dargestellt, in seinen Ausführungen in »Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« zu dem Ergebnis, dass jedes menschliche Wort nur die Metapher eines Urerlebnisses darstelle, daher keine Verbindung zur wahren Beschaffenheit der Dinge aufweisen könne, da hier zwei grundverschiedene Sphären von Subjekt und Objekt in eine Abhängigkeit geführt werden, die so nicht festzustellen sei. Problematisch werde dieser Prozess dann, wenn er in seinem Zustandekommen innerhalb der menschlichen Kommunikation vergessen werde. Denn nach Nietzsche ist es in der bürgerlich-gesellschaftlichen Konvention zu einer festgefügten und gesetztestreuen Metaphernbenutzung gekommen, die er anprangert und stattdessen »die sinnschöpfende Wahrheit der Kunst reklamiert und somit das Recht eigenständiger Semiosis einklagt«1454. Dabei ist Nietzsches These an dieser Stelle nicht grundsätzlich zu widerspre-
1451 Vgl. Streiff, »novis linguis loqui«, 188. 1452 Vgl. Eberhard Jüngel, Metaphorische Wahrheit, in ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 103–157, 103. 1453 Vgl. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 115. 1454 Klaus Müller-Richter und Arturo Larcati, Nietzsches Begriff der Metapher. Die Metapher als Kunstprinzip zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen, in »Kampf der Metapher!« Studien zum Widerstreit des eigentlichen und uneigentlichen Sprechens. Zur Reflexion des Metaphorischen im philosophischen und poetologischen Diskurs, Wien 1996, 215–235, 217.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
chen, wonach »die [menschliche] Sprache gegenüber der harten Welt der Dinge eine ganz fremde Sprache ist«1455. Da das Seiende an sich nicht durch menschlich festgelegte Begriffe absolut definiert werden kann, kann jedoch die Metapher als die adäquate menschliche Antwort auf seine subjektive und selektive Wahrnehmung angesehen werden, da sie ihm erlaubt, »die Bewegung des Seins in die Sprache [als] Bewegung innerhalb der Sprache fortzusetzten«1456. »Gerade indem sie Wirkliches über seine Wirklichkeit hinausführ[t], präzisier[t] und pointier[t] sie diese Wirklichkeit.«1457
Jüngel erkennt im Akt der metaphorischen Rede das Ereignis einer ihr inhärenten Interaktion, insofern er davon ausgeht, dass eine Metapher aus zwei Elementen besteht, die sich gegenseitig positiv-kritisch erklären und erhellen. Wenn ausgesagt werde, dass Achill ein Löwe sei, würde zwar für die »Wahrheit als adaequatio intellectus et rei«1458 eine nicht wahrheitsgemäße Beschreibung der Person Achill getroffen, jedoch stellt sich mit Nietzsche die Frage, inwieweit Wahrheit und Wirklichkeit immer direkt voneinander ableitbar sind oder es nicht vielmehr ganz im Sinne Nietzsches eine Wahrheit neben der Wirklichkeit gibt, die gerade durch eine metaphorische Redeweise zum Vorschein gebracht werden kann.1459 Durch die metaphorische Gleichsetzung Achills mit einem Löwen könne der Facettenreichtum der Person Achill am ehesten formuliert werden. Es trete ein Mehr gegenüber der beschreibbaren Wirklichkeit des Helden hinzu, welches eben nur in einer metaphorischen Redeweise erreicht werden könne. Auch und gerade theologische Rede bedarf daher des metaphorischen Verständnisses von Sprache, da die Theologie auf die allgemeinen Begrifflichkeiten zurückgreifen muss, um sprachfähig zu sein und ihre Inhalte zu vermitteln. Dies ist dabei in enger Analogie zur theologischen Sprachtheorie Luthers von einer nova lingua zu verstehen, die genau dies zu ermöglichen und zu denken sucht.1460 Die Metapher stellt also einen Versuch dar, das Eigentliche im Uneigentlichen 1455 Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 141. 1456 Klaus Müller-Richter / Arturo Larcati, Nietzsches Begriff der Metapher, 230. 1457 Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 144. Natürlich bedenkt Jüngel auch die Ambivalenz, die in einer solchen Rede über die Wirklichkeit liegt. Jedoch scheint es für den Menschen keinen anderen Weg zu geben, als in der Vieldeutigkeit und Ambivalenz der Sprache ihren adäquaten Gebrauch zu finden. 1458 Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 110. 1459 Vgl. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 110f. 1460 Nach Jüngel stellt dies jedoch keine negative Grundvoraussetzung der theologischen Rede an sich gegenüber anderen Sprachtheorien dar, sondern durch die Verwendung der Begriffe in Christus wird ihnen ein neuer Sinnzusammenhang offenbart, der innerhalb eines menschlichen Sprachgebrauchs so nicht eröffnet werden könne. Vgl. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 110.
Der Mensch als Sprachgeschöpf
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abzubilden und erlaubt gerade im Akt ihres Zursprachekommens die Kluft zwischen Seiendem und Bezeichnendem zu überwinden, weil sie auf ein Jenseits verweist. Gleichzeitig muss dies jedoch auch bedeuten, dass die Metapher, wenn sie auch nicht jederzeit in definitorische Begriffe übersetzt werden kann, so doch sicherlich durch einen sie stützendenden und haltenden Bezugsrahmens bzw. einen Fluchtpunkt im Sinne ihres Jenseits gestützt sein muss1461. Dieses Jenseits wird in der Theologie Barths und der Philosophie Nietzsches sehr unterschiedlich gedacht. Von der Humanität des Menschen ist insofern in einer sinnstiftenden Metapher zu sprechen, wenn erkannt wird, dass der Begriff seine wahre Tragweite gerade nur in Bezug auf die ihn inhaltlich strukturierende Bestimmung gewinnt. Somit kann in der metaphorischen Sprechweise das stete Wechselspiel zwischen konkreter individueller Gestalt und ideeller Wahrheit in Bezug auf das Sein des Menschen sprachlich nachvollzogen werden. Theologisch kann die Humanität des Menschen als eine solche Metapher verstanden werden, die ausdrückt, dass das wahre Sein des Menschen nicht in der adaequatio rei et intellectus zu erkennen ist, sondern mit Schwöbel in einer adaequatio verbi humani ad verbum divinum. So gesehen ist das Sein des Menschen »niemals nur Sache, sondern als Resultat des Redens Gottes als Sache Träger von Sinn«1462 und darin als sein Wesen anzusprechen. Im Blick auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus kann im theologischen Sinn letztgültige Wahrheit über den Menschen gesprochen werden, wenn sich diese Sprechweise in der adaequatio verbi humani ad verbum divinum befindet. In struktureller Ähnlichkeit, bei gleichzeitig erheblichen inhaltlichen Unterschieden, zeigt sich die Sachlage bei Nietzsche. Für Nietzsche wird sehr ähnlich die Sprechweise über den Menschen aus einer adaequatio zu einem letztgültigen Urgrund heraus konsistent, der seinerseits inhaltlich alles Sein zum Werden durch den »Willen-zur-Macht« strukturiert. Da dieser »Wille-zurMacht« als ein freier Gestaltungsraum verstanden werden muss, radikalisiert Nietzsche die absolute Individualisierung der Metapher insoweit, als dass er der menschlichen Sprache an sich jede Möglichkeit eine allgemeingültige Wahrheit auszusprechen versagt und die adaequatio damit nie allgemein gültig, sondern je nur individuell entsprochen werden kann. Gleichzeitig bedeutet dieses Vor1461 Ansonsten floriert die metaphorische Sprache jenseits jeglicher Begrenzungen und grundsätzlicher Übereinkünfte, verliert damit als metaphorische Sprache jegliche relationale sinnstiftende Kommunikation und würde damit lediglich zum Aufweis eines rein individuellen Erschaffungswillens – ein Ideal, wie es für Nietzsche wohl erstrebenswert erscheint. 1462 Christoph Schwöbel, Gott als Gespräch. Überlegungen zu einer ontologischen Theologie kommunikativer Beziehungen, in ders., Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 451–478, 477.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
haben bei Nietzsche damit, dass er »den kantischen Erkenntnisdualismus von Anschauung und Begriff« durchbricht und »den Begriff in eine volle Abhängigkeit zu dem metaphorischen Untergrund jeder Erfahrung« überführt.1463 Für Nietzsche steht einem konstruierten objektivierbaren Wahrheitsmoment der Metapher der »intuitive Mensch«1464 selbst entgegen, der sich von Kategorien von wahr und falsch bezüglich der adaequatio intellectus et rei verabschiedet hat, da er sich dem sprachlich Bestehenden rein negativ zuwendet, weil es keine allgemeine Wahrheit in der Wirklichkeit fortzusetzen gebe.1465 Die uneigentliche Rede vom Menschen beginnt für Nietzsche also schon dort, wo dieses Sein in eine solche metaphorische wie begriffliche Sprache gefasst wird, die sich aus einer dem sprachlichen Usus abgeleiteten Wahrheitsfunktionalität speist. Nietzsche beurteilt in seiner Sicht auf Metaphern in letzter Konsequenz lediglich die Intention ihres Gebrauchs: Wird sie lebensphilosophisch dazu missbraucht eine scheinbare transzendente und ewige Wahrheit über den Menschen auszusagen oder wird sie dazu gebraucht, das schöpferische Sprachtalent des Menschen als Ausdruck des »Willens-zur-Macht« vor Augen zu führen. »Nicht der abgezogene Inhalt oder Grad künstlerischer Durchdringung und Gestaltung unter dem Maßstab des Kunstgegenstandes, sondern einzig der Grad lebenssteigender Wirkung ist das legitime Kriterium der Kunst«1466 und damit der Metapher.
Kunst und Ästhetik sind für Nietzsche der höchste Ausdruck der Vitalität und Schaffenskraft des »Willens-zur-Macht«, die sich keinerlei erstarrten Konformismus erlauben dürfen. So gesehen, macht für Nietzsche die Rede über den Menschen nur dann Sinn und erfüllt ihren Zweck, wenn sie lebenspraktisch, weil lebensfördernd ist.1467 Der individuelle Mensch schafft sich im Prinzip des principium individuationis im freien Gebrauch der Sprache zwischen Metapher und Begriff Sinn und Definition seines Seins und damit in Entsprechung auf den ihn in seiner Existenz begründenden »Willen-zur-Macht«. »Die Metapher ist also zugleich Verwirklichung des apollinischen Prinzips, d. h. der Täuschung und des schönen Scheins, und des dionysischen Prinzips, d. h. der Verwirrung des sokratischen, verstandesmäßigen Menschen: aufgrund ihrer Ursprünglichkeit und ihrem anschaulichen Charakter kann die Metapher nicht nur als Gegenmittel gegen die unbildliche, leere Transzendenz des Dionysischen gedacht, sondern zugleich als Gegenmittel gegen die Institutionalisierung der apollinischen Verklärung verstanden werden.«1468 Klaus Müller-Richter / Arturo Larcati, Nietzsches Begriff der Metapher, 228. Vgl. Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, 889. Vgl. Müller-Richter / Arturo Larcati, Nietzsches Begriff der Metapher, 218. Klaus Müller-Richter / Arturo Larcati, Nietzsches Begriff der Metapher, 229f. Dieser Rahmen ist damit wohl auch als Nietzsches Jenseits zu verstehen, von dem ausgehend sprachliche Metaphern ihre Berechtigung und Begrenzung erlangen. 1468 Klaus Müller-Richter / Arturo Larcati, Nietzsches Begriff der Metapher, 233f.
1463 1464 1465 1466 1467
Was oder Wer ist der Mensch – ein zusammenfassender Ausblick
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Die Poiesis als radikale Erschaffung und nicht die Poetik als eine Reformulierung des Vorhandenen wird von Nietzsche anhand seiner Dekonstruktion der Metapher auf das ihr zugrundeliegende Urerlebnis zur Bestimmung des Seins benannt und damit als Bestimmung des Wesens des Menschen propagiert.
V.5
Was oder Wer ist der Mensch – ein zusammenfassender Ausblick
Was oder Wer ist der Mensch im Verhältnis zu sich selbst, zur Welt und in Bezug auf eine ihn in letztgültiger Weise bestimmende (metaphysische) Dimension? »Ist er ein Versprechender? Oder ein Erfüller? Ein Erobernder? Oder ein Erbender? Ein Herbst? Oder eine Pflugschar? Ein Arzt? Oder ein Genesener? Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein Bändiger? Ein Guter? Oder ein Böser?«1469
Nietzsche wie Barth legen in einer letztbegründeten Theorie des Werdens eine je differenziert aufgebaute Hermeneutik des Seins des Menschen vor, um in dieser Weise ihre Sicht auf das wahre Wesen des Menschen zu profilieren. Ausgehend von einer in der Wirklichkeit des menschlichen Seins erkennbaren Entfremdung des Menschen von sich selbst, soll in einer Überwindung dieses korrumpierten status quo durch den Rückgriff auf den lebensschöpferischen Ursprung des Menschlichen, und damit des Seins an sich, die Bestimmung des Wesens des Menschen geleistet werden. Daher lassen sich Barth und Nietzsche aufgrund ihrer gemeinsamen existentiellen Fragstellung in ihren Theoremen kritisch miteinander ins Gespräch bringen. Dieses Gespräch soll im Folgenden anhand von drei Fragekomplexen strukturiert werden. (I.) Wie ist Sein des Menschen zu bestimmen? (II.) Welcher relationale Bezug lässt das menschliche Sein bestimmt sein? (III.) In welcher Rolle befindet sich der Mensch in Bezug auf die Bestimmung seines Seins? Gleichzeitig soll dieses Gespräch dadurch noch an Kontur gewinnen, indem Nietzsches und Barths Verständnisse der Humanität in Abgleich mit modernen und modernsten Anthropologien gebracht werden. Zum einen sei hier exemplarisch auf die klassische und bis in die Gegenwart hinreichende These vom Menschen als Mängelwesen zwischen Herder, Gehlen und dem Transhumanismus rekurriert und zum anderen ein kurzer Ausblick auf aktuellste Annähe1469 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 179.
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Karl Barth und Friedrich Nietzsche über die Hermeneutik des Menschlichen
rungen an das Sein des Menschen in Form einer Humanität in der Artikulation geworfen.
V.5.1 »Wie ist Sein des Menschen zu bestimmen?« Herder beschrieb 1770 in seiner »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«1470 den entscheidenden Unterscheid zwischen Mensch und Tier in dessen Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation. Aufgrund seiner biologischen Veranlagung mangele es dem Menschen im Vergleich zu den Tieren an exklusiver und gattungsmäßig je spezifisch ausdifferenzierter »Instinktsicherheit«, »Kunstfähigkeit« und »Kunstrieben«1471. Nach Herder ist dieser Umstand dem Wesen des Menschen an sich zuzuschreiben, welches ihn in den biologischen Voraussausetzungen seines Intellekts in der universellen Offenheit seiner Aufmerksamkeit angelegt sein lasse. Anders als das Tier sei er nicht mit einzelnen hochentwickelten Instinkten und Kunstfertigkeiten ausgestattet, sondern universell interessiert und damit in seiner Bestimmung mit einer herausragenden Offenheit und Universalität ausgewiesen. Herder spricht in diesem Zusammenhang von den unterschiedlich großen Kreisen, die dem Menschen und dem Tier in der Möglichkeit ihrer Aufmerksamkeit jeweils zugedacht seien. Speziell für den Menschen gelte dabei, dass der große Kreis seiner Aufmerksamkeit ihn im Laufe seines Lebens von einem Säugling, der »nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet«1472 sei, zu einem kulturschaffenden Erwachsenen entwickeln lasse. Diese Entwicklung sei erforderlich, da Herder im Menschen selbst »Lücken und Mängel« zwischen seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten erkennt, die der Mensch im Laufe seines Lebens und unter Anstrengung seiner intellektuellen Möglichkeiten und der ihm damit zur Verfügung stehenden technischen Instrumente zu minimieren suche.1473 Positiv gewendet, sieht Herder in der Diskrepanz zwischen Bedürfnis und Fähigkeit des Menschen seine besondere Auszeichnung als Freiheit, sich seiner Bestimmung innerhalb der Schöpfung bewusst zu werden und von dort aus gestalten zu dürfen. »Es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Thieren 1470 Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften gesetzten Preis erhalten hat, Berlin 1770. 1471 Herder, Ursprung der Sprache, 31. Diesen Mangel an Kunstfertigkeiten führt Herder im Folgenden am Beispiel der Arbeit der Biene und der Spinne aus. Beide sind für ihn herausragende Beispiele einer tierischen Kunstfähigkeit. 1472 Herder, Ursprung der Sprache, 38. 1473 Vgl. Herder, Ursprung der Sprache, 39.
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Kunstfertigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt und bei den Thieren Instinkt wird.«1474
Die Vernunft also ist nach Herder, die im Menschen angelegte Kraft, welche ihn Lücken und Mängel beseitigen lässt und ihn somit in Abgrenzung zu anderen Lebewesen gattungsmäßig auszeichne. Die Annahme über den Menschen, als eines irgendwie gearteten Mängelwesens und gleichzeitig in der Überwindung desselben zur Kulturerzeugung befähigten Wesens, setzte sich prominent u. a. in der Anthropologie Arnold Gehlens (1904–1976) fort, die dieser in seiner Studie »Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt.« näher ausführt. »Er [sc. der Mensch] ist, wie wir auch sagten, ein Wesen, welches in sich eine Aufgabe vorfindet – und gerade deshalb braucht er eine Deutung seiner selbst […] Er ist nicht »festgerückt« heißt: […] er verhält sich zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut; er lebt nicht, […] er führt sein Leben. Nicht aus Spaß, und nicht zum Luxus des Nachdenkens, sondern aus ernster Not«.1475
Gehlen ist davon überzeugt, dass der Mensch das Grundbedürfnis in sich empfinde, »die Deutung des eigenen menschlichen Lebens«1476 vorzulegen. Dabei gäbe es traditionellerweise zwei Wege, eine solche Deutung anzugehen, die sich jedoch lediglich graduell und nicht strukturell voneinander unterscheiden. Entweder werde der Mensch in einer gedachten, strukturellen Verschiedenheit zu anderen Lebewesen durch spezifische Merkmale seines besonderen Verstandes oder Intellekts profiliert oder in gradueller Verschiedenheit zu anderen Lebewesen, aufgrund seiner menschlich evolutionär fortgeschrittenen Entwicklung konturiert. Bei beiden Ansätzen sieht Gehlen kritisch, dass »der Mensch nicht aus sich selbst begriffen werden könne, [sondern] daß er nur mit Kategorien des Außermenschlichen beschreibbar oder deutbar sei.«1477 Diese Annahme unterzieht Gehlen einer grundlegenden Kritik und macht sich zur Unterstützung der eigenen Theorie Nietzsches Diktum vom Menschen als dem noch nicht festgestelltem Tier zu eigen. »Die physische Unspezialisiertheit des Menschen, seine organische Mittellosigkeit sowie der erstaunliche Mangel an echten Instinkten bilden also unter sich einen Zusammenhang, zu dem die »Weltoffenheit« oder, was dasselbe ist, die Umweltenthebung den Gegenbegriff bilden.«1478 1474 Herder, Ursprung der Sprache, 43. 1475 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, in ders. Gesamtausgabe, Bd. 3.1, Frankfurt a.M. 1993, 12–35. 1476 Gehlen, Der Mensch, 3. 1477 Gehlen, Der Mensch, 4. 1478 Gehlen, Der Mensch, 34.
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Von Herder übernimmt er dabei die spezifische »Weltoffenheit« des Menschen, die diesen zu einer »durchaus untierischen Reizüberflutung führe«1479, da seine Instinkte nicht wie die der Tiere, auf bestimmte spezifische Reize spezialisiert seien. Gehlen geht also in der anthropologischen Wesensbestimmung vom Menschen, als »eines organisch mangelhaften, deswegen weltoffenen, d. h. in keinem bestimmten Ausschnitt-Milieu natürlich lebensfähigen Wesens«1480 aus. Darin liegt nach Gehlen nun der existentielle Kern des Menschenseins, dass er die Not seiner eigenen »Lebensfristung« als Problem erkennt und sich positivschöpferisch mit ihr auseinandersetzt: »Aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d. h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.«1481
In aktueller Form kann die These, des aus der Not seiner Existenz sich selbst als Mängelwesen betrachtenden Menschen, im Bereich des sogenannten Transhumanismus ihre moderne Fortführung finden. »Transhumanisten sehen sich in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung. Sie fördern alle Wissenschaften, die den Menschen klüger, gesünder, glücklicher und stärker machen können: Genomik, Neurowissenschaft, Robotik, Nanotechnologie und künstliche Intelligenz.«1482
Auf allen der Wissenschaft und Technologie zugänglichen Ebenen sollen festgestellte Mängel behoben und optimiert werden. Der Mensch selbst definiert im direkten wie abstrakten Blick auf sich selbst vermeintliche Schwächen und zu optimierende Bereiche des eigenen Seins, die er dann in einer sich selbst gesetzten moralischen Pflicht als fortgesetzte Evolution seines Seins zu designen versucht. Dieses anzustrebende Design wird mit den gesellschaftlich-subjektiven Sichtweisen auf den Menschen abgeglichen und gerade darin einem sehnsuchtsvoll erdachten Ideal zu entsprechen versucht. Der Mensch und sein Sein werden so zum Spielball von Trends und mehrheitsfähigen Überzeugungen von körperlicher Schönheit, gesundheitlicher Unversehrtheit und psychischer Gesundheit. Es scheint so, dass die vorgestellte These des Menschen als eines Mängelwesens bzw. eines Wesens, das seine physiognomischen Nachteile gegenüber dem Tierreich zu kompensieren habe, sich einer weiten Verbreitung und Zustimmung gewiss sein kann. Sowohl Nietzsche als auch Barth verwehren sich 1479 1480 1481 1482
Gehlen, Der Mensch, 34. Gehlen, Der Mensch, 34. Hervorhebungen im Original. Gehlen, Der Mensch, 35. So in der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juni 2013 im Artikel »Die vielleicht gefährlichste Idee der Welt« von Boris Hänßler zu lesen.
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einem solchen Bild des Menschen, welches ihn aus der Not seines Lebens und aus dem Mangel seiner Handlungsmöglichkeiten zu fassen versucht. Der Vorwurf Ludwig Feuerbachs, im Religiösen lediglich den narzisstischen Hang des Menschen nach eigner Sicherheit und Rechtfertigung entdecken zu können, könnte auch in Bezug auf die Mängeltheorie des Menschen angebracht werden und in etwa folgendermaßen lauten: Denkt sich der in der Mängeltheorie seiner selbst verhaftete Mensch womöglich einen für sich und seine Bedürfnisse lediglich entsprechenden Menschen? Und entspricht eine solche Anthropologie dann gerade doch nur den gesellschaftlich geformten Sehnsuchtsgedanken des Menschen?
In einer von Sehnsucht geleiteten Herangehensweise wird sich das Sein des Menschen konstruiert und scheinbar in höchst aufgeklärt-postreligiösem Denken, wie Gehlen selbst schreibt, auf die Kategorie des »Außermenschlichen« bewusst verzichtet bzw. eine solche kategorisch ausgeschlossen. Die These des Menschen als Mängelwesen, gerade auch in seiner modernsten Auslegung, führt so nochmals vor Augen, wie eine konsistente Anthropologie nach Barth und Nietzsche nicht beschrieben werden kann und darf, da sie unweigerlich in Aporien zu führen hat. Für Barth ist die Anthropologie kein selbsterdachtes und selbsterarbeitetes Produkt des egoistisch nach Selbstverwirklichung strebenden Menschen. Denn erst in der Dimension des Religiösen, als Inbegriff der Relationalität auf das Außermenschliche wird eine Anthropologie jenseits idealistischer Menschenbilder tragfähig und konsistent. Der wirkliche Mensch Barths ist so gesehen alles andere als ein Mängelwesen. Er ist der Mensch für Gott. Befreit von und befreit zu. Und auch für Nietzsche gibt es im Sein des Menschen nichts zu kompensieren, keine Not der menschlichen Existenzform zu überwinden, keiner gesellschaftlichen Norm zu entsprechen, sondern nur die reine Lebensbejahung als Maxime des Seins. Nietzsches Übermensch steht jenseits eines Mangels, denn er führt sich selbst dorthin, wohin er strebt und nicht dorthin, wohin andere und fremde Ideale ihn haben wollen. So gesehen sollte auch Gehlens Bezug auf Nietzsches Diktum über das Sein des Menschen als des noch nicht festgestellten Tieres einer genauen kritischen Betrachtung unterzogen werden. »Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue.«1483
Denn »noch nicht festgestellt« bedeutet m. E. für Nietzsche im Sinne des Zitats nicht eine biologistische Mangelkompensation, welche das konkrete Ideal des 1483 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 179.
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Menschseins vor Augen hätte, sondern das Ideal eines freien Raumes zur Entfaltung des Menschseins jenseits der bisherigen Kategorien einer anthropologischen Hermeneutik des menschlichen Seins. So könnte es als eine erhebliche Verkürzung des nietzscheanischen Anspruchs angesehen werden, den Menschen in seiner Entwicklung zum eigentlichen Menschen leidglich in der Evolution der Überwindung eines Mangels zu beschreiben. Es geht Nietzsche vielmehr um einen, den Menschen in seinen Grundkonstitutionen verändernden Wechsel zwischen »Altem« und »Neuem« und in diesem »Neuen« um einen Ermöglichungsraum des Menschlichens jenseits der menschlichen Vorstellungen und sehnsuchtsvollen Wünsche eines konstruierten Ideals. Es geht um eine tiefgreifende Irritation des Menschen über sich selbst, die ihn in ihrer Überwindung fundamental und nachhaltig jenseits einer konkreten Mängeltheorie zu vollenden sucht. »Unsere ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: »kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen? …«1484
Nietzsche spricht im Bild des freien Tanzens vom dionysisch-rauschhaften Zustand des Menschseins, welches sich jenseits von althergebrachten Gesetzlichkeiten und bloßen für wahr gehaltenen Beschränkungen zu ereignen habe. Von einer Befreiung und Erlösung ist da die Rede, die Nietzsche dem Menschen widerfahren lassen möchte und die sich gerade im Übergang des festgefügten Ganges, beschränkt durch »eherne Gesetze, Götzen und Lügen«, hin zum tänzerischen Moment zeige.1485 Bei Barth setzt die Entfremdung des Menschen von sich selbst in dessen Sünde an, die ihn von Gott und damit von sich selbst entfremden lässt.1486 Im
1484 Auch Nietzsche spricht daher von einer Befreiung und Erlösung, die er dem Menschen widerfahren lassen möchte und die sich gerade im Übergang des festgefügten Ganges, beschränkt durch eherne Gesetze, Götzen und Lügen, hin zum tänzerischen Moment zeige. »Unsere ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: »kann er gehen? mehr noch, kann er tanzen? …« Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft« 614. 1485 Überführt werden kann diese Ausdrucksweise in Nietzsches übergeordnete Begrifflichkeiten des apollinischen und des dionysischen, des gesetzmäßigen und des freien Seins des Menschen. Dieses Bild einer graduellen Abstufung des Ganges im Gegensatz zur freien und ästhetischen Bewegung des Tanzes findet sich auch im Zusammenhang der Reisen Zarathustras aus der Höhe zu Menschen. »Von der Erlösung« überschreibt Nietzsche im Zarathustra vielsagend den Abschnitt, in dem er Zarathustras Gang zu den humpelnden »Krüppeln«, »Bettlern« und »Bucklichtern« beschreibt, die für ihn das zu überwindende Bild des Menschseins charakterisieren. Vgl. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 177– 182. 1486 Einen Mangel kann der Mensch in struktureller Ähnlichkeit zur Sünde womöglich immer nur als schon beseitigten Mangel feststellen. Bzw. der gedachte Mangel wird insoweit zum Ausdruck der Sündhaftigkeit, als dass die Erkenntnis der eigenen Existenz und er sie haltenden Begrenzungen noch unvollkommen ist und dieser Erkenntnismangel zum
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Lichte der Gnade Gottes komme es dann zum Wechsel zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem. Vom Sünder zum Gerechtfertigten, zum wahrhaftigen königlichen Menschen. Für Barth ist der Mensch in seiner konkret-ereignishaften Existenz, die ihn zu einem »Wer« mit einer eigenen individuellen Lebensgeschichte und zu einem eschatologischen Grund und Ziel führt. Gleichzeitig würde wohl Barth die Metaphern des befreiten »Tanzes« und des bleiernen »Ganges« im Hinblick auf das Sein des Menschen auch für sich in Anspruch nehmen können, jedoch anders definieren. Auch für ihn wäre wohl der freie Tanz des Menschen als die eigentliche Bestimmung des Menschen und Kern seiner theologischen Anthropologie zu fassen, wobei dieser freie Tanz, weil Ausdruck einer Befreiung, dem Menschen erst dann zuteilwerde, wenn die Anerkenntnis seiner Befreiung durch Gottes Gnade vom auf sich selbst ausgerichteten und damit sündhaften Gang Raum greife. So gesehen, betonen beide das Uneigentliche (»das Alte«) am derzeitigen Menschen, das durch die Offenlegung des Eigentlichen (»das Neue«) abgelegt werden sollte. Der derzeitige Mensch muss überwunden werden, um den Übermenschen und den neuen Menschen zu ermöglichen, ihm Raum zur Entfaltung zu bieten. Beide kritisieren in ihrem philosophischen und theologischen Werk die fehlende Deckungsgleichheit von Begriff und Sache, von Realität und Idee im Wesen des Menschen. Für beide ist deutlich, dass sich für die wahre Beschreibung nicht nur am vorfindlich Realen orientiert werden darf, sondern dies mit dem Letztgültigen zu verbinden ist. Und doch widersprechen sich beide fundamental in diesem das Reale ins rechte Licht rückenden referentiellen Rahmen, was das Eigentlich und was das Uneigentliche am Menschsein erkennbar werden lässt. Was ist der »Tanz« und was ist der »Gang« des Menschen? Worin besteht das anzustrebende befreit-tänzerische Wesen des Menschen, in der freien Relation auf sich selbst oder auf Anderes?
V.5.2 »Welcher relationale Bezug lässt das menschliche Sein bestimmt sein?« Der grundsätzliche Unterschied zwischen Barth und Nietzsche bei der Beantwortung Frage nach dem »Wer ist der Mensch?« beginnt damit, durch welchen relationalen Bezug sich an die Bestimmung des Seins des Menschen genähert werden kann. Soll der Mensch mit Nietzsche als »Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts aufgebaut«1487 werden? Ja, sogar erst in der bewussten Abkehr von einem Ausgangspunkt menschlicher Bestrebungen in Bezug auf sich selbst genommen werden muss. 1487 Schwöbel, Gott als Gespräch, 452.
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inhaltlich zu bestimmenden Bezugsrahmen geschaffen werden können? Oder aber ist nach Barth der Mensch gerade erst in einem religiösen System im Gegenüber, in der Alterität zwischen »Ich« und »Du«, im sinnstiftenden Gespräch des Schöpfers mit seinem Geschöpf als Mensch zu bestimmen? Nietzsches Medium zum Erreichen des Übermenschen ist die Ästhetik, die Schönheit des Seins, wie Nietzsche es bereits in der »Geburt der Tragödie« andeutet: »Wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsere höchste Würde haben – denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«1488.
Übertragen auf die angedeutete Ebene des Verhältnisses von »Altem« und »Neuem« wird auch an dieser Stelle deutlich, dass Nietzsche jegliche Verbindung bzw. Rekurs seines »Neuen« auf ein allgemeines oder geschichtliches »Altes« zu kappen, bzw. deren fundamentale Diskontinuität zu profilieren sucht. Der Übermensch kommt aus den azurnen einsamen Höhen, ohne Rückgriff auf eine genealogische Geschichte, eine kulturgeschichtliche Herkunft oder eine inhaltlich festzulegende sinnstiftende Beziehung.1489 Für Barth erfährt sich der Mensch in seinem Leben als begrenzt, endlich und fehlbar und ist auf der Suche nach der Rechtfertigung seiner Selbst, in seiner Person und in seinem Handeln, und erfährt diese Rechtfertigung doch nie in sich selbst, sondern erst- und letztgültig in der relationalen Alterität, in der Dimension des Religiösen. Für Barth ist der Mensch stets ein konkretes geschichtliches Wesen mit einer Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Menschsein heißt so immer ein Mensch mit einer Geschichte zu sein, auf diese verwiesen zu sein ohne aus dieser seine letztgültige sinnstiftende Begründung zu finden. So gesehen, hat auch für Barth das »Alte« in seiner Ambivalenz keine letztgültige Wahrheit für das Sein des »Neuen«. Dieser Suche nach Letztgültigem und dieser 1488 Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, Berlin/New York 1967–77 und München 2 1988 47. 1489 Nietzsches Theorem kommt m. E. hier an eine denkerische Grenze, denn seine Konstruktion des Menschen zeigt sich genau an diesem Punkt sehr ähnlich zu der oben nachgezeichneten Mängelwesentheorie, jedoch auf einer übergeordneten Ebene, insoweit als eine narzisstisch geleitete, als dass sie eine menschlich ideelle Konstruktion mit keinerlei externe Relationalität außerhalb des denkerischen Subjekts Nietzsche ausweisen kann oder gerade will. Es kann sicherlich einen eigenen Reiz in sich bergen, einem solchen Konstrukt denkerisch nachzuspüren und in Nietzsches Anthropologie entscheidende Hinweise und Charakterzüge einer möglichen Beschreibung des Menschen zu profilieren, jedoch kommt m. E. aus den genannten Gründen eine solche Anthropologie aufgrund ihrer strukturell inhärenten Prämissen an Grenzen, die in letzter Konsequenz schlicht in der Subjektivität ihres Denkens selbst begründet liegen.
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Erfahrung der Krisis des Menschen verleiht Barth eine besondere sprachliche und denkerische Ausdrucksform, die den Menschen aus seinen azurnen Höhen der eigenen Selbstgefälligkeit und Selbstrechtfertigung stößt.1490 »Sinnet gegenseitig auf das Eine, indem ihr nicht nach den Höhen sinnt, sondern euch herabführen lasst in die Niederungen!« (Röm 12 16). »Das Christentum »sinnt nicht nach Höhen«. Es liebt es nicht, von der schöpferischen Entwicklung der Welt, von den vollendeten oder geplanten Entfaltungen und Aufbauten von Wissenschaft, Technik, Kunst, Moral oder Religion, von körperlicher und geistiger Gesundheit, von Wohlstand und Wohlfahrt, von den Herrlichkeiten […] allzu laut und zuversichtlich reden zu hören. Es wirkt nicht eben als Bestärkung in etwaigen »Idealen«, ob es nun persönliche oder kollektive, völkische oder internationale, humane oder konfessionelle, deutsche oder westliche, jugendliche oder reife, konkrete oder abstrakte Ideale seien.«1491
Nietzsche wie Barth gehen damit von Erfahrungen im menschlichen Leben aus, die ihn zu einer konstruktiven Infragestellung des Sinns und des eigenen Seins führen. Beide haben wohl selbst einen solchen Mangel im Leben nach Sinn und Ziel als existentielle Herausforderung erfahren. Nietzsche in der Überwindung eines, aufgrund der allgemeinen Relativität allen Seins drohenden Nihilismus und Barth in der existentiellen Anfechtung des menschlichen Lebens zwischen Sünde und Rechtfertigung, Leben und Tod, wie sie sich in der Gegenwart seiner Zeit manifestierte. Dabei führte für Nietzsche diese Abstraktion, dieses Hinausgreifen des Selbst über das Gegenwärtige, in letzter Konsequenz gerade zum Rückgriff auf das Eigene, das Vorfindliche, aber in sich selbst Verdeckte. Durch den im Menschen selbst angelegten »Willen-zur-Macht«, in den eigenen Vorstellungen von Wahrheit und Lüge, von Sinn und Ziel des Lebens greift der Mensch zwar in gewisser Weise über anderes hinaus, in letzter Konsequenz jedoch immer auf sich selbst zurück. Auf eine Art wirkt dieser Mensch verstrickt in einer in sich selbst gefangenen Relationalität, die sich darin zeigt, in letzter Konsequenz »Altes« von »Neuem« nur in der subjektiven Vorstellungskraft und damit willkürlich unterscheiden zu können. Positiv formuliert, bringt für Nietzsche die Alterität nur Wahrheit darüber, wie das Selbst und das Eigene im Gegensatz der Alterität profiliert werden sollte.1492 1490 Vgl. Walser, Über Rechtfertigung, 26f. »Es gibt nur einen, einen Religiösen, dem es tatsächlich gelingt, aus diesem Wettbewerb des Rechthabenmüssens auszusteigen, weil er die uralte Not, Rechtfertigung zu suchen, nicht betäuben konnte: Karl Barth. Zur Ehre der Religion sei gesagt, dass sie von Paulus über Augustinus bis zu Calvin, Luther und Karl Barth die Frage, wie ein Menschen Rechtfertigung erreiche, nie hat aussterben lassen.« 1491 Barth, RÖ II, 620f. 1492 Nietzsche schöpft m. E. die noetischen Möglichkeiten der Alterität nicht aus, sondern verharrt in seiner Sicht der grundsätzlichen Korrumpiertheit des Anderen in der Sinnund Wahrheitssuche des einzelnen Menschen. Es sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, warum Nietzsche eine derartig strukturell begründete Abneigung gegenüber der Alterität
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So gesehen, birgt nun die Einbeziehung einer religiösen Dimension als letztgültigem Ausdruck von Alterität und Sozialität Entscheidendes in sich.1493 Barth betont die transzendente Alterität als die hermeneutische Quelle der Humanität des Menschen. Gerade nur in der Alterität zu Gott, die zu einer befreienden Begegnung mit sich selbst führe, finde der Mensch zu seinem wahren Sein. Hamartiologie und Soteriologie werden so gerade nicht zum uneigentlichen, weil lediglich erdachten Zugang zum menschlichen Sein, sondern zu Schlüsseln einer wirklichkeitsgetreuen und damit validen Beschreibung einer Anthropologie in der Wirklichkeit der menschlichen Erfahrungswelt. Das menschliche Sein ist in den ambivalenten Ereignissen der eigenen Lebensgeschichte erfahrbar und bedarf daher einer Grundierung, die diese Ambivalenz durchbricht und so das eigentliche, die Wahrheit des menschlichen Seins und damit Wesens offenlegt.
V.5.3 »In welcher Rolle befindet sich der Mensch in Bezug auf die Bestimmung seines Seins?« Die Philosophie Friedrich Nietzsches und die Theologie Karl Barths versuchen gerade darin eine valide Vorstellung vom Wesen des Menschen zu bieten, indem sie an den hermeneutischen Kern des Seins des Menschen treten, von dort ausgehend die grundsätzliche Bestimmung des Menschseins klären und damit einen tiefen Einblick in die Grundüberzeugungen ihrer letztbegründenden Idee allen Seins vortragen. Für Nietzsche wie Barth ist deutlich, dass der Mensch nicht im graduellen oder strukturellen Unterschied zu anderen Lebewesen als ein Wesen des Mangels zu fassen ist, sondern entweder nach Nietzsche in seinem reinen und individuell zu gestaltenden schöpferischen »Willen-zur-Macht« oder propagierte. Ist sie biographisch zu ergründen? Hatte er Angst vor der Alterität, spiegelt sie die menschlichen Enttäuschungen seines Lebens? Warum bringt er die Alterität nur in Verbindung mit Lügenhaftem? Oder aber fehlt Nietzsche die Option der Alterität, die letztendlich in einer irgendwie gearteten Transzendenz verortet werden muss, lediglich aufgrund seines aufs äußerste gelebten Agnostizismus, pointiert in seinem Versatzstück aus der »Fröhlichen Wissenschaft«: »Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!« Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, 480f. 1493 Mit L8vinas lässt sich eine solche Überlegung womöglich widerlegen, die meint behaupten zu können, eine absolute Alterität lasse sich nur in einer religiösen Dimension postulieren. Zeigt doch er gerade auf, dass es nicht unbedingt einer transzendenten Gottesvorstellung bedarf, um seinen Begriff des Unendlichen oder der Transzendenz zu füllen. L8vinas schreibt: »Die Metaphysik oder die Transzendenz gibt sich zu erkennen an der Tätigkeit des Intellekts, den es zur Exteriotität zieht, der Begehren ist« und belässt so auf eine Art die Idee des Religiösen als Ausdruck der Transzendenz eines Unendlichen in der Immanenz. Vgl. L8vinas, Totalität und Unendlichkeit, 112. Die angelegte und genauer auszuführende Auseinandersetzung mit Nietzsche lässt sich hier lediglich anreißen.
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aber nach Barth in seiner religiösen Dimension als das Geschöpf, das ihn zur Beziehung zu anderem und anderen bestimmt sein lässt. So gesehen, wird von beiden proklamiert, dass es die Grundbestimmung des Seins in jeglichem, sich davon ableitenden Sein nachzusprechen gilt. Das Sein des Menschen wird so als stetige hermeneutische Aufgabe zwischen Verstehen und Gestalten definiert. Im Sinne Barths bedeutete dies im Blick auf den Menschen: Weil der Menschen als das Geschöpf eines in sich relationalen, personalen und gemeinschaftlichen Gottes gedacht wird, ist damit, wenn die Rede von der göttlichen Relationalität im Sinne einer auf dieses Sein verweisende Sprache ontologisch ernstgenommen wird, er selbst in dieser Entsprechung als relationales, personales und gemeinschaftliches Wesen zu profilieren.1494 Somit werden bei Barth die Lehre von der Trinität und die Anthropologie auf engste Weise aufeinander verwiesen und die Beschreibung der Humanität des Menschen nur dann konsistent, wenn sie sich ihrer ontologischen Abhängigkeit gegenüber der Gotteslehre bewusstwird. Das Subjekt der Offenbarung ist Gott selbst. Daher entspricht es Barths grundsätzlicher Einsicht, dass die Lehre von der Trinität als die grundsätzliche ontologische, epistemologische und noetische Grammatik des christlichen Glaubens verstanden wird, auf die jegliche theologische Rede vom Menschen und der Welt zurückzuführen ist. »Gott offenbart sich. Er offenbart sich durch sich selbst. Er offenbart sich selbst. Wollen wir die Offenbarung wirklich von ihrem Subjekt, von Gott her verstehen, dann müssen wir vor allem verstehen, daß dieses ihr Subjekt, Gott, der Offenbarer, identisch ist mit seinem Tun in der Offenbarung, identisch auch mit dessen Wirkung.«1495
Daher entspricht das externe Handeln Gottes seiner innerlichen Selbstbestimmung. Gottes Sein in der Trinität, als Vater, Sohn und Heiliger Geist ist der unüberbietbare Ausdruck seiner Selbstbestimmung, seines Seins in der Beziehung, das sich in seiner Erwählung des und Beziehung zum Menschen heilsgeschichtlich wiederholt. Die Relation des Vaters zum Sohn und beiden zum Geist begründet somit das Sein des Menschen ontologisch wie noetisch.1496 »Aber gerade dieses Subjektsein des Menschen im Glauben ist eingeklammert als Prädikat des Subjektes Gott, so eingeklammert wie eben der Schöpfer sein Geschöpf, 1494 Vgl. Schwöbel, Gott als Gespräch, 478. 1495 Barth, KD I/1, 312. 1496 Eine solche Sicht auf den Menschen, die diesen in der relationaler Verbindung zum trinitarisch seienden Gott begründet sieht, lässt sich jedoch nur dann beschreiben, wenn mit der im unter V.4.2 vorgestellten lutherischen nova lingua ernst gemacht wird und deren daraus folgenden Implikationen für die Begrifflichkeit der Relation im wahrsten Sinne beim Wort genommen werden. Das würde bedeuten, diese in ihrem philosophischen Hintergrund nicht länger als »externe Relationen« ohne »eigne Subsistenz« zu beschreiben, sondern ontisch »als interne und konstitutive Relationen« zu verstehen. Vgl. Schwöbel, Gott als Gespräch, 474f.
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der barmherzige Gott den sündigen Menschen umklammert, d. h. aber so, daß es bei jenem Subjektsein des Menschen bleibt, und gerade dieses, gerade das Ich des Menschen als solches, nur von dem Du des Subjektes Gott her ist.«1497
Bei Barth wird somit die Anthropologie im höchsten denkerischen Fluchtpunkt verortet, im in sich selbst kommunikativen und relationalen Wesen Gottes, was verschiedene Implikationen zur Folge hat. Barth beschreibt in seinen KD IVBänden sozusagen diese Bewegung in konkreter materialdogmatischer und anthropologischer Weise, in deren Mitte der Mensch als angesprochenes Geschöpf steht: In der Begegnung zwischen dem »Herrn als Knecht« und dem »Knecht als Herrn« erkennt die christliche Theologie daher in der Annahme der Knechtsrolle durch Gott im Menschen Jesus Christus die höchste und vollkommene Art des Menschseins. Denn in dieser Bewegung Gottes zum Menschen wird deutlich, dass Gott sich bereits in seinem innertrinitarischen Sein seit je her dazu entschlossen hat, die Sache des Menschen zu seiner eigenen zu machen. Für das Wesen des Menschen bedeutet dies, dass Barth in seiner dogmatischen Ausgestaltung die reformatorische Grundüberzeugung Luthers neu profilierte. Des Menschen befreit-tänzerisches Sein wird darin konkret, dass er zu Erfüllung seiner Bestimmung nicht länger dazu aufgerufen ist, im gemeinsamen Tun mit Gott an seiner Rechtfertigung und Verwirklichung aktiv mitzuwirken, sondern Gottes gnadenvolles Wirken, seine Erwählung des Menschen, den Rahmen für des Menschen Sein bedeutet. Die Verwirklichung dieses Rahmens als Ermöglichung und Befreiung des Menschen wird dabei in dessen Angesprochensein durch die Offenbarung Gottes gedacht. Bildlich gesprochen, steht der Mensch im Gespräch mit Gott, das Gott bereits in der trinitarischen Struktur von Vater, Sohn und Heiliger Geist in und mit sich selbst führt.1498 Damit wird das Sein des Menschen ontologisch und nicht nur akzidentell als »responsorische Existenz«1499 gekennzeichnet und zum Kern seiner Bestimmung geführt. »Diesem Bild folgend ist dann auch die menschliche Vernunft, nicht die Rationalität einer res cogitans, die im einsamen Zweifel das fundamentum inconcussum ihre Erkenntnis in der Selbstgewißheit findet und für die die Welt als res extensa nur noch durch ihre quantifizierbare Ausdehnung definiert ist.«1500
1497 Barth, KD I/1, 258. 1498 Vgl. Christoph Schwöbel, Martin Luther and the Trinity, in Oxford Research Encyclopedia, Religion, 1–31, 20f. »The way in which the signa oft he language of faith are rooted in the res of faith is ultimately grounded in the intiamte union of being and communication in God’s own communicative being.« 1499 Vgl. Schwöbel, Sprachgeschöpf Mensch, 431. 1500 Schwöbel, Sprachgeschöpf Mensch, 432f.
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Der Mensch ist in diesem Sinne für die Hermeneutik seines Seins weder selbst verantwortlich, noch in der Lage eine solche letztgültige vorzulegen, da sie ihm gandenvoll zugesprochen wird. Nietzsche hingegen beschreibt das Sein des Menschen in eine andere Richtung. Bei ihm wird das menschliche Sein, seine Relationalität zu anderem immer weiter relativiert und überwunden, bis nichts mehr bleibt, als allein sein »Willezur-Macht«, der ihn die Bestimmung seines Wesens in einer absoluten Lebensbejahung selbst definieren und schaffen lässt. Selbst im, für Nietzsche korrumpierten, Medium der allgemeinen sprachlichen Kommunikation findet sich der Mensch nur immer weiter auf sich selbst und seine Vorstellungen von sich selbst zurückgeworfen, da auf dem Weg zur Wahrheit nur ein individuellschöpferischer und kein allgemeingültiger beschritten werden könne. Metaphern und Begriffe sind abzustoßen, wenn sich in ihnen auch nur der kleinste Verdacht einer allgemeinen Erstarrung ihrer Bedeutung finden lassen könnte. Die gesellschaftlichen Sprachbilder werden daher für Nietzsche zum unüberbietbaren Ausdruck der erstarrten Vorstellung des Seins des Menschen, die es wieder zu verflüssigen gelte. Wahres Menschsein heißt für Nietzsche wohl in aller Schlichtheit, ein absolut freies, unkonventionelles und in dieser Form von fremden Einflüssen unbestechliches lebensförderndes Erschaffen zu leben. Der Mensch schafft sich die Hermeneutik seines Seins und damit seines Wesens im Sinne des immoralischen »Willens-zur-Macht« in absoluter Authentizität zu diesem selbst.
V.5.4 Nietzsches und Barths Anschlussfähigkeit an zeitgenössische Anthropologien Die Frage nach dem Sein des Menschen ist eine bis in die Gegenwart hinein virulente Frage geblieben, die aufgrund neuer und bahnbrechender wissenschaftlicher Erkenntnisse und Forschungen in der Evolutionsbiologie, Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaft sich derzeit mehr denn je in einem Wettstreit darüber befindet, auf welche Art und Weise Geisteswissenschaften zu dieser Definition des Menschen substantiell Entscheidendes beizutragen haben. Mit der Studie von Matthias Jung »Der bewusste Ausdruck: Anthropologie der Artikulation«1501 soll sich im Folgenden einer, auf der Höhe der Zeit befindenden Diskussion bezüglich einer konsistenten Anthropologie angenähert werden und nach Anknüpfungspunkten bei Nietzsche und Barth gesucht werden. Für Jung gilt es im Zusammenhang gegenwärtiger Anthropologien zwei 1501 Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck: Anthropologie der Artikulation, Berlin/New York 2009.
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grundsätzliche Einsichten im Blick zu behalten. Zum einen sei der Mensch, wie alle anderen Lebewesen, in eine evolutionäre Kontinuität eingebettet, aus der heraus seine »kulturelle Lebensform«1502 entstanden sei. Dieser Umstand hätte aber nicht zur Folge, dass das kulturbegabte Wesen Mensch erst und gerade aufgrund der Differenz zwischen seiner biologischen Natur und seiner Kulturbegabung von anderen Lebewesen zu unterscheiden sein könnte. Daher halten zeitgenössische philosophische Anthropologien fest, dass Kultur und Bewusstsein eine »interne Beziehung zum Organismus des Menschen«1503 aufweisen und es keinen fundamentalen Graben zwischen der allgemeinen biologischen Natur des Menschen und dessen Vernunft zu geben scheint. Vielmehr seien beide – Natur und Vernunft – aufeinander als eine »strukturierte Ganzheit« verwiesen und zeigen in ihrer spezifischen Verwiesenheit zueinander, die den Umgang des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt konturiert, das Spezifische am Menschen auf, welches ihn zum Menschen macht und nicht etwaige strukturell oder graduell von anderen Lebewesen sich absetzende »kommunikative oder kognitive« Fähigkeiten.1504 Jung formuliert: »Mit der Evolution der menschlichen Lebensform wird kein neues Stockwerk auf die unveränderte biologische Basis gesetzt1505, sondern das »Gebäude [wird] als Ganzes umgebaut.«1506
Dualistische, sprich die Differenz zwischen Natur und Vernunft betonende und darin das spezifisch menschliche entdeckende, wie auch reduktionistischen Herangehensweisen, die das menschliche Sein aufgrund bestimmter einzelner spezifischer Phänomene zu beschreiben versuchen, scheitern an einer adäquaten Abbildung und damit Beschreibung der Komplexität des menschlichen Seins. Daher seien auch hegemonialen Ansprüchen einzelner Wissenschaftsdisziplinen zur Beschreibung des Menschen eine klare Absage zu erteilen, da solche Herangehensweisen doch nur wieder einem dualistischen Bild des Menschen huldigen. Das menschliche Sein müsse in seiner »strukturierten Ganzheit«, in der spezifischen Verwiesenheit der menschlichen Natur und Vernunft gedacht werden, welches nur in einer fächerübergreifenden Theorie angegangen werden könne. Daher beschreibt Jung eine konsistente Anthropologie ausgehend von der menschlichen Verständlichmachung seines Seins in der leiblichen Artikulation,
1502 1503 1504 1505
Vgl. Jung, Anthropologie der Artikulation, 1. Vgl. Jung, Anthropologie der Artikulation, 1. Vgl. Jung, Anthropologie der Artikulation, 1. Solche Theoreme begründen sich in einer These (bspw. von C.P. Snow (1905–1980) so vorgetragen) des tiefen, unüberwindbaren Grabens zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen in Bezug auf das Sein des Menschen. 1506 Jung, Anthropologie der Artikulation, 1.
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die jenseits wissenschaftlicher Einzelphänomenbetrachtungen, die Komplexität des Seins des Menschen adäquat abzubilden vermag. »Wenn Menschen sich artikulieren, erzeugen sie sinnhafte Strukturen, indem sie jeweils bestimmte physische – in den basalen Formen physiologische – Muster realisieren: Der Gedanke bedarf des materiell realisierten Zeichens.«1507
In der Artikulation bediene sich der Mensch auf verschiedenen Ebenen seiner leiblichen Struktur, um Phänomene seines Seins und der sich für ihn darstellenden Wirklichkeit für sich und andere zu kommunizieren. Diese These beschreibt Jung in acht Punkten näher, die hier in der gebotenen Kürze widergegeben werden sollen. (1.) »Artikulation erzeugt symbolische Prägnanz.«1508 Da der Mensch sich artikuliere, erzeuge er in dieser Artikulation stets »eine symbolisch prägnante Umwelt«, die in sich die »innere Verbindung des Sinnlichen mit dem Sinnhaften« verbinde.1509 (2.) »Der Begriff der Artikulation verschiebt den Fokus von einem abbildrealistischen Modell der Weltbeziehung zur Vorstellung eines Wechselverhältnisses zwischen den kreativ-erschließenden Ausdrucksleistungen einer- und der Eigenstruktur der Wirklichkeit andererseits.«1510 Es sei »die anthropologische Grundtatsache, dass unsere mentalen Zustände nur durch die bewusste Erzeugung physisch verkörperter Zeichenketten in ihrem Gehalt bestimmbar und (inter-)subjektiv verfügbar werden.«1511 Jung betont damit, dass es in der Wechselbeziehung zwischen heterogen-pluralistischen Gesellschaften und der Autonomie des Individuums eminent wichtig sei, dass Menschen sich auch in ihren je eigenen »persönlichen und historischen Erfahrungen«, und damit auch in ihrer Moral, einander verständlich machen können. Denn nur was expressiv artikuliert wird, kann einem Gegenüber verständlich gemacht werden. (3.) »Expressivität ist Kommunikation. […] Sich artikulieren kann nur eine Person, die Teilnehmerin einer sozialen Lebensform ist und in dieser als Produzentin und Adressatin von kommunikativen Akten die Fähigkeit erworben hat, ihre eigene Perspektive von der anderer zu unterscheiden.«1512 Diese eigene Perspektive erweise sich in der »Positionalität« des Menschen, die ihm dazu verhelfe, Dinge im Modus der Sprache in der Beziehung und damit auch in der Distanz zu sich selbst zu verorten. Nach Jung beziehen sich diese ersten drei Punkte auf die philosophisch betrachtet »invarianten, universalen Strukturmerkmalen der menschlichen Lebensform«1513. 1507 1508 1509 1510 1511 1512 1513
Jung, Anthropologie der Artikulation, 13. Jung, Anthropologie der Artikulation, 13. Jung, Anthropologie der Artikulation, 13. Jung, Anthropologie der Artikulation, 14. Jung, Anthropologie der Artikulation, 15. Jung, Anthropologie der Artikulation, 16. Jung, Anthropologie der Artikulation, 16.
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(4.) Die Dimension des Performativen im Sprechakt selbst nimmt dahingegen nun die historische kontingente Entwicklung und Bedingtheit menschlicher Artikulation in den Blick. Denn Sprache ist nie nur starres Nachsprechen ewiger Begriffswahrheiten, sondern ein kreativer Ausdruck im Akt des Gebrauches von Sprache. Sprache und Handlungen, sprich die expressive Artikulation des Menschen, entwickeln sich stets fort. (5.) Menschliche Ausdrucksweisen versuchen eine strukturierte Gliederung vorzulegen und eine solche auch in der aus (4.) abgeleiteten historischen Kontingenz variabel und gleichzeitig regelgeleitet zu erzeugen. »Sprachlicher Sinn entsteht also Schritt für Schritt in der Zeit und hat die Form eines Darlegens und strukturierenden Auseinanderlegens. Artikulation ist demnach auch ein Gegenbegriff zu intuitionistischen Konzeptionen, die sich das Erfassen von Bedeutungen nach dem Modell einer Art inneren Schau von Gehalten vorstellen.«1514
Daraus folgt (6.), dass, »wenn Sprachen empirisch und begrifflich durch doppelte Artikulation einer physischen und sinnhaften Gliederung, also durch spezifische materielle Sinnverkörperungen bestimmt sind, liegt es beispielsweise nahe, auch das Verhältnis von Bewusstsein und Sprache verkörperungstheoretisch zu bestimmen.«1515 (7.) Diese in (6.) materiell an die Leiblichkeit des Menschen gebunden bestimmte Artikulation setze sich auch in der leiblich-motorischen Dimension der Phonetik in der Sprache fort, welche »demnach primär motorische und erst sekundär lautliche Gliederung« sei.1516 Sprachliche Begriffe und deren leibliche Ausdrucksweise sind in ihrer Artikulation und Auslegung also aufeinander zu beziehen (8.) Daraus folgt als die These des menschlichen am Menschen: »Spezifisch menschlich an uns ist nicht nur der Gebrauch von normativ strukturierten und syntaktisch verketteten Symbolen, spezifisch menschlich sind eben auch alle Ausdrucksweisen und Verhaltensformen, die wir zwar mit anderen Lebewesen teilen, die aber durch unseren Status als Symbolverwender in eine neue Beleuchtung gesetzt werden.«1517
Nach Jung unterscheidet sich der Mensch als nicht von anderen Lebewesen, wo er auf dieselben und allgemeinen Funktionen und biologischen »Verkörperungen« des Lebendigen zurückgreift, sondern er unterscheidet sich gattungsbildend in deren Gebrauch, wenn er »zur logischen Klärung von Geltungsan-
1514 1515 1516 1517
Jung, Anthropologie der Artikulation, 17. Jung, Anthropologie der Artikulation, 18. Vgl. Jung, Anthropologie der Artikulation, 18f. Jung, Anthropologie der Artikulation, 19.
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sprüchen, die leibliche Existenz der Gesprächspartner« in ihrer eigenen Leiblichkeit voraussetzt.1518 »Für weite Teile der philosophischen Tradition war die Vorstellung maßgeblich, der Gebrauch von Zeichen diene der nachträglichen Kommunikation von zeichenunabhängigen Gedanken, weshalb auch die Art und Weise der Artikulation sekundär gegenüber der eigentlichen Idee – dem Begriff einer Sache – sein sollte.«1519
In diesem Sinne erweisen sich Nietzsche und Barth in ihrer jeweiligen Hermeneutik des Humanen jenseits dieser früheren philosophischen Tradition und damit konkret anschlussfähig für gegenwärtige anthropologische Theoreme, wie sie Jung beschreibt. Denn auch Nietzsche und Barth verabschieden in ihren Werken den Dualismus von Natur und Vernunft als gattungsbildendes Element des menschlichen Seins und versuchen eine darin angelegte Aufsplitterung der menschlichen Bestimmung in einzeln zu bestimmende Fähigkeiten und Veranlagungen zu überwinden. Vielmehr ist der Mensch da ganz bei sich selbst, wo er in der konkreten Ausgestaltung seines Lebens von seiner Bestimmung her durchsichtig wird. Denn die Artikulation des Menschseins entspricht nur dann ihrer wahren Bestimmung, wenn sie in direkter Verbindung zu seinem ontologischen Grund steht. Sozusagen dann, wenn in der Verkörperung der Humanität, deren zugrundeliegende Hermeneutik des menschlichen Seins deutlich wird. Somit lässt sich ausgehend von beidem, von der Sache auf den Begriff, vom Begriff auf die Sache, von der menschlichen Artikulation auf die zugrundeliegende Letztbegründung, von der zugrundeliegenden Letztbegründung auf die menschliche Artikulation schließen. Vom Ontischen auf die Ontologie und von der Ontologie auf das Ontische. Nietzsches Hermeneutik des Humanen, sein Übermensch ist wohl genau jene leibliche Verkörperung und Artikulation des Eigentlichen in all seinen menschlichen Vollzügen. Der Mensch verkörpert und artikuliert sich entsprechend seiner selbst geschaffenen Hermeneutik authentisch selbst. Auch für Barth verkörpert und artikuliert sich der Mensch nur dann seinem menschlichen Sein entsprechend, wenn der Mensch in direkter Verbindung zu diesem, ihn bestimmenden Sein steht. Diesem Sein entsprechend artikuliert sich der Mensch in seiner Humanität nach außen, jedoch anders als Nietzsche, nicht in einer reinen Selbstsetzung und Absetzung, sondern mit dem Anspruch, mit anderen für sich und andere sinnstiftend human zu sein. Jedoch muss sich für Nietzsche wie Barth, der Mensch über seine eigene Hermeneutik zunächst durchsichtig werden und sich von einer menschlich konstruierten Verschleierung derselben lossagen. 1518 Vgl. Jung, Anthropologie der Artikulation, 19. 1519 Jung, Anthropologie der Artikulation, 22.
VI.
Abschließende Betrachtungen
In diesem abschließenden Kapitel steht nun das Vorhaben an, ein Fazit des Erarbeiteten zu ziehen und den Ansatz einer Systematisierung von Barths Nietzsche-Rezeption zu beschreiben. Gerahmt werden soll dieses Fazit mit dem Versuch, das Anliegen dieser Studie für eine zukünftige und weiterführende Beschäftigung mit Barth und Nietzsche in der Bezogenheit aufeinander hervorzuheben. Denn gerade in einer solchen Lektüre kann das letztbegründende theologische wie philosophische Fundament, und die sich jeweils daraus ergebende Hermeneutik des Seins und seiner Bestimmung, bei Barth und Nietzsche profiliert werden.
VI.1 Rückblick In der Auseinandersetzung der theologischen Zunft mit Nietzsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Speziellen die Verbindung mit der krisenhaften Wahrnehmung der eigenen Gegenwart deutlich. Das beginnende 20. Jahrhundert war eine Zeit des Aufbruchs, der Veränderung und der Unsicherheit. Eine Zeit des Übergangs zwischen »Altem« und »Neuem« und einer fraglich gewordenen wechselseitigen Verhältnissetzung beider. In welcher Weise kann sich die Gegenwart für das Verständnis und die Bestimmung ihrer selbst auf Vergangenes und Zukünftiges beziehen? Tillich und wohl v. a. Troeltsch erkoren diese komplexe Verhältnissetzung und Bestimmung der Gegenwart zum signum ihrer Zeit und wiesen dem Werk Nietzsches entscheidende Pointen in der Beschäftigung mit dieser Problemstellung zu. Zugespitzt zeigt die Moderne als selbstreflexives Charakteristikum ihrer selbst, einen allgemeinen und unaufhaltsamen um sich greifenden Relativismus, der die bis dato als unhintergehbar und allgemeingültig geltende Wert-, Norm-, und Wahrheitsansprüche ihrer Absolutheit beraubte. Alles wurde verhandelbar und fraglich, nichts mehr an sich gesetzt und in der Krise des Historismus auch nicht länger durch eine rein geschichtliche Exegese und Genealogie bestimmbar. Die
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Gestaltung der Gegenwart galt es daher individuell neu anzugehen und eine inhaltliche Bezugsgröße des »Neuen« zu extrapolieren, die sich jenseits der Kontingenz geschichtlicher Genesen zeigt und das Werden in übergeschichtlichen und damit zeitlosen ideellen Kategorien bestimmbar werden lässt. Eingezeichnet war diese kritische Zeit des Neuaufbruchs auf politisch-gesellschaftlicher Ebene in einen restaurativ-nationalen monarchischen Imperialismus im Gegenüber zu ersten unsicheren demokratischen Gehversuchen einer Weimarer Republik, im musisch-künstlerischen Bereich durch eine künstlerische Avantgarde, die, gezeichnet und traumatisiert durch ihre Erlebnisse im I. Weltkrieg, grundsätzliche Fragen zur Bestimmung und Hermeneutik der eigenen Gegenwart stellte. Die Gefahr, dass sich ein bahnbrechender absoluter Relativismus aufgrund der Krisis zu einem anarchischen Nihilismus hätte entwickeln können, stand dabei als die große Gefahr über dem gesellschaftlichen Diskurs, dessen Verhinderung als eine zentrale gestalterische Aufgabe der damaligen Gegenwart wahrgenommen wurde. Deutlich wurde, dass diese gestaltungstheoretische Problematik der Jahrhundertwende in theologischer Spielart sich in der fraglich gewordenen Verhältnissetzung von Glaube und Geschichte Bahn brach. In welcher Weise können bedingte und relative geschichtliche Ereignisse, wie sie die Evangelien berichten und damit Teil der kirchlichen Verkündigung sind, existentielle Auswirkungen auf die Begründung und Bestimmung des menschlichen Seins haben? In der theologischen Zunft kam es daher zur Auseinandersetzung darüber, auf welche Art die historisch-geschichtliche Existenz Jesu und dessen messianisches Wirken für das individuelle religiöse Erlebnis des Einzelnen zu beurteilen sind. Nietzsche verkörperte für viele diese mit der Moderne verknüpfte Suche nach Sinn und Wahrheit in sich fundamental verändernden Zeiten mit offenem Ausgang. Er führte auf diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund sowohl die evangelische Theologie im Speziellen, wie die gesellschaftspolitische Debattenkultur im Allgemeinen mit seinem Werk, und den in ihnen angelegten kritischen Anfragen zur Begründung von Wahrheit und Moral, an die neuralgischen Punkte der Legitimität eigener Überzeugung und bewies in seinen Gedanken zur Relativität aller Norm und Wahrheit, die Wichtigkeit der Aufgabe einer Begründung derselben. Unterschiedlich wurde aus evangelisch-theologischer Sicht dabei die Schwere seiner Dekonstruktion des Vorfindlichen und seines damit einhergehenden Angriffes auf das Christentum gewertet. Traf sie auch den Kern und damit die eigentliche Wahrheit des christlichen Glaubens oder doch nur deren zeithistorisch bedingten irrgeleiteten Ausläufer, die dank der Pointierung Nietzsches, gerade auch im Eigeninteresse der theologischen Zunft, angegangen werden konnten? Und trug Nietzsche neben seiner besonderen Veranlagung zu pointierten Beschreibung des Krisenhaften auch tragfähige Gedanken zu deren Überwindung und Zukunftsgestaltung vor?
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Karl Barth war während der Veröffentlichungen seiner Römerbrief-Auflagen als Gemeindepfarrer sehr stark von der ihn umgebenden zeitgeschichtlichen Wirklichkeit beeinflusst. Mit ihren spezifischen Herausforderungen veranlasste sie ihn dazu, nach einem haltgebenden Fundament inmitten der Umwälzungen und Erschütterungen seiner Zeit zu suchen und in der grundsätzlichen Krisis der menschlichen Existenz zwischen Leben und Tod nach sinnstiftenden Antworten zu fahnden. Mit seinem theologischen Denken stellte er, angestachelt durch die Entwicklungen in Theologie und Gesellschaft, die Tragfähigkeit einer bis dato geltenden theologischen Strömung in Frage und bescheinigte der theologischen Zunft eine gefährliche Sprachlosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungen und Fragestellungen, die unter anderem zu kriegerischem Nationalismus, sozialer Ungerechtigkeit und einer menschenfeindlichen Ideologie führten. In dieser Suche, die ihren Wendepunkt in der Zeit seines Safenwiler Pfarramts fand, bediente er sich verschiedener Quellen und Autoren und ihren Antwortversuchen zwischen liberaler Theologie, einem religiösen Sozialismus und der Bibelauslegung pietistischer Zirkel. Am Ende seiner Suche führte ihn sein Weg zurück zur biblischen Überlieferung, zum Römerbrief des Paulus. Die Theologie des biblischen Zeugnisses wurde zum Ausgangspunkt seines theologischen Denkens, das er mit anderen Denkern und philosophischen Systemen ins Gespräch brachte und die christliche Kernbotschaft als überzeitliche und jenseitige Wahrheit der existentiellen Letztbegründung zu profilieren suchte. Nietzsche war für ihn zu diesem Zeitpunkt neben anderen einer der Autoren, mit deren literarisch-philosophischen Hilfe das Eigentliche des Evangeliums in seiner Überzeitlichkeit profiliert werden konnte. Besonders Nietzsches Historismuskritik, kondensiert in der Frage nach dem existentiellen Wert historischer Betrachtungen für das Individuum in dessen Sinnsuche, wurde für Barth ein willkommener Compagnon in seiner Unternehmung, die befreiende Strahlkraft des Evangeliums neuerlich herauszustreichen. Daneben und damit verbunden bildete für Barth der Verweis auf Nietzsches Person und Werk, als der stilisierte Kumulationspunkt kruder Allmachtsphantasien des Menschen in seiner Sündhaftigkeit höchst willkommene Versatzstücke, um den dialektischen Ansatz seiner Theologie zu profilieren. Barth selbst lernte Nietzsche dabei wohl, wie es die brieflichen Zeugnisse nahelegen, erst durch den beschriebenen Umstand kennen, dass andere, namentlich sein enger Freund Thurneysen und verschiedene Begegnungen auf einer intellektuell anregenden Reise nach Deutschland, in Nietzsche den definitorischen Inbegriff eines zeitgenössischen rumorenden gesellschaftlichen Zustandes entdeckten. Dabei wurde auffällig, dass sich Barth mit seinem in den Römerbriefkommentar dargelegten Versuch der neuerlichen Zentrierung auf den Ursprung des Christlichen, der Vitalität und Orientierung symbolisiert und gerade darin zu einer Überwindung der theologischen Sprachlosigkeit anleitete,
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einem Unterfangen anschloss, das auch von anderen intellektuellen Zeitgenossen angegangen wurde. Dieser vitalisierende Ursprung wurde von Barth im, den Menschen existentiell ansprechenden Wort Gottes profiliert und damit die biblische Überlieferung einer lediglich historisierenden Betrachtungsweise enthoben. Somit wurde von Barth nicht in der reinen geschichtlichen Sicht auf das Urchristentum und seines Wesens dessen existentielles Gestaltungspotential entdeckt, sondern gerade im übergeschichtlichen Blick auf den Urgrund des Christentums und seines das menschliche Schicksal verändernden Ereignisses, das Barth als die Selbstoffenbarung der Souveränität Gottes interpretierte und im Ereignis der Auferstehung Jesu von den Toten als Urgrund des christlichen Selbstbewusstseins beschreiben konnte. Dass dieser Ursprungsgedanke nicht mur lediglich als eine theologisch valide Kategorie aufzufassen ist, sondern auch als eine philosophische, zeigte sich anhand der philosophischen Auseinandersetzung Barths mit seinem Bruder Heinrich Barth und des Neukantianismus bezüglich einer philosophischen Ursprungsdimension während der RÖ-Auflagen.1520 Wie angedeutet, war Barth unter seinen Zeitgenossen in diesem Ansinnen nicht alleine. Es finden sich zahlreiche andere Versuche, den Menschen und sein Verhältnis zum Glauben und zu Gott in der Moderne neu auszubuchstabieren. In diesem Vorhaben griffen diese einerseits in einer wirkungsästhetischen Art und Weise auf Nietzsche zurück, da sie in ihm einen Gewährsmann für die Krise des Religiösen in der Moderne und deren Überwindung entdeckten und andererseits suchten sie den schöpferisch-gestalterischen Ursprung zur Bestimmung des menschlichen Seins zu profilieren. Es herrschte die Hoffnung, in der Dekonstruktion des Vorfindlichen als einer bloßen Karikatur des Eigentlichen, sich durch die Besinnung auf einen letztbegründenden Ursprung, dessen Vitalität und Kraft lebenspraktisch nutzbar machen zu können, um somit die zeitgenössische Krisis im Blick auf das menschliche Sein zu überwinden. In den Jahren der professoralen Tätigkeit festigte Barth sein theologisches Konstrukt, wobei im Besonderen auf seine zuerst eher historisch-dogmatischen Arbeiten und den damit zusammenhängenden Forschungen verwiesen wurde, die schließlich über verschiedene Etappen zu seinem eigenen dogmatischen Entwurf, der »Kirchlichen Dogmatik« führten. In der Rezeption Nietzsches in der KD verdeutlichte sich dabei zweierlei. Zum einen, dass sich Nietzsche über die vordergründige Rolle eines prägnanten Stichwortgebers und Verdeutlichers 1520 Und auch Nietzsche beweist in seinem Sinne die Validität der Ursprungskategorie, wenn er in seinem Werk und Denken davon angetrieben war, ab ovo und damit von einem reinen, weil unverfälschten Ursprung ausgehend, die Bestimmung des Seins postulieren zu wollen. Von dort aus konnten dann für Nietzsche auch die zeitgenössischen Unwahrheiten und Lügen dekonstruiert und so der Menschen in seiner Sicht auf die Wirklichkeit neu ausgerichtet werden.
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eigener Gedanken emanzipieren konnte und andererseits, wie es v. a. im Petitdruck der KD III/2 deutlich wurde, Barth in Nietzsches Werk den Inbegriff des sündhaften, in sich selbst verkehrten Menschen entdeckte, wie er in der Sicht Barths seit Beginn der europäischen Renaissance in den geistesgeschichtlichen und theologischen Entwicklungen angelegt war.1521 Nietzsche war nun nicht mehr nur ein illustrer philosophischer Gewährsmann unter anderen, sondern verkörperte für Barth in seinem Werk und Wesen den Endpunkt einer fatalen geistesgeschichtlichen Entwicklung, der es im Sinne einer gegenwartsrelevanten kirchlichen Verkündigung zu begegnen galt. Denn in Nietzsches Sicht des Menschen, in seinem absolut ungehemmten »Willen-zur-Macht«, in seiner symbolträchtigen Figur des Übermenschen dürfe der Mensch losgelöst von allen ihn haltenden und sinnstiftenden Begrenzungen auftreten und wüten. Nietzsche führte für Barth an dieser Stelle einmalig vor Augen, wohin eine fehlgeleitete Sicht auf das Sein des Menschen in seiner letzten Konsequenz führt. Nämlich gerade nicht zum wahren Menschen, sondern zu dessen absoluter sündhaftlügenhaften Verkehrung: Dem Menschen unter der Sünde, der aus sich heraus vollkommen hilflos ist, der Macht und dem Wirkbereich der Sünde zu entkommen. Christliche Theologie muss sich aus Barths Sicht diesem ungezügelt auf den Plan tretenden Menschen nicht nur entgegenstellen, sondern in der anthropologischen Beschreibung Nietzsches den provozierend-irritierenden Gegenentwurf einer christlich-anthropologischen Sicht auf den Menschen erkennen.1522 Im Fortgang wurde daher versucht, die auslegten Fäden zusammenzulegen und Barth und Nietzsche unter einem Oberbegriff der Humanität, dem Sein des Menschen in seinen Möglichkeiten und Begrenztheiten und damit angelegten Problemkreisen, miteinander ins Gespräch zu bringen. In dieser sachorientierten Verhältnissetzung wurden die jeweiligen Implikationen ihrer Denkweisen für eine in der Gegenwart weiterzuführende wirkungsästhetische Rezeption Nietzsches und Barths offengelegt. Barth wie Nietzsche verbindet die Fragestellung nach einer letztgültigen Begründung des Werdens miteinander, die sie anhand einer spezifischen Betrachtung der Humanität des Menschen angehen und zu beschreiben versuchen:
1521 Diese Sicht auf Nietzsche und dessen Zugang zur Beschreibung des Menschen ist wohl auch schon in dieser Form im RÖ angelegt, wird dort jedoch noch nicht literarisch von Barth explizit ausgeführt. 1522 Inwieweit in dieser Sicht Barths auf den in Nietzsches Werk frei wütenden und an sich selbst krankenden Menschen auch seine Erfahrungen zweier Weltkriege und einer nationalsozialistischen Rassenideologie hineingespielt haben könnte, kann hier lediglich vorsichtig zur Disposition gestellt werden. Vgl. Barth, KD III/2, 281f.
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Was ist das Wesen des Seins? Aus was welcher Ursprungsrelationalität speist dieses Sein seine vitalisierenden Kräfte, die den Menschen entwickeln und im Sinne seiner Bestimmung selbst überwinden lassen?
Von welcher Art der Rezeption Nietzsches ist also nun am Ende dieser Untersuchung bei Barth auszugehen? Zuerst kann wohl festgehalten werden, dass sich Barths Nietzsche-Rezeption im Laufe seines Lebens zwischen RÖ I und der KD nicht in ihrer Grundintention verändert, sondern vielmehr festigt und zunehmend inhaltlich fokussiert. Wo Nietzsche zu Beginn der Rezeption bei Barth vermeintlich noch leidglich ein philosophischer und radikaler sprachlicher Stichwortgeber zu sein scheint, dessen Sprachduktus für Barth eine besondere argumentative Potenz in sich birgt, entwickelt er sich im Laufe der Auseinandersetzung zunehmend zum unüberbietbaren geistesgeschichtlichen Abbild des antireligiösen ideellen Erbes in der Moderne. Es ist damit wohl davon auszugehen, dass Barth Nietzsche aufmerksam studiert hat und dabei in der Auseinandersetzung mit ihm weitgehendst auf die von Köster beschriebenen gängigen Begegnungsstrategien von Verharmlosung oder einer unterstellten, im Innern Nietzsches verborgenen, Gottessuche verzichtete, sondern Nietzsche im Verständnis seiner selbst als radikalen Zerstörer und revolutionären Künder des Neuen respektierte, um ihn gerade aus theologischer Sicht in diesem Selbstverständnis zu kritisieren und mit den Aporien seines Denkens zu konfrontieren, wie es im Speziellen der Petitdruck in der KD III/2 beweist. Beides, der potente und anziehende Sprachduktus Nietzsches und Nietzsche als der inhaltliche und theologische Antipode in seiner Personifikation des geistesgeschichtlichen Erbes eines atheistisch narzisstisch um sich selbst kreisenden Menschen, konturieren die barth’sche Nietzsche-Rezeption bleibend. In einer spezifischeren Annäherung an die wirkungsästhetischen Dimensionen der Rezeption Nietzsches im Denken Barths ist wohl mindestens dreierlei zu beachten. Zuerst, Barth liest als Theologe die Philosophie Nietzsches, was bedeutet, dass er Nietzsche stets in diesem theologischen Kontext zu lesen und zu interpretieren scheint. Ausgehend von den Belegen der schriftlichen Rezeption in den Werken Barths ist dort von einer Art Selbstvergewisserung des theologischen Denkens im Rekurs auf Nietzsche auszugehen, wo Barth Nietzsches philosophisches Denken als geistesgeschichtliches System eines gefährlichen Narzissmus zu Ende denkt und deutlich machen kann, in welchen Irrungen und Aporien in Bezug auf das Sein des Menschen sich eine solche Theorie bewegt. Von dort aus führt Barth die Rezeption Nietzsches zweitens wirkungsästhetisch weiter, sodass er seine eigene Theologie in der Auseinandersetzung mit Nietzsche profilieren und systematisieren kann, was an den Bezugnahmen auf Nietzsche, v. a. in den Bänden der KD deutlich wird. Gleichzeitig ist Nietzsche jedoch drittens nicht in erster Linie der wirkursächliche Auslöser des theolo-
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gischen Programms Barths, sondern wohl eher in der Rolle des philosophischen Künders einer kritischen Gegenwartshermeneutik für Barth zu sehen. Denn der Krisis sah sich Barth bereits vor der Lektüre Nietzsches gegenüber, fand jedoch in Nietzsche ein aussagekräftiges und sprachgewaltiges philosophisches Interpretationsmuster für die Fragestellungen der Moderne, das er im Sinne einer provozierenden Irritation wirkungsästhetisch dahingehend für seine Zwecke nutzte, seine Theologie in Kongruenz und Gegensatz zu den philosophischen Anstrengungen Nietzsches genauer und spezifischer auszubreiten. »[Z]ur christlichen Humanität […] [hat Nietzsche] ebenso entschlossen und leidenschaftlich Nein gesagt, Nein sagen müssen. [Und] wir unsererseits, ruhiger als er, aber mit der gleichen Entschiedenheit zu jener von ihm exemplarisch vertretenen Konzeption der Humanität Nein sagen müssen.«1523
Aufgrund dieses Zitates wird besonders deutlich, in welcher FaÅon Barth Nietzsches Angriff auf das Christentum wahrgenommen zu haben scheint. Weder als ein fremdes und unsachgemäßes philosophisches Korsett, in das sich aufgrund der absoluten Fremdheit keine theologischen Antworten einfügen lassen und somit unbeantwortet, weil ungerechtfertigt oder unverstanden ad acta gelegt werden könnte. Noch als diejenige Kritik, die das Christentum in seinen Grundfesten zum Einsturz bringen könnte und daher in aller Härte und Entschiedenheit des Evangeliums beantwortet werden müsste, um dem gefährlichen Treiben des Antichristen Nietzsche Einhalt zu gebieten, bevor womöglich eine ganze Gesellschaft und ihre Jugend1524 vom Glauben abzufallen drohe. Nietzsches Philosophie wurde wohl eher von Barth als ein irritierender, weil durcheinanderwirbelnder Möglichkeitsraum interpretiert, in dem sich Theologie in Bezug auf Nietzsches Kritik verändert wiederfinden und in der eigenen Gegenwart neuerlich fortdenken konnte, ohne dabei am Ende ihrer Überlegungen eine der Philosophie kongruente Antwort bieten zu müssen. Nietzsches atheistische Philosophie und Auseinandersetzung mit dem Christentum hat für Barth also eine überaus positive und irritierende Strahlkraft. Die Wirklichkeit ist die gemeinsame Aufgabe der Philosophie und Theologie, wie es Barth an verschiedenen Stellen deutlich zu machen versuchte. »Gott offenbart sich als der Herr«1525 ist wohl als der Zentralsatz der barth’schen Theologie zu interpretieren. Denn Gott ist als der sich offenbarende Ursprung und Bestimmung des Seins in »unzerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein«1526. Oder anders ausgedrückt: Gott ist als 1523 Barth, KD III/2, 276f. 1524 Diese Angst wurde von Nitzsch in seiner Auseinandersetzung und kritischen Beurteilung Nietzsches so ausgesprochen. Siehe II.2.4.1. 1525 Barth, KD I/1, 323. 1526 Entgegen anderslautender Meinungen ist es daher abzulehnen, die »Gnade« als den
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der Ursprung allen Seins dessen Bestimmung und Ziel. Zum Verständnis eines philosophisch konsistenten Ursprungsgedankens verhilft Barth wohl in erster Linie die Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus und im speziellen, die über einige Jahre sich hinstreckende Arbeitsgemeinschaft mit seinem Bruder Heinrich Barth. Diese Beschäftigung führt Barth am Beginn seiner Auseinandersetzungen zu einem tragfähigen philosophischen Interpretament des Ursprungsgedankens, das er zu einem theologisch verantwortlichen Gebrauch einer Beschreibung der absoluten und damit für alles andere grundlegenden Souveränität Gottes nutzen kann.1527 Im Römerbriefkommentar konnte dabei noch der Versuch festgestellt werden, Philosophie und Theologie anhand eines Ursprungsgedankens in einer grundsätzlichen Kongruenz der entscheidenden Implikationen ihres Wirklichkeitsverständnisses zueinander zu zeichnen. In späteren Jahren kommt Barth von diesem Vorhaben ab, wohl u. a. in der kritischen Betrachtung seiner früheren Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus und dem Unterschied einer theologischen und philosophischen Annäherung an eine valide Wirklichkeitsbeschreibung, wie es sein Vortrag »Idee und Schicksal« belegte. Philosophie und Theologie sind darin aufeinander bezogen und dennoch verschieden, wo sie von kategorial verschiedenen Verständnissen einer Letztbegründung ausgehen und strukturell darin miteinander verbunden, eine solche überhaupt vorlegen zu wollen. Hinter der oft nur skizzenhaften vorgetragenen Rezeption Nietzsches im Werk Barths lässt sich damit bei Barth mit einiger Sicherheit von einer systematisch sehr durchdachten Interpretation und Elementarisierung der Gedanken Zentralbegriff der Theologie Barths zu postulieren. Denn Offenbarung bedeutet in erster Linie für Barth die Offenbarung einer Herrschaft, wobei Herrschaft im Sinne Gottes Freiheit bedeutet, die auch seinem Werk und seinem Tun, das wiederum als Gnade zu beschrieben ist, zugrunde liegt. (Vgl. Barth, KD I/1, 311) Bei Barth wird das Christusgeschehen an Ostern als Offenbarung Gottes für den Menschen zu diesem ereignishaften Ausgangspunkt einer erkenntnisreichen Ursprungserfahrung der göttlichen Selbstoffenbarung, in welcher der Mensch von seiner Erwählung und Rechtfertigung am Kreuz durch Gott erfährt. 1527 Besonders einsichtig wird diese Sichtweise Barths in seinem als »Tambacher Rede« berühmt gewordenen Vortrag »Der Christ in der Gesellschaft« vom September 1919 und damit in den Jahren zwischen 1. und 2. Auflage seines RÖ-Kommentars. In diesem Vortrag entwirft Barth das Bild eines christlichen Wirklichkeitsverständnisses, welches sich in seinem Handeln, Sollen und Sein aus Gott speist und damit alle menschlichen Handlungen und Bewertungen der Wirklichkeit durchdringt und im Verständnis, aus der Not hin zur Hoffnung zu gelangen, angeleitet wird: »Die Bewegung, die sozusagen senkrecht von oben her durch alle diese Bewegungen hindurchgeht, als ihr verborgener transzendenter Sinn und Motor, die Bewegung, die nicht im Raum, in der Zeit, in der Kontingenz der Dinge ihren Ursprung und ihr Ziel hat[…] ich meine die Bewegung der Gottesgeschichte«. Gott als der Ursprung aller Dinge wird in der Kraft der Auferstehung für den Menschen erfahrbar und deutbar. Vgl. Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921 (Gesamtausgabe, Abt. II), Zürich 2012, 546–598, 564.
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Nietzsches ausgehen, die in dieser Studie nachgezeichnet wurde. Diese Einsicht lässt Barths gesamte Theologie nochmals vor dem Hintergrund der speziellen Charakteristika der Moderne und im Gegensatz zu einer dieser entsprechenden atheistisch-agnostischen Weltanschauung und ihrer Antwortversuche an Kontur gewinnen. So gesehen, bringt die Auseinandersetzung Barths mit der Philosophie Nietzsches in der Weise Entscheidendes mit sich, als dass diese als ein Versuch aufzufassen ist, ein in sich konsistentes System einer Weltanschauung über den spezifischen Sinn, das Woher und das Wohin des Lebens, vorzulegen. Es ist wohl diese Sicht auf die Philosophie, die Barth als hermeneutischen Schlüssel auf Nietzsche anwendet, ihn in diesem Verständnis als Philosophen rezipieren, sich inhaltlich mit ihm auseinandersetzen und auch positiv-kritisch in die eigene theologische Weiterarbeit integrieren lässt. Das Anliegen der Studie liegt also darin, Nietzsche wie Barth aufgrund einer ihnen beiden zugrundeliegenden Fragestellung nach der Letztbegründung des Seins für eine Lebensgestaltung zu lesen, von dort Barths Nietzsche-Rezeption zu bemessen und Barths Theologie an Kontur gewinnen lassen. Dieser konturierende Ausblick soll im Folgenden in einer skizzenhaften Annäherung angedeutet werden.
VI.2 »Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflich mache«1528 »Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste, und treibt mich unausbleiblich zu der Meinung von der Unseligkeit alles Seyns, einer Meinung, die in so vielen schmerzlichen Lauten aus alter und neuer Zeit sich kundgegeben. Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist er nicht nichts?«1529
Mit den Worten Schellings zeigt sich die letztendlich entscheidende und alles andere bündelnde Fragestellung der Philosophie und Theologie darin, genau danach zu fragen und sich in Antworten zu versuchen, was die Welt als den räumlich-zeitlichen Lebensraum des Menschen in seiner geschichtlichen Kontingenz zusammenhält und bestimmt sein lässt. »Was macht die Welt begreiflich?« Ist es die Welt selbst in ihren naturgesetzlichen Abläufen oder aber ist es eine metaphysische Größe, die die Letztbegründung des Seins garantiert? Das Schema von Gott – Mensch – Welt beschreibt die grundsätzliche Möglichkeit einer Verhältnissetzung in Abhängigkeit und Bezogenheit, aus der 1528 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophie der Offenbarung, in Sämmtliche Werke Abt. 2 Bd. 3, Stuttgart 1858, 7. 1529 Schelling, Philosophie der Offenbarung, 7.
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heraus eine Theorie des Seins entworfen werden kann.1530 Gott – Mensch – Welt stehen dabei für Chiffren, die auch durch äquivalente Begriffe ersetzt werden können, wie Das Ewige – Das Individuelle – Das Allgemeine oder aber vielleicht in seiner allgemeinsten Form durch Urgrund – Mensch – Natur. Nietzsche und Barth gehen beide davon aus, dass in der dualistischen Verhältnissetzung von Mensch und Welt noch keine letztgültige Theorie entworfen werden kann, um das Ganze des Seins zu beschreiben, da sie die grundsätzliche Ambivalenz des menschlichen Seins und Erkenntnis noch nicht zu durchbrechen vermag. Es bedarf vielmehr einer dritten Bezugsgröße, die in der Beziehung auf sie zu den letztgültigen Antworten auf das Sein, den Mensch und dessen Verhältnis zu Welt anleiten kann. Insofern bildet die Betrachtung des Menschen, als die sich selbst reflektierende Mitte in dieser Dreiecksbeziehung, einen passenden, wenn auch ambivalenten Ausgangspunkt, von welchem ausgehend danach gefragt werden kann, was das Ganze des Seins zusammenhält und bestimmt. Denn beides ist der Mensch mit Schelling gesprochen, der »Unbegreiflichste« und doch der, der sich in der »Unseligkeit alles Seins kundgegeben hat und gibt«. Er ist der Ort an dem die Fragestellungen des Seins existentiell und damit selbstreflexiv hervortreten. »Warum ist er überhaupt etwas«, was bestimmt den Menschen dazu, etwas zu werden und zu gestalten. Ja, mit Schelling gefragt, »Warum ist er nicht nichts?« Der Mensch wird sich in einem selbstreflexiven Akt über die Problematik und den damit verbundenen Fragen seiner Existenz bewusst. Sie müssen nicht an ihn herangetragen oder ihm aufgezwungen werden, sondern sie sind als existentielle Erfahrung in ihm selbst angelegt. Ambivalent bleibt er jedoch insoweit, als dass in der uneindeutigen Kontingenz seiner Existenz und subjektiven Sicht auf die Welt nicht an sich die Letztbegründung der Wirklichkeit angegangen werden kann, sondern erst, wie im V. Kapitel dargestellt, in der denkerischen Auseinandersetzung, um den, die Hermeneutik des Menschlichen bestimmenden inhaltlichen Bezugsrahmens. Das Sein des Menschen, das macht die Auseinandersetzung mit Barth und Nietzsche deutlich, ist damit eine hermeneutische Aufgabe, dessen Beschreibung und Definition sich nicht im bloßen erklären seiner Möglichkeiten und Begrenztheiten erschöpft, sondern mit Gedanken zu Eigentlichem und Uneigentlichem qualifiziert werden müssen, die sich aus der 1530 Der Modus des Durcheinanderwirbelns ehemaliger Denkgebäude wird hier bei Nietzsche wohl am deutlichsten. Nicht länger kann eine metaphysische Hierarchie zwischen Gott, Mensch und Welt postuliert werden, in deren Verhältnissetzung letztgültige Antworten auf das Sein und den Menschen gegeben werden können. Denn für Nietzsche gibt es fortan keinen Gott als metaphysische Begründungsfigur mehr, die das Sein ins Leben ruft, den Menschen die Welt zur Verantwortung überlässt, sondern nur noch den Willen zum Werden, in den sich das Sein des Menschen und der Welt einzuzeichnen hat und von dem ausgehend alles Sein seine Bestimmung erfährt.
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Beziehung zu einem letztgültigen Ursprung ergeben, um von dort aus zu verstehen, in welcher Weise die ihm gesetzten Möglichkeiten und Begrenztheiten ihn im Wesen seines Seins bestimmen. Was ist also der Urgrund des Seins, das das Sein im Modus eines Werdens bestimmt sein lässt und wie lässt sich daraus die Frage nach der Existenz und der Bestimmung des Menschen beantworten? Es sind wohl dies die grundsätzlichen Fragen Barths und Nietzsches, die sie in ihrer jeweiligen lebenslangen Beschäftigung antrieb und nach konsistenten philosophischen und theologischen Annäherungen fahnden ließ. Selbstredend, und im Laufe der Studie beschrieben, führte die Beschäftigung bei beiden zu inhaltlich sehr disparaten Beantwortungen der Frage, was die Welt begreiflich macht. Gleichzeitig sind es wohl doch gerade diese Fragen nach dem Letztgültigen, die Barth zur Lektüre Nietzsches brachten und die Barth in der Philosophie Nietzsches in einer für ihn anregenden und wohl auch irritierenden Beantwortung wiederfand. Im Folgenden soll in einer groben Annäherung versucht werden, diesen Urgrund des Seins als den spezifischen Modus des Werdens bei Nietzsche und Barth nachzuvollziehen.
VI.2.1 Friedrich Nietzsche »Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist«1531 Mit Nietzsche hält die Einsicht unwiderruflich Einzug in das Denken, wonach Wahrheiten, Werte und Moralvorstellungen nicht länger absolut definiert werden können, sondern lediglich innerhalb eines sie begründenden Sinnzusammenhangs. Dies gilt auch in Bezug auf die Hermeneutik des Humanen. Es gibt daher in der Philosophie Nietzsches keine allgemeine metaphysisch an sich gültige »Heimat« mehr für den Menschen, in die er sich flüchten könnte, sondern nur noch die »Kälte« der Einsamkeit, in der sich zu individuell und schöpferisch einzurichten hat: »Die Welt – ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Landschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. 1531 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 260.
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Flieg’, Vogel, schnarr’ Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! – Versteck’, Du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrei’n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei’n, Weh dem, der keine Heimat hat.«1532
Es ist die in lebensfeindliche Sprachbilder einer Wüste, des Winters und des flüchtigen Rauches gefasste Einsicht Nietzsches in die Relativität und Kontingenz von jeglicher Wahrheit und Norm in Bezug auf den Menschen und das Sein, die es einerseits zu erkennen und anschließend individuell wieder neu und konsistent zu begründen gilt. Durch die Formel des »Gott ist tot und wir haben ihn getötet« hat sich die Sicht auf die Welt und das Sein radikal verändert. Die Welt des Menschen ist in einem zerstörerischen Akt der Erkenntnis von einer ehemals Sicherheit versprechenden Heimat, zum Sinnbild der Heimatlosigkeit des Menschen geworden. Diese neue und befreiende Heimatlosigkeit ruft nach neuen Begründungsfiguren für die Hermeneutik des Seins, die sich konsistent gegenüber dieser grundlegenden Einsicht erweisen müssen. Nietzsche sieht sich dabei wohl, wie es die poetische Prophetengestalt des Zarathustra belegt, weniger als den wirkursächlichen Auslöser dieser Krise in der Gegenwart, sondern eher als deren sprachgewaltigen Künder : »Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt! Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt. Der ungeheure Tod blickt glühend braun und kaut, – sein Leben ist Kaun … Vergiss nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht: du – bist der Stein, die Wüste, bist der Tod …«1533
Nietzsche kündet in diesen Worten einer metaphorischen Wüstenzeit von Zerstörung und Wiedergeburt, in deren Mitte als Auslöser, Künder und Überwinder der Mensch selbst steht, wenn er sich jenseits der bisherigen Wert- und Wahrheitsvorstellung stellt und dem erwähnten Diktum »Gott ist tot und wir haben ihn getötet« in all seinen Konsequenzen entspricht. Der Mensch wird bei Nietzsche darin von einem Willen angetrieben und bestimmt, der sich über das Bestehende erheben und in der Zerstörung sein individuell Neues schaffen will. 1532 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1884–1885«, 329. Wird von Barth zitiert in Barth, KD III/2, 280. 1533 Nietzsche, »Dionysos-Dithyramben«, 387. Wird von Barth zitiert in Barth, KD III/2, 279.
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»Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. […] Nur, wo Leben ist da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!«1534
Dieser Wille findet sich jedoch nicht nur im erwachten Menschen, sondern wird von Nietzsche ganz allgemein als Motor des Werdens im Sinne eines blinden und damit immoralischen Urtriebes verstanden, der Dinge und Menschen für sich instrumentalisiert. Nietzsche findet zu diesem das Sein antreibenden Willen in der seiner Philosophie inhärenten konsequenten Reduktion und Relativierung des Wirklichen von allen bislang bestehenden Normen, Ordnungen, Wahrheiten und anthropomorph geprägten epistemologischen Versuchen über die Erkenntnis des Seins. Sodann, wenn die Welt von ihrer bisherigen in dinglichnormativen Strukturen sich ordnenden Wirklichkeit abstrahiert werde, »so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ›Wirken‹ auf dieselben – der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt …«1535
Daher ist der »Wille-zur-Macht« auch nicht nur als Trieb auf das Lebendige beschränkt, sondern auszuweiten auf ein allgemeines »Pathos«, welches als »das innerste Wesen des Seins«1536 zu beschreiben ist. Gleichzeitig ist dem »Willenzur-Macht« jedoch keine irgendwie geartete metaphysische Substantialität zuzusprechen, dem ein logisches Prinzip zur Erklärung und Befolgung zugrunde liege, sondern er ist das letzte Prinzip, das in dem ihm innewohnenden Antagonismus das Sein zum absolut indivudellen Werden treibe.1537 Die Begriffe von Gesetz und Notwendigkeit werden so für Nietzsches Weltverständnis obsolet, denn der neuer Mensch hat sich schöpferisch-individuell zu diesem ursprünglichen Willen zu verhalten. Entweder als der unbehauene Stein, der sich dem »Willen-zur-Macht« passiv zur Verfügung stellt oder aber Zarathustra im Ideal der asketischen Priester folgend, diesen »Willen-zur-Macht« im Sinne eines Willens zur absoluten Selbstüberwindung zu nutzen. Der Mensch ist deshalb in seinem Verhältnis zum Letztbegründenden »Willen-zur-Macht« als »das noch nicht festgestellte Tier« zu beschreiben, weil sein Verhältnis zum »Willen-zur-Macht« bis dato noch nie ganzheitlich als ungehemmter Trieb seines Wollens und Handelns ausgelebt werden konnte. Die Freiheit des »Willens-zur-Macht« von Moral, Norm und Gesetz bildet für den »noch nicht festgestellten Menschen« den entsprechenden Möglichkeitsraum, in 1534 1535 1536 1537
Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 149. Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 259. Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 260. Vgl. für die im Hintergrund stehende Diskussion Fußnote 1539.
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dem sich der Mensch individuell entwickeln kann. Denn der Mensch wird nicht länger durch eine kollektive metaphysische Heimat gegängelt, sondern im Ursprung der Bestimmung des Seins durch den »Willen-zur-Macht« in der Erschaffung seiner selbst frei. »Ecce homo. Ja! Ich weiss, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr’ ich mich. Licht wird Alles, was ich fasse, Kohle Alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich.«1538
Dieses Verständnis des »Willens-zur-Macht« als eines dynamischen Ursprungsprinzips hat nun auch folgerichtig Auswirkungen auf die Sicht und Bewertung der Welt.1539 Die Welt und ihre Naturgesetze, ihr zeitlicher Ablauf, ihre Strukturen und ihr biologisches Leben sind für Nietzsches Übermensch nur ein Steinbruch des eigenen Schaffens und die Modellierungsmasse seines ihn antreibenden »Willens-zur-Macht«. Dieser Wille wird in seiner, die Wirklichkeit 1538 Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, 367. Wird von Barth zitiert in Barth, KD III/2, 281. 1539 Nur angedeutet werden kann an dieser Stelle die bis dato andauernde Diskussion um die spezifische Interpretationsthese bezüglich des »Willens-zu-Macht« als Letztprinzip der Philosophie Nietzsches. Heidegger bezeichnete in seiner Auslegung von Nietzsches »Willen-zur-Macht« diesen Willen als das Ende aller Vorstellungen, wonach die Welt durch eine logische und substantielle metaphysische Idee zu begründenden und aus einer solchen abzuleiten wäre. Der »Wille-zur-Macht« ist für Heidegger das letzte Prinzip, das in seinem individuellen Machtstreben jegliches Sein zum Werden treibt und dies jenseits genuin metaphysischer Verstehenskategorien. (Vgl. Heidegger, Nietzsche II, 263–272.) Andere Thesen behaupten den Singular des »Willens-zur-Macht« in Nietzsches Philosophie in einen Plural auflösen zu müssen, um dem vermeintlichen Missverständnis gerade im singulären Gebrauch und Gedankens des »Willens-zur-Macht« ein metaphysisches Prinzip zu postulieren, entgegentreten zu können. Eine solche pluralistische Vorstellung von verschiedenen »Willen-zur-Macht« ist aber insofern problematisch, als dass entgegen der Emphase der Philosophie Nietzsches damit ein sich ausbalanciertes Prinzip der Machtverhältnisse gedacht werden kann, das mit der Vielheit der Willen rechnet und diese in kluger Weise im Sinne einer Selbstorganisation zum besten Ausgleich zu bringen sucht. (Vgl. bspw. die These von Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen, Bd. 1 Über Werden und Wille zur Macht) Derartige Interpretationen zeigen damit in Bezug auf Nietzsches Zarathustra-Figur und auch auf die Idee des Übermenschen widersprechende Auswirkungen bezüglich deren Maxime einer freien und triebhaften Lebensgestaltung. Solchen Interpretationen ist damit insoweit zu widersprechen, als dass nach Nietzsche der »Wille-zur-Macht« nicht in der Balance das Sein zum Werden treibt, sondern gerade in seinem immerwährenden absoluten Antagonismus eines Willens, der nach Macht und Leben strebt, einzuzeichnen ist. Vgl. dazu auch Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation. Kritische Überlegungen zu Wolfgang Müller-Lauters Nietzschebuch, in ders. Kontroversen um Nietzsche. Untersuchungen zur theologischen Rezeption, Zürich 2003, 93–130.
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des Seins ganzheitlich umgreifenden Macht zum absoluten Jenseits der bis dato künstlich aufgesplitterten Einzelmanifestationen des menschlichen Seins. »Wille zur Macht. Morphologie. Wille zur Macht
Die Gegenbewegung Wille zum Nichts«1540
als ›Natur‹ als Leben als Gesellschaft als Wille zur Wahrheit als Religion als Kunst als Moral als Menschheit
Was bringt also den Menschen zur Erkenntnis des, das Sein bestimmenden »Willens-zur-Macht«? Es ist der Mensch selbst, der als der prophetische Künder aus den Höhen seiner Einsamkeit die Menschheit im Sinne einer emotional aufgeladenen Verkündigung wachzurütteln versucht.1541 Denn durch die fehlende überzeugende Authentizität der bisherigen Botschafter und ihrer Botschaft einer vermeintlich lebensbejahenden Lehre kommt es nach Nietzsche zur Notwendigkeit der Verkündigung des Zarathustras, die er als überzeugenden Ausdruck einer inneren absoluten Authentizität von Anspruch und Zuspruch sieht: »Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen! Nackt möchte ich sie sehn: denn allein die Schönheit sollte Busse predigen. Aber wen überredet wohl diese vermummte Trübsal?«1542
Die Verkündigung Zarathustras muss eine authentische Botschaft dessen sein, was den »Willen-zur-Macht« als lebensüberwindenden und damit lebensbejahenden Willen auszeichnet. Es ist dies seine absolute Lebensbejahung, die sich in ihrem Vollzug im menschlichen Leben selbst legitimiert, von dort zur frohen Kunde ohne jegliche Schranken von Werten und Moral wird und daher auch nicht als metaphysische Wahrheit missverstanden werden sollte, sondern viel1540 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887–1889«, 254. 1541 Besonders deutlich wird dieser Impetus Nietzsches in seinem Vorhaben, seine Schrift »Der Antichrist« in einer Millionenauflage in verschiedenen Übersetzungen herauszugeben, um die Menschheit zeitgleich über ihre andauernde intellektuelle und existentielle Versklavung durch das Christentum aufzuklären. 1542 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 117f.
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mehr als ein lebensdienliches Pathos des Seins, im Sinne eines dynamischen Habitus. Der Mensch erkennt aufgrund solcher Propheten des Lebens und ihrer Verkündigung der dionysisch rauschhaften Bestimmung des Seins, zunächst sein bisheriges Sein und das darin angelegte Sinnmuster als lebenshemmend und nicht lebensförderlich konstruiert. Denn die Welt wurde ihm bisher, im Rückgriff auf einen dieses Sinnmuster stützenden Gottesbegriff, lebensmindernd und in der Gängelung durch eine Moral der Schwachen madiggemacht. Der Mensch befreit sich und erkennt hinter der Maskerade der scheinbaren gesetzmäßigen Sinnmuster keine Wahrheit, sondern den »Willen-zur-Macht« als den alles andere überbietenden Trieb, welcher das Sein immoralisch als ein sich selbst überwindendes Werden bestimmt. Dieser dynamischen Willenskraft gilt es sich nun entweder im Sinne des amor fati zur Verfügung zu stellen oder sie aber im Sinne der priesterlich-religiösen Askese zu kanalisieren, in dieser Weise authentisch ursprünglich, und nicht länger moralisch gegängelt oder verdünnt zu nutzen.1543 Denn gerade in der Leidenschaft und in der Emotionalität seiner Affekte nutze der Mensch den Willen als ungezähmten und kraftvollen Trieb zu seiner eigenen authentischen Selbsterschaffung. Diese Erschaffung bedeutet dabei für Nietzsche in letzter Konsequenz: »Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. W e g s e h e n sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!«1544
VI.2.2 Karl Barth »Immanuel, Gott mit uns!«1545 »Immanuel ist der Inbegriff der Erkenntnis, in der der Gott Israels sich in allen seinen Taten und Anordnungen offenbar macht: er ist der Gott, der nicht ohne sein Volk, sondern als sein Gott und darum als seine Hoffnung mit ihm ist, wirkt und handelt.
1543 Vgl. Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, 118. »Denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrechte, vorausgesetzt dass ….; zuletzt selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde[…].« Jedoch müssen die Affekte von ihrer moralisch begründenden Begrenzung befreit werden, um ihr volles schöpferisches und wirkmächtiges Potential entfalten zu können. 1544 Friedrich Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, 521. 1545 Barth, KD I/1, 333.
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[…] »Gott mit uns« bzw. das, was diese drei Worte bezeichnen, ist nicht Gegenstand allgemeiner Empirie oder Theorie, ist also kein Zustand, sondern Ereignis.«1546
Für den Theologen Barth ist es unschwer, den in Christus sich offenbarenden Gott als den Ursprung und Ziel allen Seins zu postulieren. Gleichzeitig ist es jedoch für Barth in dieser Rede von Gott, als dem ins Sein rufenden Ursprung von Nöten, diesen nicht zu einem metaphysischen Prinzip zu degradieren, der in dieser Form seiner absoluten, weil göttlichen Souveränität verlustig gehen würde.1547 Eine Rede von Gott als dem Ursprung des Seins und Motor des Werdens wird für Barth erst in der göttlichen Selbstoffenbarung konsistent, die sich als das Ereignis in der Erwählung seines Geschöpfes und seiner Schöpfung erweist, wie sie dem Menschen durch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zuteilwurde.1548 »Die Einsicht, daß der Mensch sein Dasein und Sosein mit aller von Gott verschiedenen Wirklichkeit zusammen der Schöpfung Gottes zu verdanken hat, vollzieht sich allein im Empfang und in der Beantwortung des göttlichen Selbstzeugnisses, d. h. allein im Glauben an Jesus Christus: in der Erkenntnis der in ihm verwirklichten Einheit von Schöpfer und Geschöpf und in dem durch ihn vermittelten Leben in der Gegenwart, unter dem Recht und in der Erfahrung der Güte des Schöpfers seinem Geschöpf gegenüber.«1549
Somit wird im ereignishaften Charakter der Offenbarung Gottes deutlich, wonach die Rede von Gott als dem Ursprung des Seins nicht abstrakt zugänglich wird, sondern nur in der existentiellen menschlichen Erfahrung des Glaubens, die ihn von dort aus als einen von Gott angesprochenen Menschen erfahren lässt. Der Mensch komme dabei im Modus des Glaubens zu der Erkenntnis, wie es die Ausgestaltung des biblischen Schöpfungsberichtes beschreibt, dass es allein Gott zu verdanken ist, dass nicht Nichts ist, sondern vielmehr Etwas und für dieses Etwas in Gott dessen Ursprung und damit die Bestimmung des Seins beschrieben werden könne. 1546 Barth, KD IV/1, 4. 1547 Eine Rede von Gott als Ursprung im Sinne einer philosophischen Kategorie ist deshalb für Barth zu verabschieden, da der Ursprung nur als Selbstoffenbarung gedacht werden kann und nicht im philosophischen Kontext eines idealistischen Gottesbegriffs von Sein und Idee. Nicht die menschliche Erkenntnis ist der Ursprung der Erkenntnis, sondern die Selbstoffenbarung Gottes bedeutet die Erkenntnis als Offenbarung. 1548 Jedoch wird die Schöpfung nicht automatisch zum erwählenden Bund zwischen Gott und Mensch, sondern bildet lediglich den äußerlichen Grund für die in freier Entscheidung hervorgegangener Erwählung des Menschen, wie Barth es in der Auslegung seiner analogia fidei in der Absetzung von einer analogia entis betont. Vgl. Eberhard Jüngel, Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie. Eine Untersuchung zum Analogieverständnis Karl Barths, in ders., Barth-Studien, Zürich u. a. 1982, 210–232. 1549 Barth, KD III/1, 1.
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»Die Schöpfung ist das erste in der Reihe der Werke des dreieinigen Gottes und damit der Anfang aller von Gott selbst verschiedenen Dinge. […] Die Absicht und also auch der Sinn der Schöpfung ist aber nach diesem Zeugnis die Ermöglichung der Geschichte des Bundes Gottes mit dem Menschen […]«1550
In der Theologie Barths wird die Welt als Lebensraum, in der theologischen Begrifflichkeit der Schöpfung, zum ontischen Ausdruck der innertrinitarischen ontologisch ewigen Selbstbestimmung Gottes. In dieser hat sich Gott dazu bestimmt, aus sich selbst heraus etwas von ihm Verschiedenes zu schaffen. Daher ist die Welt nicht die rohe bloße gestaltbare Masse eines Steinbruches, sondern sie erhält in der Beziehung vom Schöpfer her und zum Schöpfer hin ihren Wert, der in der Ermöglichung einer Geschichte des Bundes zwischen Schöpfer und Geschöpf zu erkennen ist. Die gute »Schöpfung als Wohltat«1551, »Verwirklichung« und »Rechtfertigung« sind daher die Blickrichtungen auf die Welt, die in ihrer bloßen Existenz als Ausdruck der Selbstbestimmung Gottes entspricht. »Das Werk Gottes des Schöpfers besteht im Besonderen in der Wohltat, daß was er geschaffen hat, in den Grenzen seiner Geschöpflichkeit als durch ihn verwirklicht sein und als von ihm gerechtfertigt gut sein darf.«1552
Von dort ausgehend, wird auch das Sein des Menschen in der Begrenzung seiner Zeit, seiner Macht und seiner Bestimmung als kommunikativ-sozialem Wesen nicht als lediglich kontingenter und ambivalenter Ausdruck seiner Existenz gewertet, sondern als Teil der guten Schöpfung. Diese gute Schöpfung ist in ihrem Innersten als ein Modus des Miteinanders der Menschen untereinander und mit Gott aufzufassen.1553 Somit rücken für Barth die göttlichen Attribute von souveräner Selbstbestimmung und Erwählung in eine besondere Nähe zueinander, denn die göttliche Selbstbestimmung beinhaltet die besondere Erwählung des Menschen innerhalb der Schöpfung. »Die Erwählungslehre ist die Summe des Evangeliums, weil dies das Beste ist, was je gesagt und gehört werden kann: Daß Gott den Menschen wählt und also auch für ihn der in Freiheit Liebende ist. Sie ist in der Erkenntnis Jesu Christi begründet, weil dieser der erwählende Gott und der erwählte Mensch in Einem ist. Sie gehört darum zur Lehre von Gott, weil Gott, indem er den Menschen wählt, nicht nur über diesen, sondern in ursprünglicher Weise über sich selbst bestimmt. Ihre Funktion besteht in der grund-
1550 Barth, KD III/1, 44. 1551 Barth, KD III/1, 377. Hier wird von Barth explizit Nietzsche als Gegenpart einer solchen Sicht auf die Welt als gute Schöpfung aufgeführt. 1552 Barth, KD III/1, 377. 1553 Vgl. Barth, KD II/2, 26.
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legenden Bezeugung der ewigen, freien und beständigen Gnade als des Anfangs aller Wege und Werke Gottes.«1554
Diese göttliche Selbstbestimmung wird dabei von Barth noch spezifischer gefasst, wie es in seiner Versöhnungslehre zum Ausdruck kommt. Gott wird so nicht nur zu einer weltüberlegenen, weil diese Schöpfung ins Sein rufende Macht, sondern diese weltüberlegene Macht wird spezifisch inhaltlich gefüllt. Der erwählende Gott ist der Gott, der sich als Herr zum Knecht erniedrigt und den Knecht zum Herren erhöht.1555 Die Selbstbestimmung Gottes ist daher inhaltlich als eine das Niedrigste erlösende zu charakterisieren, weil Gott in seiner Selbstbestimmung das Verlorene in Jesus Christus in sich aufnimmt und damit in sich selbst rechtfertigt und versöhnt. Diese noetisch-ontologisch in der Trinität vollzogene und ontisch in der Schöpfung der Welt erfahrbare Selbstbestimmung Gottes wird so in der analogia fides zwischen Schöpfer und Geschöpf auch zum Ausgangspunkt der Selbstbestimmung des Menschen und zur Bestimmung Welt. Für die Bestimmung des Menschen bedeutet dies, dass zwischen einem jetzigen (ontischen) und einem wahren (ontologischen) Menschen unterschieden werden muss. Der jetzige Mensch befindet sich in einem Zustand, in dem er sich dessen Ursprung und Verkehrung nicht mehr bewusst ist1556 und in der versöhnenden Tat Gottes neuerlich auf sein ursprüngliches Sein verwiesen werden muss: »Der Inhalt der Lehre von der Versöhnung ist die Erkenntnis Jesu Christi, der (1) der wahre, nämlich der sich selbst erniedrigende und so der versöhnende Gott, aber (2) auch der wahre, nämlich der von Gott erhöhte und so versöhnte Mensch, und der in der Einheit beider (3) der Bürge und Zeuge unserer Versöhnung ist.«1557
Ausgehend von der absoluten freien Souveränität Gottes wird die ewige Selbstbestimmung Gottes in seinem trinitarischen Sein dahingehend inhaltlich qualifiziert, ein erwählender Gott zu sein, der die Bestimmung des Menschen und seines Seins in der Welt in der Analogie zu sich selbst begründet. Gott macht die Sache des Menschen zu seiner eigenen, stellt sich nicht neutral der Sünde gegenüber, sondern bekämpft ihre nichtende Macht. Der Mensch wird durch das Wort Gottes bestimmt, das ihn äußerlich anspricht und innerlich verändert, wie es Barth als Akt der Erkenntnis in der Versöhnung fasst.
1554 Barth, KD II/2, 1. 1555 Vgl. Barth, KD IV/1, 14. Kapitel: Jesus Christus, der Herr als Knecht und Barth, KD IV/2, 15. Kapitel: Jesus Christus, der Knecht als Herr. 1556 Diesen Zustand sieht Barth in Nietzsche formvollendet vorfindlich. 1557 Barth, KD IV/1, 83.
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»In dieser dreifachen Erkenntnis Jesu Christi ist beschlossen die Erkenntnis von des Menschen Sünde: (1) seines Hochmuts, (2) seiner Trägheit, (3) seiner Lüge – die Erkenntnis des Geschehens, in welchem sich seine Versöhnung vollzieht: (1) seiner Rechtfertigung, (2) seiner Heiligung, (3) seiner Berufung – die Erkenntnis des Werks des Heiligen Geistes: in der (1) Sammlung, (2) Auferbauung, (3) Sendung der Gemeinde und des Seins der Christen in Jesus Christus (1) im Glauben, (2) in der Liebe, (3) in der Hoffnung.«1558
Gott ist die, in der Erlösung des Menschen durch das Christusgeschehen sich offenbarende Weltkraft, die insofern auch den Menschen in diese göttliche Dynamik der Bestimmung des Seins durch die Versöhnung in Christus beruft. Der Mensch wird in seiner Humanität zur Teilhabe an der Fülle des göttlichen Seins bestimmt und nicht zur Selbstüberwindung aufgrund eines immoralischen Triebgeschehens aufgefordert.
VI.3 Der »Wille-zur-Macht« oder doch der »liebe Gott« als die Letztbegründung des Seins? Die in der Überschrift zum Abschnitt angedeutete Gegenüberstellung scheint nicht nur auf den ersten Blick ungünstig und der Komplexität der bisherigen Auseinandersetzung nicht gewachsen, da sie in falscher Weise zur Entscheidung aufruft und so hinter die bisherige Beschäftigung mit Barth und Nietzsche zurückfallen könnte. Denn m. E. geht es im Sinne des bisher Erarbeiteten nicht um ein »Entweder – Oder« zwischen Barth und Nietzsche, zwischen Theologie und Philosophie. Denn im Verständnis einer solchen finalen Entscheidung sind sie zum einen in ihrer inhaltlichen Veranlagung zu verschieden und zum anderen wäre eine allzu fragmentarische Vergröberung und Zurechtstutzen der jeweils anderen Seite vonnöten, um beide in einer finalen Entscheidung gegenüber stellen zu können. Vielmehr geht es m. E. um eine sich gegenseitig wirkungsästhetisch positive und anstachelnde Provokation. Denn beide Disziplinen zeigen, wie bei Nietzsche und Barth gesehen, eine solche aufstachelnde beeinflussende Wirkung, die im Ansinnen der jeweiligen Systeme fruchtbar gemacht werden kann, dass jegliche Theorien über die Wirklichkeit stets auf ihre Letztbegründung hin untersucht werden und gerade erst im Erweis und in der Begegnung mit ihrer Letztbegründung kritisch für die eigene Lebenswahrheit geprüft und in Anspruch genommen werden sollten. Theologie und Philosophie fordern sich provozierend und darin gerade klärend gegenseitig heraus, indem sie strukturell dasselbe 1558 Barth, KD IV/1, 83.
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anstreben, in der inhaltlichen Klärung desselben sich jedoch diametral provozierend widersprechen. In den jeweiligen Ursprungsgedanken von Nietzsche und Barth kann sich an die letzten großen Fragen von Sein und Nicht-Sein, von der Bestimmung des Seins zu einem Ziel und einer das Sein bestimmenden Dynamik gewagt werden. In der Auseinandersetzung um die Hermeneutik des Humanen wurde deutlich, dass dabei für beide der Mensch und sein Sein den geeigneten phänomenalen Ausgangs- und Zielpunkt für einen solchen Weg der Letztbegründung bilden. Der jetzige Mensch wird sich seines Wesens und Bestimmung nur dann durchsichtig, wenn er den Ursprung allen Seins und darin auch seines Wesens nachvollziehen zu versucht.1559 Daher müssen die Theorien Nietzsches und Barths auch nicht lediglich als transempirische Gedankenkonstruktionen ausgewiesen werden, die sich nur innerhalb des eigenen Verstehenshintergrundes als plausibel erweisen. Nietzsche selbst verfolgte interessanterweise eine kurze Zeit seines Lebens den Versuch, gemeinsam mit seinem Freund Paul R8e (1849–1901) den »Ursprung der moralischen Empfindung«1560 evolutionistisch nachzuverfolgen und so die eigene Philosophie historisch-empirisch abzusichern. Nietzsche selbst kam aber sehr bald zur Einsicht, dass ein solches Unterfangen nicht den nötigen Erweis für seine Lebensphilosophie erbringen könne, basierend auf dem »Willen-zurMacht«, jenseits moralischer Werturteile die Zukunft des Menschen zu postulieren. Inmitten seiner abschließenden Arbeiten an »Also sprach Zarathustra« überkam Nietzsche bei der Selbstlektüre seiner früheren Arbeiten die Idee, eine Art erklärendes Kompendium seiner Philosophie zu erarbeiten und legte 1885 das Werk »Jenseits von Gut und Böse« vor. Ein Blick auf den Titel und die Einleitungssätze verdeutlichen dabei diese Abkehr von der Idee einer empirischevolutionistischen Begründungsfigur eindrucksvoll. Das »Jenseits« des Titels beschreibt für Nietzsche wohl weniger einen geographischen Ort oder einen geschichtlichen Zeitpunkt der ursprünglichen Erkenntnis, sondern wohl eher 1559 Der allgemeine und oft zu hörende Aufruf »menschlich zu handeln« bzw. die eigenen Taten an der Menschlichkeit zu messen, führt diesen Gedanken in bestechender Kürze deutlich vor Augen. Denn die Vokabel der Menschlichkeit ist erst einmal für sich genommen eine inhaltsleere Worthülse, die es entsprechend einer Begründungsfigur zu füllen gilt. Für Nietzsche könnte es daher bedeuten dann menschlich zu handeln, wenn entsprechend strikt und immoralisch nach dem »Willen-zur-Macht« gehandelt wird. Für Barth hingegen nur dann, wenn der Mensch sich seiner erwählten Geschöpflichkeit bewusstwird und in der Entsprechung zu dieser lebt. Nietzsche und Barth bieten daher zwei sehr verschiedene Auslegung eines »menschlich handeln« an, die anzeigen, dass die Begrifflichkeit des »Menschlichen« ihre präzise Interpretation nur im Rückgriff auf den ihn bestimmenden Urgrund und Letztbegründung gewinnen kann. 1560 So der Titel eines der zentralen Werke Paul R8es aus dem Jahre 1877. Daneben sind weiter Werke von ihm »Die Entstehung des Gewissens« (1885) und »Illusion der Willensfreiheit« (1885).
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einen mentalen Zustand, der befreit aus den Kategorien des Guten und des Bösen, jenseits der bisherigen Konventionen sich der Wahrheit des Seins zu nähern vermag. Im Untertitel »Vorspiel einer Philosophie der Zukunft«, und der in der Einleitung ausgelegten Interpretationsthese, geht es für Nietzsche zur Bestimmung dieses Jenseits im Sinne einer präsentischen Futurologie, wohl in struktureller Entsprechung einer theologischen Rede einer präsentischen Eschatologie, auch an dieser Stelle um die Überwindung einer eindimensionalen historisierenden Sicht auf das Werden des Menschen. Nicht die menschlich konstruierte Geschichtsschreibung bestimmt den Menschen in letztgültiger Weise, sondern sein übergeschichtlicher gedanklicher Ursprung, der sich in der Geschichte der Menschen je und je individuell manifestiert und als dessen Natur verstanden werden muss. Daher muss sich nicht des Menschen naturhaftes Sein im »Willen-zur-Macht« an der menschlich konstruierten Empirie messen lassen, sondern in der von menschlichen Theorien befreiten Wirklichkeit lassen sich Spiegelungen der ideellen-naturhaften Theorie nachweisen. Nietzsches naturhafte Beschreibung des Menschen, als eines triebhaften Wesens das mit dem »Willen-zur-Macht« ausgestatten ist, gewinnt existentielle und damit empirische nachzuvollziehende Wahrheit, wenn ihr entsprochen wird und die Theorie so im Leben sich als lebensförderlich und nicht lebensmindernd zeigt. Auf struktureller Ebene sieht dies Barth für die Wahrheit seiner theologischen Erkenntnisse entsprechend, wenn er schreibt: »Wir verstehen unter der Erkenntnis eines Gegenstandes durch Menschen die Bewährung ihres Wissens um denn seine Wirklichkeit hinsichtlich seines Daseins oder seiner Existenz und hinsichtlich seines Soseins oder seines Wesens. ›Bewährung ihres Wissens‹ aber heißt: die Wirklichkeit des betreffenden Gegenstandes, sein Dasein und Soein wird, wahr in sich selber, auf irgendeine Weise und in irgendeinem Grad von Deutlichkeit und Bestimmtheit, nun auch für sie wahr. Ihr Wissen um ihn wird aus einer zufälligen zu einer notwendigen, aus einer inneren Bestimmung ihrer eigenen Existenz. Sie sind als Erkennende von dem erkannten Gegenstand angegangen.«1561
Für Barth hat die Erkenntnis der Offenbarung Gottes und seiner Erwählung des Menschen einen stark individuell existentiellen Charakter und viel weniger von etwas empirisch Fassbarem. Die Stichhaltigkeit und Wahrheit seiner Hermeneutik des Seins erweist sich in deren existentiellen Wert für den Einzelnen, die die existentielle Krisis des Menschen zwischen Todes- und Lebenslinie zu überwinden vermag. Die Wahrheit der christlichen Botschaft erweist sich weder in historischer Betrachtung der Menschheitsgeschichte, noch im Versuch diese Botschaft durch empirische Studien als valide zu erweisen, sondern strukturell ähnlich zu Nietzsche darin, dass die geglaubte Wahrheit über das Sein in die Empirie des Lebens hineingespiegelt wird und eine existentielle lebensförder1561 Barth, KD I/1, 195.
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liche Wahrheit für den Einzelnen jenseits empirischer Validierungsversuche beweist. »Es ist also auch die Auseinandersetzung, in der sich der Mensch – jetzt noch ganz der Alte, jetzt schon ganz der neue Mensch – in der Umkehr befindet, keine partielle, sondern seine totale Auseinandersetzung mit sich selbst – total eben in dem Sinn: sie zielt darauf, daß er gar nicht mehr sein kann, der er war, nur noch sein kann, der er sein wird.«1562
Ursprung und Ziel des Seins werden also für Nietzsche und Barth so miteinander verschränkt, dass aus der ideellen Idee des Ursprungs die Wahrheit über die Welt und den Menschen erwächst. Diese Dynamik des Ursprungs lebt der Mensch empirisch-praktisch in seiner Lebenswirklichkeit und versucht genau darin sein bisheriges Sein und sein bisheriges Wirklichkeitsverständnis zu überwinden. Die Wahrheit ihrer Letztbegründung erweist sich wiederum darin, dass in der gelebten Kongruenz von Theorie und Wirklichkeit eine absolute und authentische Lebensbejahung zu Tage gefördert wird, um die herum ein Geruch der Genesung wahrgenommen werden kann: »Wahrlich eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein heilbringender, und eine neue Hoffnung.«1563
1562 Barth, KD IV/2 649. 1563 Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 101.
Literaturverzeichnis
Hinweise zur allgemeinen Zitierweise Die Abkürzungen orientieren sich an Siegfried M. Schwertner, Abkürzungsverzeichnis der TRE, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin/New York 1994. Nach der ersten Titelnennung der jeweiligen Literatur wird für die folgende Nennung in der Fußnote ein Kurztitel eingeführt, der kursiv gesetzt wird. Auf die Verwendung von »aaO.« und »ebd.« wurde, außer bei einer Mehrfachnennung innerhalb einer Fußnote, grundsätzlich verzichtet. Folgende wiederkehrenden Abkürzungen werden eingeführt: KD RÖ I RÖ II
Kirchliche Dogmatik Römerbriefkommentar 1. Auflage 1919 Römerbriefkommentar 2. Auflage 1922
»Unzeitgemässe Betrachtungen I.« Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. »Unzeitgemässe Betrachtungen II.« Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. »Unzeitgemässe Betrachtungen III.« Unzeitgemässe Betrachtungen III. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher.
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Literaturverzeichnis
Die folgenden Titel mit Bezug auf Nietzsche finden sich in Barths privater Bibliothek Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, eine Freundschaft: nach ungedr. Dokumenten u. im Zusammenhang mit d. bisherigen Forschung dargestellt, hg. von ders., 2 Bände, Jena 1908. Bertram, Ernst: Nietzsche: Versuch einer Mythologie, Berlin 41920. Bindschedler, Maria: Nietzsche und die poetische Lüge, Basel 1954. Gutersohn, Ulrich: Friedrich Nietzsche und der moderne Mensch, St. Gallen 1944. Kaegi, Werner : Rezension von Alfred von Martin: Nietzsche und Burckhardt, in Zeitschrift für Schweizerische Geschichte. Jg. 28 (1948), H. 1, S. 128–132. Landry, Harald: Friedrich Nietzsche, Berlin 1931. Löwith, Karl: Von Hegel zu Nietzsche: der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts: Marx und Kierkegaard, Zürich 21944. Michel, Wilhelm: Nietzsche in unserem Jahrhundert, Berlin 1939. Nietzsche, Friedrich: – / Briefe an Peter Gast, hg. von Peter Gast, Leipzig 31924. – / Briefwechsel mit Franz Overbeck, hg. von Richard Oehler und Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig 1916. – / Briefwechsel mit Erwin Rohde, hg. von E. Förster-Nietzsche … [et al.], Leipzig 31923. – / Gedichte, Leipzig 1924. Nietzsches Werke: Bd. 1: »Die Geburt der Tragödie« / »Schriften aus den Jahren 1869–1873«, Bd. 2: »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« / »Unzeitgemässe Betrachtungen«, Bd. 3: »Menschliches Allzumenschliches I« / »Vermischte Meinungen und Sprüche (Menschliches Allzumenschliches II, erste Abtheilung)«, Bd. 4: »Der Wanderer und sein Schatten (Menschliches, Allzumenschliches II, zweite Abtheilung)« / »Morgenröthe«, Bd. 5: »Die fröhliche Wissenschaft« / »Dichtungen«, Bd. 6: »Also sprach Zarathustra«, Bd. 7: »Jenseits von Gut und Böse« / »Zur Genealogie der Moral«, Bd. 8: »Schriften aus dem Jahre 1888«, Bd. 9: »Der Wille zur Macht«, Leipzig 1906–1922. Przywara, Erich: Thomas von Aquin, Ignatius von Loyola, Friedrich Nietzsche, Innsbruck 1936. Salin, Edgar : Jakob Burckhardt und Nietzsche, Basel 1938. Schoeps, Hans Joachim: Gestalten an der Zeitenwende: (Jakob) Burckhardt, (Friedrich) Nietzsche, (Franz) Kafka, Berlin 1936. Scholz, Heinrich: Begegnungen mit Nietzsche, Tübingen 1948. Schubart, Walter: Dostojewski und Nietzsche: Symbolik ihres Lebens, Luzern 1939. Trillhaas, Wolfgang: Psychologie und Christentum bei Friedrich Nietzsche, Sonderdruck aus Zeitwende, Jg. 6 (1930), H. 6, Juni, 531–544.
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Personenregister
Abraham 142–144, 157 Askani, Hans-Christoph 272f.
Fichte, Johann Gottlieb 222, 258 Förster-Nietzsche, Elisabeth 59–61, 64
Barth, Heinrich 31, 113, 129–135, 158, 177, 236f. Baur, Ferdinand Christian 77 Beintker, Michael 102, 185–187, 190–193 Bernoulli, Carl Albrecht 40, 44, 72–75, 116 Bertram, Ernst 116, 165, 182 Biel, Gabriel 327f. Bloch, Peter Andr8 304–306 Blumhardt, Christoph und Christoph Friedrich 78, 80, 112 Bonhoeffer, Dietrich 45, 51–54, 57, 82, 99 Bonus, Arthur 165, 172–174, 176f. Breuer, Stefan 62–64 Buber, Martin 270–276, 279 Burckhardt, Jacob 117f., 124f., 206f. Busch, Eberhard 107
Gallwitz, Hans 92f., 96f. Gehlen, Arnold 335, 337–339 Gerhardt, Volker 279 Goethe, Johann Wolfgang 28, 118, 159, 163f., 166, 181, 205, 217–219, 221–223, 226f., 257, 261, 368 Gogarten, Friedrich 128, 180, 191f. Göhre, Paul 165, 169–171, 176f. Graf, Friedrich Wilhelm 68–70 Grube, Dirk-Martin 131, 133
Canterbury von, Anselm 185, 189–194, 208 Cohen, Hermann 103–106, 129, 132, 139, 275 D’Aillys, Pierre 327 Descartes, Ren8 129, 193 Dostojewski, Fjodor 28, 52, 64, 113, 117, 152, 159–163, 180–182, 210 Ebner, Ferdinand
275f.
Härle, Wilfried 101f. Harnack, Adolf von 73, 102f., 128, 163, 176 Hegel, G.W.F. 36, 38, 43, 99, 118, 159, 221f., 258 Heidegger, Martin 56, 212, 322–326, 366 Herder, Johann Gottfried 255–257, 335– 338 Herms, Eilert 195–198, 254–258 Herrmann, Wilhelm 102f., 103–108, 177, 204 Hirsch, Emmanuel 16, 20, 23, 56, 59, 165 Hoffmann, David Marc 38, 58–61 Hölderlin, Friedrich 152, 215, 322–326 Humboldt von, Wilhelm 257f. Jung, Matthias 347–351 Jüngel, Eberhard 19, 270, 330–333, 369
390 Kaftan, Julius 55, 85–88, 95, 97f. Kant, Immanuel 105, 107f., 129, 159, 221f., 258, 334 Kierkegaard, Søren 13, 115, 133, 139, 180, 201, 275 Kleffmann, Tom 23, 27f., 32, 81, 133, 157, 165, 177f., 205, 220f., 228, 241–249, 304f. Kooi, Cornelius van der 119f., 128, 137, 230 Köster, Peter 25f., 53, 55f., 75f., 82, 98, 242, 250, 358, 366 Krötke, Wolf 297, 300 Kutter, Hermann 110, 115, 132 L8vinas, Emmanuel 276–279 Liang, Hong 28, 64, 160–163, 182 Lohmann, Johann Friedrich 29, 104–106, 129f., 131f., 238 Luther, Martin 322, 326–331 Markschies, Christoph 326f. McCormack, Bruce L. 102–104, 108, 119, 122, 127f., 134–137, 183, 185, 188–190, 192f., 231f. Mohler, Armin 62, 64–66 Mourkojannis, Daniel 27, 32, 228, 241– 244, 249 Musil, Robert 64 Natorp, Paul 103, 105, 129, 132 Nitzsch, Friedrich 82–85, 95, 97f., 359 Odenwald, Theodor 90–92, 94f., 96f. Oexle, Otto Gerhard 64, 71 Overbeck, Franz 34, 44, 53, 58f., 60, 70f., 72–80, 98f., 114, 116, 124, 128, 134f., 142, 157, 172, 217, 222, 229 Peter, Niklaus 28, 34, 178–182 Peterson, Erik 196f.
Personenregister
Pfleiderer, Georg
67, 112, 119
Qu Xutong, Thomas
28, 159, 163f., 226f.
Rade, Martin 103, 108f., 111f., 120, 128 Ragaz, Leonhard 110 Ratschow, Carl Heinz 37–44 Reichel, Hanna 308–310 Ringleben, Joachim 293f. Rittelmeyer, Friedrich 47, 81f., 93f., 96f. Salin, Edgar 29, 117, 178–180 Schank, Gerd 21, 24, 292 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 222, 361f. Schiller, Friedrich 159, 164, 166, 205, 257 Scholz, Heinrich 118, 191 Schweitzer, Albert 27, 165, 203f., 243 Schwöbel, Christoph 71, 102, 108, 110f., 112, 128, 323–325, 333, 345f. Sommer, Andreas Urs 17, 121, 238–241, 284f. Spengler, Oswald 64, 128 Stirner, Max 201f., 258 Strauss, David Friedrich 63 Streiff, Stefan 326–331 Thurneysen, Eduard 38, 78, 108, 110f., 113f., 119, 128f., 160–163, 179f., 182f., 227, 355 Tillich, Paul 27, 45–51, 54, 57, 99, 165, 259, 353 Troeltsch, Ernst 15, 27, 31, 58, 64, 67–72, 74f., 78, 98, 353 Villwock, Peter
303f., 307
Walser, Martin 15f., 343 Weinel, Heinrich 88–90, 95f., 97 Zima, Peter V.
35f., 38f., 99f.