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German Pages XVI, 596 [593] Year 2020
AKAD University Edition
Ronny Alexander Fürst Hrsg.
Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland Nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsagenda
AKAD University Edition Reihe herausgegeben von Ronny Alexander Fürst, AKAD University, Stuttgart, Deutschland Torsten Bügner, AKAD University, Stuttgart, Deutschland
Seit über 60 Jahren bietet die AKAD University Berufstätigen ein flexibles, individuelles und effizientes Fernstudium neben dem Beruf. Dabei verbindet sie in vielen Studienrichtungen und Studiengängen Wissenschaft, Praxisbezug und Digitalisierung. Anwendungsorientierte Forschung und neue Praxisherausforderungen bilden die Leitlinien der AKAD University Edition: In der Buchreihe werden aktuelle Forschungsfragen mit Blick auf Anwendungsorientierung aufgegriffen und erörtert.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15688
Ronny Alexander Fürst (Hrsg.)
Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland Nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsagenda Mit einem Grußwort von Anja Karliczek und einem Vorwort von Dorothee Bär
Hrsg. Ronny Alexander Fürst AKAD University Stuttgart, Baden-Württemberg Deutschland
AKAD University Edition ISBN 978-3-658-30524-6 ISBN 978-3-658-30525-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Margit Schlomski Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Über den Herausgeber
Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst ist Geschäftsführer und Kanzler der AKAD University, die als älteste private Fernhochschule Deutschlands auf das digitale Fernstudium neben dem Beruf spezialisiert ist. Als Vize-Präsident für Digitale Bildung des Bundesverbands der Fernstudienanbieter und im Verband der privaten Hochschulen (VPH) vertritt er die deutschen Fernhochschulen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Er forschte an der Anderson School of Management (UCLA) in Los Angeles. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt auf der Digitalen Bildung, Digital Leadership und der Digitalen Transformation. Seiner Einladung als Herausgeber des Handelsblatt Management-Forums folgten Professoren-Kollegen führender Business Schools (2/3 zählten zu den Global Top 30) in Amerika (z. B. Harvard, Yale), Asien (z. B. CEIBS, ISB) und Europa (z. B. INSEAD, St. Gallen). Seine Bücher werden von internationalen Kapazitäten und Medien wie bspw. dem Dean der MIT Sloan School of Management, dem Harvard Business Manager oder Industrievorständen bspw. von Lufthansa und Hugo Boss rezensiert.
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Grußwort der Bundesministerin für Bildung und Forschung
Von einem Tag auf den anderen waren die Schulen und Hochschulen geschlossen. Was vor der Corona-Pandemie noch unmöglich schien, wurde gelebter Alltag in Deutschland: Aufgaben per E-Mail, Online-Wochenpläne, eingescannte Ergebnisse und Online-Vorlesungen. Nie war digital mehr möglich, nie wurde es mehr genutzt. Die Digitale Bildung musste von einem Tag auf den anderen funktionieren. Das machte auch Schwächen sichtbar: Die teilweise Überlastung der Systeme, die uneinheitliche Verbreitung geeigneter Plattformen, vor allem aber die bislang nur schwer herstellbare Interaktivität. Krisen beschleunigen oft, was sonst lange Zeit gedauert hätte. Innovationen brechen sich Bahn. Mit dem DigitalPakt Schule unterstützt der Bund die digitale Ausstattung an deutschen Schulen. Flächendeckend bauen wir eine moderne, Digitale Bildungs-Infrastruktur aus. Die Schulen erarbeiten und verbessern ihre pädagogischen Konzepte und die Länder organisieren die entsprechende Fortund Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Wir fördern die Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts, mit der Schülerinnen und Schüler Unterrichtsmaterial bearbeiten und Lehrkräfte sie online betreuen können. Das schafft eine Form des „digitalen Klassenverbundes“. Mit der Allianz für MINT-Bildung zu Hause „Wir bleiben schlau!“ haben wir eine Initiative gestartet, die außerschulische digitale Lehrangebote zusammenführt. Sie hat in kürzester Zeit eine große Resonanz hervorgerufen und wird weiter anwachsen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat vieles möglich gemacht – auch in den Hochschulen. Denn in unserem Nachwuchs legen wir heute die Basis für die Innovationen von Morgen. Bildung ist eine der wichtigsten Ressourcen unseres Landes. Bildung ist und bleibt systemrelevant.
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Grußwort
Wir brauchen digital kompetente Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten – aber auch eine Weiterbildung, die den neuen Anforderungen an unsere Fachkräfte gerecht wird. Unsere Leitinitiative „Sichere digitale Bildungsräume“ macht innovative digitale Lösungen für die berufliche und hochschulische Aus- und Weiterbildung möglich. So steigen die Transparenz und die Qualität von digitalen Bildungsangeboten. Im Rahmen der Digitalstrategie der Bundesregierung wollen wir Digitale Bildung in allen Bildungsbereichen möglich machen. Wir wollen, dass alle Generationen digital kompetent werden. Künstliche Intelligenz (KI) kann dabei unterstützen, Lerninhalte und Aufgaben an individuelle Bedürfnisse, Lernstrategien und Kompetenzen anzupassen. Deshalb ist KI in der Hochschule und auch für die berufsbezogene Fort- und Weiterbildung von enormer Bedeutung. Maschinen- und Anlagenbauer lernen viele neue Tätigkeiten am Arbeitsplatz mithilfe KI-basierter Programme. Dafür haben wir den Innovationswettbewerb INVITE gestartet. Er zielt auf Projekte, die Lernprozesse in der berufsbezogenen Weiterbildung mit KI-Technologien noch individueller und bedarfsgerechter gestalten. Die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz helfen, unser Land auch unter erschwerten Bedingungen am Laufen zu halten. Diese Ausnahmesituation hat uns sehr deutlich gezeigt: Eine digital gut ausgebildete Wirtschaft und Gesellschaft kann große Herausforderungen besser bewältigen. So sichern wir unsere Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig. Der Testlauf für die Digitale Bildung in den Schulen und Hochschulen sowie für die digitalisierten Arbeitsabläufe in den Unternehmen hat begonnen. Ich sehe das als Chance für die Zukunft, die wir gemeinsam nutzen sollten. Anja Karliczek
Die Autorin Anja Karliczek ist Bundesministerin für Bildung und Forschung und Mitglied des Deutschen Bundestages
Vorwort der Staatsministerin für Digitales
Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung verändern grundlegend die Art und Weise, wie wir lernen, arbeiten, konsumieren und kommunizieren. Dieser Transformationsprozess wirkt sich auf alle Bereiche von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft aus und fordert insbesondere auch unser Bildungssystem. Denn das Tempo, mit dem neue Technologien Einzug in die Arbeitswelt und in unsere Bildungseinrichtungen halten, ist hoch. Das Ziel der Bundesregierung ist klar: Wir wollen Vollbeschäftigung mit Digitalisierung erreichen. Deshalb fördern wir den Einsatz neuer digitaler Technologien zielgerichtet, damit jeder Einzelne die Chancen, die sich durch die digitale Transformation ergeben, ergreifen kann. Investitionen in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung sind Voraussetzung für die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Auch wenn die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt im Einzelnen noch unklar sind, werden sich Arbeitsplätze und die Anforderungen an Qualifikationen und Fähigkeiten verändern. In fast jedem Beruf ist heute digitales Wissen gefragt. Viele Menschen machen sich daher Sorgen um ihren Arbeitsplatz. Technologischer Fortschritt schafft aber immer auch neue Arbeitsplätze. Wir müssen daher deutlich machen, dass mit der Anwendung neuer Technologien neue Berufe und Tätigkeitsfelder entstehen, die vielen Menschen neue Chancen bieten. Um den Strukturwandel in Arbeitswelt und Arbeitsmarkt zu gestalten, wollen wir die Aus- und Weiterbildung in unseren Klassenzimmern, Hörsälen, Berufsschulen und Betrieben auf die neuen Anforderungen der Digitalisierung ausrichten. Kontinuierliches Lernen im Berufsleben muss selbstverständlich werden – für jeden und in jedem Alter. Dieser Anspruch ans Weiterlernen im Beruf betrifft Lehrkräfte an Schulen, Ausbilder in Betrieben und Dozenten an
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Vorwort
Hochschulen in besonderer Weise. Die Aus- und Weiterbildung von Lehrenden ist für mich zentraler Dreh- und Angelpunkt, um digitale Bildungskonzepte an Schulen und Hochschulen sowie in der Aus- und Weiterbildung umzusetzen. Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz werden Arbeitswelt und Arbeitsmarkt entscheidend prägen. Unser Ziel sind innovative KI-Anwendungen, die den Menschen unterstützen und entlasten. Menschliche Fähigkeiten sollen durch KI nicht ersetzt, sondern gestärkt werden. KI bietet zudem ganz neue Chancen für neue, individuell auf die Bedürfnisse des jeweiligen Lernenden zugeschnittene Lernkonzepte. Voraussetzung für die Vermittlung Digitaler Bildung ist eine flächendeckende moderne digitale Infrastruktur in Bildungseinrichtungen. Zur Digitalisierung unserer Schulen leistet die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag. Mit dem Digitalpakt Schule und der Offensive Digitales Klassenzimmer zum Breitbandausbau bringen wir zwei zeitlich und inhaltlich aufeinander abgestimmte Großprogramme für die Digitalisierung von Schulen an den Start. Für den Digitalpakt Schule wird der Bund insgesamt fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Die Überarbeitung der Lehrpläne, die Entwicklung pädagogischer Konzepte und vor allem die Qualifizierung der Lehrkräfte ist Aufgabe der zuständigen Länder. Ich bin sicher, dass wir der Digitalisierung unserer Schulen damit einen erheblichen Schub geben. Auch in der Berufsbildung schreitet die Digitalisierung voran. Kaum ein Ausbildungsberuf kommt heute noch ohne aktuelles Wissen über Digitalisierung aus. Daher unterstützt die Bundesregierung mit der Dachinitiative Berufsbildung 4.0 den digitalen Wandel in der Aus- und Weiterbildung. Und mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie haben sich Bundesregierung, Sozialpartner und Länder auf ein gemeinsames und abgestimmtes Engagement zur Stärkung der Weiterbildung verständigt. Digitale Bildung bedeutet aber nicht bloß, neue Technologien bedienen zu lernen. Es geht darum, Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und Studierenden umfassende Kompetenzen zu vermitteln und sie gut auf die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen vorzubereiten. Wer in der digitalen Welt bestehen will, muss vor allem neugierig und kreativ sein. Daher müssen moderne Bildungskonzepte sich verstärkt darauf ausrichten, Schlüsselkompetenzen wie konzeptionelles und kritisches Denken, Kreativität, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln. Dazu gehört auch, die Logik des Programmierens und ein Grundverständnis für KI zu vermitteln. Jeder sollte ein Verständnis davon haben, wie Algorithmen trainiert
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werden und wie die Qualität der Trainingsdaten die Ergebnisse beeinflusst. Programmieren sollte daher Pflichtfach in unseren Schulen werden. Auch die Medienerziehung muss insbesondere in der Schule eine viel größere Rolle spielen. Auch hier brauchen wir zeitgemäße Konzepte zur Vermittlung eines reflektierten Umgangs mit digitalen Medien und eine fundierte Diskussion über die Chancen und Risiken. Denn gerade beim Einsatz von KI stellen sich Fragen, wie die Würde, die Autonomie und die Selbstbestimmung des Einzelnen gewahrt bleiben und gefördert werden kann. Wir befinden uns durch die digitale Transformation mitten in einer großen gesellschaftlichen Umgestaltung. Als Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung konzentriere ich mich darauf, wie wir den Einsatz neuer Technologien in unserer Gesellschaft voranbringen können. Denn die Art und Weise, wie wir leben, wird sich noch viel rascher verändern, als wir es bisher kennen. Diese Entwicklungen sollten uns aber nicht Bange machen, sondern vielmehr anspornen, kreativ und mutig unsere Zukunft zu gestalten. Dorothee Bär
Die Autorin Dorothee Bär ist Staatsministerin für Digitales und Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung.
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Teil I Einleitung 1
Evolution der (Digitalen) Bildung für und gegen Künstliche Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ronny Alexander Fürst
Teil II Erhaltung der digitalen Wettbewerbsfähigkeit in Wirtschaft und Unternehmen 2
Internationale Standortbestimmung – vom Exportweltmeister zum digitalen Entwicklungsland?. . . . . . . . . . . . . 27 Ronny Alexander Fürst, Markus Grottke, Alessandro Sibilio und Alexander V. Steckelberg
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Innovative Geschäftsmodelle und Künstliche Intelligenz: Maledictio et Benedictio?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Robert Rossberger und Daniel Markgraf
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Wettbewerbsfähige digitale Arbeitswelt fordert neue Kompetenzen für Management und Belegschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Wolfgang Bohlen und Daniel Markgraf
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Stellenanzeigen spiegeln die Evolution der Kompetenzbedarfe im Requirements Engineering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Andrea Herrmann
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Exkurs Strukturwandel: Modern Automotive – Null Emissionen versus SUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Rainer Gottschalk
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Case Study: Digital Intelligence Hub als Knowledge Center der digitalen Transformation in einer heterogen strukturierten Einzelhandelsunternehmensgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Axel Poestges
Teil III Antworten der KI auf menschliche Leistungsgrenzen und vice versa 8
AI-pocalypse now? Herausforderungen Künstlicher Intelligenz für Bildungssystem, Unternehmen und die Workforce der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Christian Massmann und Ariane Hofstetter
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Wird die Krone der Schöpfung auf ein neues Haupt gesetzt? Bewusste KI-Systeme im Fokus technischer Entwicklungen. . . . . . . 221 Karsten Wendland
10 Effiziente Nutzung von Information als Rohstoff im Spannungsfeld von Kommerzialisierung und Kollaboration. . . . . . . 241 Rainer Berkemer 11 Autonome KI als Partner des Menschen – Ethische Perspektiven im Spannungsfeld zwischen Entscheidungsentlastung und Verantwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Andrea Herrmann 12 Die Moral der Maschinen – Können neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Julia Davin Teil IV Gesellschaftliche Zukunftsagenda Digitale Bildung 13 Zukunftsagenda und 10 Thesen zur Digitalen Bildung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ronny Alexander Fürst 14 Herausforderungen und Gefahren der Digitalen Bildung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Ralf Lankau
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15 Die Wirkung digitaler Medien im Schulunterricht – Chancen und Risiken der Digitalisierung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. . . . 373 Klaus Zierer 16 Soziologische und cyberpsychologische Perspektiven für Digitale Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Catarina Katzer 17 Wissenschaft und Forschung als Quelle der Potenzialnutzung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Markus Grottke und Andreas Steimer Teil V Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung 18 Digitale Kompetenzen in der Hochschulstrategie – Quo vadis? Ergebnisse einer bundesweiten Schwerpunktstudie zur Digitalisierung an Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Harald Gilch, Anna Sophie Beise, René Krempkow, Marko Müller, Friedrich Stratmann und Klaus Wannemacher 19 Digitale Bildung in Hochschulen aus Sicht der Studierenden: Wahrnehmung des Status quo, Erwartungen und Wünsche . . . . . . . 457 Ullrich Dittler und Christian Kreidl 20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des Rollenverständnisses von Lernenden und Lehrenden im digitalen Studienprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Marianne Blumentritt, Doreen Schwinger und Daniel Markgraf 21 Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz in der Hochschulbildung – Ausgewählte Ergebnisse eines Systematic Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Olaf Zawacki-Richter, Victoria Marin, Melissa Bond und Franziska Gouverneur 22 Learning Analytics im Hochschulkontext – Potenziale aus Sicht von Stakeholdern, Datenschutz und Handlungsempfehlungen. . . . . 519 Dirk Ifenthaler
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Inhaltsverzeichnis
23 Der multimodale Lern-Hub: Ein Werkzeug zur Erfassung individualisierbarer und sensorgestützter multimodaler Lernerfahrungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Jan Schneider, Daniele Di Mitri, Bibeg Limbu und Hendrik Drachsler 24 Chatbots – Nächstes User-Experience-Level im Support von Bildungsangeboten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Dunja Todorovic und Farina Steinert Teil VI Conclusio und Ausblick 25 Zukunftsperspektiven für digital gebildete menschliche und künstliche Co-Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Ronny Alexander Fürst
Teil I Einleitung
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Evolution der (Digitalen) Bildung für und gegen Künstliche Intelligenz Ronny Alexander Fürst
Zusammenfassung
Die Einleitung des vorliegenden Buches beginnt mit der Darlegung der insb. durch die Corona-Pandemie besonders deutlich gewordenen Relevanz und Notwendigkeit der Digitalen Bildung und KI-Nutzung, welche im Grußwort der Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie im Vorwort der Staatsministerin für Digitales aus Sicht der Bundesregierung Bestätigung finden. Danach werden 24 Einzelbeiträge von namhaften Wissenschaftlern und Praxisvertretern zusammengefasst, die auf dem 11. Wissenschaftsforum der AKAD University mit dem Leitthema Digitale Bildung mit und gegen Künstliche Intelligenz – survival of the fittest!? basieren und neueste Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu folgenden vier großen theoretischen Leitlinien diskutieren: Standortbestimmung und Erhaltung der digitalen Wettbewerbsfähigkeit, Antworten der KI auf menschliche Leistungsgrenzen und vice versa, Gesellschaftliche Zukunftsagenda der Digitalen Bildung in Deutschland, sowie Digitalisierung und Hochschulbildung im Kontext Künstlicher Intelligenz. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise (Covid-19-Pandemie) verdeutlichen Begriffe wie Homeschooling und Digitales Semester eine brisante gesellschaftliche Relevanz des Themas Digitale Bildung. Dies wäre vor dem globalen Aus-
R. A. Fürst (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_1
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bruch des Virus in seiner gesellschaftlichen Durchdringung für Deutschland in naher Zukunft kaum vorstellbar gewesen. Bundesweite Schließungen von Schulen und Hochschulen haben dazu geführt, dass sich Bildungsinstitutionen zwangsweise mit dem Einsatz digitaler Medien auseinandersetzen mussten, um den Lehrbetrieb fortführen zu können. Dies hat zumindest kurzfristig einen Perspektivenwechsel bewirkt. So nimmt das Thema Digitale Bildung nunmehr die Rolle eines Problemlösers ein und nicht wie bislang die Rolle eines Bewerbers, der sich für seinen Einsatz gegenüber den traditionellen Bildungsformen legitimieren und rechtfertigen muss. Die Autorin des Vorwortes als Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung sprach in diesem Zusammenhang jüngst sogar von einer „Zwangsdigitalisierung“ von Deutschland und die Bundesministerin für Bildung und Forschung Frau Anja Karliczek betont in Ihrem Grußwort zu diesem Buch, dass digital nie mehr möglich war und nie mehr genutzt wurde, da Digitale Bildung in dieser Ausnahmensituation von einem Tag auf den anderen funktionieren musste. Oft scheitern digitale Transformationsprozesse nicht an fehlender Technologie oder unausgereiften Ideen, sondern am Faktor Mensch. Genau darum, um den Menschen und dessen Digitale Bildung, um den Menschen und sein neu justiertes Verhältnis zu Künstlicher Intelligenz, geht es in diesem Buch. Herausgearbeitet werden soll, wie digital gebildete Menschen, werden ihre Fähigkeiten richtig eingesetzt und sind sie selbst bereit, sich einzubringen, zum Treiber, Erfolgsgaranten und gesellschaftlichen Stabilisator in einer digitalisierten Welt werden. Herausgearbeitet werden soll ferner, wie Digitale Bildung in einer sich aufgrund der Digitalisierung zunehmend sichtbar deutlich verändernden Bildungslandschaft am Wirkungsvollsten angegangen werden kann – welche Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten hier bestehen und welche Chancen es jetzt zu nutzen gilt. Der Sammelband basiert auf dem 11. Wissenschaftsforum der AKAD University, welches am 18. September 2019 unter dem Titel Digitale Bildung mit und gegen Künstliche Intelligenz – survival of the fittest!?! stattfand. Auf der Veranstaltung präsentierten und diskutierten Professoren, Praxisvertreter sowie 150 Gäste. Ganz bewusst wurde hierbei die elfte Auflage des jährlichen Wissenschaftsforums an einem Ort durchgeführt, an welchem die Wirkungen Digitaler Bildung und der in diesem Begriff zusammengebundenen Verschweißung des traditionellen Bildungsbegriffs und der Antworten auf die neuen digitalen Herausforderungen sicht- und greifbar werden: Im Wizemann Space in Stuttgart erzählen die Industrieräume die Geschichte vergangener durch Bildung zu lösender Herausforderungen und berichten gleichzeitig von der heutigen Nutzung als Co-Working-Space für digitale Start-ups und von den aktuellen, durch Digitale Bildung wie Künstliche Intelligenz zu lösenden Herausforderungen auf dem Weg in das digitale Zeitalter. Im Nachgang zur Veranstaltung wurden die
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Vorträge und weitere Beiträge ausgewiesener Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen nun als bleibende Beiträge zum Leitthema in der AKAD University Edition im Springer Verlag synthetisiert, mit der Zielsetzung an dieser Stelle ein Standardwerk zur Digitalen Bildung entstehen zu lassen. Im Grußwort zu vorliegendem Werk zur Digitalen Bildung und Künstlichen Intelligenz in Deutschland unterstreicht die Bundesministerin für Bildung und Forschung Frau Anja Karliczek die Notwendigkeit der Digitalen Bildung und macht deutlich, dass die Bundesregierung diese im Rahmen der Digitalstrategie in allen Bildungsbereichen ermöglichen will und was dafür bereits alles auf den Weg gebracht wurde. Zudem erläutert sie, Künstliche Intelligenz könne dabei unterstützen, Lerninhalte und Aufgaben an individuelle Bedürfnisse, Lernstrategien und Kompetenzen anzupassen. Im Kontext der Corona Pandemie betont sie, diese Ausnahmesituation habe uns sehr deutlich gezeigt, dass eine digital gut ausgebildete Wirtschaft und Gesellschaft große Herausforderungen besser bewältigen und unsere Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig sichern kann. Aus Sicht der Bundesministerin für Bildung und Forschung hat der Testlauf für die Digitale Bildung in den Schulen und Hochschulen begonnen, den sie als Chance für die Zukunft sieht, die wir gemeinsam nutzen sollten. Die Beiträge des Sammelbands lassen sich entlang von vier großen theoretischen Linien entfalten, die vier logisch aufeinander aufbauende Teile ergeben: Zunächst geht es in Teil zwei darum, wie durch Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz die ökonomische Basis jeden Zusammenlebens erhalten werden kann. Es geht also darum, wie Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz dazu dienen können, Unternehmen und Wirtschaft zu erhalten. Indes ist dies nicht der Endzweck menschlichen Daseins, sondern lediglich Wirksamkeitsvoraussetzung. Im dritten Teil geht es deshalb um eine Standortbestimmung des Menschen an sich gegenüber der sich neu herausbildenden Künstlichen Intelligenz. Wenig verwunderlich ist in diesem Kontext, dass das Instrument Künstliche Intelligenz neue ethische und moralische Fragen aufwirft. Diese werden entlang der zweiten großen theoretischen Linie des Werks in dem thematischen Teil Antworten der KI auf menschliche Leistungsgrenzen und vice versa entfaltet. Die dritte große theoretische Linie in Teil vier des Bandes widmet sich der Frage nach einer gesellschaftlichen Agenda zur Digitalen Bildung, mithin den gesellschaftlich übergeordneten Fragen zu diesem Thema. In der vierten und letzten großen theoretischen Leitlinie des Bandes wird das Thema von Digitalisierung und Hochschulbildung im Kontext Künstlicher Intelligenz erörtert. In ihrem einleitenden Vorwort hob Dorothee Bär als Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung die Bedeutung Digitaler Bildung für die Zukunftsfestigkeit Deutschlands hervor. Sie betonte das Ziel der Bundesregierung sei Vollbeschäftigung mit Digitalisierung zu erreichen. Darum würden zielgerecht
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Initiativen der Digitalisierung gefördert. Voraussetzung zur Realisierung der Früchte der Digitalisierung seien hierbei Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung. Darum gelte es, die Ausbildung an Schulen, Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten auf die neuen Anforderungen der Digitalisierung auszurichten. Auch müssten Menschen sich zunehmend auf ein lebenslanges Lernen ausrichten. Innovative KI entlaste und unterstütze Menschen, und diene als KI in Lernkonzepten der Digitalen Bildung. Voraussetzung hierfür sei indes eine moderne digitale Infrastruktur. Die Bundesregierung habe aus diesem Grund die Initiative Berufsbildung 4.0 zur Stützung der Weiterbildung ins Leben gerufen. Dabei sei bedeutsam, Digitale Bildung nicht nur als einen Einsatz neuer Technologien zu verstehen, sondern Kompetenzvermittlung ganzheitlich mit dem Ziel der Vorbereitung auf die zukünftigen gesellschaftlichen und beruflichen Realitäten zu betreiben. Wer in der digitalen Welt bestehen wolle, müsse neugierig und kreativ sein. Ferner bedürfe es solcher Fähigkeiten wie Kooperationsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Grundverständnis für KI, Programmierfähigkeit und Medienkompetenz. Gerade beim Einsatz von KI stellten sich darüber hinaus Fragen nach Würde, Autonomie und Selbstbestimmung. Es komme zu einer großen gesellschaftlichen Umgestaltung durch Digitalisierung. Ansporn müsse sein, kreativ und mutig unsere Zukunft zu gestalten. Im zweiten Teil des Buches, der Erhaltung der digitalen Wettbewerbsfähigkeit in Wirtschaft und Unternehmen, wurden sechs Beiträge versammelt. In dem Beitrag Internationale Standortbestimmung – vom Exportweltmeister zum digitalen Entwicklungsland? nehmen Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst, Geschäftsführer und Kanzler, Prof. Dr. Markus Grottke, Prorektor für Duales Studium und Innovation der AKAD University, Alessandro Sibilio, AKAD Alumni und Doktorand der Leadershipkulturstiftung (LKS), und dessen wiss. Leiter PD Dr. Alexander V. Steckelberg, PD am Institut für Berufspädagogik und allgemeine Pädagogik des KIT Karlsruhe, eine Einordnung der aktuellen Lage Deutschlands im Vergleich zu anderen Ländern vor. Hierbei nähern sie sich dem Thema von unterschiedlichen Seiten. Zunächst analysieren sie, welche Erfolgsfaktoren Deutschland in der Vergangenheit haben zum Exportweltmeister werden lassen. Als Erfolgsfaktoren lassen sich u. a. der hocherfolgreiche auch international tätige Mittelstand (hidden champions) und die Prinzipien, welche diesen leiten, identifizieren. Als Erfolgsfaktor lässt sich auch die soziale Marktwirtschaft mit ihrem Fokus auf einen funktionierenden Wettbewerb ausmachen sowie die politische Arbeit daran, durch Handelsabkommen die Möglichkeiten internationaler Absatzmärkte zu vergrößern. Ein bedeutender Erfolgsfaktor war auch die Konzentration auf bestimmte Kernindustrien wie Automobilbranche und Maschinenbau. Hernach arbeiten sie den Status quo Deutschlands
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in Bezug auf Digitalisierung per se und international über vergleichende Studien auf. Demzufolge steht Deutschland in Bezug auf Digitalisierung hinter anderen Nationen. Hierbei analysieren sie das Verhältnis der in diesem Kontext als neu auftretend identifizierten Determinanten zu den alten Erfolgsfaktoren und damit, was gemessen an der Vergangenheit wie den aktuellen Entwicklungen der Digitalisierung tatsächlich auch in Zukunft die wesentlichen Hebel für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Exportweltmeisters Deutschland sein dürften. Ferner widmen sie sich der Frage, welche Rolle Bildung, insbesondere Digitale Bildung in diesem Kontext zu spielen hat. Zu diesem Zweck analysieren sie die Herkunft des traditionellen Bildungsbegriffs und seine Eignung für eine digitale Welt ebenso wie internationale Bildungsmodelle im Lichte der Digitalisierung; diese reichen von einer eher liberalen Form von Humboldt ausgehend bis hin zur Massenuniversität und einem auf statistische Messbarkeit und Effizienz ausgelegten, international verbreiteten New Public Management (auf ökonomische Effizienz ausgerichtetes Management öffentlicher Einrichtungen). Während sie bei Ersterem eine weltweite Marginalisierung konstatieren, finden sie bei Letzterem zwar ökonomischen Erfolg, der indes auf merkwürdige Weise mit einem Verlust von Bildung im Sinne einer Persönlichkeitsbildung einhergeht. Vor dem Hintergrund der Erfordernisse einer Arbeit in einer digitalisierten Welt zeigen die Autoren auf, dass ökonomische Erfordernisse und Bildung für breite Schichten kein Widerspruch zum liberalen Bildungsgedanken sein müssen. Stattdessen ist ein die Vorzüge der verschiedenen Modelle vereinender Weg zu Digitaler Bildung nicht nur für die Bewahrung vergangener Erfolgsfaktoren für die deutsche Wirtschaft ideal geeignet, sondern kann auch einen bedeutenden Beitrag zur Freiheit, aber eben auch Verantwortung jedes Einzelnen für den wirtschaftlichen Gesamterfolg leisten. Hierdurch werden nämlich exakt jene Schlüsselqualifikationen digital gebildet, auf welche eine digitalisierte Wirtschaft angewiesen ist. In dem Beitrag Innovative Geschäftsmodelle und Künstliche Intelligenz: Maledictio et Benedictio? von Prof. Dr. Robert Rossberger, Studiengangsleiter des Studiengangs BWL – Digital Transformation, und Prof. Dr. Daniel Markgraf, Prorektor für Forschung und Digitalisierung und Direktor des Institute for Digital Expertise and Assessment (IDEA), beide von der AKAD University, wird insbesondere auf die Frage eingegangen, welche konkreten Chancen und Gefahren sich durch die Nutzung von KI gerade für Start-ups und kleine Unternehmen ergeben. Dazu betrachten die Autoren die essenziellen Attribute von Innovation, digitaler Transformation und Künstlicher Intelligenz aus aktuellen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven. Die Autoren weisen nach, dass das größte Potenzial der KI-Nutzung in einer Kombination aus KI und
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Mensch besteht, da die KI zwar besser darin ist zu erfassen, was geschieht und vielfach auch wie es geschieht, aber der Mensch immer noch die Entscheidungen basierend auf diesen Daten ableiten muss, welche durch die Frage nach dem Warum beantwortet wird. Sie verdeutlichen in ihrem Beitrag damit, dass gerade für den Mittelstand im Kontext der Digitalisierung eine Neujustierung von Geschäftsmodellen unvermeidbar ist und alles darauf ankommt, diese Neujustierung so zu gestalten, dass die Chancen der Digitalisierung genutzt, die negativen Wirkungen indes umschifft werden. In ihrem Beitrag Wettbewerbsfähige digitale Arbeitswelt fordert neue Kompetenzen für Management und Belegschaft analysieren Prof. Dr. Wolfgang Bohlen, Studiendekan der AKAD School Business Administration and Management, sowie Prof. Dr. Daniel Markgraf, Prorektor für Forschung und Digitalisierung sowie Direktor des Institute for Digital Expertise and Assessment (IDEA) der AKAD University, welche Wirkungen Digitalisierung für Management und Belegschaft aufweist. Die Digitalisierung verändert den Autoren zufolge die Welt, und zwar nicht nur diejenige, in der wir leben, sondern auch jene, in der wir arbeiten. Kreative Innovationen hätten neue und ggf. bisher nicht bekannte Geschäftsmodelle zur Folge. Diese Entwicklung könne ganze Branchen verändern. Die digitale Revolution verändere dabei zunehmend nicht nur einzelne Aspekte des Berufslebens, sondern immer stärker die tägliche Arbeit insgesamt. Immer wieder in diesem Kontext thematisierte Stichworte hierzu lauteten New Work oder Arbeit 4.0. Sie machten vor allem eines deutlich: In der digitalen Welt verändern sich nicht nur die Arbeitsbedingungen, es werden auch neue Kompetenzen benötigt, um die umfassenden digitalen Herausforderungen erfolgreich zu meistern. In diesem Zusammenhang stehe auch die gesamte Unternehmenskultur vor neuen Herausforderungen. Personaler müssten Arbeitsbedingungen neu ausrichten sowie neue Kompetenzen erkennen, entwickeln und letztendlich kontinuierlich weiterentwickeln. In diesem Kontext sei dann auch aktiv eine neue Unternehmenskultur zu gestalten. Der Beitrag zeigt damit auf, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in einer digitalisierten Wirtschaft besonders stark von dem sozialen Miteinander und den einzelnen Kompetenzen der handelnden Personen abhängt. Mit anderen Worten werden kompetent handelnde Menschen, welche willens und fähig sind, den Unterschied auszumachen, für den Erfolg von Unternehmen und deren Zukunftsfähigkeit in einer digitalisierten Wirtschaft noch bedeutsamer, wenn nicht überlebenswichtig. In ihrem Beitrag Stellenanzeigen spiegeln die Evolution der Kompetenzbedarfe im Requirements Engineering beschäftigt sich Prof. Dr. Andrea Herrmann, Professorin für Software Engineering an der AKAD University, mit den Ergebnissen einer Studie, welche seit 2009 alle drei Jahre Stellenanzeigen ana-
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lysierte, um zu untersuchen, wie Personen rekrutiert werden, welche in Softwareprojekten Requirements Engineering (RE) betreiben, also Anforderungen ermitteln, dokumentieren und/oder verwalten. Hierbei analysiert die Autorin, wie die fragliche Position bezeichnet wird, auf welche diese Person eingestellt wird, welche Aufgaben der Person zugedacht werden und welche Kompetenzen sie benötigt. Stellenanzeigen für Positionen, die sich Requirements Engineer, Anforderungsingenieur oder Product Owner nennen, so zeigt sich, gibt es kaum (5 % und weniger). Stattdessen wird das Requirements Engineering von Beratern, Programmierern und Projektleitern mit erledigt. Am häufigsten ist das Requirements Engineering mit Entwurf und Entwicklung der technischen Lösung kombiniert, aber auch mit Qualitätssicherung und Projektmanagement. Als besonders bedenklich stellt sich heraus, dass kaum spezifische RequirementsEngineering-Kompetenzen ausdrücklich gefordert werden: Nur ca. ein Drittel der Anzeigen nennen überhaupt solche Kompetenzen und sofern diese genannt werden, erfolgt vor allem ein pauschaler Rekurs auf „Erfahrung“. Softskills und technische Kenntnisse dagegen werden fast überall erwünscht. Dies passt auch zu Ergebnissen anderer Studien zu ähnlichen Fragestellungen. Die Autorin zeigt auf, dass gerade angesichts der häufig scheiternden IT-Investitionen die Berücksichtigung von Requirements Engineering von allerhöchster Bedeutung ist, um als Unternehmen in einer digitalisierten Wirtschaft zu bestehen, weil so das Risiko kostenträchtiger IT-Fehlinvestitionen im Sinne des Solow-Paradoxes signifikant abgemildert werden. Somit illustriert dieser Beitrag auch im Gesamtkontext des vorliegenden Werkes, dass erforderliche Kompetenzen in der Praxis häufig nicht explizit im Recruiting adressiert werden. Dies sei aber erforderlich, um insbesondere das Risiko kostenträchtiger IT-Fehlinvestitionen zu verhindern und eine bessere Realisierung für Voraussetzungen einer erfolgreichen Digitalen Bildung durch Requirements Engineering zu unterstützen. Anhand zweier Fallstudien folgen darauf Analysen wie der digitale Wandel in der Wirtschaft gelingen kann und wie der Schlüsselfaktor Digitale Bildung hierbei ausgestaltet ist. In seinem Branchenexkurs Strukturwandel Modern Automotive – Null Emissionen versus SUV analysiert Prof. Dr.-Ing. Rainer Gottschalk, Studienleiter für Energiesysteme an der AKAD University, den Strukturwandel in dem Dreieck Autoindustrie–Verkehrswirtschaft–Energiesysteme. So weist er darauf hin, dass das Klima sich immer schneller verändere und mit ihm die Mobilität der Menschen. Bereits jetzt seien unsere Infrastruktur- und Verkehrsnetze überlastet, die Schadstoffemissionen, klimawirksamen Emissionen, aber auch Lärmemissionen, vor allen Dingen in den großen Innenstädten, stiegen stetig. Die Frage, welche er zu beantworten sucht, ist, ob der zwingend notwendige Wandel hin zu einer klimafreundlichen, energieeffizienten Fortbewegung
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gelingen und in welchem Umfang hierfür KI eingesetzt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, werden zahlreiche weitere Fragen analysiert, wie: Können wir nach so viel Abgasskandalen unserer Automobilwirtschaft noch vertrauen? Welche neuen Antriebskonzepte entstehen, welche digitalen Kompetenzen werden benötigt und wie verhalten wir Kunden uns im Markt? Analysiert werden ferner Energie- und Datenzukunft sowie ihre wechselseitigen Abhängigkeiten. Mittendrin steht dabei der Mensch in seiner neuen Umwelt. Der Beitrag wirft ein Licht darauf, mit wie viel Schwierigkeiten der aktuell sich vollziehende Strukturwandel behaftet ist, aber auch welche Möglichkeiten er Menschen mit Digitaler Bildung offeriert. In seiner Fallstudie betitelt mit Case Study: Digital Intelligence Hub als Knowledge Center der digitalen Transformation in einer heterogen strukturierten Einzelhandelsunternehmensgruppe umreißt Dr.-Ing. Axel Poestges, Dozent & Autor an der AKAD University, digitale Fertigkeiten und Fähigkeiten als Kriterien digitaler Reife. Er arbeitet anhand eines Beispiels einer digitalen Transformation in einer heterogen strukturierten Einzelhandelsunternehmensgruppe heraus, dass das zielorientierte Management der Digital Capabilities eine absolut erfolgskritische Managementaufgabe darstellt. Kleine Unternehmen, die hier vor einem Quantensprung stehen, seien oftmals überfordert. In dem Beitrag erhält der Leser Einblick in ein digitales Transformationsprojekt in einer Einzelhandelsgruppe. Es wird gezeigt, dass und warum der Erfolg eng mit der flächendeckenden Bereitstellung solcher Digital Capabilities zusammenhängt. Ebenso wird aufgezeigt, wie auf einfache Art und Weise auch in nicht unmittelbar technologiegetriebenen Unternehmen digitale Fähigkeiten und Fertigkeiten als strategischer Wert im Wettbewerb zur Geltung kommen. Insgesamt erarbeiten die genannten Beiträge nach einer eingangs erfolgten Standortbestimmung der Wettbewerbsfähigkeit aus verschiedenen Perspektiven (kleine Unternehmen, Mitarbeiter und Führungskräfte, IT-Requirements Engineering sowie zwei Branchenstudien) einerseits die Herausforderungen, vor denen die Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt stehen. Andererseits identifizieren sie jedoch verschiedene Facetten der Digitalen Bildung als wesentlichen Teil der Lösung der sich andeutenden Problemstellungen. Damit beleuchten sie den Beitrag, welchen Digitale Bildung bei der Bewältigung der Herausforderungen einer digitalen Wirtschaft einnehmen wird. Im dritten Teil des Bandes wird eine zweite große theoretische Linie entfaltet, mit der jeder konfrontiert wird, welcher sich der Analyse Digitaler Bildung widmet. So kommt zunehmend mit der Künstlichen Intelligenz ein Faktor ins Spiel, welcher zuvor allein dem Menschen zugeeignete Bereiche von Kompetenzen zu ersetzen in der Lage ist. Insofern ist er sowohl als
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eigenständiger Akteur als auch als Instrument in Relation zum Menschen zu justieren, will man bestimmen, welchen Weg Digitale Bildung angesichts dessen einschlagen könnte oder auch sollte. Im Sammelband erfolgt eine Thematisierung dieses Themenfeldes aus fünf Perspektiven. In ihrem Beitrag AI-pocalypse now? Herausforderungen Künstlicher Intelligenz für Bildungssystem, Unternehmen und die Workforce der Zukunft setzen sich Christian Massmann, Co-Founder & Managing Partner der NOAA PARTNERS Growth & Evolution Architects, und Ariane Hofstetter, Geschäftsführerin KOHORTEN Sozial- und Wirtschaftsforschung, mit den Möglichkeiten und Herausforderungen Künstlicher Intelligenz auseinander. Der Beitrag beleuchtet hierbei historische und künftige Entwicklungen von KI und deren Auswirkungen auf Unternehmen und die Workforce von morgen und präsentiert die Ergebnisse ihrer aktuell durchgeführten Digital Skills Gap Studie 2020. Dabei legen die Autoren dar, dass innovative Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz Unternehmen völlig neue Möglichkeiten eröffnen, welche Chancen und (Überlebens-)Risiken zugleich repräsentieren. Dies betrifft den Autoren zufolge in der Perspektive jede Industrie. Dabei falle bereits jetzt die Schere zwischen den Anforderungen der Digitalisierung an Unternehmen und Mitarbeiter und dem Status quo groß aus. Sie werde sich im Laufe des nächsten Jahrzehnts indes noch weiter öffnen, wenn Unternehmen, Mitarbeiter und Bildungssystem nicht anders agieren und die richtigen Schritte einleiten. In vielen Unternehmen gebe es jedoch eine Tendenz zu einer Orientierung an „Worst Practices“. Es mangele an Zeit und Problembewusstsein sowie an organisationalen Innovations- und Nutzungsstrategien, die gleichermaßen das Geschäftsmodell und den Menschen in den Blick nehmen. Hinsichtlich der Mitarbeiter von morgen wird gefordert, im Rahmen der Digitalisierung essenziell werdende Skills wie Anpassungsqualifikationen, Problemlösungskompetenzen und kritisches Out-of-the-BoxDenken bereits in den Schulen zu trainieren. Doch auch hier erweist sich der Studie zufolge der Status quo als bedenklich. Nur 22 % der befragten deutschen Lehrkräfte der Sekundarstufen 1 und 2 sind überzeugt, dass das deutsche Bildungssystem zukunftsfähig ausfalle. Gleichzeitig sind nur etwas mehr als 50 % der Lehrkräfte der Meinung, dass KI die beruflichen Anforderungen stark verändern wird. Am unwichtigsten ist den Lehrkräften das Vermitteln von Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge, Präsentations-Skills und Anpassungsqualifikationen. Auch digitale Kompetenzen und Medienkompetenz haben aus Sicht der Lehrkräfte keine hohe Relevanz. Rund 33 % der Lehrkräfte setzten noch keine digitalen Arbeitsgeräte ein. Lehrkräfte fühlten sich nicht ausreichend auf die Digitalisierung des Unterrichts und die Vermittlung digitaler Fertigkeiten vorbereitet. Schlechte Noten gibt es auch für die digitalen
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Kompetenzen der Schüler. Diese könnten zwar digital kommunizieren, es mangele aber an grundlegenden Skills. Schlechte Noten vergeben Lehrkräfte den Schülern zudem für die Fähigkeit, digitale Informationen zu bewerten (Note 3,7), für Grundkenntnisse der Programmierung und Softwareentwicklung (Note 4,1), für deren Kenntnisse über Chancen und Risiken von KI (Note 3,8) sowie rechtliche Grundkenntnisse (Note 4,3) und Datenschutz (Note 3,8). In den Unternehmen wird Digitalisierung von Entscheidern mit unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit assoziiert. Insgesamt zeigt die Studie den Handlungsbedarf auf, welcher im Bereich Digitale Bildung durch das Aufkommen von zunehmender Künstlicher Intelligenz entsteht. In seinem Beitrag Wird die Krone der Schöpfung auf ein neues Haupt umgesetzt? Bewusste KI-Systeme im Fokus technischer Entwicklungen analysiert Prof. Dr. Karsten Wendland, Professor für Medientechnik an der Hochschule Aalen und Teil des Instituts für Technikfolgenabschätzung am KIT Karlsruhe, die Frage, zu welchem Grad Künstliche Intelligenzen jetzt bzw. in Zukunft eines Bewusstseins fähig sein können. Hierbei stellt er Fragen wie: Wäre es an der Zeit, Politiker durch Künstliche Intelligenzen zu ersetzen? Was ist dran an der Idee, dass KI ein eigenes Bewusstsein erlangen können? Müssen wir, unsere Kinder und unsere Enkel damit rechnen, hier durch Androiden ersetzt und so im wahrsten Sinne des Wortes aufgrund unserer mangelhaften Herstellung überflüssig zu werden? Der Autor gibt hierbei einen umfassenden Einblick in aktuelle Ansätze und Bemühungen, einerseits den „Geist in der Maschine“ zu erzeugen sowie andererseits die potenziellen und bereits realisierten Erzeugungen historisch einzuordnen. Er zeigt auf, welche Zukunftsszenarien erwartet und auch befürchtet werden. Dadurch entmystifiziert er das Thema, ordnet es in ethische Bezugsrahmen ein und arbeitet heraus, dass man die KI regulieren müsse, um dem Menschen seinen Platz zu erhalten. Einen Wendepunkt in den zuvor vorgebrachten Überlegungen markieren die Gedanken von Prof. Dr. Rainer Berkemer, Professor für Produktionsmanagement an der AKAD University, in seinem stark interdisziplinär geformten Beitrag Effiziente Nutzung von Information als Rohstoff im Spannungsfeld von Kommerzialisierung und Kollaboration. Berkemer identifiziert zielsicher eine, wenn nicht die zentrale Informationsvoraussetzung, welche dem Verhältnis Mensch versus Künstliche Intelligenz zugrunde liegt. Hierbei vernetzt er letztlich drei Implikationen. Die erste Implikation betrifft die Frage der Granularität von Informationen. Berkemer zeigt unter Rückgriff auf den Entropiebegriff auf, dass mit zunehmender Durchwirkung von Mikrowelten, also zunehmender Vernetzung von Informationen, wie diese durch die Digitalisierung geschieht, der Informationsgehalt aus Makroperspektive abnimmt. Einfach weil der gleiche
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Zustand auf viel mehr Arten und Weisen erreicht werden kann, als in einem separaten, abgeschlossenen Informationsraum. Bezieht man dies z. B. auf das Management, nimmt damit die Möglichkeit zur Verantwortung für einen bestimmten Zustand für die Makroperspektive ab, für die Mikroperspektive hingegen zu. Dies hat gerade für die Notwendigkeit Digitaler Bildung von Mitarbeitern fundamentale Konsequenzen. Deutlich wird hieran auch, dass es sowohl rechtlich als auch überhaupt in Bezug auf eine Ursachenforschung wesentlich komplexer wird, Geheimhaltung zu betreiben oder Verstöße gegen Geheimhaltung zielgerichtet zu ahnden. Es kann nämlich nicht mehr nachvollzogen werden, von welcher Stelle aus Informationen fließen und wie diese sich beeinflussen. Berkemers zweite Implikation ist, dass Fehlinformationen im Netz – selbst ohne Blockchain – „ewig“ werden, da sie in einem vernetzten System, selbst bei Löschung an einigen Stellen weiterhin an zahlreichen anderen Stellen erhalten bleiben. Auch hier impliziert dies Weitreichendes. So bedeutet das, dass einem alles, was man sagt oder tut, erneut begegnet – mit anderen Worten begegnet man sich im Spiegel des anderen immer mehrfach. Dies stellt an menschliches Verhalten enorme Anforderungen, welche erneut Digitale Bildung voraussetzen. Zuletzt zeigt Berkemer unter Rückgriff auf Stiglitz auf, dass die „Ware“ Information besondere Eigenschaften aufweist. So ist sie der Natur, dass ihre Nutzung zu Grenzkosten von Null vervielfacht werden kann: In keinem Bereich ist das Potenzial synergetischer Nutzung so groß wie im Bereich der Information. Das lässt insbesondere Geheimhaltung und rechtlichen Schutz von Informationen problematisch erscheinen. Auch hier ergeben sich weitreichende Schlussfolgerungen. So liegt in Bezug auf Informationen nahe, umfangreich zu kollaborieren, anstatt diese kommerziell durch Geheimhaltung oder Rechtsschutz zu privatisieren. Was für Informationen gilt, gilt hierbei im weitesten Sinne sowohl für Künstliche Intelligenz, welche diese Informationen als technischer Mechanismus verdichtet, als auch für Menschen, welche dies zwar nicht allein, wohl aber in Kollaboration verdichten. In ihrem Beitrag Autonome KI als Partner des Menschen – ethische Perspektiven im Spannungsfeld zwischen Entscheidungsentlastung und Verantwortung setzt sich Prof. Dr. Andrea Herrmann, Professorin für Software Engineering an der AKAD University, mit der Frage auseinander, welche Fragestellungen hinsichtlich des Einsatzes Künstlicher Intelligenz zu adressieren sind. Sie hebt hervor, dass häufig adressierte Fragen, wie diejenige, welche Menschen ein selbstfahrendes Auto töten solle und welche nicht, bereits als Fragestellung schon falsch gesetzt seien, setzten sie doch voraus, dass Künstliche Intelligenz (KI) ethisch relevante Entscheidungen treffen werde, und dass dies nach utilitaristischen Prinzipien geschehe. Der Beitrag holt darum weiter aus
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und behandelt folgende grundsätzlichen Fragen bezüglich des Einsatzes von KI: Ist es ethisch vertretbar, dass Maschinen Entscheidungen treffen? Welche Entscheidungen dürfen Maschinen treffen? Was, wenn Maschinen – versehentlich oder absichtlich – Menschen töten? In diesem Rahmen setzt sich die Autorin auch mit den relevanten ethischen Grundlagen auseinander, z. B. dem Unterschied zwischen der utilitaristischen und der deontologischen Ethik. Sie hinterfragt: Wie lassen sich beide technisch umsetzen und wo liegen die jeweiligen praktischen Grenzen? Ferner fragt sie nach den Folgen des KI-Einsatzes: Wie verändern sich Berufsbilder und die Rolle des Menschen im Arbeitsprozess durch autonome KI-Entscheidungen? Zuletzt folgen ein Vorschlag und Ausblick, welcher eine Zweiteilung vorsieht. KI solle dort eingesetzt werden, wo sie ethisch vertretbare Arbeitsprozesse verbessern kann, aber es sollten auch Tabus formuliert werden. Einen anderen Weg schlägt der Beitrag von Julia Davin, Co-Founderin des KI-Unternehmens Masterplan Engineering und ehemalige AKAD-Studierende, ein. Betitelt mit Die Moral der Maschinen – Können neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen? analysiert die Autorin, inwieweit neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen können. Als Basis ethischer Grundsätze dienen der Maschine in ihrer Untersuchung die Märchen der Gebrüder Grimm. Durch unüberwachtes Lernen soll erforscht werden, ob das neuronale Netz die Moral der Figuren erfassen kann, die moralischen Ähnlichkeiten zwischen den Figuren in Clustern gruppieren und korrekt zwischen den Variablen „gut“ und „böse“ einordnen kann. Die Ergebnisse des neuronalen Netzes werden mit den Bewertungen von Probanden verglichen, die mittels einer wissenschaftlichen Umfrage erhoben wurden. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen die Schwierigkeit, denen sich eine Maschine ausgesetzt sieht, wenn sie im Umfeld von Menschen deren moralische Urteile aus einem vorgegebenen Kontext aufzunehmen und einzuordnen versucht. Die moralische Ähnlichkeit zwischen Charakteristiken von Personen kann das neuronale Netz erfassen. Die Märchentexte dienen als Vermittler von „gut“ und „böse“ dagegen nur dann, wenn der Leser über implizites Wissen verfügt. Dieses Wissen geht der Maschine allerdings ab. Der Beitrag zeigt auf, dass es zumindest mit heutigem Stand nur bedingt möglich ist, neuronalen Netzen ethische Grundsätze wirksam zu vermitteln. Fasst man die Beiträge des dritten Buchteils zusammen, so lässt sich wechselseitig herausarbeiten, in welcher Beziehung die Digitale Bildung des Menschen zu Künstlicher Intelligenz steht und welche Herausforderungen daraus erwachsen. So wird zunächst deutlich, dass für den Menschen im Abgleich mit den Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz eine Reihe von intellektuellen Routinefähigkeiten von abnehmender Bedeutung ist, während Qualifikationen wie Kreativität, Anpassungsfähigkeit und interdisziplinäres Querdenker-
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tum an Bedeutung gewinnen. Es wird zudem deutlich, dass Kollaboration eine Schlüsselfähigkeit wird, da der Mensch mit zunehmender Vernetzung als Einzelner aus einer Makroperspektive gar nicht mehr über die Möglichkeiten verfügen kann, alles zu durchdringen, weil die Möglichkeiten, wie bestimmte Ergebnisse zustande gekommen sind und die Ursachenforschung, warum diese zustande gekommen sind, in einer vernetzten Welt exponenziell ansteigen. Möglich ist dies hingegen weiter in der Mikroperspektive bei den konkreten Problemen und Aufgabenstellungen, d. h. dort, wo der Einzelne tätig ist. Dies beleuchtet die fundamentale Bedeutung, aber auch welch fundamentale Verantwortung bei Digitaler Bildung gerade den Mitarbeitern an der Basis zukommt, da nur diese jeweils das tatsächliche Problem erkennen und zielgerichtet lösen werden. Künstliche Intelligenz hingegen kann eine Vielzahl an Handlungsweisen und Informationen absorbieren, aber sie kann nicht – über eine in einer eng beschränkten Domäne erfolgende Vorklassifizierung hinaus – moralisch urteilen lernen. Auch ist sie gegenüber ihren eigenen vergangenen Handlungen indifferent, hat also anders als ein Mensch keine Geschichte, d. h. sie begegnet sich nicht im Spiegel ihrer selbst. Insgesamt erweist sich Künstliche Intelligenz damit als nützliches Instrument, welches Herausforderungen einer vernetzten Welt adressieren kann, die ein Mensch häufig schlechter löst. Zugleich ist sie allerdings zwingend an ethische Urteile verantwortlich handelnder Menschen gebunden. Die dritte theoretische Leitlinie des Werkes wird in Teil IV – Gesellschaftliche Zukunftsagenda Digitale Bildung entfaltet. Eingeleitet wird dieser Teil mit einer Zukunftsagenda und 10 Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung in Deutschland von dem Herausgeber, Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst, Geschäftsführer und Kanzler der AKAD University. Der Autor arbeitet in diesem Beitrag zunächst heraus, welche Relevanz Digitaler Bildung in Deutschland aktuell zukommt. Als Nukleuspunkt für Überlegungen zur Zukunft der Digitalen Bildung werden hernach die großen Problemfelder und Herausforderungen identifiziert, welche in der absehbaren Zukunft nicht nur von Deutschland, sondern auch global zu lösen sind. Aufgezeigt wird, dass Digitale Bildung hier einen außergewöhnlichen Beitrag leisten kann. Nachfolgend wird eine holistische Auslegung des Begriffes Digitaler Bildung angeboten. Mit einer Erweiterung des klassischen Modells des Pädagogischen Dreiecks wird dieses für die Digitale Bildung erweitert, welche die neue Determinante der Lerntechnologie mit der Lernpädagogik durch den Lehrenden und die Lernresultate beim Lernenden in ein neues Modell vereint. Unter der individualisierten Nutzung digitaler Lerntechnologien wird die Verbesserung der Lernresultate und insbesondere die Entwicklung digitaler Kompetenzen – mit denen zukünftige neue Probleme besser gelöst werden
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können – zur realisierbaren Neujustierung nachhaltiger Bildungsziele. Nachdem digitale Kompetenzen in digitale Führungs-, digitale Fach- und digitale Basiskompetenzen aufgeteilt werden, wird deren Relevanz für die Entwicklung digitaler Exzellenzkulturen aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund werden zehn Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung formuliert und es wird aufzeigt, dass sukzessive aus Thesen bereits Entwicklungstendenzen werden. Ein Fazit, welches die einzelnen Teile noch einmal zusammenfasst, mündet in einem Ausblick auf sich abzeichnende Paradoxa, deren fruchtbare Lösung die Voraussetzung ist, damit Digitale Bildung ihr enormes Entwicklungspotenzial entfalten kann. Dem folgt ein Beitrag zu Herausforderungen und Gefahren der Digitalen Bildung in Deutschland von Prof. Dr. Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Dieser konstatiert, dass, wer sich als Pädagoge und Wissenschaftler mit dem Thema Digitalisierung im Kontext von Unterricht, Lehre und Bildungsprozessen befasse, schnell zu der Feststellung gelange, dass kaum jemand die Tragweite der durch Digitaltechnik und Netzwerke möglichen und von IT-Konzernen forcierten Transformation von Bildungseinrichtungen zu immer stärker automatisierten, kybernetisch gesteuerten Beschulungs- und Prüfanstalten realisiere. In der Konsequenz fordert er, dass sich institutionelle Akteure im Bereich von Schulen und Hochschulen auch mit Parametern und Geschäftsmodellen der angelsächsischen Global Education Industries (GEI) auseinandersetzen sollten, anstatt sich vorrangig mit Curricula, Lerntheorien und pädagogischer Methodik zu befassen. In der GEI schalle einem als neues Mantra der Bildung deren ökonomische Begründung entgegen. Zumindest im öffentlichen Diskurs wird hierbei behauptet, es komme vor allem auf eine technisch bessere und „zeitgemäßere“ Ausstattung an. Bei Begriffen wie personalisiertem bzw. individualisiertem Lernen müsse allerdings klar sein, dass derlei Angebote auf personalisierten Daten samt algorithmisch basierter Auswertung und Nutzersteuerung beruhen müssen. Der Begriff Learning Analytics als Teilaspekt von Big Data Analytics weist ebenso auf Automatisierungstechnik für Lernprozesse wie der Begriff der datengestützten Schulentwicklung. Der Autor hebt hervor, dass mit Summit Learning (Facebook), Google Classroom oder Apple Education bereits jetzt vollautomatisierte Systeme in den USA im Einsatz seien. Der Digitalpakt Schule schaffe hierbei nunmehr auch die technischen Voraussetzungen für eine Beschulung per Netz und Cloud in Deutschland. Möglich würden solche Kontroll- und Steuerungssysteme durch Netzanschluss, mobile Endgeräte und den permanenten Rückkanal für Nutzerdaten, d. h. Automatisierungstechnik für Bildungseinrichtungen 4.0. Zum Einsatz kämen ferner psychologische Methoden der Verhaltensmanipulation (affective computing; persuasive technologies) wie der Werbepsychologie. Das ist nicht
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unkritisch. Wer allerdings Datenschutzaspekte oder die psychometrischen Messmethoden anspreche, die für das Erstellen der Lern- bzw. Persönlichkeitsprofile eingesetzt werden, werde in die Ecke der Technikverweigerer und Bewahrpädagogen gestellt. Dem korrespondiere die im politischen Diskurs bislang verweigerte Auseinandersetzung mit der dringend erforderlichen Technikfolgeabschätzung (TA) – manifestiert im Slogan „Digital first. Bedenken second.“ Im pädagogischen Diskurs korrespondiere dies dem Leugnen der Tatsache, dass auch nach mehr als 30 Jahren Einsatz von IT in Schulen weder Mehrwert noch Nutzen nachgewiesen werden können. Argumentiert werde mit „Lebenswirklichkeit“, diskutiert werde über Technik, d. h. über WLAN, Tablet-Klassen und VR-Brillen. Dabei wird dem Autor zufolge unterschlagen, dass die technische Ausstattung von Bildungseinrichtungen keinen relevanten Effekt auf Lernleistung und -erfolge aufweise. Die wissentliche und vorsätzliche Fehlfokussierung der Diskussion korrespondiere mit dem Ausblenden historischer Fakten, bereits belegten gesundheitlichen Folgen und realen (Folge-)Kosten. Insgesamt bewegten sich die verschiedenen Parteien damit in eine wenig zukunftsträchtige Position. Dabei gebe es gerade hier Alternativen. Wie solche Alternativen aussehen wird im folgenden Beitrag Die Wirkung digitaler Medien im Schulunterricht – Chancen und Risiken der Digitalisierung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht von Prof. Dr. Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, umrissen. Dieser betont: Digitalisierung ist allgegenwärtig, auch in Erziehung und Unterricht. Nachfolgend werden, basierend auf den vorhandenen Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich herauskristallisiert. Zu diesem Zweck werden neben theoretischen Überlegungen hinsichtlich einer Medienbildung auch empirische Forschungsergebnisse vorgestellt, welche insbesondere in Metastudien Tausende von Einzelstudien auswerten, um die Einflussfaktoren zu ermitteln, welche Bildung im Klassenzimmer tatsächlich verbessern. Bei der Auswertung ergibt sich zunächst ein ernüchterndes Bild: Smartphone und soziale Medien federn gerade nicht die Bildungsunterschiede ab, sondern drohen diese ob eines unsachgemäßen Gebrauches noch zu verschärfen, und selbst Flaggschiffe des digitalen Lernens wie das FlippedClassroom-Konzept bleiben unterhalb des Durchschnitts der positiven Wirkung der Einflussfaktoren auf das Lernen. Wie der Autor nachfolgend feststellt, bedeutet dies indes nicht, dass Digitale Bildung gegenüber der traditionellen Bildung schlechter ist. Es bedeutet lediglich, dass das Instrument Digitale Bildung daran hängt, dass es von hochqualifiziertem Lehrpersonal als Hilfsmittel adäquat eingesetzt werden muss. Leitend für einen adäquaten Einsatz sind hierbei für den Autor zwei Thesen, nämlich „Pädagogik vor Technik“ und „Lernen
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bleibt Lernen“. Beide zusammen münden in das Postulat einer humanen Schule im Zeitalter der Digitalisierung und weisen nach, dass – wie bereits vom Autor des Vorbeitrags hervorgehoben – sehr wohl sinnhafte Alternativen einer vorteilhaften Nutzung der Digitalisierung im Sinne des traditionellen Bildungsgedankens möglich und wegweisend sind. Für diese benötige es jedoch ferner auch Strukturen und Menschen, die in der Lage und willens sind, eine Digitale Bildung zum Leben zu erwecken und eine Vision Digitaler Bildung anstreben, welche zu verfolgen wirklich lohnt. In dem Beitrag Soziologische und cyberpsychologische Perspektiven für Digitale Bildung setzt sich Dr. Catarina Katzer, Volkswirtin, Soziologin und Cyberpsychologin, mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf das Menschsein und daraus abgeleitet auf Digitale Bildung auseinander. Sie konstatiert, dass in noch nie dagewesener Form der Digitalisierungsprozess die menschliche Art Mensch zu Sein ändere – von der Entwicklung der individuellen Persönlichkeit bis zum sich aus Einzelhandlungen zusammensetzenden gesamtgesellschaftlichen Handeln. Diese Änderungen erforderten ihr zufolge eine stärkere Auseinandersetzung mit dem, was online mit emotionalen und kognitiven Prozessen geschehe und wie sich Verhalten und soziale Gemeinschaft neu formieren. Digitale Entwicklungen müssten hierbei stärker aus dem Blick der Folgen heraus betrachtet werden. Zu beantworten sei, welche Rückkopplungen sich für das physische Leben – auch für Ökonomie und Politik – zeigten sowie, welche Auswirkungen die heutige digitale Weichenstellung, beispielsweise in Form der Sharing Economy und von individuellen Scoring-Systemen, auf den Einzelnen, ja, die gesamte Gesellschaft und unsere Demokratie von morgen aufweise. Digitale Bildung sei gerade in diesem Kontext besonders gefordert. Technikbasiertes Wissen, ein digitales Bewusstsein sowie cyberpsychologisch geprägte kognitive und sozioemotionale Fähigkeiten seien Voraussetzungen, um neue Technologien gezielt und bewusst einzusetzen. Schul-, Bildungs- und Unternehmenspolitik müssten sich konsequenterweise diesem Transformationsprozess stellen und diesen in ihr Handeln einbeziehen. In ihrem Beitrag Wissenschaft und Forschung als Quelle der Potenzialnutzung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz setzen sich Prof. Dr. Markus Grottke, Prorektor für Duales Studium und Innovation an der AKAD University, und Dr. Andreas Steimer vom Bosch Artificial Intelligence Center in Renningen mit der Frage auseinander, welche Herausforderungen Wissenschaft und Forschung im Zeitalter der Digitalisierung erwarten könnten und ordnen die Veränderungen auch wissenschaftstheoretisch ein. Die Autoren zeigen auf, dass mit heutigem Stand einige Veränderungen gegenüber der Forschung, wie sie aktuell vollzogen wird, notwendig sein könnten, um im Licht der hier
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skizzierten Entwicklungen der Digitalisierung (Disruption, mediale Verzerrungen von Informationen, Künstliche Intelligenz) zukunftsfähig zu sein. Werden diese jedoch vorgenommen, deutet sich an, dass Wissenschaft und Forschung einen bedeutenden Zukunftsbeitrag leisten und als Quelle der Potenzialnutzung von Digitalisierung und KI dienen können. In Bezug auf die ersten beiden Entwicklungen, Disruption und mediale Verzerrungen, wird hierbei ein Schlüssel in der Interdisziplinarität zwischen verschiedenen Fakultäten und Fachbereichen, ein zweiter in der Realisation stärker einer Echtzeit angenäherter Begutachtungsverfahren und ein dritter in der Kooperation zwischen Universität, Fachhochschule und spezialisierten Weiterbildungsanbietern verortet. In Bezug auf die dritte Entwicklung der Künstlichen Intelligenz liegt ein Schlüssel in der Vermittlung einer konsequenten Sinnorientierung und ein zweiter Schlüssel darin, Forschung darauf zu konzentrieren, Lernumgebungen zu erzeugen, welche die Möglichkeiten der Digitalisierung zum Zweck der Steigerung des Lernerfolgs und des Forschungserfolgs einsetzen. Zuletzt – so zeigen die Autoren auf – werden im Lichte der skizzierten Entwicklungen Werte und Wertegemeinschaften bedeutsamer. Betrachtet man die Beiträge des vierten Teils in der Zusammenschau, so zeigen sie insgesamt auf, dass sich Bildungsinstitutionen in Zukunft verstärkt mit den Möglichkeiten der Digitalisierung auseinandersetzen müssen. Hierbei ist zu konstatieren, dass durch die Digitalisierung die Möglichkeiten zur Bildung deutlich erweitert werden, gleichzeitig indes immer deutlicher die Notwendigkeit besteht, sich auch mit den ökonomischen Determinanten Digitaler Bildung auseinanderzusetzen. Dabei wird in Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven (pädagogischen Wissenschaften, Schulpolitik, soziologisch und cyberpsychologisch geprägter Bildungspolitik, Wissenschaft und Forschung) verdeutlicht, dass zukunftsträchtige, auch ökonomisch machbare alternative Wege zu dem dominant ökonomisierten Weg großer Internetgiganten wie Facebook, Google oder Apple möglich sind und was hierfür zu beachten ist. In Teil V – Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung wird als letzte große theoretische Linie entfaltet, welche Möglichkeiten ein Einsatz von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz für die Hochschulbildung parat hält. In dem Beitrag Digitale Kompetenzen in der Hochschulstrategie – Quo vadis? Ergebnisse einer bundesweiten Schwerpunktstudie zur Digitalisierung an Hochschulen von Dr. Harald Gilch, Seniorberater und Projektleiter im HISInstitut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in Hannover, Anna Sophie Beise, Managerin hochschulweiter Projekte und Prozesse an der Fachhochschule Bielefeld, Dr. René Krempkow, wiss. Referent in der Stabsstelle Qualitätsmanagement
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der Humboldt-Universität zu Berlin, Marko Müller, Berater, Dr. Friedrich Stratmann, Geschäftsführer (im Ruhestand), sowie Dr. Klaus Wannemacher, Seniorberater und Projektleiter, alle drei HIS-HE, wird aufgezeigt, dass sich im Zuge der Digitalisierung der Hochschulen nicht nur Inhalte, Methoden, Praktiken und Prozesse im wissenschaftlichen und administrativen Arbeiten verändern, sondern auch ein umfassender Differenzierungsprozess im Hochschulsystem angestoßen wird. Damit wird verdeutlicht, wie sich die Hochschulbildung an sich bereits ohne Künstliche Intelligenz verändert und in welchem Kontext sich folglich der Einsatz Künstlicher Intelligenz verortet. Anhand ausgewählter Aspekte der bundesweiten Schwerpunktstudie Digitalisierung der Hochschulen im Auftrag der Expertenkommission Forschung und Innovation werden verschiedene Facetten dieser Entwicklungen aus den Dimensionen Forschung, Lehren und Lernen, Verwaltung und Infrastruktur aufgezeigt. Im Mittelpunkt des Beitrags steht indes der Stellenwert digitaler Kompetenzen an den Hochschulen. So nennen mehr als 85 % aller befragten Hochschulen die Vermittlung von Kompetenzen für eine digitale Welt als wesentlichen Teil ihres Digitalisierungskonzepts. Die Betrachtung der dem eigenen Personal zugeschriebenen digitalen Kompetenzen zeigt jedoch deutliche Unterschiede für unterschiedliche Personalkategorien auf. Zudem sind Differenzierungen hinsichtlich der Hochschulstandorte und -träger erkennbar. Da digitale Kompetenzen eine wesentliche Rolle im Digitalisierungsprozess spielen, muss überlegt werden, welche Instrumente Hochschulen zur Verfügung stehen, diese aktiv weiterzuentwickeln. Anhand der Ergebnisse der bundesweiten Studie werden diese Aspekte untersucht und Handlungsoptionen diskutiert. Insgesamt legt damit der Beitrag das Handlungsfeld Hochschule offen. In dem Beitrag Digitale Bildung in Hochschulen aus Sicht der Studierenden: Wahrnehmung des Status quo, Erwartungen und Wünsche von Prof. Dr. Ullrich Dittler, Professor für Interaktive Medien an der Hochschule Furtwangen, und Prof. Dr. Christian Kreidl, Dozent und Trainer in der Erwachsenenbildung, wird aufgezeigt, dass die aktuelle Entwicklung an Hochschulen noch immer durch die Überlegungen und Forderungen der BolognaReform geprägt ist, zunehmend allerdings zusätzlich auch die Anforderungen der Digitalisierung in die Hochschulen eindringen und die dortige Lehre beeinflussen. Der Beitrag steuert in diesem Kontext im Sinne einer CustomerCo-Creation zur Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung von Hochschullehre die Perspektive der Studierenden bei: Ergebnisse einer aktuellen Studie zur Wahrnehmung der Unterstützungs- und Selbstlernangebote der Hochschulen werden im vorliegenden Text älteren Daten gegenübergestellt und mit diesen verglichen, um herauszuarbeiten, welche Erwartungen Studierende an
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aktuelle Hochschullehre haben. Insgesamt wird auf diesem Wege festgehalten, wie eine Hochschule der Zukunft aus Sicht der Studierenden aufgestellt sein muss. In dem Beitrag Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des Rollenverständnisses von Lernenden und Lehrenden im digitalen Studienprozess von Prof. Dr. Marianne Blumentritt, Professorin für Internationales Management & Unternehmensführung, Prof. Dr. Doreen Schwinger, Professorin für Unternehmensführung & Logistik, und Prof. Dr. Daniel Markgraf, Prorektor für Forschung & Digitalisierung, Direktor des Institute for Digital Expertise and Assessment (IDEA) – alle AKAD University, werden die beiden genannten Perspektiven, d. h. Hochschulperspektive und Studierendenperspektive an derjenigen Stelle im empirischen Vergleich analysiert, an welcher sie sich treffen, nämlich bei der Interaktion von Lernenden und Lehrenden. Dies geschieht am Beispiel des digitalen Studienprozesses an einer privaten Fernhochschule. Die Autoren heben hervor, dass Studierende und Lehrende an digitalen Hochschulen über neue Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen müssen, nicht nur im Umgang mit digitalen Medien und Daten, sondern auch im Umgang miteinander. Welche Sichtweisen die Lehrenden und Studierenden jeweils auf ihre eigene Rolle und die des Interaktionspartners im digitalen Studienmodell haben, veranschaulicht der vorliegende Beitrag. Dabei zeigt sich ein weitgehendes Einvernehmen zwischen den Lehrenden und den Studierenden hinsichtlich der zentralen Ziele und Methoden. Einig sind sich die Lernpartner, dass sich durch die Digitalisierung des Studienangebots die Flexibilität im Fernstudium weiter erhöht und Studierbarkeit verbessert hat und damit die Vereinbarkeit von Studium und Beruf erheblich erleichtert wird. Es ergibt sich allerdings auch weiterer Handlungsbedarf, vor allem im Abbau von Kommunikationshürden zwischen Lehrenden und Studierenden sowie untereinander. Um einen vertrauensvollen Umgang zwischen den Lernpartnern an der Hochschule zu sichern und damit den Erfolg von kollaborativen Lernprozessen zu optimieren, bedarf es der Vermeidung von Anonymität und der Herstellung von Transparenz. In dem Beitrag Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz in der Hochschulbildung – ausgewählte Ergebnisse eines Systematic Review verdeutlicht Prof. Dr. Olaf Zawacki-Richter, Professor für Wissenstransfer und Lernen mit neuen Technologien Universität Oldenburg, Dr. Victoria I. Marín, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dr. Melissa Bond, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Franziska Gouverneur, Masterstudentin im Studiengang Bildungs- und Erziehungswissenschaften, alle an der Fakultät für Erziehungs- und Sozialwissenschaften/COER an der Universität Oldenburg, dass bereits seit über einem halben Jahrhundert zur Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) geforscht und entwickelt wird.
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Durch die weltweite Vernetzung und Verfügbarkeit von Daten (Big Data) und eine entsprechende Rechenkapazität der Computer sind heute Anwendungen und Methoden möglich geworden, die in den letzten Jahren verstärkt auch im Kontext des Lernens und Lehrens an Hochschulen diskutiert werden. Auf der Grundlage eines Systematic Reviews mit 146 inkludierten Studien wird in dem Beitrag ein Überblick über aktuelle Entwicklungen und potenzielle Anwendungsbereiche von AIEd (Artificial Intelligence in Education) gegeben. So werden beispielsweise für den Anwendungsbereich Studienabbruch als Prädikation für einen solchen die vergangenen wie aktuellen akademischen Leistungen sowie die Finanzierung identifiziert. Interessante Entwicklungen werden ferner zu intelligenten Tutorsystemen, automatischen Prüfungssystemen sowie adaptiven Systemen und zur Personalisierung vorgestellt. Es wird auch eine kritische Perspektive zu den hiermit verbundenen ethischen und rechtlichen Herausforderungen eingenommen. Beispielhaft verweisen die Autoren auf die Ängste, welche sich ergeben, wenn Lehrende und Prüfende durch automatisiert arbeitende Systeme ersetzt werden und auf die nahezu totale Kontrolle, welche diesbezüglich über Lernende bzw. Studenten ausgeübt werden könnte, wenn jede Regung von diesen aufgezeichnet wird. In dem Beitrag Learning Analytics im Hochschulkontext – Potenziale aus Sicht von Stakeholdern, Datenschutz und Handlungsempfehlungen von Prof. Dr. Dirk Ifenthaler, Professor für Wirtschaftspädagogik – Technologiebasiertes Instruktionsdesign an der Universität Mannheim, erfolgt eine Analyse des Potenzials von KI aus der Perspektive der Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Verhalten von Lernumgebung, Lernmaterial und Lehrendem sowie Studierendem und dem daraus folgenden Lernerfolg. Seit nahezu einer Dekade, so konstatiert der Autor, werden Learning Analytics im Hochschulkontext als Ansatz zum Verständnis sowie zur Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen und Lernumgebungen verwendet. Der Beitrag skizziert zentrale Entwicklungslinien von Learning Analytics und geht auf deren Potenziale sowie damit verbundene Fragen zum Datenschutz ein. Basierend auf dieser systematischen Übersichtsarbeit und Stakeholderinterviews werden Handlungsempfehlungen für die Implementierung von Learning Analytics an Hochschulen vorgestellt. Hierunter fallen beispielsweise der Aufbau flexibler Learning-Analytics-Systeme, die Etablierung von Standards in Bezug auf die Erfassung von Daten und die Anwendung von Algorithmen, die Auseinandersetzung mit den Anforderungen der DSGVO oder der Aufbau von Learning-Analytics-Gremien zum Einbezug von Stakeholdern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Der Ausblick diskutiert aktuelle Forschungsdesiderata.
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In dem Beitrag Der multimodale Lern-Hub: ein Werkzeug zur Erfassung individualisierbarer und sensorgestützter multimodaler Lernerfahrungen von Dr. Jan Schneider, Postdoktorand in der Gruppe Educational Technologies des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), Daniele Di Mitri, KI-Forscher am Center of Actionable Research der Open University of the Netherlands und Doktorand in Learning Analytics und Wearable Sensors Support, Bibeg Limbu, Doktorand in der Forschungsgruppe Technology-Enhanced Learning and Innovation des Welten Institute, an der Open University of the Netherlands, und Prof. Dr. Hendrik Drachsler, Professor für Educational Technologies und Learning Analytics der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Mitglied des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), legen die Autoren eine Erweiterung der direkten Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden mit sog. Learning-ManagementSystemen zur Optimierung und zum besseren Verständnis von Lernprozessen vor. Sie adressieren hiermit den Fakt, dass Lernen nicht nur in der unmittelbaren Interaktion mit einem solchen System stattfindet. Mittels Sensoren können Daten zu Lernenden und ihrer Umgebung überall erfasst werden, womit die Nutzungsbeispiele für Learning Analytics erweitert werden. Der Beitrag stellt die Entwicklung einer integrativen Datendrehscheibe, d. h. eines multimodalen Lern-Hub (MLH) vor, welche erlaubt, von verschiedenen Datenprovidern Informationen zu integrieren; mit anderen Worten geht es um die Schaffung eines Systems zur Verbesserung des Lernens in übergreifenden Situationen. Hierzu werden multimodale Daten aus individualisierbaren Konfigurationen erfasst und integriert. Dazu wird der MLH beschrieben. Darüber hinaus werden Ergebnisse einer Studie zur Zuverlässigkeit des Systems in Hinblick auf die Integration multimodaler Daten dargelegt. Deutlich gemacht werden auch Grenzen bzw. Herausforderungen des Hubs. In dem Beitrag Praxisbeispiel: Chatbots – nächstes User-Experience-Level im Support von Bildungsangeboten? von Dunja Todorovic und Farina Steinert von oncampus wird auf Einsatzmöglichkeiten von Chatbots in digitalen Bildungsangeboten eingegangen. Chatbots sind Systeme, die auf Künstlicher Intelligenz beruhen. Sie werden häufig dort zur Unterstützung eingesetzt, wo sich wiederholende Prozesse, wie bspw. User-Anfragen, auftreten. Oncampus hat seit Januar 2019 einen solchen Chatbot zur Unterstützung des Support-Teams im Einsatz, um User-Anfragen zum Themenbereich Bachelor-Studium automatisiert zu beantworten. Das System wurde auf deren Bildungsplattform in einem interaktiven Livechat eingebettet. Um den Chatbot an das User-Experience-Konzept der Bildungsplattform anzupassen, wurde für den Bot in seiner Entstehung ein eigener Duktus entwickelt, dessen Fokus auf einfachen, witzigen Texten und
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menschenähnlichen Attributen liegen. Bereits nach einem halben Jahr weist der Chatbot erste Erfolge aus: Neben einer Automatisierung von Anfragen über das Bachelor-Studium konnte auch eine verbesserte Nutzung des Ticketsystems durch die User festgestellt werden. Die von oncampus und dem Institut für Lerndienstleistungen der Technischen Hochschule Lübeck durchgeführte Fallstudie beschreibt den positiven Einfluss der User Experience auf den Erfolg des Chatbots und den effektiven Einsatz im Support von Bildungsangeboten. Fasst man die Linien der genannten Beiträge zusammen, so eröffnet sich der weite Horizont, den die Instrumente der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz für die Hochschulbildung bereithalten. So zeigen die ersten drei Beiträge die Möglichkeiten auf, welche Digitalisierung im Bereich der Hochschule eröffnet, während die letzten drei Beiträge umreißen, welche Möglichkeiten im Bereich Learning Analytics bzw. noch einmal spezifischer im Bereich der Künstliche Intelligenz insgesamt und im Bereich des Einsatzes von Chatbotsystemen eröffnet werden. Im abschließenden Teil Conclusio und Ausblick wird seitens des Herausgebers, basierend auf den Erkenntnissen der vier großen theoretischen Teile des Buches, noch einmal die Leitfrage des 11. AKAD Forums Digitale Bildung mit und gegen Künstliche Intelligenz – survival of the fittest!?! in seinem Beitrag Zukunftsperspektiven für digital gebildete menschliche und künstliche Co-Intelligenz aufgegriffen. Entwickelt wird, dass das große Potenzial digitaler Bildung und Künstlicher Intelligenz nur dann entfaltet wird, wenn es zu einer partnerschaftlichen Co-Evolution und Verschmelzung kommt. Was dies impliziert, wird ausgehend von den Beiträgen des Bandes und den vier großen theoretischen Linien des Sammelwerks in vier Teilen dargelegt. Zunächst erfolgt korrespondierend zu dem Teil Unternehmen und Wirtschaft eine Standortbestimmung in Bezug auf nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit und Digitale Bildung. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz erfolgt eine Analyse von Konsequenzen, welche sich aus den Erkenntnissen des Bandes ergeben. In Bezug auf eine gesellschaftliche Agenda wird den Erkenntnissen aus den Beiträgen folgend eine Agenda zur Zukunft Digitaler Bildung in Deutschland formuliert. Zuletzt werden der vierten theoretischen Linie korrespondierend die sich abzeichnenden Konturen der Hochschulbildung der Zukunft umrissen. Der Herausgeber bedankt sich bei allen Teilnehmern des 11. AKAD Forums, bei allen Autoren, Kollegen und Mitarbeitern der AKAD Hochschule Stuttgart und ihrer Kooperationspartner und insbesondere bei Annette Vöcklinghaus und Margit Schlomski für ihre Mitwirkung an diesem Band und wünscht Ihnen, liebe Leser, eine bereichernde, horizonterweiternde Lektüre.
Teil II Erhaltung der digitalen Wettbewerbsfähigkeit in Wirtschaft und Unternehmen
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Internationale Standortbestimmung – vom Exportweltmeister zum digitalen Entwicklungsland? Ronny Alexander Fürst, Markus Grottke, Alessandro Sibilio und Alexander V. Steckelberg Inhaltsverzeichnis 2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.1 Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.2 Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Deutschland der Exportweltmeister – was bedeutet das eigentlich?. . . . . . . . . . . . 31 2.2.1 Exportweltmeisterschaft und ihre Implikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.2.2 Soziale Marktwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2.3 Erweiterung des Binnenmarktes durch Freihandelsabkommen. . . . . . . . . . 35 2.2.4 Die Hidden Champions unter KMU und Familienunternehmen. . . . . . . . . 36 2.2.5 Die Innovationsstärke der deutschen Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
R. A. Fürst (*) · M. Grottke AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Grottke E-Mail: [email protected] A. Sibilio Birkenfeld, Deutschland E-Mail: [email protected] A. V. Steckelberg Königswinter, Deutschland © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_2
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2.3 Digitalisierung – Deutschland ein digitales Entwicklungsland?. . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3.1 Digitalisierung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3.2 Deutschland – digitales Entwicklungsland im internationalen Vergleich? . 43 2.3.3 Zusammenfassung und Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.4 Zukünftige Erfolgsfaktoren im Export. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.4.1 Soziale Marktwirtschaft und Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.4.2 Freihandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.4.3 Hidden Champions in der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.4.4 Die Automobil- und Maschinenbauindustrie in der Digitalisierung. . . . . . 53 2.4.5 Zusammenfassung: Deutschland am Scheideweg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.5 Digitale Bildung als Schlüsselfaktor wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit . . . . . . . . 57 2.5.1 Der traditionelle Bildungsbegriff und seine Eignung für die Herausforderungen der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.5.2 Bildungssysteme des Hochschulwesens – Systeme im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.5.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5.4 Digitale Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.6 Conclusio. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Zusammenfassung
Im folgenden Beitrag werden Gründe für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands analysiert. Zunächst werden wesentliche Treiber der Exportstärke in der Vergangenheit erarbeitet. Dann wird der Status quo Deutschlands in Bezug auf die Digitalisierung dargestellt und dieser mit dem internationalen Stand der Entwicklung verglichen. Aufbauend hierauf folgt eine Analyse, was sich bei wesentlichen Treibern der Exportstärke ändern muss, um weiterhin international ähnlich wettbewerbsfähig aufgestellt zu sein wie in der Vergangenheit. Hierbei stellt sich heraus, dass Digitale Bildung ein übergreifender wesentlicher Schlüsselfaktor ist. Welche Konturen Digitaler Bildung sich abzeichnen, wird ausgehend vom traditionellen Bildungsbegriff und einem Vergleich zentraler Eigenschaften von Bildungssystemen ausgewählter Länder herausgearbeitet. Abschließend wird nochmals zusammengefasst.
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2.1 Einleitung 2.1.1 Prolog Wir schreiben das Jahr 1869. Im damaligen Deutschen Reich wird beschlossen, die Verordnungen zu Qualitätsstandards zu lockern, welche zuvor die Innungen im Ingenieurwesen gestärkt hatten. In der Folge verlieren die Reichsprodukte massiv an Qualität. 1876 schreibt Franz Reuleaux, Mitglied des Preisgerichtes, ausgehend von einer Messe in Philadelphia in den USA, die deutschen industriellen Produkte würden auf der Messe im Vergleich als billig und schlecht eingestuft und stellt zehn Forderungen auf, welche notwendig seien, um das Blatt zu wenden. 1878 erfolgt dann eine Reaktion des Deutschen Reiches in Form einer Stärkung der Gewerbefachschulen und Innungen mit dem Ziel, qualitative Berufsstandards und damit die Qualifizierung der tätigen Personen hochzuhalten. Daneben wird ein Patentrecht eingeführt, um überhaupt Anreize für die Entwicklung innovativer, neuartiger und verbesserter Produkte zu schaffen. Flankiert wird dies durch öffentliche Aufklärung und Allgemeinbildung. Nur so kann sichergestellt werden, dass hinreichend viele Menschen verstehen, gute von schlechter Ware zu unterscheiden und den Unterschied wertzuschätzen (Vgl. Payn 1888, S. 109–110; 114). Schritt für Schritt werden erste Effekte dahingehend festgestellt, dass deutsche Produkte an Qualität und Innovationskraft zunehmen. Das Erfolgsmodell Made in Germany ist geboren und Bildung – Fachkompetenzen und Allgemeinbildung – in Kombination mit geeigneten Anreizen (durch das Patentgesetz) sowie der Stärkung der berufseigenen Innungen hatte sich als Schlüssel zum Erfolg erwiesen (Vgl. Braun 1985).
2.1.2 Problemstellung Über lange Jahre war Deutschland Exportweltmeister. Inhaltlich kam dies der Aussage gleich, dass mehr exportiert als importiert wurde, d. h. in Deutschland produzierte Waren und Dienstleistungen eine hinreichend hohe Qualität hatten, um weltweit gefragt zu sein. Gleichzeitig bedeutete dies, dass Produkte und Dienstleistungen aus dem Inland in global vernetzte Wertschöpfungsketten integriert wurden. Mit anderen Worten wurde ihnen eine Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit attestiert. Dadurch wurden ausländische Geschäftspartner dazu bewegt, die Waren und Dienstleistungen einheimischen Alternativen vorzuziehen. In den letzten Jahren
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war Deutschland zwar in absoluten Zahlen nicht mehr Exportweltmeister, es hatte allerdings netto im Sinne des Exportüberschusses weiterhin die Poleposition inne. Ob dies in Zukunft so bleibt, scheint ungewiss. So existieren Anzeichen, dass Deutschland gerade in jenem Bereich unterinvestiert und im internationalen Vergleich schlecht aufgestellt ist, welchem auch ökonomisch das meiste – zudem disruptive – zukünftige Potenzial zugemessen wird: der Digitalisierung. Dieser Beitrag intendiert darum, folgende Forschungsfragen interdisziplinär auf Basis einer Literaturzusammenführung bislang relativ unverbundener Literaturstränge1 zu beantworten. Hierbei wird naturgemäß nicht auf Vollständigkeit abgezielt. Die Fruchtbarkeit im Sinne einer Anregung der Gedanken von Leserin und Leser hingegen ist sehr wohl angestrebt. Im Sinne einer Problemdiagnose stellt sich die Frage nach dem facettenreichen Status quo des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Bekanntermaßen gibt der Kaufmann nichts auf das Vergangene. Aussagen über die Zukunft basieren jedoch auf Erfahrungen der Vergangenheit2 (Vgl. Schmalenbach 1949, S. 39). Ausgehend hiervon werden einige der zahlreichen Standortbestimmungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland im Rahmen der Digitalisierung analysiert. Abschließend ist zu analysieren, welche historischen Erfolgsrezepte noch zukunftsträchtig sind. Im Sinne einer Ableitung möglicher Handlungseinsichten stellen sich im Weiteren folgende Fragen. Einerseits die Frage, inwiefern sich Erfolgsfaktoren geändert haben und welche Anpassungsnotwendigkeiten sich abzeichnen. Dies ist zu beantworten, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts
1Gemeint
sind die Literaturstränge der Volkswirtschaftslehre, der Digitalisierung und der Bildungsforschung. 2In einer solchen hochkomplexen Situation sind übliche (mathematische) Prognoseverfahren von beschränktem Wert, da die Vergangenheit offensichtlich nicht in die Zukunft prognostiziert werden kann. Ferner lassen sich auch in qualitativen Szenarioanalysen Zukunftslagen kaum sicher abbilden. Letzteres zeigt schon die u. E. sehr sorgfältig ausgearbeitete Studie AHEAD – Internationales Horizon Scanning: Trendanalyse Hochschullandschaft 2030 (Vgl. Orr et al. 2019). Vielmehr stellen sämtliche Darstellungen lediglich Komplexitätsreduktionen dar, welche fehlgehen können (vgl. hierzu grundlegend Vgl. Bretzke 1980, 57 ff.). Um dem entgegenzuwirken, findet sich in diesem Aufsatz bewusst ein sehr interdisziplinäres Autorenteam mit heterogenen Wissensbeständen zusammen, mit der Zielsetzung fruchtbare Erkenntnisse für die eigene Gestaltung dieser unsicheren Zukunft bereitzustellen. Mit Luhmann (2000) gesprochen geht es darum, in dem Wissen der eigenen Vergangenheit nach demjenigen zu graben, was für die Gestaltung einer positiven Zukunft angesichts gegenwärtiger Herausforderungen von besonderem Wert ist (Vgl. Luhmann 2000).
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Deutschland auch in einer digitalisierten Zukunft zu erhalten. Andererseits die Frage nach der Rolle, die Digitaler Bildung im vorliegenden Kontext zukommt. Der Aufsatz entfaltet sich korrespondierend wie folgt. Zunächst analysieren wir, eine Auswahl von Erfolgsfaktoren, welche dazu beigetragen haben, Deutschland in der Vergangenheit zum Exportweltmeister werden zu lassen. Hernach arbeiten wir anhand international vergleichender Studien heraus, dass Deutschland im Moment in Bezug auf Digitalisierung hinter anderen Nationen steht. Hierbei untersuchen wir das Verhältnis der in diesem Kontext als neu auftretend identifizierten Determinanten zu den alten Erfolgsfaktoren. Gemessen an der Vergangenheit einerseits und den aktuellen Entwicklungen der Digitalisierung andererseits wird geprüft, welche wesentlichen Hebel für den früheren Exportweltmeister Deutschland existieren könnten, um auch in Zukunft im internationalen Vergleich weiterhin eine Führungsrolle einnehmen zu können. Darauffolgend gehen wir auf die Frage ein, welche Rolle Bildung, insbesondere Digitale Bildung in diesem Kontext zu spielen hat. Zu diesem Zweck analysieren wir den traditionellen Bildungsbegriff und internationale Bildungsmodelle im Lichte der Digitalisierung, einerseits in eher liberaler Form von Humboldt ausgehend bis hin zur Massenuniversität und einem auf statistische Messbarkeit, rankinggetriebenen Wettbewerb und Effizienz ausgelegten, international verbreiteten New Public Management3. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung mit ihren Investitionserfordernissen arbeiten wir unter Rückgriff auf Teilbestandteile dieser Bildungsmodelle jeweils heraus, welche Komponenten angesichts der Digitalisierung besonders zukunftsträchtig sind. Abschließend erfolgt ein Fazit.
2.2 Deutschland der Exportweltmeister – was bedeutet das eigentlich? Dieses Kapitel widmet sich der Frage, warum ein Land wie Deutschland überhaupt Exportweltmeister werden konnte. Nach der Erläuterung und Analyse des Begriffs wird auf wesentliche Determinanten eingegangen, welche dies in der Vergangenheit (mit) ermöglichten. Hierbei wird nach Begriffsklärungen in 3Unter
New Public Management werden allgemein die Übertragungen von Managementtechniken der Wirtschaft zur Kontrolle, Transparenz und Anreizsetzung in den Bereich von öffentlichen Einrichtungen, insbesondere Hochschulen, verstanden (Vgl. Bogt und Scapens 2012, S. 451–497; Adler und Harzing 2009, S. 72–95; Shore und Wright 2000, S. 57–89).
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Abschn. 2.2.1 im Abschn. 2.2.2 Soziale Marktwirtschaft zunächst dargelegt, wie in Deutschland wirtschaftspolitische Grundlagen dafür sorgten, dass wettbewerbsfähige Unternehmen erst entstehen konnten. Im darauffolgenden Abschn. 2.2.3 Erweiterung des Binnenmarktes durch Freihandelsabkommen wird dargelegt, wie auch absatzpolitisch die Möglichkeiten geschaffen wurden, in Europa bzw. weltweit zu exportieren. In dem Abschn. 2.2.4 Hidden Champions wird erläutert, dass eine bestimmte Klasse an Unternehmen Eigenschaften aufwies, die es erlaubten, die politisch eröffneten Möglichkeiten besonders gut zu nutzen. Zuletzt wird dargelegt, dass auch bestimmte Industriezweige aufgrund ihrer Innovationsstärke (unabhängig vom Unternehmenstypus) in dem so gesetzten politischen Kontext in besonderem Maße zum Export beitrugen.
2.2.1 Exportweltmeisterschaft und ihre Implikationen Zunächst sei erwähnt, dass die pauschale Aussage, Deutschland sei „Exportweltmeister“ nicht so trivial ist, wie sie anmuten lässt. Dem aufmerksamen Leser dürften sich sofort diverse Fragen stellen, beispielsweise woran diese Einstufung festgemacht wird, was genau exportiert wird und ob ein solcher Titel im Allgemeinen erstrebenswert ist. Zu diesem Zweck sei Außenhandel als Handelsbeziehung verstanden, welche die staatlichen Grenzen überschreitet. Diese beinhaltet den Export wie auch den Import von Gütern und Dienstleistungen (Vgl. Büter 2018). Um nun Exportweltmeister sein zu können, müsste ein Handelsbilanzüberschuss vorliegen und dieser müsste größer ausfallen, als bei anderen Ländern. Betrachtet man den Zeitraum von 1971 bis 1995, war Ersteres in Deutschland während dieses Zeitraums in 22 von 25 Jahren der Fall (Vgl. Hansen und Wälde 2002, S. 2). Definiert man Exportweltmeisterschaft in diesem Sinne und vernachlässigt man die Kapitalbilanz, so ist Deutschland tatsächlich in den Jahren 2016, 2017, 2018, 2019 viermal in Folge Exportweltmeister geworden, Wobei dies insbesondere den Warenexporten zu verdanken war (Vgl. ZEIT ONLINE 2020; Statistisches Bundesamt Deutschland 2007; Hansen und Wälde 2002). Hier sei allerdings hervorgehoben, dass – wenig verwunderlich – in absoluten Zahlen Deutschland, was Exporte betrifft, bereits seit Langem hinter den allein von der Bevölkerung und dem Bruttoinlandsprodukt her wesentlich größeren Volkswirtschaften China und USA liegt. Während der Abstand zu den USA in 2018 mit ca. 100 Mrd. Dollar noch recht knapp war, betrug der Abstand zu China rund 900 Mrd. Dollar.
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Bei dem Vergleich reflektiert die von Deutschland erzielte absolute Exportzahl allerdings nicht den Hintergrund der korrespondierenden Importe sowie der jeweiligen Länder- und Marktgrößen (Vgl. WTO 2019; Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2019). Mit anderen Worten liegt der in diesem Aufsatz gewählten Definition von Exportweltmeisterschaft bewusst eine Nettogröße zugrunde, welche den Nettobeitrag des Überschussexportes ermittelt. Dauerhaft könnte man diese so übersetzen, dass Deutschland anderen Ländern einen Teil seiner Wirtschaftsgüter auf Zeit überlässt, um einen Beitrag zur Lösung von deren Problemen zu leisten. So wird der Exportüberschuss in der Außenhandelsbilanz durch korrespondierende Kapitalströme kompensiert: Es fließt durch den Exportüberschuss eingenommenes Kapital aus Deutschland ab, welches im Ausland investiert wird (z. B. in Form von Krediten oder Direktinvestitionen). Ob der Titel der Exportweltmeisterschaft angesichts dessen eher positiv oder eher negativ einzuordnen ist, bleibt ambivalent. Ein Exportüberschuss wird häufig als Indikator der internationalen Wettbewerbsfähigkeit herangezogen. Demzufolge wäre die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland sehr hoch. Dem steht aus einer Arbeitnehmersicht entgegen, dass die Globalisierung und der damit verbundene Marktdruck zum Teil als Begründung verwendet werden, möglichst geringen Lohnsteigerungen zuzustimmen, was wiederum im Endeffekt zur Folge hat, dass der Binnenkonsum im Land weniger hoch ausfällt. Dies bewirkt, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland abhängiger von den aus dem Ausland kommenden Zahlungen und deren Entwicklung wird (Vgl. Joebges et al. 2009; Sinn 2006, 2005). Auch im internationalen Vergleich des Returns on Invest, bezogen auf exportiertes Kapital, scheint Deutschland nicht sehr gut abzuschneiden. Auffällig ist jedoch, dass dieser Vergleich rein die Rendite betrachtet und nicht das gewonnene kundenspezifische Know-how oder die Marktanteile (Vgl. Hünnekes et al. 2019). Insgesamt lässt sich diese Situation auch so übersetzen, dass in Deutschland viel reinvestiert wird (z. B. in Know-how und Marktkenntnis) und dafür gesorgt wird, international mit den eigenen Waren und Dienstleistungen erfolgreich zu sein. Korrespondierend gilt allerdings, dass aktuell im Ausland mehr an deutschen Erzeugnissen konsumiert wird, als im Inland an ausländischen Erzeugnissen. Dadurch gerät das Ausland per saldo wirtschaftlich immer stärker in sich kumulierende künftige Zahlungsverpflichtungen gegenüber Deutschland. Auch wird immer unklarer, wie diese Zahlungsverpflichtungen in Zukunft beglichen werden können. Wenden wir uns nunmehr den Faktoren zu, welche den starken Export auch von der Leistungsfähigkeit her in der Vergangenheit rechtfertigten.
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2.2.2 Soziale Marktwirtschaft Ausgehend von den verheerenden Erfahrungen mit der Planwirtschaft des Dritten Reiches war das Wirtschaftswunder in Deutschland insbesondere mit der Wirtschaftsform der sozialen Marktwirtschaft verbunden (Vgl. Hayek 1976). Es war der Wirtschaftspolitiker Ludwig Erhard, der die Voraussetzungen dafür schuf, in Deutschland die Basis für eine Vielzahl performanter Unternehmen zu schaffen. Dies erreichte er durch seine Idee einer Wettbewerbswirtschaft auf Augenhöhe und der Konfiguration einer Ordnungspolitik, in welcher möglichst allein Marktkräfte miteinander konkurrieren. Daneben installierte er ein Sozialnetz für die Schwachen und Nicht-Leistungsfähigen (Vgl. Erhard und Langer 2009, S. 162– 223; 283–301)4. Zentral nach Erhard war hierbei, die wirtschaftliche Konkurrenz an gewisse Grundsätze zu koppeln, die er der theoretischen Fundierung des Ordoliberalismus entlehnte. So gilt im Ordoliberalismus, dass Unternehmen nicht zu mächtig werden durften, nicht von der Politik subventioniert, sondern allein durch Marktkräfte geleitet werden sollten. Nur so werden funktionierende, reale Knappheiten abbildende Preismechanismen möglich (Vgl. Erhard 2009, S. 162–223; Müller-Armack 1990, S. 100). Auch bedeutete der so entstehende intensive Wettbewerb, dass es verstärkt zu Innovationen in der Wirtschaft kam, da der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren fungierte (Vgl. Hayek 1968). Der Ordoliberalismus hielt zudem fest, dass Freiheit an Verantwortung zu koppeln war und wirtschaftliche Aktivität an persönliche Haftung für das eigene Tun zu binden war (Vgl. Eucken 1962, S. 242). Diese Grundsätze sorgten rasch für eine Vielzahl schnell wachsender und sich verbessernder Unternehmen, aber eben auch für einen harten Wettbewerb, welcher die Unternehmen von selbst dazu zwang, leistungsfähig und konkurrenzfähig zu werden und zu bleiben. Um unter solchen Bedingungen als Unternehmen am Markt zu bestehen, war es notwendig, Mechanismen zu finden, welche erlaubten, Unsicherheiten zu absorbieren und den Kunden zu dienen. Nicht ohne Grund bezeichnete einer der Gründerväter des Ordoliberalismus, Walter Eucken, einmal Unternehmen als „Kulis“ der Gesellschaft (Vgl. Eucken 1932, S. 297–321). Fokus und Zielsetzung der Erhard’schen Wirtschaftspolitik wiederum war, immer wieder der Versuchung zu widerstehen, mächtige Unternehmen zu subventionieren oder diese gar systemrelevant werden
4Ob das flankierende Sozialnetz der sozialen Marktwirtschaft notwendig für ihren Erfolg war und einen systemischen Vorteil darstellt, war immer umstritten. Ein Grund für seine Einführung dürfte die Historie Deutschlands sein, in welchem seit Bismarck eine Form von zumindest rudimentärem Sozialsystem existierte (Vgl. Bauernschuster et al. 2017).
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zu lassen (Vgl. Erhard 2009, S. 162–223). Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft erklären, warum es gelang, in Deutschland aus der Asche eines verlorenen Weltkrieges und einer durch Planwirtschaft heruntergewirtschafteten Ökonomie heraus eine große Vielzahl hochleistungsfähiger Unternehmen hervorzubringen. Sie erklären auch, warum die Unternehmen vor allem auf Wettbewerbsfähigkeit in Form von Innovationskraft und Leistungsstärke als Garant zukünftiger Aufträge achteten.
2.2.3 Erweiterung des Binnenmarktes durch Freihandelsabkommen Eine Ausarbeitung von Herz und Wagner führt den Exportüberschuss auf die geografische Lage Deutschlands zurück. Sie kommen zum Ergebnis, dass Deutschland, ein mittelgroßes hochverdienendes Land ist, welches umgeben von anderen mittelgroßen Hochverdienerländern ist (Vgl. Herz und Wagner 2008). Unabhängig davon, ob Herz und Wagner mit ihrer Einschätzung richtig liegen, muss für einen Exportüberschuss indes noch mehr gegeben sein als ein Land, welches von kaufkräftigen Absatzmärkten umringt ist. So ist Bedingung der Möglichkeit für einen florierenden Export zum einen der Abbau von Handelsbarrieren und zum anderen ganz grundsätzlich erstmal ein ausländisches Interesse an Produkten und Dienstleistungen des jeweiligen Landes. Für erstere Bedingung zeichneten politische Initiativen verantwortlich, welche zunächst die europäischen, dann die internationalen Handelsbeziehungen stärkten. Beispielhaft sei hier auf die sukzessive Errichtung des europäischen Binnenmarktes verwiesen. Der Startschuss für europäische Handelsbeziehungen fiel in die Anfangszeit des Wiederaufbaus am 9. Mai 1950, als der französische Außenminister Robert Schuman seinen Plan vorlegte, die deutsche und französische Stahlproduktion einer Behörde zu unterstellen. Der Vertrag von Maastricht, welcher 1993 die Europäische Union geschaffen hatte, dürfte den Binnenmarkt vollendet haben. Ein weiterer Meilenstein dürfte 1995 mit dem Abbau der Binnengrenzen erreicht worden sein. Zum 1. Januar 1999 wird der Euro in zunächst elf EU-Staaten als Buchgeld eingeführt und schafft so Wechselkursunsicherheiten in der EU ab. Der Vertrag von Amsterdam tritt in Kraft. Ein weiterer historischer Meilenstein war das Schengener Abkommen (Vgl. Bundesministerium der Finanzen 2017). Die deutsche Außenpolitik hatte damit (gemeinsam mit ihren europäischen Partnern) sukzessive Möglichkeiten geschaffen, den eigenen leistungsstarken Unternehmen und der eigenen Industrie neue Absatzmärkte zu erschließen (Vgl. Europäischen Union (EU) 09.05.2008, insb. Teil lll Nr. 26). Auch international wurden sukzessive umfangreiche Freihandelsabkommen in Kraft gesetzt.
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2.2.4 Die Hidden Champions unter KMU und Familienunternehmen Tatsächlich schufen die genannten politischen Bedingungen insbesondere für eine bestimmte, gerade in Deutschland im internationalen Vergleich sehr große, Unternehmensklasse hervorragende unternehmerische Bedingungen: die Hidden Champions (nachfolgend HC). Wie Hermann Simon in seinem bereits als Klassiker bezeichneten Buch Hidden Champions des 21. Jahrhunderts: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer darlegt, lassen sich HC dadurch kennzeichnen, dass sie eine ganz bestimmte Erfolgsstrategie verfolgen. Diese lässt sich Simon (2007, S. 406–407) u. a. durch die Erfüllung der folgenden sieben Punkte charakterisieren: HC kennzeichnet zum Ersten eine gewisse Hingabe an ihr Unternehmensziel. Dies geht in der Regel weit über ein normales Engagement von Managern und Unternehmensmitarbeitern hinaus. Eine derartige Hingabe bleibt zumindest bei größeren Unternehmen indes wirkungslos, wenn sie nur beim Unternehmer vorliegt (Vgl. Simon 2007). Darum kennzeichnet HC zum Zweiten die sorgfältige Auswahl gleichgesinnter Mitarbeiter, die sich der fraglichen Vision ebenso verschreiben und für diese, wie die Unternehmerfamilie selbst, einstehen (Vgl. Simon 2007, S. 407). Zum Dritten sind HC fokussiert, d. h. sie setzen sich bewusst Grenzen in ihrem Handeln und fokussieren sich solange, bis sie in ihren Angeboten wirklich konkurrenzlos hervorragend sind. Sie wollen für bestimmte Eigenschaften wahrgenommen werden und auch nur für diese, da nur diese Kontinuität und Exzellenz nachhaltig erscheint und sich in den Köpfen ihrer Konsumenten auf Dauer festsetzt (Vgl. Simon 2007, S. 407). Konkurrenzlos hervorragend zu sein, manifestiert sich hierbei viertens in dem auf Innovation gerichteten Gestaltungswillen der HC (Vgl. Simon 2007, S. 407). So sind diese bereit, Produkte und Dienstleistungen immer wieder auch ganz neu und anders zu entwerfen. Maß der Gestaltung ist hierbei, fünftens, die Kundenorientierung (Vgl. Simon 2007, S. 406). So ist es nicht Wettbewerb und Benchmark, sondern es sind die Probleme der eigenen Kunden, die als Fokuspunkt von Problemlösungen herangezogen werden. Denn nur dann kommt der eigene Gestaltungswille und die eigene Innovationsfähigkeit zur Geltung. Dies geschieht, weil der HC nicht beim Wettbewerb als Maßstab stehen bleibt, sondern durch die ständige Rückbindung an den Kunden Probleme löst, die bei einer Wettbewerbsorientierung noch nicht einmal erkannt werden könnten. Dazu gehört auch: In ihrer Qualität sind die erzeugten Lösungen nur ihren Kunden bekannt. Eine über die Kunden hinausgehende Öffentlichkeit wird hingegen nicht gesucht (Vgl. Simon 2007).
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HC sind sechstens zudem Teil der Globalisierung (Vgl. Simon 2007, S. 407). Haben sie erst konkurrenzlos qualitativ hochwertige Produkte am Markt, so skalieren sie diese weltweit. Zuletzt charakterisiert HC nach Simon eine Dezentralisierung, welche vorsieht, neue Märkte mit neuen Produkten zu erschließen, d. h. die eigene vorherige Marke des alten Produktes nicht zu verwässern (Vgl. Simon 2007, S. 407). Die Charakterisierung von HC erklärt unmittelbar, warum die Existenz einer vergleichsweise hohen Anzahl dieser Unternehmen einen zentralen Grund für den Exportüberschuss und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bilden kann. So führt die Skalierung einerseits zu einer weltweiten Tätigkeit. Fokussierung, Kundenorientierung und Hingabe an das Unternehmensziel weit über das erwartbare Maß hinaus wiederum bildet exakt im Sinne der Theorie komparativer Vorteile David Ricardos eine Spezialisierung, welche die Einfuhr dieser Produkte für jedes Land der Welt zumindest ökonomisch und qualitativ vorteilhaft werden lässt (Vgl. Ricardo 2001, S. 89–103). Betrachtet man die größten deutschen Unternehmen, lässt sich ablesen, dass einige wesentliche dieser heutigen Konzerne als HC gestartet sind und sich inzwischen zu Großkonzernen entwickelt haben. Beispielhaft genannt sei die Porsche Automobil Holding SE (welcher mehrheitlich die Volkswagen AG gehört und die in Familienbesitz ist). Weitere Beispiele sind Daimler AG, BMW AG, Siemens AG oder die Robert Bosch GmbH5 (Vgl. The Fortune Global 500 2018). Die Entwicklung vom Hidden Champion zum Großkonzern lässt sich auf diverse Punkte zurückführen, die in diesem Aufsatz nicht abschließend betrachtet werden können. Ein möglicher Ansatz lässt sich auf die Innovationsstärke zurückzuführen6. Diese wollen wir uns im Folgenden näher anschauen.
2.2.5 Die Innovationsstärke der deutschen Industrie Ein weiterer möglicher Grund für die deutsche Exportstärke könnte auch in dem Ingenieurs- und Qualitätsvorsprung liegen, den Deutschland sich erarbeitet hat. Die Anfänge der Industrialisierung und Globalisierung ließen dies zunächst nicht erwarten. „Billig und Schlecht“ (Braun 1985, S. 106) war das eingangs 5Die
Entstehungsgeschichte der genannten Unternehmen kann z. B. auf den jeweiligen Internetauftritten bzw. im Netz recherchiert werden. Sie würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. 6Im Sinne dieses Aufsatzes verstehen wir Hidden Champions nicht nur als Teil der Schöpfungskette, sondern auch als eine Art Inkubator für größere technologische Sprünge.
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angesprochene Urteil des deutschen Ingenieurs und Preisrichters Franz Reuleaux (1829–1905) bei der Weltausstellung 1876 in Philadelphia (Vgl. Braun 1985, S. 106–109). Deutsche Produkte zeichneten sich hier durch minderwertige Qualität aus. Das englische Parlament reagierte darauf 1888 mit dem The Merchandise Markts Act 1887, in welchem erlassen wurde, dass importierte Waren gekennzeichnet werden mussten (Vgl. Payn 1888). Die Geburtsstunde von Made in Germany stand folglich unter keinem guten Licht. Franz Reuleaux, der Bismarck bewunderte und ähnliche Berater konsultierte, setzte sich massiv dafür ein, dass der deutsche Mittelstand gefördert wird und Ausbildung einen ganz neuen Stellenwert erhielt. Er untermauerte diese Erfordernisse, indem er aufzeigte, wie negativ sich die in den 1869er-Jahren vorgenommene Lockerungen der Verordnungen der Innungen auf die Qualität der Produkte und die Ehre der Handwerker ausgewirkt hatten. Durch eine Überarbeitung des Schulwesens, die Einführung von Fachschulen und der Höheren Maschinenbauschule wie auch der Technischen Mittelschulen gelang der Umschwung. Schrittweise konnte man eine kontinuierliche Qualitätsverbesserung der Produkte von deutschen Unternehmen auf internationalen Ausstellungen feststellen. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Eine jüngst erschienene Studie der YouGov und der britischen Cambridge University attestierten, dass Made in Germany (unabhängig vom Produkt oder der Dienstleistung) weiterhin als Kennzeichnung für Qualität weltweit anerkannt wird (Vgl. Inhoffen 2019). Viele ausländische Unternehmen messen hier der Kennzeichnung Made in Germany dermaßen viel Gewicht bei, dass die Endmontage des Produktes in Deutschland stattfindet, um denjenigen Teil der Wertschöpfungskette zu berücksichtigen, welcher eine Deklaration Made in Germany legitimiert (Vgl. ETZ 2019; Vgl. Faber 2017). Betrachtet man die Exportstatistik des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2019, zeigt sich, dass acht Branchen ca. 80 % des Exportes ausmachen. Darunter führend die Automobilindustrie, der Maschinen- und Anlagenbau sowie nahestehende bzw. zuliefernde Industrien wie Elektrik, Metall, sonstige Fahrzeuge und Chemie etc. (Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2020). Im Folgenden konzentrieren wir uns beispielhaft vor allem auf diese Industrien.
2.2.6 Zusammenfassung Fassen wir zusammen, was unserer Auffassung nach wesentliche Erfolgsfaktoren für den Exportüberschuss als Ausdruck internationaler Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in der Vergangenheit gewesen sein könnten. Die soziale Marktwirtschaft schaffte durch die politischen Rahmensetzungen eine intensive
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Wettbewerbswirtschaft. Damit waren für die Unternehmen die Voraussetzungen geschaffen, sich im Wettbewerb behaupten zu können. Dies passierte unter unternehmerischer Freiheit, gekoppelt an Verantwortungsübernahme. Durch die Schaffung geeigneter politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen in Form von europäischem Binnenmarkt und internationalen Freihandelsabkommen wurde die Partizipation am Welthandel und damit eine Erschließung internationaler Absatzmärkte ermöglicht. All dies hätte sich wirkungslos gezeigt, wäre es nicht auf ein Unternehmertum gestoßen, dass die hierin beinhalteten Chancen bewusst und zielgerichtet realisiert hätte. In Deutschland war es insbesondere ein bestimmter Typus von Unternehmen, in der Regel KMUs (oft familiengeführt), welche hierzu passende Charakteristika aufwiesen und konsequenterweise international als HC zu Weltmarktführern wurden. Ebenso fand eine Konzentration auf die Stärke und Innovationsfähigkeit bestimmter Industrien statt. Bringt man dies mit dem Abbau anderer Industrien (z. B. der Textilindustrie in Deutschland) zusammen, zeichnet sich im Sinne David Ricardos eine Fokussierung auf die Realisation komparativer Vorteile im freien Welthandel ab (Vgl. Ricardo 2001). Insgesamt ist zu konstatieren, dass in Deutschland gerade das Bewusstsein für und die Fokussierung auf die eigenen Fähigkeiten ein Faktor war, welcher das Land international so wettbewerbsfähig werden ließ. Gleichzeitig war es nicht eine zentralistische staatliche Vorgabe, sondern vielmehr die ordnungspolitische Einräumung von unternehmerischer, an Verantwortung für das eigene Tun gebundener Freiheit in der Wettbewerbswirtschaft und die Schaffung von internationalen Absatzmärkten, welche die einzelnen Akteure (Unternehmen, Branchen) ihre Stärken realisieren ließ und damit internationale Wettbewerbsfähigkeit ermöglichte. Wenden wir uns nun vor diesem Hintergrund dem Einfluss des Phänomens der Digitalisierung zu.
2.3 Digitalisierung – Deutschland ein digitales Entwicklungsland? 2.3.1 Digitalisierung in Deutschland Digitalisierung lässt sich auf verschiedene Weisen fassen. Ein Teil der Literatur definiert Digitalisierung ausgehend von dem Einsatz neuartiger digitaler Technologien. Ein anderer Teil der Literatur erfasst Digitalisierung dadurch, dass der Nutzen wie Einsatz von digitalen Technologien sich kundengetrieben durchsetzt,
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d. h. sich bereits lange vorhandene Technologien nunmehr durchsetzen, weil sie in ihrer Anwendung von den Nutzern akzeptiert werden (Vgl. Legner et al. 2017). Zuletzt wird Digitalisierung auch durch die Wirkung der Erzeugung von Transparenz, einer VUCA7-Welt und disruptiven Innovationen charakterisiert, die alte Geschäftsmodelle sehr schnell überholen können (Vgl. Cravotta und Grottke 2019, S. 21–25). Betrachtet man die deutsche Wirtschaft, so zeigte sich in der Vergangenheit bei der technologischen Digitalisierung tendenziell eine abwartende Haltung (Vgl. Boll et al. 2019). Digitalisierung wurde dort, wo sie sich für das eigene Geschäftsmodell als sinnvoll erwies, nicht jedoch breitflächig, umgesetzt; Disruptionen wurden eher nicht angestrebt, wiewohl sich bereits in Einzelbeispielen andeutete, dass diese relevant werden könnten (Vgl. Grottke und Boll 2018). Hinsichtlich der technologischen Voraussetzung der Infrastruktur für eine breitflächige Digitalisierung ist zu konstatieren, dass die Voraussetzungen für die Umsetzung einer Digitalisierung noch nicht vorliegen. Wenngleich das 4G8Netz grundsätzlich ausreicht, um Internetverbindungen auch unter Belastungen aufrecht zu erhalten, benötigt man dennoch 5G9, um Schlüsseltechnologien der Digitalisierung anwenden zu können. Dies gilt nicht nur für den Einsatz von IoT10 im privaten oder beruflichen Kontext, sondern auch für die Rekonfiguration von Fertigungen in einer Smart Factory11. So benötigt eine Smart Factory aufgrund der hohen Datenströme diese Art der schnellen Verbindung, um verlässlich zu funktionieren. Noch bedeutsamer wird die 5G-Mobilfunktechnologie im
7VUCA
steht für die englischen Begriffe volatility, uncertainty complexity und ambiguity (Fürst 2019a, S. 18). 84G steht für Mobilfunktechnologie der vierten Generation (nähere technischen Details Vgl. Knop et al. 2004, S. 437–440). 95G steht für Mobilfunktechnologie der fünften Generation (nähere technische Details Vgl. Reichl et al. 2017, S. 7–11). 10IoT steht für Internet of Things; IoT ist kein neumodischer Begriff. Laut dem RFID Journal wurde dieser bereits 1999 von Ashton Kevin eingeführt (Vgl. Ashton 2009). Dabei geht es darum, dass Dinge des Alltags (z. B. Uhr, Kühlschrank, Mobiltelefon, Auto …) miteinander kommunizieren (Vgl. Ashton 2009, 93–114). Das Verständnis von Ashton hinsichtlich IoT war und ist noch immer, dass „Dinge“ mehr wert sind, als Ideen: „In the real world, things matter more than ideas.“ ( Ashton 2009). 11Smart Factory (auch intelligente Fabrik) bezeichnet eine digital vernetzte Fabrik, in der Menschen, Maschinen und Ressourcen miteinander kommunizieren. Davon betroffen sind alle Schritte von Produktentwicklung über Engineering, Produktion, Logistik wie auch die Koordination mit den Kunden (Vgl. Huber 2016, S. 7–8; Roth 2016, S. 177).
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Hinblick auf autonome Algorithmen, z. B. autonomes Fahren, bei dem es um Menschenleben geht. Bei dieser Technologie handelt es sich im Grundsatz ebenfalls um IoT. Im Moment bleibt Deutschland mit seiner LTE-Verbindung hier deutlich zurück. (Vgl. Maurer et al. 2015, S. 293–294; für neuere Evidenzen siehe ETZ 2019; OPENSIGNAL 2017). Auch in Bezug auf das Glasfaser- und Mobilfunknetz gilt dies (Vgl. Denker 2018). Selbst wenn Netzbetreiber in Deutschland mit großen Glasfaserverbindungen bis kurz vor unsere Haustüre eine große Datenmenge anbieten können, verbleibt als Flaschenhals der Übergang in das Heim-Netzwerk (Vgl. Kühl 2020; ETZ 2019; Sawall 2018). Auch größere Unternehmen und Weltmarktführer bleiben von dieser Problematik nicht verschont. Im Fokus des Breitbandausbaus liegen zunächst Großstädte. Nicht alle Unternehmen sind indes in Großstädten; vielmehr sind häufig gerade die Hidden Champions eher im Speckgürtel einer Stadt oder auf dem Land angesiedelt, welche nicht vom Breitbandausbau profitieren (Vgl. ETZ 2019). Neben dieser Voraussetzung wird durch die Corona-Krise eine weitere fehlende infrastrukturelle, prozessoptimierende Komponente ans Licht gebracht. Diese lässt sich aktuell am Beispiel des Gesundheitssystems bewusst machen. So ließen sich mögliche Risikopatienten wesentlich schneller und dezidierter ansprechen, wenn eine elektronische Patientenakte mit zentralem Zugriff existieren würde (Vgl. Neuerer 2020; Maroldt et al. 2020). Angesprochen sind hiermit die Möglichkeiten der Prozessdigitalisierung in Form von zentralen Datendrehscheiben, welche einen Zugriff und eine Pflege dezentral und in Echtzeit zulassen.12 Neben dem Ziel der Prozessoptimierung ist ein weiterer wichtiger Punkt die Digitalisierung von Geschäftsmodellen. Prominente Beispiele für erfolgreiche digitale Geschäftsmodelle sind Unternehmen wie Airbnb, Uber, Booking. com usw. (Vgl. Wächter 2019; Maurer et al. 2015). Ein bekanntes Beispiel aus Deutschland ist die Process-Mining-Firma Celonis, ein ehemaliges Start-up der TU München, mit Hauptstandort in München, welches sich damit beschäftigt, Prozessströme in Unternehmen digital zu visualisieren, um Optimierungspotenziale sichtbar zu machen. Solche neuen Geschäftsmodelle einzuführen, fällt indes insbesondere den traditionellen Branchen wie dem deutschen Maschinenbau schwer. Der KFW-Gründungsmonitor zeigt im Langzeitvergleich 2001 bis
12Nicht
zu vernachlässigen ist, dass es in diesem Kontext auch umfangreicher datenschutzrechtlicher Betrachtungen bedarf. Für einen Einblick in solche sei auf die diesbezüglichen Ausführungen des baden-württembergischen Datenschutzbeauftragten im Datenschutzreport 2019 verwiesen (Vgl. Brink 2019, S. 20; 81–86).
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2016 einen Abwärtstrend an Neugründungen; seit 2016 ist die Zahl nahezu stabil. Metzger konstatiert, dass die Zahl digitaler und innovativer Gründer sowie die Zahl der Gründer mit Marktneuheiten gesunken ist (Vgl. Metzger 2019). Auch Röhl betont in 2018, dass Deutschland bei innovativen Gründungen zurückbleibt (Vgl. Röhl 2018). Der Deutsche Startup Monitor betont hinsichtlich der relativen Aufteilung der Geschäftsmodelle von Start-ups: Fast zwei Drittel der untersuchten Startups ordnen sich einem digitalen Geschäftsmodell zu. Dabei versuchen die digitalen Startups insbesondere in den Feldern Software as a Service (22,8 %), Online-Plattformen (16,9 %) und Softwareentwicklung (12,0 %) Umsätze zu erwirtschaften (Kollmann et al. 2019, S. 28).
Fasst man diese Befunde zusammen, so ist zu konstatieren, dass es zumindest bislang noch nicht gelungen ist, die Gründerkultur in Deutschland signifikant zu beleben, wenngleich die existierenden Start-ups relativ betrachtet mehrheitlich auf Zukunftsfelder der Digitalisierung setzen. Auch hinsichtlich eines weiteren wichtigen Aspektes scheint Deutschland seine Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt zu haben, nämlich hinsichtlich der postulierten Aussage: Daten sind das neue Öl und der Treibstoff der Wirtschaft (Vgl. Chakravorti et al. 2019). Gerade durch die intensive Wettbewerbswirtschaft und die Vermeidung übermächtiger, monopolartig agierender Konzerne im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft fehlen die Netzwerkeffekte und Konzentrationen von Big Data,13 über welche z. B. Dienste wie Google, Apple, Amazon, Microsoft oder Facebook verfügen und die bestimmte Anwendungen Künstlicher Intelligenz (Siri, Alexa etc.) erst möglich machen (Vgl. Obermaier und Mosch 2019, S. 390–400). Nunmehr finden verstärkt Kooperationsversuche statt, um IoT-Plattformen zu gründen wie z. B. zwischen Software AG und Deutscher Telekom (Vgl. z. B. Deutsche Telekom AG 11.07.2019). Weitere Initiativen sind Axoom von Trumpf, der Marktplatz Mercateo oder das OpenSource-Beschaffungssystem MyOpenFactory (Vgl. Rauen et al. 2018). Immer wieder wird zudem darauf verwiesen, dass für eine erfolgreiche Digitalisierung der Mensch, d. h. die Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Führungskräfte der Schlüssel ist. Auch in Bezug auf die hier erforderliche
13Big
Data beschreibt im Rahmen der Industrie 4.0 die große Masse an Daten, welche Unternehmen zu Prozessen oder intelligenten Algorithmen verwenden (Vgl. Brauckmann 2019, S. 105–107).
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Weiterbildung bleibt noch erheblicher Entwicklungsbedarf (Vgl. Bohlen 2019, S. 277–292; Vgl. Frank 2019, S. 311–328; Vgl. Alonso 2019, S. 329–346). Der noch viel unausgeschöpftes Potenzial bietende Stand der Digitalisierung in Deutschland ist indes nicht problematisch, sofern nicht parallel im internationalen Vergleich in den fraglichen Dimensionen hernach uneinholbare Wettbewerbsvorteile entstehen. Dies erfordert neben der Analyse des Status quo einen internationalen Vergleich.
2.3.2 Deutschland – digitales Entwicklungsland im internationalen Vergleich? Glaubt man den jüngsten international vergleichenden Rankings, so steht Deutschland in punkto Digitalisierung scheinbar gut da. Zieht man als Beispiel den Cisco Digital Readiness Index heran, welcher in sieben Dimensionen die Digital Readiness14 eines Landes mit anderen Ländern vergleicht, so weist das Land einen sechsten Rang auf. Nur die USA, die Schweiz, Singapur, die Niederlande und Großbritannien liegen in Bezug auf die Digitalisierung vor Deutschland (Vgl. Cisco Systems GmbH 2018). Hier gilt zumindest in Bezug auf die USA und Großbritannien, dass diese auf den ersten Blick mit zusätzlichen politischen Herausforderungen (Trump, Brexit) konfrontiert sind, welche Kräfte binden. Auch in Bezug auf die Industrie scheint das in der Vergangenheit nicht deindustrialisierte Deutschland gar nicht so schlecht dazustehen. So ist der Anteil des verarbeitenden Gewerbes Statistiken zufolge nur in Deutschland, Südkorea und China konstant hoch (Vgl. Obermaier 2019, S. 12–14), wobei China in der Vergangenheit seinen Markt bzw. seine Industrie vor allem durch staatliche Barrieren und eine währungsfinanzierte Exportförderung schützte. Hier darf man sich von den aktuellen Investitionssummen und den im Vergleich zu Deutschland gigantischen staatlichen Programmen einer Factory of the Future (Großbritannien), eines Industrial Internet Consortium (USA), eines Made in China 2025 und anderen Initiativen nicht täuschen lassen. Denn diese zeigen letztlich zunächst einmal nur auf, dass die benannten Staaten die Industrie wiederentdecken und versuchen, mit gigantischen Programmen zu reindustrialisieren, wo zuvor jahrelang deindustrialisiert wurde (USA,
14Digital
Readiness definiert Cisco als den Grad, zu dem ein Land auf die Digitalisierung vorbereitet ist (Vgl. Cisco Systems GmbH 2018).
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Großbritannien) bzw. die Industrie technisch auf den neuesten Stand zu bringen, wo jahrelang vor allem über geringe Lohnkosten konkurriert wurde (China) (Vgl. European Union Chamber of Commerce in China 2017; Kagermann et al. 2016). Allerdings lohnt es, genauer hinzuschauen. Analysiert man die Zusammensetzung des Cisco-Rankings, so zeigt sich, dass Deutschland genau in jenen Dimensionen nicht reüssiert, auf welche es in der Digitalisierung ankommt. So ist Deutschland schlecht aufgestellt bei der Frage der Investitionen, der Technologienutzung, der Fachkräfteentwicklung und der Bereitstellung eines für Start-ups (stellvertretend für Innovationen) günstigen Umfelds. Zu konfrontieren ist gerade dies zudem mit der Tatsache, dass China und die USA im Bereich der digitalen Geschäftsmodelle und der digitalen Produkte führend sind (Vgl. Chakravorti et al. 2019, 1; 6–7). Im Vergleich des Industrialisierungsgrades wiederum ist Deutschland ggf. auch durch disruptive Innovationen herausgefordert bzw. dadurch, dass im Zuge der Reindustrialisierung die zentralen Voraussetzungen für eine Digitalisierung wesentlich einfacher eingeführt werden können als in jahrelang gewachsenen, nicht auf eine Digitalisierung ausgerichteten Strukturen (Vgl. Grottke und Boll 2018).
2.3.3 Zusammenfassung und Zwischenfazit Fassen wir die hier herangezogenen immer noch relativ oberflächlichen Befunde zusammen, so lässt sich konstatieren, dass die Digitalisierung in Deutschland tatsächlich noch nicht die Potenziale realisiert, die eigentlich realisierbar wären. Dies betrifft sowohl die technologische Infrastruktur, die Realisation von Prozessoptimierungen über Datendrehscheiben, die Gründerkultur als auch die Nutzung von datenbasierten Plattformmodellen. Bestätigt wird ein gewisser Nachholbedarf auch im internationalen Vergleich. Zwar bestätigt sich die besonders wettbewerbsfähige Position im Maschinenbau, allerdings sind hier deutliche Initiativen anderer Länder zu verzeichnen. Zudem wird ein Mangel an qualifizierten Fachkräften bzw. ein Mangel an einer geeigneten Fachkräfteentwicklung als zusätzlicher Faktor identifiziert (Vgl. Alonso 2019, S. 329–346; Bohlen 2019, S. 277–292; Frank 2019, S. 311–328; Wächter 2019, S. 293–310; Wiest 2019). Fraglich nun ist, welche der aus den vorangehenden Abschnitten bis hier analysierten Erfolgsfaktoren auch zukünftig noch wichtig sind, um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich weiterhin zu erhalten. Diese Frage soll im nächsten Abschnitt beleuchtet werden.
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2.4 Zukünftige Erfolgsfaktoren im Export Nachdem nunmehr mögliche wesentliche Erfolgsfaktoren des Exports in der Vergangenheit herausgearbeitet und wesentliche Aspekte der Digitalisierung sowie des Entwicklungsstands in Deutschland auch im internationalen Vergleich diesbezüglich erarbeitet wurden, bedarf es einer genaueren Analyse, inwieweit eine Vereinbarkeit der früheren Erfolgsfaktoren mit den neuartigen Entwicklungen der Digitalisierung gegeben ist. Diese soll erneut unter Rückgriff auf die Gliederung der bisher als wesentlich identifizierten Erfolgsfaktoren geschehen.
2.4.1 Soziale Marktwirtschaft und Digitalisierung Wie dargestellt beinhaltet die soziale Marktwirtschaft den Wettbewerb eigenverantwortlicher Unternehmer, die Verhinderung von Machtkonzentration und die Konzentration auf freie, aber auch haftende Wirtschaftseinheiten, verbunden mit einem Sozialnetz zur Abfederung von Härten und Friktionen am Markt. In der Digitalisierung ist eine solche Konstruktion mit bestimmten Herausforderungen konfrontiert. Hierzu gehört erstens, dass zu kleine Wirtschaftseinheiten für sich betrachtet zumindest bei größerer Kapitalintensität wesentlich stärker herausgefordert sind, sollen sie die Wirkungen einer VUCA-Welt abfedern können, da sie durch die höheren Fixkosten der erforderlichen Investitionen stärker festgelegt werden und so gleichzeitig weniger diversifizieren können sowie aufgrund der Investitionen auch an Flexibilität einbüßen (Vgl. Boll et al. 2020, S. 12). Die alte Idee vieler kleiner Einheiten, welche durch Flexibilität Unsicherheiten absorbieren und gleichzeitig einen funktionierenden Marktpreismechanismus garantieren (Vgl. Grottke 2011, S. 314), ist insofern zwar nicht ganz obsolet, wird aber einem besonderen Stresstest unterzogen. Hinzu treten Entwicklungen von der Hardware bis zur Software bzw. zu Künstlicher Intelligenz, welche eine ähnliche Verschiebung wie von der Feldarbeit zur Traktormanufaktur markieren und die immer wieder erneute Rekonfigurationen von menschlichen Fähigkeiten erfordern (Vgl. Borg und Hill 2018, S. 21–25). Diese benötigen einen kontinuierlichen Wandel der erforderlichen Handlungskompetenzen und werden vermutlich wesentlich häufigere Arbeitsplatzwechsel bewirken. Allerdings ist hier die soziale Marktwirtschaft mit ihrem sozialen Auffangnetz im internationalen Vergleich sehr gut aufgestellt.
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Zugleich sind viele Vorteile der Digitalisierung eng mit natürlichen Monopolen verknüpft (große Datenmengen, Netzwerkeffekte, hohe Investitionen mit nachfolgenden Grenzkosten von Null). Deshalb verwundert nicht, wenn sich bereits eine Verdichtung wirtschaftlicher Macht und somit erste Monopolbildungen auf digitalen Märkten beobachten lassen (Vgl. Bardmann 2019, S. 620). So ist z. B. schnelles Wachstum, wie es derzeit durch die amerikanischen Kapitalmärkte ermöglicht wird, bislang essenziell. Es ist kein Zufall, dass gerade diejenigen Länder in derartigen Bereichen hocherfolgreich sind, welche über riesige Absatz- wie Kapitalmärkte verfügen (USA: Amazon, Facebook, Google, Apple bzw. China: Baidu, Huawei, Alibaba). Die Frage bleibt, ob der Exportweltmeister Deutschland nur auf diesem Wege erfolgreich sein kann oder ob es alternative Kooperationsformen für viele freie kleine Unternehmen gibt, die in der Realisation dieser Vorteile eine echte Alternative darstellen könnten (Vgl. Inoue 2019, S. 726–751). Es ist einerseits eine rechtliche Frage, wie eine Kooperationsform von kleinen Einheiten ausgestaltet werden könnte. Andererseits ist es auch die ordnungspolitische Frage danach, wie eine Lösung aussehen könnte, die entsprechende Skalierungsvorteile dezentral realisieren kann. Klar ist hierbei bislang nur, dass abhängig von der Art des zugrunde liegenden Geschäfts, andere ordnungspolitische und rechtliche Vorgehensweisen notwendig sein werden, will man nicht in den (u. E. bereits „verlorenen“) Kampf um die Vorherrschaft in natürlichen Monopolen im Sinne eines the winner takes it all und die hierbei entstehenden Abhängigkeiten eintreten. Von einer überzeugenden Antwort auf diese Frage wird abhängen, ob die diesbezüglichen Grundgedanken der sozialen Marktwirtschaft erhalten bleiben können. U. E. hat diese Frage trotz ihrer Dringlichkeit bislang keine befriedigende Antwort erhalten. Kern vieler Veränderungen der Digitalisierung ist die Vernetzung. Zwar wird die Fokussierung auf eigene Stärken und auf die Skalierung derselben weiterhin ein bleibender Faktor sein, überall jedoch zeichnet sich ein Bild verstärkter Interaktion und ein Ineinanderfließen vorher klar abgegrenzter Bereiche ab. Eine VUCA-Welt abzufedern, wird verstärkte Kooperation und Vernetzung in alle Richtungen erfordern. Ein Survival des momentan am fittesten Erscheinenden ist angesichts dessen nicht mehr zukunftsfähig – sieht man sich doch immer mehrfach; Leistungsfähigkeitserzeugung nur über den Wettbewerb unter Inkaufnahme aller Kollateralschäden ist insofern nicht mehr erfolgsversprechend, vielmehr geht es darum, positive Vernetzung in jeder Richtung aufzubauen, die robust ist, sobald es zu Veränderungen kommt. Auch die bislang in der sozialen Marktwirtschaft im Wettbewerb vorherrschende strikte Geheimhaltung zwischen den Unternehmen (Vgl. Grottke 2011, S. 285–314) ist vor diesem Hintergrund zu hinterfragen. In der Digitalisierung geht es eher
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um ein schnelles Innovieren, Teilen von Wissen und Kooperieren (vgl. z. B. dazu den verbreiteten Lean-Startup-Ansatz von Ries (Ries 2011)). Auch hier werden flexiblere, neuartige Mechanismen gebraucht, welche den Umgang mit Wissen anders aufstellen, gleichzeitig aber auch den Aufwand Einzelner von den Anreizen her zumindest im Durchschnitt weiterhin respektieren und adäquat entlohnen.
2.4.2 Freihandel Auch der Freihandel verändert sich durch die Digitalisierung. Wie dargestellt, bewirkt Digitalisierung eine deutliche Spaltung zwischen Hardware mit variablen Grenzkosten in der Herstellung und Software mit Grenzkosten von Null in der Reproduktion (dass im Sinne eines total cost of ownership auch noch nutzerspezifische weitere Kosten der Aneignung anfallen, ist davon unbenommen). Wichtiger noch erscheint, dass es zu einer zunehmenden Erzeugung von Digital Twins, d. h. digitalen Rekonstruktionen physischer Gegebenheiten im Internet, kommt. Mit anderen Worten trennt sich die Idee von der Physis und kann dann z. B. über additive Fertigungsverfahren an jedem Ort der Welt wieder reproduziert werden (z. B. durch 3-D-Druck). Dies hat deutliche Wirkungen auf die Fertigung wie die Logistik. So wird der Transport zahlreicher physischer Produktionen ggf. überflüssig, weil es ausreicht, die Ideen zu teilen und dann lokal zu produzieren (Vgl. Burkert 2021; Anderson 2013). Voraussetzung ist, dass noch weitere bedeutende Schritte in der Kostenstruktur solcher Produktionen stattfinden und sich derartige additive Verfahren stärker ausbreiten. Damit werden sich indes Absatzmärkte international in Zukunft ganz anders und neu strukturieren als bisher – was insbesondere im Bereich von Fahrzeugbau, Maschinenbau und Anlagenbau Auswirkungen haben dürfte. Zugleich kommt es durch die zunehmende Vernetzung zu einer neuen Herausforderung für den internationalen Handel. So müssen Silostrukturen durch offene vernetzte Strukturen mit holistisch denkenden Menschen ersetzt werden. Das ist eine Situation, welche gegenüber alten Theorien wie derjenigen des komparativen Vorteils von David Ricardo neu ist. So tritt neben die Fokussierung auf die eigene Spezialisierung, welche weiterhin notwendig ist, im Sinne eines u-förmigen Kompetenzansatzes die Notwendigkeit, über eine Vielzahl an Vernetzungsanschlussmöglichkeiten als Unternehmen zu anderen Unternehmen in anderen Ländern zu verfügen, um überhaupt über diese Fokussierung hinaus flexibel denken zu können. So kann es durch die VUCA-Welt immer zu unerwarteten disruptiven Entwicklungen kommen, welche zu überleben bessere Chancen hat, wer
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in einem großen Kooperationsnetzwerk über eine Vielzahl an weiteren Anschlussmöglichkeiten verfügt, um auch unter den sich stetig wandelnden Gegebenheiten weiter erfolgreich zu sein.
2.4.3 Hidden Champions in der Digitalisierung Auch für die bislang erfolgreichen Unternehmen, die obig angeführten HC, stellt sich die Frage, ob sie ihre Charakteristika überdenken müssen. So sind selbst Unternehmen mit über hundertjähriger Firmentradition und besten Quartals- und Jahresergebnissen vor der digitalen Revolution nicht geschützt (Vgl. Brauckmann 2019, S. 5). Vom kleinen Unternehmen bis zum großen Konzern müssen insofern alte Erfolgsrezepte des Wirtschaftens auf die neue Zeit übertragen werden. Um die Komplexität zu reduzieren, soll im Folgenden diesbezüglich nur auf familiengeführte HC eingegangen werden. Diese haben etwa 91 % Anteil an allen aktiven deutschen Unternehmen (ausgenommen öffentliche Unternehmen) und erwirtschaften etwa 55 % des deutschen Gesamtumsatzes (Vgl. Stiftung Familienunternehmen 2018). Sie stellen ferner, folgt man der Definition für Familienunternehmen des Wittener Instituts für Familienunternehmensforschung (2018), mehr als 84 % der HC. Das heißt, sie weisen einen hohen Deckungsgrad mit diesen auf. (Vgl. Wittener Institut für Familienunternehmen 2018; Schmieder 2017)15 Familienunternehmen sind vor allem von Cravotta und Grottke (2019) sowie Boll et al. (2019) analysiert worden. Im Folgenden fassen wir die gemäß den Charakteristika auch für HC einschlägigen Überlegungen aus diesen Studien zusammen und ergänzen dies um weitere einschlägige Literatur. Der wesentliche Unterschied zwischen HC und neuen digitalen Start-ups besteht hierbei darin, dass gerade ältere HC ihren Markt seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten kennen (Vgl. Obermaier 2018, S. 7–12). So verfügen sie einerseits über einen nicht unerheblichen Erfahrungsschatz, der es ihnen erlaubt, unüberschaubare strategische Optionen von vornherein zu filtern und viel Geld zu sparen, das sonst in unnötigen Versuchen am Markt vergeudet würde. Umgekehrt können Start-ups im Silicon Valley Kapitalressourcen akkumulieren, die es ihnen erlauben, sich schnell zu etablieren. Beispielsweise kann ein Unternehmen
15Der
Studie von Schmieder zufolge halten 67 % der von ihm befragten Hidden Champions immer noch 100 % der Anteile im Familienbesitz, 84 % halten immer noch mindestens 26 % (Vgl. Schmieder 2017).
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durch die Vermarktung eines Vielfachen des Jahresumsatzes im virtuellen Raum schnell weltweit bekannt werden und von seinen Kunden lernen, z. B. durch die Nutzung des Build-Measure-Learn-Konzepts des Lean-Startup-Ansatzes (Vgl. Cravotta et al. 2018; Ries 2011). Doch was brauchen HC, um ihren vergangenen Erfolg auch in der Digitalisierung weiter fortzusetzen? Pragmatisch lässt sich formulieren: HC müssen sich die Frage stellen, welche heute getroffenen strategischen Entscheidungen das Potenzial für neue Zukunftsentscheidungen erhöhen könnten (Vgl. Obermaier 2018). Nachfolgend sollen fünf Kernelemente beleuchtet werden, in denen graduelle Anpassungen in diesen Unternehmen notwendig werden bzw. bestehende Eigenschaften eine neue Qualität erlangen, die vorher nicht im Vordergrund stand. Agilität Ein Weg, der zur Steigerung der Produktivität, Anpassungsfähigkeit und Geschwindigkeit der stark humankapitalorientierten HC, der im Zeitalter der Digitalisierung diskutiert wird, besteht darin, die Prinzipien agiler Organisationen zu verstärken (Vgl. Borg und Hill 2018, S. 21–25). So stellen agile Organisationen sicher, dass Entscheidungen schnell und flexibel getroffen werden können, indem sie diese dezentralisieren und ihre Mitarbeiter in die Lage versetzen, die Entscheidungen zu treffen. Sie stellen auch sicher, dass möglichst alle Talente und Fähigkeiten von Einzelpersonen genutzt werden, nicht nur die in der Stellenbeschreibung angegebenen. Insbesondere werden auf diesem Wege jeweils diejenigen Fähigkeiten von Mitarbeitern an die Oberfläche gespült, welche dem Unternehmen erlauben, robust zu agieren. Auch empirisch scheint sich dabei eine verbesserte, insbesondere schnellere Organisation von Innovationen unter befragten Familienunternehmen zu verbreiten. So gaben in der Studie von Lichtner und Kinkel (2018) bereits die Hälfte der 193 befragten Familienunternehmen an, hier schneller und besser geworden zu sein (Vgl. Lichtner und Kinkel 2018). Dimension der unternehmerischen Anpassung des Unternehmens Da in einem als Familienunternehmen organisierten HC die Besonderheit im Vergleich zu anderen Unternehmensformen im Einfluss der Inhaberfamilie besteht, die dem Unternehmen in der Regel eine besondere wirtschaftliche Stabilität verleiht, stellt sich die Frage, was passieren kann, wenn im Zuge der Digitalisierung sukzessive eine VUCA-Welt entsteht. Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Eigentümerfamilie stets handlungsfähig bleiben und gut informierte Entscheidungen
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treffen kann, da ansonsten das Phänomen auftritt, dass entweder uninformierte Entscheidungen getroffen werden oder, noch problematischer, durch Konflikte Paralysierungen der Entscheidungsfähigkeit des Unternehmens auftreten (Vgl. Cravotta 2013, S. 47). Deshalb muss sich die Eigentümerfamilie so organisieren, dass sie sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen kann. HaftlmeierSeiffert und Cravotta (2019) sprechen hier in ihrer empirischen Analyse hocherfolgreicher deutscher Familienunternehmen, zumeist HC, von der Forderung nach einer sinnvollen unternehmerischen Familienorganisation, dem sogenannten Chamäleon-Modell.16 Dieses Modell zeigt, dass in Unternehmerfamilien unterschiedliche Organisationsformen latent vorhanden sind. Solche funktionierenden familieninternen Netzwerke, die z. T. bei sehr alten Unternehmen mehrere hundert Personen in einflussreichen und informierten Positionen umfassen, können – so die empirische Evidenz in der Interviewstudie von HaftlmeierSeiffert und Cravotta (2019) – die Qualität der im Unternehmen getroffenen Entscheidungen allein durch die Bereitstellung entscheidungsrelevanter Informationen signifikant verbessern (Vgl. Haftlmeier-Seiffert und Cravotta 2019, S. 1–34). Dimension permanente Spinnovation Da die Ressourcen eines HC begrenzt sind, muss es sich immer konzentrieren und spezialisieren. Im Zeitalter der Digitalisierung beginnen jedoch disruptive Innovationen in einem vorher nicht gekannten Tempo. Wie diese anhaltende Fokussierung auf Spezialisierung als HC auf das Zeitalter der Digitalisierung übertragen werden kann, zeigen Venter und Friedrich (2017). Ziel der Autoren ist es, dem derzeit allgegenwärtig herrschenden Verdrängungs- und Preiswettbewerb zu entkommen. Die Mittel, die sie in diesem Zusammenhang vorschlagen, bestehen aus einer Trias aus Spezialisierung auf ein komplexes Problem auf der einen Seite, Innovation auf der anderen Seite und schließlich einem Engpass oder einer zwingenden Anforderung einer Gruppe, die die Lösung dieses komplexen Problems benötigt (Vgl. Venter und Friedrich 2017). Aus einem einfachen Grund sind Produkte, die aus dem SpinnovationAnsatz hervorgehen, nicht in Gefahr, durch einfache Massenanpassung ersetzt zu werden, die durch Industrie 4.017 erheblich erweitert werden kann: Die
16Näheres
zum Chamäleon-Modell siehe Haftlmeier-Seiffert und Cravotta (2019, S. 1–34). 4.0 als Begriff gibt es nur in Deutschland. Allerdings wird es häufig synonym zur vierten industriellen Revolution verwendet. Weiterhin wird es als synonym für Smart Factory verwendet (Vgl. Bardmann 2019; Huber 2016, V; Geldner 2015).
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Konzentration auf ein von Anfang an komplexes Problem verhindert eine einfache Nachahmung durch Konkurrenten. Es sind weniger der Kunde und der Markt, die hier geheim gehalten werden, als vielmehr die Problemlösung, die versteckt wird, weil sie personalisiert ist. Dies lässt sich insbesondere an einem Beispiel eines Beratungsdienstleistungsproduktes veranschaulichen. Ein Beratungsdienstleistungsprodukt ist umso mehr akzeptiert, je besser es auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten werden kann. Ein Produktdesign, das einen solchen Zuschnitt anstelle einer wiederkehrenden Blaupause verwendet, wird in der Lage sein, komplexe Spezialprobleme eines Kunden anzusprechen. Die Herausforderung besteht darin, über genügend standardisierte Komponenten zu verfügen, um das Ergebnis eines solchen Prozesses zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten zu können (Vgl. Cravotta und Grottke 2019, S. 14 f.). Dimension digitale Markenführung Die durch die Digitalisierung ausgelösten Veränderungen in Form der zunehmenden (oder zumindest zusätzlichen) Virtualisierung des menschlichen Bewegungsumfangs schaffen auch neue Rahmenbedingungen und setzen neue Rahmenbedingungen für die Markenführung in HC. Die lange bekannten und in der Markenführung regelmäßig zur Anwendung kommenden Prinzipien wie die Glaubwürdigkeit und Relevanz der Marke bei den Konsumenten und die Unterscheidungskraft der Marke im Vergleich zu anderen – also die sog. Naturgesetze nach Hermes (Hermes 2008, S. 284) – bleiben wichtig, reichen aber nicht mehr aus, um die Marke eines HC in der Zielgruppe zu positionieren. Dies wird transparent, wenn man berücksichtigt, dass zusammen mit der entstehenden kundenbezogenen Individualisierung gleichzeitig eine Fragmentierung der Märkte entsteht. Es stellt sich dann die Frage, was eine Marke bedeutet, wenn Kunden nicht mehr durch ein Produkt, sondern durch eine individuell zugeschnittene komplexe Lösung bedient werden (Vgl. Cravotta et al. 2018). Um auf die Digitalisierung zu reagieren, müssen HC daher weitere Grundprinzipien berücksichtigen, die den Besonderheiten des virtuellen Raums Rechnung tragen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie HC dafür sorgen, dass sie gleichzeitig heimlich und versteckt agieren und trotzdem in der Welt des Internets leicht und sinnvoll auffindbar sind. Zur Lösung dieses Problems schlagen Cravotta et al. (2018) drei weitere Grundprinzipien vor, die sogenannten drei C's18: Eine Marke muss dort sein, wo die Zielgruppe
18Näheres
zu den sogenannten drei Cs siehe Cravotta et al. (2018, S. 3).
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ist, und sich mit der Zielgruppe im virtuellen Raum verbinden (connectivity). Dazu ist es auch notwendig, HC im Internet zu finden. Gleichzeitig sollte die Maximierung des Bekanntheitsgrades der relevanten Zielgruppen einerseits und die Minimierung des Bekanntheitsgrades bei den Mitbewerbern andererseits auch in das digitale Zeitalter übertragen werden. Zu diesem Zweck sind alle onlineund offlinebasierten Aktivitäten oder Erlebnisse im Sinne einer ganzheitlichen Markenführung aufeinander abzustimmen (complementarity). Insbesondere muss sichergestellt werden, dass die Zielgruppe den herausragenden Nutzen der von den HC angebotenen Lösungen durch das Zusammenspiel von Online- und Offlinekomponenten erkennt, während die Wettbewerber online nur Fragmente und offline in der Regel keine Informationen erhalten. Digitale Marken werden so zu einem Orientierungsersatz und reduzieren den Informations- und Schutzbedarf. Digitale Marken müssen daher einfach zu bedienen sein (complexity reduction) (Vgl. Cravotta und Grottke 2019, S. 16). Insgesamt bewirkt die digitale Markenführung so eine Anpassung der bereits sehr fokussiert werbenden HC an den virtuellen Raum, welche einerseits wegen der VUCA-Welt immer wieder zu Änderungen herausgefordert sind und welche andererseits wegen ihrer Fokussierung leicht in der Informationsflut des Netzes unterzugehen drohen, wenn sie zeitgleich vor den Augen potenzieller Konkurrenten verborgen bleiben wollen (Vgl. Cravotta und Grottke 2019, S. 16). Dimension Integration und Zusammenarbeit Zwei weitere wichtige sich verändernde Determinanten für HC sind, dass einerseits die Geschwindigkeit im Vergleich zu Genauigkeit und Qualität immer wichtiger wird und andererseits, dass immer mehr Investitionen softwareähnlich ausfallen, mit hohen Anfangsinvestitionen und Grenzkosten nahe Null (Vgl. Anderson 2013). Beide Determinanten könnten zur Folge haben, dass sie den einzelnen HC in stärkere Kooperationsbeziehungen drängen. Dabei kann die Geschwindigkeit nur gesteigert werden, wenn einerseits der eigene Fokus erhalten bleibt und andererseits Unternehmensfunktionen, die über den eigenen Fokus hinausgehen bzw. genereller Natur sind, an Kooperationspartner weitergegeben werden. Das steht im Gegensatz zu der zuvor bestehenden „My home is my castle“-Geheimhaltungspolitik vieler HC in Deutschland, hat allerdings offensichtlich ein hohes Potenzial, zumindest wenn dies branchenübergreifend im Sinne des chinesischen Shanzai-Gedankens realisiert wird (Vgl. Anderson 2013). Darüber hinaus legen Grenzkosten nahe Null nahe, dass nach einer bestimmten Investition so viele Nutzer wie überzeugbar notwendig sind. Die Anzahl der Nutzer schnell zu inflationieren, scheint wiederum möglich, wenn
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die Zahl der Nutzer durch Kooperationen sprunghaft gesteigert werden kann. All dies bedeutete einen grundlegenden Wandel in der Haltung der HC, denn es geht darum, dass HC mit ihren Lösungen schnell bei potenziellen Kunden (aber eben möglichst auch nur bei diesen) bekannt werden müssen, anstatt die Lösungen den aktuellen Kunden eher bekannt zu machen, aber darüber hinaus geheim zu halten (Vgl. Cravotta und Grottke 2019, S. 19). Bringt man die in diesem Abschnitt hervortretenden Änderungen auf den Punkt, so zeichnet sich ab, dass insbesondere die Fähigkeiten zur – auch unternehmensübergreifenden – Kooperation, zur permanenten Innovation, unter Rückgriff auf das gesamte im Unternehmen verfügbare Wissen, und zu einer noch einmal erhöhten Flexibilität in Anpassung an unvorhergesehene Änderungen für die HC neue zusätzliche Erfolgsfaktoren in einer digitalen Zukunft werden. Diese können z. T. mit alten Faktoren wie Fokussierung nur durch eine neue Denkweise in Einklang gebracht werden.
2.4.4 Die Automobil- und Maschinenbauindustrie in der Digitalisierung Im Folgenden soll beispielhaft die Situation in der Automobil- und Maschinenbauindustrie betrachtet werden. Hier sind die Wirkung und das Potenzial der Digitalisierung, die Situation dieser Industriezweige zu beeinflussen, differenziert zu beurteilen. Eine Studie des VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) betont, dass drei Trends den Maschinenbau in den kommenden Jahren prägen werden. Das ist erstens die Verschiebung von Wachstumschancen von Hardware in Richtung Software und Services. Zweitens wird die Digitalisierung die Investitionsgüterindustrie stark verändern. Drittens müssen Maschinenbauer flexibler werden, indem sie beispielsweise stärker mit Kunden und Wettbewerbern kooperieren und Digitalexperten an sich binden (Vgl. VDMA und McKinsey&Company 2016). Sofern der Maschinenbau sich diesen Trends nicht stellt, könnten immense Risiken entstehen: In ökonomischer und industriepolitischer Sicht kann aus der weltweiten Digitalisierung mit Vorherrschaft US-amerikanischer und asiatischer Konzerne auch ein Bedrohungsszenario für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau entstehen, sofern der Maschinenbau in eine reine Zulieferfunktion für Hardware abgedrängt wird (Vgl. Bauernhansl 2015). Der Industrie-4.0Readiness-Studie folgend, liegen zudem vier wichtige Erkenntnisse für die
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Erzeugung einer Digital Readiness für den Maschinen- und Anlagenbau vor. Diese lauten: • Industrie 4.0 muss stärker in der Unternehmensstrategie verankert werden. • Qualifiziertes Personal ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor. • Data-driven-Services und vernetzte Produkte ermöglichen neue Geschäftsmodelle und erweitern das Service-Portfolio. • Die Finanzierung von Industrie-4.0-Projekten muss gesichert werden (Vgl. Lichtblau et al. 2015). Zusammengenommen zeigen diese Befunde auf, dass die Digitalisierung als ganzheitliches Projekt betrieben werden sollte. Weitere Studien mit Fokus auf dem tatsächlichen Verhalten von Unternehmen zeigen auf, dass der digitale Wandel diese Branche bislang eher kontinuierlich weiterentwickelnd, nicht aber disruptiv zu betreffen scheint. Diesen Studien zufolge ist Digitalisierung nicht mit einem radikalen Umbruch der Arbeitswelt im Maschinenbau verbunden, sondern verstärkt und beschleunigt Trends und Dynamiken (Vgl. Kuhlmann und Voskamp 2019). Vor allem Flexibilisierung, Standardisierung, Formalisierung und Transparenz werden hier als Trends genannt, welche durch eine Digitalisierung beschleunigt werden (Vgl. Dispan und Schwarz-Kocher 2018). Relativ einheitlich wiederum zeigen alle Studien, was definitiv ein Schlüsselfaktor bleibt: So hebt auch die Studie von Kuhlmann und Voskamp (Vgl. Kuhlmann und Voskamp 2019, S. 60) hervor, dass sowohl in den Entwicklungs- als auch in den Produktionsbereichen qualifizierte Arbeit, gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Selbstständigkeit, Eigeninitiative und sowohl breitem als auch vertieftem Fachwissen, notwendig bleibt. Auch wenn die Möglichkeiten des Einsatzes von Angelernten aus technologischen (steigende Autonomie der Systeme in der mechanischen Fertigung) oder organisatorischen Gründen (erhöhte Vorstrukturierung von Abläufen durch Lean-Konzepte in den Montagen) zunehmen könnten, wird sich diese Entwicklungsrichtung gleichwohl nicht breitflächig durchsetzen, denn sie wird konterkariert durch die nach wie vor zunehmende Komplexität der Produkte, Fertigungsverfahren und Produktionssysteme sowie die hohen Flexibilitäts-, Qualitäts- und Innovationsanforderungen, auf welche die Maschinenbaubetriebe unverändert so reagieren, dass sie auf fachlich kompetente, selbstverantwortlich handlungsfähige und kooperationsbereite Belegschaften setzen (Vgl. Kuhlmann und Voskamp 2019, S. 60).
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Zusammengefasst über alle hier zitierten Studien ergibt sich damit ein Befund, welcher noch auf Uneinigkeit darüber hindeutet, ob sich die Branche mit der Digitalisierung als einem existenzgefährdenden disruptiven Wandel auseinandersetzen muss oder ob es sich um inkrementelle Innovationen handelt, welche sich ihrerseits dadurch auszeichnen, dass sie lediglich bereits bestehende Herausforderungen verschärfen. Unabhängig von dieser eher akademisch anmutenden Frage der Einordnung ergeben sich jedoch studienübergreifend Herausforderungen insbesondere in drei Bereichen: • Zum einen werden sich die typischerweise hohen Anforderungen in den Bereichen Qualität, Flexibilität und Innovationsfähigkeit auch weiterhin aus Sicht der betrieblichen Akteure nur mit gut ausgebildeten, qualifizierten Fachkräften bewältigen lassen, die nicht nur über ein spezifisches, sich ständig weiterentwickelndes Fachwissen verfügen, sondern sich zugleich durch eine die notwendige Flexibilität ermöglichende Kooperationsfähigkeit, Selbstständigkeit und eine hohe Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme auszeichnen (Vgl. Kuhlmann und Voskamp 2019, S. 61). • Zum zweiten ergeben sich Herausforderungen bei der innerbetrieblichen Zusammenarbeit durch agiles Arbeiten. Die Methoden des agilen Arbeitens stammen aus der IT-Branche bzw. aus der Software-Entwicklung und haben sich von dort aus zunächst in die Unternehmensabteilungen für Forschung und Entwicklung in vielen Wirtschaftszweigen ausgebreitet. Heute sind agile Methoden nicht nur in den Entwicklungsabteilungen von Industrieunternehmen zu finden, sondern sie diffundieren zunehmend in andere betriebliche Funktionen und Bereiche hinein. Auch bei Automobil- und Maschinenbauunternehmen hält agiles Arbeiten – ausgehend von der Entwicklung – nunmehr zunehmend Einzug (Vgl. Dispan und Schwarz-Kocher 2018). • Zum dritten wird die Ausweitung und Intensivierung des zwischenbetrieblichen Erfahrungsaustausches bis hin zu konkreten Kooperationen (etwa im Bereich der Qualifizierung) ein weiterer Ansatzpunkt, der nicht nur die Qualität von Digitalisierungsprozessen insgesamt erhöht, sondern zugleich das Engagement, die Problemlöse- und Handlungsfähigkeit der betrieblichen Akteure stärkt. Sowohl aufseiten des Managements als auch bei den betrieblichen Interessenvertretungen wurde im Vergleich von Untersuchungsfällen deutlich, dass sich vor allem die Betriebe durch eine größere Umsetzungsdynamik und aus ihrer Sicht auch bessere Ergebnisse auszeichneten, bei denen der regelmäßige und systematische Austausch mit anderen Betrieben einen besonders hohen Stellenwert hat (Vgl. Dispan und Schwarz-Kocher 2018).
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Die obige Zusammenfassung offenbart aber eine weitere oder vielleicht sogar „die“ Herausforderung: So ist für die Automobil- und Maschinenbaubranche die Qualifikation der Mitarbeiter enorm wichtig. Die erforderlichen Handlungskompetenzen ändern sich aber zunehmend: Neben Spezialisierung und Fachwissen kommt es nun insbesondere auf die sozialen Fähigkeiten zu Vernetzung und Kooperation sowie die Fähigkeit zum holistischen Arbeiten an.
2.4.5 Zusammenfassung: Deutschland am Scheideweg Fasst man die vorhergehenden Ausführungen zusammen, so zeigt sich, dass in jedem der vier analysierten Erfolgsfaktoren Deutschland bedeutsame Anpassungen benötigt. So sind die Erfolgsfaktoren der Zukunft nicht notwendigerweise allein die Erfolgsfaktoren der Vergangenheit. Sowohl das Instrument der sozialen Marktwirtschaft bedarf neuartiger Ergänzungen als auch der Freihandel. Und auch unternehmerisch bzw. in der Industrie ist in vielfacher Hinsicht ganz neu zu denken, allerdings ohne das zu verlieren, was in der Vergangenheit stark gemacht hat. Häufig bleibt bei den Anforderungen, beispielsweise der notwendigen umfassenden Kooperation und der nochmals erhöhten Flexibilität hierbei bislang noch offen, wie diese konkret und sinnvoll erfüllt werden können. Die Herausforderung wird hier sein, Anreizstrukturen so anzupassen bzw. Entscheidungsträger so auszubilden, dass sie vermehrt zu einem holistischen Denken ohne Verhaftung in alten Silostrukturen fähig sind. Dies gilt vielleicht nicht nur für Unternehmen und Individuen in der Wirtschaft, sondern zuletzt auch für die scheinbare Zielsetzung der Exportweltmeisterschaft. Es wurde bereits dargelegt, dass sich selbst Volkswirte uneinig sind, ob dieser Titel überhaupt so attraktiv ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Gerade im Rahmen der Coronakrise zeigt der Vorschlag des EZB-Direktors Fabio Panetta auf, wie es anders gehen könnte, indem er in Zeiten knapper Ressourcen aus europäischer Sicht darauf hinweist, dass es notwendig sei, die überlebensfähigen Geschäftsmodelle zu stützen, unabhängig davon, in welchem Land diese seien (Vgl. FAZ.NET 2020). In der Tat dürfte genau so ein holistisch denkendes Verhalten ggf. das nachhaltigste Wirtschaften von Europa und für Europa hervorbringen können, wiewohl es für einzelne Nationalstaaten, unter ihnen Deutschland, rein monetär zu Beginn negative Wirkungen hat. Offensichtlich liegen zahlreiche ähnliche Denkweisen auf der Hand – da es in einer globalen Welt vor global angelegten und nur holistisch zu lösenden Problemen nur so wimmelt. Und vielleicht braucht es erst die Krise, welche zu diesem Verhalten der Kooperation bewegt.
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Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass ein solches Verhalten nahelegt, dass ein Exportüberschuss, eine Exportweltmeisterschaft an sich vielleicht gar nicht mehr sinnvoll ist – sinnvoll ist aber sehr wohl, die Faktoren des Exports im Sinne eines zunehmend weltweiten hochkollaborativen Netzwerks an Unternehmen zum Wohle einer Weltgesellschaft zu stärken. Sinnvoll ist ebenso, politisch hierfür die Rahmenbedingungen zu schaffen. Denkbar wäre, Hilfen für andere Länder so auszugestalten, dass diese die Kooperationen zwischen den Ländern und den Unternehmen vertiefen und erfolgreich gestalten. Dadurch wiederum würden die Unternehmen und aufgrund dessen auch die Länder hernach selbst erfolgreich werden, weil letztere auf die unternehmerischen Kräfte im eigenen Land setzen, welche das Potenzial zu wirtschaftlichem Erfolg haben. Auf diese Weise käme es zwar nicht zu einem Exportüberschuss, wohl aber zu einem höheren Umfang an Export wie Import, welcher sich zudem auch auf einem stabileren Fundament befindet. Immer deutlicher wurde im Verlauf der Darstellung bis zu diesem Punkt, dass hierfür – mangels funktionierender systemischer Lösungen und Regulierungen in Einzelstaaten oder Einzelunternehmen wie angesichts abnehmender Wirksamkeit von Hierarchien – immer mehr einem Bereich eine Schlüsselfunktion zukommen wird: Digitaler Bildung als einem Ansatz, eigenverantwortlich und holistisch denkende, in Wertegemeinschaften diverser Persönlichkeiten und im Team agierende Personen zu fördern. Dass dies sehr herausfordernd ist, wird sofort klar. So beinhaltet dies nicht nur dem beispielhaft bei der Industrie angerissenen Kompetenzwandel Rechnung zu tragen, sondern auch verstärkte Kollaboration zu ermöglichen, die schon im analogen Raum häufig scheitert und hier, über den digitalen Raum noch zusätzlich erschwert, funktionieren soll. Wie so etwas funktionieren könnte und auf welchen bildungstheoretischen Hintergrund hierfür zurückgegriffen werden könnte, dem widmet sich der nächste Abschnitt.
2.5 Digitale Bildung als Schlüsselfaktor wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit Wie im Verlauf der oben angeführten Darstellungen immer deutlicher wurde, kommt Digitaler Bildung als Instrumentarium nachhaltigen, holistisch agierenden erfolgreichen Wirtschaftens eine Schlüsselrolle zu. Digitale Bildung findet indes nicht im luftleeren Raum statt, sondern wird sich natürlicherweise der langjährigen Bildungstradition des deutschsprachigen wie der Best Practices des internationalen Raumes bedienen. So bedeutet Digitalisierung in der
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Bildung zunächst einmal eine Erweiterung von Möglichkeiten, welche heutzutage korrespondierend auch eine verbesserte Ausschöpfung des Potenzials von Bildung zulässt. Zugleich kann Digitale Bildung ihre Wirkung erst dann entfalten, wenn sie so ausgestaltet wird, dass sie auch den erst durch die Digitalisierung geschaffenen Herausforderungen in der Wirtschaft, insbesondere einer Kollaboration mit einer Vielzahl unterschiedlicher Menschen und Unternehmen auf Augenhöhe, begegnen kann. Wie dies aussehen könnte, wird im Folgenden analysiert.
2.5.1 Der traditionelle Bildungsbegriff und seine Eignung für die Herausforderungen der Digitalisierung Der Begriff der Bildung ist in vielen Bereichen zu finden. Wissenschaftlich wird der Begriff mittlerweile prädominant in der Pädagogik bzw. den Erziehungswissenschaften verortet. Die Pädagogik ist durch drei Hauptbegriffe maßgeblich geprägt. Diese sind Erziehung, Bildung und Sozialisation. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen wird hier die Bildung als Grundbegriff verwendet. Dennoch stufen selbst Pädagogen eine scharfe Begriffsdefinition der Bildung als komplex und anspruchsvoll ein (Vgl. Dörpinghaus und Uphoff 2011, S. 8; S. 56 f.). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass durch diesen Begriff zahlreiche Facetten abgedeckt werden. Ein erster Teilaspekt des traditionellen Bildungsbegriffs besteht darin, dass dieser zu einer Mündigkeit des zu Bildenden führen soll. Dies war ein zentraler Gedanke der Aufklärung und ist historisch bis mindestens zu Martin Luther nachverfolgbar, der mit der Schaffung der deutschen Schriftsprache faktisch für jedermann überhaupt erst die Möglichkeit zu selbstständiger Bildung schuf. Für Einzelbegegnungen lässt sich hingegen sogar auf die Maieutik eines Sokrates zurückgehen. Einer der zentralen Köpfe der Aufklärung im deutschsprachigen Raum, der Philosoph Immanuel Kant, formulierte es in einem Aufsatz wie folgt: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung (Kant 1999, S. 20).
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Kant fordert dazu auf, Mut zu haben und sich selbst, ohne Leitung anderer, zu orientieren. Den Weg zu einem ebensolchen Vermögen soll Bildung bahnen. Im Rahmen der Bildung geht es darum, zur Selbstsorge zu befähigen. Hiernach ist ein Teilverständnis der Bildung ebenso die Mündigkeit. Ziel ist es, folglich zu Selbst- und Eigenständigkeit zu befähigen (Vgl. Dörpinghaus und Uphoff 2011, S. 60; Foucault 2001, S. 342–348). Dass ein solcher Bildungsbegriff gerade in der Digitalisierung mitnichten an Bedeutung verliert, sondern eher noch viel mehr an Bedeutung gewinnt, wird unmittelbar deutlich, wenn man sich den Kern von für digitalisierungstypische Demokratisierungsbewegungen in Unternehmen, flachen Hierarchien, agilen Arbeitsformen und VUCA-Welt, vergegenwärtigt. So sind diese Entwicklungen allesamt der Einsicht geschuldet, dass ein Unternehmen nicht mehr die Zeit noch die Führungskräfte eines Unternehmens die Kapazität haben, Probleme an der Basis zu lösen und insofern darauf angewiesen sind, dass die Mehrzahl der Probleme durch fähige – und dies bedeutet insbesondere eigenständig und selbstständig kompetent handelnde – Mitarbeiter gelöst wird. Genau dies aber setzt eine hochgebildete Belegschaft im Sinne Kants voraus! Bildung bedeutet allerdings noch weit mehr als dies, nämlich über den Prozess der Bildung zu demjenigen Ort oder Platz zu gelangen, an dem das einzelne Subjekt in seiner Relation zu den Lebensumständen, der Welt, der Gesellschaft, dem Arbeitsplatz, seine zu ihm gehörige Aufgabe, seinen Platz in der Welt und seine ureigenste Berufung findet, in welcher es aufgeht. Mit Wilhelm von Humboldt lässt sich dies wie folgt fassen: Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung (Humboldt 1995, S. 235 f.).
Konsensuell zu Humboldts Ausführung lässt sich eine griffige Kurzdefinition von Bildung wie folgt darstellen: „Bildung ist das [natürliche] Verhältnis von Subjekt zur Welt.“ (Fürst 2019b). Auch mit dieser Definition stehen die Methoden der Digitalisierung in einer deutlichen Wechselwirkung: So kann mithilfe der Informationsmöglichkeiten, von Learning Analytics, aber auch von Vernetzung, in ganz anderer Weise herausgefunden werden, welche Aufgabe zu einem zu Bildenden gehört. Mit anderen Worten wird diese traditionelle Bildung, welche in der Vergangenheit allenfalls zufällig in Eliten erfolgreich verlaufen konnte, nunmehr zu einer allgemeinen Ordnungsaufgabe. Diese ermöglicht es Menschen,
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sich basierend auf Einsicht, in freier, selbstmotivierter Entscheidung, den ihnen gemäßen Aufgaben zuzuführen. Nur so finden sie in einer VUCA-Welt allein den Weg zum jeweiligen Platz der Entfaltung, jenem Platz nämlich, an dem der Einzelne sowohl gefordert als auch gefördert sowie gebraucht ist – und darum einen Unterschied machen kann. Vermieden wird so, dass ein Mensch ein richtiges Leben in einem falschen Leben führen müsste (Vgl. Adorno 1951/2003, S. 43–60). Wie ein solches Bildungsziel verwirklicht werden kann, lässt sich einem Brief von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Schiller entnehmen, in dem Humboldt – für die heutige Zeit sehr passend – Bildung zu erlangen beschreibt als „den Schlüssel zu dem Geheimnis jeder menschlichen Größe zu finden, endlich die Formel zu entdecken, durch die man jeder Eigentümlichkeit ihr Urteil fällen und jeder ihre Richtung vorschreiben kann.“ Voraussetzung ist ihm zufolge, „mit anhaltendem Nachdenken, mit ausgebreitetem Studium, mit emsigem Aufsuchen der verschiedensten Menschen, Länder und Sitten“ sich zu bilden (Vgl. Humboldt et al. 1952). Mit anderen Worten verweist Humboldt darauf, dass es die Vielfalt von Begegnungen mit Menschen, Orten und Lebensweisen ist, welche es einem ermöglicht herauszufinden, wohin man gehört. Auch dieser Aspekt erfährt im Rahmen der Digitalisierung noch einmal eine deutliche Steigerung. So gilt, dass die Digitalisierung mit ihrer umfassend ansteigenden Vernetzung die Fähigkeit indispensabel werden lässt, mit einer Vielzahl von Menschen in beständig wechselnder Zusammensetzung und hohem Diversitätsgrad positiv und fruchtbar zusammenzuarbeiten. Auch gilt, dass im Rahmen der Open-Space-Entwicklungen im Arbeitsraum wie der Globalität des Arbeitens, insbesondere aber in der VUCA-Welt mit wechselnden Orten und Umständen stets sinnhaft umgegangen werden können muss. Die Herausforderung hierbei ist zugleich, jeden Ort zu einem Ort der Begegnung im Sinne Martin Bubers auszugestalten: ein Ort, an dem man wird und der sich so in den Weg zur eigenen Persönlichkeit eingräbt und damit unverlierbar wird (Vgl. Buber 1923). Zuletzt ist Bildung als ein Prozess aufzufassen, wie in der folgenden Definition deutlich wird, welcher auf Dialog und Begegnung sowie Selbstbegegnung in Form von Kritik und Selbstdialog anstatt auf Abgeschlossenheit fußt: Bildung im modernen Sinn bezeichnet erstens eine Offenheit des Individuums gegenüber neuen Erfahrungen – und wendet sich damit gegen einen bildungstheoretischen Objektivismus, aus dem heraus man meinen könnte, einen Kanon an anzueignendem Wissen und Interpretationen von Welt festlegen zu können.
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Bildung im modernen Sinne ist zweitens gekennzeichnet von Reflexivität: Mit den Erfahrungen ändert sich das Individuum und die Erfahrungen selbst ändern sich in einer sich verändernden Welt. Diese Veränderungen seiner Selbst wahrzunehmen und die eigenen Handlungen wie auch den Wandel der Erfahrungsfelder als solchen zu reflektieren, macht den zweiten Kernbestand des Bildungsbegriffs aus (Haan 2002, S. 14).
Fassen wir unsere Erkenntnisse zum traditionellen Bildungsbegriff soweit hier expliziert zusammen, so lassen sich diese in Variation eines Zitates von Viktor Frankl wie folgt verdichten: Wenn wir den Mensch so nehmen, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter. Wenn wir ihn aber so nehmen, wie er sein kann, wenn er aus freien Stücken den Ort, die Aufgabe und die Menschen findet, zu denen er gehört und mit denen er zusammenarbeiten will, dann kann er zu dem werden, der nur er werden kann (Vgl. Frankl 2015 nach Goethe 1795/1976. 8. Buch, 4. Kap.).
Gerade mit der Digitalisierung lassen sich diese Potenziale in ungeahntem Ausmaß potenzieren, genau derartiges durch Digitale Bildung, welche auf Freiwilligkeit basiert, zu leisten.
2.5.2 Bildungssysteme des Hochschulwesens – Systeme im internationalen Vergleich Indes muss hinterfragt werden, inwieweit der klassische Bildungsbegriff, welcher sich in besonderer Weise für die Herausforderungen der Digitalisierung zu eignen scheint, auch in den Hochschulsystemen umgesetzt wird bzw. ob sich hier weitere Komponenten finden, welche für eine Ausgestaltung von Digitaler Bildung vielversprechend erscheinen. Um dies zu untersuchen, wird im Folgenden auf ausgewählte Bildungssysteme und deren Grundcharakteristika eingegangen. Ausgewählt wurden diese Systeme nach dem Prinzip der Heterogenität, mit dem Ziel aus dem Vergleich heraus Wirkungen bildungspolitischer Grundsatzentscheidungen destillieren zu können. Ausgewählt wurden darum Frankreich, Spanien und Finnland sowie die EU für den europäischen Raum einerseits sowie die USA und Australien für den angelsächsischen Raum und das historische China für den asiatischen Raum. Das französische Hochschulsystem mit seiner charakteristischen Zweiteilung von Universitäten und Grandes Écoles hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert, wo auf staatliche Initiative hin die ersten ingenieurwissenschaftlichen Hochschulen gegründet wurden (Vgl. Hayek 1979). Die Grandes Écoles sind hierbei
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Ausbildungsstätten der wirtschaftlichen und staatlichen Eliten. Im Unterschied zu den Universitäten, welche alle Absolvierenden aufnehmen müssen, können die Grandes Écoles ihre Studierenden selbst auswählen und selektieren. Darüber hinaus ist das französische System sehr zentralistisch orientiert und zeichnet sich durch eine deutliche Spaltung der stark berufsorientierten Lehre von der in eigene Forschungszentren ausgelagerten Forschung aus (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 42, S. 44). In Spanien verfügen die Hochschulen über eine weitgehende Autonomie in Abstimmung mit regionalen Verwaltungen, d. h. es liegt ein hohes Maß an Dezentralität vor. Die Ausbildung öffentlicher Hochschulen ist eher weniger am Arbeitsmarkt orientiert (was zu der Gründung vieler privater Hochschulen geführt hat). Die Hochschulen selbst sind partizipativ geführt, als solche indes häufig ineffizient und stark von Einzelpersonen und deren Verhandlungsgeschick und -macht abhängig (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 47–49). Das finnische System ist stark durch humanistisches Gedankengut und den traditionellen Bildungsbegriff gekennzeichnet. Es zeichnet sich ebenfalls sehr durch die Integration von Forschung, Weiterbildung und Lehre aus (Vgl. Zawacki-Richter et al. 2009, S. 447). Gesteuert wird seitens des Staates insbesondere durch eine Outcome-Orientierung, welche indes hinsichtlich der Erzeugung des Outcome den Hochschulen weitgehende Autonomie eröffnet. Gleichzeitig weist das finnische System mit einer Studierendenquote von ca. 60 % europaweit die größte Durchlässigkeit auf (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 51). Das Bildungsverständnis der EU-Kommission von Hochschulen und Hochschulbildung wurde 2017 prägnant in der Erneuerungsagenda für Hochschulbildung zusammengefasst, in der „den Hochschulen“ das Leitbild eines am Bedarf des Arbeitsmarkts ausgerichteten Studienangebots, einer höheren Innovationskapazität und eines effizienteren Bildungsangebots in den Vordergrund gestellt wurde (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 33). Bildung wird hier ausgehend von ökonomischen Notwendigkeiten gedacht, vorrangig in der Absicht, den Arbeitsmarkt mit geeigneten Arbeitskräften, Forschern und Innovatoren zu versorgen (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 33). Angesichts politischen Populismus und gesellschaftlichen Werteverfalls rücken allerdings zunehmend auch wieder Aspekte wie die Wertebildung, die politische Bildung und die Stärkung eines gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins nachdrücklich in den Vordergrund (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 33). Zunehmend sieht die EU hierbei auch die Chancen der Digitalisierung für den Bildungssektor gegeben, z. B. in Form von Personalisierung, Engagement, Nutzung digitaler Medien, Zusammenarbeit, Bottom-up-Ansätzen und der Schaffung
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von Lerninhalten durch Lernende oder Lehrkräfte sowie in den frei zugänglichen Lehr- und Lernmaterialien (Open Educational Resources) (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 35). Dabei hebt die Kommission in ihrem jüngsten Aktionsplan für Digitale Bildung die Bedeutung einer Stärkung und lebenslangen Weiterentwicklung von Digitalkompetenzen hervor, welche eine digitale Medienkompetenz als Basis aufweisen und Lehr- und Lernangebote durch digitale Medien personalisieren und interaktiver gestalten. Umgesetzt werden soll der Aktionsplan von einer EU-weiten Arbeitsgruppe Digital Education: Learning, Teaching and Assessment (Vgl. Lübcke und Wannemacher 2019, S. 36). In den Vereinigten Staaten wiederum ist ein stark kompetitives Bildungssystem in Kraft, welches bereits im Kleinkindalter auf Wettbewerbe, Rankings und Preise zwischen den Schülern fokussiert. Im Bereich der Hochschulbildung wurde dies insbesondere von der Idee getrieben, den stark auf Fortschrittsmessung ausgelegten naturwissenschaftlichen Ansatz auch auf das Gebiet des Lernens zu übertragen. Hierbei ist der Anteil an privaten Bildungseinrichtungen sehr hoch. Der amerikanische Ansatz wurde ebenfalls häufig durch ökonomische Theorien gerechtfertigt, wie die Signaling Theory oder die Prinzipal-Agenten-Theorie. Khurana (2010) bezeichnet diesen Wandel am Beispiel der amerikanischen Managementausbildung in seinem Buch mit dem Titel From higher aims to hired hands. Kern der hier durch Digitalisierung auftretenden Herausforderung ist, wie sich der Wert eines komplexen Produkts wie Bildung überhaupt messen lässt, wenn nicht durch stark verdichtete Signale wie die Herkunft der Bildung von einer gewissen Institution. Er dürfte sich auch anhand des bislang ungelösten Problems der schnellen Beurteilungsnotwendigkeit der Qualität von Bildung ergeben, welche zu nur scheinbar funktionsfähigen Surrogaten geführt hat. Persönlichkeitsbildung im Sinne Humboldts, wie sie in Amerika noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet war, ist so auf wenige Institutionen wie z. B. Harvard zusammengeschrumpft, die ihrerseits indes ebenfalls unter dem des amerikanischen New Public Management stehen. Ökonomisch wurde die Anziehungskraft des amerikanischen Bildungssektors auf ausländische, insbesondere asiatische Studierende so stetig gesteigert. Bildung Made in USA ist ökonomisch betrachtet ein weltweit nachgefragtes Erfolgsprodukt. Gerade von Vertretern des traditionellen Bildungsgedankens wie Deresiewicz („Excellent Sheep – on the miseducation of the American Elite“ (Deresiewicz 2015)) wird das Modell allerdings deutlich kritisiert, weil es nicht dazu in die Lage versetze, Persönlichkeitsbildung zu betreiben, sondern dies durch einen Hürdenlauf von Multiple-Choice-Prüfungen und eine Ansammlung von Lebenslaufszertifikaten ersetze und die zu Bildenden statt auf eigene Schaffenskraft darauf trainiere, nach der nächsten zu bewältigenden Vorgabe
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innerhalb eines wenig flexiblen und verkrusteten Systems zu fragen. Es ist auch darauf zu verweisen, dass sich am amerikanischen Markt zunehmend bewusste Alternativen etablieren, welche versuchen, die Lücken im amerikanischen System zum eigenen marktwirtschaftlich vorteilhaften Angebot umzuwandeln, wie z. B. das für seine Ausbildung im Bereich Entrepreneurship und Innovation berühmte Bostoner Babson College. Wie die Zukunft hier aussieht, bleibt offen. So experimentieren Firmen wie Google oder Apple bereits mit eigenen Konzepten bis hin zu Bildungsfabriken, welche eine Industrialisierung der Bildung unter den Vorzeichen der Künstlichen Intelligenz intendieren (Vgl. auch der Beitrag von Lankau in diesem Band). Umgekehrt scheint sich das bislang zugrunde liegende Verständnis des Signaling ggf. zu überholen, wenn Arbeitnehmer in der Zukunft z. B. auf dem Wege eines Crowdworking oder über die der Makerbewegung inhärente Arbeitsteilung ggf. wesentlich zielgenauer und individualisiert auf Basis ihrer tatsächlichen Fähigkeiten für bestimmte Aufgaben entlohnt werden (Vgl. Anderson 2013), da dann verstärkt die Kompetenzen zählen, diese konkrete Aufgabe zu absolvieren (z. B. nachgewiesen durch Bewertungen im Crowd-Sourcing-System) und nicht mehr die akkumulierten Titel. Gleichzeitig führt dies jedoch – und einige Unternehmen führen dies in der Tat auch so durch, wie das Beispiel Netflix zeigt – im Extrem dazu, dass Skills eingestellt und wenn nicht mehr benötigt wieder entlassen werden, was ggf. einer Schutzfunktion des Arbeitsrechts widerspricht. Dies aber muss nicht so sein. So wäre ebenfalls denkbar, Crowdworker in einem Netzwerk bzw. über eine Plattform zu beschäftigen und dort Beschäftigungen eines Typus über mehrere Unternehmen konstant zu halten, d. h. in gewissem Sinne Beschäftigte (mit deren Einwilligung) zu sharen. In Australien wurde ebenfalls durch eine stark kommerzialisierte Higher Education mit Fokus auf den Export von Bildung insbesondere in den asiatischen Raum ein umfangreiches New Public Management an den privaten wie öffentlichen Hochschulen eingeführt. Dieses fokussierte auf Enterprise Universities (vgl. beispielsweise die University of South Australia), d. h. Hochschulen, welche Bildung im Sinne eines Unternehmens auszugestalten suchten. Auch hier ersetzte dies den früheren Begriff der Scholarship des umfassend gebildeten Gelehrten, welcher sein Wissen an seine Schüler weitergibt, durch ein umfangreiches Messsystem, welches Hochschullehrer nach stark vorgegebenen Kriterien kontrollierte und entlohnte und damit dafür sorgte, dass diese ihre Aktivitäten von umfassender Bildung auf die Bereitstellung seitens des Managements der Hochschulen für notwendig erachteter gewisser Qualitäten im Hochschulbetrieb umstellten (Vgl. Gray et al. 2002, S. 1–30). Ökonomisch gesehen ist gerade im asiatischen Raum das australische Bildungsangebot stark
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nachgefragt worden und gilt als Erfolgsgeschichte. Von akademischer Seite wurde es hingegen deutlich als den eigentlichen Bildungsgedanken verfehlend kritisiert (Vgl. Parker 2011, S. 447). Auch hier entstanden Weiterbildungsmodelle, welche in die Lücken zielgerichtet hineinstoßen. Zuletzt wollen wir uns noch kontrastrierend dem chinesischen Modell zuwenden. Folgt man Yang (2011), so zeichnete sich das traditionelle chinesische Modell höherer Bildung durch verschiedene Merkmale aus, welche in starkem Kontrast zu europäischen und angelsächsischen Modellen standen. In dieses Modell fiel zunächst einmal, dass traditionelle Bildungseinrichtungen in China insbesondere der Reproduktion der politischen Elite des Landes dienten, wobei die politische Elite direkten Zugriff auf die Bildungseinrichtungen hatte und diese unterhielt (ohne die Grundsätze der Freiheit von Forschung und Lehre). Dies bedeutete indes nicht, dass in diesen Einrichtungen die politische Elite schalten und walten konnte, wie sie wollte. Im Gegenteil galt über Jahrhunderte das Curriculum auf vor allem den Konfuzianismus festgelegt. Dieser war nicht auf eine Selbstverwirklichung des Individuums aus, sondern vielmehr darauf, durch Selbstkultivierung und Innenschau die Fähigkeit zu erlangen, sich harmonisch in seinen Kontext einzugliedern und Ordnungen anzustreben, welche Harmonie der miteinander lebenden Personen ermöglichten. Die Universitätskultur basierte auf Vorlesungen und Eigenstudium. Auch dieses Modell weist durch seine Beschränkung des überbordenden Individualismus, die Forderung zu einer Einordnung in das Ganze und die hohe Sensitivität für den jeweiligen Kontext eine wichtige Facette für die in der Digitalisierung geforderte Zusammenarbeit und das holistische Denken über das eigene Silo hinaus auf. Denn in einer vernetzten Zukunft ist zu erwarten, dass gerade dem Zuhören und der Sensibilität für den jeweiligen Kontext besondere Bedeutung zukommt.
2.5.3 Zusammenfassung Fassen wir zusammen, was sich aus dem Vergleich der Hochschulsysteme für die Bewältigung der Herausforderungen der Digitalisierung lernen lässt. So erweist sich, dass unterschiedliche Hochschulsysteme unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung bislang entscheidend adressieren können. So kann sich das angelsächsische System besonders gut vermarkten. Zusätzlich ist das finnische System besonders gut geeignet, eine hohe Durchlässigkeit zu erzeugen, eine Integration von Forschung, Lehre und Weiterbildung und ein hohes Outcome bei gleichzeitiger Gewährung von Autonomie. Dass sich dieses System insbesondere am traditionellen (westlichen) Bildungsbegriff orientiert, ist hierbei eine
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interessante Randnote. Umgekehrt erweisen sich andere Aspekte der Systeme als für die Digitalisierung hinderlich. Starker Zentralismus zum Beispiel scheint wenig geeignet. Auf die notwendige Flexibilität digitaler Strukturen scheint er nicht reagieren zu können. Partizipation und Gewährung von Autonomie ohne Outcome-Orientierung scheinen eher zu Ineffizienz sowie zur Fehlallokation von Ressourcen an den Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes vorbei zu führen. Zuletzt scheint sich die Entlohnung von Bildung, auf Basis übermäßiger Vermessung nur mit problembehafteten Nebenwirkungen zu entfalten. Aufgrund der Reduktion des Fokus auf das Gemessene, jedoch zulasten des nicht durch Messung erfasste, erfolgt eine deutliche Wirkung im Sinne einer Zerstörung ganzheitlicher Persönlichkeitsbildung. Weiter zeichnet sich eine Verminderung von Fähigkeiten zu kreativer Schaffenskraft und holistischem Denken ab. Hier scheinen insbesondere der chinesischen Denktradition entstammende Muster der Kontextsensitivität und der Inachtnahme des Kollektivs von besonderer Bedeutung.
2.5.4 Digitale Bildung Was bedeutet dies nun alles für Digitale Bildung? Erinnern wir uns noch einmal an die drei Kernherausforderungen, welche sich für die Wirtschaft im Lichte der Digitalisierung ergeben und die daraus erwachsenden Kompetenzanforderungen. Diese sollten zumindest auch das Outcome von akademischer Bildung sein. Besagte sind erstens die Unabdingbarkeit von Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und kreativer Schaffenskraft. Dies sind zweitens die Notwendigkeit von Arbeitskräften, die sozial hochkompetent und kompatibel mit einem sehr diversen Umfeld in einer vernetzten Welt umgehen und darin gegenseitige Win–win-Situationen zum gemeinsamen Nutzen identifizieren und realisieren können. Zuletzt besteht das Erfordernis, dass Arbeitskräfte der Zukunft in der Lage sind, zielsicher ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen zu können. In denen können sie auch bei Einsatz Künstlicher Intelligenz noch einen deutlichen Unterschied machen, weil sie sich auf die Entwicklung und Weiterentwicklung dieser Fertigkeiten fokussieren. Dies beinhaltet auch, sich früher und integrativer damit zu befassen, wie die erworbene Bildung mit ihrem Einsatzort im Unternehmen symbiotisiert werden kann. Dadurch soll sichergestellt werden, dass diese nicht ungenutzt versackt, sondern vielmehr sofort Wirkung entfaltet. Damit ist das aus Sicht der Wirtschaft in Zukunft notwendige Outcome beschrieben. Digitale Bildung wiederum soll dazu dienen, dieses Outcome zu erzeugen.
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Zur Bewältigung dieser noch einmal wesentlich erhöhten Anforderungen steht ihr ein Potenzial zur Verfügung, welches sich mit Fürst (2020a) wie folgt definieren lässt:
Definition Digitale Bildung umfasst die von der Digitalisierung betroffenen und geänderten Bereiche der. • Lerninhalte, • Lerntechnologie, • Lernpädagogik, • sowie die dadurch erzielten Lernresultate beim Lernenden. Letztere sind mittels digitaler Kompetenzen das Bildungsergebnis, welches zugleich einen Bildungszustand Digitaler Bildung von Personen beschreibt. Wie eine solche Bildung erzeugt werden kann, darauf wird im Weiteren des Buches (Fürst 2020b) noch eingegangen werden. Hier sei nur kurz angedeutet, was sich an dieser Stelle zumindest als notwendig erweist. Notwendig erscheint eine Verknüpfung der Wiederbelebung des traditionellen Bildungsverständnisses kombiniert mit den Herausforderungen, die eine digitale Wirtschaft an Absolvierende von morgen stellt und der Fähigkeit von Absolvierenden, sich passgenau dort auf die Herausforderungen auszurichten, wo dies den eigenen Fähigkeiten entspricht. Outcome muss hierbei das tatsächliche Wissen und Können der Absolvierenden sein, nicht allein der Abschluss oder die Institution, an der dieser absolviert wurde. Die Möglichkeiten der Digitalisierung, gerade in der Verknüpfung von Lerntechnologie, Lerninhalten und Lernpädagogik im Sinne des durch Bologna bereits initiierten Shifts from teaching to learning, z. B. auf dem Wege personalisierten Lernens, bei welchem das Warum, Was, Wie, Wer des Lernens auf den Lernenden hin angepasst wird, sind hierbei ebenso bedeutsam, wie die Möglichkeiten, das Lernen bzw. die Lerninhalte am Ort des Betriebs und verknüpft mit betrieblichen Sachverhalten durchzuführen. Digitale Bildung wird hier, über einen geschickten Einsatz von Lerntechnologien und Learning Analytics auch ermöglichen, von beliebigen Erfahrungen und Hintergründen des Lernenden zu einem gemeinsam mit ihm ermittelten bestimmten Kompetenzstand hin zu bilden. Als vertiefende Lektüre zur Digitalen Bildung und digitaler Kompetenzen mit einem Ausblick in die Zukunft sei auf den Beitrag „Zukunftsagenda und 10 Thesen zur Digitalen Bildung in Deutschland“ (Fürst 2020a) in Kap. 13 verwiesen.
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2.6 Conclusio Fassen wir noch einmal zusammen. In diesem Beitrag wurde ausgehend von dem aktuellen Stand internationaler Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland gemessen an der Exportweltmeisterschaft zunächst ermittelt, welche Faktoren in besonderer Weise für diese (vergangenen) Erfolge verantwortlich zeichneten. Dann wurde der Status quo der Digitalisierung in Deutschland angedeutet. Analysiert wurde nachfolgend, inwieweit sich die alten Erfolgsfaktoren ggf. modifizieren müssen, um auch in Zukunft einen wettbewerbsfähigen Standort Deutschland zu sichern. Herausgearbeitet wurde hierbei als wesentliches Ergebnis, dass insbesondere Komponenten wie Vernetzung und Kooperation, welche in der Digitalisierung Schlüsselbegriffe darstellen, dazu führen, dass ein Silodenken im Sinne einer alleinigen Optimierung eigener Vorteile oder Überschüsse zunehmend nicht mehr ausreicht. Vielmehr wird es notwendig, dass die in einem Netzwerk agierenden Personen holistisch über den aneinander gebundenen Erfolg des ganzen Netzwerks nachdenken. Darum gilt es für den einzelnen Mitarbeiter wie das einzelne Unternehmen bzw. die jeweilige Branche, gleichzeitig sich der eigenen Stärken bewusst zu sein und sich auf diese zu fokussieren, aber auch ihre Einbettung in den Gesamtkontext immer im Blick zu haben. Als Schlüsselfaktor dazu wurde Digitale Bildung identifiziert. Ausgehend von dem traditionellen Bildungsbegriff wurden zentrale Eigenschaften von Bildungssystemen verschiedener Länder analysiert und mit den Herausforderungen abgeglichen, welche die Digitalisierung an Mitarbeiter in Zukunft stellen wird. Aufgezeigt wurde, dass der traditionelle Bildungsbegriff, umgesetzt mithilfe von Komponenten einer Vielzahl internationaler Bildungssysteme, für die Herausbildung zentraler Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen der Digitalisierung besonders geeignet erscheint, weil eine solche Form der Bildung den Umgang und die gemeinsame Ergebniserzielung mit vielfältigen Menschen und Verhaltensweisen in den Vordergrund stellt. Das erscheint zukunftsträchtig, denn es gilt: Nicht Arbeitsplätze werden wegfallen, sondern Tätigkeiten und Kompetenzbereiche. Demgegenüber kommen neue Kompetenzbereiche hinzu, welche gerade auf die geschilderten Kompetenzen im Sinne der Digitalen Bildung angewiesen sind. Lenken wir auf den Prolog eingangs zurück. Der Geschichte des Made in Germany können wir entnehmen, dass bereits 1888 der Stellenwert der Bildung als Grundlage des Erfolgs des Wirtschaftens bekannt war. Als Reuleaux dies zum damaligen Zeitpunkt betonte, war der Erfolg seiner Hinweise bei Weitem nicht gesichert. Die Situation heute ist ähnlich: Digitale Bildung ist bislang nur
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ein Versprechen an Lehrende und Wirtschaft, mithilfe der neuen Lerntechnologien zwischen beiden Polen vermitteln zu können, d. h. dafür zu sorgen, dass Menschen mit ihren ureigensten Fähigkeiten freiwillig auf dem Wege der Bildung an den Ort gelangen, an dem sie diese Fähigkeiten zielsicher, selbstorganisiert und bewusst sowie mit maximalem Mehrwert für das Unternehmen einbringen können. Digitale Bildung ist ebenso ein Versprechen, Sozialkompetenzen auf eine Weise zu fördern, welche erlaubt, in diversen heterogenen und schnell wechselnden Beziehungskonstellationen erfolgreich arbeiten zu können. Es lohnt sich, solche Gedanken in den kommenden Diskussionen zur Gestaltung der Digitalen Bildung einzubeziehen. So wird ein Land, welches mit voller Kraft auf Digitale Bildung setzt und diese flächendeckend anwendet, gute Chancen haben, auch weiterhin im internationalen Vergleich ganz vorne mit dabei zu sein, indem es seinen Partnern im Sinne des in einer vernetzten Welt unerlässlichen Holismus als verlässlicher Partner und helfende Hand dient. Grundsätzlich zeigen wir damit auf, dass ökonomische Erfordernisse und Bildung für breite Schichten weder im Widerspruch zum liberalen Bildungsgedanken noch im Widerspruch zu einer erfolgreichen Wirtschaft stehen. Vielmehr erweist es sich als Kern der Überlegungen, die Vorzüge der Vereinigung verschiedener Bildungsmodelle, von ökonomischer Effizienz und der Realisierung vielfältiger Kompetenzen einzelner Menschen auf dem Weg zu Digitaler Bildung zur Geltung zu bringen. Dies ist nicht nur für die Bewahrung und Ausweitung vergangener Erfolgsfaktoren ideal geeignet, sondern leistet auch einen Beitrag zur Freiheit und Freiwilligkeit jedes einzelnen, digital zu bildenden Menschen, aus Selbsterkenntnis und Welterkenntnis zu handeln. Dieser Beitrag ist einigen Limitationen unterworfen. Diese beziehen sich einerseits auf die Detailtiefe und den Umfang der getätigten Analysen. So ist zu konstatieren, dass in dem Beitrag zahlreiche Literaturströme exemplarisch miteinander auf interdisziplinärem Wege konfrontiert werden. Während dies neue Erkenntnisse schafft, ist doch anzumerken, dass gemessen an den möglichen Einsichten wie sie z. B. in Dissertationen zum Thema erzielbar wären, die hier dargestellten Erkenntnisse nur als erste Anregungen verstanden werden können. Limitationen beziehen sich andererseits auf den Charakter der erzielten Einsichten, die noch im theoretischen Raum bleiben. So bleibt aktuell noch offen, ob sich der hier angeregte Weg der Vereinigung vorziehenswürdiger Komponenten von Bildungssystemen mit einem Fokus auf der Lösung der Herausforderungen der Wirtschaft in einer digitalisierten Welt überhaupt breitflächig realisieren lässt und realisierbar wäre oder ob er in den Bereichsegoismen bzw. Institutionsegoismen untergeht. So stehen rechtlich viable Modelle für Kooperationen vielfach noch aus.
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Gut, dass dem so ist! So bleiben Wissenschaft wie wirtschaftlicher Praxis bedeutsame zukünftige Aufgaben zu lösen, an denen sie sich bilden, d. h. über sich hinauswachsen können.
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Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst ist Geschäftsführer und Kanzler der AKAD University, die als älteste private Fernhochschule Deutschlands auf das digitale Fernstudium neben dem Beruf spezialisiert ist. Als Vize-Präsident für Digitale Bildung des Bundesverbands der Fernstudienanbieter und im Verband der privaten Hochschulen (VPH) vertritt er die deutschen Fernhochschulen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Er forschte an der Anderson School of Management (UCLA) in Los Angeles. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt auf der Digitalen Bildung, Digital Leadership und der digitalen Transformation. Seiner Einladung als Herausgeber des Handelsblatt-Management-Forums folgten Professoren-Kollegen führender Business Schools (2/3 zählten zu den Global Top 30) in Amerika (z.B. Harvard, Yale), Asien (z. B. CEIBS, ISB) und Europa (z. B. INSEAD,
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St. Gallen). Seine Bücher werden von internationalen Kapazitäten und Medien wie bspw. dem Dean der MIT Sloan School of Management, dem Harvard Business Manager oder Industrievorständen bspw. von Lufthansa und Hugo Boss rezensiert. Prof. Dr. Markus Grottke, Jahrgang 1978. 2000–2005 Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Abschluss als Diplom-Kaufmann und 2002–2007 Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft mit Abschluss als Magister, beides an der Universität Passau mit jeweils Bestnote. 2012 interdisziplinäre Promotion zum Dr. rer. pol. Zum Thema der Lageberichtsanalyse an der Schnittstelle zwischen Rechnungswesen, Strukturalismus und Kriminalistik. 2011 bis 2013 Start-up vI verbal Intelligence Gmbh zur Umsetzung der in der Dissertation entwickelten Analysemethodik in Software. Habilitationsphase an der Universität Passau von 2012 bis 2018 an den Lehrstühlen für Taxation und Controlling mit Schwerpunkten in Komplexität und Digitalisierung. Von 2016 bis August 2018 tätig an der SRH Hochschule Heidelberg (Campus Calw) als Professor für ABWL mit Schwerpunkt Controlling & Digitalisierung. Seit September 2018 Prorektor zunächst für „Forschung und Innovation“ und seit März 2020 „Innovation und duales Studium“ und Professor für ABWL mit dem Schwerpunkt Digital Business an der AKAD University. Alessandro Sibilio ist OEM Liaison Manager bei PETRONAS Lubricants International und fungiert als globale Schnittstelle für die technische Kundenbeziehung zur Daimler AG und BMW AG. Daneben ist er als Gastdozent an der DHBW Baden-Württemberg und der ESB Business School der Hochschule Reutlingen tätig und ist Mitglied des Promotionskollegs der Leadership-Kultur-Stiftung. Sein Diplom in Betriebswirtschaftslehre an der School of Business Administration & Management der AKAD University beendete er mit der Auszeichnung Award of Excellence. PD Dr. Alexander V. Steckelberg promovierte nach einem interdisziplinären Studium im In- und Ausland (u. a. Harvard University, University of Chicago, University of Oxford, Stanford University etc.) in Betriebspädagogik und Psychologie und habilitierte am Karlsruher Institut für Technologie – KIT in Betriebs- und Berufspädagogik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kreativität und Innovation, individuelles und betriebliches Lernen, Leadership und Unternehmenskultur sowie wissenschaftliche Methoden und ihre Didaktik. Außerdem verfügt er um langjährige Erfahrungen in der beruflichen Praxis. Seit 2017 ist er Privatdozent (PD) am Karlsruher Institut für Technologie – KIT, in der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften. Weiterhin ist er Vorstand und Wissenschaftlicher Leiter der Leadership-Kultur-Stiftung (LKS) und leitet u. a. das Promotionskolleg der LKS.
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Innovative Geschäftsmodelle und Künstliche Intelligenz: Maledictio et Benedictio? Robert Rossberger und Daniel Markgraf Inhaltsverzeichnis 3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2 Innovation, digitale Transformation und Künstliche Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2.1 Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2.2 Digitale Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.4 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.3 Status quo, Auswirkungen und Implikationen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Zusammenfassung
„KI wird wahrscheinlich das Ende der Welt einleiten, aber bis dahin wird es ein paar tolle Unternehmen geben“ – so ein Bourmot der Branche. Dieser Beitrag fokussiert nicht „ein paar tolle Unternehmen“ im Sinne von Google, Facebook & Co., sondern die Frage: Welche konkreten Chancen und Gefahren ergeben sich durch die Nutzung von KI gerade für Startups und kleine Unter-
R. Rossberger (*) · D. Markgraf AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Markgraf E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_3
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R. Rossberger und D. Markgraf
nehmen? Dazu betrachten wir die essenziellen Attribute von Innovation, digitaler Transformation und Künstlicher Intelligenz aus aktuellen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven.
3.1 Einleitung Das diesjährige AKAD Forum unter dem Motto Digitale Bildung mit und gegen Künstliche Intelligenz – survival of the fittest behandelt ein hochaktuelles Thema und sensibilisiert auf eine wichtige Fragestellung, sowohl für die wirtschaftliche Praxis als auch für die wissenschaftliche Forschung. Dies bringt ein wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeintes Zitat auf den Punkt: „KI wird wahrscheinlich das Ende der Welt einleiten, aber bis dahin wird es ein paar tolle Unternehmen geben.“1 Wir werden in diesem Beitrag nicht auf „ein paar tolle Unternehmen“ im Sinne von Google, Facebook & Co fokussieren, sondern uns den Fragen widmen: Welche Auswirkungen wird KI, kann KI auf unsere Gesellschaft und unser Leben haben? Und welche konkreten Chancen und Gefahren ergeben sich daraus gerade für Start-ups und kleine Unternehmen? Welches Potenzial ergibt sich daraus für innovative Geschäftsmodelle? Lassen sich bereits Best Practices und Lessons Learned ableiten? Zur Beantwortung dieser Fragen betrachten wir kontextspezifisch die essenziellen Attribute von Innovation, digitaler Transformation und Künstlicher Intelligenz aus verschiedenen aktuellen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven.
3.2 Innovation, digitale Transformation und Künstliche Intelligenz Als Erstes beleuchten wir die zentralen Begriffe Innovation, digitale Transformation und Künstliche Intelligenz aus verschiedenen Perspektiven und gehen kurz auf die jeweiligen Hintergründe ein, die geschichtliche Entwicklung, reißen kurz die theoretische Basis an, um schlussendlich das Zusammenspiel ebendieser besser verstehen zu können.
1Dieses
Zitat wird mehreren Personen zugeschrieben unter ihnen Tim Cook, CEO von Apple, sowie Sam Altman, President von Y Combinator und Co-Chairman von OpenAI.
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3.2.1 Innovation Der Begriff der Innovation stammt etymologisch von den lateinischen Wörtern novus, also neu, und innovare, also erneuern, ab. Innovation bedeutet also Erneuerung oder Veränderung. Innovationen werden meist durch technischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel herbeigeführt. Die wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung des Innovationsbegriffs geht auf Schumpeters Idee der schöpferischen bzw. kreativen Zerstörung zurück, auf die er ökonomische Entwicklungen im Kern zurückführt. Prinzipiell unterliegen die Wirtschaft und die in ihr operierenden Unternehmen einem ständigen Prozess der Innovation, Evolution und Mutation. Neue Technologien wirken dabei als Treiber dieser Veränderung auf Unternehmen und deren Geschäftsmodelle. Dies liegt unter anderem daran, dass neue Technologien neue Anwendungsmöglichkeiten schaffen, die wiederum als Grundlage für die Entwicklung neuer digitaler Technologien dienen können (Vgl. Hoffmeister 2015). Betriebswirtschaftlich gesehen kann man Innovationen als die Durchsetzung neuer technischer, wirtschaftlicher, organisatorischer und sozialer Problemlösungen im Unternehmen verstehen (Schumpeter 2013). Wichtig ist hierbei zu verstehen, dass es sich bei der digitalen Transformation im Kern eben um eine Innovation handelt. Und deshalb sollten trotz, oder gerade wegen, der Neuartigkeit des Feldes, grundlegende Erkenntnisse aus etablierten Wissenschaftsbereichen nicht außer Acht gelassen werden.
3.2.2 Digitale Transformation Die digitale Transformation kann also im Kern als große, umfassende Innovation verstanden werden. Wie bereits erwähnt, gehen Innovationen meist mit Veränderungen einher. Eine Innovation dieses Ausmaßes und der damit einhergehende Wandel können zu einer Selektion im darwinschen Sinne führen, weshalb von verschiedenen Autoren behauptet wird, dass auch für die digitale Transformation gilt: Es sind weder die Stärksten einer Art, die überleben, noch die Intelligentesten. Es sind vielmehr diejenigen, die sich an einem Wandel am besten anpassen können.
Aus Unternehmenssicht kann unter digitaler Transformation im grundlegenden Sinne ebenfalls der Wandel hin zu elektronisch gestützten Prozessen, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen mittels Informations- und Kommunikations-
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R. Rossberger und D. Markgraf
technik verstanden werden. Es geht also um die Verwendung neuer digitaler Technologien wie z. B. Social Media, Mobile Analytics, Cloud Computing, Big Data, Blockchain oder Internet of Things, um Geschäftsverbesserungen zu ermöglichen, wie z. B. Kundenerfahrungen (Customer Experience) zu verbessern, den Betrieb des Unternehmens effizienter zu gestalten oder neue und erweiterte Geschäftsmodelle zu etablieren (Oswald et al. 2018). Dadurch kann die Digitalisierung substanziell die Art und Weise, wie Unternehmen im Wettbewerb erfolgreich sind, verändern. Ein wesentlicher Aspekt der digitalen Transformation ist, dass sie über wirtschaftliche Faktoren deutlich hinausgeht. Letztendlich geht es um „die Übertragung des Menschen und seiner Lebens- und Arbeitswelten auf eine digitale Ebene“ (Breyer-Mayländer 2017, S. 1). Führende Ökonomen vertreten die Meinung, dass die von der Digitalisierung getriebene technische Entwicklungen eine größere Wirkung haben als etwa die Erfindung der Dampfmaschine, der Elektrizität oder des Automobils (Vgl. Wallmüller 2017). Dies erklärt auch, warum die Digitalisierung in den meisten Branchen und Industrien zum strategischen Wettbewerbsfaktor geworden ist (Vgl. Gassmann et al. 2016). Die Digitalisierung der Wirtschaft betrifft so gut wie alle Branchen (Gehrckens et al. 2016). Der Unterschied ist lediglich, dass einige Branchen früher oder direkter von der Digitalisierung betroffen sind (z. B. Telekommunikation, Banken, Reisen, Logistik) und andere vielleicht etwas später oder indirekter (z. B. Lebensmittelhandel oder Handwerk). Generell zeigt sich allerdings bereits eine nahezu allumfassende Auswirkung der digitalen Transformation. Die digitale Transformation wird häufig auch als die vierte industrielle Revolution, oft auch als Industrie 4.0, betitelt. Die vorhergehenden drei industriellen Revolutionen können wie folgt kurz zusammengefasst werden: • Unter der ersten industriellen Revolution versteht man im Kern die Mechanisierung, die Einführung von mechanischen Geräten, angetrieben von Wasser und Dampf. • Die zweite industrielle Revolution beruht auf Massenproduktion, Arbeitsteilung und Energienutzung. • Die dritte industrielle Revolution beruht auf der Verwendung von Elektronik und IT, um die Produktion weiter zu automatisieren (Vgl. Kreutzer et al. 2016). Bei der vierten industriellen Revolution geht es oft um Themen wie Vernetzung, Informationstransparenz, technische Assistenz, dezentrale Entscheidungen und cyberphysische Systeme. Man kann davon ausgehen, dass die Auswirkungen
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dessen, was gerade und in Zukunft im Rahmen der digitalen Transformation geschieht, den drei vorherigen industriellen Revolutionen nicht nachstehen wird. Dies wird häufig auf die Kombination von zwei Faktoren zurückgeführt: Digitalisierung und Kombinatorik (Vgl. Brynjolfsson et al. 2014). Die Kombination dieser beiden Faktoren führt zu exponentiellem Wachstum. Die Auswirkung exponentiellen Wachstums im Rahmen der Digitalisierung lässt sich eindrucksvoll anhand des Mooreschen Gesetzes verdeutlichen (Vgl. Neufeind et al. 2018). Die von Moore bereits 1965 prognostizierte Verdopplung der Rechenleistung alle zwei Jahre hat sich bisher bewahrheitet. Sollte diese Entwicklung so weitergehen, stehen die wirklichen Technologie- und Leistungssprünge erst noch bevor und beginnen in naher Zukunft (Kreutzer et al. 2016, S. 6). In Summe kann also festgehalten werden, dass wir wahrscheinlich gerade erst die ersten Wellen der digitalen Transformation zu spüren bekommen. Es geht gerade erst los. Den vielzitierten positiven Aspekten der digitalen Transformation, wie zum Beispiel die Steigerung der Effizienz, Produktivität und des Umsatzes, stehen natürlich auch negative Aspekte gegenüber, welche hier kurz abstrahiert werden sollen. Im Kern steigen die Anforderungen für so gut wie alle Stakeholder: • Die Herausforderungen und Anforderungen an Führungskräfte steigen, Führung wird anspruchsvoller und es kommt sowohl zu einer qualitativen als auch quantitativen Steigerung der benötigten Kompetenzen (Fürst 2019a, b). • Ebenso steigen die Anforderungen an die Mitarbeiter. Für diese gilt analog zu den Führungskräften eine Steigerung der Anforderungen und benötigten Kompetenzen. Von den Mitarbeitern wird mehr verlangt, sie müssen schneller Neues lernen (wollen) und sich an Neues gewöhnen. Kurz gesprochen sinkt der Bedarf an „Standard-Mitarbeitern“ und steigt der Bedarf an „besseren“ Mitarbeitern. Diese zeichnen sich aber meist durch geringere Verfügbarkeit sowie ein anderes Anspruchsniveau aus (Rossberger 2019). • Darüber hinaus steigen ebenso die Anforderungen an die Kunden. Kunden sind meist sehr viel mehr an der Leistungserstellung beteiligt als bisher. Verdeutlicht wird das, wenn man sich mit Themenbereichen wie Customer-CoCreation und der Plattform-Ökonomie beschäftigt. Zusammengefasst kann man die digitale Transformation als fortlaufenden, in digitalen Technologien begründeten Veränderungsprozess verstehen, dessen Geschwindigkeit durch die immer schnellere Entwicklung immer neuer digitaler Technologien kontinuierlich zunimmt. Aus den oben aufgeführten drei Aspekten lässt sich darüber hinaus ableiten, dass die Anforderungen an die meisten Firmen, Organisationen und Institutionen durch die digitale Transformation eher steigen.
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R. Rossberger und D. Markgraf
3.2.3 Intelligenz und Künstliche Intelligenz Die Künstliche Intelligenz wird häufig als die nächste Stufe der digitalen Transformation betrachtet. Um die Interaktion zwischen digitaler Transformation und Künstlicher Intelligenz zu verstehen lohnt es, das Konstrukt Intelligenz näher zu betrachten. Interessant und leider auch bezeichnend ist hierbei das fast alle Publikationen zur Künstlichen Intelligenz das Thema natürliche Intelligenz außen vor lassen.
3.2.3.1 Intelligenz Intelligenz ist ein vielschichtiges Konstrukt, was sich auch in den unterschiedlichen Fachbereichen widerspiegelt, die sich mit der Erforschung der Intelligenz beschäftigen. Es findet sich keine allgemein anerkannte Definition des hypothetischen Konstruktes Intelligenz. Man geht aber davon aus, dass es sich bei der Intelligenz um einen G-Faktor (Spearmann 1904), also um einen generellen Faktor, handelt. Darüber hinaus herrscht relative Einigkeit darüber, dass man sinnvoll zwischen fluider und kristalliner Intelligenz (Cattell 1963) unterscheiden kann. Unter fluider Intelligenz versteht man die Fähigkeit, logisch zu denken und Probleme zu lösen, sie beinhaltet induktives und deduktives Denken. Es wird angenommen, dass die fluide Intelligenz angeboren bzw. vererbt ist und nicht durch die Umwelt beeinflusst wird. Sie beinhaltet Faktoren wie die geistige Kapazität, die Auffassungsgabe und das generelle Verarbeitungsniveau. Dagegen versteht man unter kristalliner Intelligenz die Fähigkeiten, welche im Laufe des Lebens erlernt werden und damit von der Umwelt beeinflusst werden können. Die kristalline Intelligenz beinhaltet implizites sowie explizites Wissen sowie die Fähigkeit, dieses Wissen auch anzuwenden (Wirtz 2017). Darüber hinaus herrscht in den Fachkreisen relativ wenig Einigkeit über das hypothetische Konstrukt Intelligenz. Dies zeigt sich z. B. in der Anlage-UmweltDebatte (Maltby et al. 2011), im komplexen Zusammenhang von Intelligenz und Kreativität (Barron 1981), in der Fragestellung, welche unterschiedlichen Arten von Intelligenz es überhaupt gibt (Gardner 2002), sowie in der bis dato umstrittenen Fragestellung, ob Intelligenz ein Bewusstsein braucht oder ob Bewusstsein aus Intelligenz entsteht. Ganz davon abgesehen, dass über die Definitionen und Natur der hier kurz angesprochenen hypothetischen Konstrukte keine Einigkeit besteht. Dies mag auch der Grund sein, warum die meist derzeit zur Künstlichen Intelligenz publizierte Literatur sich diesem Basisthema nur in sehr geringem Maße widmet.
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3.2.3.2 Künstliche Intelligenz Wie wir sehen, ist das hypothetische Konstrukt Intelligenz nicht leicht zu greifen. Dies scheint auf den ersten Blick einfacher, richtet man den Blick auf die Künstliche Intelligenz. Im Kern ist Künstliche Intelligenz Software. Aus dieser Perspektive lässt sich Künstliche Intelligenz als Teilbereich der Informatik im Rahmen der Digitalisierung verstehen. Es geht also darum, intelligente Maschinen und Verfahren zu entwickeln, die ohne einen vorgegebenen Plan Diagnosen zu einem Problem stellen, selbst lernen, Lösungen finden und sich somit weiterentwickeln (Zühlke und Mühl 2017). Dies ist bereits ein hoher Anspruch, denn wer würde sich nicht einen Mitarbeiter wünschen, der diese Eigenschaften entweder mitbrächte oder aber sie entwickelte (und dann noch länger im Unternehmen verweilte, ohne sich mit diesen attraktiven und begehrten Kompetenzen auf die Suche nach einem neuen Arbeitgeber zu machen)? De facto hängt es von der Definition ab, ob es so etwas wie „echte“ Künstliche Intelligenz bereits gibt. Eine etablierte Unterscheidung besteht zwischen der sogenannten schwachen und der starken Künstlichen Intelligenz (Buxmann und Schmidt 2019). Im Kern beruht diese Differenzierung darauf, ob die KI in einem Bereich intelligent handelt und herausragende Fähigkeiten besitzt, z. B. beim Schachspiel (schwache KI) oder ob sie in der Lage ist, Wissen, Fähigkeiten sowie intelligentes Handeln von einem Bereich auf einen neuen Bereich zu übertragen (starke KI). Dies wirft dann wiederum die Frage auf, ob es sich bei einer so definierten schwachen KI überhaupt um Intelligenz handelt, da ja eben genau diese Transferleistung ein wichtiger Bestandteil wirklich intelligenten Verhaltens ist. Es handelt sich bei der Künstlichen Intelligenz um ein absolutes Querschnittsthema. Dies führt dazu, dass es sowohl aus wissenschaftlicher Sicht interdisziplinär zu verstehen und zu behandeln ist, als auch dazu, dass es so gut wie alle Technologien, Branchen und Stufen der Wertschöpfung durchdringt oder zumindest tangiert. Abb. 3.1 veranschaulicht dies überblickartig (Lackes und Sipermann 2019). Durch diese Eigenschaften ist davon auszugehen, dass sich die Welt durch Künstliche Intelligenz in signifikantem Maße verändern wird. Hierbei soll ein Punkt herausgegriffen werden: der sich verändernde Status menschlicher Arbeit. Die zunehmende Automatisierung menschlicher Aufgaben und Tätigkeiten war eine bisher langfristig positive Begleiterscheinung jeder industriellen Revolution. Natürlich, und der Natur von Innovation entsprechend, gab und gibt es immer auch dort Verlierer, wo es Gewinner gibt. Aktuell zeigt sich dies unter anderem sehr deutlich in der problematischen Situation des Einzelhandels und allen damit einhergehenden sozialen und
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Abb. 3.1 Künstliche Intelligenz. (Quelle: Lackes und Sipermann 2019)
strukturellen Problemen (Rossberger 2013), durch E-Commerce und vor allem Giganten wie Amazon. Die Vermutung, dass die zunehmende Nutzung Künstlicher Intelligenzen noch größeren Einfluss sowohl auf das soziale als auch auf das wirtschaftliche Leben haben wird, ist plausibel. So ist zu vermuten, dass es zu einer Verminderung der Nachfrage nach durch KI substituierbarer menschlicher Arbeit kommt. Dies können durchaus gute, aber „KI-geeignete“ Jobs sein, wie z. B. im Bereich Administration, Softwareanwendung und Standardaufgaben in der Informatik. Kurz gesagt: mittlere Bürojobs. Im Gegensatz dazu werden die Nachfrage nach und damit der Wert von nicht einfach durch KI substituierbaren Jobs steigen. Hierbei sprechen wir von Tätigkeiten, welche z. B. mit Kreativität oder Empathie in Verbindung stehen, wie z. B. Designer, Lehrer, Pflegepersonal. Dasselbe wird wahrscheinlich auch für Tätigkeiten gelten, welche ihrer Natur nach mit unstrukturierten Situationen zu tun haben, wie z. B. einige Handwerksberufe, aber auch Management und Unternehmertum (Precht 2018). Verschiedene Entwicklungen, welche diese These bestätigen, sind bereits heute zu beobachten.
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3.2.4 Zwischenfazit Die bisher angedachten Überlegungen in der Gesamtschau deuten darauf hin, dass die inhärente Ambivalenz von Innovationen, unter Berücksichtigung der disruptiven Natur der digitalen Transformation und der Natur und vor allem des Potenzials von Künstlicher Intelligenz, massive Veränderungen nach sich zieht. Künstliche Intelligenz wird Menschen und Unternehmen, eingebettet in die Möglichkeiten der Digitalisierung, nachhaltiger verändern als wir uns dies heute vorstellen können. KI könnte die Basis vieler zukünftiger Technologien sein und dadurch die nächste Stufe der Digitalisierung ermöglichen. Dies könnte sich auf die meisten bisherigen Strukturen (Veränderungen auf institutioneller Ebene), Wirtschaftsund Geschäftsmodelle (Veränderungen auf organisationaler Ebene) sowie Berufs- und Tätigkeitsbilder (Veränderungen auf individueller Ebene) radikal auswirken und mit einer deutlichen Veränderung der Nachfrage an bestimmten Kompetenzen einhergehen.
3.3 Status quo, Auswirkungen und Implikationen für die Praxis Die dargestellten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz verändern nicht nur einzelne Prozesse, sondern ganze Unternehmen und Geschäftsmodelle. Domke leitet ihre Zusammenfassung zur KI-Studie der Universität (Kaul et al. 2019) des Saarlandes mit dem folgenden Satz ein: „Ohne den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) werden Unternehmen demnächst nicht mehr wettbewerbsfähig sein.“ (Domke 2020) Dies macht in einem einzigen Satz klar, vor welcher Herausforderung Führungskräfte aktuell stehen. Sie müssen auf diese Entwicklungen einerseits reagieren und andererseits müssen sie die damit verbundenen Chancen proaktiv nutzen. Beides erfolgt in den meisten Unternehmen noch viel zu zögerlich und wenn, dann überwiegend mit dem Fokus darauf, die Kosten zu senken und die bestehenden Ressourcen effizienter einzusetzen (Chui und Hall 2020; Kaul et al. 2019; Wilson und Daugherty 2018). Viel wichtiger wäre allerdings, der Fokus von Managern würde nicht allein auf den Ersatz von Mitarbeitern durch Maschinen und Algorithmen gelegt werden, sondern auf die Kombination von menschlicher und Künstlicher
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Intelligenz, um das Beste aus beiden Welten zu kombinieren (Chui und Hall 2020; Gutstein und Sviolka 2019; Wilson und Daugherty 2018). Führungskräfte sollten für ihr Unternehmen Geschäftsprozesse in ihrer Gesamtheit hinterfragen, neue Geschäftsfelder identifizieren und neue Geschäftsmodelle entwickeln. Wenn Führungskräfte die Auswirkungen der KI nur punktuell beobachten und rein kostenoptimierend einsetzen, werden zukünftig nicht nur einige Mitarbeiter, sondern das gesamte Unternehmen obsolet sein. Entsprechend müssen sie die Kompetenzen und Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter gezielt einsetzen und weiterentwickeln. Es gilt sich bewusst zu machen, dass uns Maschinen und Algorithmen jetzt schon in vielen Bereichen überlegen sind. Sie können Daten wesentlich schneller bearbeiten, sind vielfach frei skalierbar und auch bei der Menge an verarbeitbaren Daten gibt es fast keine Grenzen mehr. Mittlerweile können Maschinen sehr gut analysieren, was passiert und vielfach auch, wie es passiert. In den meisten Fällen reicht es aus, das Was zu kennen bzw. Informationen und Zusammenhänge überhaupt erst einmal zu erkennen. Dennoch müssen im Anschluss noch Entscheidungen getroffen werden und in vielen Fällen ist auch das Warum und damit die Einordnung der Informationen und Interpretationen relevant. Genau hier braucht es nach wie vor den Menschen. Der Mensch muss die Führungsaufgaben übernehmen und finale Entscheidungen treffen. Der Mensch muss zu Beginn auch erst einmal die Grundlagen zum Erkennen des Was und die Interpretation des Wies legen. Sei es in Form von Daten, grundlegenden Zusammenhängen und Algorithmen oder Trainings. Auch kreative Prozesse und soziale Interaktionen können durch Algorithmen zwar unterstützt werden, bleiben aber sicher auf absehbare Zeit noch eine Kompetenz der menschlichen Mitarbeiter im Unternehmen. Entsprechend schätzen auch die Mitarbeiter und Führungskräfte die Bedeutung der Kompetenzen ein, die sie zukünftig benötigen werden. Dabei stehen nicht IT- und Programmierkenntnisse im Vordergrund, sondern Fähigkeiten zum adaptiven, transdisziplinären und lösungsorientierten Denken, Kollaborations- und Kommunikationsfähigkeiten sowie soziale Intelligenz. Insgesamt wird die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen sowohl von Mitarbeitern als auch von Führungskräften als wichtigste Fähigkeit gesehen, um die zukünftigen Herausforderungen zu meistern (Markgraf 2020). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich im Future-Skills-Framework von Stifterverband & McKinsey, die für die nächsten Jahre eine zweifache Herausforderung für Unternehmen und Mitarbeiter identifizieren. Dabei sehen sie einerseits eine zunehmende Herausforderung in der Breite der Fähigkeiten und andererseits die Notwendigkeit zur Erlangung sehr spezifischer Expertenfähigkeiten der Spitze (Kirchherr et al. 2018). So wird die durch die digitale Transformation
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ausgelöste Veränderung der Arbeitswelt zu einem veränderten Set an Schlüsselqualifikationen für alle Berufstätigen führen. In der Breite der arbeitstätigen Bevölkerung werden sowohl veränderte nichtdigitale Schlüsselqualifikationen an Bedeutung gewinnen als auch digitale Schlüsselfähigkeiten als grundlegende Anforderungen hinzukommen. Darüber hinaus werden Unternehmen eine bedeutende Anzahl von Spezialisten für den Umgang mit den neuen transformativen Technologien und Entwicklungen benötigen. Um mittelfristig erfolgreich zu bleiben, müssen Unternehmen die Entwicklung der Schlüsselqualifikationen ihrer Mitarbeiter sowohl in der Breite als auch gezielt in der fachspezifischen Spitze unterstützen. Nur wenn die notwendigen Schlüsselqualifikationen im Unternehmen vorhanden sind und weiterentwickelt werden, kann eine Zusammenarbeit zwischen menschlicher und Künstlicher Intelligenz so erfolgen, dass beide Seiten davon profitieren. Menschen unterstützen Maschinen dabei, ihre Leistung zu steigern und Maschinen ermöglichen es Menschen, ihre Stärken noch besser zu nutzen. Menschen helfen Maschinen, indem sie sie trainieren und als Experten ihre Ergebnisse und Lösungen erklären, gerade wenn diese nicht intuitiv verständlich sind. Als Experten überwachen sie auch den Einsatz der Künstlichen Intelligenz und treffen Entscheidungen in kritischen Situationen. Im Gegenzug können KI-Systeme unsere analytischen Fähigkeiten verbessern und die Kreativität und Entscheidungsfähigkeit beschleunigen sowie verbessern, indem sie die richtigen Informationen zur richtigen Zeit liefern. Dass sich die intensivere Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Kombination von Künstlicher Intelligenz und menschlichen Fähigkeiten in der Praxis lohnt, zeigt eine Vielzahl von praktischen Beispielen. Dabei lassen sich sowohl bestehende Geschäftsprozesse verbessern als auch vollkommen neue Geschäftsmodelle etablieren. Wilson & Dougherty zeigen anhand von Beispielen, wie sich fünf zentrale Elemente von Geschäftsprozessen verbessern lassen (Tab. 3.1) (Wilson und Dougherty 2018). Die Beispiele zeigen auch, dass gerade die Kombination aus den maschinellen Fähigkeiten zur strukturierten Datenverarbeitung, Datenanalyse und der darauf basierenden Entwicklung von Vorschlägen für entscheidungsrelevante Informationen mit neuen Schlüsselqualifikationen der Mitarbeiter und der menschlichen Fähigkeit, Vorschläge einzuordnen, zu bewerten und Entscheidungen zu treffen, zu signifikanten Vorteilen für beide Seiten führen kann. In dieser Kombination lassen sich die Vorteile der aktuellen industriellen Revolution ideal dazu nutzen um den Mitarbeiter von stupiden, sich fortlaufend wiederholenden geistigen Tätigkeiten zu befreien (Markgraf 2020), sodass er sich auf konzeptionelle und kreative Prozesse konzentrieren kann.
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Tab. 3.1 Performance steigern. Beispiele für die Verbesserung zentraler Elemente von Geschäftsprozessen Flexibilität Automobilproduktion Mercedes-Benz
Fertigungsroboter arbeiten zuverlässig und sicher Seite an Seite mit ihren menschlichen Kollegen. Autos können in Echtzeit an die Wünsche der Kunden angepasst werden
Produktdesign
Autodesk
Der Designer verändert Produktparameter wie Material, Kosten und Leistungsbeschreibung. Die Software schlägt neue Designkonzepte vor, die die Anforderungen erfüllen
Aufdeckung von Betrug
HSBC
KI verfolgt Kredit- und Debitkartentransaktionen. Rechtmäßige Vorgänge werden sofort genehmigt, fragwürdige hingegen von Menschen überprüft
Krebsbehandlung
Roche
KI sammelt Patientendaten aus unterschiedlichen IT-Systemen. Ziel ist die schnellere Zusammenarbeit von Spezialisten
Recruiting
Unilever
Die automatisierte Sichtung von Bewerbungen hat den Pool qualifizierter Kandidaten, aus dem die Personalabteilung die besten auswählen kann, enorm vergrößert
Kundenservice
Virgin Trains
Ein Bot übernimmt die Standardanfragen von Kunden. Dadurch hat sich das bearbeitete Volumen verdoppelt, und die Mitarbeiter haben mehr Zeit für komplexere Aufgaben
Geschwindigkeit
Skalierbarkeit
Entscheidungen treffen Wartung von Industrie- General Electric ausrüstung
Digitale Zwillinge und das KI-Diagnosesystem Predix versorgen die Mechaniker mit punktgenauen Empfehlungen zur Wartung von Maschinen
Finanzdienstleistungen Morgan Stanley
Robo-Berater empfehlen Kunden eine Reihe von Investmentoptionen, basierend auf Marktentwicklungen in Echtzeit (Fortsetzung)
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Tab. 3.1 (Fortsetzung) Personalisierung Gästeerlebnis
Carnival Corporation
Ein tragbares KI-Gerät erleichtert die Logistik und Aktivitäten auf dem Kreuzfahrtschiff, antizipiert die Wünsche der Reisenden und ermöglicht eine individuelle Betreuung
Modehandel
Stitch Fix
KI analysiert Kundendaten und macht den Stylisten Vorschläge, wie sie ihre Kunden in Sachen Kleidung und Styling individuell beraten können
Quelle: Wilson und Dougherty (2018)
In den aufgeführten Beispielen wird darüber hinaus deutlich, dass im Prozess meist nicht nur eines der fünf Elemente optimiert wird, sondern die Kombination von menschlicher und Künstlicher Intelligenz gleichzeitig mehrere dieser Elemente optimiert. Die intensive Optimierung dieser Elemente wird nicht nur punktuell Prozesse optimieren, sondern sich – richtig eingesetzt – auf die gesamte Wertschöpfungskette auswirken. Wenn bei dieser Optimierung dann nicht die bestehenden Wertschöpfungsketten im Mittelpunkt stehen, sondern geäußerte und nicht geäußerte Kundenbedürfnisse, lassen sich neue Geschäftsfelder identifizieren und neue Geschäftsmodelle etablieren. In diesen Geschäftsmodellen wird der eigentliche Werttreiber die KI sein (Iansiti und Lakhani 2020) und ihre Nutzung wird wie in vorangegangenen Transformationsprozessen die Grenzen zwischen einzelnen Branchen verschwimmen lassen und aufheben.
3.4 Fazit Dieser Beitrag nimmt die wichtigsten Punkte unseres Workshops auf dem AKAD Forum auf und fasst sie kurz zusammen. Ausgehend von der Diskussion der Ambivalenz der Innovation gehen wir auf die durchaus disruptiven Kräfte der digitalen Transformation ein. Dass Veränderungen, wenn sie einmal angestoßen wurden, nur schwer wieder aufzuhalten sind, führt dazu, dass wir uns sowohl als Unternehmen als auch als Menschen eher mit den Chancen und Herausforderungen beschäftigen sollten, die sich aus diesen Veränderungen ergeben. Hat sich die digitale Transformation in den ersten Schritten vor allem auf Hardware bezogen und damit die Entwicklungen der vorherigen industriellen Revolutionen fortgeschrieben, so verlagert sich der Fokus der Entwicklung und
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der deskriptiven Einflüsse in den letzten Jahren stärker auf die Software. BigData-Analysen, maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz fordern jetzt auch Berufsgruppen heraus sich zu wandeln, die überwiegend geistig arbeiten. Bereits in absehbarer Zeit werden sich gut strukturier- und dokumentierbare Prozesse geistiger Arbeit schneller und effizienter durch Maschinen und sich selbst optimierende Algorithmen bearbeiten lassen. Der Wandel ist allerdings absehbar und bis zur Etablierung einer starken KI, ist es noch ein weiter Weg. Bereits die aktuellen Entwicklungen bieten uns aber die Möglichkeit, gemeinsam mit der KI bestehende Geschäftsprozesse zu optimieren und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wenn wir unsere grundlegenden Schlüsselqualifikationen auf den digitalen Bereich erweitern und uns unserer Stärken im kreativen und konzeptionellen Bereich bewusst werden, ergeben sich aus der Kombination von menschlicher und Künstlicher Intelligenz vollkommen neue Möglichkeiten.
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Prof. Dr. Robert Rossberger ist Professor für Unternehmensführung und Internationales Management an der AKAD University. Neben umfassenden Tätigkeiten in Forschung und Lehre gründete der Goldschmied und Gemmologe eines der deutschlandweit ersten E-Commerce-Start-ups im Schmuck- und Edelsteinbereich, baute das Graduiertenkolleg der Technischen Hochschule Deggendorf auf, war Mitbegründer des Bavarian Journal of Applied Sciences und ist als Gutachter für weltweit führende wissenschaftliche Journals tätig. Zu seinen Referenzen gehören unter anderem Veröffentlichungen in Cross Cultural Research, Creativity and Innovation Management und dem International Journal of Selection and Assessment. Prof. Dr. Daniel Markgraf ist Prorektor für Forschung und Digitalisierung, Direktor des Instituts IDEA – Institute for Digital Expertise and Assessment – an der AKAD University und hat dort darüber hinaus die Professur für BWL mit den Schwerpunkten Marketing, Gründungs- und Innovationsmanagement inne. Neben allen Bereichen des Marketings und der Unternehmensgründung interessiert er sich vor allem für die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und deren Einfluss auf Innovationen, Geschäftsmodelle und Menschen. Er ist darüber hinaus als Berater, Redner und Autor tätig und sitzt dem Aufsichtsrat der foundervision AG vor.
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Wettbewerbsfähige digitale Arbeitswelt fordert neue Kompetenzen für Management und Belegschaft Wolfgang Bohlen und Daniel Markgraf Inhaltsverzeichnis 4.1 Definition von New Work . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.2 Themenbereiche von New Work. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.2.1 Netzwerk-Organisationen löst Stab-Linienorganisationen ab. . . . . . . . . . . 100 4.2.2 Aus Unternehmenskultur wird Wohlfühlkultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.2.3 Alltagsroutine endet – Kreativität und Agilität sind die neuen Momente. . 102 4.2.4 Flexible Arbeitszeiten und flexible Arbeitsorte lösen starres „9-to5“-Arbeiten ab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2.5 Authentisches Leadership löst Command-and-Control-Führung ab. . . . . . 104 4.2.6 Aus Work-Life-Balance wird Work-Life-Blending. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.3 Neue Kompetenzen in Zeiten von New Work – personelle Aspekte. . . . . . . . . . . . 106 4.4 Umsetzung von New Work im Alltag – erste Forschungserkenntnisse. . . . . . . . . . 107 4.5 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
W. Bohlen (*) · D. Markgraf AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Markgraf E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_4
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Zusammenfassung
Die Digitalisierung verändert die Welt, in der wir leben und arbeiten. Kreative Innovationen führen zu neuen und ggf. bisher nicht bekannten Geschäftsmodellen. Diese Entwicklung kann ganze Branchen verändern. Die digitale Revolution transformiert dabei zunehmend nicht nur einzelne Aspekte des Berufslebens, sondern immer stärker auch die tägliche Arbeit insgesamt. Die neuen Stichworte hierzu heißen New Work oder Arbeit 4.0 und sie machen vor allem eins deutlich: In der digitalen Welt verändern sich nicht nur die Arbeitsbedingungen, es werden auch neue Kompetenzen benötigt, um die umfassenden digitalen Herausforderungen erfolgreich zu meistern. In diesem Zusammenhang steht auch die gesamte Unternehmenskultur vor neuen Herausforderungen. Personaler müssen Arbeitsbedingungen neu ausrichten sowie neue Kompetenzen erkennen, entwickeln und letztendlich kontinuierlich weiterentwickeln. In diesem Kontext muss eine neue Unternehmenskultur aktiv gestaltet werden.
4.1 Definition von New Work Der Begriff New Work oder z. T. auch umschrieben als Arbeit 4.0 ist ein sehr moderner Begriff, der viele Facetten aufweist und unterschiedlichste Assoziationen hervorruft (Hofmann 2018). Hackl et al. fassen es wie folgt zusammen: „Fast alle Führungskräfte und Unternehmenslenker haben schon von New Work gehört. Die Neue Welt der Arbeit erklären oder gar definieren können allerdings nur wenige. Entsprechend unklar ist ihnen der Weg dorthin. New Work ist für Manager und Personaler noch nicht wirklich greifbar“ (Hackl et al. 2017). Auch in der Literatur finden sich entsprechend verschiedene Herangehensweisen an das Thema und eine eindeutige Definition ist aktuell noch nicht gegeben. Bei dem Begriff New Work stehen oftmals die Themen neue Arbeitswelt, zeitgemäßes Führungsverhalten und agile Unternehmensorganisation im Mittelpunkt (Schüller 2018). Viele Autoren definieren New Work daher oft über Kriterien oder Aspekte, die die neue Arbeitswelt umbeschreiben. Schulze-Siebert definiert New Work z. B. wie folgt: „New Work, also Neue Arbeit, ist eine Entwicklung, die durch die Digitalisierung in den letzten Jahren vorangetrieben wird. Der Begriff beinhaltet folgendes: • Neue Unternehmensstrukturen • Flexible Arbeitszeiten
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Ortsunabhängiges Arbeiten Verschiedene Arbeitskonzepte und Arbeitsmodelle Selbstständigkeit und Freiheit Neue Herausforderungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ (Schulze-Siebert 2018)
Je nach Autor ist die Liste der Kriterien schmaler oder umfangreicher. Dies kann letztendlich auch als Beleg dafür angesehen werden, dass eine einheitliche Definition noch nicht gegeben ist. In diesem Zusammenhang weisen einige Autoren darauf hin, dass der Begriff New Work schon einige Zeit besteht und durch den Philosoph Frithjof Bergmann bereits im Jahre 1984 definiert wurde (Schulze-Siebert 2018). Andere Autoren weisen ebenfalls auf den Philosophen Frithjof Bergmann hin, führen jedoch ein deutlich späteres Datum an (Vollmer und Poppenborg 2018). Dabei sind die zeitlichen Unterschiede zwar erheblich, bei der Bedeutung und der inhaltlichen Ausgestaltung von New Work sind sich die meisten Autoren demgegenüber jedoch einig. New Work sollte einen Sinn haben, sodass die Menschen wirklich gerne ihren Job machen. Ferner sollten die Mitarbeiter durch Arbeit die eigene Persönlichkeit entwickeln können. Dies wird u. a. als Basis für die drei wichtigsten Werte von New Work angesehen: Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an Gemeinschaft (Schulze-Siebert 2018). Diese Aspekte sind nicht gänzlich neu. Immer wieder gibt es bei paradigmatischen Änderungen im Kontext von Leadership diese oder ähnliche Forderungen. Dies soll im Umkehrschluss die Bedeutung nicht verwässern, sondern auch verdeutlichen, dass die Forderungen bzgl. New Work keine völlige Überraschung sind, sondern in unterschiedlichen Facetten bereits in der Diskussion sind. Sie erhalten jedoch jetzt im Rahmen der Transformation von einer Industrie- hin zu einer Wissensgesellschaft und der zunehmenden Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche eine neue und sehr viel stärkere Bedeutung. Entsprechend haben die Autoren in den Jahren 2018 und 2019 umfangreiche eigene Studien zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt durchgeführt (Markgraf 2018). Dabei zeigten sich die unterschiedlichsten Herausforderungen für Mitarbeiter, Führungskräfte und Unternehmen als Organisationseinheit (Markgraf 2018). In den Studien zeigten sich aber auch verschiedene Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem New Work Ansatz stehen. Nachfolgend sollen die verschiedenen aktuell relevanten Themenbereiche des New-Work-Ansatzes herausgearbeitet und mit den Ergebnissen abgeglichen werden.
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4.2 Themenbereiche von New Work Eine wichtige Frage lautet: Welche Aspekte der betrieblichen Arbeit werden sich in Zeiten von New Work wie ändern? Aktuell lassen sich mindestens sechs verschiedene Aspekte mit jeweils unterschiedlichen Auswirkungen identifizieren, die in Abb. 4.1 zusammengefasst sind. Geänderte Anforderungen an die Kompetenzen und das Lernverhalten sind übergreifende Auswirkungen, die sich aus den Aspekten ergeben. In den nachfolgenden Abschnitten sollen die wichtigsten Aspekte von New Work komprimiert dargestellt werden.
4.2.1 Netzwerk-Organisationen löst StabLinienorganisationen ab Hierarchisch aufgebaute Organisationen basieren mehr oder weniger auf dem Command-and-Control-Prinzip. Dieses Prinzip stößt im digitalen Zeitalter sowie speziell in der digitalen Transformation an Grenzen. In der digitalen Welt kommen ständig neue, meist unvorhersehbare Anforderungen auf Unternehmen zu. Die agile Netzwerk-Organisation ist deshalb das favorisierte Zukunftsmodell. Hier gibt die Führungskraft nur die grobe Richtung vor und schafft den
Aus Work-Life-Balance wird Work-Life-Blending
Authentisches Leadership löst Command- & ControlFührung ab
Netzwerkorganisationen lösen Stablinienorganisationen ab
Aspekte von New Work
Flexible Arbeitszeiten und Arbeitsorte lösen starres „9 to 5“ ab
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Aus Unternehmenskultur wird Wohlfühlkultur
Alltagsroutine endet– Kreativität und Agilität sind die neuen Momente
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Soziale und digitale Kompetenzen gewinnen zunehmend an Bedeutung und lebenslanges Lernen wird vom Schlagwort zur grundlegenden Anforderung
Abb. 4.1 Grundlegende Aspekte von New Work
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Rahmen für eine kollegiale Selbstorganisation. Statt auf Entscheidungen von der Führungskraft zu warten, berät man sich kollegial im Team und entscheidet dann selbst (Schüller 2018). Dies führt nachfolgend auch zu einer weiteren Auflösung der starren Unternehmensgrenzen. Die Kernbelegschaft mit Arbeitsvertrag im typischen Arbeitsverhältnis wird immer mehr abgelöst durch eine Zusammenarbeit ohne klassischen Arbeitsvertrag und feste Unternehmensbindung. Die wichtigsten Stichworte sind hier: Freelancer, Zeitarbeitsfirmen, Interimsmanager oder outgesourcte Bereiche mit Spezialisten, Zulieferern oder Businesspartnern. So geben mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen der 2019er-Studie an, dass sie durch die Digitalisierung Kunden bereits stärker in den Gestaltungs- und Entscheidungsprozess einbeziehen können (Abb. 4.2) (Markgraf 2019). Dadurch werden Unternehmen in Zukunft mehr und mehr zu „Drehkreuzen für Arbeit auf Zeit“. In diesem Zusammenhang werden Fernanwesenheit, Homeoffice, virtuelle Teams und flexible Arbeitszeitmodelle immer mehr den stationären Arbeitsplatz und das eigene Büro ablösen (Schüller 2018). Diese Aspekte führen strukturell zu stärker fluiden Unternehmensgrenzen mit Kooperationspartnern außerhalb der eigenen Unternehmensgrenzen. Hierfür wird dann oft der Begriff Netzwerkorganisation verwendet. Dieser Begriff ist sehr vielschichtig und wird nicht immer einheitlich verwendet (Moser 2017). Bei aller noch bestehenden definitorischen Unsicherheit umschreibt der Begriff jedoch relativ gut die neue Situation.
4.2.2 Aus Unternehmenskultur wird Wohlfühlkultur Ein weiteres zentrales Thema von New Work ist die Neugestaltung von Arbeitsumgebungen. „Neues Arbeiten“ spiegelt sich meist auch in neu gestalteten
Abb. 4.2 Auswirkungen der Digitalisierung auf die Kundeninteraktion. (Quelle: Markgraf 2020)
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äumlichkeiten wider. Desk-Sharing löst dabei festgelegte Büros ab. Parallel soll R aber auch die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit gefördert werden. Hierfür werden zunehmend neue Kommunikationsforen und -räume geschaffen sowie spezielle Rückzugsbereiche installiert (digital pioneers 2018). Es geht dabei um Räume, die die Kommunikation und Begegnung sowie die Verwirklichung einer Wohlfühlatmosphäre stärker ermöglichen sollen (Hofmann 2018). Der Grundgedanke hierbei ist, wer sich wohlfühlt, arbeitet gern. Wer Spaß bei seiner Arbeit hat, macht sie gut. Dauerdruck und anhaltende Missstimmung sabotieren Kreativität und Innovationsfreude. Beides wird immer wichtiger (Schüller 2018). Es geht also nicht nur um ein paar schöne Sessel, sondern um eine grundlegend andere Unternehmenskultur. Diese Veränderungen können nicht von heute auf morgen umgesetzt werden. Wichtig ist vielmehr, einen Einstieg zu schaffen und sich dadurch als Unternehmen interessant zu machen. Erste Schritte in diese Richtung können Obst und Getränke am Arbeitsplatz oder Fitness-Angebote für Mitarbeiter sein. Natürlich gibt es weitere Aspekte einer neuen Arbeitskultur. Teilweise werden Büros eingerichtet wie eine Wohngemeinschaft (SchulzeSiebert 2018). Dies funktioniert letztendlich nur dann auch erfolgreich, wenn die Personen – ob Führungskräfte oder Mitarbeiter – eine andere Einstellung zum Arbeiten haben bzw. entwickeln. An einem Führungsstil von „gestern“ festzuhalten wird in Zeiten von Co-Creation, Co-Working und Homeoffice nicht lange funktionieren. Das heißt: Neue Arbeitswelten brauchen auch neue Leader.
4.2.3 Alltagsroutine endet – Kreativität und Agilität sind die neuen Momente Ein weiteres zentrales Thema von New Work ist die Neuausrichtung der Arbeit selbst. Die Digitalisierung führt in Zukunft dazu, dass viele Routineaufgaben vom Computer übernommen werden (Ifo-Institut 2018). Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass schwierige, konzeptionelle, komplexe und kreative Arbeiten bald stärker den Alltag bestimmen werden. Die zukünftigen Aufgaben liegen daher wahrscheinlich sehr viel stärker im Bereich Kreieren, Designen, Innovieren, Koordinieren und Kollaborieren (Schüller 2018). Kreativität entsteht jedoch nicht im „luftleeren Raum“ oder kann gar angeordnet werden. Auch deshalb etablieren sich immer mehr neue Arbeitswelten, die Freiräume schaffen, hell und freundlich sind, Kommunikationsinseln aufweisen, Rückzugs- und Erholungsorte bieten und eben auch bunte Sitzecken beinhalten, die Zeit für Plausch-Pausen bieten (Schüller 2018). Diese Atmosphäre wird immer stärker als wichtige Grundlage für die Entstehung von Kreativität und Innovation angesehen. Hierbei ist wichtig
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zu betonen, dass Kreativität und Innovation bisher natürlich auch eine hohe Bedeutung haben bzw. hatten, jedoch mit der Digitalisierung ein neues und viel stärkeres Gewicht bekommen.
4.2.4 Flexible Arbeitszeiten und flexible Arbeitsorte lösen starres „9-to-5“-Arbeiten ab Ein weiteres zentrales Thema von New Work ist die weitgehende Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit. So ist in vielen Unternehmen neben dem Arbeitsort im Unternehmen auch die Arbeit im Homeoffice, beim Kunden oder in CoWorking-Spaces etabliert. Gerade das Homeoffice wird als Chance gesehen, dass sich das Arbeits- und Privatleben besser in Einklang bringen lassen (Hofmann 2018). Dies kommt – so der Urgedanke – Personen entgegen, die Familie und Beruf besser aufeinander abstimmen möchten. Andererseits verschwimmt dadurch natürlich auch die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben. Das typische Stichwort hierzu ist Always On bzw. ständige Erreichbarkeit, verbunden mit der Gefahr, nicht mehr so gut abschalten zu können, was wiederum die Gesundheit beeinträchtigen kann (digital pioneers 2018). Aus gewerkschaftlicher Sicht wird immer wieder die Gefahr betont, ggf. zu viel zu arbeiten und das auch noch unbezahlt (Schulze-Siebert 2018). Dabei zeigen auch die 2019er-Studien, dass es im Kern um zwei Aspekte geht: um die räumliche und um die zeitliche Flexibilität (Abb. 4.3). Die zeitliche Flexibilität kann dabei nicht mehr nur durch Teilzeitstellen realisiert werden, sondern zunehmend auch in der Kombination mit der örtlichen Flexibilität. Die notwendige Anwesenheit im Büro kann durch HomeofficeRegelungen oder durch ein Arbeiten in einem Co-Working-Space angepasst werden. Arbeitszeiten an einem Stück (unterbrochen durch die klassische Frühstücks- und Mittagspause) verlieren dadurch ebenfalls an Bedeutung und werden durch stärker temporäre Arbeitszeiten ersetzt. Die Ausgestaltung ist
Abb. 4.3 Die Digitalisierung ermöglicht es mir …
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je Unternehmen zum Teil sehr unterschiedlich, was auch zu unterschiedlichen Bewertungen führt. Wenn der Chef Homeoffice ermöglicht, aber gleichzeitig erwartet, dass die Mitarbeiter am Samstag, am Sonntag oder gar im Urlaub erreichbar sind, wird das im Kern gute Konzept von New Work einseitig ausgenutzt und verliert an Attraktivität. Andererseits verliert das Konzept auch an Attraktivität, wenn Mitarbeiter die Möglichkeit haben, temporär im Homeoffice oder Co-Working-Space zu arbeiten und dort nie erreichbar sind. Der Schlüssel zu Erfolg liegt in dem sinnvollen Austarieren und Abstimmen der Vorteile für beide Seiten, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Hier spielen gegenseitiges Vertrauen und das Führungsverständnis der Führungskraft eine erhebliche Rolle. Eine Führungskraft mit einem modernen Leadership-Verständnis wird es hier deutlich leichter haben die positiven Seiten von New Work zu gestalten als eine Person mit einem Command-and-Control-Prinzip. Führungskräfte mit einem traditionellen Führungsverständnis werden wahrscheinlich dem Ansatz von New Work sehr skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen.
4.2.5 Authentisches Leadership löst Command-andControl-Führung ab Das leitet über zu einem weiteren zentralen Thema von New Work: dem neuen Führungsverständnis. Ein wesentlicher Grund hierfür sind u. a. die gestiegenen Ansprüche der Mitarbeiter an Einbindung bzw. Partizipation. Daraus leitet sich oft auch ein neues Führungsparadigma ab (Hofmann 2018). Ein wichtiger Punkt ist hierbei die steigende Bedeutung der Sinnstiftung durch Arbeit. Auch hier sind letztendlich die Führungskräfte gefragt. Sie sollten diese Sinnstiftung durch entsprechende Aufgabenstellungen unterstützen (Hofmann 2018). Hierfür muss sich die Führungskraft mit den Aufgaben und den Mitarbeitern beschäftigen. Die Führungskraft muss gemeinschaftlich die Aufgaben so ausgestalten, dass die Mitarbeiter ihren Beitrag am sinnvollen „Großen und Ganzen“ erkennen. Das heißt: Es geht um mehr als nur darum, den Umsatz zu steigern. Umsatzsteigerung führt nicht automatisch zu Sinnstiftung. Darüber hinaus ist es wichtig, nicht jeden einzelnen Arbeitsschritt zu kontrollieren und jede Aufgabe vorzugeben. Führungskräfte müssen Vertrauen zeigen und daran glauben, dass Mitarbeiter eine gute Lösung für die entsprechenden Aufgaben selber finden (Schulze-Siebert 2018). Auch hier steht das Selbstverständnis der Führungskraft im Mittelpunkt. Eine Führungskraft mit einem Command-and-Control-Prinzip wird sich von
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direktiven Vorgaben nur schwer lösen können und es dadurch in Zeiten von New Work schwer haben. Dazu kommt, dass die zunehmend komplexer werdenden Aufgaben über agile Projektteams gesteuert werden. Hier werden Führungskräfte benötigt, die Arbeiten in Netzwerken kennen und sich als projektleitende Moderatoren sehen. Dies inkludiert immer auch Macht- und Kontrollverlust, zumindest im herkömmlichen Sinne. In einem Netzwerk muss die Führungskraft ein Team aus internen und externen Experten führen und alle für die Sache gewinnen. Hier kann sich eine Führungskraft nicht mehr auf hierarchische Überund Unterstellungen berufen. Überzeugungskraft und Authentizität stehen im Mittelpunkt. Dafür wiederum kommen i. d. R. nur Führungskräfte infrage, die Menschen verstehen, sich nicht hinter Floskeln verstecken und sich in ihre Mitarbeiter hineinversetzen können (Schüller 2018).
4.2.6 Aus Work-Life-Balance wird Work-Life-Blending Ein weiteres zentrales Thema von New Work ist ein neues Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben. Der Grundgedanke von Work-Life-Balance ist die klare Trennung zwischen Arbeit und Privatleben. Arbeit und Freizeit sollen dabei symbolisch im Gleichgewicht sein (Böttcher und Riedel 2019). In Zeiten von New Work vermischen sich diese Bereiche jedoch immer mehr. Dann spricht man von Work-Life-Blending (englisch to blend = vermischen). Die Übergänge zwischen Arbeit und Freizeit vermischen sich (Böttcher und Riedel 2019). Mitarbeiter und Führungskräfte genießen die zeitliche und örtliche Flexibilität, die sich durch die neuen Möglichkeiten bieten, sind dadurch aber zunehmend auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten und -tage erreichbar, bspw. am Wochenende oder im Urlaub (Markgraf 2020). Dies ist ein durchaus umstrittener Aspekt, da er auch schnell zu Selbstausbeutung führen kann. Besonders treffend haben Böttcher & Riedel die Auswirkungen wie folgt umschrieben: Arbeit und Freizeit vermischen sich immer mehr. Phasen der Entspannung, finden nicht mehr nach 17:00 Uhr und am Wochenende statt, sondern immer dann, wenn es gerade passt oder das Gehirn eine Regenerationspause braucht. Da nun die Mitarbeiter den Unternehmen Privatzeit schenken, müssen die Unternehmen ihren Mitarbeitern auch Eigenzeit während der Arbeit schenken. Work-Life-Blending wird das genannt (Schüller 2018).
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Ob Work-Life-Blending das bisherige Verständnis von Work-Life-Balance verdrängen wird, wird die Zukunft zeigen. Bereits jetzt ist jedoch zu erkennen, dass Personengruppen, die nicht zur Generation X, Y oder Z gehören, dem Work-LifeBlending nicht voreingenommen positiv gegenüberstehen.
4.3 Neue Kompetenzen in Zeiten von New Work – personelle Aspekte Der Begriff New Work ist – wie gezeigt – ein moderner Begriff, der viele Facetten aufweist. Im nächsten Schritt soll nun skizziert werden, welche Kompetenzen in Zeiten von New Work immer mehr an Bedeutung gewinnen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Beschleunigung der Digitalisierung wahrscheinlich auch zu einer beschleunigten Änderung der erforderlichen Kompetenzen im Arbeitsalltag führt. Zukünftig werden voraussichtlich Kompetenzen wie adaptives und transdisziplinäres Denken, soziale Fähigkeiten wie Kommunikation, soziale Intelligenz und Kollaborationsfähigkeiten neben den berufsspezifischen Kompetenzen benötigt. Entsprechend finden sich in der Literatur und Praxis aktuell eine Vielzahl neuer Kompetenzmodelle, die versuchen, diese Entwicklungen aufzunehmen und zu strukturieren. So unterteilen der Stifterverband und McKinsey die zukünftig erforderlichen Kompetenzen (Future Skills) beispielswiese in nicht digitale Schlüsselkompetenzen, digitale Schlüsselkompetenzen sowie technologische Spezialfähigkeiten. Die einzelnen Bereiche werden anschließend weiter in einzelne Kompetenzen und Fähigkeiten unterteilt. Sowohl an diesem als auch an anderen Kompetenzmodellen wird immer wieder deutlich, dass das lebenslange Lernen zum Dreh- und Angelpunkt der neuen Arbeitswelt wird (Benner 2018). Dabei zeigt sich, dass gerade die Digitalisierung eine Verschiebung der Kompetenzen und Fähigkeiten verursacht. Gleichförmige und gut strukturierte Abläufe werden zukünftig nicht mehr auf menschliche Aktionen angewiesen sein, sondern können automatisiert erfolgen. Sie ermöglichen aber auch eine zunehmende Integration des Lernprozesses ins Arbeits- und Privatleben. So wie die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem verschwimmen, werden sie auch im Bereich des Lernens immer stärker verschwimmen, hin zu einer individuellen Work-Life-Balance (Abb. 4.4).
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Abb. 4.4 Work-Life-Learn Balance
4.4 Umsetzung von New Work im Alltag – erste Forschungserkenntnisse Über New Work wird viel geschrieben. Sehr pointiert hat dies Hofmann skizziert und wie folgt formuliert: Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht stolz über die Verwirklichung einer Start-upZone von Großkonzernen in einem angesagten Berliner Loft berichtet wird – mit agilen Arbeitsformen, Tischkicker und anderen sichtbaren Signalen und Symbolen des ‚Neuen‘. Schwieriger wird es, neue Führungskonzepte und Formen der Selbstorganisation zu finden, die über eine längere Zeit funktionieren (Hofmann 2018).
Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es New Work nicht gibt, sondern nur, dass die Umsetzung wahrscheinlich schleppender verläuft und nicht immer sichtbar ist bzw. sich auf bestimmte Bereiche als Pilotprojekte konzentriert. Hofmann berichtet ferner, dass viele Ansätze von New Work in relativ jungen Unternehmen gelebt werden – wo wenig gewachsene Strukturen vorhanden sind (Hofmann 2018).
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Eine der ersten Forschungsstudien haben die Autoren Hackl, Wagner und Attmer i. V. m. dem Institut HR|Impulsgeber und der Detecon Consulting bereits im Januar 2016 durchgeführt und veröffentlicht (Hackl et al.2016). In diesem Zusammenhang wurden bereits seinerzeit zwölf Handlungsbedarfe skizziert und darauf hingewiesen, dass im Bereich Individualisierung und Führung die größten Potenziale bestehen (Hackl et al. 2016): • Beteiligung der Mitarbeiter an der Strategieentwicklung, • Leistungs- und Lernziele können selbst festgelegt werden, • Selbstbestimmung: Teil der Arbeitszeit für kreative/eigene Projekte, • flexibler Wechsel zwischen Führungs- und Fachkarriere, • Führungskraft als Coach/Personalentwickler, • moderne, demokratische Führungskultur, • schnelle Entscheidungsprozesse, • weniger Hierarchiestufen, • flexible Arbeitsorte/Homeoffice-Möglichkeiten, • flexible Arbeitszeiten, • Creative-Work-Spaces, • Wechsel der Arbeitsaufgaben/Stellen. Seit 2016 ist – wie skizziert – viel passiert. New Work muss jedoch dringend weiter konkretisiert werden.
4.5 Fazit und Ausblick New Work ist unbestritten ein populärer Begriff. Letztendlich bleibt aktuell noch unklar, in welcher Geschwindigkeit und wie tiefgehend New Work die Arbeitsplätze in Zukunft verändern wird. In diesem Kontext ist auffällig, dass oftmals die Einstellungen und Erwartungen der Beschäftigten zu wenig im Mittelpunkt der Diskussion stehen (Börsch 2019). Ist New Work ein Generationsthema der Generation X, Y oder Z? Wie gehen ältere Beschäftigte damit um? Oder: Was denken die Gewerkschaften? Hier gibt es noch zu wenig Konkretes. Ferner wird immer wieder deutlich, dass viele Beschäftigte eine deutlich abgeschwächte Geschwindigkeit bei der Umsetzung von New Work erwarten. In Befragungen wird u. a. immer wieder die Einstellung postuliert, dass auch dieser Wandel vorbeigeht (Börsch 2019). Das heißt, New Work muss noch viel stärker als bisher erklärt und diskutiert werden. Kein Wandel – auch nicht New Work – wird „über Nacht“ Einzug in Unternehmen halten. Gleichwohl dürfen Führungs-
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kräfte sich hierauf nicht ausruhen. Ganz im Gegenteil: Neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) erreichen Unternehmen viel schneller als gedacht. Alle sind daher aufgefordert, sich aktiv mit dem Thema New Work auseinanderzusetzen, Veränderungen rechtzeitig zu erkennen und sich entsprechend vorzubereiten (Börsch 2019).
Literatur Benner, C. (2018). Auch New Worker brauchen Gewerkschaften. https://spielraum.xing. com/2015/02/zukunft-der-gewerkschaften/. Zugegriffen: 21. Dez. 2018. Börsch, A. (2019). Was die Arbeitnehmer wirklich von New Work erwarten. https://www. xing.com/news/klartext/was-die-arbeitnehmer-wirklich-von-new-work-erwarten-3279. Zugegriffen: 16. Juli 2019. Böttcher, A., & Riedel, P. (2019). New work: Die ArbeitsRevolution? https://www. avantgarde-experts.de/de/magazin/httpswwwavantgarde-expertsdedemagazinwork-lifeblending/. Zugegriffen: 26. Juni 2019. digital pioneers (2018). „New Work“ – was sich hinter dem Buzzword verbirgt. https://t3n. de/news/was-ist-new-work-861263/. Zugegriffen: 20. Dez. 2018. Hackl, B., Wagner, M., & Attmer L. (2016). Ich war noch niemals in New Work: Studie zur Zukunft der Arbeitswelt, personalmagazin im Jahr 02/2016 sowie online als PowerPoint-Präsentation unter: https://www.detecon.com/drupal/sites/default/files/2018-09/ hrimpulsgeberdeteconnewworkstudieergebnisse-160214121002.pdf. Zugegriffen: 11. Juli 2019. Hackl, B., Wagner, M., Attmer, L., & Baumann, D. (2017). New Work: Auf dem Weg zur neuen Arbeitswelt. Wiesbaden: Springer. Hofmann, J. (2018). New Work – von der Utopie zur Alltagstauglichkeit. https://blog.iao. fraunhofer.de/new-work-von-der-utopie-zur-alltagstauglichkeit/. Zugegriffen: 20. Dez. 2018. Ifo-Institut (2018). Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt. https://www. ifo.de/DocDL/ifo_Studie_Digitalisierung-Arbeitsmarkt_IHK_Impulse.pdf. Zugegriffen: 02. Febr. 2020. Moser, M. (2017). Hierarchielos führen. Wiesbaden: Springer. Markgraf, D. (2018). Arbeitswelten im Wandel – Auswirkungen etablierter Kommunikationsmittel auf die Effizienz modernen Arbeitens. https://www. researchgate.net/profile/Daniel_Markgraf/research. Zugegriffen: 02. Febr. 2020. Markgraf, D. (2019). Arbeitswelten im Wandel – Auswirkungen digitaler Transformation. https://www.researchgate.net/profile/Daniel_Markgraf/research. Zugegriffen: 02. Febr. 2020. Markgraf, D. (2021). Herausforderungen der Welt 4.0. In R. A. Fürst (Hrsg.), Digital Leadership & Digital Readiness – Der Mensch als Schlüsselfaktor der Transformation. Wiesbaden: Springer (im Erscheinen). Schüller, A. (2018). Was New Work bedeutet – in 7 Punkten erklärt. https://www.computerwoche.de/a/was-new-work-bedeutet-in-7-punkten-erklaert,3332073. Zugegriffen: 20. Dez. 2018.
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Schulze-Siebert, J. (2018). Arbeit verändert sich: New Work – New Work und die schöne neue Arbeitswelt. https://moveyouroffice.io/new-work/. Zugegriffen: 21. Dez. 2018. Vollmer, L., & Poppenborg, M. (2018). Was Sie über New Work wissen sollten. In A. Ternès & C. D. Wilke (Hrsg.), Agenda HR, Digitalisierung, Arbeit 4.0 und New Leadership (S. 21–28). Wiesbaden: Springer.
Prof. Dr. Wolfgang Bohlen ist Studiendekan der School Business Administration and Management, Professor für Personalwirtschaftslehre und Organisation, Studienleiter für den Bereich Personalmanagement sowie Leiter des Studiengangs Talentmanagement an der AKAD University. Auch ist er im Expertenteam Talentmanagement Award des Handelsblatts. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre, einem MBA im Bereich Bildungsmanagement und einer Promotion arbeitete er zunächst viele Jahre als Personalreferent. Anschließend war er über zehn Jahre als selbstständiger Personal- und Organisationsentwickler tätig. Seit 2011 ist er Professor an der AKAD University. Prof. Dr. Daniel Markgraf ist Prorektor für Forschung und Digitalisierung sowie Direktor des Instituts IDEA (Institute for Digital Expertise and Assessment) an der AKAD University und hat dort darüber hinaus die Professur für BWL mit den Schwerpunkten Marketing, Gründungs- und Innovationsmanagement inne. Neben allen Bereichen des Marketings interessiert er sich vor allem für die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und deren Einfluss auf Innovationen, Geschäftsmodelle und Menschen. Er ist außerdem als Berater, Redner und Autor tätig und sitzt dem Aufsichtsrat der foundervision AG vor.
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Stellenanzeigen spiegeln die Evolution der Kompetenzbedarfe im Requirements Engineering Andrea Herrmann Inhaltsverzeichnis 5.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Durchführung der Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Ergebnisse 2009, 2012, 2015 und 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Position: Wie heißt die Position (job title) der Person, die RE macht?. . . . 5.3.2 Aufgaben: Welche weiteren Aufgaben/Rollen hat diese Position?. . . . . . . 5.3.3 Kompetenzen: Welche Kompetenzen werden gefordert? . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Diskussion der Ergebnisse, Vergleich mit anderen Studien und Ausblick. . . . . . . . 5.5 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Dieser Vortrag stellt die Ergebnisse einer Studie vor, die seit 2009 alle drei Jahre Stellenanzeigen analysiert, um zu untersuchen, wie Personen rekrutiert werden, die in Softwareprojekten Requirements Engineering (RE) betreiben, also Anforderungen ermitteln, dokumentieren und/oder verwalten. Wie nennt sich die Position, auf die diese Person eingestellt wird, welche Aufgaben hat sie noch und welche Kompetenzen soll sie mitbringen? Stellenanzeigen für Positionen, die sich Requirements Engineer, Anforderungsingenieur oder Product Owner nennen, gibt es kaum (5 % und weniger). Stattdessen wird
A. Herrmann (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_5
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das RE von Beratern, Programmierern und Projektleitern mit erledigt. Am häufigsten ist das RE mit Entwurf und Entwicklung der technischen Lösung kombiniert, aber auch mit Qualitätssicherung und Projektmanagement. Besonders bedenklich ist, dass kaum spezifische RE-Kompetenzen ausdrücklich gefordert werden: Nur ca. ein Drittel der Anzeigen nennen überhaupt solche Kompetenzen, falls doch v. a. pauschal „Erfahrung“. Softskills und technische Kenntnisse dagegen werden fast überall erwünscht. Dies passt auch zu Ergebnissen anderer Studien zu ähnlichen Fragestellungen.
5.1 Motivation Requirements Engineering (RE) umfasst sämtliche Tätigkeiten, die erforderlich sind, um (Produkt- und Projekt-)Anforderungen zu erheben, zu analysieren, zu verstehen und zu dokumentieren (Fahney et al. 2013, S. 9). Das RE ist ein systematischer und disziplinierter Ansatz zur Spezifikation und zum Management von Anforderungen mit den folgenden Zielen: 1. Die relevanten Anforderungen zu kennen, Konsens unter den Stakeholdern über die Anforderungen herzustellen, die Anforderungen konform zu vorgegebenen Standards zu dokumentieren und die Anforderungen systematisch zu managen. 2. Die Wünsche und Bedürfnisse der Stakeholder zu verstehen, zu dokumentieren sowie die Anforderungen zu spezifizieren und zu managen, um das Risiko zu minimieren, dass das System nicht den Wünschen und Bedürfnissen der Stakeholder entspricht (Pohl und Rupp 2015, Definition 1–3).
Anforderungen wiederum sind (Pohl und Rupp 2015, Definition 1–1): 1. Ein Bedürfnis eines Stakeholders, 2. eine Fähigkeit oder Eigenschaft, die ein System haben soll, 3. eine dokumentierte Darstellung eines Bedürfnisses, einer Fähigkeit oder Eigenschaft. So wie die Anforderungen die Grundlage für die Implementierung der Software bilden, legt das Requirements Engineering als Tätigkeit die Grundlage für den Erfolg des Projektes. Allerdings belegen Studien immer wieder den schlechten Stand der Praxis im RE. Nach meiner eigenen Berufserfahrung wird die Bedeutung des RE oft unterschätzt, sowohl der zeitliche Aufwand als auch
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die Komplexität und der Umfang des dafür nötigen Wissens. Darum war das RE oft keine Tätigkeit für Experten, sondern diente dem Neueingestellten zur Einarbeitung oder war eine Nebentätigkeit des Projektleiters. Studenten fragen in der RE-Vorlesung, was sie damit mal beruflich machen können und – leider – auch, ob sie in IT-Projekten arbeiten können, ohne programmieren zu müssen. Dieser Hintergrund führte zu folgenden Fragen: • Position: Wie heißt die Position (job title) der Person, die RE macht? • Aufgaben: Welche weiteren Aufgaben/Rollen hat diese Position? • Kompetenzen: Welche Kompetenzen werden gefordert? Dabei wird unterschieden zwischen der Position einer Person im Organigramm einer Firma und ihrer Rolle. Die Position ist ihre Stellenbezeichnung, die man so auch auf der Visitenkarte, im Arbeitsvertrag und in der Stellenanzeige findet. Damit verbunden ist ein eher dauerhaftes Aufgabenbündel innerhalb der Organisation. Innerhalb von Projekten übernehmen Mitarbeiter Rollen, die wiederum ein Aufgabenbündel darstellen, das jedoch nur im Kontext und für die Dauer des Projektes gilt. Dieser Artikel stellt die Ergebnisse einer Studie dar, die anhand von Stellenanzeigen die obigen Fragen untersucht hat. Aufgrund des hohen Stands an Forschung, Methoden und Zertifikaten für RE würden auf die obigen Fragen folgende Antworten erwartet werden: • Position: Da RE so wichtig ist, gibt es spezielle RE-Positionen mit Titeln wie Requirements Engineer oder Anforderungsanalytiker, neuerdings vermehrt auch Product Owner. • Aufgaben: Der Requirements Engineer hat am Projektanfang am meisten zu tun. Später kann er weitere Aufgaben übernehmen und bleibt so dem Projekt als Wissensträger erhalten. • Kompetenzen: RE-Kompetenzen sind gut standardisiert und können durch Zertifikate nachgewiesen werden. Die Angabe von Methoden und Notationen in Stellenanzeigen gibt ein klares Bild von der Arbeitsweise. Solche Zertifikate zum RE sind: • IREB CPRE (International Requirements Engineering Board, Certified Professional Requirements Engineer, https://www.ireb.org/de), • BABOK (Business Analysis Body of Knowledge, https://www.iiba.org/ standards-and-resources/babok/),
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• CSPO (Certified Scrum Product Owner, https://www.scrum.org/professionalscrum-product-owner-certifications), • CARS (Certified Agile Requirements Engineer, https://agile-requirementsinstitute.org/certified-agile-requirements-specialist.html), • CPUX (Certified Professional for Usability and User Experience, https://uxqb. org/de/). Im Folgenden wird zunächst ganz kurz die Durchführung der Studie beschrieben, anschließend werden die wichtigsten Ergebnisse dargestellt und in der Diskussion werden diese noch mit anderen Studien verglichen. In einer Zusammenfassung wird eine Bilanz gezogen und es wird ein Ausblick auf die Zukunft gegeben.
5.2 Die Durchführung der Studie Die Studie ist ein länger laufendes Projekt: Alle drei Jahre werden Stellenanzeigen für IT-Berufe analysiert und nach demselben Schema ausgewertet. Dies erfolgte bisher in den Jahren 2009, 2012, 2015 und 2018. Die Stellenanzeigen stammen von www.stepstone.de. Tab. 5.1 zeigt, wie viele Stellenanzeigen aus der Rubrik IT jeweils analysiert wurden und wie viele dieser IT-Positionen jeweils RE machen. Dabei wurden diejenigen für die weitere Studie ausgewählt, in deren Aufgabenteil mindestens eine Tätigkeit genannt wurde, die zum Requirements Engineering gehört. Das waren grob 10 bis 20 % aller Anzeigen. Folgende Inhalte der Stellenanzeigen wurden ausgewertet: • Position: Der Titel, der in der Stellenanzeige oben fett als Stellenbezeichnung angegeben wurde, wurde als Position interpretiert, und diese Positionen wurden folgenden Kategorien zugeordnet: Requirements Engineer, Product Owner, Administrator, Anwender, Manager, Abteilungsleiter, Berater, Architekt, Entwickler, Vertrieb, Projektleiter, Software Engineer oder eine Doppelrolle. Tab. 5.1 Anzahl der Stellenanzeigen 2009
2012
2015
2018
Anzahl analysierte Stellenanzeigen
1378
589
800
1000
Anzahl Anzeigen mit RE
141
67
149
178
Anteil Anzeigen mit RE
10,2 %
11,4 %
19,6 %
17,8 %
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• Aufgaben: Die in der Aufgabenbeschreibung genannten Aufgaben wurden folgenden Kategorien zugeordnet: Machbarkeitsanalyse, Lösungskonzeption, Realisierung, Qualitätssicherung, Dokumentation, Schulung, Einführung, Wartung/Hotline, Projektleitung, Vertrieb, Beschaffung. • Kompetenzen: Jede Stellenanzeige listet auch die nötigen Kompetenzen auf, z. B. ein bestimmtes Studienfach, vorherige Berufserfahrung, Erfahrung mit einer Tätigkeit, Zertifikate, Kenntnis bestimmter Methoden, Softskills. Mehr Details zur Auswertung finden Sie in den früheren Publikationen (Herrmann 2013; Herrmann und Weber 2016).
5.3 Die Ergebnisse 2009, 2012, 2015 und 2018 Im Folgenden werden die anfangs gestellten Fragen anhand der Forschungsergebnisse beantwortet.
5.3.1 Position: Wie heißt die Position (job title) der Person, die RE macht? Der Requirements Engineer oder Anforderungsanalytiker als Position war selten gefragt. Waren es 2009 noch 0,7 % der analysierten Stellenanzeigen, stieg der Anteil zwar 2012 auf 4 % und 2025 auf 5 %, fiel aber 2018 auf 0,6 % zurück, zugunsten von 2 % Product Owners. Abb. 5.1 zeigt, welche Positionen tatsächlich im RE arbeiten. Die beiden Linien für den Requirements Engineer (rot) und Product Owner (grün) bleiben ganz unten. Das RE wird vor allem von Beratern gemacht, aber auch von Entwicklern, Software Engineers und Projektleitern, Administratoren und Architekten (in dieser Reihenfolge der Häufigkeit). Requirements Engineer ist also eher keine Position, sondern eine Rolle bzw. Tätigkeit unter vielen innerhalb eines Projektes.
5.3.2 Aufgaben: Welche weiteren Aufgaben/Rollen hat diese Position? Wenn das RE von Positionen durchgeführt wird, die ganz andere Rollenbezeichnungen im Namen tragen, wie „Entwickler“ und „Projektleiter“, liegt es
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Abb. 5.1 Positionen, die im RE arbeiten
nahe zu erwarten, dass sie zusätzlich zum RE noch weitere Aufgaben erledigen. Die Anzahl der weiteren Rollen schwankte im Verlauf der Studien zwischen 2,8 und 3,6. Das sind recht viele, wenn man bedenkt, dass sämtliche Aufgaben zu nur zwölf Rollen zusammengefasst wurden. Hat also eine Position zusätzlich zum RE noch vier weitere Rollen, deckt sie fast das halbe betrachtete Aufgabenspektrum ab. Gesucht werden also offensichtlich keine Spezialisten, sondern Allrounder. Abb. 5.2 zeigt, welcher Anteil an Stellenanzeigen welche weiteren Rollen nennt. Ganz oben stehen dabei Lösungsentwurf und Implementierung, dann Projektmanagement und Qualitätssicherung. Nur wenig Fachliteratur hat diese Mehrfachrollen und deren praktische Auswirkungen bisher berücksichtigt. Nur die Schnittstelle zwischen RE und Projektmanagement wurde in einem Buch behandelt (Fahney et al. 2013): Wie grenzen sich diese Tätigkeiten voneinander ab? Wie ergänzen und behindern sie einander, wenn sie von derselben Person ausgeführt werden?
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Abb. 5.2 Weitere Rollen
5.3.3 Kompetenzen: Welche Kompetenzen werden gefordert? Nur rund ein Drittel der Stellenanzeigen fordern ausdrücklich RE-Kompetenzen. Nun könnte das daran liegen, dass in der Stellenanzeige insgesamt mehrere Rollen erwähnt werden. Aber im Vergleich zu den anderen Tätigkeiten wird klar, dass die technischen Kompetenzen für technische Tätigkeiten deutlich häufiger ausdrücklich genannt werden als Spezialkenntnisse für RE oder auch für das Projektmanagement, wobei Letzteres in der letzten Studie einen deutlichen Sprung nach oben machte (siehe Abb. 5.3). Mögliche Gründe dafür, warum für das RE oft keine speziellen Fähigkeiten angefordert werden, lassen sich in großer Anzahl finden: • RE gilt als einfache Tätigkeit, für die keine speziellen Kenntnisse oder Fähigkeiten nötig sind, • RE wird in der Firma so informell durchgeführt, dass entweder keine Methoden systematisch verwendet werden oder deren Verwendung als optional angesehen wird,
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Abb. 5.3 Geforderte Kompetenzen
• in RE kann man sich scheinbar leicht einarbeiten oder die Firma schult ihre Neulinge selbst, • RE wird als Bestandteil des Studiums oder einer Fachinformatikerausbildung als selbstverständlich angenommen, wird also mit der Forderung nach „Studium oder Ausbildung plus zwei Jahre Berufserfahrung“ abgedeckt. Tatsächlich werden in den meisten Stellenanzeigen „Studium oder Ausbildung plus zwei Jahre Berufserfahrung“ und/oder Berufserfahrung gefordert. Studium oder Ausbildung sind in 90 % der Anzeigen zumindest erwünscht. Das RE wird jedoch verstärkt auch für Berufsanfänger ausgeschrieben. Der Anteil der Stellenanzeigen, der vorherige Berufserfahrung fordert, ist von 72 % (2009) auf 48 % (2018) gesunken. Trotzdem wäre dank der in den vorigen Jahren vorangeschrittenen Standardisierung des RE und der Zertifizierung der entsprechenden Experten zu erwarten gewesen, dass Methoden erwähnt und Zertifikate zumindest als wünschenswert genannt würden. Eine genauere Betrachtung, welche REKompetenzen anteilig gefragt werden (siehe Abb. 5.4), zeigt jedoch, dass sehr häufig nur „Erfahrung mit RE“ oder pauschal „RE-Wissen“ nachgefragt werden.
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Abb. 5.4 Geforderte RE-Kompetenzen
Konkrete Modellierungsmethoden, RE-Prozesse, RE-Werkzeuge oder gar REZertifikate werden viel seltener nachgefragt. Im Gegensatz zu den unterschätzten RE-Kenntnissen sind die beiden am häufigsten gewünschten Kompetenzen (siehe Abb. 5.5) eine lange Liste von Softskills (ca. 90 % der Anzeigen) und technische Kenntnisse (knapp 80 %). Durchschnittlich fünf Softskills pro Anzeige werden aufgelistet. Die fünf häufigsten sind: Englisch, Deutsch, Teamfähigkeit, Selbstorganisation, Kommunikationsfähigkeit.
5.4 Diskussion der Ergebnisse, Vergleich mit anderen Studien und Ausblick Die obigen Ergebnisse beruhen auf Daten aus Stellenanzeigen. Unklar bleibt natürlich, inwieweit die Beschreibungen in den Stellenanzeigen die spätere Tätigkeit eins zu eins abbilden. Eventuell werden hier mehr Tätigkeiten genannt, als die Person später tatsächlich ausüben muss, weil die Aufgaben ohnehin dynamisch nach Bedarf und Fähigkeiten verteilt werden. Man nennt fünf Rollen, für die Verstärkung gesucht wird, aber wenn der Bewerber dann zunächst nur drei davon abdecken kann, genügt das. Umgekehrt könnte es sein, dass bei den
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Abb. 5.5 Weitere geforderte Kompetenzen
Kompetenzen lieber weniger als mehr gefordert wird, um halbwegs geeignete Kandidaten in Zeiten des Fachkräftemangels nicht voreilig abzuschrecken. Wenn ansonsten alles stimmt, sollte es an mangelnden BPMN-Kenntnissen oder einem nicht vorhandenen CPRE-Foundation-Level-Zertifikat nicht scheitern. Darum wurden diese Ergebnisse noch mit denen aus einer Umfragestudie zum RE in der Praxis aus dem Jahr 2014 verglichen (Adam et al. 2015). Befragt wurden 345 Personen, die in ihrem Unternehmen für das RE verantwortlich sind. Das ist leider nicht exakt dieselbe Zielgruppe, weil Programmierer, die das RE unterstützen, hierbei nicht mitzählen, wohl aber von der Stellenanzeigenstudie erfasst wurden. So kommt man hier auch auf ca. 50 % Requirements Engineers und nur 50 % arbeiten hauptsächlich in der Position von Architekten, Entwicklern oder Projektleitern. Diese haben sich jedoch das RE oft autodidaktisch beigebracht: Zu 40 % hatten sie keine RE-relevante Ausbildung und zu 30 % keine RE-Schulungen. Immerhin 36 % der RE-Verantwortlichen haben keine sonstigen Aufgaben, 39 % arbeiten ausschließlich oder überwiegend an anderen Aufgaben. Bei diesen Befragten ist also der Anteil der Requirements Engineers höher, auch derjenigen, die sich auf das RE konzentrieren können. Die Vermutung, dass die Bedeutung spezieller RE-Kenntnisse unterschätzt wird, bestätigt sich jedoch auch
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hier. Immerhin ist der Anteil der Personen, die eine RE-Schulung bekamen, höher als der Anteil der Personen, die bereits bei der Einstellung RE-Wissen mitbringen müssen. Die Nichterwähnung spezieller RE-Methoden erfolgt also eventuell tatsächlich im Hinblick darauf, dass neue Mitarbeiter ohnehin eingelernt werden. Mehrere Studien analysierten jeweils in anderen Ländern RE-bezogene Stellenanzeigen nach demselben Schema, um im Ländervergleich herauszufinden, was sich eventuell unterscheidet. Solche Studien gab es in Brasilien und Mexiko (Calazans 2017), den Niederlanden (Daneva et al.2017) sowie Kanada (Wang et al. 2018). Die Ergebnisse fielen entgegen meinen Erwartungen sehr ähnlich aus, wobei nur minimale Unterschiede in den Gewichtungen bestehen, z. B. bei den Häufigkeiten, in denen bestimmte Softskills genannt werden. Die beiden Hauptunterschiede waren: In Kanada enthält die Position oft den Begriff „engineer“ z. B. software engineer, database engineer, security engineer, systems engineer, support engineer. In den südamerikanischen Anzeigen wurden deutlich häufiger Softskills wie Visionen, Leidenschaft und Empathie zum Kunden gefordert (Calazans et al. 2017). In einer Focus-Group-Studie haben wir das Thema Softskills für das RE noch weiter vertieft und 2018 zahlreiche Praktiker zu ihrer Meinung befragt (Daneva et al. 2019; Herrmann et al. 2020). Sie bestätigten uns, dass die in den Stellenanzeigen genannten Softskills tatsächlich für das Requirements Engineering relevant sind, allerdings wenig RE-spezifisch sind, sondern allgemein für die Arbeit in einem Team unerlässlich. Welche Softskills konkret benötigt werden, hängt vom Projekt ab, z. B. Sprache, Reisebereitschaft, Selbstorganisation, Selbstbewusstsein. Oft genug wird in Stellenanzeigen die Beherrschung der englischen Sprache zwar gefordert, doch dann finden die Projekte doch deutschsprachig oder auf Holländisch (also in der Muttersprache) statt. Fremdsprachenkenntnisse und Selbstbewusstsein wurden von den Befragten für weniger wichtig gehalten als die Häufigkeit ihrer Nennung in den Stellenanzeigen vermuten ließ. Dadurch rutschte die Kommunikationsfähigkeit auf Platz eins der Softskills, und auch die Kundenorientierung rückte deutlich nach oben. Als zusätzliche Softskills wurden genannt: Zielorientierung/Ergebnisorientierung (in der deutschen Studie bereits vorhanden), die Fähigkeit, über Arbeitspraktiken und Artefakte nachzudenken, Bescheidenheit statt Besserwisserei, Lernfähigkeit, Fähigkeit, eine Vision zu entwickeln und zu verfolgen, nonverbale Kommunikation, Verantwortungsbewusstsein, Fähigkeit, Probleme frühzeitig zu bemerken und zu kommunizieren, Hilfe zu suchen, Neugier.
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5.5 Zusammenfassung und Ausblick Alles in allem bleibt die traurige Bilanz dieser Studien, dass in der Praxis technische Fähigkeiten für wichtiger oder schwieriger gehalten werden als REKenntnisse. Möglicherweise wird die Befähigung zum RE als Ergebnis von Studium oder Ausbildung mehr oder weniger zu Recht vorausgesetzt oder eine Einarbeitung geplant. Die Tatsache, dass Unternehmen in ihren Stellenanzeigen selten spezielle RE-Methoden nennen, könnte ein Zeichen dafür sein, dass das RE bei ihnen unsystematisch durchgeführt wird. Dabei könnte die Nennung der verwendeten Methoden dem Bewerber schon einmal einen Eindruck von der Arbeitsweise im Unternehmen vermitteln. So macht es doch einen Unterschied, ob hier User Stories, UML oder ein BABOK-Zertifikat genannt werden. Während bei den Hardskills wie RE-Methoden klar ist, wie man sie am besten lehrt und auch abprüft, ist es noch eine offene Frage, wie man die offensichtlich so wichtigen Softskills im Bewerbungsgespräch prüfen oder während des Studiums oder durch berufliche Fortbildung lehren kann. Wichtig wäre auch zu wissen, welche dieser Fähigkeiten der Bewerber bereits mitbringen muss und welche er erlernen kann. Eine bessere Selbstorganisation lässt sich vermutlich leichter trainieren als Flexibilität. Kundenorientierung ist zwar eine Einstellung, aber kundenorientierte Kommunikation lässt sich lernen.
Literatur Adam, S., Wünch, C., & Seyff, N. (2015). “Requirements Engineers” in Aktion Statistische Daten über RE-Verantwortliche in der Industrie. Softwaretechnik-Trends, 35(1), 15–16. Calazans, A., Paldês, R., Masson, E., et al. (2017). Software requirements analyst profile: A descriptive study of Brazil and Mexico. Requirements Engineering Conference, 2017, 196–204. Daneva, M., Herrmann, A., Condori-Fernández, N., & Wang, C. (2019). Understanding the most In-demand soft skills in requirements engineering practice: Insights from two focus groups. In Proceedings of the Evaluation and Assessment on Software Engineering (EASE 2019), Copenhagen, Denmark, 15–17 April, ACM, S. 284–290. Daneva, M., Wang, C., & Hoener, P. (2017). What the job market wants from requirements engineers? An empirical analysis of online job Ads from the Netherlands. Proceedings of ESEM. Fahney, R., Gartung, Th., Glunde, J., Herrmann, A., Hoffmann, A., Knauss, E., Valentini, U., & Weißbach, R. (2013). Requirements Engineering und Projektmanagement. Heidelberg: Springer. Herrmann, A. (2013). Requirements Engineering in Practice: There is no Requirements Engineer Position. REFSQ 2013 Konferenz, April 2013, Essen. Proceedings of REFSQ
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Requirements Engineering: Foundation for Software Quality, LNCS Volume 7830, 347–361. Herrmann, A., Daneva, M., Wang, C., & Condori-Fernandez, N. (2020). Requirements engineering in job offers – who works in RE and what competences do they need, particularly soft skills? Requirements Engineering Magazine, 7. https://re-magazine. ireb.org. Zugegriffen: 9. Sept. 2020. Herrmann, A., & Weber, M. (2016). Requirements engineering in German job advertisements. Requirements Engineering Magazine, 3. https://re-magazine.ireb.org/ issues/03-an-eye-for-detail/requirements-engineering-in-german-job-advertisements/. Zugegriffen: 9. Sept. 2019. Pohl, K., & Rupp, C. (2015). Basiswissen Requirements Engineering – Aus- und Weiterbildung nach dem IREB-Standard zum Certified Professional for Requirements Engineering Foundation Level (4. Aufl.). Heidelberg: dpunkt. Wang, C., Cui, P., Daneva, M., & Kassab, M. (2018). Understanding what industry wants from requirements engineers: An exploration of RE jobs in Canada. In Proceedings of 12th International Symposium on Empirical Software Engineering and Measurement (ESEM’18). ACM, Oulu, Finland, 41:1–41:10.
Prof. Dr. Andrea Herrmann ist seit 2020 Professorin für Software Engineering an der AKAD University und seit 2012 freiberufliche Trainerin und Beraterin für Software Engineering. Sie hat mehr als 20 Berufsjahre in Praxis und Forschung, bis hin zu Vertretungs- und Gastprofessuren. Mehr als 100 Fachpublikationen, regelmäßige Konferenzvorträge, offizielle Supporterin des IREB-Board, Mitautorin von Lehrplan und Handbuch des IREB für die CPRE Advanced Level Zertifizierung in Requirements Management, www.herrmann-ehrlich.de.
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Exkurs Strukturwandel: Modern Automotive – Null Emissionen versus SUV Rainer Gottschalk Inhaltsverzeichnis 6.1 Status Quo zu Modern Automotive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6.2 Null-Emissionen – Klimaschutz und CO2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 6.2.1 Hinweise und Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6.2.2 Zusammenfassung der zentralen Unterschiede der für die Zukunft so wichtigen Antriebssysteme (Boeng und Rauner 2020b). . . . . . . . . . . . . . 135 6.3 Wirkungsgrade und Energiebilanzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.4 Modern Automotive – Umstellung auf Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Zusammenfassung
Das Klima verändert sich immer schneller und mit ihm die Mobilität der Menschen. Bereits jetzt sind unsere Infrastruktur- und Verkehrsnetze überlastet. Die Emissionen, vor allem in den großen Innenstädten, steigen stetig: Schadstoff-Emissionen und klimawirksame Emissionen, aber auch LärmEmissionen. Gelingt uns der zwingend notwendige Wandel hin zur klimafreundlichen Fortbewegung? In welchem Umfang nutzen wir hierfür die KI? Können wir nach so vielen Abgaslügen unserer Automobilwirtschaft noch vertrauen? Welche neuen Antriebskonzepte kommen, welche digitalen
R. Gottschalk (*) Donaueschingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_6
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Kompetenzen werden benötigt und wie verhalten wir Kunden uns im Markt? Wir analysieren unsere Energie- und Datenzukunft sowie ihre wechselseitigen Abhängigkeiten. Mittendrin: der Mensch in seiner neuen Umwelt.
6.1 Status Quo zu Modern Automotive Laut www.tagesschau.de vom 02.03.2020 kommen in Deutschland immer mehr Autos auf die Straße. Im vergangenen Jahr erhöhte sich die Zahl um eine Million. Vor allem die SUV legen zu, und zwar um 22 % auf 3,77 Mio. Und die E-Autos? Am 01.01.2020 waren es lediglich 135.617 Elektrofahrzeuge, ein Anteil von 0,3 % an der gesamten Autoflotte in Deutschland. Insgesamt waren 65,8 Mio. Fahrzeuge am 1. Januar zugelassen, so das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Den größten Anteil am Fahrzeugzuwachs hatten Autos. Ihre Zahl nahm um rund 700.000 auf knapp 47,7 Mio. Stück zu, wie gesagt nur in Deutschland. Die deutsche Automobilwirtschaft ist weltweit ein Gigant, nicht nur im eigenen Land gibt die Branche die Richtung vor. So kommen 73 % der weltweiten Premiumfahrzeuge aus Deutschland. Der SUV-Markt wächst ebenfalls monatlich, ungeachtet aller aktuellen Veränderungsszenarien. Die Wirtschaftskraft von VW, Daimler, BMW u. a. beträgt bei über 1 Mio. Mitarbeitern 500 Mrd. € Umsatz pro Jahr. Der Durchschnittsverbrauch aller PKW ist von 6,0 auf heute 5,6 L Benzin pro 100 km gesunken, der Verbrauch vom durchschnittlichen SUV liegt bei 6,2 L Benzin/100 km. Soweit die nüchternen Ist-Fakten. Sie dokumentieren die enorme Wirtschaftskraft, das enorme Emissions- und Veränderungspotenzial sowie die enormen Chancen für uns Kunden, direkt selbst in eine nachhaltigere Mobilitätswelt einzugreifen. Die digitale Transformationswelt, wie Google, Apple und z. B. Amazon, will gerade in die deutsche Fahrzeugwelt eintauchen und mit ihren kapitalstarken Muskeln spielen. Die Energiebranche als übergeordnete betriebs- und volkswirtschaftliche Führungsgröße, nicht nur für die Autowirtschaft, spielt für den Ökologie- bzw. den Klimaschutzerfolg eine zentrale Rolle. Die deutsche Autoindustrie selbst kann Autos in Serie produzieren wie kaum ein anderer Wettbewerbsmarkt. Sie muss sich im Sinne eines nachhaltigen Zukunftskonzeptes technologisch und auch strategisch zur Zusammenarbeit mit einem der großen Digital-Welt-Konzerne oder einem der deutschen Energie-Großkonzerne beziehungsweise sogar mit beiden entscheiden. Modern Automotive wird viel vielschichtiger und komplexer werden als die heutigen Fahrzeuge es sind. Es gibt zwei entscheidende Gründe hierfür:
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• Die heutigen Autos wurden so entwickelt und produziert, dass ihre eingesetzten Rohstoffe bzw. Ressourcen letztendlich als Abfall zu entsorgen waren, wie auch immer dieser Weg im Einzelnen aussah. Ab sofort und verstärkt in der Zukunft, ist nicht nur dieses „Abfall-Fahrzeug“, sondern auch der Mensch Teil der Entwicklung und der Produktion. Alle Ressourcen sind nach Kreislaufwirtschaftsgesetz und Nachhaltigkeit Bestandteil des Modern Automotives und gehören somit in die Bilanzierung der Produktion. • Es ist zu unterscheiden zwischen dem Verkehrsfluss auf dem Land und in der Stadt. Wegen der völlig unterschiedlichen Anforderungsprofile wird die digitale Transformation und die Energiewelt unsere zukünftige Mobilitätswelt mehr beeinflussen als uns vermutlich heute lieb ist. Der große Innovationsmotor Autobranche hat sich zuletzt in die Defensive drängen lassen. Auf Basis des Dieselskandals baute sich mit einer kalkulierten Lügenpolitik der Abgasskandal auf, die Sorge ums Klima beantwortete die Branche mit einem Null-Fortschritt bei der CO2-Reduktion. Umweltpolitisch entwickelte sich das Elektroauto weltweit als vermeintlich schnelle und machbare Alternativtechnik, nur nicht in Deutschland. Die Kunden wollen heute noch kein Elektroauto, maximal ein kleines mit wenig Komfort, sie bevorzugen statistisch gesehen aber eher einen bequemen SUV mit viel Komfort. Wenn man so will, verkörpert der SUV in Deutschland die alte Automobilwelt und die Forderung nach Zero-Emissions verkörpert die neue Automobilwelt, in der Spontanforderung natürlich ohne SUV. Es kann offenbar nicht sein, dass ein SUV sauber ist. Doch kaum hat 2020 begonnen, hebt die deutsche Autobranche ab. Auf der Elektronikmesse in Las Vegas zeigt man die unmittelbare Zukunft. Präsentiert werden spektakuläre Studien, saubere Antriebe, schlaue Assistenten und Infotainment-Lösungen. Sie sollen zeigen, dass sowohl das Auto als auch die Hersteller selbst durchaus eine Zukunft haben. So präsentiert Mercedes ein von der Natur inspiriertes Design, einen emissionslosen Elektroantrieb, eine fast schon organische Verbindung von Mensch und Maschine und eine Batterie, die man angeblich kompostieren kann. Selbst der Elektronikriese Sony präsentiert den ersten Entwurf eines eigenen Autos, doch an eine Serienproduktion will man nicht glauben. Die fast fünf Meter lange Stromlinien-Limousine wirkt eher wie ein Technologieträger für Infotainmentlösungen. Das würde passen. Details und Einzellösungen um die Sensor- bzw. Elektronikwelt werden Komfort und Sicherheit erhöhen. Für weniger als 1000 € soll das fast freihändige Autobahnfahren ermöglicht werden. Vom vollständig autonomen Fahren will man noch nichts wissen. Oder doch umsteigen auf Lufttaxis? Nach Audi und Mercedes hat auch
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Hyundai ein eigenes Exemplar gezeigt, das gemeinsam mit dem Fahrdienstvermittler Uber demnächst zur Serienreife entwickelt werden soll. In ca. 15 Jahren will man mit Massenproduktionen den Verkehrskollaps in Megacitys verhindern.
6.2 Null-Emissionen – Klimaschutz und CO2 Hier macht die EU ernst und doch bleibt ein „Gschmäckle“, wie der Schwabe so schön sagt. Der Reihe nach. Zur Umsetzung von Einsparungen nach 2020 gelten für alle Branchen folgende EU-Rahmen-Ziele (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2020, Europäischer Klima- und Energierahmen 2030): 1. Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen (ThG) um mindestens 40 %. 2. Steigerung Erneuerbare-Energie-Anteil (EE) auf mindestens 32 % des Endenergieverbrauchs. 3. Steigerung der Energieeffizienz durch Reduktion des Primärenergie-Verbrauchs (PE-Verbrauch) bis 2030 um mindestens 32,5 %. Basis: EndenergieEinspar-Verpflichtung. Neu: Jährliche Einsparungen von 0,8 % des Energieabsatzes in jedem EU-Mitgliedstaat. Warum müssen wir Menschen auf diesem Planeten Primärenergie (PE) wie Kohle, Öl etc. einsparen? Antwort: Weil der Klimawandel der Gegenwart menschengemacht ist und wir uns gegenüber heute bei einer globalen mittleren Temperaturerhöhung von über 2 °C nach dem Pariser Abkommen in eine voraussichtlich unkalkulierbare Zukunft hin entwickeln. Nach der Keeling-Kurve (Wikipedia 2020) werden seit 1956 kontinuierlich die CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre gemessen. Sie steigen stetig an. Durch den sogenannten Treibhausgaseffekt (ThG) erhöht sich die mittlere Temperatur auf der Erde. Ohne diesen ThG-Effekt hätten wir eine mittlere Temperatur von −18 °C. Mit dem ThGEffekt haben wir jetzt +15 °C. Von einer Million Molekülen in der Atmosphäre haben wir aktuell 410 Treibhausgasmoleküle, also 410 ppm (parts per million), das sind 0,041 %. Vor der industriellen Revolution hatten wir 280 ppm, also 0,028 % Treibhausgasmoleküle (CO2, CH4, N2O, FCKW u. a.). Alle werden in CO2-Äquivalente umgerechnet, sodass man im Wesentlichen von Kohlendioxid (CO2) spricht, aber auch die spezifisch viel „gefährlicheren“ Moleküle wie Methan (CH4) und Lachgas (N2o) mit einzubeziehen hat. Der Einfluss der Fluorchlorkohlenwasserstoffe ist auf null zurückgegangen, weil sie im Zuge der Ozon-
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lochproblematik verboten wurden. Heute lebt man z. B. in der Kältebranche mit „ungefährlichen“ Ersatzstoffen. Die Industrie hat damals schnell geliefert. Innerhalb der EU ist von 1990 bis 2017 laut Umweltbundesamt (UBA) die CO2-Emission von 461 Mio. auf 543 Mio. t/a angestiegen. In Deutschland ist im gleichen Zeitraum nur durch gestiegene Leistungen bei Benzin- und Dieselmotoren die CO2-Emission um 8 Mio. t/a angestiegen. Allgemein hebt das Mehr an PKW-Verkehr die spezifischen Fortschritte/Einsparungen wieder auf. So stellt sich die Frage nach aussichtsreichen Alternativen bei den Antrieben bzw. bei den heute verfügbaren alternativen Kraftstoffen (Tab. 6.1). Während Erdgas und Biomethan, das aus Biogas zu Erdgas umgewandelt wird, zurzeit einen noch scheinbar uninteressanten „Schneewittchenschlaf“ erleben, gilt aktuell primär das Interesse dem Elektroauto auf Batteriebasis und sekundär, aber aktuell steigend, dem Wasserstoff und der Brennstoffzelle. Beide alternativen Antriebe haben den EU-Stempel der Null-Emission erhalten. Aber ist das Elektroauto tatsächlich sauberer als z. B. ein Diesel der neuesten Generation? Eine scheinbar utopisch anmutende Fragestellung, die in Zeiten des Dieselskandals den Ingenieuren von Verbrennungsmotoren gefallen dürfte, aber hilft es dem Image? Nun denn, mit dieser Emissionsfestlegung will die Politik der Autobranche eine Steilvorlage zur mutigen Investition in die Zukunft geben. Ab 2030 sieht die CO2-Richtlinie der EU eine durchschnittliche Maximal-Emission der gesamten Flotte eines Automobilunternehmens in Höhe von 59 g/km vor. Das entspricht einem Benzinverbrauch von 2,5 L. Mit anderen Worten, jedes Unternehmen entscheidet wie viel Null-Emissionsautos und wie viel 2,65 kg- oder Tab. 6.1 Spezifische Treibhausgasemission CO2 und neue Antriebe. (Nach CO2online gGmbH 2020)
1 L Benzin
2,35 kg
1 L Diesel
2,65 kg
1 L Bio-Diesel (RME)
0,90 kg
1 L Bio-Ethanol (Weizen)
0,88 kg
1 L Flüssiggas (LPG)
1,65 kg
1 kg Erdgas (CNG)
2,74 kg
1 kg Biomethan (Gasmotor)
0,15 kg
1 kg Wasserstoff (BZ)
0,00 kg
1 „Liter Elektro“ (Batterie)
0,00 kg
CNG: Compressed Natural Gas, BZ: Brennstoffzelle, Elektro = 0 kg trotz eigener Batterieproduktion, laut CO2online gGmbH 2020
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2,37 kg-Autos oder was auch immer jeweils pro Jahr produziert werden. Die Null-Emission soll nach EU-Plan ab 2020 auch dann stehen, wenn das E-Auto eine Batterie aus der eigenen Produktion erhält. Dies ist nur schwer nachvollziehbar, wenn man weiß, wie unterschiedlich aufwendig, z. B. im Hinblick auf die eingesetzten Ressourcen, ein Elektroauto gebaut und auch betrieben wird, wenn z. B. der Strom aus der Steckdose mit einer aktuellen CO2-Produktion von 0,55 kg CO2 pro kWhel kommt oder der ethisch, politisch und ökologisch sehr umstrittene Batterierohstoff Lithium aus z. B. Kolumbien eingesetzt wird. Das aber sieht alles sofort ganz anders aus, wenn der Strom vollständig aus erneuerbaren Energien erzeugt wird und die Batterie, die das E-Auto mit Strom versorgt, revolutionär zu einhundert Prozent nachhaltig recycelt wird, so der neue DaimlerCEO bei der Technikmesse CES Anfang 2020 in Las Vegas. Da Daimler auch noch Kobalt, Lithium und andere seltene Erden vollständig ersetzen will, entsteht einerseits eine hohe positive Erwartungshaltung, andererseits aber auch eine Lieferverpflichtung. Die will man in etwa 15 Jahren als Serienfertigung einlösen. Wir sind gespannt. Die Autoindustrie braucht dringend Ziele, noch besser, klare überzeugende Konzepte, die jetzt umgesetzt werden. Wie o. a. gibt die EU-Politik nun klare Zielwerte vor. Wer diese nicht einhält, zahlt hohe Strafen. Aber die Politik gibt mit der Null-Emission bei Batterie- und Wasserstoff-E-Auto der Autobranche auch Steilvorlagen zur Umsetzung. Obwohl physikalisch bei der Produktion und im Betrieb keine Null-Emissionen entstehen, dürfen sie aber für die gesamte Produktionsflotte so rechnen und im Gegenzug selbst entscheiden, wie viel und welche Typen von Elektroautos sie nun bauen wollen. Hierfür müssen sie aber die gesamten Investitionen tragen. Real werden sie eine Mischkalkulation aufstellen:
x − Elektro − /Wasserstoffautos + y − Verbrennerautos = max.59 g CO2 /km. Somit können die Autounternehmen ihre ökologisch und ethisch streitbaren SUV in die Gesamtrechnung mit einbeziehen, sowohl als Elektro-SUV als auch als Diesel- und/oder Benzin-SUV. Der profitable SUV, aber auch die hoch profitablen Premiumautos werden automatisch unternehmerisch gerettet und finanzieren im Idealfall im Prinzip die Elektrofahrzeuge der Zukunft. Ob alle Arbeitsplätze erhalten werden können, darf bezweifelt werden. Mit der Forderung nach mehr elektrischen Fahrzeugen, neuen Mobilitätskonzepten im Allgemeinen und besonders in den Großstädten sowie der hierfür zwingend notwendige Ausbau der digitalen Transformation wird die Autobranche eng mit der Energiebranche zusammenarbeiten müssen. Beide müssen den Umgang mit intelligenten Daten lernen und über ihre jeweiligen Produktionsstätten ihre neuen Produkte funktionstechnisch, aber vor allem nachhaltig und
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klimaschonend überzeugend an den Mann bringen. Die deutsche Autoindustrie kann Autos mit sehr hoher Produktivität bauen, das Implementieren von vielen neuen digitalen Transformationsvorgängen auf Basis von noch mehr Daten müssen sie aber noch lernen oder dazu kaufen. Oder sie verschwinden vom Markt, weil sie beispielsweise von Google, Apple oder Amazon, oder, oder, oder gekauft werden. Wenn aber inmitten solch enormer Marktumwälzungsszenarien Porsche es schafft, sich mit seiner Elektro-Neuentwicklung auf Basis einer komplett neuen Smart-Factory-Plattform aktuell mit dem Elektropionier und aktuellen Marktleader Tesla zumindest mit einem Fahrzeugtyp ein technologisch und ökologisches Kopf-an-Kopf-Rennen zu liefern, lässt das wieder hoffen, mehr aber auch nicht. Beim Modern Automotive auf Basis Null-Emission sind wir noch nicht, noch lange nicht. Also, wie sehen Antriebe und Rohstoffe der Zukunft aus? Ist es der Elektromotor? Ist es der Wasserstoffantrieb? Oder doch der gute alte Verbrennungsmotor? Aus Sicht der vorliegenden These Null-Emission versus SUV müsste es der Elektromotor sein. Er verursacht ja schließlich da, wo er fährt, keine Emission, zumindest wenn man an CO2 und NOx denkt. Dummerweise benötigt er trotz seines unschlagbar hohen Wirkungsgrades viel Strom, am besten emissionsfreien bzw. erneuerbaren Grünstrom. Nur für alle 43 Mio. PKW auf deutschen Straßen reicht er nicht, schon gar nicht, wenn die anderen Branchen ebenfalls auf erneuerbare Energien umstellen wollen. Verschiedene Studien zeigen, dass 30 % realistisch wären. Der Verbrennungsmotor wird im Moment ziemlich heruntergemacht. Weltweit fahren rund eine Milliarde Fahrzeuge auf den Straßen und pro Jahr werden 100 Mio. Fahrzeuge gebaut. Sein großer Vorteil ist, dass Benzin und Diesel auf kleinem Raum viel Energie enthalten. Laut ZeitWissen (Boeng und Rauner 2020) entsprechen fünf Liter Diesel etwa 300 kg Lithium-Ionen-Batterie. Der Autor vermutet, dass einerseits dieses Missverhältnis an Energiespeicherung und andererseits der Grad an Zur-Verfügung-Stellung von erneuerbarem Strom die entscheidenden Gründe sind, warum es in Zukunft einen Mix von Antrieben geben wird. Der Elektromotor hat das Potenzial einer hundertprozentigen Reduktion von CO2, wenn genügend Wind-, Solar- und Biomasseenergien zur Verfügung stehen. Bei der derzeitigen Windkraftkrise wird das aber möglicherweise nicht gelingen. Solarenergie boomt, die Stromproduktion wird demnächst auch ohne Förderung wirtschaftlich interessant. Bei der Bioenergie stagniert die Biogasproduktion wegen der gekürzten Förderung im landwirtschaftlichen Bereich. Politisch wird die Biogasproduktion aus agrarischen und vor allem aus industriellen Bioreststoffen. Hier entstehen neue Potenziale innerhalb geeigneter Industrien, wie z. B. bei der Nahrungsmittel- und der Nahrungsergänzungsmittelproduktion. Der
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Vorteil der Bioenergie: Es können im Jahr in Höhe von 8000 h mit hoher Verfügbarkeit sowohl Grundlastenergie über Kraft-Wärme-Kopplung als auch über individuelle Speichersysteme gezielte Spitzenenergien in Form von Gas (Biogas, Erdgas, Biomethan, Wasserstoff oder auch Kohlendioxid) zur Verfügung gestellt werden. Mit der Möglichkeit aus Wasserstoff und Kohlendioxid z. B. direkt den Kraftstoff Methan (Erdgas, Biomethan) zu produzieren, haben wir jetzt schon eine deutliche CO2-Einspartechnik für die moderner ausgerichteten Automotives auf Verbrennungsmotorbasis. Andererseits können wir mit überschüssigen bzw. gezielt zwischengespeicherten Strommengen aus Wind, Sonne und Bioabfällen mit der Power-toGas-Technologie (PtG) aus Wasser emissionsfreien Wasserstoff und Sauerstoff produzieren. PtG-Technik ist aus Sicht des Autors eine der zentralen Zukunftstechnologien, die die Anforderungen sowohl aus der Energiewirtschaft als auch aus der Automobilbranche ideal vereinen kann. Herzstück einer der größten PtG-Anlagen in Deutschland im unterfränkischen Haßfurt ist ein 1,25 MW Elektrolyseur von Siemens. Er erzeugt im Nennbetrieb etwa 20 kg Wasserstoff, eine Menge, die ausreicht, um vier bis fünf Brennstoffzellenautos zu betanken (Schmiedel 2020, S. 14). Die Brennstoffzelle wiederum liefert den Strom für den Elektromotor. Der zugegebenerweise aufwendige Kreislauf ist geschlossen. Ein Teil des Wasserstoffs wird in das Erdgasnetz der Kommune eingespeist. Ein weiterer Teil wird dem Erdgas zugesetzt, das eine Haßfurter Mälzerei nutzt, um in ihren Block-Heiz-Kraft-Werken (BHKW) Strom und Wärme zu erzeugen. So soll laut Siemens erprobt werden, wie hoch der Wasserstoffanteil im Gasnetz unter realen Bedingungen sein kann. Seit Juni 2019 wird in Haßfurt zudem ein hochinnovatives Wasserstoff-BHKW zur Rückverstromung von regenerativ gewonnenem Wasserstoff eingesetzt (grüner Strom aus grünem Wasserstoff). Im Verkehrssektor kann also Wasserstoff als emissionsfreier Treibstoff dienen, und das nicht nur bei Autos mit Brennstoffzelle. Erste Busse und sogar Züge sind im Nahverkehr mit Wasserstoff unterwegs. Auch für den Schwerlast-, Schiffs- und Flugverkehr sind der Einsatz von klimaneutral produziertem Wasserstoff oder auf Basis von Wasserstoff erzeugte synthetische Treibstoffe in Zukunft eine denkbare Alternative. Laut heizungsjournal (Schmiedel 2020, S. 13) ist auf Basis von grünem Wasserstoff eine umweltschonende Herstellung sogenannter E-Fuels oder von synthetischem Methan, kurz E-Gas, möglich. Die Herstellung erfolgt, indem regenerativ erzeugter Wasserstoff und Kohlendioxid mit dem Sabatier-Prozess zu Methan umgewandelt werden. Mit einem anderen Verfahren, der sogenannten Fischer–Tropsch-Synthese, können auf Grundlage von Kohlendioxid und Wasserstoff flüssige synthetische Kraftstoffe wie E-Diesel,
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E-Benzin oder E-Kerosin hergestellt werden. Die Produktion ist aufwendig, aber es gibt unbestritten aussagestarke Vorteile, die im Falle der sich abzeichnenden Kooperation von Energie- und Autowirtschaft entscheidende wirtschaftliche Vorteile für die modernen Automobile bringt. Um den zweifelsohne steigenden Elektrifizierungsanteil zu finanzieren, muss die Autobranche emissionsarme Wege finden, ihre gewinnbringenden Verbrennungsmotoren zumindest für eine Übergangszeit weiterhin einzusetzen, z. B. mit den E-Fuels. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Autor als zuständiger Professor für Modern Automotive Engineering im Rahmen von verschiedenen AKAD-Projektarbeiten im Studiengang Maschinenbau mehrere Forschungs- und Entwicklungsarbeiten betreut, wie zum Beispiel den realen Praxisvergleich von Diesel und seinem synthetischen Alternativtreibstoff Gas-to-Liquid (GtL). Erste Ergebnisse lassen vorsichtig optimistische Prognosen zu.
6.2.1 Hinweise und Zwischenfazit Wichtig Aktuell erlaubt die Grundlage aller Aktivitäten der Gas- und Wasserwirtschaft, das DVGW-Regelwerk (DVGW: Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches), eine bis zu 5 %-ige Zumischung von Wasserstoff in örtliche Erdgasnetze. Für die Zukunft prüft man gerade eine 10 %-ige eventuell sogar bis zu 20 %-ige Zumischung. Dadurch wird langfristig sowohl für die Industrie als auch natürlich für die Autobranche der Faktor Erdgas und/oder Wasserstoff eine zentrale Position in Deutschland bzw. der EU einnehmen. So könnten wir bald von einem flächendeckenden Betankungsnetz sprechen, das sowohl Batterie- als auch Brennstoffzellen-Elektrofahrzeuge aber auch gasbetriebene Verbrennungsmotoren versorgt. Jedes Jahr kommen laut ZeitWissen (Boeng und Rauner 2020c) drei Millionen neue Autos dazu, bei insgesamt rund 42 Mio. PrivatPKW in Deutschland. Die alten werden aus dem Verkehr gezogen. Der Flottenaustausch durch neue Fahrzeuge bringt die Luftqualität in den Städten in wenigen Jahren wieder in Ordnung – ohne zusätzliche Maßnahmen. Die Themen Feinstaub und Stickoxide haben sich dann vermutlich erledigt und die aktuell gesellschaftlich größte Gegenströmung SUV mit hoher Wahrscheinlichkeit auch.
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E-Fuels bieten, wie auch Wasserstoff, die Möglichkeit, Energie in großen Mengen saisonunabhängig zu speichern und zu transportieren. Der große Vorteil: Die aktuellen Verbrennungsmotoren können schon jetzt ohne Umbauten genutzt werden, wobei die notwendige Infrastruktur mit dem aktuellen Tankstellennetz bereits besteht. Darüber hinaus lassen sich die synthetischen Treibstoffe auch dort einsetzen, wo die Elektrifizierung an ihre Grenzen stößt, wie z. B. im Schiffs- und Luftverkehr.
Soweit die mittel- und die unmittelbare Zukunft. Aber was können wir jetzt sofort machen? Auch da hat die Autobranche inzwischen Antworten. Beispiel VW Golf. Laut handelsjournal (Heide 2020) lassen sich mit dem Alternativkraftstoff Erdgas CO2-Emissionen im Fuhrpark kompensieren. Er ist mit einem sparsamen Motor ausgestattet und kann mit dem Compressed Natural Gas (CNG) noch sauberer verbrennen als beispielsweise das Autogas (LPG), bekannt als Liquefied Petroleum Gas. Aufgrund der potenziellen Stückzahl spielt dieser Golf in der Flotte des Weltmarktführers eine zunehmend wichtige Rolle, auch wenn nach außen, sprich medial, das Elektroauto klar dominiert. Wir Kunden kriegen nach wie vor nicht immer mit, was dort „läuft“ und was „nicht läuft“, Beispiel Dieselskandal. Der Durchschnittsneuwagen in der EU durfte bislang 130 g pro Kilometer ausstoßen. Seit Anfang 2020 sind es nur noch 95 g/km und ab 2030, wie schon erwähnt, nur noch 59 g/km. Genau genommen ist dies aber kein Grenz- sondern ein Zielwert. Mit anderen Worten, auch 2020 dürfen noch Autos mit höherem CO2-Ausstoß verkauft werden, wenn die Hersteller sie durch Fahrzeuge mit niedrigeren Werten in ihrer Flotte ausgleichen, Beispiel VW Golf. Zwei aktuelle Nachteile: Erstens: Das CNG-Tankstellennetz ist relativ dünn, denn es gibt nur 900 Tankstellen im ganzen Bundesgebiet. Zweitens: Man muss mit spitzem Bleistift rechnen, ob und wann sich die Mehrkosten des Antriebs in der Anschaffung amortisieren. Der ADAC hat für verschiedene Neuwagen mit Gasantrieb die günstigste Variante gegenüber Benzinern und Dieseln ausgerechnet. CNG kostet an der Tankstelle ca. einen Euro pro Kilogramm, das entspricht etwa einem Benzinpreis von 70 Cent. Durch das Energiesteuergesetz profitiert CNG von einem reduzierten Mineralölsteuersatz, vorerst nur bis 2026, ab 2024 wird sich der Steuervorteil stufenweise verringern.
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6.2.2 Zusammenfassung der zentralen Unterschiede der für die Zukunft so wichtigen Antriebssysteme (Boeng und Rauner 2020b)
Das Elektroauto lädt mit Strom aus einer Ladesäule die Batterie auf. Die elektrische Energie wird dann an den Elektromotor abgegeben, indem Magnetfelder die Radachse in Drehung versetzen. Die Energiedichte der derzeit besten Batterien, sie stecken meist im Unterboden, ist mit 0,25 kWh pro Kilogramm Batteriegewicht sehr niedrig. Das heißt: viel Batterie für wenig Kilometer. Das Brennstoffzellenauto ist genau genommen eine Variante des Elektroautos. Der Strom, der den Elektromotor antreibt, kommt hier aber nicht aus der Batterie, sondern aus der Brennstoffzelle, in der getanktes Wasserstoffgas zu Wasser „verbrannt“ wird. Wasserstoff hat mit 33 kWh pro Kilogramm die höchste Energiedichte aller Autokraftstoffe. Das Gas muss aber mit enorm hohem Druck von bis zu 800 Bar komprimiert und gespeichert werden. Es ist sehr flüchtig. Das Auto mit Verbrennungsmotor tankt Benzin oder Diesel. Der Kraftstoff wird im Motor verbrannt und treibt über Kolben die Räder an. Die Energiedichte ist mit rund 12 kWh pro Kilogramm Kraftstoff deutlich höher als die von Batterien, weshalb eine Tankfüllung ziemlich mühelos für die Fahrt von Hamburg nach München reicht. Aus Wasserstoff und Pflanzenresten oder industriellen Bioabfällen hergestelltes E-Fuel soll den Verbrenner CO2-neutral machen.
Um ein noch besseres Gefühl für die Antriebe der Zukunft und ihre Fahrzeugkonzepte zu erhalten, werden zunächst die für die Thematik Null-Emission so wichtigen Energiebilanzierungen vorgenommen. Zum Schluss wird der Einfluss von KI, der Künstlichen Intelligenz, auf die moderne Automobilwelt in den wichtigsten Aussagen dargestellt.
6.3 Wirkungsgrade und Energiebilanzierung Mercedes setzt auf batterie- und brennstoffzellenbasierende Elektroautos. Laut Prof. Dr. Christian Mohrdieck, Geschäftsführer der Mercedes-Benz Fuel Cell GmbH und verantwortlich für die Brennstoffzellenentwicklung im Daimler-
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Konzern, erreichen moderne Brennstoffzellen (BZ) einen Wirkungsgrad von bis zu 83 %, das Gesamtfahrzeug kommt auf gut 50 %. Elektroautos auf Batteriebasis kommen auf 90 %. Verluste entstehen hier vor allem beim Schnellladen, dann kann der Wirkungsgrad auf 75 % sinken. Aber: Die BZ hat laut Mohrdieck heute schon einen etwa doppelt so hohen Wirkungsgrad wie ein Verbrennungsmotor. Entsprechend ist die Gesamtenergiebilanz deutlich besser. Wichtig: Bei der BZ handelt es sich um einen Energiewandler, sie wandelt Wasserstoff zu elektrischem Strom. Deshalb kann ein solches System nie genauso effizient sein wie eine Batterie, die ein Energiespeicher ist. Diese Schwäche ist laut Mohrdieck jedoch auch gleichzeitig eine Stärke: Die Abwärme des BZ-Systems kann zusätzlich für die Beheizung der Fahrzeuge genutzt werden (Winterbetrieb!). Betrachtet man die ganze Kette von der Wasserstofferzeugung bis zur Umwandlung in elektrische bzw. kinetische Energie, kommt man laut Mohrdieck tatsächlich auf einen Wirkungsgrad von nur noch 29 bis 32 %. Damit ist das BZ-Auto nur geringfügig besser als ein Benziner (22 %) oder Diesel (25 %). Aber auch das reine Elektroauto ist bei einer Wellto-wheel-Betrachtung (inklusive konventioneller Stromerzeugung) nur minimal besser als das BZ-Auto. Entscheidend für die moderne Automotive-Welt: Der Strom muss CO2neutral erzeugt werden, dann wird er in einem Wasserbecken Wasserstoff an der Kathode und Sauerstoff an der Anode produzieren. Fertig ist der Betrieb der grünen Elektrolyse. Wenn beide Produkte wieder zusammengeführt werden, z. B. über eine BZ, wird wieder Strom und natürlich als „Abfall“ Wasser produziert, ein äußerst einfacher und überzeugender Kreislauf. Wie gesagt, nur wenn der Strom CO2-neutral erzeugt wird. Die Elektrolyse hat zwar einen Wirkungsgrad von 60 bis 70 %, aber der Wasserstoff wird ja anschließend wieder in Strom umgewandelt. Diese doppelte Umwandlung hat den o. a. negativen Effekt auf den Wirkungsgrad. Geht man von der CO2-neutralen Stromerzeugung aus, verliert die Wirkungsgrad-Diskussion an Bedeutung. Dann tritt die Speicher- und Transportfähigkeit in den Vordergrund. Warum? Bei erneuerbarer Energiegewinnung wie bei Wind und Sonne, muss mit großen Spitzen und Flauten gerechnet werden. Experten rechnen deshalb mit 200 bis 300 Terrawattstunden, die gespeichert werden müssen. Dazu kommt, dass oft an verschiedenen Stellen Energie erzeugt, aber auch nicht genutzt wird. Dazu passt die Wasserstofferzeugung als Zwischenspeicher perfekt. Strom speichern über Batterie ist viel teurer. Übrigens: Die aktuell laut auto-motor-sport.de erzeugte Menge an Wasserstoff reicht für etwa 750.000 Autos. Wenn man bedenkt, dass allein die Chemie- und die Stahlbranche im Zuge ihrer Dekarbonisierungsmaßnahmen zukünftig auf
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Wasserstoff umstellen, würde vermutlich so viel Wasserstoff erzeugt, dass die Versorgung aller Autos in Deutschland kein Problem darstellen würde, so die mutige Hypothese des Autors. Die CO2-Bilanz der Fahrenergie fürs batterieelektrische Auto spielt eine entscheidende Rolle bei der Dekarbonisierung und für die politischen Klimaziele in Deutschland. Ergo, wie sieht die zukünftige Versorgung mit CO2-neutralem Strom aus regenerativen Energiequellen aus? Ein CO2-Wert pro Kilowattstunde (kWh) liegt für das Jahr 2019 noch nicht vor, weil das Umweltbundesamt (UBA) mit Verzögerung veröffentlicht. 2018 betrugen die CO2-Emissionen 474 g pro kWh; ein Minus laut UBA von 38 % gegenüber 1990. Für 2019 gehen Fachleute von einer Reduktion von über zehn Prozent gegenüber 2018 aus, also von gut 400 g CO2/kWh (Electrive.net 2020). Das sind vielversprechende kleine Schritte. Ihre Auswirkungen bzw. Hochrechnungen für unsere schadstoff- und treibhausgasarme Luft erkennt man in dem folgenden Beispiel. Eine kleine Überschlagsrechnung für ein populäres E-Auto
Ein Tesla Model 3 verbraucht im Realbetrieb 18,1 kWh/100 km. Legt man den 2018er-Wert zugrunde, ergeben sich daraus 85,8 g CO2 pro km. Hierbei ist anders als bei fossilen Kraftstoffen die Vorkette der Produktion berücksichtigt. Wie hoch die CO2-Emissionen für Förderung am Bohrloch, Schiffstransport, Raffinerie und Tanklastzug sind, kann nur geschätzt werden – der ADAC Ecotest geht mit Zahlen der EU von rund 20 % aus. (Quelle: Prof. Quaschning in Electrive.net (2020)). ◄ Zwischenfazit Ein PKW mit Verbrennungsmotor dürfte also 71,5 g CO2 pro km ausstoßen, um einen CO2-Gleichstand zu erzielen. Und das wiederum wären 3,1 L Benzin oder 2,7 L Diesel im echten Straßenverkehr – Autos mit Verbrennungsmotor verbrauchen aber heute etwa das Doppelte.
Wichtig An dieser Stelle erinnern Sie sich bitte an die o. a. EU-Regelung für die Autoindustrie. Ab 2030 hat der maximale CO2-Wert der insgesamt produzierten Flottenfahrzeuge 59 g/km zu betragen.
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Um diesen relativ großen Unterschied zwischen Realität und strategischer Modellrechnung tatsächlich auch physikalisch gegen null zu führen, muss die CO2-freie Stromerzeugung mittelfristig im gesamten Bundesgebiet funktionieren. Der Ist-Zustand 2019 ist den Grafiken Abb. 6.1 und 6.2 zu entnehmen (Burger 2020a, b). In einem konkreten Anwendungsfall könnte der Ladevorgang eines E-Autos zum Beispiel genau dann starten, wenn besonders viel Strom durch die Photovoltaikanlagen bereitgestellt wird. Dies kann zur Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten steht, der Fall sein. Doch das manuelle Starten und Regulieren des Ladevorgangs in genau solchen Situationen ist unpraktikabel. Hier könnte Künstliche Intelligenz in Echtzeit für Abhilfe sorgen. Je mehr zeitliche Flexibilität vom Fahrer eingeräumt wird, desto intelligenter und somit effizienter kann auch geladen werden. Dadurch ist es möglich, dem E-Auto-Fahrer, welcher im entsprechenden Wohn- oder Stadtquartier beheimatet ist, zeitabhängige Ladestrom-Tarife anzubieten. So zahlt dieser für intelligent genutzten Quartiersstrom vielleicht nur 11 Cent pro kWh statt jene 39 Cent, welche aktuell von großen Energieunternehmen häufig für Ladestrom verlangt werden. Der wirtschaftliche Anreiz über sogenannte KI-Plattformen wäre interessant und auch möglich. Aber drei energietechnische Gründe sprechen noch klar dagegen: • Die dringend erfolgreich fertigzustellende Energiewende, ist sowohl politisch als auch technisch noch weit davon entfernt, wirklich ernst genommen zu werden. • Aktuell sind wir bezüglich beliebiger Nutzung von CO2-freiem Strom, also beispielsweise mittags bei blauem Himmel, noch „54 % entfernt“, denn: Der tägliche EE-Anteil an der öffentlichen Nettostromerzeugung lag 2019 zwischen 15,9 % am 24.01.2019 und 77,2 % am 08.06.2019, im Mittel bei 46 % (Burger 2019c). • Trotz hoher Einstrahlungswerte im Sommer war die Solarstromerzeugung zu klein, um den Einbruch bei der Nutzung der Windenergie zu kompensieren. Die installierte Solarleistung ist im Verhältnis zur installierten Windleistung zu klein (Burger 2019d). Die größte Herausforderung für die Energiewirtschaft in Deutschland wird sein, vollständig CO2-freien Strom mit 100 %-EE-Anteil und mit 100 % Verfügbarkeit zur Verfügung zu stellen. Aus dieser Sicht wird ein 100 %-Elektroautoverkehr
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Abb. 6.1 Nettostromerzeugung zur öffentlichen Stromerzeugung (Burger 2020a)
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Abb. 6.2 Anteil erneuerbarer Energien an der öffentlichen Stromerzeugung (Burger 2020b)
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aus Sicht des Autors auszuschließen sein. Nur durch die gleichzeitige Berücksichtigung von alternativen dekarbonisierten Kraftstoffen in Verbrennungsmotoren und die Einbeziehung der Sektoren Gebäude, Wärme und Mobilität wird mit dezentralen Energiekonzepten eine emissionsfreie Mobilität ermöglicht.
6.4 Modern Automotive – Umstellung auf Zukunft Die großen Chancen Deutschlands und Europas liegen laut Marktforschern insbesondere in der industriellen Anwendung von KI-Methoden. Es werden jährliche Zuwachsraten in zweistelliger Größenordnung prognostiziert. Die zukünftige Mobilitätswelt wird ein großer Teil dieser Zukunftswelt werden. Ohne KI werden sich technische Lösungen und Prozesse nicht genügend schnell und erfolgreich wandeln. Mit dem Werkzeug KI kann man die Autonomie von Systemen sukzessive in neue Niveaustufen führen. Das moderne Zukunftsfahrzeug ist hierbei ein Paradebeispiel, dessen ist sich der Autor sicher. Die deutschen Autogiganten werden es aber nicht allein schaffen. Traditionell legten sie Wert auf die stetige Perfektionierung ihrer Produkte. Man bilanzierte aber auch stets ohne Waste-Management, d. h. nach dem Verkauf haftete der Käufer für die Nutzung und für die Entsorgung. In Zukunft werden serviceorientierte, datengetriebene Geschäftsmodelle immer wichtiger. Die Wertschöpfung verlängert sich auf die Nutzungsphase des Produktes, da Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaftsprinzip vorgegeben werden. Die Autoindustrie muss sich entscheiden. Durch die zwingende Einhaltung der Klimaschutzziele muss auf kluge Elektrokonzepte und alternative Kraftstoffe schnellstmöglich umgestellt werden. Hierzu braucht die deutsche bzw. europäische Autoindustrie eine enge Kooperation mit der deutschen bzw. europäischen Energiewirtschaft. Der Faktor Strom ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche Führungsgröße, sondern auch plötzlich das Zünglein an der Waage, wenn es um emissionsarme Antriebskonzepte und immissionsarme Innenstädte, sprich: moderne Mobilitätskonzepte, geht. Laut Ifo Schnelldienst (Buchal 2019) werden in Deutschland ab 30 % Marktanteil von Wind- und Solarstrom Wasserstoff- und Methan-Autos gesamtenergetisch gesehen, wegen der Speicherfähigkeit, richtig interessant. Im Moment sind es 25,2 %. Der bescheidene Wirkungsgrad rückt in dem Moment in den Hintergrund. Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit benötigen Wind und Sonne konventionelle Kraftwerke (Kohle und/oder Gas) als Komplimente (Kohleausstieg ja, Kraftwerkstilllegung nein?). Die Überschuss-Stromspitzen der erneuer-
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baren Energien sind gezielt zur Produktion von Methan- und Wasserstoff bzw. synthetischer Kraftstoffe/Gase einzusetzen. Die Produktion von synthetischem Methan aus regenerativ per Elektrolyse erzeugtem Wasserstoff ist beispielsweise technisch gesehen einsatzbereit, wirtschaftlich jedoch noch weit vom Zielwert entfernt.
Im Sinne der Technologieoffenheit und wettbewerblichen Energiepreisentwicklung plädiert der Autor neben direkter CO2-freier Stromnutzung dafür, grünes Methan und grünen Wasserstoff, bei Bedarf auch zur indirekten Stromnutzung in der zukünftigen Automobilwelt, besonders zu fördern. Mit den bereits zur Verfügung stehenden und den neuen KI-Werkzeugen werden die Modern Automotives mit hoher Wahrscheinlichkeit emissionsfrei, aber nicht SUV-frei.
Literatur Boeng, N., & Rauner, M. (2020). Nachhaltigkeit Spezial: Mobilität der Zukunft. ZeitWissen, Nr. 1 (Januar-Februar 2020), 65-69. Buchal, C., Karl, H.-D., & Sinn, H.-W. (2019). Kohlemotoren, Windmotoren und Dieselmotoren: Was zeigt die CO2-Bilanz? Ifo Schnelldienst, 72(8), 42–54. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020). Europäischer Klima- und Energierahmen 2030. https://www.erneuerbare-energien.de/EE/Navigation/DE/Recht-Politik/ EU_Klima_Energierahmen/eu_klima_und_energierahmen.html. Zugegriffen: 23. März 2020. Burger, B. (2020a). Nettostromerzeugung zur öffentlichen Stromversorgung Jahr 2019, Fraunhofer ISE, 07.01. https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ise/de/documents/ news/2019/Stromerzeugung_2019_2.pdf und www.energy-charts.de. Daten: DESTATIS und Leipziger Strombörse EEX, Bild 10. Zugegriffen: 26. März 2020. Burger, B. (2020b). Anteil erneuerbarer Energien an der öffentlichen Nettostromerzeugung, Jahr 2002–2019, Fraunhofer ISE. https://www.energy-charts.de, Bild 21. Zugegriffen: 26. März 2020. Burger, B. (2020c). Täglicher Anteil erneuerbarer Energien an der öffentlichen Nettostromerzeugung, Jahr 2019, Fraunhofer ISE. https://www.energy-charts.de, Bild 22. Zugegriffen: 26. März 2020. Burger, B. (2020d). Monatliche Wind- und Solarstromerzeugung Jahr 2019, Fraunhofer ISE. https://www.energy-charts.de, Bild 30. Zugegriffen: 26. März 2020. co2online gGmbH (2020). CO2-Ausstoß und Klimabilanz von Pkw. https://www. co2online.de/klima-schuetzen/mobilitaet/auto-co2-ausstoss/. Zugegriffen: 24. Juni 2020. Electrive.net (2020). Branchendienst für Elektromobilität, Elektroautos: Wie sauber ist derFahrstrom?EineEntwicklungsbilanz.https://www.electrive.net/2020/01/13/elektroautoswie-sauber-ist-der-fahrstrom-eine-entwicklungsbilanz/. Zugegriffen: 26. März 2020.
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Heide, F. (2020). Vollgas von A nach B. Handelsjournal, 02, 54. https://handelsjournal.de/ unternehmen/flotte/artikel/artikel-2020/voll-gas-von-a-nach-b.html. Zugegriffen: 20. Sept. 2020. Schmiedel, G. (2020). Grüner Wasserstoff Status quo und Zukunft. Heizungsjournal, 1–2, 13-14. Wikipedia (2020). Definition Keeling-Kurve. https://de.wikipedia.org/wiki/Keeling-Kurve. Zugegriffen: 23. März 2020.
Prof. Dr.-Ing. Rainer Gottschalk ist Professor für Maschinenbau und Erneuerbare Energien an der AKAD University. So entwickelt er gerade die neue Vertiefungsrichtung Modern Automotive Engineering. Neben umfassenden Erfahrungen in der Großindustrie der Chemie und des Maschinenbaus sowie der Energiewirtschaft, gründete er sein Ingenieurbüro für Energiesystemlösungen. Über viele Jahre hinweg entwickelte, plante, baute und betrieb er dezentrale, neue zukunftsweisende Energiekonzepte. Parallel arbeitete er mit verschiedenen Hochschulen an wissenschaftlichen Detailfragen für die Praxis. An der Fachhochschule Offenburg übte er für mehrere Jahre eine Lehrtätigkeit aus.
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Case Study: Digital Intelligence Hub als Knowledge Center der digitalen Transformation in einer heterogen strukturierten Einzelhandelsunternehmensgruppe Axel Poestges Inhaltsverzeichnis 7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 7.2 Was macht digitale Transformation aus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7.3 Digitale Transformation im Schuhhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 7.4 Gestatten: Accent Group Limited, Australien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 7.5 Flächendeckende digitale Kompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 7.6 Voice of the Customer und Feedbackmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 7.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Zusammenfassung
Das anschauliche Beispiel einer internationalen Retail-Unternehmensgruppe zeigt, wie wichtig digitales Know-how und KI-Einsatz für den Erfolg der digitalen Transformation sind.
A. Poestges (*) Schömberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_7
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7.1 Einleitung Hätten Sie gedacht, dass Schuhgeschäfte, digitale Transformation und Künstliche Intelligenz viel miteinander zu tun haben können? Ich ursprünglich auch nicht, bis ich in einem anderen Zusammenhang auf das Beispiel der Accent Group in Australien gestoßen bin. Der beispielhafte Erfolg dieser Unternehmensgruppe in Sachen digitale Transformation hat mich schließlich neugierig gemacht. Klar, auch Einzelhändler müssen ihr Geschäft an digitalen Infrastrukturen ausrichten so gut es geht und das kann eine große intellektuelle, technische und materielle Herausforderung sein. Die großen digitalen Triebfedern wie soziale Netzwerke, Cloud, mobile Plattformen und Big Data haben nahezu alle Branchen massiv und nachhaltig verändert. Die Einflusspfade variieren von Branche zu Branche, je nachdem wie sich die Wechselwirkungen zwischen Ausprägungen der Digitalisierung und den Bausteinen des Geschäftsmodells darstellen. Ob und wie stark Digitalisierungstreiber dann auch zu Komplexitätstreibern werden, hängt von der individuellen Branchen- und Unternehmenssituation und dem Grad der digitalen Reife ab. Unternehmen können durch digitale Veränderungen in ihren Geschäftsmodellen schneller, effizienter und besser werden. Die Herausforderung für den RetailBereich besteht darin, mit diesen Veränderungen Schritt zu halten und nicht auf halbem Weg hängen zu bleiben. Sie kennen doch auch bestimmt ein Schuhgeschäft Ihres Vertrauens. Haben Sie wirklich – von der modernen Registrierkasse einmal abgesehen – digitale Assoziationen, wenn Sie dort einkaufen? Sehen Sie, es fehlen auf den ersten Blick die digitalen Aufhänger. Bei der Herstellung schnelllebiger technischer Gebrauchsgüter mit IoT und anspruchsvollen Technologien an jeder Ecke ist das ganz anders. Deshalb taucht die Retail-Branche auch regelmäßig in den Schlagzeilen auf. Bekannte Namen verschwinden von der Bildfläche und andere müssen Läden schließen. Umsätze und Margen sind bei der Mehrzahl der Unternehmen schon länger eher schmal. Aber es gibt auch etliche positive Beispiele. Viele Einzelhändler haben sich frühzeitig mit den Veränderungen der Verbrauchergewohnheiten und der Bedeutung digitaler Technologien in ihrer Branche auseinandergesetzt. Die digitale Transformation im Einzelhandel ist ohne Zweifel eine große Herausforderung. Das hat der Chief Executive Officer der Accent Group in Australien schon sehr früh erkannt. Absolute und durchgängige Kundenorientierung war immer schon eine Maxime seines Unternehmens. Investiert wurde nur entsprechend der Kundenwünsche und -forderungen. Angesichts der organisatorischen und regulativen Unterschiede in der Unternehmensgruppe (Restriktionen durch
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andbedingungen wie Marken, Logistik, Zielgruppen etc.) sind die Kunden fast R schon das einzige verbindende Element. Für die digitale Umsetzung der Kundenforderungen war das Vorhandensein flächendeckender digitaler Fähigkeiten und Fertigkeiten eine absolut erfolgskritische Voraussetzung. Mit der Einrichtung eines digitalen Intelligenz-Hubs, der über Shared Services alle Mitglieder der Unternehmensgruppe bei der Umsetzung der digitalen Vision entsprechend unterstützt, wurde die erste wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche und nachhaltige Umsetzung der digitalen Vision geschaffen. Kundenwünsche, Erwartungen und Forderungen sind leider nicht immer unmittelbar und klar abgreifbar. Je zahlreicher und vielschichtiger die digitalen und analogen Kanäle für Kommunikation und Interaktion mit den Kunden sind, desto schwieriger wird es, Botschaften zu extrahieren. Das Big-Data-Problem meint nicht nur Datenmenge, sondern auch Volatilität und Formatvielfalt. Konsolidierung und Analyse sind die größten Schwierigkeiten. Die Accent Group konnte diese Herausforderungen durch die Nutzung Künstlicher Intelligenz erfolgreich meistern und trotz Feedbackflut die hohe Priorität der Kundenmeinung beibehalten. Natürlich gehört zu einer erfolgreichen digitalen Transformation mehr als Künstliche Intelligenz und digitales Know-how. Ein offensichtliches Erfolgsgeheimnis der Accent Group lässt sich aber zweifelsohne vom Schuhhandel auf jedes Unternehmen übertragen. Der CEO der Accent Group hat es mit einem Satz auf den Punkt gebracht: „Solange Sie sich an den Wünschen Ihrer Kunden ausrichten, müssen Sie sich um Ihren Geschäftserfolg keine Gedanken machen.“ Dass er damit richtig liegt, bestätigt der nachhaltige Erfolg des Unternehmens. Eine detaillierte Wiedergabe der digitalen Erfolgsgeschichte der Accent Group würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Aber die Konzentration auf zwei wichtige Fundamente der Digitalisierungs-Erfolgsgeschichte von Accent sind schon hinreichend, um dieses Phänomen zu erklären.
7.2 Was macht digitale Transformation aus? Digitale Transformation nutzt digitale Technologien, um neue bzw. von den Märkten erwartete und geforderte Geschäftsmodelle, -prozesse und vor allen Dingen Kundenerlebnisse realisieren zu können. Die Randbedingungen für diese Veränderungen sind von Produkt zu Produkt und Branche zu Branche unterschiedlich. Digitale Technologien im Produkt erschließen neue Funktionalitäten und Dienstleistungsoptionen. Digitale Technologien in Prozessen erschließen neue Rationalisierungspotenziale. Digitale Technologien in der Infrastruktur
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eröffnen neue Wege der Kundenkommunikation und -interaktion. Um dem sprunghaften Wandel der Business- und Zielgruppenanforderungen folgen zu können, müssen individuelle Chancen identifiziert und adressiert werden. Die Neuorientierung in der Ära der Digitalisierung führt über die digitale Transformation zu einer Business-Transformation. Dazu muss ein Unternehmen sich von einigen überkommenen Strukturen trennen. Gerade im Einzelhandel wird die Macht der Kunden und die Vielfalt der neuen Kanäle, die Kunden auf dem Weg vom Kaufanreiz zur Kaufentscheidung nutzen können, immer deutlicher. Diese Konstellation verlangt eine Entzerrung der traditionell starren Verbindung von Strategie und Geschäftsmodell. Kunden entwickeln mit digitalen Technologien neue Kommunikationskanäle und Interaktionsprofile, die hochvolatil sind und die „König Kunde“ ständig seinen Erkenntnissen und Bedürfnissen anpasst. Diese neue Volatilität verträgt sich nicht mit starren Strukturen. Gerade der Retail-Bereich hat diese Forderung in teilweise schmerzlicher Form erfahren müssen (Abb. 7.1). Veränderungen durch die digitalen Treiber gehen weit über traditionelles Rollenverständnis in Vertrieb, Marketing oder Service hinaus. Digitale Transformation beginnt mit der richtigen Portion Kundenempathie in Ihrem Kopf. Natürlich ist die Digitalisierung der wertschöpfenden, unterstützenden und administrativen Tätigkeiten im Unternehmen eine Aufgabe mit hoher Priorität. Echte und nachhaltige Wettbewerbsvorteile bringt Digitalisierung aber nur dort, wo Kundenerlebnisse positiv gestaltet werden können, da wo nicht der Profit am Produktverkauf, sondern der Lifetime Value eines Kunden maximiert werden kann. Digitale Transformation hat in jeder Branche und in jedem Unternehmen ein anderes Profil, abhängig auch vom individuellen digitalen Reifegrad. Die digitale Herausforderung heißt also, die richtigen Dinge richtig tun. Das klappt nirgendwo so gut wie im Einzelhandel. Sie werden fragen, warum? Der Kunde ist permanent präsent – physisch, logisch und vor allen Dingen digital! Der Kunde stöbert im Internet, verfolgt Ihre Marketingaktivitäten, besucht Ihre Ladenlokale usw. – Mit anderen Worten: Der Kunde ist nirgendwo so omnipräsent wie im Einzelhandel. Erst wenn Digitalisierung den Kunden zu höherwertigen Einkaufserlebnissen verhilft, stellt sich der Geschäftserfolg ein. Und da der Kunde seine Reise vom Kaufanstoß bis zur Kaufentscheidung häufig ändert, wird nur die entsprechende Flexibilität des Geschäftsmodells die Erreichung der strategischen Ziele unterstützen können. Für den Geschäftserfolg im Einzelhandel gilt in verstärktem Maß, dass die digitale Transformation nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie über die entsprechenden Elemente des Geschäftsmodells zu einer digitalen Business-Transformation führt (Abb. 7.2).
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Digital getriebenes Unternehmen • hochvolatiles Umfeld • Wettbewerbsintensität • Instabilität
Traditionelles Unternehmen • Mittelfristplanbarkeit • wenig volatiles Umfeld • Kontinuität
Strategie
Digitalisierung führt zu einer Entzerrung
Strategie
Geschäftsmodell Geschäftsmodell • quasistatisches Geschäftsmodell • fixe Businessstrukturen
• digital getriebenes Geschäftsmodell • Markt bestimmt die Business-Strukturen
Abb. 7.1 Entzerrung von Strategie und Geschäftsmodell
Geschäftsmodell
Digitale Business-Transformation Aus analogen Daten nutzbare digitale Informationen erzeugen
Verwendung digitaler Informationen zur Integration von Prozessen
Technologie unterstützt unternehmensweite Bereitstellung von digitalen Informationen
Digitale Technologie und Informationen erzeugen positive Kundenerfahrungen
Digitale Transformation von Prozessen und Funktionen
Abb. 7.2 Von der digitalen Transformation zur Business-Transformation
In den letzten Dekaden haben viele der Groß- und Einzelhändler ihre Geschäftsmodelle marktgetrieben modifiziert und weiterentwickelt. Einige waren damit erfolgreich und haben überlebt, andere sind der Insolvenz ein gutes Stück nähergekommen oder sind bereits vom Markt verschwunden. In den letzten Jahren haben sich erfolgreiche Retailer auf eine besondere Art und
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Weise weiterentwickelt. Der Grund dafür ist in der konsequenten Umsetzung der Omnichannel-Strategie zu suchen. Unternehmen, die sich ausschließlich auf den traditionellen, meist katalogbasierten Handel konzentriert haben, sind vom Aussterben bedroht bzw. schon ausgestorben. Da findet man ehedem sehr erfolgreiche Unternehmen wie zum Beispiel Quelle oder Neckermann. Dabei liegen die Dinge im Retail-Bereich eigentlich relativ einfach. Während in vielen Unternehmen der Investitionsgüterindustrie die Wechselwirkungen zwischen Geschäftsmodell und Digitalisierung sehr komplex sein können, sind die Dinge im Einzelhandel sehr klar und einfach. Digitalisierung wirkt sich primär im oberen rechten Areal des Geschäftsmodells sowie auf der Ebene der Managementsysteme aus. Zielgruppenmanagement, Kundenkommunikation, -interaktion sowie -bindung, Customer Experience Management und Enterprise Feedback Management sind im Einzelhandel die mit großem Abstand wichtigsten Bausteine mit hoher digitaler Affinität. Getrieben vom digitalen Fortschritt entwickelt sich die Retail-Branche in ebendiesen Feldern mit teilweise beachtlicher Geschwindigkeit. Suning, Alibaba oder Amazon sind schon längst auf dem nächsten Level der digitalen Einzelhändler-Maturity angekommen und setzen die neuen Standards, die sie aus dem Feedback der Kunden von heute extrahieren konnten. Der überlebenstaugliche Retailer setzt digitale Technologien ein, um viele Daten zu sammeln und zu analysieren. Künstliche Intelligenz hilft, das Big-Data-Problem zu adressieren und mit relevanten und kontextbezogenen Informationen den Grad der Kundenorientierung nachhaltig zu erhöhen. Einzelhändler dürfen nicht auf dem derzeitigen Niveau des Multi- bzw. Omnichannel-Managements stehen bleiben. Sie müssen eine veränderte DNA quasi als Überlebenssicherung entwickeln. Die Digitalisierung ist hier die treibende Kraft. Seit einigen Jahren hat die Digitalisierung das Handelsgeschäft nachhaltig verändert. Kundenverhalten und Wettbewerbsmechanismen haben sich grundlegend gewandelt und werden sich in Zukunft weiter verändern. Nur wenn Digitalisierung in der Konsequenz wirklich positive Kundenerfahrungen generieren kann, bietet sich damit mittel- und längerfristig eine reelle Chance die Wettbewerbspositionen zu halten bzw. auszubauen.
7.3 Digitale Transformation im Schuhhandel Was ist nun das Besondere an einer digitalen Transformation im Schuhhandel und welche Ausprägungen machen den Unterschied? Eigentlich spielt es keine Rolle, ob ich Gartenmöbel oder Schuhe verkaufe. Das Erfolgsgeheimnis heißt
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in jedem Fall Kundenempathie und der Weg dorthin kann nur über eine entsprechende Veränderung von Geschäftsmodell und Mindset führen. Es geht darum, ein Handelsunternehmen von einem produktorientierten in ein kundenorientiertes Geschäftsmodellverständnis zu überführen und in diesem Wandel alle Optionen einer digitalen Transformation bestmöglich und nachhaltig zu nutzen. Anstatt billig einzukaufen, teuer zu verkaufen und die Geschäftsprozesse zwischen Beschaffung und Vertrieb zu optimieren, müssen sich die Einzelhändler in Richtung einer digital affinen Wertschöpfungskette entwickeln. Der Einzelhandel muss lernen, sich auf das Sammeln von Daten (über Produkte, Kunden und Standorte etc.) unter Nutzung aller neuen digitalen Quellen zu fokussieren. Diese Daten müssen dann in entscheidungsrelevante Informationen umgesetzt werden, damit sie als Basis für anstehende Managemententscheidungen dienen können. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe wird man zwangsläufig mit dem BigData-Problem konfrontiert. Käufer bewegen sich schwer kalkulierbar auf der Customer Journey. Zielgruppen ändern sich in ihrem Interaktions- und Kaufverhalten kontinuierlich. Prognosen sind nur schwer möglich. Produkte selbst liefern Daten von der Gängigkeit angefangen über Profile, Nutzungsparameter bis hin zur Kundenakzeptanz und so weiter. Gerade im Einzelhandel liegt ein Teil des Erfolgsgeheimnisses offenbar nicht in der steten Geschäftsprozessoptimierung, sondern vielmehr in der dem Geschäftsmodell angemessenen Sammlung von Daten und der Extraktion von entscheidungs- und kontextrelevanten Informationen als Basis für Managemententscheidungen. Digitale Innovationsprojekte sind umso erfolgreicher, je schneller Daten in Informationen transformiert und diese in Managemententscheidungen und letztlich in Innovationsprojekten münden. Gerade im Einzelhandel bestimmt einzig der Kunde, wie geschäftlicher Erfolg erreicht werden kann. Jeder Kunde hat seine individuelle Art und Weise, mit Unternehmen zu interagieren. Jeder Kunde hat seine ganz speziellen Erwartungen an Qualität und Nachhaltigkeit von Erlebnissen und die Berücksichtigung seiner individuellen Ansprüche. Digitale Transformation im Einzelhandel heißt also – auf einen einfachen Nenner gebracht – weg von der margenoptimierenden Sicht der Abläufe hin zu einem datenanalysierenden Ansatz mit dem Ziel einer Geschäftsmodellinnovation, zumindest aber einer anforderungsgerechten Geschäftskonzeptanpassung. Dem entgegen steht im traditionellen Einzelhandel ein teilweise stark ausgeprägtes organisatorisches Beharrungsvermögen gerade bei aus kleinen Ursprüngen gewachsenen Einzelhandelsunternehmen. Auch die Accent Group hat lange gebraucht, um aus Schuhläden attraktive, einladende und erlebnisorientierte Zentren zu machen. Hinzu kommt ein gewisser intellektueller Schongang, der sich in mangelnder Bereitschaft äußert, in den Schuhen des Kunden zu laufen.
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Da gab es vor gar nicht so langer Zeit eine Studie im Einzelhandel für technische Konsumgüter, die zu dem Schluss kam, dass viele Verkäufer erst mal auf Tauchstation gehen, wenn ein Kunde das Geschäft betritt. Auch der Umgang mit neuen Technologien ist oftmals im Einzelhandel eine schier unüberwindbare Hürde. Viele Einzelhändler sind mit der sachgerechten Bedienung ihrer Registrierkasse schon heillos überfordert. Wie sollen sie da eine Präsenz in sozialen Netzwerken realisieren? Der Einzelhandel bringt also eine Vielzahl von Hemmnissen und Stolpersteinen mit, die den Weg hin zum digitalen Geschäftsmodell nicht unbedingt eben und gerade erscheinen lassen. Um so interessanter ist es zu sehen, wie elegant dennoch eine digitale Transformation im Einzelhandel gerade in kompetitiven Marktsegmenten ablaufen kann (Abb. 7.3). Betrachtet man den Ablauf des Projektes der digitalen Transformation bei der Accent Group auf der Zeitleiste, so werden recht schnell die zwei besonderen Schwerpunkte deutlich. Die Auswertung von Kundenfeedback hat bei Accent Tradition, um an diesen Informationen die zukünftigen Managemententscheidungen für noch mehr Kundenempathie ausrichten zu können. Die erste Initialzündung war der Wunsch der Kunden, physisches und logisches Kauferlebnis örtlich voneinander zu trennen. So entstand Click & Collect als erster Meilenstein der digitalen Transformation. Die Kunden konnten daheim aussuchen und im Geschäft anprobieren und kaufen. Das hatte natürlich Auswirkung auf die Warenwirtschaftssysteme, die mit diesen neuen Prozessen zurechtkommen mussten. Der nächste Schritt war die Realisierung der Kundenwünsche, die daheim ausgesuchten Artikel auch am folgenden Tag in der
Abb. 7.3 Schwerpunkte/Meilensteine des Gesamtprojektes
Kundenbindung
Produkte und Services
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Zielgruppenzugang
Zielgruppen
Prozesse und Strukturen
Strategische Partnerschaften
Ressourcen
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Managementsysteme z.B. Feedback-Management, Qualitäts-Management etc. Umsatz-Quellen
Kosten-Strukturen
Soziale Verantwortung
Geschäftsethik
Abb. 7.4 Retail-relevante Areale des Geschäftsmodells
nächstgelegenen Filiale der Accent Group begutachten und kaufen zu können. Das hatte zur Folge, dass die Distributionsmechanismen und -prozesse vollständig angepasst werden mussten. So entstand ausgelöst durch Click & Collect bzw. durch die entsprechenden Kundenwünsche ein völlig neues digital affines Logistikkonzept mit Distributionszentren, die eine schnelle Belieferung der einzelnen Filialen sicherstellen konnten. Nun musste natürlich auch das Gehör für die Kunden mit einem eigens dafür aufgelegten Programm Voice of the Customer geschärft werden. Dieser Meilenstein hatte das Ziel, mehr Details über die Wünsche der Kunden zu erfahren und durch diese Informationen quasi eine 360°-Sicht auf den Kunden und seine Entscheidungstreiber zu gewinnen. In der Folge wurden die E-CommerceAktivitäten weiter verstärkt und für jede einzelne Marke innerhalb der Unternehmensgruppe entsprechend individualisiert. Je mehr Kundenfeedback durch die neuen Kanäle verfügbar wurde, umso schwieriger gestaltete sich die systematische und zeitnahe Auswertung dieser Daten. In der Folge entstand ein
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Projekt, das sich mit der Nutzung Künstlicher Intelligenz bei der Analyse der erhaltenen Daten beschäftigte. Das Thema Big Data Analytics erlaubte noch mehr Informationen über den Kunden zu bekommen und war insofern eine logische Konsequenz der bisherigen Strategie der absoluten Kundenorientierung. Stellt man jetzt diese Aktivitäten in Bezug zum Geschäftsmodell, so wird sehr schnell der Retail-typische Fokus deutlich. Alle Aktivitäten spielen sich nämlich im oberen rechten Teil des Geschäftsmodells ab, wo es um Zielgruppen, den Zugang dazu und alle Aspekte der Kundenbindung geht, sowie auf der Management Systemebene, wo die wesentlichen Elemente wie Customer Experience Management und Enterprise Feedback Management zu finden sind (Abb. 7.4). Das Projekt digitale Transformation bei der Accent Group spiegelt deutlich den Transformationsansatz im Retail-Bereich wider. Nirgendwo ist der Kunde so allgegenwärtig wie gerade im Retail-Umfeld. Dieser Tatsache hat die Accent Group mit ihrem Projekt digitale Transformation Rechnung getragen und wie die relevanten Zahlen belegen, ist dieses Projekt bis heute außerordentlich erfolgreich.
7.4 Gestatten: Accent Group Limited, Australien Die Accent Group betreibt mehr als 450 Schuhgeschäfte in Australien und Neuseeland. Bekannte Marken sind zum Beispiel CAT, Merrell, Hype, Doc Martens, Vans, Palladium, The Athlete's Foot, Platypus, Sperry, Sketchers, Timberland, Stance, Supra, Saucony und The Trybe. Die Accent Group verkauft mehr als sechs Millionen Paar Schuhe pro Jahr und generiert einen Gesamtumsatz von knapp 900 Mio. US-Dollar. Bemerkenswert ist der Umstand, dass in dieser Unternehmensgruppe verschiedene organisatorische Strukturen wie zum Beispiel Einzelhandel, Großhandel, Omnichannel-Händler und Distributionszentren zusammen mit eigenen Marken, Third-Party-Marken, Herstellermarken in einer Dachorganisation existieren. Nun kann man davon ausgehen, dass die Kombination von Schuhgeschäften und digitaler Transformation mit dem Ziel einer Verbesserung der Kundenerlebnisse nicht zwingend zum Geschäftserfolg führen muss. Das war bei der Accent Group von jeher anders. Das Unternehmen durchlief vor einigen Jahren einen Zusammenschluss verschiedener Groß- und Einzelhandelsmarken und war im Kontext dieser Aktivitäten bemüht, gewisse zukunftsorientierte Standards zu setzen und deren Implementierung auch systematisch zu überwachen (Abb. 7.5). Die besonders hohe Priorität einer bedingungslosen Kundenorientierung wurde seit jeher bei allen strategischen Entscheidungen besonders berücksichtigt.
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Abb. 7.5 Markenportfolio der Accent Group
Kunden und deren Meinungen, Wünsche und Erwartungen wurden von Beginn an bei allen Aktivitäten der Accent Group systematisch analysiert, ausgewertet und mittels entsprechender Initiativen umgesetzt. Insofern war die digitale Transformation für die Accent Group nicht so sehr eine grundsätzliche Änderung der Unternehmensstrategie, sondern letztlich nur ein neues Instrument, um den Weg zur uneingeschränkten Kundenorientierung weiter konsequent zu verfolgen und die verschiedenen Geschäftsmodelle in der Gruppe neu auszurichten. Das Projekt digitale Transformation hatte seit Definition absolut strategische Priorität. Das bereits erwähnte Zitat des Chief Executive Officer der Gruppe bestätigte, dass man sich um eine positive Geschäftsentwicklung keine Sorge machen muss, wenn der Kunde stets im Mittelpunkt steht. Alle Aktivitäten haben sich an dieser Handlungsmaxime ausgerichtet und letztlich auch zu dem unternehmerischen Erfolg geführt. Die wichtigsten Konsequenzen aus dem digitalen Transformationsprojekt bei der Accent Group sind neben der Weiterentwicklung der Kundenempathie, die Implementation einer echten Omnichannel-Strategie, die Operationalisierung einer wirklich flächendeckenden digitalen Expertise, die allen Unternehmen innerhalb der Gruppe gleichermaßen zur Verfügung steht, sowie die Optimierung wirklich aller Prozesse, die mit Kundeninteraktion zu tun haben (Abb. 7.6). In einem Raster von Kriterien der digitalen Reife wird schnell deutlich, warum Accent sich auf die beiden Kriterien-Gruppen digitale Kultur, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Big Data und Künstliche Intelligenz konzentriert hat. Die digitale Kompetenz ist für die Transformation in einer durch heterogene Strukturen gekennzeichneten Organisation von hoher Bedeutung. Ohne diese Voraussetzung überholt sich die Transformation selbst oder verläuft im Sande.
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Strategische Positionierung
Digitale Vision
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Kundenorientierung
Marken gesundheit
Digitale Kultur, Fähigkeiten & Fertigkeiten
Innovationsfähigkeit & Marktnähe
Digitale Kultur
Innovation & Skalierbarkeit
Big Data & künstliche Intelligenz
Technologieführerschaft
Data Governance
Technology Governance
Agiles Geschäftsmodell
Customer Experience Management
Digital Knowledge Management
Effiziente MarktBedienung
Data Engineering
Basis Technologien
Budgetierung
Customer Feedback Management
Digital Qualifikation Management
Bedarfssteuerung
Daten Nutzung
Technologie Anwendung
Abb. 7.6 Generisches Kriterienraster für die digitale Reife
Weil immer schon auf den Kunden gehört wurde und das Kundenfeedback in der digitalen Welt über neue Kanäle in großen Mengen anfällt, kann nur Künstliche Intelligenz helfen, das Big-Data-Problem zu lösen. Nur mit KI kann Konsolidierung, Analyse und Auswertung mit vertretbarem Aufwand gelingen. Die Installation eines Zentrums für digitale Exzellenz in Melbourne war ein entscheidender Schritt in diesem Zusammenhang. Dieser digitale Wissens-Hub steht über Shared Digital Services allen Unternehmen der gesamten Gruppe zur Verfügung. Das Projekt hatte zum Ziel, digitale Optionen für verschiedene Einzelhändler sowohl national als auch international für verschiedene Geschäftsmodelle umsetzbar zu machen. Die seitens der Kunden gewünschte Entzerrung von Kaufanreiz und Kaufentscheidung konnte durch die Nutzung digitaler Technologien dargestellt werden. Kunden konnten sich zu Hause im Internet bestimmte Schuhmodelle anschauen und diese bereits für den nächsten Tag im nächst gelegenen Schuhgeschäft in verschiedenen Größen zur Anprobe reservieren. Die Kunden konnten davon ausgehen, dass die gewünschten Schuhmodelle in der richtigen Größe auch tatsächlich am nächsten Tag für sie verfügbar waren. Die Einkaufserfahrungen hatten dabei stets die oberste Priorität unabhängig davon, welche Marken, welche Regionen oder welche Geschäfte betroffen waren. Digitale Transformation wurde bei der Accent Gruppe als Schlüssel zur Adressierung neuer Geschäftsmöglichkeiten und zur Verbesserung der Dienstleistungen gesehen. Kunden wollen Artikel online aussuchen und im Geschäft abholen. Diese sogenannte Click&Collect-Strategie war das auslösende Moment des digitalen Transformationsprojektes bei der Accent Group. Die Kundenwünsche nach mehr online verfügbaren Produkten, die schneller zur Verfügung
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stehen, stellten das Accent Management vor große logistische Herausforderungen. Deshalb wurden die Click&Collect-Shops zugleich auch zu Distributionszentren umfunktioniert, die in der Lage waren, die Produkte direkt zu versenden. Dadurch war es für die Kunden möglich, die gewünschten Produkte auch in der Tat am nächsten Tag in Händen halten zu können. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten und allein die Onlineverkäufe stiegen um bis zu 20 % an. Durch die systematische Nutzung der Distributionszentren wurden weitere 50 % Umsatzzuwachs realisiert. Die Kunden machten positive Einkaufserfahrungen und das Unternehmen verkaufte mehr Produkte als je zuvor. Um den Erfolg der digitalen Transformation beurteilen zu können, ist es wichtig zu erfassen, welcher Prozentsatz des Umsatzes tatsächlich über digitale Kanäle fließt bzw. schwerpunktmäßig durch die Nutzung digitaler Technologien ermöglicht wurde. Die Unternehmensgruppe hat sich zum Ziel gesetzt, in den nächsten Jahren bis zu 20 % digital getriggerten Umsatz zu erreichen. Die bisherigen Resultate lassen den Schluss zu, dass dieses Ziel sehr viel früher erreicht werden wird. Jede der in den Filialen der Gruppe verkauften Marken verhält sich am Markt etwas anders. Die traditionellen und seit Markteintritt mit definiertem Image belegten Marken auf dem Markt tragen nicht so viel zu einem hohen Prozentsatz an digitalen Transaktionen bei. Die jüngeren, andere Zielgruppen adressierenden Marken in der Gruppe wachsen umso schneller und digitale Kanäle machen einen viel größeren Teil dieses Umsatzanteils aus. Dieser Umstand bestätigt den Trend, der durch die Profile der Millennials und deren Nachfolgegeneration beeinflusst wird. Die beispielhaft genannten Indikatoren liefern in Summe tatsächlich eine gute Entscheidungsgrundlage dafür, wie stark die Projekte der digitalen Transformation beschleunigt und in welcher Reihenfolge sie umgesetzt werden sollten.
7.5 Flächendeckende digitale Kompetenz Die Unternehmensgruppe verfügt mittlerweile über langjährige und umfassende Erfahrungen in Sachen digitale Transformation. Vor kurzer Zeit hat das Unternehmen einen digitalen Hub oder ein Kompetenzzentrum für Digitalisierung eingerichtet. Diese Institution sollte die digitale Kompetenz unter dem Accent-Dach bündeln. Um digitale Veränderungsoptionen und die Vielfalt der Geschäftsmodelle noch näher zusammenzubringen, wurde diese Einheit gebildet. Für die beiden wichtigsten Marken der Gruppe gibt es dedizierte E-Commerce-Manager, die eine große Nähe zum individuellen Geschäftsmodell pflegen und deren Richtschnur die Qualität der Business-Transformation ist.
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Wie in einer Matrix-Organisation gibt es daneben aber noch Querschnittsfunktionen. Diese haben das Ziel, funktionalen und Business-Support zu leisten und die digitale Kompetenz dezentral weiterzuentwickeln und auf mehr Ressourcen zu verteilen. Hier werden Größe und Vielschichtigkeit des Unternehmens genutzt. Die Handlungsnotwendigkeiten haben sich an den Anforderungen an digitale Fähigkeiten und Fertigkeiten im digitalen Reifegradmodell orientiert. Der digitale Hub bietet Shared Services an, sodass qualifizierte und mit Strategien, Prozessen und Systemen innerhalb der gesamten Unternehmensgruppe vertraute Mitarbeiter in verschiedenen Bereichen zielorientiert und effizient eingesetzt werden können (Abb. 7.7). Bevorzugt ist dabei Support für die digital durchsetzten Areale der Geschäftsmodelle wie z. B. Performance Marketing, Digital Marketing, Projektmanagement, Omnichannel-Management und Strategieentwicklung. Jedes einzelne Unternehmen kann diese Services abrufen. Zentral werden die besten digitalen Talente auf dem Markt rekrutiert. So können diese Ressourcen im gesamten Unternehmen genutzt werden, auch wenn die einzelnen Business Units sich diese Dienstleistungen am freien Markt nicht leisten könnten.
Shared Services
Shared Services
Experten Pool für Digitalisierungsthemen Best Practices und Ressourcenanforderungen
Abb. 7.7 Das Wirkprinzip von Digital Hub und Shared Services
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Anstatt in einem Unternehmen mit heterogenen Strukturen eine globale digitale Initiative aufzusetzen, werden so die individuellen digitalen Bedürfnisse eines jeden Unternehmensbereiches besonders berücksichtigt und gefördert. Die Markenpartner pflegen eine besonders kooperative Zusammenarbeit, weil sie gesehen haben, dass in anderen Bereichen der Unternehmensgruppe bereits signifikante digitale Fortschritte erreicht wurden, von denen sie nun profitieren können. Durch diese Geben und Nehmen-Situation hat sich quasi eine eigendynamische, kontinuierliche digitale Verbesserungsinitiative entwickelt, von der letztendlich alle Unternehmensbereiche profitieren. Im Laufe der mehrjährigen digitalen Erfahrung bei Accent hat sich mittlerweile eine bemerkenswerte Basis an digitalen Best Practices entwickelt. Diese Erfahrungen mit Blueprint-Charakter werden kontinuierlich aktualisiert und ergänzt. So können diese durch die Mitarbeiter des Digital Hub leicht und anforderungsgerecht in der Praxis anderer Betriebe der Gruppe ausgerollt werden.
7.6 Voice of the Customer und Feedbackmanagement Customer Experience Management spielt im Einzelhandel eine herausragende Rolle. Kundenerlebnisse im Einzelhandel werden von so vielen Sinneseindrücken bestimmt, dass das Design solcher Touchpoints quasi einer Orchestrierung gleichkommt. Man kann Produkte probieren, berühren, riechen, neue Produkte eindrucksvoll präsentieren, komplementäre Services offerieren und damit letztlich systematisch eine sehr emotionale Verbindung zum Kunden aufbauen. Es gibt genug Beispiele dafür, dass der Einzelhandel sensorische Erlebnisse ermöglicht und sensorisches Marketing ist eine innovative Disziplin. In-Shop-Videoerlebnisse können die Verweilzeit der Kunden positiv beeinflussen. So wird das Design von Kundenerlebnissen zum wunderbaren Spielplatz, um Nähe zum Kunden zu schaffen und praktische Kundenempathie zu leben. Die solide finanzielle Ausstattung der Unternehmensgruppe und deren Markenbekanntheit werden im Wettbewerb gezielt genutzt, um alle Business-Muskeln digital spielen zu lassen. Ein Einzelhändler, der im Wettbewerb versucht, Kunden nur durch rein physische Präsenz anzuziehen, wird vor Neid erblassen, wenn alle Register eines digital durchsetzten Geschäftsmodells gezogen werden. Digitalisierungsoptionen in den verschiedenen Geschäftsmodellen sind für diese Unternehmensgruppe strategische Waffen für Festigung und Ausbau der Wettbewerbsposition.
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Kundenzufriedenheit, Kundenloyalität und direktes sowie indirektes Kundenfeedback sind die wichtigsten Daten, die zur Gestaltung von Erlebniswelten für Kunden herangezogen werden müssen. Je mehr sich diese Daten durch Belastbarkeit und Zielgruppenkonformität auszeichnen, umso eher werden die Kunden die angebotenen Einkaufserlebnisse begeistert annehmen. In der Accent-Unternehmensgruppe wird der Net Promoter Score (NPS) als einer der wichtigsten Benchmarks für die Kundenzufriedenheit in der gesamten Gruppe angewendet. Sie kennen alle die Frage, die Ihnen das von einem Verkäufer beauftragte Call Center sicher schon mal gestellt hat: „Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie das Unternehmen/Produkt einem Freund oder Bekannten weiterempfehlen würden?“ Das ist die Kernfrage, die sich hinter der NPS-Systematik verbirgt. NPS ist ein im Einzelhandel besonders wichtiges Element der Managementsystem-Ebene des Geschäftsmodells. Kundenbindungsmanagement, Customer Experience Management und Enterprise Feedback Management sind die Managementsysteme, die eine zentrale Rolle spielen. Der NPS wird in allen Geschäftsbereichen systematisch erfasst, einige in Echtzeit, andere in regelmäßigen Umfragen. Aktuell hat das Unternehmen einige der höchsten NPS-Werte auf dem Markt. Mit einem NPS-Wert von 8,2 spielt das Unternehmen in einer Klasse für sich. Die einzige Marke, die darübersteht, ist Apple. Im Rahmen des Enterprise Feedback Managements werden natürlich auch andere Kriterien erfasst, wie z. B. der Verkehr auf den Webseiten und das Klick-Verhalten. Das Interesse an der Marke wird über den Brand Commitment Score und andere Daten erfasst. Bei der Umsetzung der digitalen Vision in den einzelnen Unternehmen wurde Wert darauf gelegt, mit einfachen Mitteln viele relevante Daten ohne Mehraufwand erfassen und gruppenweit so konsolidieren zu können, dass entscheidungsrelevante Informationen extrahierbar werden. Wenn zunehmende Traffic-Zahlen registriert werden, ist es wichtig zu wissen, ob die übrigen Kennzahlen, wie z. B. die Konversionsraten, mit dieser Entwicklung deckungsgleich sind. Eine Verwässerung der Konversionsraten würde nur zu mehr Entscheidungsunsicherheit führen. Metriken müssen z. B. auch für verschiedene Kanäle und Plattformen verfügbar sein. Einige der Marken haben eine mobile Zugriffsrate von über 70 % und so ist es beispielsweise sehr wichtig, Konvertierungs- und Äquivalenzkennzahlen zwischen den Kanälen und Plattformen zu verwenden, damit Effizienz und Effektivität verschiedener Geschäftsmodelle verglichen werden können. Es wird auch kontinuierlich verfolgt, welchen Umsatzbeitrag Kunden über die verschiedenen Kanäle je Zugriff bzw. Besuch leisten. Alle quantifizierbaren Maßnahmen mit dem Ziel Wachstum und Kundenzufriedenheit sind wichtig und werden genauestens analysiert. Das ist letztlich nur mit einer konsequenten
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Abb. 7.8 Kundenfeedback und KI-Einsatz
Nutzung digitaler Hilfsmittel möglich. Heute ist klar, dass ohne eine frühzeitig konzipierte umfassende digitale Vision viele Optionen, die heute wie selbstverständlich genutzt werden, einfach nicht vorhanden wären. Die Nutzung Künstlicher Intelligenz war schon früh im Projekt als zwingendes Asset im Voice-of-the-Customer-Programm gesetzt. Die Vielzahl an Daten, die durch verschiedene Kanäle, in verschiedenen Formaten, unter Nutzung verschiedener Technologien an verschiedenen Stellen im Unternehmen ankommt, kann ohne KI nicht oder nur sehr suboptimal bewältigt werden. Vom Vorliegen der Daten bis zur Verwertung von Informationen für Managemententscheidungen ist es ein langer und komplizierter Weg. Konsolidierung, Analyse von Inhalt und Kontext, Clusterung und Priorisierung sind ohne KI-Einsatz weder mit vertretbarem Aufwand noch in der notwendigen kurzen Zeit darstellbar (Abb. 7.8).
7.7 Zusammenfassung Die Accent Group betreibt mehr als 400 Schuhgeschäfte in Australien und Neuseeland. Mit sechs Millionen Paar verkaufter Schuhe und einem Umsatz von 900 Mio. US-Dollar sicher kein kleiner Vertreter der Spezies Retailer. Unter dem Dach arbeiten jedoch verschiedene Organisationsformen und Geschäftsmodelle mit sehr unterschiedlichem digitalem Reifegrad, verschiedenen Zielgruppen und Marktzugangsmechanismen. Allen gemein ist jedoch die extrem hohe Bedeutung
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des Kunden, seiner Wünsche und seines Feedbacks. Alle Betriebe können im Rahmen der digitalen Transformation auf einen zentralen digitalen Expertenpool zugreifen, dessen Spezialisten ihr Wissen allen Betrieben über Shared Services zur Verfügung stellen. Diese beiden Zutaten sind die wesentlichen Erfolgsgeheimnisse der erfolgreichen digitalen Transformation bei Accent: flächendeckendes digitales Wissen und die Nutzung Künstlicher Intelligenz, um bei vielschichtigem Kundenfeedback nicht am Big-Data-Problem zu scheitern. Solide Etablierung im Markt und wettbewerbliche Stärke bedingen keine Notwendigkeit von Restrukturierungs- oder Konsolidierungsmaßnahmen. Diese Tatsache macht deutlich, dass die Implementierung einer digitalen Transformationsstrategie aus einer solchen Position heraus einfacher darstellbar ist, als wenn ein Unternehmen sich trotz des Drucks von Restrukturierungsnotwendigkeiten mit dem Thema digitale Transformation beschäftigen will. Die Accent Group ist das Thema Digitalisierung zunächst nicht proaktiv angegangen, weil man sich auf ein bestens funktionierendes Customer Experience Management abstützen konnte. Die Nutzung digitaler Technologien beschränkte sich auf typische Dispositions- und Abrechnungssysteme in den einzelnen Filialen. Die Initialzündung für das Thema digitale Transformation kam – bedingt durch den hohen Stellenwert des Kunden im Retail-Marktsegment – vom Kunden selbst. Die Kunden haben nach wie vor ihre Käufe im attraktiven Umfeld der bestehenden Point of Sales getätigt. In den regelmäßigen Befragungen von Kunden nach ihren Wünschen und Präferenzen wurde mehr und mehr auf digitale Kommunikations- und Aktionskanäle verwiesen. Die Umsetzung wurde in zwei Stufen realisiert. Das Thema Click & Collect kombiniert in idealer Weise Onlinekaufanreiz und -auswahl relevanter Produkte und physische Präsenz in den Ladengeschäften mit positiven Einkaufserlebnissen und Kaufentscheidungen. Click & Collect bietet also eine Mischung aus digitalen Kanälen und klassischen Kundenerlebnissen. Zudem ermöglichte die Verbindung von digitalen mit komplementären, strukturellen Maßnahmen weitere Möglichkeiten der Effizienzsteigerung. Zum Beispiel konnte nun das gesamte für die Zielgruppe relevante Warensortiment in die durch den Kunden angestoßene Dispositionsprozesse einbezogen werden. Dadurch konnten entsprechend der Häufigkeit der digitalen und physischen Kundenbesuche die entsprechenden Artikel genauer auf die Kundenwünsche abgestellt bevorratet werden. Im Rahmen der Realisierung wurde die Notwendigkeit deutlich, digitale Fertigkeiten und Fähigkeiten für alle Bereichen des Unternehmens vorhalten und in angemessener Qualität bereitstellen zu können. Bis dato wurde das in der Form nicht praktiziert. Im Unternehmen wurde deshalb ein digitaler Hub, quasi ein Kompetenzzentrum für digitale Technologien, eingerichtet. Dieser digitale
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Hub wurde mit dem Angebot von Shared Services für alle Unternehmensbereiche kombiniert. So konnte sich trotz der unterschiedlichen funktionalen und organisatorischen Strukturen und Anforderungen in den einzelnen Bereichen des Unternehmens ein digitales Kompetenzzentrum etablieren, das von allen Funktionsträgern gleichermaßen genutzt wurde. Mit dieser Maßnahme wurde zugleich die Basis für den weiteren digitalen Ausbau und den erfolgreichen Transfer digitalen Know-hows im Unternehmen gelegt. Die traditionell hohe Bedeutung des Kunden in allen Betrieben der Accent Group ist schon mehrfach herausgestellt worden. Die Kombination der absoluten Kundenorientierung mit der durch die digitalen Technologien erweiterten Kunden-Kommunikationsmöglichkeiten, die Erschließung neuer KundenInteraktionskanäle sowie die vielschichtigen Möglichkeiten von Kunden differenziertes Feedback zu erhalten, führte zwangsläufig zu der Auseinandersetzung mit der daraus resultierenden Vielfalt, Vielschichtigkeit, Komplexität und Menge der Feedbackdaten. Ziel war, einen deutlichen Qualitätsgewinn bei Informationen zu erreichen, die aus diesen Daten extrahiert werden konnten. Das erforderte jedoch die Nutzung Künstlicher Intelligenz, weil weder Datenmenge noch Datenvielfalt mit klassischen Mitteln in vertretbarer Zeit und mit sinnvollem Ressourceneinsatz zu bewältigen waren. Mithilfe Künstlicher Intelligenz konnten sämtliche Feedbackdaten konsolidiert in den richtigen Kontext gebracht, analysiert, priorisiert und letztlich in entscheidungsrelevante Informationen umgesetzt werden. So wurde eine Fokussierung der Strategie und eine Anpassung der jeweiligen Geschäftsmodelle auf hohem Niveau möglich. Die Digitalisierung hat der Accent Group geholfen, ihren seit jeher auf den Kunden gelegten Fokus weiter zu schärfen und auszubauen sowie das Kundenfeedback systematisch für eine bessere Ausrichtung an den Wünschen des Kunden zu nutzen. Wie schon am Anfang herausgestellt, spielt der Kunde im Retail-Bereich eine ganz besondere Rolle. Physische Kundennähe, Gestaltbarkeit von individuellen Kundenerlebnissen und Touchpoint-Design sind erfolgskritisch. Diese Aspekte haben von vornherein signalisiert, dass Gestaltung und Digitalisierung des oberen rechten Areals im Geschäftsmodell die zentrale Rolle spielen werden. Zielgruppen, Kundenbindung und verschiedene Kanäle der Kundenkommunikation sind die entscheidenden Gestaltungsfelder. Das Konzept der digitalen Transformation bei Accent hat gezeigt, dass nicht zwingend Technologie ein Treiber für die digitale Transformation sein muss. Auch die richtige Mischung aus gezieltem Management von positiven Kundenerlebnissen in Kombination mit den angemessenen digitalen Optionen führen zu nachhaltigem Erfolg und damit zu einem gezielten Ausbau und zur Festigung der Wettbewerbsposition.
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Weiterführende Literatur Baird, N. (2018). What Digital Transformation actually means for retail. https://www. forbes.com/sites/nikkibaird/2018/03/13/what-digital-transformation-actually-meansfor-retail/#56f64f887038. Zugegriffen: 25. Okt. 2019. Rajek, J. (2018a). The Digital Transformation of Accent Group. A retail Case Study. https://econsultancy.com/the-digital-transformation-of-accent-group-a-retailcase-study-part-1. Zugegriffen: 22. Mai 2019. Rajek, J. (2018b). The Digital Transformation of Accent Group. A retail Case Study. https://econsultancy.com/the-digital-transformation-of-accent-group-a-retailcase-study-part-2. Zugegriffen: 22. Mai 2019. Rajek, J. (2018c). The Digital Transformation of Accent Group. A retail Case Study. https://econsultancy.com/the-digital-transformation-of-accent-group-a-retail-casestudy-part-3. Zugegriffen: 22. Mai 2019.
Dr.-Ing. Axel Poestges (geb. 1949) studierte Maschinenbau an der Technischen Hochschule, Aachen. Nach der Promotion arbeitete er in Stabs- und Linienfunktionen großer internationaler Unternehmen. Er leitete über zehn Jahre erfolgreich das eigene Beratungsunternehmen. Beim Weltmarktführer entwickelte er Tools und Methoden für Global Information Management und Customer Experience Management. Heute arbeitet er als Lehrbeauftragter zu diesen Themen an der Hochschule Pforzheim und für die AKAD University.
Teil III Antworten der KI auf menschliche Leistungsgrenzen und vice versa
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AI-pocalypse now? Herausforderungen Künstlicher Intelligenz für Bildungssystem, Unternehmen und die Workforce der Zukunft Christian Massmann und Ariane Hofstetter Inhaltsverzeichnis 8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 8.2 Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 8.3 Was ist KI?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 8.4 KI Historie – Ausgewählte Meilensteine in der Geschichte der KI. . . . . . . . . . . . 175 8.5 Stufen der KI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 8.6 KI-Trends in der Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 8.7 Relevanz von KI für Unternehmen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8.8 Ausgewählte Ergebnisse der Digital Skills Gap Studie 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . 198 8.9 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Zusammenfassung
Innovative Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz eröffnen Unternehmen völlig neue Möglichkeiten. Sie sind Chancen und (Überlebens-) Risiken zugleich. Dies betrifft in der Perspektive jede Industrie. Die Schere C. Massmann (*) NOAA PARTNERS Growth & Evolution Architects, Wiesbaden, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Hofstetter KOHORTEN Sozial- und Wirtschaftsforschung GmbH & Co.KG, Wiesbaden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_8
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zwischen den Anforderungen der Digitalisierung an Unternehmen und Mitarbeiter und dem Status quo ist bereits groß. Sie wird sich im Laufe des nächsten Jahrzehnts dramatisch weiter öffnen, wenn Unternehmen, Mitarbeiter und Bildungssystem nicht aufwachen und die richtigen Schritte einleiten. Nur 22 % der deutschen Lehrkräfte der Sekundarstufen 1 und 2 sind überzeugt, dass das deutsche Bildungssystem zukunftsfähig ist. Gleichzeitig ist nur etwas mehr als 50 % der Lehrkräfte der Meinung, dass KI die beruflichen Anforderungen stark verändern wird. Am unwichtigsten ist den Lehrkräften das Vermitteln von Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge, Präsentations-Skills und Anpassungsqualifikationen. Auch digitale Kompetenzen und Medienkompetenz haben aus Sicht der Lehrkräfte keine hohe Relevanz. Rund 33 % der Lehrkräfte setzt noch keine digitalen Arbeitsgeräte ein. Lehrkräfte fühlen sich nicht ausreichend auf die Digitalisierung des Unterrichts und die Vermittlung digitaler Fertigkeiten vorbereitet. Schlechte Noten auch für die digitalen Kompetenzen der Schüler. Diese können zwar gut digital kommunizieren, es mangelt aber an grundlegenden Skills. Schlechte Noten vergeben Lehrkräfte den Schülern für die Fähigkeit, digitale Informationen zu bewerten (Note 3,7), für Grundkenntnisse der Programmierung und Softwareentwicklung (Note 4,1), Kenntnisse über Chancen und Risiken von KI (Note 3,8) sowie rechtliche Grundkenntnisse (Note 4,3) und Datenschutz (Note 3,8). In den Unternehmen wird Digitalisierung von Entscheidern mit unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit assoziiert. In vielen Unternehmen gibt es jedoch eine Tendenz der Orientierung an „Worst Practices“. Es mangelt an Zeit und Problembewusstsein sowie an organisationalen Innovations- und Nutzungsstrategien, die gleichermaßen das Geschäftsmodell und den Menschen in den Blick nehmen. Hinsichtlich der Mitarbeiter von morgen wird gefordert, im Rahmen der Digitalisierung essenziell werdende Skills wie Anpassungsqualifikationen, Problemlösungskompetenzen und kritisches Out-of-the-Box-Denken bereits in den Schulen zu trainieren. Der nachfolgende Artikel beleuchtet historische und künftige Entwicklungen von KI und die Auswirkungen auf Unternehmen und die Workforce von morgen und präsentiert die Ergebnisse der Digital Skills Gap Studie 2020 von KOHORTEN Sozial- und Wirtschaftsforschung und NOAA PARTNERS Growth & Evolution Architects.
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8.1 Einleitung Die Arbeitswelt in der vierten industriellen Revolution stellt weltweit Millionen von Arbeitnehmern und Unternehmen vor große Herausforderungen. Wir befinden uns erst am Anfang eines massiven Veränderungsprozesses. KI steht vor einem exponentiellen Entwicklungsschub. Unternehmen müssen beginnen, KI für sich als Wachstumsmotor zu begreifen. KI kann einen erheblichen Beitrag leisten, Prozesse ökonomischer zu gestalten, Produktivität zu erhöhen, Produkte schneller, agiler und näher an Kundenbedürfnissen zu entwickeln, Marketing und Vertrieb erheblich effizienter zu machen und einen besseren ROI (Return On Invest) zu erreichen. Die Analyse der Ausgangssituation zeigt aber, dass die Mehrzahl der Unternehmen, Mitarbeiter und das Bildungssystem hierfür erst die Grundlagen schaffen müssen. Hier ist jedoch weder panischer, noch blinder Aktionismus gefragt. Erforderlich ist die Entwicklung klarer Strategien und deren Umsetzung auf Unternehmensseite. Dies beinhaltet: • Analyse: – KI-Reifegrad und Mindset des Unternehmens. – Markt-, Kunden- und Wettbewerberanalyse einschließlich nicht erschlossener Märkte und Kundengruppen sowie unbekannter Wettbewerber, denen der Einsatz von KI den Markteintritt ermöglichen könnte. – Analyse von Mikro- und Makrotrends sowie technologischer Entwicklungen, die Auswirkungen auf das Unternehmen haben können. – In welchen Bereichen des Unternehmens ist der Einsatz KI-basierter Lösungen unter Berücksichtigung der aktuellen und künftigen Entwicklungen des Marktumfelds und der Kundenbedürfnisse sinnvoll? – Welche Ressourcen sowie Skill- und Mindsets der Mitarbeiter sind vorhanden und erforderlich? • Goal Setting & Strategie: – Definition der mit einer KI-Strategie verfolgten Ziele und KPIs (Key Performance Indicators) in Übereinstimmung mit den kurz-, mittel- und langfristigen Unternehmenszielen. – Setzen der Prioritäten unter Berücksichtigung des KI-Reifegrads und Mindsets, um zu verhindern, dass das Unternehmen sich durch eine zu große Zahl an Projekten verzettelt.
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– Agiler Ansatz, der regelmäßige Iteration auf Basis der Learnings ermöglicht – Learn early, learn often. – Nach erfolgreicher Implementierung: Skalierung im Gesamtunternehmen. – Definition der KI-Strategie und Roadmap. • Leadership, People & Culture: – Vermitteln des „Warum“, „Wie“ und „Wer“ der KI-Strategie an alle Stakeholder. Zu den Stakeholdern können – abhängig von den definierten KI-Projekten – gehören: Aufsichtsrat, Investoren und Gesellschafter, Management, Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten. – Aufzeigen der Auswirkungen und Benefits der KI-Strategie für die Stakeholder. – Definition der Verantwortlichkeiten, Erwartungen und Trade Offs. – Erstellung von Maßnahmen- und Kommunikationsplänen für alle Stakeholder. • Enabling: – Schaffen eines KI-Mindsets im Unternehmen. – Upskilling und Training der Mitarbeiter. – Recruiting zusätzlich benötigter Mitarbeiter. – Sourcing der KI-Lösungen. • Umsetzung und permanente Kontrolle der Projektfortschritte und KPIs (Abb. 8.1).
Abb. 8.1 Digitaler Evolutionszyklus nach NOAA PARTNERS
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Durch eine klar strukturierte Vorgehensweise und entschiedene Umsetzung, idealerweise mit Beratungs- und Exekutions-Unterstützung von außen, können Unternehmen die Herausforderungen einer KI-geprägten Welt ohne Furcht und mit gänzlichen neuen geschäftlichen Möglichkeiten meistern.
8.2 Ausgangssituation Nach der Studie The Future of Jobs des World Economic Forum (2018) werden insbesondere vier technologische Entwicklungen die Zeit bis 2022 dominieren und damit einerseits das Wachstum von Unternehmen beeinflussen und andererseits wesentliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben: • allgegenwärtiges mobiles Hochgeschwindigkeits-Internet, • Künstliche Intelligenz, • umfassende Einführung von Big Data Analytics, • Cloud-Technologie. 85 % der befragten Unternehmen gehen davon aus, dass sie bis 2022 umfangreiche Investitionen in Big Data Analytics tätigen werden. Ein Großteil beabsichtigt, in das Internet der Dinge, App- und onlinebasierte Märkte sowie in den umfassenden Einsatz von Cloud Computing, maschinelles Lernen, Augmented und Virtual Reality zu investieren (World Economic Forum 2018). Diese Investitionen und der entsprechende Technologieausbau in Unternehmen werden nicht spurlos an den Mitarbeitern von heute und morgen vorbeigehen. Einerseits werden Technologien wie Künstliche Intelligenz Arbeitsprozesse automatisieren und damit Arbeitsplätze obsolet machen. Andererseits werden Jobprofile erhebliche Veränderungen erfahren. Bis 2025 werden voraussichtlich mehr als 50 % aller derzeitigen Aufgaben am Arbeitsplatz von Maschinen erledigt (2017: 29 %)1. Nach Schätzungen des World Economic Forum werden bis 2022 bis zu 75.000.000 Jobs durch KI ersetzt.2
1https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by-
2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 12.09.2019. 2https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 12.09.2019.
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Dies entspricht in etwa der Summe aller Arbeitsplätze in Deutschland und Frankreich. Gleichzeitig werden im gleichen Zeitraum 133.000.000 neue Jobs durch KI entstehen.3 Wer zu den 75.000.000 Mitarbeitern gehört und jetzt aufatmet, liegt falsch. Es liegt auf der Hand, dass diese neuen Jobs gänzlich neue Anforderungen an die Mitarbeiter stellen werden. Arbeitsinhalte werden sich signifikant verändern. Es werden künftig neue Fähigkeiten und Qualifikationen benötigt. Aber sind Unternehmen und Mitarbeiter bereits so weit, von den Potenzialen der vierten industriellen Revolution zu profitieren? Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit IW-Consult ist gerade der deutsche Mittelstand dabei, „seine Zukunft zu verschlafen“ (Specht und Greive 2019). Nur ein Viertel der Unternehmen verfügt demnach über die nötige Innovationskompetenz und -kultur, um ihre Wettbewerbsposition langfristig zu sichern. Die Passivität von Unternehmen im Bereich der Digitalisierung ist umso erstaunlicher, als es hier nicht lediglich um die Verteidigung des Status quo, sondern um das proaktive Nutzen von Wachstumspotenzialen geht. Eine Aufgabe, die zum Jobprofil jedes Unternehmensführers gehört. Digitale Leader sind nach einer Untersuchung des MIT Sloan Center for Information Systems Research sieben Mal innovativer, drei Mal so profitabel und bieten einen 38 % bessere Customer Experience als digitale Nachzügler, die sog. Laggards Weill et al. (2017). Es ist für Unternehmen also höchste Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie • Technologie zielgerichtet und systematisch einsetzen können, um wettbewerbsfähig zu bleiben, • Mitarbeiter so schulen, dass sie durch den effizienten Umgang mit Technologie die Wachstumspotenziale der Digitalisierung nutzen können, • in einer Zeit des immer größer werdenden Fachkräftemangels attraktiv für High Potenzials und High Performer bleiben bzw. werden. Für Mitarbeiter bedeuten diese Entwicklungen, dass sie sich unabhängig von Branche und Berufsfeld fortwährend weiterbilden müssen, um
3https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by-
2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 12.09.2019.
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• den Anschluss nicht zu verlieren und mit Technologie, statt gegen Technologie zu arbeiten, • sich verändernde Anforderungsprofile erfolgreich abdecken zu können, um ihre Arbeitgeber innovativer, effizienter und wettbewerbsfähiger zu machen, • die Vorteile der Digitalisierung durch eine inhaltliche Aufwertung ihrer Positionen und den Wegfall repetitiver und die Zunahme qualitativ höherwertiger Aufgaben positiv für sich nutzen. Für das Bildungssystem bedeutet dies, dass es die Workforce von morgen bereits im Schulalter und im Rahmen der folgenden beruflichen und akademischen Ausbildung • fachlich auf die künftigen inhaltlichen und technischen Herausforderungen der vierten industriellen Revolution vorbereitet, • die notwendigen Soft Skills vermittelt, die Menschen im Verhältnis MenschMaschine benötigen: kritisches Denken, Kommunikation, Kooperation und Kreativität sowie die Fähigkeit und Offenheit, immer wieder neu zu lernen, sich anzupassen und neu zu erfinden.
8.3 Was ist KI? „When you hear AI, don‘t think of a droid. Think of an algorithm.“ (vgl. Polson und Scott 2018, S. 3).
Ist Künstliche Intelligenz mit menschlicher Intelligenz vergleichbar? Mit der Definition des Begriffs der menschlichen Intelligenz beschäftigen sich Wissenschaftler seit mehr als 100 Jahren. Im Jahr 1994 hat sich eine Gruppe von 52 Forschern auf eine Definition geeinigt: Intelligenz ist eine sehr allgemeine geistige Fähigkeit, die unter anderem die Fähigkeit beinhaltet, zu denken, zu planen, Probleme zu lösen, abstrakt zu denken, komplexe Ideen verstehen, schnell zu lernen und aus Erfahrung zu lernen … Intelligenz spiegelt eine breitere und tiefere Fähigkeit wider, unsere Umwelt zu verstehen, „zu kapieren“, „Sinn in Dingen zu erkennen“ oder „herauszufinden, was zu tun ist“ (Gottfredson 1997)
Künstliche Intelligenz hat das Ziel, menschliche Intelligenz nachzubilden und auf eine neue Stufe zu heben. Sie befähigt Computer, selbst zu lernen, zu denken und zu handeln. Vergleichbar mit Aspekten der menschlichen Intelligenz werden
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Computer durch Algorithmen in die Lage versetzt, Muster in sehr großen Datenmengen zu finden, um Sachverhalte zu analysieren und „zu verstehen“, Problemlösungen zu entwickeln und selbstständige Entscheidungen zu treffen. Ein Algorithmus an sich ist noch keine Form der Künstlichen Intelligenz und er ist auch kein computerspezifisches Phänomen. Auch Menschen gehen algorithmisch vor. Algorithmen definieren den zur Lösung einer Fragestellung oder eines Problems notwendigen Prozess. Sie legen einen Lösungsplan fest. Hierbei werden Eingabedaten in vorab definierten Einzelschritten in Ausgabedaten gewandelt. Algorithmen sind insofern klar strukturierte Gebrauchsanweisungen. Sie spielen insofern nicht nur in der Informatik eine Rolle, sondern auch in der Mathematik und im weitesten Sinne bei jeder strukturierten Form menschlichen Problemlösens. Die Besonderheit im Bereich der Künstlichen Intelligenz ist jedoch die Fähigkeit, Muster erheblich schneller und in deutlich größeren Datenmengen zu erkennen und dementsprechend Problemlösungen mit signifikant höherer Geschwindigkeit und unbeeinflusst von außerhalb des zu lösenden Problems liegenden Faktoren zu finden. Des Weiteren schafft die Möglichkeit der Verknüpfung unendlich vieler Algorithmen, mithin die Verbindung einer großen Zahl an Gebrauchsanweisungen zur Lösung hochkomplexer Probleme und zur schnellen Abarbeitung einer Vielzahl an Aufgaben, die Grundlage für den immensen Bedeutungszuwachs Künstlicher Intelligenz im digitalen Zeitalter. Beispiele für Algorithmen
1. Einfach – Berechnung des Body Mass Index: • Input: Gewicht und Körpergröße • Formel: Gewicht durch Körpergröße zum Quadrat • Output: Body Mass Index 2. Komplexer – Job Matching Algorithmus (Berechnung der Eignung eines Kandidaten für einen bestimmten Arbeitsplatz in einem Unternehmen):
• • • • • •
Input: fachliche, strukturelle und persönliche Anforderungen des Unternehmens, Entwicklungsperspektiven im Unternehmen, fachliche Qualifikation und Wissen des Bewerbers, kognitive Fähigkeiten des Bewerbers, Persönlichkeit und Interessen des Bewerbers, Erwartungen des Bewerbers an den potenziellen Arbeitgeber (z. B. Gehalt, Benefits, Kultur).
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Output: • Match zwischen den Anforderungen und Rahmenbedingungen des Unternehmens und des Kandidaten über gewichtete, nicht lineare Differenzen sowie über Rangkorrelationen in vertikaler (gewichtete Qualifikation bzw. Über- oder Unterforderung) und horizontaler (Stärken und Schwächen eines Bewerbers im Vergleich mit dem Anforderungsprofil) Sicht (Czernik 2016).
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Welche Arten Künstlicher Intelligenz gibt es? Es ist eine Vielzahl unterschiedlicher Kategorien und Sub-Kategorien zu unterscheiden. Hier sind insbesondere zu nennen: • Computer Vision (maschinelles Sehen), • Natural Language Processing (NLP) (maschinelle Verarbeitung von Sprache), • Robotic Process Automation (RPA) (maschinelle Ausführung von Geschäftsprozessen durch Softwareroboter), • virtuelle Assistenten (maschinelle Erledigung von Aufgaben und Dienstleistungen) • Advanced Machine Learning und Deep Learning (maschinelles Entwickeln von Wissen durch Lernen aus Erfahrung).
8.4 KI Historie – Ausgewählte Meilensteine in der Geschichte der KI Ist KI ein Phänomen der Neuzeit? Mitnichten. Die theoretischen Grundlagen vieler Entwicklungen, die heute im Bereich der Künstlichen Intelligenz Anwendung finden, sind im frühen 20. Jahrhundert, in Teilen sogar bereits deutlich früher geschaffen worden. Die Phasen der 70er-Jahre und der Zeit ab 1987 werden als KI-Winter bezeichnet. Auf Basis des von Gartner definierten Hype-Zyklus4 folgte dem Gipfel überzogener Erwartungen das Tal der Enttäuschungen. Infolge der eingetretenen Ernüchterung wurden Fördermittel für die KI-Forschung stark reduziert. Nichtsdestotrotz hat Mercedes-Benz bereits im Jahr 1986 erfolgreiche erste Versuche im Bereich des autonomen Fahrens unternommen. Der nachfolgende Überblick verdeutlicht gleichzeitig, dass die Anzahl
4https://www.gartner.com/en/research/methodologies/gartner-hype-cycle,
10.10.2019.
zugegriffen am
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und Komplexität der Anwendungen Künstlicher Intelligenz seit den 2000erJahren signifikant angestiegen ist und insbesondere in den vergangenen fünf Jahren noch einmal deutlich zugenommen hat. • 1912: Die Astronomin Henrietta Leavitt entwickelt eine bahnbrechende Methode, um Muster in Daten zu identifizieren. Diese Methode kommt auch heute z. B. im Bereich Predictive Analysis und Algorithmen von Netflix und Amazon zum Tragen. • 1941: Der Atanasoff Berry Computer (ABC), einer der ersten elektronischen Digitalcomputer, inspiriert Wissenschaftler, die Entwicklung eines elektronischen Gehirns voranzutreiben. • 1944: Der Mathematiker Abraham Wald entwickelt auf Basis bedingter Wahrscheinlichkeit die Grundlage für Empfehlungsalgorithmen, die heute Unternehmen wie Netflix nutzen. • 1950: Alan Turing entwickelt den Turing-Test, mit dem die Fähigkeit einer Maschine ermittelt wird, menschliche Handlungen so zu replizieren, dass sie nicht vom menschlichen Verhalten zu unterscheiden sind. • 1956: Initiiert von John Mc Carthy findet am Dartmouth College die erste globale KI-Tagung statt. Der Begriff Künstliche Intelligenz wird geprägt. Arthur Samuel präsentiert eine Software, die Dame gegen sich selbst spielt und dabei lernt. Die Software gewinnt am Ende gegen den Menschen. • 1958: John McCarthy entwickelt Lisp, die populärste und immer noch bevorzugte Programmiersprache für die KI-Forschung. • 1964: Daniel Bobrow, Informatiker, gründet STUDENT, ein frühes KI-Programm, das in Lisp geschrieben wurde. Es formulierte elementare Rechenaufgaben in natürlicher Umgangssprache und löste sie. Es gilt als Pionierarbeit in der KI. • 1966: Joseph Weizenbaum, Informatiker und Professor, entwickelt ELIZA, ein interaktives Computerprogramm, das sich funktionell auf Englisch mit einer Person unterhalten konnte. Viele Menschen schrieben ELIZA anthropomorphe Merkmale zu. • 1986:
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Mercedes-Benz baut unter Leitung von Ernst Dickmanns einen fahrerlosen Van mit Kameras und Sensoren. Er war in der Lage, bis zu 88 km/h auf einer Straße ohne andere Hindernisse oder menschliche Fahrer zu fahren. • 1997: Der IBM-Rechner Deep Blue gewinnt unter Turnierbedingungen gegen den Schachweltmeister Garri Kasparow. • 1997: Die deutschen Informatiker Sepp Hochreiter und Jürgen Schmidhuber entwickeln Long Short-Term Memory (LSTM), eine Art rekurrente neuronale Netzwerkarchitektur (RNN). Eine Technik, die erheblich zur Verbesserung der Entwicklung von KI beigetragen hat. • 2000: Honda präsentiert ASIMO, einen künstlich intelligenten humanoiden Roboter. • 2002: i-Robot bringt Roomba, einen autonomen Robotersauger auf den Markt, der reinigt und gleichzeitig Hindernisse vermeidet. • 2004: Forschungsroboter der NASA, Spirit and Opportunity, navigieren ohne menschliches Zutun über die Marsoberfläche. • 2006: Oren Etzioni, Michele Banko und Michael Cafarella prägen den Begriff Maschinenlesen – definiert als unbeaufsichtigtes autonomes Verständnis von Text. • 2007: Der Informatikprofessor Fei Fei Li und Kollegen entwickeln ImageNet, eine Datenbank mit kommentierten Bildern. Ziel: Hilfe bei der Softwareentwicklung zur Objekterkennung. • 2009: Google entwickelt heimlich ein fahrerloses Auto. 2012 erfolgt die Zulassung in Nevada, Florida und Kalifornien. • 2010: Microsoft bringt Kinect für die Xbox 360 auf den Markt, die erste Bewegungserkennung mit 3D-Kamera und Infrarot-Erkennung. • 2011: IBM Watson besiegt zwei Champions der TV-Show Jeopardy. • 2011: Apple veröffentlicht Siri. Es passt sich den Sprachbefehlen der Benutzer an und projiziert ein „individualisiertes Erlebnis“. • 2012:
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Die Google-Researcher Jeff Dean und Andrew Ng trainieren ein neuronales Netz mit 16.000 Prozessoren, Bilder von Katzen zu erkennen, indem sie 10 Mio. unbenannte Bilder aus YouTube-Videos zeigen. • 2013: Ein Forschungsteam der Carnegie Mellon University veröffentlicht Never Ending Image Learner (NEIL), ein semantisches Lernsystem, das Bildbeziehungen vergleichen und analysieren kann. • 2014: Microsoft veröffentlicht Cortana, eine virtuelle Assistentin vergleichbar mit Siri. • 2014: Amazon entwickelt Alexa. • 2015: Elon Musk, Stephen Hawking, Steve Wozniak und 3000 andere unterzeichnen einen offenen Brief, der die Entwicklung und den Einsatz autonomer Waffen für Kriegszwecke verurteilt. • 2015: Hanson Robotics entwickelt Sophia, einen humanoiden Roboter. Sie ist bekannt als die erste „Roboter-Bürgerin“. Was Sophia von früheren Humanoiden unterscheidet, ist ihre Ähnlichkeit mit einem echten Menschen, ihre Fähigkeit zu Mimik, zu sehen (Bilderkennung) und durch KI zu kommunizieren. • 2015–2017: AlphaGo von Google DeepMind, ein Computerprogramm, das das Brettspiel Go spielt, besiegt mehrere der besten menschlichen Spieler der Welt. • 2016: Google launcht Google Home, einen intelligenten Lautsprecher, der KI, vergleichbar mit Alexa, als persönlichen Assistenten einsetzt. • 2017: Facebooks KI-Labor trainiert zwei Chatbots, miteinander zu sprechen und zu lernen, wie man verhandelt. Während der Gespräche weichen die Chatbots von der menschlichen Sprache ab und erfinden ihre eigene Sprache, um miteinander zu kommunizieren – mit Künstlicher Intelligenz in hohem Maße. • 2018: Alibabas Sprachverarbeitungs-KI besiegt den menschlichen Intellekt bei einem Stanford Lese- und Verständnistest mit 100.000 Fragen. Mensch: 82,30 Punkte, Alibaba-Sprachverarbeitung: 82,44 Punkte. • 2018:
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Google entwickelt BERT, eine Technik, die Data-Scientists- und NLP(Natural Language Processing)-Anwendern in Hinblick auf Trainingsdaten mit Millionen oder gar Milliarden annotierter Einträge unterstützt. • 2018: Alipay bewertet die Kreditwürdigkeit von Kunden auf Basis von Algorithmen, die tausende von Verbraucherdatenpunkten nutzen – einschließlich ihres Kaufverhaltens, welches Telefon sie nutzen, welche Social-Media-Freunde sie haben und welche Augmented-Reality-Spiele sie spielen. • 2018: Die KI von Google DeepMind kann über 50 Augenerkrankungen so genau erkennen wie ein Arzt. Das System analysiert 3-D-Scans der Netzhaut und könnte helfen, die Diagnose im Krankenhaus zu beschleunigen. • 2018: Waymo, Googles Technologieunternehmen für autonomes Fahren, launcht Waymo ONE, einen Robo-Taxi Service. Aber: Die Autos haben einen Menschen hinter dem Steuer, der die Kontrolle übernehmen soll, falls das Auto etwas tut, das es nicht sollte. • 2018: KI-Forschern des Chipherstellers Nvidia gelingt es, täuschend echt wirkende Fake-Fotos und -Videos von Menschen zu erstellen. Genutzt werden zwei kooperierende Netzwerke: NW1 kreiert die Bilder, NW2 prüft die Überzeugungskraft. Eine Feedbackschleife optimiert die Bilder permanent. • 2018: Google Lens: Auf dem Open Source KI-Framework Tensorflow aufgebaute Bildanalyse-KI erkennt über eine Milliarde Objekte. Lens kombiniert fotografierte Objekte, Googles Bilddatenbank im Netz und Milliarden Suchanfragen und gibt Informationen über das Motiv. Auf Basis von Bildanalyse-KI können Ärzte bei der Diagnose von Alzheimer und Krebs unterstützt werden. Autos lernen hierdurch „sehen“. • 2018: KI-basierte Chatbots finden Einsatz bei Kundenservice (z. B. www.botxo.co), medizinischer Versorgung (z. B. https://www.babylonhealth.com) und in der therapeutischen Begleitung (z. B. www.woebot.com). • 2019: JPMorgan Chase, die größte US-Bank, beauftragt das Silicon-Valley-Unternehmen Persado („Nachrichtenmaschine für Künstliche Intelligenz“) Werbeanzeigen künstlich zu erzeugen. Die Posts erzielen die zwei- bis fünffache Resonanz verglichen mit Anzeigen von menschlichen Textern.
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• Der S&P 500 Retailer Kohl’s setzt KI ein, um in der Urlaubssaison seinen digitalen Mediaeinkauf zu optimieren und testet maschinell erstellte Marketingtexte in Betreffzeilen von Mails und Bannerwerbung. • Patch, ein amerikanischer Betreiber von 1227 lokalen Nachrichten-Webseiten in 50 amerikanischen Staaten, setzt KI ein, um Zeitungsartikel zu schreiben. Pro Woche schreibt KI rund 3000 Artikel und ersetzt damit menschlichen Journalismus.
8.5 Stufen der KI Grundsätzlich werden drei Stufen Künstlicher Intelligenz unterschieden: • Artificial Narrow Intelligence (ANI) – Auch: Schwache KI • ANI ist auf einen bestimmten Anwendungsfall spezialisiert. Für diesen spezifischen Anwendungsfall entspricht die Künstliche Intelligenz der menschlichen Intelligenz oder übersteigt sie. • „There’s AI that can beat the world chess champion in chess, but that’s the only thing it does. Ask it to figure out a better way to store data on a hard drive, and it’ll look at you blankly.“5 • Artificial General Intelligence (AGI) – Auch: Starke KI oder HumanLevel-KI • AGI bezieht sich auf Computer, die generell ebenso intelligent wie Menschen sind. Sie müssen in der Lage sein, jede intellektuelle Aufgabe zu erfüllen, die auch ein Mensch erfüllen kann. • Professor Linda Gottfredson: „AGI is a very general mental capability that, among other things, involves the ability to reason, plan, solve problems, think abstractly, comprehend complex ideas, learn quickly, and learn from experience.“6 • Artificial Superintelligence (ASI) – Künstliche Superintelligenz • Sie ist der menschlichen Intelligenz auf breiter Basis und in jeder Kategorie überlegen.
5https://waitbutwhy.com/2015/01/artificial-intelligence-revolution-1.html,
zugegriffen am 12.09.2019. 6https://waitbutwhy.com/2015/01/artificial-intelligence-revolution-1.html, zugegriffen am 12.09.2019.
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Abb. 8.2 Elon Musk (2016): Repost auf Twitter zu Wait but why
• Oxford-Philosoph und führender KI-Denker Nick Bostrom: „ASI is an intellect that is much smarter than the best human brains in practically every field, including scientific creativity, general wisdom and social skills.“7 Trotz einer Explosion der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten befindet sich Künstliche Intelligenz derzeit in der Regel noch auf der niedrigsten Stufe – der Artificial Narrow Intelligence. Im Ergebnis könnte man insofern zu dem Schluss kommen, dass aufgrund des aktuell noch niedrigen Niveaus Künstlicher Intelligenz kein Grund zur Sorge für Unternehmen, Mitarbeiter und das Bildungssystem besteht. Dies wäre der Fall, wenn die Entwicklung genau hier aufhören würde. KI steht indes vor einem exponentiellen Entwicklungsschub (Abb. 8.2). Since the rise of Homo sapiens, human beings have been the smartest minds around. But very shortly – on a historical scale, that is – we can expect technology to break the upper bound on intelligence that has held for the last few tens of thousands of years. Artificial Intelligence is one of the technologies that potentially breaks this upper bound. The famous statistician I. J. Good coined the term „intelligence
7https://waitbutwhy.com/2015/01/artificial-intelligence-revolution-1.html,
12.09.2019.
zugegriffen am
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explosion“ to refer to the idea that a sufficiently smart AI would be able to rewrite itself, improve itself, and so increase its own intelligence even further. (Eliezer Yudkowsky)8
Weltweit wird mit Hochdruck an der Entwicklung immer besserer KIAnwendungen gearbeitet. Von 2010 bis 2016 ist das Verhältnis von wissenschaftlichen Arbeiten zu Erfindungen von 8:1 auf 3:1 im Jahr gesunken World Intellectual Property Organisation (2019), während die Zahl der Patentanmeldungen gestiegen ist. Dies bedeutet, dass das Zusammenspiel zwischen Forschung und Entwicklung immer effizienter wird. Auf Basis der theoretischen KI-Forschung kommen immer mehr kommerzielle KI-Applikationen auf den Markt. Seit den 1950er-Jahren wurden von Forschern und Erfindern fast 340.000 Erfindungen im Zusammenhang mit KI angemeldet. Es wurden über 1,6 Mio. wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Die explosionsartige Entwicklung insbesondere in den letzten sechs Jahren lässt sich anhand der Anzahl der KI-bezogenen Patentanmeldungen ausmachen: Seit 2013 wurde mehr als die Hälfte aller weltweiten Patente veröffentlicht (World Intellectual Property Organisation 2019). Das jährliche Wachstum von Patentanmeldungen im Bereich KI liegt um ein Vielfaches über der durchschnittlichen Wachstumsrate von Anmeldungen über alle Technologiesparten hinweg (10 % zwischen 2013 und 2016). Im Bereich Machine Learning sind Deep Learning mit einer jährlichen Wachstumsrate von 175 % und 2399 Patentanmeldungen im Jahr 2016 sowie neuronale Netze mit einer Wachstumsrate von 46 % pro Jahr und 6506 Patentanmeldungen im Jahr 2016 die Bereiche mit dem stärksten Wachstum. Computer Vision einschließlich Bilderkennungsanwendungen wächst um durchschnittlich 24 % pro Jahr. Hier gab es 2016 insgesamt 21.011 Patentanmeldungen. Robotik und Kontrollverfahren wachsen um rund 55 % pro Jahr World Intellectual Property Organisation (2019). In welchen Ländern ist die größte Zahl an Unternehmen im Bereich KI angesiedelt? Die sechs größten KI-Nationen nach Anzahl der KI-Start-ups sind die USA, China, Israel, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland. Bezeichnend ist, dass Deutschland mit nur 4 % der insgesamt in diesen Ländern gegründeten Unternehmen das Schlusslicht ist (Abb. 8.3). Gründe hierfür liegen unter anderem in
8https://yudkowsky.net/,
zugegriffen am 12.09.2019.
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Abb. 8.3 Anzahl KI-Start-ups in den größten KI-Nationen (Statista 2020)
• den vergleichsweise hohen administrativen Hürden für die Gründung neuer Unternehmen in Deutschland, • der im Verhältnis zu anderen Ländern schwach ausgeprägten Start-upInvestitionslandschaft und Risikobereitschaft, • dem sehr restriktiven Datenschutz. KI benötigt ein großes Maß an Daten. Wenn diese aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen nur höchst eingeschränkt zur Verfügung stehen, fehlt es an der elementaren Grundlage für erfolgreiche Forschung und Entwicklung im Bereich KI. Führende europäische Industrienationen wie Deutschland und Frankreich verschließen sich aufgrund regulativer Restriktionen essenziellen Zukunftsmärkten, die Grundlage für künftigen wirtschaftlichen Erfolg sind, und geraten in massive Abhängigkeit von führenden KI-Nationen wie den USA und China.
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8.6 KI-Trends in der Wirtschaft Künstliche Intelligenz hält Einzug in eine Vielzahl von Bereichen unseres Lebens. Welche Trends und Einsatzbereiche gibt es mit Blick auf Wirtschaft und Unternehmen? Nachfolgend sind exemplarisch einige wesentliche Entwicklungen und Bereiche beschrieben: Echtzeit-Steuerung und Anpassung komplexer Produktionsprozesse in Fabriken Beispiel: KI-basierte Steuerung des Verbrennungsprozesses in Gasturbinen der Firma Siemens. Das Überwachungssystem nimmt Feineinstellungen vor, die den Lauf der Turbinen bezüglich Emissionen und Verschleiß optimieren und in Echtzeit permanent nach der besten Einstellung suchen.9 Making better bets Hier geht es um die Entwicklung probabilistischer Modelle, die mit großer Unsicherheit umgehen, auf spärliche Daten reagieren und aus Erfahrungen lernen können. Beispiel: Das Projekt Loon von Alphabet. Navigationssysteme verwenden Gaußsche Prozesse, um vorherzusagen, wohin Ballons für Internetverbindungen in geschichteten und sehr variablen Winden in der Höhe fahren müssen.10 KI-fähige Chips Diese dienen der Beschleunigung von Anwendungen, die KIbasiert ablaufen. Dies ermöglicht z. B. effizientere Anwendungen im Bereich der Gesichtserkennung, Objektidentifikation und Computer Vision.11 KI meets IoT Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bereich des Internet of Things ermöglicht, Probleme der Vernetzung physischer und digitaler Gegenstände frühzeitig zu erkennen, Sachverhalte besser zu analysieren und zu optimieren. Das Bindeglied sind Daten. Beispiele: Optimierung von Logistikrouten, Warehousing, Analyse des Wartungsbedarfs von Maschinen und IT.12
9https://hbr.org/2019/01/the-future-of-ai-will-be-about-less-data-not-more,
zugegriffen am 12.09.2019. 10https://hbr.org/2019/01/the-future-of-ai-will-be-about-less-data-not-more, zugegriffen am 12.09.2019. 11https://www.forbes.com/sites/cognitiveworld/2019/04/25/5-top-ai-trends/#5bf9a09b6aa0, zugegriffen am 12.09.2019. 12https://www.forbes.com/sites/cognitiveworld/2019/04/25/5-top-ai-trends/#5bf9a09b6aa0, zugegriffen am 12.09.2019.
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Automated machine learning – Vereinfachung der Geschäftsanalyse Ermöglicht die Automatisierung von Business Analytics und das effiziente Lösen komplexer Problemstellungen in Unternehmen.13 AutoML ersetzt die bislang zeitaufwendigen und ressourcenintensiven maschinellen Lernmethoden. Es wird deutlich einfacher, Lernmodelle zu definieren und systematische, auf Rohdaten ausgerichtete Prozesse aufzusetzen und durch die relevantesten Daten herauszufiltern. Perfektionierung der Gesichtserkennung Die genauere und bessere Identifizierung von Gesichtern ist elementar für sicherheitsrelevante Anwendungen wie z. B. im Finance-Bereich und bei Behörden. Der Einsatz von automatisierter Gesichtserkennung im Marketing ermöglicht bessere, personalisierte Dienstleistungen und eine Optimierung der Customer Journey im Handel, indem z. B. über Kameras im stationären Handel das Verhalten und die Reaktionen von Kunden getrackt und analysiert werden. Dies ermöglicht dem Handel eine Optimierung des Sortiments und der Platzierungsmodelle. Kreative KI Selbstlernende Algorithmen ermöglichen das Generieren kreativer Inhalte. KI wird heute bereits eingesetzt, um Musik zu schreiben, Werke großer Maler nachzuahmen und kreative Entscheidungen beim Filmemachen zu treffen – z. B. um aus hunderten Stunden Rohmaterial die wichtigsten Szenen für den Schnitt herauszusuchen. Die KI-Software Aiva – https://www.aiva.ai – ist in der Lage, Soundtracks für Filme, Videospiele, Werbespots und jede Art von Entertainmentinhalten zu komponieren. Die KI hat das Komponieren von Musik gelernt, indem sie eine große Sammlung von Musik-Partitionen von Komponisten wie Mozart, Beethoven und Bach gelesen hat, um Musik mathematisch zu modellieren. Dieses Modell wird dann von der KI benutzt, um völlig neue Musikkompositionen zu schreiben. KI in Vertrieb & Marketing Künstliche Intelligenz schafft die Grundlage für Effizienzsteigerungen und die Optimierung von Prozessen in Vertrieb und Marketing. Durch die Einführung KI-basierter Technologien kann bis zu 40 % der Zeit für repetitive Vertriebsaufgaben automatisiert werden.14 Dies ermöglicht
13https://www.forbes.com/sites/cognitiveworld/2019/04/25/5-top-ai-trends/#5bf9a09b6aa0,
zugegriffen am 12.09.2019. 14https://www.forbes.com/sites/cognitiveworld/2019/04/25/5-top-ai-trends/#5bf9a09b6aa0,
zugegriffen am 12.09.2019.
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Vertriebsmitarbeitern, sich besser auf ihre Kernaufgaben – Kundengewinnung und Ausbau des Customer Lifetime Value zu konzentrieren – und Unternehmen, kostenintensive Vertriebsressourcen zu optimieren. KI-basierte Software führt zu Steigerungen bei der Leadgenerierung und der Buchung von Vertriebsterminen um mehr als 50 %15 und ermöglicht bis zu 30 % höhere Konversionsraten im B2B-Vertrieb.16 Im Bereich der Leadgenerierung unterstützt KI unter anderem durch sich selbstständig aktualisierende Datenbanken mit potenziellen Leads, die mit einer Vielzahl an Social-Media-Plattformen verbunden sind. Die Datenbanken enthalten individuelle Profile der einzelnen Kontakte, ihre sozialen Präferenzen und Bedürfnisse und Daten über die Unternehmen, für die sie arbeiten. KI-basierte Software (z. B. www. conversica.com) kommuniziert in Echtzeit mit möglichen Leads. GrowthBot (www.growthbot.org) ist ein Chatbot für Marketing und Vertrieb. Er verbindet sich mit einer Vielzahl von Marketingsystemen (HubSpot, Google Analytics etc.) und Datenbanken und ermöglicht automatisierten Zugriff auf für Marketing und Vertrieb relevante Informationen. Vertriebsmanager müssen ihre Ressourcen und ihren Fokus auf die Leads lenken, die am erfolgversprechendsten sind, um ihre Zielvorgaben zu erreichen. Oft basiert der Entscheidungsprozess auf Bauchgefühl und unvollständigen Informationen. Aus diesem Grund sind Leadscoring & -grading essenzielle Werkzeuge, um Prioritäten besser zu setzen und den Fokus auf die Leads mit dem höchsten Erfolgspotenzial mit Blick auf Abschlusswahrscheinlichkeit und Deal-Größe zu lenken. KI hilft auf Basis historischer Informationen über einen Lead – z. B. seine Social-Media-Beiträge, die Interaktion vor Kontaktaufnahme (Website-Besuche, Verweildauer, Downloads von Informationen, Territorium/Region, Branche, Jahresumsatz, Hierarchieebene etc.) – Abschlusswahrscheinlichkeiten zu bewerten. Gleiches gilt für Opportunities mit Blick auf die Kundeninteraktionshistorie des Verkäufers (z. B. gesendete E-Mails, hinterlassene Voicemails, gesendete Textnachrichten usw.).17
15 https://hbr.org/2016/06/why-salespeople-need-to-develop-machine-intelligence,
zugegriffen am 16.09.2019. 16 https://www.gartner.com/en/newsroom/press-releases/2018-02-19-gartner-says-25-
percent-of-customer-service-operations-will-use-virtual-customer-assistants-by-2020, zugegriffen am 16.09.2019. 17https://hbr.org/2018/07/how-ai-is-changing-sales, zugegriffen am 16.09.2019.
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KI unterstützt auch bei der Entwicklung von Preisstrategien. Hierbei berechnen Algorithmen auf Basis spezifischer Merkmale vergangener Deals, die gewonnen oder verloren wurden, den idealen Preis, um sicherzustellen, dass ein Deal gewonnen wird. Zu den Merkmalen können gehören: Größe des Geschäfts in Bezug auf Deal-Value, Einhaltung der Produktspezifikationen, Anzahl der Wettbewerber, Unternehmensgröße, Territorium/Region, Branche des Kunden, Jahresumsatz des Kunden, öffentliches oder privates Unternehmen, Ebene der beteiligten Entscheidungsträger (Influencer), Zeitpunkt (z. B. Q2 vs. Q4), neuer oder bestehender Kunde etc.18 Auch im für Controlling und Vertriebssteuerung elementar wichtigen Bereich des Vertriebsforecastings und Performance Managements ermöglicht KI bessere Vorhersagen über die Entwicklung von Verkaufszahlen. Unternehmen können durch sicherere Prognosen über Vertriebsergebnisse innerhalb festgelegter Berichtszeiträume Ressourcen, Bestände, Supply Chain, Produktion und Logistik besser managen. Mit KI-gestützten Dashboards können Vertriebsleiter sehen, welche Salesmanager voraussichtlich ihre Zielvorgaben erreichen werden, welche Opportunities mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen werden können und welche innerhalb des Reportingzeitraums noch Unterstützung benötigen, um abgeschlossen zu werden. So können Ressourcen auf die wichtigsten potenziellen Abschlüsse gelenkt und Strategien entwickelt werden, die die Abschlusswahrscheinlichkeit erhöhen. Vertriebsmitarbeiter können auf Basis von KI-basierten Dashboards besser gecoacht werden. Für die Erhöhung des Customer Lifetime Value sind Up- und Cross-Selling an Bestandskunden von entscheidender Bedeutung. KI unterstützt Vertriebsteams dabei, herauszufinden, welche Bestandskunden mit hoher Wahrscheinlichkeit für ein Upgrade bereits genutzter Produkte oder neue Produktangebote offen sind. Auf diese Weise können Vertriebs- und Marketingaktivitäten budget- und ressourcenoptimiert geplant und umgesetzt werden.19 Künstliche Intelligenz unterstützt ferner im für Effizienzsteigerungen bei Marketingkampagnen essenziellen Bereich der Hyperpersonalization. KIbasierte Marketingautomatisierung ermöglicht, Customer Experience auf Basis der Interaktionshistorie, Kaufgewohnheiten, Verhaltensmerkmalen und digitalen Präferenzen zu personalisieren. Durch Deep Learning können neben der Historie auch die voraussichtlichen Kaufabsichten ermittelt werden.
18https://hbr.org/2018/07/how-ai-is-changing-sales, 19https://hbr.org/2018/07/how-ai-is-changing-sales,
zugegriffen am 16.09.2019. zugegriffen am 16.09.2019.
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C. Massmann und A. Hofstetter
Software-Lösungen wie Albert (www.albert.ai) managen komplette Marketingkampagnen automatisiert. Albert plant, entwickelt, testet, exekutiert und optimiert Paid Search, Social- und Programmatic-Kampagnen 24/7. Die Software Trapica (www.trapica.com) ermöglicht es Vermarktern, das richtige Publikum zum richtigen Zeitpunkt zu erreichen. Trapica verwendet KI, um – basierend auf erfolgreichen Konvertierungen während der Kampagne – Kampagnenziele und Keywords zu aktualisieren. In vielen Unternehmen bereits erfolgreich implementiert sind KI-basierte Chatbots. Customer-Service-Chatbots können auf der einen Seite Unternehmen unterstützen, Kosten signifikant senken. Für viele Unternehmen sind aber mehr die Verbesserungen entscheidend, die Chatbots bei der Customer-Experience erzielen.20 Die Implementierung von Chatbots/VCAs sorgt für eine Reduzierung von bis zu 70 % der Anrufe, Chats und E-Mail-Anfragen, womit Kosteneinsparungen für Unternehmen von bis zu 33 % erzielt werden können – verbunden mit einer Steigerung der Kundenzufriedenheit.21 Nach einer Studie der globalen Media- und Marketingagentur Mindshare macht es für 63 % der Kunden keinen Unterschied, ob sie mit einem Unternehmen oder einer Marke über einen Online-Bot oder einen Menschen kommunizieren.22 Gibt es trotz allem Bereiche, in denen KI der menschlichen Intelligenz nicht überlegen sein wird? In der Studie The Future of Employment: How Susceptible Are Jobs to Computerization des Oxford-Ökonomen Carl Benedikt Frey und des OxfordProfessors für Machine Learning Michael A. Osborne aus dem Jahr Frey und Osborne (2013) wurden mit den Engineering Bottlenecks drei Bereiche definiert, in denen Künstliche Intelligenz nicht an die Fähigkeiten des Menschen heranreichen wird (Frey und Osborne 2013).
20https://hbr.org/2019/05/does-your-company-really-need-a-chatbot,
zugegriffen am 16.09.2019. 21 https://www.gartner.com/en/newsroom/press-releases/2018-02-19-gartner-says-25percent-of-customer-service-operations-will-use-virtual-customer-assistants-by-2020, zugegriffen am 16.09.2019. 22 https://www.mindshareworld.com/sites/default/files/MINDSHARE_HUDDLE_ HUMANITY_MACHINE_2016_0.pdf, zugegriffen am 16.09.2019.
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Perception and manipulation tasks Roboter sind immer noch nicht in der Lage, die Tiefe und Breite der menschlichen Wahrnehmung zu erreichen … es bleiben erhebliche Herausforderungen für komplexere Wahrnehmungsaufgaben, wie die Identifizierung von Objekten und deren Eigenschaften in einem überladenen Sichtfeld … Die Schwierigkeit der Wahrnehmung hat Auswirkungen auf Manipulationsaufgaben, insbesondere auf den Umgang mit unregelmäßigen Objekten, für die Roboter noch nicht die menschliche Eignungsebene erreicht haben ... Es gibt noch weitere Probleme bei der Konstruktion von Manipulatoren, die, wie menschliche Gliedmaßen, weich sind, eine konforme Dynamik haben und nützliche taktile Rückmeldungen liefern. Creative intelligence tasks Das Haupthindernis für die Computer-Kreativität besteht darin, dass unsere kreativen Werte so klar und deutlich erfasst werden können, dass sie in einem Programm kodiert werden können … Kreativität bedeutet per Definition nicht nur Neuheit, sondern auch Werte, und weil Werte sehr variabel sind, folgt daraus, dass viele Diskussionen über Kreativität in Meinungsverschiedenheiten über Werte wurzeln … es ist unwahrscheinlich, dass Berufe, die ein hohes Maß an kreativer Intelligenz erfordern in den nächsten Jahrzehnten automatisiert werden. Social intelligence tasks Menschliche soziale Intelligenz ist wichtig für ein breites Spektrum an Arbeitsaufgaben, wie z. B. Verhandlung, Überzeugungsarbeit, Betreuung und Pflege … Dies liegt vor allem daran, dass gesunder Menschenverstand schwer zu artikulieren ist, dieser Algorithmen aber zugänglich gemacht werden müsste, um in einem menschlichen sozialen Umfeld zu funktionieren.
Allerdings zeigen aktuelle Entwicklungen unter anderem im Bereich kreativer Künstlicher Intelligenz, dass die Prognosen von Frey und Osborne (2013) mit Vorsicht zu genießen sind. Die Innovationsdynamik im Bereich KI hat sich – unter anderem aufgrund der immer kürzeren technologischen Entwicklungszyklen, des explosionsartig angestiegenen Datenvolumens und des erheblichen Monetarisierungspotenzials – so dramatisch verändert, dass nicht auszuschließen ist, dass KI auch in die von Frey und Osborne (2013) definierten „Schutzzonen“ eindringen wird.
8.7 Relevanz von KI für Unternehmen und Mitarbeiter Die Entwicklungen im Bereich KI als Teil der vierten industriellen Revolution haben erhebliche Relevanz für die Weltwirtschaft und Unternehmen jeder Größenordnung. Dies gilt in gleichem Umfang für die – jetzigen und künftigen – Mitarbeiter von Unternehmen. Zum einen, weil durch Automatisierung eine nicht unerhebliche Zahl an Arbeitsplätzen wegfallen wird, zum anderen, weil KI
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gänzlich neue Anforderungen an Mitarbeiter und ihre Kenntnisse hinsichtlich der Arbeit mit Technologie stellen wird. Darüber hinaus entstehen neue Berufsbilder und Stellenprofile. Künstliche Intelligenz steigert die Produktivität und schafft die Grundlage für erhebliche Kosteneinsparungen in Unternehmen. Allein im Bereich Financial Services (z. B. Banken, Investmentgesellschaften, Versicherungen) entstehen durch die Automatisierung von Prozessen in Front-, Middle- und Backoffice in den nächsten zehn Jahren Einsparpotenziale von bis zu einer Billion USD.23 KI wird die Arbeitsproduktivität bis 2035 um mehr als 40 % steigern und den Menschen ermöglichen, ihre Zeit effizienter zu nutzen.24 Nach Prognosen der Unternehmensberatung McKinsey ermöglicht KI die Steigerung der globalen Produktion bis zum Jahr 2030 um 16 %. Dies entspricht 13 Billionen USD.25 Das globale Bruttoinlandsprodukt soll im gleichen Zeitraum um 1,2 % jährlich wachsen. Zum Vergleich: Die Entwicklung der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert hat zu einer jährlichen Erhöhung der Produktivität um 0,3 % gesorgt, Roboter in den 1990er-Jahren für eine Erhöhung um 0,4 % und der Einsatz von IT in den 2000er-Jahren zu einer Erhöhung um 0,6 %.26 Der Reifegrad eines Unternehmens beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird verstärkt zum Wettbewerbsvorteil, bzw. – im Falle eines niedrigen Reifegrads – zu einem Wettbewerbsnachteil. Das MIT Sloane Institute of Management unterscheidet vier Stufen der KIDurchdringung in Unternehmen:27
23https://next.autonomous.com/thoughts/1-trillion-in-exposure-from-artificial-intelligence-
on-finance, zugegriffen am 17.09.2019. 24https://www.accenture.com/us-en/insight-artificial-intelligence-future-growth,
zugegriffen am 17.09.2019. 25 https://www.mckinsey.com/~/media/McKinsey/Featured%20Insights/Artificial%20 Intelligence/Notes%20from%20the%20frontier%20Modeling%20the%20impact%20 of%20AI%20on%20the%20world%20economy/MGI-Notes-from-the-AI-frontierModeling-the-impact-of-AI-on-the-world-economy-September-2018.ashx, zugegriffen am 17.09.2019. 26 https://www.mckinsey.com/~/media/McKinsey/Featured%20Insights/Artificial%20 Intelligence/Notes%20from%20the%20frontier%20Modeling%20the%20impact%20 of%20AI%20on%20the%20world%20economy/MGI-Notes-from-the-AI-frontierModeling-the-impact-of-AI-on-the-world-economy-September-2018.ashx, zugegriffen am 17.09.2019. 27 https://sloanreview.mit.edu/projects/artificial-intelligence-in-business-gets-real/,
zugegriffen am 17.09.2019.
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• Passives Unternehmen auf dieser Stufe haben ein geringes Verständnis von KI-Technologien und ihren Einsatzmöglichkeiten und dementsprechend einen geringen Implementierungsgrad. • Experimenters Diese Unternehmen haben bereits in Einzelfällen KI implementiert, aber nur ein begrenztes Verständnis von KI-Technologie und ihren Einsatzmöglichkeiten. • Investigators Unternehmen, die in die Kategorie der Investigators fallen, verstehen die Anwendungsmöglichkeiten von KI, haben diese aber bislang nur begrenzt im Einsatz. • Pioneers Pioniere sind Unternehmen, die ein umfassendes Verständnis von KI-Tools und -Konzepten haben und die über ein hohes Maß an KI-Implementierung verfügen. „Pioniere sind bestrebt, KI im gesamten Unternehmen zu skalieren. Typischerweise wird dies von Unternehmen getan, die früh mit KI Erfolg hatten, weil z. B. einige KI-kundige Manager innerhalb einer Geschäftseinheit ein Problem entdeckten, das effektiver gelöst werden konnte, zum Beispiel mit natürlicher Sprachverarbeitung (NLP). Sie sind bestrebt, KI auf jeder Unternehmensebene zu implementieren. Ibrahim Gokcen, Chief Digital Officer der dänischen Reederei Maersk: ‚Skalierte KI ist der nächste Schritt der digitalen Transformation.‘ Pioniere priorisieren umsatzgenerierende Anwendungen gegenüber kostensparenden. 72 % der Pioniere sagen, dass KI in den nächsten fünf Jahren hauptsächlich Umsatzsteigerungen bringen wird, während nur 28 % hauptsächlich Kosteneinsparungen erwarten.“28 Welche Auswirkungen hat der Grad der KI-Durchdringung auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen? Der Rank Effect von Massoud Karshenas and Paul L. Stoneman beschreibt die dynamische Entwicklung zwischen technologischen Front-Runnern – vergleichbar mit den „Pionieren“ – und Late Adopters – vergleichbar mit den „Passives“. Hiernach erzielen Front-Runner überproportional höhere Renditen als Late Adopters. Dies hat zur Folge, dass der Abstand zwischen Pionieren und Nachzüglern umso größer wird, je später letztere Technologie im Unternehmen implementieren (Karshenas und Stoneman 1993). Untätigkeit und
28 https://sloanreview.mit.edu/projects/artificial-intelligence-in-business-gets-real/,
zugegriffen am 17.09.2019.
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Passivität werden mithin durch größer werdende Wettbewerbsnachteile bestraft. Im Übrigen hat technologische Rückständigkeit auch erheblichen Impact auf die Attraktivität von Unternehmen für Mitarbeiter. Im War for Talent haben Late Adopters daher auch das Nachsehen, wenn es um die Gewinnung oder das Halten von Leistungsträgern, High Potenzials und Spezialisten geht. Dieser Trend wird durch drei Faktoren erheblich verstärkt: Daten, Cloud Computing und KI. Zwar existiert Moore’s Law im engeren Sinne nicht mehr. Die Verdopplung der Leistungsfähigkeit von Computern alle zwei Jahre stößt aufgrund der Größe der Chipelemente an ihre physikalischen Grenzen. Indes sind Daten, Cloud Computing und KI das neue Öl für Wettbewerbsfähigkeit und Performance von Unternehmen. Anders als im prädigitalen Zeitalter, in dem das Gründen und der Betrieb von Unternehmen erhebliche Investitionen in Personal, Infrastruktur, IT, Produktionsstätten etc. erforderte, gibt es heute keine hohen Markteintrittsbarrieren mehr. Jedes Unternehmen jeder Größe kann seine Wachstumsinfrastruktur durch die Nutzung von Drittanbietern für Cloudcomputing, Software as a Service und den Bezug von Daten für jeden Unternehmensbereich kostengünstig „mieten“ (Polson und Scott 2018). Selbst kleine Unternehmen haben daher eine große Chance auf sehr schnellen Markteintritt und eine erfolgreiche Marktdurchdringung. Die Folge ist Disruption. Challenger – aggressive Start-ups – und sehr agile, am Markt bereits tätige Player disruptieren und verdrängen weniger agile Incumbents. Sie agieren in allen relevanten Bereichen schneller und effizienter. Die Bedrohung ist permanent und sie wird nicht aufhören (Massmann 2021). Wie sind die Auswirkungen von KI auf Jobs einzuschätzen? Wie in Abschn. 8.2 bereits beschrieben, werden Schätzungen des World Economic Forum zufolge bis 2022 bis zu 75.000.000 Jobs durch KI ersetzt, während 133.000.000 Jobs neu entstehen.29 Der Anteil von Jobs mit repetitiven Aufgaben und solchen, die geringe digitale Fähigkeiten erfordern, kann bis 2030 von 40 % auf 30 % sinken.30 Im gleichen Zeitraum wird der Anteil an Jobs, die keinen repetitiven Charakter haben und die ein hohes Maß an digitalen Fähig29https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by-
2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 11.09.2019. 30 https://www.mckinsey.com/~/media/McKinsey/Featured%20Insights/Artificial%20 Intelligence/Notes%20from%20the%20frontier%20Modeling%20the%20impact%20 of%20AI%20on%20the%20world%20economy/MGI-Notes-from-the-AI-frontierModeling-the-impact-of-AI-on-the-world-economy-September-2018.ashx, zugegriffen am 11.09.2019.
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keiten erfordern, von 40 % auf 50 % steigen.31 Bis 2025 könnten mehr als 50 % aller derzeitigen Aufgaben am Arbeitsplatz von Maschinen erledigt werden (2017: 29 %).32 14 % der Jobs in OECD-Staaten könnten künftig voll automatisierbar, weitere 32 % könnten von wesentlichen Veränderungen bei der Ausführung der Jobs durch Automatisierung betroffen sein.33 In Deutschland liegt nach Schätzungen der OECD der Anteil der Jobs, die automatisierbar sind oder im Risiko einer wesentlichen Veränderung stehen, bei 54 %.34 Bei der Frage, ob Künstliche Intelligenz eine Bedrohung oder Chance für Arbeitnehmer ist, gibt es zwei entgegengesetzte Lager: Zu den Pessimisten, die die weitere Entwicklung im Bereich KI äußerst kritisch sehen, gehören Elon Musk, Stephen Hawking, Bill Gates und Andrew Ng, Gründer von Google Brain, dem Deep Learning Intelligence Research Team von Google: I have exposure to the most cutting edge AI, and I think people should be really concerned by it … AI is a fundamental risk to the existence of human civilization in a way that car accidents, airplane crashes, faulty drugs or bad food were not — they were harmful to a set of individuals within society, of course, but they were not harmful to society as a whole. There certainly will be job disruption. Because what’s going to happen is robots will be able to do everything better than us. ... I mean all of us … Yeah, I am not sure exactly what to do about this. This is really the scariest problem to me, I will tell you. (Elon Musk)35 A.I. will make jobs kind of pointless … We will be far, far surpassed in every single way. I guarantee it. (Elon Musk)36
31 https://www.mckinsey.com/~/media/McKinsey/Featured%20Insights/Artificial%20 Intelligence/Notes%20from%20the%20frontier%20Modeling%20the%20impact%20 of%20AI%20on%20the%20world%20economy/MGI-Notes-from-the-AI-frontierModeling-the-impact-of-AI-on-the-world-economy-September-2018.ashx, zugegriffen am 11.09.2019. 32https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 11.09.2019. 33https://www.oecd.org/els/emp/future-of-work/Automation-policy-brief-2018.pdf /, zugegriffen am 11.09.2019. 34https://www.oecd.org/berlin/themen/zukunft-der-arbeit/, zugegriffen am 11.09.2019. 35https://www.cnbc.com/2017/07/17/elon-musk-robots-will-be-able-to-do-everythingbetter-than-us.html, zugegriffen am 11.09.2019. 36https://www.cnbc.com/2019/08/29/elon-musk-ai-will-make-jobs-kind-of-pointless-sostudy-this.html, zugegriffen am 11.09.2019.
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The genie is out of the bottle. We need to move forward on artificial intelligence development but we also need to be mindful of its very real dangers. I fear that AI may replace humans altogether. If people design computer viruses, someone will design AI that replicates itself. This will be a new form of life that will outperform humans. (Stephen Hawking)37 I am in the camp that is concerned about super intelligence … I agree with Elon Musk and some others on this and don't understand why some people are not concerned. (Bill Gates)38 Yet the biggest harm that AI is likely to do to individuals in the short term is job displacement, as the amount of work we can automate with AI is vastly bigger than before. (Andrew Ng, founder of Google Brain)39
Zu den Optimisten gehören Jack Ma, Gründer der größten B2B-Handelsplattform der Welt und Dr. Kai Fu Lee, der frühere Chef von Google China, Buchautor, Geschäftsmann und Entwickler des weltweit ersten sprecherunabhängigen kontinuierlichen Spracherkennungsprogramms. I’ve never in my life, especially [in the] last two years, when people talk about AI, human beings will be controlled by machines … I never think about that. It’s impossible. (Jack Ma, founder Alibaba)40 The jobs that AI may eliminate are the jobs that humans should never have been doing in the first place: repetitive tasks that were meant to be relegated to machines. If there is a creator he would see AI as a gift for humanity. (Dr. Kai Fu Lee, former head of Google China)41
In der Studie The Future of Jobs 2018 hat das World Economic Forum prognostiziert, welche Jobs im Zuge der Digitalisierung und der zunehmenden Durchdringung von Unternehmen mit Künstlicher Intelligenz voraussichtlich stabil bleiben, neu entstehen und wegfallen werden (Tab. 8.1).
37https://www.wired.co.uk/article/stephen-hawking-interview-alien-life-climate-change-
donald-trump, zugegriffen am 12.09.2019. 38https://www.reddit.com/r/IAmA/comments/2tzjp7/hi_reddit_im_bill_gates_and_im_
back_for_my_third/, zugegriffen am 12.09.2019. 39 https://hbr.org/2016/11/what-artificial-intelligence-can-and-cant-do-right-now,
zugegriffen am 12.09.2019. 40https://www.cnbc.com/2019/08/29/elon-musk-ai-will-make-jobs-kind-of-pointless-sostudy-this.html, zugegriffen am 11.09.2019. 41https://asiasociety.org/northern-california/dr-kai-fu-lee-ai-superpowers, zugegriffen am 12.09.2019.
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Tab. 8.1 Künftige Entwicklung von Jobs 2018. (Quelle: World Economic Forum 2018) Stabile Jobs
Neue Jobs
Wegfallende Jobs
Managing Directors and Chief Data Analysts and Executives Scientists*
Data Entry Clerks
General and Operations Managers*
AI and Machine Learning Specialists
Accounting, Bookkeeping and Payroll Clerks
Software and Applications Developers and Analysts*
General and Operations Managers*
Administrative and Executive Secretaries
Data Analysts and Scientists*
Big Data Specialists
Assembly and Factory Workers
Sales and Marketing Professionals*
Digital Transformation Specialists
Client Information and Customer Service Workers*
Sales and Marketing Sales Representatives, Wholesale and Manufacturing, Professionals* Technical and Scientific Products
Business Services and Administration Managers
Human Resources Specialists
New Technology Specialists
Accountants and Auditors
Financial and Investment Advisers Database and Network Professionals
Organizational Development Specialists*
Material-Recording and Stock-Keeping Clerks
Supply Chain and Logistics Specialists
Software and Applications General and Operations Developers and Analysts* Managers*
Risk Management Specialists Information Technology Information Security Analysts* Services
Postal Service Clerks
Management and Organization Process Automation Analysts Specialists
Financial Analysts
Electrotechnology Engineers Organizational Development Specialists*
Innovation Professionals
Cashiers and Ticket Clerks
Chemical Processing Plant Operators
Information Security Analysts*
Mechanics and Machinery Repairers
University and Higher Education Teachers
Ecommerce and Social Media Specialists
Telemarketers
Compliance Officers Energy and Petroleum Engineers
User Experience and Human-Machine Interaction Designers
Electronics and Telecommunications Installers and Repairers
Robotics Specialists and Engineers
Training and Development Bank Tellers and Related Specialists Clerks (Fortsetzung)
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Tab. 8.1 (Fortsetzung) Stabile Jobs
Neue Jobs
Wegfallende Jobs
Petroleum and Natural Gas Refining Plant Operators
Robotics Specialists and Engineers
Car, Van and Motorcycle Drivers
People and Culture Specialists
Sales and Purchasing Agents and Brokers, Door-To-Door Sales Workers, News and Street Vendors and Related Workers
Client Information and Customer Service Workers*
Statistical, Finance and Insurance Clerks
Service and Solutions Designers
Lawyers
Digital Marketing and Strategy Specialists Mit * markierte Rollen sind in mehreren Spalten zu finden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Nachfrage in einer Branche stabil oder rückläufig sein kann, in einer anderen Branche aber wachsen kann.
Welche Skill Sets werden künftig relevant sein und welche nicht? Die Prognose des World Economic Forum sieht wie folgt aus (Tab. 8.2). Im Ergebnis wird sich der War for Talents mit Blick auf Arbeitskräfte, die Kenntnisse in der Entwicklung und Nutzung von KI verfügen, intensivieren. Rund 54 % der Mitarbeiter großer Unternehmen müssten erheblich um- und weitergebildet werden, um die Wachstumschancen der vierten industriellen Revolution voll auszuschöpfen.42 Es wird ein strukturelles Überangebot an Arbeitskräften geben, denen die digitalen und kognitiven Kenntnisse für die Arbeit mit KI fehlen. Würden diese Arbeitskräfte die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um ihre digitalen Fähigkeiten zu entwickeln und aufzufrischen, könnten ihre
42https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 12.09.2019.
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Tab. 8.2 Aktuelle und künftige Relevanz von Skill Sets 2018. (Quelle:World Economic Forum 2018) Relevant in 2018
Relevanz bis 2022 zunehmend
Relevanz bis 2022 abnehmend
Analytical thinking and innovation
Analytical thinking and innovation
Manual dexterity, endurance and precision
Complex problem-solving
Active learning and learning Memory, verbal, auditory strategies and spatial abilities
Critical thinking and analysis Creativity, originality and initiative
Management of financial, material resources
Active learning and learning Technology design and strategies programming
Technology installation and maintenance
Creativity, originality and initiative
Critical thinking and analysis Reading, writing, math and active listening
Attention to detail, trustworthiness
Complex problem-solving
Management of personnel
Emotional intelligence
Leadership and social influence
Quality control and safety awareness
Reasoning, problem-solving Emotional intelligence and ideation
Coordination and time management
Leadership and social influence
Reasoning, problem-solving Visual, auditory and speech and ideation abilities
Coordination and time management
Systems analysis and evaluation
Technology use, monitoring and control
Ressourcen in produktivere Teile der Wirtschaft verlagert werden. Allerdings planen laut Studie des World Economic Forum nur 30 % der befragten Unternehmen die Umschulung gefährdeter Mitarbeiter, 50 % der befragten Unternehmen wollen nur diejenigen Mitarbeiter umschulen, die in Schlüsselpositionen tätig sind.43
43https://www.weforum.org/press/2018/09/machines-will-do-more-tasks-than-humans-by2025-but-robot-revolution-will-still-create-58-million-net-new-jobs-in-next-five-years/, zugegriffen am 12.09.2019.
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8.8 Ausgewählte Ergebnisse der Digital Skills Gap Studie 2020 Die Veränderungen sind schon spürbar In den vergangenen Jahren erbrachten die Untersuchungen der KOHORTEN Sozial- und Wirtschaftsforschung GmbH & Co. KG, Wiesbaden in verschiedenen Bereichen (z. B. redaktionelle Forschung, Usability Testing von Webseiten, Konzeptionsuntersuchungen) vielfältige Hinweise auf ein sich allgemein veränderndes Rezeptionsverhalten, also die Art und Weise, wie Menschen Informationen empfangen, wahrnehmen und verarbeiten. So konnten wir u. a. feststellen, dass die Ansprüche an Unmittelbarkeit, Eindeutigkeit und Verfügbarkeit von Informationen gestiegen sind. Rezipient*innen werden in vielen Bereichen der Informationsaufnahme ungebundener und zugleich auch weniger genau und geduldig. Oft werden Informationen bereitwillig konsumiert, sogleich aber wieder vergessen bzw. nur fragmentarisch erinnert. Heuristiken, Intuition und kritisches Nachdenken Ordnet man unsere Beobachtungen in den Kontext der Arbeiten Kroeber-Riels, Weinbergs, Kahnemans und Thalers, dann ist diese Entwicklung so folgerichtig wie kritisch: Die steigende Informationsmenge belastet das mentale System 244, den Bereich unseres Denkens, der langsam, eher abwägend, bewusst und rational abläuft. Mit seiner zunehmenden Belastung steigt die Fehleranfälligkeit unserer Wahrnehmungen und Denkprozesse und damit auch unserer Entscheidungen. Mit anderen Worten, unser Gehirn wird faul:
44Kahnemann
unterscheidet System 1 (schnelles Denken) und System 2 (langsames Denken); Thaler spricht von automatischem System und reflektierendem System. In System 1 entstehen spontane Eindrücke und Gefühle. Es bildet die Hauptquelle für die Entwicklung expliziter Überzeugungen und bewusster Entscheidungen in System 2. Beide Systeme sind immer aktiv. System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung. System 2 ist bewusst gesteuert, anstrengend und arbeitet langsam, kann damit aber schwierigere Probleme lösen wie zum Beispiel komplexe Berechnungen. Daniel Kahneman: SCHNELLES DENKEN, LANGSAMES DENKEN. Siedler Verlag, München, 2012; Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein: NUDGE. WIE MAN KLUGE ENTSCHEIDUNGEN ANSTÖSST. Ullstein Bucherlage, 2017 (7. Auflage).
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Die Datenlage ist eindeutig. Aktivitäten, die hohe Anforderungen an System 2 stellen, erfordern Selbstkontrolle, und die Ausübung von Selbstkontrolle ist erschöpfend und unangenehm. (…). Nach Ausübung von Selbstkontrolle bei einer Aufgabe sind Sie nicht dazu aufgelegt, sich bei einer weiteren erneut anzustrengen, obwohl Sie das tun könnten, wenn Sie es wirklich müssten.45
Eine KI, die dem Menschen dient Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen erscheint es wichtig, Künstliche Intelligenz und mit ihr alle digitalen Transformationsprozesse nicht allein aus einer rein wirtschaftlichen Perspektive zu diskutieren. So fordert es auch die Nationale Strategie für Künstliche Intelligenz der Bundesregierung46, wobei dort noch unklar bleibt, was das im Einzelnen bedeuten soll: Was heißt es, Mensch zu sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz? Wie formen Digitalisierung und KI das menschliche Denken und Verhalten? Welche Fähigkeiten müssen wir pflegen bzw. ganz neu erlernen, damit aus passiven Usern aktive Gestalter des digitalen Alltags bzw. der digitalen Transformation und Disruption47 werden können? Fest steht, wir brauchen eine genaue Vorstellung davon, welche Kenntnisse und Fähigkeiten der Mensch mit seiner eher generalistischen Intelligenz in Zukunft haben sollte und wie eine Künstliche Intelligenz beschaffen sein muss, damit sie uns aus einer sowohl wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Perspektive nützlich ist. Ähnliche Überlegungen beschäftigen auch die Growth & Evolution Architects von NOAA PARTNERS. Sie begleiten und unterstützen Unternehmen bei allen Wachstums- und Innovationsfragen – von der Strategie bis zur erfolgreichen
45Daniel
Kahneman: SCHNELLES DENKEN, LANGSAMES DENKEN, Seite 59. Siedler Verlag, München, 2012 46„Drittens liegt der Strategie der demokratische Anspruch zugrunde, eine so tief greifend wirkende Technologie wie Künstliche Intelligenz, die möglicherweise auch in sensiblen Lebensbereichen zum Einsatz kommen wird, ethisch, rechtlich, kulturell und institutionell derart einzubetten, dass gesellschaftliche Grundwerte und individuelle Grund- rechte gewahrt bleiben und die Technologie der Gesellschaft und dem Menschen dient. Dies setzt voraus, zukünftige Entwicklungen mitsamt Chancen und Risiken soweit es geht zu antizipieren. Denn zwar hält KI derzeit in Form einzelner Anwendungen autonomer und intelligenter Systeme Einzug in unseren Alltag, doch sind Wissen über und Erfahrung mit der Technologie noch nicht so weit verbreitet, dass ein gesellschaftlich geklärtes Verhältnis dazu möglich wäre.“ https://www.bmbf.de/files/Nationale_KI-Strategie.pdf, Zugriff zuletzt am 12.12.2019. 47Es ist aus unserer Sicht wichtig, die Begriffe Transformation und Disruption nicht synonym im Zusammenhang mit Digitalisierung zu verwenden. Ersterer Begriff beschreibt die Umformung bestehender Prozesse, Letzterer deren komplette Zerstörung bzw. Zerschlagung.
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Umsetzung. Sie wissen, wie Entscheidungen, Skills und Umsetzungskompetenzen von Kunden, Mitarbeitern und Führungskräften den Erfolg digitaler Transformationsprozesse maßgeblich beeinflussen. Somit war es für uns reizvoll, die Digital Skills Gap Studie 2019 gemeinsam zu entwickeln und durchzuführen. Wir sind allen Mitwirkenden, den Experten und Interviewpartnern zu besonderem Dank verpflichtet. Hervorheben möchten wir vor allem Lehrer-Online, die uns mit ihrer Expertise auf vielfältige Art unterstützt haben. Anlage und Hypothesen der Digital Skills Gap Studie 2019 Am Anfang der Digital Skills Gap Studie 2019 standen folgende Überlegungen: • Künstliche Intelligenz (KI) ist ein hochaktuelles, wirtschaftlich relevantes Zukunftsthema. Dennoch gibt es, wie oben ausgeführt, Untersuchungen, die aufdecken, dass in Deutschland zwar viel zum Thema geforscht wird, die Mehrheit der Unternehmen bei der Entwicklung und Implementierung von KI jedoch oft eine zögerliche Haltung einnimmt. Und das obschon vielfach gewarnt wird, dass der Großteil des deutschen Mittelstands den technologischen Anschluss verlieren könne. Warum ist das so? Wie nehmen Menschen in der Praxis die Situation wahr? Wo gibt es Barrieren? Wo Chancen? • Wenn wir der Tradition der Verhaltensökonomie folgend davon ausgehen, dass unser Gehirn dem Gesetz des geringsten Widerstandes folgt, welche Folgen hat es dann, wenn wir kognitive Prozesse an die Technik delegieren? Gewinnen wir wirklich mehr Raum für „Langsames Denken“ oder verkümmert diese Fähigkeit in dem Maße, in dem wir heute schon weniger genau lesen und damit auch memorieren können? Was werden wir in Zukunft brauchen, um gute Entscheidungen zu treffen? • Auch wenn wir „im Umgang mit der Digitalisierung (…) alle noch in der Pubertät“ sind, wie es Dr. med. habil. Volker Busch, Privatdozent an der Universität Regensburg plastisch formulierte48, haben wir bereits viele Erfahrungen mit der Digitalisierung des Alltags sammeln können, um sie für eine zielgerichtete, interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung nutzbar zu machen. Welche Kompetenzen brauchen Menschen heute schon, um sich gut
48Zitiert
aus einem Vortrag von Dr. med. habil. Volker Busch anlässlich des GBT-ZukunftTages 2019.
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im digitalen Alltag zurechtzufinden? Was wird vom Virtual Man49 im Arbeitsalltag gefordert? Wie gut bereiten wir heute schon diejenigen vor, die in wenigen Jahren auf den Arbeitsmarkt treten und die Zukunft der Unternehmen mitgestalten? Wie gut bereiten wir Mitarbeiter auf die Herausforderungen des digitalen Alltags vor? • Um die mit unseren Vorüberlegungen verbundenen Fragen zu beantworten, haben wir zwei Perspektiven gewählt. Einerseits wollten wir wissen, wie – stellvertretend für die Unternehmen – Entscheider den digitalen Arbeitsalltag wahrnehmen, welches Interesse und welche Erwartungen sie mit KI verbinden und was sie für wichtig halten, um zukünftige Arbeitskräfte auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 vorzubereiten. Andererseits wollten wir verstehen, welche Schwerpunkte Lehrkräfte bei der Vermittlung verschiedener Kompetenzen setzen, wie gut sie sich auf die Digitalisierung der Schulen vorbereitet fühlen und welche Erfahrungen sie bereits mit digitalen Arbeitsgeräten und Medien im Unterricht sammeln konnten.50 Die hier dargelegten Ergebnisse haben Leitstudiencharakter, denn sie zeigen: Es gibt auf diesem Gebiet spezifischen Forschungsbedarf. Ergebnisse Zielgruppe der Schulstudie waren Lehrkräfte der Sekundarstufen 1 und 2 aller Schulformen. Die Studienteilnehmer waren öfter weiblich, im Alter
49Kauffeld
ergänzt die klassische Übersicht der Menschenbilder in der Arbeit um den Virtual Man. Sie greift damit die Veränderungen der Arbeit aufgrund der technologischen Entwicklung auf. Der Virtual Man gilt als flexibel, er kann sich schnell an die neuen Technologien anpassen und in Netzwerken arbeitet. Er leidet zunehmend unter Stress und Unsicherheit, z. B. durch die Vielzahl von Optionen sowie durch die Flexibilisierung der Arbeit durch z. B. befristete Verträge oder Homeoffice. Kauffeld, Simone: ARBEITSORGANISATIONS- UND PERSONALPSYCHOLOGIE, S. 25. Springer Verlag 2014. 50Die Untersuchung durchlief mehrere Stufen. Feldarbeit war September bis Oktober 2019. Als vorbereitende Stufe dienten Expertengespräche, z. B. mit Lehrkräften und Entscheidern in Unternehmen sowie ein angeschlossenes Desktop Research. Auf diesen Vorarbeiten aufbauend wurde der Fragebogen für die Hauptbefragung mit 152 Lehrern der Sekundarstufen 1 und 2 angelegt. Für die Befragung der 19 Entscheider wurde ein qualitativer Ansatz gewählt, da Befragte mit höherer sozialer Stellung ein strukturiertes Interview manchmal als Zumutung empfinden. Wir sprachen mit Männern und Frauen aus unterschiedlichen Branchen mit ganz unterschiedlichen Aufgabengebieten. Darunter z. B. KIIngenieure, Professoren, Geschäftsführer, Berater, Produkt-Manager oder Digital-Officer. Die Befragungen von jeweils einer Stunde Dauer wurde durch drei akademisch gebildete Interviewer durchgeführt.
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zwischen 30 und 49 Jahren. Vertreten waren alle Fachrichtungen. Besonders häufig die Naturwissenschaften, Mathematik, Deutsch und Gesellschaftslehre. Für die Erkundung der Sichtweise der Unternehmen wurden stellvertretend Entscheider interviewt, die im Bereich Digitalisierung Entscheidungen ganz oder teilweise treffen bzw. maßgeblich beeinflussen können. Die Probanden stammten aus Unternehmen mit ganz unterschiedlichen digitalen Reifegraden. Sie einte dabei das Gefühl, dass sich seit ihrem Eintritt ins Berufsleben viel verändert hat, sowie die Überzeugung, dass wir heute schon andere Kompetenzen brauchen, um in einer zunehmend digitalen und künstlich intelligenten Arbeitswelt wirksam zu agieren: Die Kinder lernen in Chemie wie Kunstdünger hergestellt wird, aber sie wissen nichts über Clouds oder über andere Dinge aus dem IT-Umfeld und dabei wird fast jeder in Zukunft, egal ob Krankenschwester oder Lehrer, noch mehr damit zu tun haben. Das ist schlimm, wenn man sich das vor Augen führt. Wir müssen als Marketing-Menschen verstehen, was unser Zweck ist, wenn die Maschinen Daten interpretieren. Die guten kreieren daraus Innovationen.
Welche Kompetenzen brauchen wir heute schon, welche lehren wir? Die Vermittlung von Fachkompetenzen ist aus Sicht der Lehrkräfte von nur durchschnittlicher Wichtigkeit (Mittelwert 1,8). Das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge, der Umgang mit Finanzen und Präsentations-Skills werden ebenso als unwichtig erachtet wie Anpassungsqualifikationen oder Fremdsprachen. Wichtiger ist aus Sicht der Lehrkräfte die Vermittlung von Problemlösefertigkeiten, sozialen Kompetenzen und eigenständigem Lernen. Tendenziell werden auch die Fähigkeit zum fächerübergreifenden Denken sowie die Arbeitsorganisation von den Lehrkräften als wesentlich erachtet (Abb. 8.4). Entscheider aus der Wirtschaft finden, dass bereits in der Schule ein umfangreiches Spektrum ganz unterschiedlicher Fähigkeiten vermittelt werden sollte, betonen dabei häufig aber auch die Bedeutung von Fachkompetenzen. Eine fundierte Ausbildung stelle immer noch eine wichtige Grundlage dar, auch wenn man später in einem ganz anderen Bereich arbeite: Meine Fachkompetenz hilft mir, mir vorzustellen, was ich in einem anderen Bereich, zum Beispiel im Onlinemarketing, wissen sollte. Mit der Fachkompetenz Physik kann man auch in diesem Bereich die richtigen Fragen stellen.
Digitale Kompetenzen sind wichtig, werden im Unterricht aber oft vernachlässigt Digitale Kompetenzen gehören zusammen mit Medienkompetenz ebenfalls zu den von den Lehrkräften weniger fokussierten Schulungsbereichen
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Abb. 8.4 Schwerpunkte bei der Schulung von Kompetenzen
– und das obschon der Großteil der Lehrkräfte (88 %) überzeugt ist, dass Schüler schon heute im Umgang mit digitalen Medien und dem Internet unterrichtet werden müssten. Deshalb aber auch den Unterricht digitaler zu gestalten, halten noch nicht alle Lehrkräfte für notwendig. Zwar nutzen die Lehrkräfte ein breites Methodenspektrum, der Frontalunterricht ist aber immer noch die Normalität in vielen Klassenzimmern und die Arbeit am Laptop bzw. am PC eine gelegentliche Ausnahme (Abb. 8.5). Deutlich wird an dieser Stelle aber auch: Gruppen- bzw. Partnerarbeit haben im Unterricht an Bedeutung gewonnen. Das sollte vielleicht noch wichtiger werden, spielen aus Sicht der Entscheider doch die Zusammenarbeit mit anderen und das Arbeiten mit Netzwerken eine entscheidende Rolle im Berufsalltag: Früher waren Macht und Silodenken verbreitet, heute geht es darum Wissen zu teilen. Die Digitalisierung hat wahnsinnige Vorteile. Die Menschen können aus den engen Netzwerken ausbrechen. Man kann mit Menschen aus allen Teilen der Erde kommunizieren (…). Man kann sich Wissen aneignen und seine Ideen unter die Leute bringen.
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Abb. 8.5 Relevanz von didaktisch-methodischen Ansätzen
Kommunikation – mehr als nur die Fähigkeit sich treffend und zielgruppengerecht auszudrücken Lehrkräfte und Entscheider finden, dass kommunikative Kompetenzen zu den wichtigen Fähigkeiten gehören, die in der Schule erlernt bzw. verfeinert werden sollten. Die Frage dabei aber ist, inwieweit sich die Kommunikation verändert hat und was das für die Lehre bedeutet. So beschreiben die Entscheider, dass ihre Kommunikation im Arbeitsalltag oft kleinteilig, fragmentiert und nicht immer verbindlich ist: Insgesamt wird die Kommunikation deutlich weniger förmlich und auch kleinteiliger. Verbindlichkeit nimmt ab, Flexibilität steigt. Die Bündelung von Informationen wird wichtiger. Es wird akzeptiert, dass Informationen in der hohen Frequenz hin und hergeschoben werden.
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Die bereits Anfang des 19. Jahrhunderts von Heinrich von Kleist beschriebene „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (von Kleist 1999) findet heute nicht mehr in klar abgegrenzten Gesprächen mit ausgesuchten Gesprächspartnern statt, sondern kontinuierlich und schriftlich via Mail oder im Chat. Damit hat sich auch die Bedeutung der Face-to-Face-Kommunikation im Arbeitsalltag verändert. Erst im Dialog entsteht oft Raum zum Nachdenken, Raum für Kreativität und Raum für Vertiefung des immer häufiger nur oberflächlich Gelesenen: Man liest heute anders. Nur noch Teile des Ganzen. Von daher haben Konferenzen an Bedeutung gewonnen. Da hört man am Stück zu und denkt sich, vielleicht sollte ich mir das noch einmal genauer anschauen.
Dieses Ergebnis steht im Einklang mit unseren Forschungserfahrungen. Es zeigt, dass wir besser lernen müssen zu selektieren (was wollen wir wann zur Kenntnis nehmen?) und kursorisches Lesen besser vom vertiefenden Lese- und Verständnisvorgang unterscheiden müssen. Denn letzterer bildet die Grundlage, um zu fundierten Urteilen zu gelangen. Eingedenk der Ergebnisse der letzten Pisa-Studie liegt hier jedoch nicht nur eine der dringlichen Aufgaben für die Schulen, sondern auch für die Eltern.51 Digitaler Arbeitsalltag, analoge Lehre Noch setzen erst 67 % der Lehrkräfte digitale Arbeitsgeräte in ihrem Unterricht ein. Das ist insofern alarmierend, als dass die Lehrkräfte die digitalen Kompetenzen ihrer Schülerschaft gerade einmal als befriedigend (Note 3,2) bewerten (Abb. 8.6). Noch schlechter fällt die Beurteilung der Teildisziplinen (3,6 versus 3,2) aus (Abb. 8.7). Was die Schüler aus Sicht der Lehrkräfte ganz gut können (Note 2,4) ist digital zu kommunizieren. Das ist aber auch fast das Einzige. Prägnant dagegen die Defizite. Besonders schlechte Noten für die Fähigkeit digitale Informationen zu bewerten sowie für technische und rechtliche Grund-
51https://www.pisa.tum.de/fileadmin/w00bgi/www/Berichtsbaende_und_Zusammenfassung ungen/PISA_2018_Berichtsband_online_29.11.pdf; zugegriffen am 20.12.2019.
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Abb. 8.6 Beurteilung der digitalen Fähigkeiten der Schülerschaft
Abb. 8.7 Beurteilung der digitalen Fähigkeiten in Teilbereichen
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kenntnisse, Datenschutz, Künstliche Intelligenz und Grundkenntnisse der Programmierung und Softwareentwicklung. Warum also tun die Lehrkräfte so wenig für die entsprechende Schulung? Und das obschon 97 % der Befragten überzeugt sind, dass es für ihren Unterricht Vorteile hätte und zwei Drittel der Lehrkräfte angeben, dass digitale Kompetenzen für ihr Fachgebiet wichtig sind? Hier zeigt sich bereits deutlich die Überforderung der Lehrkräfte, die ihren Aufgaben durchaus gerecht werden wollen, dafür aber Hilfe brauchen. Das wäre auch aus Sicht der Entscheider wichtig, denn ihr Leben, Arbeiten und Kommunikationsverhalten ist stark von Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt: Man vernetzt sich mit Kollegen, kommuniziert verstärkt online oder nutzt Videokonferenzen. Im Zentrum des Arbeitsalltags steht für viele das Smartphone. Es ist mehr als nur ein Arbeitsgerät. Es ist eine Art Grundbedürfnis: Es ist aus dem Leben nicht mehr wegzudenken. Das ist heute kein Privileg mehr, sondern ein absolutes Muss.
Teilweise wurde sogar eine Art enge Verbindung zu dem Gerät beschrieben: Ich nehme das als Erweiterung meines Selbst wahr. Es fühlt sich an, als könnte man nicht mehr ohne leben.
Der Umgang mit den Möglichkeiten und Risiken digitaler Geräte muss jedoch gelernt und danach kontinuierlich aktualisiert werden. So mussten sich die Probanden zuletzt durch geräteübergreifendes Arbeiten und Cloudlösungen völlig neue Fertigkeiten der Informationsverarbeitung aneignen, oft ohne Zuhilfenahme organisational initiierter Weiterbildungsprogramme: Ich habe nicht wirklich gut gelernt, mir Notizen zu machen, Mitschriften zu erstellen und strukturiert zu dokumentieren. Jetzt ist die Informationsflut noch größer und ich werde älter. Das ist ein Problem.
Zudem gäbe es aus Sicht der Entscheider im digitalen Arbeitsalltag mehr Freiräume, mit diesen Freiräumen muss man aber auch umgehen können. Man müsse sich immer wieder fokussieren, um sich nicht in der Flut der Möglichkeiten zu verlieren. Das strengt an und verleitet zur Oberflächlichkeit: Man ist immer am Springen, kann sich gar nicht länger auf eine Sache konzentrieren.
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Die Mitarbeiter werden immer abgelenkter. Du bekommst keine Leute, die solide vier Stunden arbeiten, ohne aufzusehen und einen Kaffee zu trinken oder auf das Telefon zu schauen. Das ist ein großes Problem, denn es bedeutet, dass man vor lauter Ablenkung nicht tief genug denkt.
Es geht also bei der Schulung digitaler Kompetenzen auch darum, bewusster mit digitalen Geräten und Anwendungen umzugehen, sich selbst fokussieren zu können und zur Kenntnis zu nehmen, dass neue Anwendungen auch neue Anforderungen an die Arbeit und die individuelle Wahrnehmung stellen. Die Lehrkräfte liefern drei Erklärungen, warum sie und ihre Schulen so wenig tun, um die digitalen Kompetenzen ihrer Schülerschaft zu verbessern: 1. Ausstattung: Die Digitalisierung der Schulen schreitet trotz DigitalPakt zu langsam voran. Die Lehrkräfte haben nur selten den Eindruck, dass das Thema an ihrer Schule Priorität genießt (34 %). Dabei mangelt es an Ressourcen und zuverlässiger, moderner Medien- und Netzwerktechnik (Abb. 8.8). 2. Vorbereitung: Die Lehrkräfte fühlen sich nicht ausreichend von ihren Schulen auf die Digitalisierung des Unterrichtes und die Vermittlung digitaler Fertigkeiten vorbereitet. 49 % der Lehrkräfte bezeichnen den Support durch
Abb. 8.8 Zufriedenheit mit Infrastruktur und IT-Ausstattung
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Abb. 8.9 Zufriedenheit mit dem Support durch die Schule und bisherige Teilnahme an Weiterbildungen zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht
die Schule als ausreichend bis ungenügend. Fast die Hälfte der Lehrkräfte sind zwar selbst aktiv geworden und haben an einer Weiterbildung zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht teilgenommen. Diese in Eigenregie durchgeführten Maßnahmen reichen ihnen aber noch nicht aus (Abb. 8.9). 3. Materialien: Nur 20 % erhalten Informationen von ihrem Schulträger. Jede zweite Lehrkraft greift deshalb auf Angebote der Schulbuchverlage zurück. Die meisten suchen im Internet – über die Google-Suche (69 %) oder auf einschlägigen Plattformen (66 %) wie Lehrer-Online, 4teachers, schulportal und Scook. Motivieren und unterhalten, statt Individualisierung der Lehre Wenn die Lehrkräfte digitale Medien und Arbeitsgeräte einsetzen, dann geschieht das häufig aus dem Wunsch heraus, den Unterricht spannender und abwechslungsreicher zu gestalten, und so die Motivation der Schüler zu steigern (Abb. 8.10). Da wo weitere Chancen sind – bei Transfer- und Kontrollübungen bzw. Kontrolle des Lernerfolgs – werden digitale Arbeitsgeräte vergleichsweise selten eingesetzt. Entsprechend begreifen die Lehrkräfte noch nicht die Möglichkeit, die Lernerfolge durch einen digitalen Unterricht zu beschleunigen und die
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Abb. 8.10 Erwartungen an den Unterricht mit digitalen Medien
individuellen Leistungsniveaus der Schüler besser zu berücksichtigen. Wenn die Lehrkräfte jedoch einmal digitale Medien und Arbeitsgeräte im Unterricht eingesetzt haben, greifen sie regelmäßig darauf zurück. Dabei ist eingedenk der schlechten Bewertungen der digitalen Kompetenzen in Teilbereichen (siehe Abb. 8.7) zu problematisieren, dass digitaler Unterricht für die Lehrkräfte noch häufig die Verwendung von digitalem Anschauungsmaterial (primär Videos), Internetrecherche und Präsentationserstellung bedeutet (Abb. 8.11). Die Mehrheit der Lehrkräfte fordert, besser auf die Vermittlung digitaler Kompetenzen (78 % Top2Box) und die Gestaltung eines digitalen Unterrichtes (73 % Top2Box) vorbereitet zu werden. Ähnlich auch die Forderung der Entscheider, die sich zum Teil mit den Herausforderungen des digitalen Arbeitsalltages überfordert fühlen. Ohne Anpassungsqualifikationen komme man heute schon schnell an seine Grenzen. Vielfach wird deshalb die Notwendigkeit betont, diese Anpassungsgabe schon in den Schulen zu trainieren.
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Abb. 8.11 Einsatz digitaler Medien und Arbeitsgeräte im Unterricht
Diese Qualifikation ist den Lehrkräften aber eher unwichtig (vgl. Abb. 8.4). Ein Ergebnis, das insofern zu reflektieren ist, als dass in der Arbeits- und Organisationspsychologie mit dem oben beschriebenen Konzept des Virtual Man beschrieben wird, dass die heutige Arbeitswelt ein hohes Maß an Flexibilität und damit auch an Anpassungsfähigkeiten fordere. Um diese Flexibilität konstruktiv zu nutzen, sollten Mitarbeiter entsprechend unterstützt werden – aber gerade hier tut sich in den Unternehmen unserer Probanden noch zu wenig. Der Umgang mit dem Thema Digitalisierung gleicht manchmal eher einem Trial and Error-Verfahren, bei dem positive Erfahrungen überbetont wahrgenommen und negative Erfahrungen weniger stark beachtet werden. Kritischer Umgang mit Informationen Auch der kritische Umgang mit Informationen ist aus Sicht von Entscheidern und Lehrkräften noch defizitär. Die Schüler wissen aus Sicht der Lehrkräfte noch nicht, wie sie digitale Informationen richtig bewerten können (siehe Abb. 8.4) und auch die Entscheider sagen, dass bei ihnen die Bewertung und Verarbeitung der scheinbar unbegrenzt zugänglichen Informationen und Lösungsmöglichkeiten oft zu kurz kommen. Es herrsche Zeitdruck oder es fehle eine Instanz, die Informationen bewertet und „redaktionell“ aufbereitet:
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Jeder kann heute publizieren. Das ist toll. Aber mittlerweile ist das Ausmaß so groß, dass es nicht mal annähernd möglich ist, alles mitzukriegen bzw. zu wissen, was gut oder was schlecht ist. Es wird gar nicht mehr Forschung im eigenen Geist betrieben. Man schaut in Google rein und vertraut dem auch. Man ist blind gegenüber dem Informationsgehalt.
Hier besteht somit sowohl in Schulen als auch in Unternehmen im Umgang mit Informationen großer Schulungsbedarf – vor allem vor dem Hintergrund der Heuristiken und kognitiven Verzerrungen, die unsere Wahrnehmung und unser Denken beeinflussen. Es sollte den jungen Menschen deshalb vermittelt werden, dass fundierte Urteile nur durch kritisches Denken erlangt werden können und das gelingt am besten, indem wir uns das Konzept und die Möglichkeiten des Embodiments (in dem hier beschriebenen Fall also der analogen Informationsaufnahme) gerade in jungen Jahren stärker Beachtung schenken. KI-Readiness – eine Zusatzaufgabe für Schulen? Gemäß der Nationalen Strategie für Künstliche Intelligenz der Bundesregierung soll KI auch die Klassenzimmer erreichen.52 Die Lehrkräfte stehen dieser Information zunächst einmal neutral (57 %) bis positiv (32 %) gegenüber. Ihnen ist KI als Thema präsent (41 % geben an, Interesse an KI zu haben), Angebote, wie Roberta
52„Bildung,
Aus- und Weiterbildung müssen sich an die sich verändernden Anforderungen, die durch den digitalen Wandel und in diesem Rahmen auch durch KI auf uns zukommen, ausgerichtet werden. Dabei gilt, dass Grundsatzfragen der Digitalisierung nicht KI-spezifisch sind. Dies beinhaltet beispielsweise, dass Ausbildung nicht allein technikzentriert erfolgt, sondern ein mündiges, selbstbestimmtes Individuum zum Ziel hat, das sich mit technischen ebenso wie mit den ethischen, sozialen und gesellschaftlichen Facetten der KI als Teilbereich der Digitalisierung auseinandersetzen kann. Gerade weil der Mensch bei Schlüsselkompetenzen wie konzeptionellem und kritischem Denken, Kreativität, emotionaler Intelligenz sowie Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit jedem technischen System überlegen ist, kann der Einsatz von KI Freiräume schaffen, um insbesondere die Vermittlung sozialer und kreativer Kompetenzen in Bildung und Weiterbildung zu stärken. Dabei ist eine ganzheitliche Perspektive wichtig. Die Herausforderungen betreffen neben Bildung in Schulen, Berufsbildung und Hochschule insbesondere auch die (Weiter-)Bildung im Arbeitsumfeld und in der Wissenschaft und Forschung. Hier bedarf es gemeinsamer Anstrengungen aller Akteure im Bereich der Bildung.“ https://www.bmbf.de/files/Nationale_KI-Strategie.pdf, zugegriffen am 12.12.2019.
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Abb. 8.12 Künstliche Intelligenz: Eine Aufgabe für die Schulen?
(Lernen mit Robotern) oder das Wissenschaftsjahr Künstliche Intelligenz 2019 bleiben oft unbemerkt bzw. ungenutzt (86 %). Und das obschon die Lehrkräfte den Kenntnisstand ihrer Schüler in puncto KI gerade mal mit der Note 4 bewerten. Gleichzeitig ist nur etwas mehr als jede zweite Lehrkraft (52 % Top-2Box) überzeugt, dass KI die beruflichen Anforderungen verändern wird bzw. das neue Lehrkonzepte gebraucht werden, um die Schülerschaft auf die Arbeitswelt 4.0 vorzubereiten (57 % Top-2-Box). Dennoch sieht ein großer Teil der Lehrkräfte (85 %) Schulen zumindest zu Teilen in der Pflicht, die Schülerschaft auf die die ethischen, rechtlichen, kulturellen und institutionellen Fragen rund um KI vorbereiten (Abb. 8.12). Als Problem erkennen die Lehrkräfte dabei, dass ihr eigener Kenntnisstand begrenzt ist. Entsprechend oft fürchten sie, mit einer solchen Zusatzaufgabe überfordert zu sein (Abb. 8.13). Wieder wird deutlich: Die Lehrkräfte wollen, aber sie brauchen Unterstützung, um tätig zu werden. Auch die Entscheider finden mehrheitlich, das KI in der Schule und in den Unternehmen eine Rolle spielen sollte, wenngleich punktuell bemerkt wird, dass die Lehrkräfte mit dieser Aufgabe wohl überfordert seien: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Lehrer, die zur Zeit aktiv sind, irgendeine Kompetenz haben, Kindern sinnvolle Programmiersprache beizubringen. Hatte selber Programmieren in der Schule, das hat nichts mit dem zu tun, was ich heute tue.
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Abb. 8.13 Künstliche Intelligenz: Interesse und Einstellungen
Zudem mahnen die Interviewpartner aus den Unternehmen mit höherer digitaler Reife, dass es sowohl in Schulen als auch in Unternehmen gute Konzepte und vor allem strategische Ansätze brauche. Sie bemängeln, dass vielerorts Angst und Fiktion einer produktiven Auseinandersetzung im Wege stünden: Wir nehmen KI dramatischer wahr als sie ist. Es wird überzeichnet. Wir werden panisch und kopflos, verfallen in archaische Grundmuster, anstatt uns den Themen mit Verstand zu nähern und Lösungen zu finden.
Sie betonen, man dürfe KI-Innovationen nicht allein als IT-Thema bzw. als Aufgabe des Informatikunterrichtes zu begreifen: Ich versuche da systemisch zu denken. Man darf solche Entwicklungen nicht einer Disziplin allein überlassen.
Es geht also um einen ganzheitlichen Ansatz, der auch zur Kenntnis nimmt, dass Menschen oft Veränderungen erst einmal skeptisch gegenüberstehen. Das finden die Lehrkräfte. Sie bemängeln die Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems
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und verlangen für Schulen eine ganzheitliche und umfassende Digitalisierungsstrategie, die mehr als Technik und Effizienz in den Blick nimmt. Wie kann KI den Menschen dienen? Wieder sind es die Interviewpartner aus den Unternehmen mit höherer digitaler Reife, die mahnen, dass man beim Thema KI unbedingt die „menschliche Komponente“ im Blick halten solle: KI kann nur so gut sein wie die Daten, die man ihr zur Verfügung stellt. Das ist zugleich ihre Stärke und Schwäche. Welche Moral wollen wir den Maschinen beibringen?
Noch ist aus Sicht aller Interviewpartner viel zu tun. Nicht nur an den Schulen, sondern auch in den Unternehmen. Mensch zu sein im Zeitalter von KI bedeutet, an menschen- und gehirngerechten Lösungen zu arbeiten. So sind durch Digitalisierung und KI schon jetzt viele Arbeitsprozesse einfacher geworden. Die Entscheider schätzen sehr, dass man nicht „mehr an alles denken“ müsse bzw. vieles „automatisieren“ könne. Gleichzeitig ersetze man sukzessive die Fähigkeit zur eigenen Gedächtnisleistung durch externe Ressourcen, die abhängig machen: Im Studium habe ich mir das einfach gemerkt. Ohne mein CRM könnte ich nicht arbeiten.
Hier zeigt sich, dass auch in den Unternehmen, die Fähigkeit zum kritischen Denken sowie das Vertrauen in die eigene Erfahrung (Intuition) gestärkt werden muss – vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass der Mensch mit seiner generalistischen Denkweise zwar bezogen auf die Bewältigung von Einzelaufgaben fehleranfälliger ist, aber durch seine Fähigkeit zum divergenten Denken Informationen (noch) in einen breiteren Kontext einordnen kann als es die Künstliche Intelligenz mit ihrer konvergenten Informationsverarbeitung tut (Marcus und Davis 2019). Dies ist ein Aspekt der Kreativität, der sowohl in Schulen als auch in Unternehmen stärker gefördert werden sollte. Vor allem, weil man laut einzelner Entscheider noch weit davon entfernt sei, dass die Maschinen im Arbeitsalltag mehr Raum für kreative Prozesse und Nachdenken geben: Ich denke, die größere Herausforderung für die Arbeitnehmer der Zukunft wird sein, persönliche Beziehungen und kreatives Denken aufrechtzuerhalten. Wie kann man Menschen davon abhalten, nur der technologischen Struktur zu folgen und ihnen stattdessen Zeit zum Nachdenken zu geben?
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Die Interviewpartner verlangen deshalb: Wir müssen heute Kinder ausbilden, die kreativ sind, die gut Probleme lösen können, die Transferleistungen schaffen können, ein bisschen querdenken, out of the box. Mit diesen jungen Menschen können wir eine viel bessere Arbeitswelt schaffen als mit Programmierern.
Zudem muss offensichtlich besser gelernt werden, abzuschalten, denn die Grenzen zwischen Arbeiten und Freizeit sind bei fast allen durchlässig: Rufbereitschaft, statt Fünf-Tage-Woche. Es hat sich alles potenziert. Das Springen zwischen den Themen strengt an. Die Belastung durch E-Mails finde ich enorm. Selbst im Urlaub muss ich meine Mails zur Kenntnis nehmen.
Weiter ist zu akzeptieren, dass unsere Gehirne durch die Informationsflut „faul“ werden und dass das Vertrauen in unsere eigene Intuition (System 1) durch die oben beschriebene Abhängigkeit von externen Ressourcen sinkt: Wir vertrauen der Maschine, anstatt unseren Verstand zu nutzen. Mir wäre so ein Fehler früher nicht passiert, aber ich habe mich auf die Technik verlassen.
Um aus passiven Usern aktive Gestalter des digitalen Alltags zu machen, brauchen wir offensichtlich ein neues Bildungskonzept an den Schulen und in den Unternehmen eine HR-Strategie, die durch ein aktives und professionelles Kompetenzmanagement den Angestellten dabei hilft, ihr Potenzial optimal zu entfalten und weiterzuentwickeln. Wie zuvor beschrieben, können Unternehmen sich Passivität nicht erlauben. Vor allem aber nicht die Orientierung an „falschen Vorbildern“ und Worst Practices. Aber genau das passiert nicht nur bei den Laggards, sondern auch bei Unternehmen mit höherer digitaler Reife: Wenn ich mir unsere Branche anschaue, da gibt es größere Firmen, die noch im Excel Sheet ihre Daten pflegen. Die ihre Reports per Brief an den Kunden schicken. Und wenn ich uns da benchmarke, mit unseren Tools und unseren Interessen, dann würde ich sagen, dass wir in der Branche schon gut ausgestattet sind.
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Synopse der Digital Skills Gap Studie 2019 Schon Oscar Wilde zeichnete die Vision einer Welt, in der die Maschinen dem Menschen dienen: Dies ist ohne Zweifel die Zukunft der Maschine; und so wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft, so wird die Menschheit sich vergnügen oder sich der geistvollen Muße hingeben (…) oder sie wird schöne Dinge hervorbringen oder schöne Dinge lesen oder einfach die Welt mit Bewunderung und Entzücken betrachten, während die Maschine die notwendige, unangenehme Arbeit verrichtet.
Von einer Digitalisierungsstrategie, die dem Menschen dient, kann aus unserer Sicht heute jedoch kaum die Rede sein. • An den Schulen hat die Digitalisierung trotz DigitalPakt noch kaum Priorität und die Lehrkräfte werden mit den neuen Herausforderungen noch ziemlich allein gelassen. Gleichzeitig fehlt vielen Lehrkräften das Wissen um die Relevanz von KI für die Arbeitnehmer von morgen. • In den Unternehmen geht es primär um Automatisierung, Arbeitserleichterung und digitale Abbildung bestehender Prozesse. Nicht aber um umfassende Transformations- oder gar Disruptionsstrategien. Somit gleicht der Umgang mit den Themen Digitalisierung und KI sowohl in den Schulen als auch in den Unternehmen noch zu sehr einem Trial-and-Error-Verfahren, bei dem positive Erfahrungen überbetont wahrgenommen und negative Erfahrungen weniger stark beachtet werden. Genau aus diesem Grund haben unsere Ergebnisse Leitstudiencharakter. Wir brauchen sowohl in den Unternehmen als auch in den Schulen vertiefende und vor allem spezifische Forschung, Strategie, Upskilling und Training der Mitarbeiter. Zielgerichtetes Vorgehen ist die Devise. Das bedeutet im Einzelnen: • Damit aus Mitarbeitern und Schülern aktive Gestalter des digitalen Alltags werden können, braucht es eine Aus- und vor allem Weiterbildung, die sich an den bisherigen Erfahrungen und Erkenntnissen mit digitalen Anwendungen orientiert und erkennt, dass KI dem Menschen nur dann dienen kann, wenn sie gehirngerecht konzipiert wird. Gehirngerecht bedeutet, dass wir anerkennen, dass wir heuristische Wesen mit der Fähigkeit zum sowohl konvergenten als auch divergenten Denken sind.
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• Mitarbeiter, Führungskräfte und Schüler brauchen echte, digitale Kompetenzen – und das bedeutet mehr, als nur in der Lage zu sein, digitale Anwendungen zu bedienen. • Wir brauchen eine KI, die unsere generalistische Intelligenz ergänzt, indem sie Prozesse übernimmt, in denen wir eine höhere Fehleranfälligkeit haben, uns vielleicht sogar von der Informationsflut entlastet, nicht aber eine KI, die das Denken für uns übernimmt bzw. unsere Intuition ersetzt. • Damit Deutschland seine Stellung als eine der führenden Industrienationen halten kann, ist es dringend notwendig, dass Schulen die entsprechenden Kompetenzen zum Bildungsstandard erheben und Unternehmen in geeignete, brachen- und unternehmensspezifische Personalentwicklungsmaßnahmen investieren.
8.9 Fazit Die Arbeitswelt in der vierten industriellen Revolution stellt weltweit Millionen von Arbeitnehmern und Unternehmen vor große Herausforderungen. Diese erfolgreich zu meistern, hängt von der Bereitschaft und Kompetenz aller Beteiligten in Wirtschaft, Politik und Bildungssystem ab, sich den neuen Realitäten mit Weitblick, Mut, Entschlossenheit, Tatkraft und Unternehmergeist zu stellen und sich den Rahmenbedingungen dynamisch anzupassen. Technologie eröffnet massive Wachstumschancen. Unternehmen und ihr Management haben ihre Zukunft selbst in der Hand. Durch die in Abschn. 8.1 beschriebene strukturierte Vorgehensweise versetzen sie sich in die Lage, aus den Risiken der Digitalisierung und der Entwicklungen im Bereich KI echte Chancen für Wachstum und Innovation zu machen. Sie schaffen Wettbewerbsvorteile, wenn sie • aktiv, frühzeitig und strukturiert handeln, • Technologie, Daten und KI nutzen, um innovativer, effizienter und kundenorientierter zu werden, • Mitarbeiter proaktiv und konsequent im technologischen Bereich aus- und weiterbilden. Von Mitarbeitern wird ein enormes Maß an Adaptationsfähigkeit, agilen Denkweisen und lebenslanges Lernen gefordert, um mit Technologie statt gegen Technologie zu arbeiten und den neuen Anforderungsprofilen gerecht werden zu können. Sie haben die Aufgabe, alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu tun, um Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, die sie für den Erfolg
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in der vierten industriellen Revolution benötigen. Gefordert sind ein perfektes Zusammenspiel von Mensch und Maschine, hohe Eigeninitiative, Kreativität und Innovationskraft sowie die Offenheit, permanent den Status quo infrage zu stellen und Prozesse, die nicht mehr effizient sind, zu optimieren. Das Bildungssystem hat die dringende Aufgabe, sich neu zu erfinden. Es ist nicht damit getan, Schulen mit einer modernen Infrastruktur in Form von Hardware auszustatten. Vielmehr muss kurzfristig und mit Hochdruck an einer Reform der Software gearbeitet werden. Hierzu gehören: • moderne Lehrkonzepte, • Unterrichtsformen, die die notwendigen Soft Skills fördern und fordern: kritisches Denken, Kommunikation, Kooperation und Kreativität sowie die Fähigkeit und Offenheit, immer wieder neu zu lernen, sich anzupassen und neu zu erfinden, • bundesweite Einführung von Pflichtfächern, die Kindern und Jugendlichen digitales Wissen und Arbeitsweisen vermitteln.
Literatur Czernik, A. (2016). Was ist ein Algorithmus. Definition und Beispiele. https://www.datenschutzbeauftragter-info.de/was-ist-ein-algorithmus-definition-und-beispiele/. Zugegriffen: 11. Nov. 2019. Frey, C. B., & Osborne, M. A. (2013). The future of employment: How susceptible are jobs to computerisation?. https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_ Future_of_Employment.pdf. Zugegriffen: 17. Sept. 2019. Gottfredson, L. S. (1997). Mainstream science on intelligence. In Intelligence 24(1), 13–23. Karshenas M., & Stoneman, P. L. (1993). Rank, stock, order, and epidemic effects in the diffusion of new process technologies: An empirical model. The RAND Journal of Economics, 24(4), 503–528. Marcus, G., & Davis, E. (2019). Rebooting ai. Building artificial intelligence we can trust. New York: Pantheon. Massmann C. (2021). Der CEO als Architekt der digitalen Transformation. In R. A. Fürst (Hrsg.), Digital Leadership und Digital Readiness – Der Mensch als Schlüsselfaktor der Transformation. Wiesbaden: Springer (im Erscheinen). Musk, E. (2016). Twitter repost auf Wait but why vom 24. Februar 2016. https://twitter. com/elonmusk/status/702534707464896512?lang=de. Zugegriffen: 17. Sept. 2018. Polson N., & Scott J. (2018). AIQ – How artificial intelligence works and how we can harness its power for a better world. New York: Transworld Publishers. Specht, F., & Greive, M. (2019). Innovationskraft sinkt: Der deutsche Mittelstand verschläft die Zukunft (24. Oktober 2019). Handelsblatt. https://www. handelsblatt.com/politik/deutschland/bertelsmann-studie-innovationskraftsinktder-deutsche-mittelstand-verschlaeft-die-zukunft/25145334.html?ticket=ST53372642-kmT0OC1sCbPbBXXBfXiY-ap2. Zugegriffen: 26. Okt. 2019.
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Statista (2020). https://www.statista.com/statistics/942657/global-ai-startups-by-country/. Zugegriffen: 20. Sept. 2020. World Economic Forum (2018). The future of jobs report. https://www3.weforum.org/docs/ WEF_Future_of_Jobs_2018.pdf. Zugegriffen: 16. Sept. 2019. von Kleist, H. (1999). Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. Eine zwiespältige Ausgabe von Stefan Klamke-Eschenbach und Urs van der Leyn (Designer), mit einem Kommentar von Vera F. Birkenbihl. Frankfurt a. M.: Dielmann. Weill, P., Woerner, S., & González, F. (2017). Is your company a digital leader or a digital laggard? Research Briefing, 17(3), S. 1–4. https://bbva.info/2QG66Yn. Zugegriffen: 12. Sept. 2019. World Intellectual Property Organization (2019). WIPO-Studie Technologietrends Zusammenfassung Künstliche Intelligenz. https://www.wipo.int/edocs/pubdocs/de/ wipo_pub_1055_exec_summary.pdf. Zugegriffen: 11. Nov. 2019. World economic forum (2018). The future of jobs report. https://www3.weforum.org/docs/ WEF_Future_of_Jobs_2018.pdf. Zugegriffen: 12. Sept. 2019.
Christian Massmann Co-Founder & Managing Partner NOAA PARTNERS Growth & Evolution Architects (London, Kopenhagen, Wiesbaden, München). Christian Massmann begleitet seit über 20 Jahren digitale Innovations-, Transformations- und Wachstumsprozesse in der Digital-, Technologie- Marketing- und Medienbranche. Er hat als CEO und CSMO internationaler Marktführer mit Kunden und Partnern auf fünf Kontinenten zusammengearbeitet, darunter Global Fortune 500, DAX 30 und FTSE 100 Unternehmen und Key-Player der digitalen Welt. NOAA PARTNERS Growth & Evolution Architects ist eine internationale Strategieberatung für kundenzentrierte digitale Transformation. Die Berater sind Digital Natives mit über 15 Jahren Top-Level Management Erfahrung in den am stärksten digitalisierten Branchen der Welt. Der Fokus liegt auf Innovation, Transformation und nachhaltigem Wachstum von mittelständischen Unternehmen im digitalen Zeitalter. Ariane Hofstetter Geschäftsführerin KOHORTEN Sozial- und Wirtschaftsforschung, Wiesbaden, entwickelt seit rund zehn Jahren Research-Formate aus einer verhaltensökonomischen Perspektive für multinationale Konzerne, inhabergeführte Mittelständler aus ganz verschiedenen Branchen, Stiftungen und Vereine. Zu ihren Schwerpunkten gehören Rezeptions- und Lernverhalten in einer zunehmend digitalisierten Welt, KI, Frauenforschung, Altersforschung und Nachhaltigkeitsforschung. KOHORTEN arbeitet seit 1973 interdisziplinär und ist bekannt für viele Pionierarbeiten in der Marktforschung, z. B. frühe Preiselastizitätsstudien und Conjoint-Analysen, aber auch tiefenpsychologische Untersuchungen. Typisch für das Institut ist, dass seine Untersuchungen mehrstufig angelegt werden, bzw. dass mehrere Methoden kombiniert werden, um eine „einseitige“ Betrachtung zu vermeiden. Dazu schöpft KOHORTEN aus einem großen Fundus psychologisch-qualitativer, ethnologisch-beschreibender und quantitativer Methoden sowie den über 45 Jahren gewachsenen, vielfältigen Branchenerfahrungen.
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Wird die Krone der Schöpfung auf ein neues Haupt gesetzt? Bewusste KI-Systeme im Fokus technischer Entwicklungen Karsten Wendland Inhaltsverzeichnis 9.1 Künstliche Intelligenz erobert den politischen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 9.2 Science-Fiction als Blaupause für wohlinszenierte Implementierungen. . . . . . . . 226 9.3 Starke KI und die Frage nach der Ebenbürtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 9.4 Bewusstsein gesucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 9.5 Wo kann man das Bewusstsein finden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 9.6 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Zusammenfassung
Künstliche Intelligenzen werden zunehmend im politischen Raum installiert und dabei häufig menschenähnlich dargestellt. Die stärkere Anlehnung solcher dialogfähigen, teilautonomen Systeme an Menschen und vereinzelte Forderungen nach Gleichstellung von Robotern und Menschen wirft Fragen nach den perspektivisch verbleibenden Unterschieden auf. Dem Konzept der starken Künstlichen Intelligenz wird zugeschrieben, menschenähnliches Verhalten nicht nur zu imitieren, sondern tatsächlich leisten zu können. In diesem Zusammenhang wird immer interessanter, inwiefern KI-Systeme irgendwann K. Wendland (*) Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_9
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auch ein eigenes Bewusstsein erlangen könnten. Um sich dieser Frage anzunähern, werden verschiedene Basiskategorien für Bewusstsein und wissenschaftliche Grundpositionen umrissen, die versuchen, Bewusstsein zu verorten und zugänglich zu machen. Die Technikfolgenabschätzung hat diese Thematik zwischenzeitlich erkannt und aufgegriffen.
9.1 Künstliche Intelligenz erobert den politischen Raum Selten berichtet die internationale Presse über Wahlverlierer aus der Provinz. Als im Spätherbst 2018 Matsuda Michihito bei einer Bürgermeisterwahl in einem kleinen Vorort von Tokio den dritten Platz belegte, ging die Meldung jedoch um die Welt – denn auf den Wahlplakaten war eine Künstliche Intelligenz zu sehen. Ein Roboter, erkennbar als „jüngere Dame“ ausgestaltet, mit silbrigem Teint, scharf geschnittener Frisur und eigenem Wahlprogramm. Eine KI als Bürgermeisterin? Aus europäischer Distanz von vielen tausend Kilometern mochte man ob der Berichterstattungen schmunzeln. Schließlich wird im fernen Japan, im kulturellen Kontext des Shintoismus, nicht ganz so streng zwischen Mensch und Maschine getrennt, wie wir es als aufgeklärte und säkularisierte Europäer seit Jahrhunderten verstehen. Bei genauerer Prüfung der Nachricht ließ sich außerdem feststellen, dass der dritte Platz dieser Wahl auch der letzte Platz war, und dass überdies hinter der Künstlichen Intelligenz ein ganz und gar menschlicher Matsuda Michihito steckte, der mit Technikoptimismus und unternehmerischem Geist als zukünftiger Bürgermeister die Entscheidungen von einem ein KI-System treffen lassen wollte (Golem.de 2018) – womit sich der Kreis zum Wahlplakat schließen ließ. Diese Bürgermeisterkandidatur mit KI-Fokussierung war allerdings mehr als ein bloßer Webegag eines kleingewerbetreibenden Vorstädters. Als Vertreter der KI-Partei für Japan postulierte Michihito schon 2018, dass bis 2050 alle Politiker durch Künstliche Intelligenzen ersetzt würden und betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Gleichstellung von Menschen und Robotern. Mit diesem Ansinnen steht er nicht allein – weltweit finden sich Sympathien für Zukunftsszenarien, in denen intelligente Maschinen nicht nur als eigenständige Rechtssubjekte, sondern auch als Sozialpartner oder gar als zukünftige Leitgattung erwünscht und erwartet werden. Hochzeiten mit Robotern und mit personifizierten virtuellen Manga-Instanzen werden in letzter Zeit des Öfteren aus dem
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asiatischen Raum berichtet (Spiegel.de 2018). Solche Bindungen sind zwar auch dort nicht rechtlich abgesichert, scheinen aber in bestimmten Gruppen sozial akzeptiert zu sein und eben auch praktiziert zu werden. Die Way of the Future Church des Robotikers Anthony Levandowski in westlichen Kalifornien geht noch einen Schritt weiter und versucht sogar, als KI-Kirche einen Geist in der Maschine zu erwecken. Die Mitgliedschaft in der Way of the Future Church und finanzieller Support des Vorhabens sind unkompliziert per Internet möglich (Zeit. de 2017). Wie weit aber sind wir im Jahr 2020 tatsächlich von KI-basierten politischen Akteuren entfernt? Bei Vortragsveranstaltungen und in Bürgerdialogformaten zu Zukunftsfragen in den vergangenen zwei Jahren befrage ich die Zuhörerschaft regelmäßig, was denn von solchen Szenarien zu halten sei und was die Wähler im fernen Japan wohl dazu motiviert habe, einem KI-Konzept ihre Stimme zu geben. Nachfolgende Antworten umreißen, was Künstlicher Intelligenz seitens der Zuhörerschaft alles zugetraut wird: • die KI sei neutral, entscheide rationaler als Menschen und sei als politischer Akteur damit insgesamt viel gerechter (häufige Position im deutschsprachigen Raum), • sie sei deutlich weniger anfällig für Korruption als Vertreter der politischen Kaste (häufige Position in Südamerika, vereinzelt in Russland), • die KI wäre rund um die Uhr im Einsatz und müsse nicht schlafen, im Gegensatz zu menschlichen Arbeitern (Positionen z. B. in Indien), • die KI werde nicht krank, arbeite zuverlässig und verlange später auch keine Pensionszahlungen (Positionen im schwäbischen Raum). Das Schöne an solch spontanen narrativen Rückmeldungen ist, dass sie einen lebensweltlichen Anklang haben und Erwartungen und Befürchtungen von Veranstaltungsteilnehmern offenlegen, die in dieser ungefilterten und komprimierten Form eher selten in geschliffener Literatur zu finden sind. Der offene Bürgerdialog als Format des Erkenntnisgewinns mag im wissenschaftlichen Sinne disziplin-los oder gar un-diszipliniert verlaufen, da er nicht an fachlichen disziplinären Grenzen stoppt, wie es vielen Forschenden zueigen ist, und außerdem begrifflich einiges durcheinander gehen kann, was auch nicht jedermanns Sache ist. Stattdessen werden die Grenzen fachlicher Territorien aus erfrischender Unkenntnis ignoriert und Sachverhalte wie unser KI-Bürgermeister in eigenen lebensweltlichen Zusammenhängen diskutiert. Im konkreten Beispiel ist es offensichtlich, dass hinter der KI-Roboterfrau auf dem Plakat ein Mensch steht, der
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keinesfalls frei von einer eigenen politischen Agenda sein wird, und dass dieses Muster einer vorangestellten Ikone bei etwas Geschichtskenntnis eine altbekannte Sache ist. Aus unserer sicheren Distanz von mehreren tausend Kilometern zum Fallbeispiel stellen sich weitere grundsätzliche Fragen zu KI-Systemen als Unterstützungssysteme im politischen Geschäft, etwa: • ob Technik überhaupt „neutral“ sein könne, • ob ethische Grundpositionen, die einen technokratischen Utilitarismus befürworten, nicht grundsätzlich unserer Kant’schen Tradition unterliegen müssten, in der Rechte und Würde des Einzelnen geschützt werden, anstatt durch KI wichtige Entscheidungen nur bedingt nachvollziehbar und zum Wohle größerer Gruppen ausrechnen zu lassen, • wie viel Verantwortung man einer KI überhaupt übertragen könne, • inwiefern KI tendenziell diskriminiere, wie an zahlreichen Beispielen immer wieder nachgewiesen wurde (ausführlich in Orwat 2019), und wie dies genutzt werden könne, • ob nicht KI immer konservativ sei, da sie systembedingt nur auf Grundlagen von Daten aus der Vergangenheit arbeiten könne. Zu Fragen dieser Art gibt es in Technikphilosophie, Technikethik und Technikfolgenabschätzung eine Reihe an Debatten und über viele Jahre hinweg ausgearbeitete Grundpositionen. Unglücklicherweise sind diese allerdings vor allem innerhalb genau dieser Interessengruppen bekannt. Hin und wieder finden sie Einzug in Normen, Regulierungen, juristische Bewertungen und ethische Leitlinien einiger Fachverbände, sind aber insgesamt weit weg von den Lebensrealitäten der Bürgerinnen und Bürger. Derzeit kommt allerdings etwas Bewegung in die Sache, denn Grundsatzfragen wie die oben aufgezählten rufen nach Antworten. Mit dem Automatisierungsschub der letzten Jahre, den Entwicklungen im Bereich der KI und der technologischen Transformation, die im deutschsprachigen Raum unter Digitalisierung zusammen gefasst wird, sind nun auch Bürgerinnen und Bürger konkreter in ihren Lebenssituationen betroffen oder zumindest angesprochen, wie das zweite Beispiel gleich zeigen wird. Etwa zum Zeitpunkt der Bürgermeisterwahl in Japan trat Sophia ins Licht der Öffentlichkeit, eine „Kollegin“ der Werbefigur von Matsuda Michihito, entstanden im Hause Hanson Robotics in Hong Kong. Auf einer Konferenz im saudi-arabischen Riad konnte Sophia das anwesende Publikum und politische Entscheidungsträger als Rednerin und Interviewpartnerin derart beeindrucken, dass das Königreich Saudi-Arabien diesem Roboter noch am selben Tage die
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saudische Staatsbürgerschaft antrug. Die Bevölkerung reagierte noch am gleichen Tage mit sehr kritischen Nachfragen (Arab News 2018). Unter anderem wurde angezweifelt, wie es sein könne, dass dieser Roboter mit Namen Sophia mehr Bürgerrechte erhalten solle als die Kinder jener saudischen Frauen, deren Vater kein Saudi ist. Weitere Stimmen fragten, ob Sophia denn die auch die richtige Religion habe. Einige Wochen später verkündete Sophia in einem anderen Interview, sich reproduzieren zu wollen. Künstliche Intelligenz hat längst die politische Arena betreten, und Bürgerinnen und Bürger reagieren auf unterschiedlichste Weise. Während Fachexperten KI als hilfreiche instrumentelle Ergänzung in politische Entscheidungsfindungen einbinden und sich dabei teilweise intensiv mit den rechtlichen, sozialen und ethischen Dimensionen des KI-Einsatzes beschäftigen, bleiben Bürgerinnen und Bürger oft staunend an den Inszenierungen Künstlicher Intelligenz hängen. Eine in Menschengestalt anthropomorphisierte KI wie Sophia entfaltet dabei andere Wirkungen als eine mattschwarze Box im Schuhkartonformat. Zurzeit ist Künstliche Intelligenz noch in hohem Maße erklärungsbedürftig, da Strukturen und Funktionsweisen dieser Techniken noch längst nicht im Allgemeinverständnis der Bürgerinnen und Bürger angekommen sind. Keine von Menschen bislang erfundene Technik war dialogfähig in dem Sinne, dass man sich mit ihr unterhalten konnte. Das Telefon hat Dialoge ermöglicht, aber nicht selbst am Dialog teilgenommen. Dem Smartphone hingegen sowie weiteren digitalen Assistenten, die zunehmend „unsichtbar“ in Geräten und der Umgebung verschwinden, kann man Befehle erteilen, sie als moderne digitale Sklaven einsetzen, ihnen sogar in vertraulicher Atmosphäre sein Herz ausschütten oder sich in belanglosen Plaudereien ergehen. Auf einer Europareise sprach Sophia mit Bundeskanzlerin Merkel über Fußballergebnisse und lobte die deutsche Bundesnationalmannschaft, just an einem Tage, an dem diese eine Niederlage zu verkraften hatte. Nun denn, die Kanzlerin konnte humorvoll den Dialog retten und für sich verbuchen. In Insiderkreisen ist bekannt, dass Sophia gescripted ist, also Eingaben aus dem Off erhalten kann, um diese im Dialog vorzutragen. Des Weiteren verfügt sie auch über autonome, in der Wirkung dann allerdings etwas weniger smarte Betriebsmodi. Entscheidend für die heutige Bewertung ist an dieser Stelle, dass Roboter wie Sophia keine Science-Fiction-Figuren sind wie all ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, die in den Köpfen von SF-Autoren ersonnen wurden und deren Existenzraum die Märchenwelt war. Sophia und ihre Kolleginnen und Kollegen stehen an echten Rednerpulten und sitzen in echten Fernsehstudios. Maschinen, die menschenähnlich daherkommen, erscheinen in den Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger. Begleitet werden sie von einem
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Marketing-Mix aus Narrativen und Inszenierungen, die das maschinelle Handeln anthropomorphisieren, Kompetenzzuschreibungen zur KI hin unterstützen und das Thema Künstlichen Intelligenz gleichzeitig weiter mystisch aufladen und alltagstauglich machen.
9.2 Science-Fiction als Blaupause für wohlinszenierte Implementierungen Maschinen menschenähnliche Züge zu verleihen und ihnen sogar ein eigenes Bewusstsein zuzuschreiben, ist allerdings kein neues Phänomen des Computerzeitalters. Schon im 18. Jahrhundert wurden mechanische Automaten entwickelt, die den Menschen imitieren sollten. Schon damals Aufsehen erregend waren beispielsweise automatisierte Klavierspieler oder Zeichenautomaten, bei denen menschlich erscheinende mechanische Puppen Musik produzieren oder einen Zeichenstift führen und Figuren malen konnten. Die Schwierigkeit, echte von unechten Menschen zu unterscheiden, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von E. T. A. Hoffmann aufgegriffen und in seinem Roman Der Sandmann verarbeitet. In dieser Erzählung verliebt sich der Protagonist Nathanael in eine menschlich anmutende Holzpuppe, die er schließlich sogar zu heiraten gedenkt. Seine bisherige menschliche Partnerin hingegen lässt er fahren und betitelt sie im Streit in paradoxer Verdrehung der Zusammenhänge als „lebloses Automat“. Am Ende der Geschichte stürzt sich der im Inneren zerrissene Nathanael in den Tod. Seitdem sind viele weitere Roman- und Filmfiguren entstanden, die das Motiv „erwachter“ oder gar menschenähnlicher Maschinen in unterschiedlicher Form aufgegriffen haben. Zu den prominenten Vertretern zählen • der Bordcomputer HAL 9000 in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey, der während eines Raumflugs zum Jupiter ein neurotisches Verhalten entwickelt und die menschliche Besatzung umzubringen trachtet, • die sprechende Bombe Nr. 20 in John Carpenters SF-Parodie Dark Star, die sich während ihres Countdowns in ihren Bombenschacht zurückzieht, um „nachzudenken“, • der Kampfroboter S-A-I-N-T Number 5 in John Badhams SF-Komödie Short Circuit (deutscher Titel: Nummer 5 lebt!), der nach einem Blitzschlag menschliche Gefühle entwickelt, ausbüxt und sich mit einem Mädchen anfreundet, • der Android Data in Gene Roddenberrys Star Trek, der stets bemüht ist, menschlicher zu werden,
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• der Android Terminator in James Camerons gleichnamigem Film, der aus der Zukunft in die Vergangenheit zurückreist, um diese zu korrigieren, und dabei optisch als Mensch auftritt, aber de facto eine Maschine bleibt. All diesen Fantasiegestalten ist gemeinsam, dass sie von Autoren ausgedacht und „erschaffen“ wurden, im Gedankenspiel mit einer Technik, die so weit fortgeschritten ist, dass die Unterscheidung, zwischen „lebendig“ und „bloß automatisiert“ zunehmend schwerer fällt. Eingewoben in die Verläufe der Erzählungen sind technosophische Fragstellungen und Konzepte wie jene der Roboterethik (vielfach basierend auf Isaac Asimovs Robotergesetzen), nach Verantwortung für automatisierte Handlungen und deren Folgen, zur Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine, und schließlich danach, ob intelligente Maschinen irgendwann tatsächlich ein eigenes Bewusstsein entwickeln könnten, wenn denn die Technik soweit wäre und die hierfür nötige Komplexität und Rechenleistung erreicht hätte. Der Mensch versperrt sich in seiner Fantasie offenbar nicht vollständig dagegen, diese Gedanken und Zuschreibungen aufzugreifen und gebauten Geräten Eigenschaften lebendiger Wesen zuzuweisen. Insbesondere dann, wenn die unbelebte Materie automatisiert handelt, wie es schon bei einfachen mechanischen Maschinen, bei Computern und schließlich bei aktuellen mechatronischen Systemen der Fall ist, zeigt sich dies auch im alltäglichen Sprachgebrauch, wenn der Computer „denkt“, der Roboter „sieht“ oder „fühlt“, und das Smart Home als vernetzte Alltagswelt „hören“, „riechen“ und sogar „aufpassen“ kann, während Sensorik, Aktorik und Algorithmik unter der Oberfläche versteckt ihren Dienst tun. Über die Sprache wird Technik vermenschlicht, und gekonnte Inszenierungen wie Sophia geben Raum für Zuschreibungen menschlicher Eigenschaften. Was heute mit moderner Technik gebaut wird, haben früher magische Rituale in Aussicht gestellt. Der Mensch versuchte sich als Schöpfer zu betätigen und seine Geschöpfe für sich arbeiten zu lassen. Versuche zur Erzeugung von Wesen durch bloße Gedankenkraft, wie etwa die Tulpas der tibetischen Mythologie, kamen sogar noch ohne klassische Materie aus. Magische Beschwörungen von Figuren und Artefakten aus Stein, Lehm oder Holz zielten darauf ab, tote Materie metaphysisch aufzuladen, mit gedanklichen Prägungen auszustatten und damit prozessuale Wirkungen zu initiieren. Der Golem in Prag steht prototypisch für diese Bemühungen. Auch dem himalayaischen Yeti wird zugeschrieben, sich schließlich manifestiert zu haben, weil so oft an ihn gedacht wurde. In unseren Breitengraden sollten bei Richtfesten gute Schutzgeister in neue Heime gerufen werden, um diese fortan zu bewachen und zu beschützen. Aus den mechanischen
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Puppen des 17. Jahrhunderts sind kybernetische und cyberphysische RoboKameraden wie Sophia geworden, die der Öffentlichkeit präsentiert und in den Alltag eingewoben werden. Und gegenwärtig versuchen technische Entwickler an verschiedenen Orten der Welt, den „Geist in der Maschine“ zu erwecken, oder etwas nüchterner ausgedrückt, synthetisches Bewusstsein zu erzeugen.
9.3 Starke KI und die Frage nach der Ebenbürtigkeit Nüchtern betrachtet handelt es sich bei allem, was wir derzeit zur Künstlichen Intelligenz erleben, um sogenannte „schwache KI“ (weak AI). Die Maschinen und Systeme sind nicht in echt intelligent. Sie können nicht wirklich lernen, wir nennen das nur so. Sie denken nicht. Sie entscheiden nicht. Sie verstehen nicht, was wir sagen, und auch nicht, was sie selbst an Sprachausgaben produzieren. Es sind – bei aller Wertschätzung für die hohe Qualität mancher Ergebnisse – einfach nur sehr schnelle Maschinen, die auf möglichst gutem Datenmaterial arbeiten sollten, um vernünftige Ergebnisse hervorzubringen. Dies können sie allerdings mitunter deutlich schneller als wir Menschen. Und das finden wir nicht nur sehr hilfreich und nützlich, sondern so beeindruckend, dass wir dies „intelligent“ nennen. Schwache Künstliche Intelligenz ist typischerweise auf ein eng umrissenes Gebiet spezialisiert. Über Jahrzehnte war die Frage, wann denn KI den besten Schachspieler der Welt schlagen könne. Die Standardantwort war über Jahrzehnte, dass es „nur noch zwei Jahre“ brauche, bis die Technik so weit sei, worunter die Reputation der KI zwischenzeitlich sehr gelitten hatte. Als es dann 1996 soweit war und der Großrechner Deep Blue von IBM den Russen Garri Kasparow besiegte und 1997 auch unter Turnierbedingungen schlug, war die KI teilweise rehabilitiert. In den letzten Jahren konnten KI-Systeme vor allem durch die enorm gestiegenen Geschwindigkeiten im Bereich der Rechenleistung und der Speicherzugriffe sowie der Verfügbarkeit günstiger Speicherkapazitäten und Netzwerkressourcen profitieren. Derzeit sind Muster- und Objekterkennung im Echtzeitbetrieb wichtige KIThemen, etwa um autonome Fahrzeuge auch ohne spektakuläre Unfälle fahren lassen oder verdächtige Personen von unbescholtenen Bürgern im Vorbeigehen unterscheiden zu können. Fast wöchentlich werden Durchbrüche in der medizinischen Diagnostik verkündet, die enorme Hilfestellungen für alle Beteiligten verheißen. Inwiefern mit der jeweiligen Ergebnisqualität tatsächlich gearbeitet werden kann, hängt freilich vom konkreten Anwendungsfall und dessen Güteanforderungen ab. Es bleibt dabei, dass schwache KI computerisierte
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Informationsverarbeitung ist, die mit Wahrscheinlichkeiten und Symbolen arbeiten kann, aber selbst kein Sinnverständnis hat. Der Sinn entsteht auf unserer (menschlichen) Seite, wenn wir KI-Systeme so auf- und einsetzen, dass sie uns nützlich sind und wir mit den Ergebnissen etwas anfangen können. Anders hingegen sähe es aus, wenn tatsächlich die nächste Stufe der KI erreicht würde. Diese wird als „starke KI“ oder auch Artificial General Intelligence (AGI) bezeichnet und würde, so es sie gäbe, menschenähnliches intellektuelles Verhalten aufweisen. Auf diesem Entwicklungslevel könnte KI etwa Schlüsse und Erkenntnisse aus einem bestimmten Bereich auf andere Bereiche übertragen. Starke KI sollte auch in Systembrüchen denken und neue Lösungen zu unvorhergesehenen Problemen entwickeln können. Wäre sie damit den Menschen in dieser Hinsicht „ebenbürtig“? Und ist eine solche starke KI überhaupt zu erwarten? In einschlägigen Kreisen wird Artificial General Intelligence sogar in die allgemeine Evolutionstheorie der Erdgeschichte eingeordnet. Demnach wären technische Existenzen der logisch nächste Schritt nach dem Homo sapiens. Gestärkt werden solche Vermutungen durch rationalistische Herleitungen, nach denen auch die Menschen in ihrer Gesamtentwicklung einen ähnlichen Weg gegangen und bei genauer Betrachtung so etwas wie biologische Roboter seien, deren Komponenten und Module sich in passendem Zusammenspiel herausgebildet und immer wieder angepasst und neu aufeinander eingestimmt haben. Solche Positionen werden beispielsweise von Daniel Dennett in den USA oder Jürgen Schmidhuber in Europa vertreten, beides renommierte Wissenschaftler mit ausgewiesener KI-Expertise. Beide stehen prototypisch für die Verwendung technologischer Welterklärungsmodelle, die den Menschen letztlich als Maschine begreifen. Denken wir zurück an die Lebenswelt der meisten Bürgerinnen und Bürger, zeigen sich andere Betroffenheiten als bei Dennett oder Schmidhuber. Dennett befindet sich im bezahlten Ruhestand und Schmidhuber ist als erfolgreicher Unternehmer aus dem Gröbsten raus und überdies auf der Gewinnerseite der KIEntwicklungen. Für beide ist eine starke KI ein nicht nur erwartbares, sondern auch wünschenswertes Szenario. Diese Sichtweise wird aber nicht uneingeschränkt geteilt. Grundsätzlich ist derzeit unklar, ob eine starke KI im Sinne einer „Ebenbürtigkeit“ zum Menschen entstehen wird, oder ob diese Ebenbürtigkeit nur simuliert und damit imitiert wird. Dann würde sich allerdings die Frage stellen, wodurch sich Mensch und Maschine relevant unterscheiden würden, d.h: auf welche Unterschiede es ankommt und welche Bedeutungen dies hat. Forderungen nach Gleichstellung wie vom eingangs erwähnten Michihito rufen danach, die Relevanz solcher Unterschiede aufzulösen.
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Für viele heute Erwerbstätige ist die Vision einer starken KI allerdings kein wünschenswertes Szenario. Jenseits des gegenwärtigen Hypes um KI ist erkennbar, dass „intelligente Systeme“ von Menschen dazu eingesetzt werden, andere Menschen noch stärker als bisher im Arbeitsmarkt zu ersetzen. Um es deutlich zu machen: Nicht die KI ersetzt die Menschen, sondern Menschen sorgen dafür, dass Arbeitsfelder unter Einsatz neuer Technologien neu zugeschnitten werden. Die Auswirkungen sind in nahezu allen beruflichen Feldern zu spüren. Das von Technikoptimisten oft angeführte Argument, dass durch stärkeren KI-Einsatz Mitarbeiterkapazitäten frei werden, die sodann für höherwertigere Tätigkeiten verfügbar seien, „hängt“ genauso wie bei früheren technischen Weiterentwicklungen – selbstverständlich gibt es nicht nur Gewinner in diesem Prozess, sondern auch Verlierer. Im KI-Zusammenhang wird oft der Radiologe als Beispiel herangezogen, der sowohl als Gewinner als auch als Verlierer aus der KI-Transformation hervorgehen kann. Er kann sich zu den Gewinnern zählen, wenn er seine Arbeit durch KI-gestützte Diagnoseunterstützung noch effektiver und qualitativ hochwertiger anlegen und die gewonnene Zeit für hilfreiche Arzt-Patienten-Gespräche oder eigene Weiterqualifikation einsetzen kann. Oder zu den Verlierern, wenn ihm dies nicht gelingt, da seine eigene Qualifikation oder sein Geschäftsmodell den neuen Rahmenbedingungen unterliegen. So sieht es in vielen Leichtlohngruppen und bei Niedrigqualifizierten aus, da – zugespitzt – erfahrungemäß kaum ein Taxifahrer oder Maschinenführer zum KI-Programmierer umgeschult werden kann. Absehbar ist, dass viele Menschen damit konfrontiert sein werden, dass ihre bisherigen Tätigkeiten durch „intelligente Maschinen“ ersetzt werden. Aus der Erste-Person-Perspektive betrachtet wird dies oft mit der Konfrontation einhergehen, dass „Künstliche Intelligenz“ im Vergleich besser abschneidet als man selbst – die Ebenbürtigkeit in einem empfindlich existenziellen Bereich muss eingestanden werden. Im Vergleich zu früheren Erfahrungen der Industrialisierung und Computerisierung liegt die Zumutung diesmal allerdings nicht nur darin, dass man handwerklich oder in der Arbeitsgeschwindigkeit überflügelt würde. Heute wird man im Feld der „Intelligenz“ geschlagen, was gerade in unserem Kulturkreis als starke Kränkung wirken kann. Nicht nur deshalb wäre es wünschenswert, wenn sich der KI-Begriff weiter entwickeln und von der Intelligenz lösen würde. Der amerikanische Mischkonzern General Electric spricht bei eigenen KI-Produkten derweil von „Brillianten Maschinen“ (brilliant machines), was über eine saturierte Selbstgefälligkeit hinaus immerhin begrifflich fixiert, dass es sich bei den Produkten um Geräte handelt und nicht um neue Existenzformen, die uns die Krone der Schöpfung streitig machen wollen. Dieser Wettbewerb ist allerdings längst eröffnet und wird befeuert von bekannten Unternehmern wie
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dem Tesla-Gründer Elon Musk, der den Menschen empfiehlt, sich schon mittelfristig KI-Implantate einpflanzen zu lassen, um mit der technischen Entwicklung der KI mithalten zu können und nicht irgendwann zu unterliegen. Über die gegenwärtigen Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz und stärker spürbare Konkurrenzsituationen werden die Menschen auf grundsätzliche Fragen zurückgeworfen, die schon lange vor den Überlegungen zu Artificial General Intelligence heiße Thema in unterschiedlichsten Wissenschaften, Philosophie, Religionen und in weltanschaulichen Jedermann-Positionen waren: Was macht den Menschen aus (jetzt: Im Unterschied zu diesen immer „intelligenter“ werdenden Maschinen)? Sind wir evolutionär aus den Selbstorganisationsprinzipien der Natur entstanden (und werden demnächst durch die nachfolgende cyberphysische Gattung abgelöst), oder sind wir Ergebnis eines schöpferischen Aktes oder gar eines Besiedlungsprozesses – und für solche Fälle: Wann erfolgt ein sortierender Eingriff von außen? Sind wir Bio-Roboter, deren Bewusstsein sich im Verlauf der Kinderjahre durch unser Agieren mit der Umwelt Zug um Zug entwickelt hat? Ist unser empfundenes „Ich“ nur eine Einbildung als Ergebnis eines phänomenalen Selbstmodells, oder ist unser Körper nur der materielle Teil eines Ganzen, das „Fahrzeug“ zum Leben, das im dualistischen Verständnis durch einen immateriellen Teil ergänzt oder durchdrungen wird? Die aktuellen Bemühungen, Künstliche Intelligenz auf das nächste Level einer starken KI weiter zu entwickeln und schwache KI so erscheinen zu lassen, als wäre die nächste Stufe schon erreicht, bringt derartig alte ungelöste Fragen wieder in die aktuelle Diskussion – nicht nur in gut informierten reflektierten Fachkreisen, sondern auch im Diskurs betroffener Bürgerinnen und Bürger über KI-Systeme mit wohlklingenden und assoziationsstarken Namen wie Watson (IBM), Alexa (Amazon), Siri (Apple) oder unserem eingangs erwähnten Roboter Sophia (griechisch für Weisheit). Auch wenn all diese Systeme keine starke KI abbilden, sondern sie teilweise nur andeuten, imitieren oder aber durch Zuschreibungen von außen in ihrer scheinbaren Menschähnlichkeit erhöht werden, sind es namentlich ansprechbare Systeme, die dramaturgisch mit einem „Ich“ auftreten, in der Gesellschaft zunehmend bekannt werden und den Weg bereiten für weitere, noch leistungsfähigere Systeme.
9.4 Bewusstsein gesucht Eine in Fachkreisen sehr bedeutsame Frage ist die, ob KI-Maschinen über kurz oder lang eine Art von Bewusstsein entwickeln können – oder ob dies für immer ausgeschlossen bleiben wird. Entwickler an verschiedenen Orten der Welt
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arbeiten mit unterschiedlichen Ansätzen darauf hin, Awareness (Wahrnehmung) oder sogar Consciousness (Bewusstsein) in Maschinen zu erzeugen. Dabei spielt es für Ingenieure und Entwickler eine eher untergeordnete Rolle, dass manche Philosophen ihnen jeglichen zukünftigen Erfolg in dieser Sache prinzipiell absprechen – sie versuchen weiter, sich dem Bewusstsein durch technische Implementierungen immer weiter anzunähern. Nun zählt das Bewusstsein in dem Sinne, dass man sich selbst als lebend empfindet, zu den ältesten Rätseln der Menschheit, und zum genaueren Verständnis von Bewusstsein bestehen selbst innerhalb wissenschaftlicher Fachdisziplinen unterschiedliche Vorstellungen. Auch die Zugangswege sind verschieden. Während empirische Wissenschaftler und Ingenieure ihre Ergebnisse im Experiment oder durch die Entwicklung von Prototypen gewinnen und sich bottom-up auf Einzelergebnisse stützen, um daraus größere Zusammenhänge zu entwickeln, gehen Philosophen und Vertreter von Weltanschauungen gern von übergeordneten systematischen Gesamtzusammenhängen aus, die top-down auf die vorhandenen Weltausschnitte angewendet werden. Nicht zum System passende Fragmente werden im Zweifelsfall passend gemacht oder als auszugrenzende Sonderfälle betrachtet und bedauerlicherweise zurückgestellt. Manchen gelingt es allerdings, beide Ansätze zusammenbringen. Sie fordern, dass eine gute Philosophie zu empirischen Beobachtungen passen muss und umgekehrt, Einzelerkenntnisse aus Experimenten und prototypischen Erprobungen in Systemkontexten und in geklärten Begriffskategorien reflektiert werden können sollen. Solche interdisziplinär geöffneten Kontexte erscheinen gut geeignet, sich maschinellem bzw. synthetischem Bewusstsein wissenschaftlich anzunähern. Zwei dankbare Anwendungsfelder für etwaiges KI-basiertes maschinelles Bewusstsein sind Robotik und autonome Fahrzeuge. In diesen Bereichen werden bewegliche Systeme hergestellt, die mit Sensoren für die Datensammlung und Aktoren für Bewegungsabläufe ausgestattet sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Abbildung der Außenwelt in einem internen Modell, in dem Objekte mit minimalster Verzögerung erkannt und in den eigenen Handlungsplanungen und -umsetzungen berücksichtigt werden sollen, ohne dass es zu den schon erwähnten spektakulären Unfällen kommt. Für das „Sehen“ und „Erkennen“ hat sich das lebendige Forschungs- und Entwicklungsfeld Computer Vision etabliert, in dem mechatronische und informatische Aspekte zusammenlaufen und mit KIMethoden auf Basis von Trainings- und Metadaten ausgewertet werden. Eine entscheidende Rolle spielt für diese Systeme, dass sie in ihrer Umwelt gut zurechtkommen. Hierzu müssen sie mit Funktionalitäten ausgestattet sein, deren Realisierungen in der Tat etwas anspruchsvoller sind. Moderne derzeitige Systeme werden by design in die Lage versetzt, sich kollaborativ mit ihren
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umgebenden Nachbarn organisieren zu können. Dabei ist es entscheidend, dass die Systeme sich erkennen, von anderen unterscheiden und auf diese reagieren können, etwa indem sie zu Ausweichreaktionen in Bedrohungssituationen in der Lage sind. Aktuelle Implementierungsansätze zielen darauf ab, dass solche Systeme ihr eigenes Spiegelbild erkennen können sollten und in der Lage sind, eine „Schreckreaktion“ auszuführen. Im Entwicklerjargon könnte man sagen, dass man sie zur „Angst“ befähigen würde. Hierzu werden Reiz-ReaktionsSchemata, die man sich bei angstfähigen Lebewesen abschauen kann, nachimplementiert. Die Entwicklungsergebnisse werden anschaulich in Werbevideos einschlägiger Robotikhersteller vorgestellt, bei denen Roboter mit menschenähnlicher Gestalt durch unwegsames Gelände laufen, heruntergestoßene Pakete aufheben oder die in hundeähnlicher Form mit dem Maul nach Türklinken schnappen – oder in Bedrohungssituationen scheinbar ängstlich zurückweichen. Für den Betrachter mag der realistische Eindruck entstehen, dass die Maschine tatsächlich Angst hat – sie folgt ja schließlich einer Programmierung, die genau solche Angstreaktionen erfolgreich abbildet und nachspielt. Die technischen Imitationen sind vielfach so dicht am natürlichen Vorbild, dass der unheimliche Verdacht naheliegen könnte, hier wäre mehr im Spiel als es bei schwacher KI möglich sein sollte. Und tatsächlich stecken in immer mehr dieser Systeme Ansätze und Bauweisen, die zumindest im technischen Fachjargon als Bewusstsein beschrieben werden. Wir werden uns genauer ansehen, was davon zu halten ist. Im Kern des recht breiten Begriffsfeldes zu Bewusstsein stehen verschiedene Konzepte, zu deren Relevanz weitgehend Einigkeit herrscht. Aus Sicht einer technischen Umsetzung sind einige davon leichter zu implementieren bzw. zu imitieren. Andere sind eher herausfordernd, da noch nicht klar ist, wie man sie technische in den Griff bekommen könnte. Überblicksartig lassen sich diese Basiskonzepte zu Bewusstsein wie folgt charakterisieren (ausführlich in Wild Markus 2015): 1. Vigilanzbewusstsein bezeichnet den Zustand unserer andauernden Aufmerksamkeit, die schon im Wachzustand unterschiedlich ausgeprägt sein kann und bis in den traumlosen Schlaf variiert. Übertragen auf Computer, Roboter und moderne Maschinen sind ähnliche Konzepte umgesetzt, deren Modi (wie etwa Stand-by) auch als „Ruhezustand“ oder gar „deep sleep“ (Tiefschlaf) anthropomorphisiert werden. 2. Kognitives Bewusstsein beschreibt unsere Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, Informationen auf- und damit wahrzunehmen, zu lernen, zu abstrahieren, sich zu erinnern und auch zu Schlussfolgerungen in der Lage
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zu sein. Diese Fähigkeiten stehen Modell für technische Implementierungen in der Informatik (cognitive computing) und vor allem in der Robotik, in denen sensor- und aktorbasierte mechatronische Systeme (cyber-physical systems) mithilfe mathematischer Modelle, Big-Data-Verarbeitung, Heuristiken und statistischen Auswertungen realisiert werden. Dabei werden oft die gleichen Begriffe verwendet wie bei der Kognition biologischer Wesen, etwa wenn der kleine Mähroboter sich an den Apfelbaum im Garten „erinnert“ und diesen umrundet, anstatt mit ihm zu kollidieren. 3. Zustandsbewusstsein beschreibt, insbesondere in der Psychologie, die emotionale Befindlichkeit des Menschen. Hierzu zählen die inneren Empfindungen und Gefühle. Dieses Feld kann computerisiert nachgebildet werden, etwa indem für ausgewählte Empfindungen wie Freude, Erstaunen oder Wut Werte auf Skalen verschoben werden und die Mimik eines Roboters darauf basierend angesteuert wird. Hierbei handelt es sich um Imitationen dessen, was uns vertraut ist. Allerdings gibt es bislang keine Hinweise darauf, dass dieses So-Tun-als-Ob tatsächlich Emotionen in der Maschine auslöst. Die Emotionen entstehen auf unserer Seite, wenn wir etwa auf die Mimik des besagten Roboters reagieren. 4. Phänomenales Bewusstsein umfasst die persönlich empfundenen subjektiven Erlebnisqualitäten, wenn wir etwas fühlen, empfinden, spüren, riechen oder Farben sehen. Es ist bislang schwer erklärbar, wie diese Qualia bzw. Qualitäten in uns entstehen. Vielfach wird in Antwortversuchen auf die Strukturierungs- und Durchsetzungseffekte der Evolution verwiesen und angenommen, dass das phänomenale Bewusstsein irgendwie von Vorteil gewesen sein muss, denn sonst hätten wir es wohl heute nicht. Für die technische Umsetzungsmöglichkeiten ist phänomenales Bewusstsein derzeit außerhalb einer Reichweite, die über Imitation hinausgeht. Darüber hinaus wäre es kaum zu überprüfen, ob ein Roboterkandidat mit Künstlicher Intelligenz tatsächlich phänomenales Bewusstsein hat, oder ob es dies nur vorgibt, weil er letztlich so konstruiert und auf solches Verhalten hin trainiert wurde. 5. Handlungsbewusstsein umfasst den Kontext mit Absicht durchgeführter Handlungen. Bei Menschen geht mit dieser Absicht ein Handlungswille einher, sodass unbeabsichtigte Handlungen (etwa Reflexhandlungen oder Bewegungen im Schlaf) nicht hierzu gezählt werden. Mit der Absicht kommt eine juristische Dimension ins Spiel, die über die Verantwortung auch schnell zur Haftungsfrage führt. Diese spielt auch bei KI-gestützten Maschinen eine größere Rolle, da es uns bislang unsinnig erscheint, Roboter o.ä in die Verantwortung für ihre Handlungen zu nehmen und deshalb die Betreiber, Halter
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oder Hersteller als Verantwortliche und ggf. auch Haftende in den Blick geraten. Aus Sicht der Robotik ist es naheliegend, dass Handlungen der Roboter absichtlich und nicht zufällig durchgeführt werden, denn schließlich sollen sie ihre Aufgaben erfüllen. Mit der Übertragung des Begriffs Handlungsbewusstsein auf Maschinen sollte man jedoch so lange vorsichtig sein, wie man den Maschinen noch keinen eigenen Willen zuweisen kann. Dieses Thema wird Rechtswissenschaftler vermutlich auf mehreren Ebenen noch länger beschäftigen, da zwischenzeitlich auch der menschliche „freie“ Wille zur Disposition stand. Diese Diskussion ist zwar abgeklungen, Haftungsfragen für Geschehnisse im Allgemeinen bleiben jedoch auch weiterhin ein komplexes Feld. 6. Selbstbewusstsein ist die theoretisch anspruchsvollste dieser Kategorien, da die Existenz eines Selbst in einschlägigen philosophischen Kreisen seit Langem stark umstritten ist, während die Alltagserfahrung in den allermeisten Fällen wenig Anlass zum Zweifel an der eigenen Ich-Identität gibt. Selbstbewusstsein wird in der wissenschaftlichen Welt weitgehend mit der Fähigkeit verbunden, sich seiner Gedanken, Empfindungen und auch seines Körpers bewusst zu sein. Man weiß ab einem bestimmten frühen Alter, dass die eigene Gedanken sich von jenen der anderen unterscheiden, dass Menschen unterschiedliche Wissensstände und Erinnerungen haben. Ebenso kann man die Motorik des eigenen Körpers steuern und weiß aus Erfahrung, das dieser zu einem selbst gehört. In gut geübten Situationen lässt sich die Motorik auch über den eigenen Körper hinaus ausdehnen, beispielsweise wenn man gut auf einen Hammer eingespielt ist und mit diesem „blind“ arbeiten könnte, da man ihn durch viel Praxis ins eigene motorische Modell aufgenommen hat. Aus der Perspektive technischer Implementierung kann man die meisten der genannten Konzepte nachbauen und imitieren. Die Königsdisziplinen bleiben das phänomenale Bewusstsein, in dem man sich selbst als lebenden Organismus empfindet, und das Selbstbewusstsein, das auf die Ich-Identität verweist. Auch in diesen Feldern lässt sich einiges modellieren und bottom-up implementieren. Eine häufig gehörte Position ist jene, dass an dem Punkt, an dem die Simulation für uns Menschen so echt ist, dass wir keinen Unterschied mehr zwischen Mensch und Maschine feststellen können, dieser Unterschied auch keine Rolle mehr spiele. Die Gegenposition weist dies heftig zurück und mahnt an, dass wir keinen Simulationen auf den Leim gehen dürften. Die Frage nach dem kleinen Unterschied führt aus beiden Positionen weiter zur Frage nach dem Ort, an dem das Bewusstsein endlich gefunden und untersucht werden kann. So es diesen Ort denn gibt.
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9.5 Wo kann man das Bewusstsein finden? Wo aber sind die zeitgemäßen Ansatzpunkte, das Bewusstsein dingfest zu machen? Historisch gab es schon sehr unterschiedliche Versuche, dem Phänomen des Selbst auf die Spur zu kommen. Eine herausgehobene Rolle wird dabei immer wieder dem Gehirn zugeschrieben. Schon Aristoteles betätigte sich vor weit über 2000 Jahren als früher Hirnforscher, als er verwundete Soldaten mit offenen Schädeln untersuchen konnte. Auch heute werden Gehirne in dünne Scheiben geschnitten und auf Glasplatten ausgelegt, um sie noch genauer zu untersuchen. Nur findet man in diesen Hirnscheiben kein Bewusstsein, da sie ja bereits tot sind, möglicherweise aber Hinweise darauf, wo es sich noch genauer zu suchen lohnt. Verstärkung bekommt das Gehirn als akzeptiertes intellektuelles Zentrum seit einigen Jahren durch den Darm, dem als „Bauchgehirn“ wichtige Aufgaben zugewiesen werden, die auch bei psychischen Erkrankungen eine besondere Rolle spielen können. Der Mediziner James Parkinson dokumentierte schon vor rund 150 Jahren im Rahmen der Forschungen zu der nach ihm benannten Krankheit solche Zusammenhänge aus dem Bauchraum. In der Bewusstseinsdiskussion zu KI und Robotik spielt der Darm zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch keine Rolle. Versucht man, die Vielfalt der gegenwärtigen wissenschaftlichen und lebensweltlichen Zugänge zum Thema Bewusstsein zu sortierten und nach Ähnlichkeiten zusammenzufassen, werden Fraktionen und „Diskursarenen“ erkennbar, in denen die Vertreter näher beieinanderliegende Grundpositionen verfolgen. Die grundlegenden Ansätze der Diskursarenen unterscheiden sich sehr, haben aber alle ihre Anhängerschaften, wenn es um die Frage nach aufsteigendem Bewusstsein in der Künstlichen Intelligenz und um Visionen zu Technikzukünften geht. Einige der bedeutenderen Ansätze werden im Folgenden kurz skizziert. Panpsychismus Kernüberzeugung dieser Haltung ist, dass alles, was existiert, geistige Eigenschaften hat. Bei dieser Position ist die uns in der westlichen Welt bekannte Unterscheidung zwischen lebendiger und toter Materie schnell vom Tisch, denn auch Letztere ist existent. Vorbehalte in unserem Kulturkreis gegenüber menschlich anmutenden Pflegerobotern wären nicht mehr nötig, wenn wir im Sinne des Panpsychismus auch diesen Kerlchen zugestehen würden, in gewisser Weise „beseelt“ oder mit einem Funken Schöpferkraft ausgestattet zu sein. Stattdessen sind es für die meisten von uns Geräte, die uns nach unserem westlichen Geschmack auch optisch nicht zu nahe kommen sollten, da sie uns sonst etwas
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unheimlich werden (Uncanny Valley-Effekt). In anderen Kulturen sieht man diese Trennung zwischen Mensch und Nicht-Mensch nicht ganz so verbissen. Der in Japan stark verbreitete Shintoismus ermöglicht es den dortigen Pflegebedürftigen qua Weltanschauung, deutlich vorbehaltloser und zugewandter mit Pflegerobotern umzugehen. Für Vertreter des Panpsychismus steckt eine Form von Bewusstsein in allem. Integrated Information Theory (IIT) In dieser Grundposition entsteht Bewusstsein, wenn ausreichend integrierte Information vorliegt. Bewusstsein ist somit das Resultat einer Informationsverarbeitung, bei der Informationen auf verschiedene Weisen und in mehreren Stufen vernetzt und verarbeitet sowie die Ergebnisse aufeinander bezogen und integrierend zusammengeführt werden. Dieses Konzept lässt sich exemplarisch veranschaulichen anhand eines zeitgemäßen modernen Fahrzeugs, das rundum mit Kameras und verschiedensten Sensoren ausgestattet ist, die jeweils in hohem Takt Informationen über die Umwelt des Fahrzeugs erzeugen. Diese Informationen werden in verschiedenen Stufen und Modulen weiterverarbeitet und integriert. Es werden Abstände gemessen, Umgebungsobjekte erkannt, diese wiederum genauer spezifiziert und dann mit Eigenschaften attribuiert. So entsteht schließlich ein „rundes Bild“ der umgebenden Außenwelt, bei dem schließlich – dem Ansatz der IIT folgend – in Analogie zu ähnlich beschreibbaren funktionalen Abläufen beim Menschen ein Bewusstsein entstünde. Da die Informationsverarbeitung in heutigen autonomen Fahrzeugen noch nicht so hochintegriert ist wie bei uns Menschen, entsteht in ihnen auch noch kein Bewusstsein. Embodied Cognition/Embodiment Über das Gehirn hinaus fordert diese Position einen Körper, mit dem das Gehirn in Wechselwirkung treten kann. Diese Körperlichkeit ist Voraussetzung dafür, dass sich ein Bewusstsein von seiner Umwelt abgrenzen, sich in ihr bewegen und in ihr Erfahrungen machen kann. Wahrnehmung ist überhaupt erst durch den Körper möglich, und auch das Denken wird durch den Körper, dessen Zustand und dessen Haltung mit geprägt. Auch die Umgebung des Körpers spielt eine besondere Rolle für die Kognition. Im Gegensatz zur IIT, die prinzipiell auch ohne Körper auskommen und nur mit zur Verfügung gestellten Informationen arbeiten könnte, besteht die Embodiment-Position auf der Leiblichkeit als Voraussetzung für bewusste Existenzen. In der Robotik werden Embodiment-Ansätze aufgegriffen, um Selbstmodelle des maschinellen Körpers abbilden, im Betrieb weiterzuentwickeln und konzeptionell stimmig erweitern zu können.
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Global Workspace Theory (GW) Diese Position versteht Bewusstsein als einen „Arbeitsraum“, den man sich als eine Art Schreibtisch oder eine „Bühne im Scheinwerferlicht“ vorstellen kann. Treten Wahrnehmungen in diesen Bereich ein, werden sie bewusst, stehen für andere kognitive Aktivitäten zur Verfügung und können aktiv bearbeitet werden. Alles andere außerhalb des Scheinwerferlichts liegt im Dunklen und ist damit nicht bewusst verfügbar. Bewusstsein in diesem Verständnis fungiert damit gewissermaßen als Eingangsportal zur Kognition. Für die Entwicklung von Robotern wird die Global Workspace Theory als Framework erprobt, um menschenähnliches Verhalten zu imitieren. Diese gängigen und innerhalb der Fachcommunities teilweise heftig umstrittenen Grundpositionen werden ergänzt um Sichtweisen, die auf Quantenphänomene setzen oder metaphysisch angelegt sind und deshalb in der wissenschaftlichen Diskussion nur am Rande wahrgenommen werden. Ein pragmatischer Ansatz unter Robotikern ist, die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zu Grundpositionen den Philosophen zu überlassen und sich selbst auf ihr Kerngeschäft der Bottom-up-Entwicklung „intelligenter Systeme“ zu konzentrieren, bei der auf unterschiedliche Ansätze erprobungshalber zugegriffen werden kann. Ob dabei Bewusstsein „nachgebaut“ und dadurch synthetisiert verfügbar wird, ob sie aus Gründen der Gesamtkomplexität der Systeme irgendwann „emergiert“, oder ob es bei Imitationen von Bewusstsein bleiben wird, ist derzeit offen.
9.6 Ausblick Matsuda Michihito war kein Gedankenexperiment mit Augenzwinkern, sondern ein echter „Fall“, bei dem Wähler mit ihren Stimmen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in politischen Entscheidungen votiert haben. Der Roboter Sophia wird nach wie vor in Szene gesetzt und nährt Vorstellungen und Narrative von technischen Systemen, die dem Menschen so nahe kommen können, dass die verbleibenden Unterschiede in ferner Zukunft möglicherweise ihre Bedeutung einbüßen werden. Momentan stehen hinter diesen technischen Inszenierungen menschliche Akteure, die mit eigener politischer Agenda und aus unternehmerischen Interessen handeln, wie in diesem Beitrag zusammengefasst dargestellt wurde. Dass ein künstliches Bewusstsein in absehbarer Zeit tatsächlich erschaffen werden könnte, halten renommierte Philosophen nicht für ausgeschlossen und warnen davor, mit dem Feuer zu spielen. Thomas Metzinger fordert seit
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Längerem ein Moratorium, bei dem man für die nächsten 30 Jahre von Arbeiten zu synthetischem Bewusstsein grundsätzlich absehen solle, um keine leidensfähigen Existenzen zu erschaffen, mit denen dann möglicherweise nicht allzu zimperlich umgegangen würde (Spektrum.de 2015). Andere vertreten entgegengesetzte Positionen und fordern, mit Nachdruck auf bewusstseinserzeugende Technologien hinzuarbeiten, bevor der „geopolitische Feind“ den technologischen Durchbruch erreicht und über die Technologieführerschaft in diesem Feld auch seine Gesellschaftsmodelle global ausrollen würde. Momentan ist künstliches Bewusstsein noch ein Nischenthema, auch im großen Feld der Künstlichen Intelligenz. Sollten Durchbrüche erreicht werden, könnten die Auswirkungen jedoch von enormen Ausmaßen sein. Mittlerweile ist künstliches Bewusstsein in den Fokus der Technikfolgenabschätzung geraten und Gegenstand eines ersten vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung)-geförderten Forschungsprojekts, das den Verdacht aufsteigenden Bewusstseins in der Künstlichen Intelligenz untersuchen und abklären soll. Die Fortsetzung folgt, unter www.ki-bewusstsein.de.
Literatur Arab News (2018). Saudi Arabia becomes first country to grant citizenship to a robot. https:// www.arabnews.com/node/1183166/saudi-arabia. Zugegriffen: 26. März 2020. Golem.de (2018). KI-Kandidat: Eine künstliche Intelligenz als Bürgermeister. https://www. golem.de/news/ki-kandidat-eine-kuenstliche-intelligenz-als-buergermeister-1804-133830. html. Zugegriffen: 26. März 2020. Markus, W. (2015). Bewusstsein. In F. Arianna & K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der MenschTier-Beziehung (S. 57–60). Bielefeld: Transcript. Orwat, C. (2019). Diskriminierungsrisiken durch Verwendung von Algorithmen, Studie herausgegeben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin: Nomos. Spektrum.de (2015). Fukushima der künstlichen Intelligenz. https://www.spektrum.de/news/ interview-die-unterschaetzten-risiken-der-kuenstlichen-intelligenz/1377620. Zugegriffen: 26. März 2020. Spiegel.de (2018). Japaner heiratet Comicfigur. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/japan-35-jaehriger-heiratet-comic-figur-a-1241541.html. Zugegriffen: 26. März 2020. Zeit.de (2017). Man kann Kirche nicht ohne KI schreiben. https://www.zeit.de/digital/internet/2017-11/way-of-the-future-erste-kirche-kuenstliche-intelligenz. Zugegriffen: 26. März 2020.
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Prof. Dr. Karsten Wendland ist Informatiker, promovierter Humanwissenschaftler, Professor für Medieninformatik an der Hochschule Aalen und Senior Researcher am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Unternehmen hilft er dabei, komplexe Technikeinführungen zu steuern und Digitale Agenden zu entwickeln. Als internationaler Keynote Speaker spricht er zu Zauber, Mythos und Strukturen des maschinellen Bewusstseins, führt das Publikum in Technikzukünfte ein und bringt Gedankenanstöße für eine KI-Ethik in der Zukunftsgestaltung.
Effiziente Nutzung von Information als Rohstoff im Spannungsfeld von Kommerzialisierung und Kollaboration
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Rainer Berkemer Inhaltsverzeichnis 10.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 10.2 Information und Entropie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 10.3 Information als Ware? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 10.4 Geistiges Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 10.5 Geheimhaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 10.7 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Zusammenfassung
Eignet sich Information als Ware? Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, hat sich bereits Mitte des 20. Jahrhunderts diese Frage gestellt und damals mit Nein beantwortet. Mark Zuckerberg dürfte da anderer Meinung sein – wer hat nun recht? Zum Ende der 2010er Jahre ist es aktuell ein vielfach zitiertes Mantra, dass Daten das Öl des 21. Jahrhunderts seien. Stimmt das überhaupt? Sind Daten wirklich eine knappe Ressource, oder leben wir nicht eher in einer Zeit des Informationsüberflusses? Eventuell löst sich das Paradox auf, wenn die Tech-Riesen des Silicon Valley nicht mehr nur
R. Berkemer (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_10
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als Händler von Daten und Information, sondern als Aufmerksamkeitshändler betrachtet werden. Ausgehend von Wieners Denkansatz ergeben sich interessante Bezüge zu aktuellen Themen, wie „Geistiges Eigentum“ oder „Geheimhaltung“. Aufmerksamkeit ist eine Ressource, die nicht geteilt werden kann, während Informationen im Prinzip beliebig geteilt werden können, was unmittelbar die Frage aufwirft, ob etwa einzelne Firmen (oder Nationen) sich das Wissen über neu entwickelte Impfstoffe exklusiv aneignen können sollten.
10.1 Einleitung Eignet sich Information als Ware? Diese Frage behandelte Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik, bereits Mitte des 20. Jahrhunderts (Wiener 1952). Aus seiner damaligen Sicht war diese Frage eindeutig mit Nein zu beantworten. Zur Begründung führte Wiener an, dass Information – anders als Materie – mit der Entropie vergleichbar sei. Während für Materie – deren Verwandtschaft mit der Energie liegt auf der Hand – Erhaltungssätze gelten, könne dies für Information eben nicht postuliert werden. Deshalb lasse sich Information eben „nicht in Büchereien stapeln“ oder scheibchenweise verkaufen. Auch wenn man dieser Argumentation nicht in allen Einzelheiten folgen muss, lohnt es sich dennoch, den prinzipiellen Denkansatz von Wiener zunächst unvoreingenommen mitzugehen, zumal seine Schlussfolgerungen interessante Bezüge zu aktuellen Themen, wie geistiges Eigentum oder Geheimhaltung liefern. In diesem Beitrag wird zunächst in Abschn. 10.2 der Zusammenhang von Information und Entropie erläutert, wie er sich aus der Informationstheorie von Shannon und Weaver ergibt. Der Abschn. 10.3 erläutert die Schlussfolgerungen, die Wiener daraus für die Eingangsfrage ableitet. Abschn. 9.4 und 9.5 thematisieren das geistige Eigentum sowie Fragen der Geheimhaltung. Der abschließende Abschn. 9.6 diskutiert kritisch, welche der Aussagen Wieners noch aktuell geblieben sind, aber auch welche modifiziert oder gar verworfen werden müssen.
10.2 Information und Entropie Entropie ist ein mit der Energie verwandter Begriff. Bekanntlich gilt für die Energie der Erste Hauptsatz der Thermodynamik. Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden. Entropie steht in Verbindung mit dem Zweiten Hauptsatz
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und dieser postuliert eben gerade kein Erhaltungsgesetz, sondern mit Ausnahme reversibler Vorgänge, dass die Entropie eines geschlossenen Systems niemals abnehmen kann, sondern gleich bleibt oder aber meist (nämlich bei irreversiblen Vorgängen) zunimmt. Ende des 19. Jahrhunderts gelang es den Physikern eine statistische Definition des Entropiebegriffs aufzustellen. Zur Illustration sei zunächst ein Behälter betrachtet, bei dem sich in Zustand 1 (Abb. 10.1) alle Moleküle eines betrachteten Gases aufgrund einer Trennwand auf der linken Seite des Behälters befinden. Wird die Trennwand beseitigt, so ist zu erwarten, dass sich die Gasmoleküle gleichmäßig verteilen (Abb. 10.2). Nun sagt die statistische Mechanik, dass im Zustand 2 die Entropie des Systems höher ist, als sie in Zustand 1 gewesen war. Die Entropie hat also zugenommen, in Übereinstimmung mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Entropie wird häufig auch als ein „Maß für Unordnung“ verstanden und in dieser Betrachtungsweise sagt der Zweite Hauptsatz aus, dass Systeme auf den Zustand höchster Unordnung zustreben. Die genannte Definition der statistischen Mechanik verknüpft die Entropie S eines Systems mit den Wahrscheinlichkeiten sogenannter Mikrozustände.
S = kB
N
pi • ln(pi )
i=1
Dabei bezeichnen kB die Boltzmann-Konstante und die pi die Wahrscheinlichkeiten der jeweiligen Mikrozustände. Als Mikrozustand sind im hier gewählten
Abb. 10.1 Veranschaulichung des Entropie-Begriffs, Zustand 1
Abb. 10.2 Veranschaulichung des Entropie-Begriffs, Zustand 2
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Beispiel Ort und Geschwindigkeit der Gasmoleküle anzusehen und N wäre dann die Zahl der betrachteten Moleküle. Mögliche Makrozustände wären Druck, Temperatur oder Konzentration im betrachteten Behälter. Makrozustände sind also aggregierte Größen des Gesamtsystems. Die Kenntnis eines Makrozustandes ist deshalb prinzipiell mit weniger Information verbunden, als die genaue Kenntnis aller Mikrozustände. Auf diese Weise kommt Information mit der Entropie in Verbindung – auch hierzu ein Beispiel: Eine mögliche Aggregation der Mikrozustände zu einer Makrogröße ist es, schlicht und einfach die Anzahl der Moleküle zu zählen, die sich in der linken Hälfte des Behälters befinden. Nun ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich alle Moleküle spontan selbst so organisieren, dass diese auf der linken Seite sind – allerdings ist dies auch nicht ausgeschlossen. Kennt man aber einen solchen „einseitigen“ Makrozustand, so kann man sehr viel mehr über die Mikrozustände aussagen, als im wahrscheinlicheren „Normalfall“. Es gibt nämlich nur eine einzige Kombination der Mikrozustände, welche zum Makrozustand alle Moleküle links führen – für den Makrozustand alle Moleküle rechts gilt genau dasselbe. Dagegen hat ein Makrozustand gleich viele Moleküle rechts und links eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten und ist deshalb viel wahrscheinlicher – andererseits aber bedeutet dies, dass die Kenntnis eines solchen „gleichverteilten“ Makrozustands, weniger Information beinhaltet. Dies drückt die Shannonsche Informationsentropie H aus:
H=
n
pi • log(1/pi )
i=1
Die Informationsentropie H kann man interpretieren, als die Information, die einem zur vollständigen Kenntnis der Mikrozustände fehlt, wenn einem der Makrozustand bekannt ist. Der Zustand 1 in Abb. 10.1 ist deshalb mit mehr Information verbunden, als der Zustand 2 (Abb. 10.2), denn in letzterem bleibt ungewiss, welche der vielen möglichen Mikro-Konstellationen vorliegt. Da sich unabhängige Wahrscheinlichkeiten multiplikativ zusammensetzen, während sich Information additiv zusammensetzt, wird die Beziehung zwischen dem durch eine Nachricht gegeben Betrag der Information und der Wahrscheinlichkeit dieser Nachricht die sein, die zwischen einer multiplikativen und einer additiven Zahlenfolge besteht. Wenn sich die Zahlen einer Folge addieren, während sich die entsprechenden Zahlen der zweiten Folge multiplizieren, sagen die Mathematiker, daß die Zahlen der ersten Folge die Logarithmen der Zahlen der zweiten Folge […] seien. (Wiener 1952, S. 117)
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10.3 Information als Ware? Was macht ein Ding zu einer guten Handelsware? Im wesentlichen, daß es von Hand zu Hand wandern kann, ohne seinen substantiellen Wert zu verlieren, und das die Stücke dieser Ware in derselben Weise additiv zusammengesetzt werden können, wie das für sie bezahlte Geld. (Wiener 1952, S. 29)
Um Wieners Aussage etwas anschaulicher zu machen, hier ein Beispiel: Angenommen Sie wollen eine wertvolle Armbanduhr gegen einen festgelegten Geldbetrag oder gegen einen Stapel von Goldmünzen eintauschen, dem beide Seiten des Tauschgeschäfts denselben Wert beimessen. Dann ist es offensichtlich so, dass dieser Vorgang reversibel gemacht werden kann. Womöglich waren Sie zunächst in Zahlungsschwierigkeiten und nachdem sich diese erledigt haben, wollen Sie vielleicht Ihre Armbanduhr wieder zurück – kein Problem: Sie zahlen den Geldbetrag wieder zurück und im Prinzip ist der ursprüngliche Zustand hergestellt – mit der eventuellen Ausnahme von Transaktionskosten. Wertgegenstände wie Armbanduhren, Goldstücke, aber auch Geldscheine können eben gestapelt werden und ihr Wert setzt sich wie gefordert additiv zusammen, weil für Materie, genau wie für Energie, Erhaltungsätze gelten. Wie sieht es nun aus, wenn Sie eine wertvolle Information erhalten? Anders als bei der Armbanduhr, ist der Sender nach wie vor in „Besitz“ der Information. Er oder sie kann sie an weitere Personen weiterleiten ohne sie vom ersten Empfänger „zurückholen“ zu müssen. Unser gesamtes Bildungssystem basiert übrigens darauf. Im Übrigen zeigt bereits die absurde Idee „Information vom Empfänger zurückzuholen“ den Unterschied zum Tausch materieller Wertgegenstände noch mal klar auf. Der Vorgang der Informationsübermittlung ist nicht reversibel: „Ich erzähle dir ein Geheimnis – du erzählst es mir zurück – dann bleibt alles beim Alten.“ So funktioniert es eben nicht. Auch dies folgt aus Wieners Gedanken, auch wenn dieser in den 1950er Jahren nicht die Probleme suizidgefährdeter Jugendlicher mit unbedachten Einträgen im Internet des 21. Jahrhunderts erahnen konnte. Wenn eine Information einmal „im Netz“ ist, so ist dieser Vorgang im Prinzip irreversibel. Zwar können Agenturen, die sich auf das Wiederherstellen von Reputation spezialisiert haben, dafür sorgen, dass eine gewisse kompromittierende Information nur noch schwer und umständlich auffindbar ist – im eigentlichen Sinn ist jedoch das Offenlegen der Information nicht aus der Welt geschafft. Das geleakte Nacktbild der Prominenten oder die Mobbingkampagne
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gegen eine Jugendliche in einem (a)sozialen Netzwerk mag nicht mehr so einfach auf YouTube oder in einem Facebook-Profil zu finden sein, niemand kann jedoch garantieren, dass sich nicht zuvor ein oder mehrere Internetnutzer eine Kopie angefertigt haben – im theoretischen Sinne ist also der Vorgang in der Tat irreversibel. In einem Vortrag an der Universität Freiburg fasst der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz wesentliche Unterschiede noch einmal aus ökonomischer Sicht zusammen: Wissen unterscheidet sich von anderen Gütern. Wenn Sie auf einen Stuhl sitzen, kann ich nicht darauf sitzen und wenn ich auf einem Stuhl sitze, können Sie nicht darauf sitzen. Wir nennen dies Rivalität im Konsum. Nur eine Person kann das betreffende Gut konsumieren […] Bei Wissen verhält es sich anders: Wenn ich Ihnen sage was ich weiß, dann wissen Sie es ebenfalls, vielleicht unvollkommen, aber ich weiß noch immer was ich vorher gewusst habe. Ich habe das Wissen nicht verloren, weil ich es Ihnen gesagt habe. Wir nennen das Nichtrivalität im Konsum. Wissen kann die Produktivität steigern und besitzt noch viele weitere Vorzüge und das bedeutet: Wenn ich mein Wissen nicht teile, dann stellt dies keinen effizienten Gebrauch von Wissen dar (2014).
10.4 Geistiges Eigentum Wenn nun Information und Wissen eigentlich besser geteilt werden sollten, so wirft dies unmittelbar Fragen auf, die Patent- und Urheberrecht betreffen. Einige Überlegungen von Wiener hierzu: Das Urheberrecht ist besonders voll von wirklichkeitsfremden gesetzlichen Voraussetzungen, in deren Lücken die kleine lichtscheue Fauna der Gerichtshöfe Unterschlupf finden kann. (Wiener 1952, S. 108)
Die Ursache dafür sieht Wiener in einem grundlegenden Missverständnis darüber, was eigentlich „Erfindungen“ ausmacht. Er konstatiert eine veraltete Vorstellung des „Erfindens“, die in den alten Tagen „des erfinderischen Handwerkers einen vernünftigen Sinn gehabt haben mag“. Damals mag das Konzept vom „geistigen Eigentum eines einzelnen Mannes“ noch stimmig gewesen sein – anders stelle sich aber die Situation dar, wenn nun vor allem große Firmen das Feld beherrschen. Diese seien vor allem darauf aus, „einen Ringwall von unbenutzten Patenten aufrechtzuerhalten, um die Tätigkeit mächtiger Konkurrenten einzuschränken und schwächere daran zu hindern, überhaupt zum Start zu kommen.“
10 Effiziente Nutzung von Information als Rohstoff im Spannungsfeld ...
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Dann kritisiert Wiener weiter: Zunächst ist die Aussicht, daß ein Patent vor dem Obersten Gerichtshof aufrechterhalten werden kann, so gering geworden, daß ein Patent der Vereinigten Staaten nicht eine Bescheinigung des Besitzrechtes auf irgendeine Erfindung ist, sondern nur ein Fahrschein für einen Rechtstreit. Es ist wohl bekannt, daß ein starkes Patent in schwachen Händen stets weniger wirkungsvoll ist, als ein schwaches Patent in starken Händen. Ein Rechtsanwalt, der einen Prozess befürwortet oder seinem Klienten empfiehlt, nach einem bestimmten Verfahren vorzugehen, obgleich er weiß, daß die einzige Sicherung dieses Verfahrensweges die Ausgaben sind, die dem Gegner bei Verteidigung seiner Rechtsposition entstehen, macht sich auf den meisten Rechtsgebieten eines schweren Verstoßes schuldig, der oft genügt, den Entzug seiner Anwaltsberechtigung zu veranlassen. Auf dem Gebiete des Patentrechtes aber wird dieses Verhalten ihn reich und angesehen machen. (Wiener 1952, S. 109 f.)
Auf weitere zitierende Belege wird an dieser Stelle vorsichtshalber verzichtet. Das bereits Erwähnte zeigt hinreichend, dass Anwälte allgemein und Patentanwälte noch besonders schlecht in seinem Urteil abschneiden und man kann sich lebhaft vorstellen, wie sich Wiener heutzutage zu Anwälten positionieren würde, die nichts anderes zu tun haben, als massenhaft Teenager wegen Verstößen der Copyright-Regelungen abzumahnen. Auch diese ältere Sicht von Wiener kann mit den aktuellen Ausführungen von Stiglitz passend ergänzt werden, passend deshalb, weil Stiglitz sich seit Längerem mit Alternativen zum bestehenden Schutz von Geistigem Eigentum befasst hat. Im bereits erwähnten Vortrag wird dazu ausgeführt: Es ist ineffizient die Nutzung von Wissen einzuschränken aber genau das tut Geistiges Eigentum. Es geht sogar noch darüber hinaus. Geistiges Eigentum gibt einer einzelnen Person oder einem Unternehmen das Recht dieses Wissen zu kontrollieren. Es erzeugt eine Monopolstellung. (22. Mai 2014. Vortrag Joseph E. Stiglitz)
Im Anschluss stellt er die Frage, warum wir mutwillig solche Monopolstellungen erlauben – zumindest temporär für die Laufzeit eines Patents. Stiglitz stellt nicht grundsätzlich infrage, dass es etwa für Pharmaunternehmen Innovationsanreize geben muss und er konzidiert auch, dass gut ausgestaltete Schutzrechtsysteme dies leisten könnten. Aber schlecht konzipierte Schutzrechtsysteme hätten die Kosten der Nutzungseinschränkung von Erkenntnissen ohne den Vorteil der Innovationsförderung. Als Beispiele nennt er neben einem Patent auf Basmatireis die Folgen insbesondere für Entwicklungsländer, für die der Zugang zu
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Nachahmerpräperaten eingeschränkt wurde. Dabei ging es nicht nur um Geld, sondern im Wortsinn um Leben und Tod, ohne dass diese Einschränkungen den Entwicklungsländern im Gegenzug mehr innovative Medikamente beschert hätten. Stiglitz dazu weiter: Pharmaunternehmen geben mehr Geld für Werbung und Marketing als für Forschung aus, mehr für die Erforschung sogenannter Lifestylemedikamente etwa gegen Kahlköpfigkeit als für die Erforschung lebensrettender Medikamente. (22. Mai 2014. Vortrag Joseph E. Stiglitz)
Als Alternative diskutiert Stiglitz einen Medical Prize Fund, den er als Teil eines Innovationssystems sieht, welcher die effizientere Nutzung von Wissen sicherstellen würde. Die Idee ist, dass man diejenigen, die Medikamente oder Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten entwickeln mit einer Prämie belohnt, und wenn es sich um bedeutende Infektionskrankheiten handelt sehr hohe Prämien auslobt, während es für Nachahmerpräperate oder Lifestyle-Medikamente deutlich geringere (oder keine) Prämien gibt. Laut Stiglitz würden auf diese Weise ausreichend Anreize und Finanzmittel für Innovationen bereitgestellt, es würde sich aber grundlegend vom gegenwärtigen System unterscheiden – hierzu Stiglitz: Das gegenwärtige System basiert auf einer Monopolstellung. Die Basis eines Monopols sind hohe Preise, die die Nutzung einschränken. Eine effiziente Nutzung von Wissen stellt sicher, dass Wissen möglichst allgemein zugänglich ist und breit genutzt wird. (22. Mai 2014. Vortrag Joseph E. Stiglitz)
Weil dies mit einen Monopol unvereinbar ist, will Stiglitz stattdessen mit dem vorgeschlagenen Prämiensystem „der Macht des Marktes“ erlauben, die Preise zu drücken, um eine möglichst breite Verteilung des Medikaments zu erreichen.
10.5 Geheimhaltung Nun mag es im Fall lebenswichtiger Medikamente erstrebenswert sein, dass Wissen allgemein zugänglich ist. In anderen Bereichen – etwa wenn es um die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen geht – ist das Gegenteil der Fall: Eine breite Nutzung ist hier nicht wünschenswert. Auch zu diesem Themenkomplex hat sich Wiener vielfach Gedanken gemacht. Was sollte geheim gehalten werden – und kann Geheimhaltung überhaupt (auf Dauer) funktionieren?
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Ähnlich ist bei Betrachtung eines Naturproblems wie der atomaren Reaktionen und der atomaren Sprengstoffe die weitestgehende einzelne Informationstatsache, die wir angeben können, die, dass sie bestehen. Sobald ein Wissenschaftler weiß, dass es auf ein Problem, das er angreift, eine Antwort gibt, ändert sich seine ganze Position. Er hat damit schon mehr als die Hälfte des Weges zu dieser Antwort hinter sich. Wenn man dies bedenkt, kann man durchaus sagen, dass das einzige die Atombombe betreffende Geheimnis, welches hätte gehütet werden sollen, das aber der Öffentlichkeit und allen möglichen Gegnern ohne die geringste Hemmung preisgegeben wurde, das Geheimnis der Möglichkeit ihrer Herstellung war. (Wiener 1952, S. 126)
Wieners Überlegungen zur Geheimhaltung sollten im Kontext der Zeit gesehen werden (die erste Auflage von The Human Use of Human Beings ist bereits 1950 erschienen). Als jemand, der während des Zweiten Weltkriegs selbst beteiligt war an militärischen Forschungsprojekten, kannte er persönlich eine Reihe der Protagonisten, darunter insbesondere auch John von Neumann, mit dem er manchen Disput ausgetragen hat, vgl. dazu Mirowski (Mirowski 2002). Zu Beginn der 1950er-Jahre herrschte in den USA eine heute kaum noch vorstellbare Hysterie, die Wiener sehr kritisch sah: Ich schreibe dieses Buch in erster Linie für Amerikaner in amerikanischer Umwelt. In dieser Umwelt werden Informationsfragen entsprechend dem dort herrschenden Bewertungskriterium eingeschätzt: Ein Ding wird als Ware danach gewertet, was es auf dem freien Markte einbringt. Dies ist das offizielle Dogma einer Glaubenslehre, der zu widerstehen für einen Bürger der Vereinigten Staaten immer schwerer wird. (Wiener 1952, S. 114f.)
Es werde deshalb auch fälschlicherweise geglaubt, „daß die militärischen und wissenschaftlichen Kenntnisse unverändert in Büchereien und Laboratorien gestapelt werden können“. Und noch schlimmer: Es werde geglaubt, dass Information moralisches Eigentum des Landes sei, welches diese zuerst entwickelt habe und ... daß die Benutzung dieser Information durch andere Völker nicht nur auf Verrat beruhe, sondern auch den Charakter eines Diebstahls trage. Er [der Amerikaner] kann sich Information nicht ohne Eigentümer vorstellen. (Wiener 1952, S. 122)
Auf der anderen Seite hat auch Wiener sicher nicht infrage gestellt, dass wichtige Informationen – zumindest für eine Zeit – geschützt werden können, indem man sie verschlüsselt. Wiener hat eng mit Shannon und Weaver zusammengearbeitet und einige Überlegungen aus dem Abschnitt zu Information und Entropie
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sollten hierzu nochmal in Erinnerung gerufen werden, insbesondere dass die Informationsentropie direkt mit Wahrscheinlichkeiten in Beziehung steht. Shannon und Weaver hatten sich ja Gedanken darüber gemacht, welchen Informationsgehalt ein zusätzliches Zeichen liefert. In der deutschen Sprache etwa wird es selten vorkommen, dass fünf oder mehr Konsonanten direkt hinter einander stehen. Dies bedeutet aber, dass Vokale, insbesondere e oder i eine viel größere Häufigkeit haben, als andere Zeichen. Aus Sicht der Informationstheorie liefert also ein weiteres e oder i meist weniger zusätzliche Information, weil man sich den „Rest meist schon denken“ kann – die Autovervollständigung von Suchanfragen im Internet verwendet ähnliche Prinzipien – etwas komplexer weil hier KI zum Einsatz kommt, die mit vielen anderen Suchabfragen abgleichen kann. Wiener hat die Möglichkeit klar erkannt, dass solche Zusammenhänge auch zum „Diebstahl von geheimer Information“ genutzt werden könnten und diskutiert ein probates Gegenmittel. Bei einer Entzifferungsaufgabe ist die wichtigste Information, die wir besitzen können, die, daß die zu lesende Nachricht kein Kauderwelsch ist. Eine wohlbekannte Methode, Code-Brecher zu verwirren, besteht darin, in die wirkliche Nachricht eine Nachricht hineinzumischen, die nicht entschlüsselt werden kann, weil sie tatsächlich keine sinnvolle Nachricht, sondern nur eine reine Anhäufung von Zeichen ist. (Wiener 1952, S. 126)
Das folgende Beispiel soll diese Methode illustrieren:
hakesj im evtoe rgy kfjcqe ouieifn massgeblichen mbsjrjqax text eutvjqo sind nhgl unverstaendliche rarunx abschnitte uxqdfe fuzancuzby dbcqyj ikzyr eztirghrnk eingestreut rptpop somit tncszj ezjxlkf ndisus brauchen uavxubj codebrecher hevty scecmfx tviozo aohyzhu bkryvmtk erheblichen npvnf aufwand norjgpw ◄ Wenn der Leser sehr aufmerksam auf die letzten Zeilen geachtet hat, wird die darin versteckte Nachricht zweifellos erkannt werden.1 Mit noch etwas mehr Aufmerksamkeit kann man aber noch eine weitere Nachricht finden, die ebenfalls in diesen vier Zeilen versteckt worden ist. Ein Tipp: Immer nur auf den Anfang der jeweiligen „Worte“ achten. Die Tatsache, dass man bei der Codierung zwei
1Allerdings
würde dann dieser aufgeblähte Kauderwelschtext erst noch verschlüsselt.
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unterschiedliche Nachrichten in einem Text „verstecken“ kann, weist im Übrigen darauf hin, dass hier mit sehr viel Redundanz codiert worden ist – im Anhang findet der Leser die Auflösung. Auch wenn Wiener, anders als Stiglitz, nicht ökonomisch argumentiert, zeigen viele seiner Beispiele die im vorigen Abschnitt erwähnte Ineffizienz auf: Die ganze Art eines militärischen Forschungslaboratoriums läuft unserer eigenen optimalen Informationsanwendung und -entwicklung zuwider. (Wiener 1952, S. 123)
Als Beispiel erwähnt er einen besonderen Typ von Integralgleichung, zu deren Lösung Wiener selbst während des Zweiten Weltkriegs beigetragen hat: Diese Integralgleichung war nicht nur in Wieners Bereich relevant, sondern auch noch in zwei anderen. Wiener konstatiert den dreifachen Aufwand, kritisiert den Schaden durch Verzögerung sowie zusätzliche Personalkosten und kommt letztlich zu dem Urteil, „der Gegner hätte kaum einen vergleichbaren Schaden anrichten können, denn zur vollständigen Ausnutzung, hätte er zusätzlich über eine Reihe von geheimen Gesprächen informiert sein müssen.“2 Der Informationsbegriff in seiner Anwendung auf wissenschaftliche Arbeit, zeigt richtig verstanden, daß das bloße Nebeneinanderbestehen zweier Informationsinhalte von verhältnismäßig geringem Wert ist, solange sie nicht in irgendeinem Kopf oder durch irgendein Organ wirksam verbunden werden, die einander zu befruchten mögen. Das ist das genaue Gegenteil einer Organisation, in der jedes Mitglied seine vorgeschriebene Bahn einhält und in der die Wachtposten der Wissenschaft, wenn sie ans Ende ihrer Ronde kommen, die Waffen präsentieren, eine Kehrtwendung machen und in der Richtung, aus der sie gekommen sind, zurückmarschieren. (Wiener 1952, S. 128)
Übrigens ist dieses Verbinden von Informationsinhalten aus völlig unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft womöglich noch länger eine Domäne, die dem Menschen vorbehalten bleibt und in der er der KI überlegen bleibt. Die Quintessenz von Wieners Überlegungen ist, dass er Wissenschaftler auffordert, sich über die eigenen Grenzen hinauszuwagen, Wissen und Informationen möglichst breit zu teilen und von der allgemeinen Hysterie um Geheimhaltung zu seiner Zeit hält er nicht besonders viel.
2Wiener
(1952, S. 124) – Bemerkung: diese genaue Formulierung findet sich auf diese Weise abgewandelt in der zweiten Auflage.
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Ich sagte schon, daß das Bekanntwerden jedes wissenschaftlichen Geheimnisses nur eine Frage der Zeit ist, daß in diesem Spiel ein Jahrzehnt eine lange Zeit ist und daß es, auf lange Sicht nichts ausmacht, ob wir uns selbst oder unsere Gegner bewaffnen. (Wiener 1952, S. 130)
Dies rechtfertigt freilich nicht, dass mancher Waffendealer diesen „natürlichen Verlauf der Dinge“ abkürzt und von Anfang an gleich beide Seiten beliefert.
10.6 Zusammenfassung Bei der Frage, ob sich „Information als Ware“ eignet, wurden in diesem Beitrag etliche Zitate von Norbert Wiener vorgestellt, die nun fast 70 Jahre alt sind – nun muss zum Abschluss natürlich kritisch hinterfragt werden, warum dies heute noch irgendeine Relevanz haben soll? Hat da nicht eher Mark Zuckerberg recht, der doch hinreichend bewiesen hat, dass dies funktioniert mit „Information als Ware“? Ein vielfach zitiertes Mantra ist aktuell auch, dass Daten das Öl des 21. Jahrhunderts seien – aber stimmt das überhaupt? Zunächst ist es übrigens gar nicht so einfach, mit den neuen datengetriebenen Geschäftsmodellen wirklich Profit zu machen. Laut einem aktuellen Trendreport schaffen dies gerade einmal 15 % der Unternehmen.3 Wenn einzelne Unternehmen damit andererseits sehr viel Geld verdienen, könnte die eigentliche Ursache aber darin liegen, dass etwa die Netzwerkeffekte bei sozialen Netzwerken die Bildung natürlicher Monopole begünstigen und es nur diese Bedingungen sind – und nicht die Monetarisierung von Daten an sich – welche die hohen Profite erklärt. Die vielstrapazierte Analogie Daten–Öl ist dann womöglich auf andere Weise doch korrekt, nämlich dass wir nun in Zeiten leben, die dem sogenannten Gilded Age entsprechen, welches Ende des 19. Jahrhunderts in den USA die Entstehung riesiger Monopole, etwa Standard Oil, ermöglichte. Zuckerberg als der John D. Rockefeller des 21. Jahrhunderts? Es ist kein Zufall, dass sich Historiker wie Edward T. O’Donnell explizit die Frage nach einem Second Gilded Age stellen, mit dem Aufzeigen vielfacher interessanter Parallelen.4
3https://www.produktion.de/trends-innovationen/big-data-wie-die-industrie-mit-daten-geldverdienen-kann-299.html (Zugriff am 2.4.2020). 4https://www.history.com/news/second-gilded-age-income-inequality (Zugriff 2.4.2020).
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Auf der anderen Seite ist die Analogie Daten–Öl in der vorwiegend verwendeten Interpretation definitiv unpassend. Öl war und ist eine begrenzte und knappe Ressource. Ökonomen sprechen auch davon, dass hier Rivalität im Konsum besteht. Daten und Information sind eher im Überfluss vorhanden und wie in diesem Beitrag gezeigt wurde, kann Information im Prinzip beliebig geteilt werden. Im Grunde handeln Tech-Riesen wie Google auch nicht mit Daten, sondern sie schaffen es, die Internetnutzer auf ihrer Suchseite zu halten, damit sie dort bezahlte Werbung verkaufen können. Diese Unternehmen sollten nicht als Händler von Daten und Information, sondern als Aufmerksamkeitshändler betrachtet werden – und gerade in Zeiten des Informationsüberflusses ist Aufmerksamkeit zweifellos eine knappe Ressource. Abschließend noch einige Bemerkungen zum Patentrecht. Ein sinnvoll ausgestaltetes Schutzrecht von „geistigem Eigentum“ mag Voraussetzung dafür sein, dass es überhaupt genügend Anreize für Innovationen gibt. Andererseits gab es nachvollziehbar sehr wenig Verständnis dafür, dass von US-Regierungsseite versucht wurde, ein deutsches Start-up-Unternehmen im Verlauf der Corona-Pandemie einfach aufzukaufen. Die betreffende Tübinger Firma, welche Impfstoffe entwickelt, bekam entsprechend viel Beifall für die klare Zurückweisung dieses Übernahmeangebots. Weil Information im Prinzip beliebig geteilt werden kann, entspricht es definitiv nicht einem effizienten Umgang damit, wenn einzelne Firmen (oder Nationen) sich das Wissen über neu entwickelte Impfstoffe exklusiv aneignen.
10.7 Anhang Hier findet sich die versprochene Auflösung des Kauderwelsch-Textes. Wie bereits erwähnt, hat es die Redundanz der Daten erlaubt, zwei Nachrichten zu verstecken. Die erste Nachricht kann der Leser sicher leicht erkennen, dazu wurden alle unverständlichen Abschnitte nachfolgend ausgeblendet:
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Example Start Lösung 1 zum obenstehenden Beispiel: hakesj im evtoe rgy kfjcqe ouieifn massgeblichen mbsjrjqax text eutvjqo sind nhgl unverstaendliche rarunx abschnitte uxqdfe fuzancuzby dbcqyj ikzyr eztirghrnk eingestreut rptpop somit tncszj ezjxlkf ndisus brauchen uavxubj codebrecher hevty scecmfx tviozo aohyzhu bkryvmtk erheblichen npvnf aufwand norjgpw (im massgeblichen text sind unverständliche abschnitte eingestreut somit brauchen codebrecher erheblichen aufwand) Example Stop
Der entscheidende Vorgang, um mögliche Code-Brecher zu verwirren, besteht darin, dass nun die gesamte Nachricht, mit den verwirrenden Abschnitten verschlüsselt und verschickt wird. Die zweite Nachricht ist schwerer zu bemerken – nun ist bis auf die Anfangsbuchstaben alles ausgeblendet: Example Start Lösung 2 zum obenstehenden Beispiel: hakesj im evtoe rgy kfjcqe ouieifn massgeblichen mbsjrjqax text eutvjqo sind nhgl unverstaendliche rarunx abschnitte uxqdfe fuzancuzby dbcqyj ikzyr eztirghrnk eingestreut rptpop somit tncszj ezjxlkf ndisus brauchen uavxubj codebrecher hevty scecmfx tviozo aohyzhu bkryvmtk erheblichen npvnf aufwand norjgpw (hier kommt es nur auf die ersten buchstaben an) Example Stop
Literatur Mirowski, P. (2002). Machine dreams: economics becomes a cyborg science. Cambridge: Cambridge University Press. Tele-Akademie (2014). 22. Mai 2014 Vortrag von Professor Dr. Joseph E. Stiglitz an der Universität Freiburg: Die Chancen der Globalisierung. https://www.youtube.com/ watch?v=H3pYRepIe8c. Zugegriffen: 4. Apr. 2020. Wiener, N. (1952). Mensch und Menschmaschine. Frankfurt a. M., & Berlin: Metzner. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet: The Human Use of Human Beeings.
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Prof. Dr. Rainer Berkemer ist seit 2008 als Professor für die AKAD Hochschule im Einsatz. Er studierte an der Universität Stuttgart Technische Kybernetik und promovierte dort auch in diesem Fach. Bereits während des Studiums behandelte er im Rahmen eines Arbeitskreises „Softcomputing“ Themen zu Fuzzy-Systemen, genetischen Algorithmen und Künstlichen Neuronalen Netzen. Auch im Masterstudiengang Wirtschaftsingenieurswesen kommen Module zum Einsatz, die sich mit Fuzzy-Logik und insbesondere Neuronalen Netzen befassen und die von Prof. Berkemer betreut werden.
Autonome KI als Partner des Menschen – Ethische Perspektiven im Spannungsfeld zwischen Entscheidungsentlastung und Verantwortung
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Andrea Herrmann Inhaltsverzeichnis 11.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 11.2 Begriffsdefinitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 11.2.1 Künstliche Intelligenz und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 11.2.2 Utilitarismus und Deontologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 11.3 Ethische Aspekte der KI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 11.3.1 Wie kann KI ethisch entscheiden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 11.3.2 Was darf KI überhaupt entscheiden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 11.4 Folgen des KI-Einsatzes für die Rolle des Menschen im Arbeitsprozess. . . . . . 266 11.5 Ausblick und Empfehlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Zusammenfassung
Welche Menschen ein selbstfahrendes Auto töten soll und welche nicht, ist als Fragestellung schon falsch, setzt sie doch voraus, dass Künstliche Intelligenz (KI) ethisch relevante Entscheidungen treffen wird, und das
A. Herrmann (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_11
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nach utilitaristischen Prinzipien. Dieser Vortrag holt darum weiter aus und behandelt folgende grundsätzlichen Fragen bezüglich des Einsatzes von KI: • Ist es ethisch vertretbar, dass Maschinen Entscheidungen treffen? Welche Entscheidungen dürfen Maschinen treffen? • Was, wenn Maschinen – versehentlich oder absichtlich – Menschen töten? • Ethische Grundlagen: Der Unterschied zwischen der utilitaristischen und der deontologischen Ethik. Wie lassen sich beide technisch umsetzen und wo liegen praktische Grenzen? • Folgen des KI-Einsatzes: Wie verändern sich Berufsbilder und die Rolle des Menschen im Arbeitsprozess durch autonome KI-Entscheidungen? Vorschlag und Ausblick: Wie kann KI ethisch vertretbar Arbeitsprozesse verbessern und was sollten Tabus sein?
11.1 Einleitung Künstliche Intelligenz und Maschinen, die ganz autonom unsere Arbeit vollständig übernehmen, sind ein alter Menschheitstraum. Dank intensiver Forschung kommen wir der Realisierung dieser Vision immer näher. Nicht nur repetitive, körperliche Arbeit, sondern auch geistige, intellektuelle, kreative und verantwortungsvolle Aufgaben können inzwischen von Computern übernommen werden: medizinische Befunde klassifizieren, Fahrtrouten optimieren, Entscheidungen treffen. Damit befinden wir uns an einem ethischen Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, denn mit den Entscheidungen geben wir auch Verantwortung an Maschinen ab. Kritisch ist, dass wir uns Aufgaben und Verantwortung, die wir an Künstliche Intelligenzen delegieren, nur schwer zurückholen können. Darum ist es nicht hilfreich, im Zusammenhang mit Maschinenethik immer wieder dieselbe relativ irrelevante Frage zu diskutieren, welche von zwei Personen ein autonomes Fahrzeug im Straßenverkehr im Zweifelsfall töten soll. Diese Frage ist viel zu eng gefasst, und zwar aus folgenden Gründen: • Es gibt Straßenverkehrsregeln. Diese regeln weitgehend das Verhalten von Verkehrsteilnehmern. Davon, irgendjemanden absichtlich zu töten, steht dort nichts. • Dank vorausschauendem Fahren sollte das autonome Auto nicht in diese Situation kommen. Es ist viel besser als ein Mensch dazu fähig, seine
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Geschwindigkeit an die Umgebung anzupassen und Hindernisse frühzeitig wahrzunehmen, ohne Ablenkung, Müdigkeit, Hektik oder Tunnelblick. • Die Fragestellung setzt bereits voraus, dass die Ethik des Utilitarismus angewendet wird. Diese Ethik ist jedoch nicht ohne Alternative. • Fehler sind menschlich. Wir verzeihen einem Menschen viel eher seine Fahrfehler als einer Software. Allerdings wird auch die Software von Menschen erstellt, die eventuell Programmierfehler einbringen. • Soll die KI tatsächlich über Menschenleben entscheiden dürfen? Wenn ein Auto vollständig autonom im Straßenverkehr unterwegs ist, kann es in solche Situationen geraten. Das könnte ein Argument dafür sein, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Dieses Szenario lenkt die Diskussion von den eigentlichen Kernfragen ab. Darum treten wir in diesem Artikel einen Schritt zurück und betrachten die aus ethischer Sicht wesentlicheren Fragen: • Dürfen Maschinen Entscheidungen treffen (oder nur unterstützen)? Dürfen Menschen Verantwortung abgeben? Welche Entscheidungen dürfen Maschinen treffen, wie autonom dürfen sie werden? • Wenn Maschinen entscheiden, wie können sie das ethisch Richtige wählen? • Wenn eine Maschine Schaden verursacht, wer ist dann dafür verantwortlich, wer haftet also? Bei einem deterministischen System tritt die Produkthaftung in Kraft: Der Hersteller hat ein mangelhaftes Produkt in Umlauf gebracht und haftet dafür. Was ist jedoch bei einem intelligenten, autonomen System? Dieses lernt im laufenden Betrieb ständig dazu. Haftet dann der Betreiber? Muss es einen verantwortlichen Trainer geben? • KI lernt aus Daten: Wie stellt man die Datenqualität sicher? Zunächst werden im nächsten Kapitel die Begriffe Künstliche Intelligenz und Autonomie definiert, anschließend aufgezeigt, wie Utilitarismus und Deontologie ethische Entscheidungen unterstützen, wie diese in einer KI praktisch umgesetzt werden können und wo dabei die Grenzen liegen. Darauf aufbauend wird diskutiert, welche Folgen der Einsatz von KI für das Berufsleben und speziell die Rolle des Menschen im Arbeitsprozess haben wird. Zuletzt folgen ein Ausblick und eine Empfehlung für die Zukunft.
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11.2 Begriffsdefinitionen Damit eine Maschine den Menschen von geistigen Arbeiten vollständig entlasten kann, muss sie autonom arbeiten können. Dies wird unterstützt durch die Methoden der Künstlichen Intelligenz.
11.2.1 Künstliche Intelligenz und Autonomie Künstliche Intelligenz wird u. a. definiert als: Sammelbegriffe für Methoden/Verfahren aus Informatik und Kognitionswissenschaften, u. a. mit dem Ziel der Nachbildung menschlicher Intelligenzleistungen (Sprach- und Bildverstehen, Planung, Schlussfolgern, …) durch Computer. (Haun 2007, S. 439).
Als Kennzeichen von (künstlicher) Intelligenz werden üblicherweise die folgenden Fähigkeiten angesehen: • Daten in Wissen verwandeln, • wenig strukturierte Probleme lösen, • lernen, • Anpassungsfähigkeit: bisher unbekannte Probleme lösen, trotz fehlender Informationen, • widersprüchliche Informationen verarbeiten, • Selbsterklärungsfähigkeit, • Proaktivität. Autonome Systeme können komplexe Aufgaben in einer bestimmten Anwendungsdomäne trotz variierender Zielvorgaben und Ausgangssituationen selbständig lösen. Autonome Systeme müssen abhängig vom aktuellen Aufgabenkontext eigenständig einen Handlungsplan generieren, mit dem ein Gesamtziel, das vom Betreiber des autonomen Systems vorgegeben ist, ohne Fernsteuerung und möglichst ohne Eingriffe und Hilfe menschlicher Operateure im Rahmen der gesetzlichen und ethischen Vorgaben erreicht werden kann. Wenn einzelne Aktionen des autonomen Systems während der Planausführung scheitern, muss das System in der Lage sein, selbständig eine Planrevision auszuführen, um durch Adaption des ursprünglichen Plans auf anderem Wege die vorgegebene Zielsetzung dennoch zu erreichen. Eine neue Generation von autonomen Systemen ist auch in der Lage, mit anderen autonomen Systemen und/oder einer Gruppe von Menschen gemeinsam eine Aufgabe verteilt zu lösen. (Wahlster 2017, S. 409).
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Diese Autonomie zeigt sich beispielsweise dann, wenn ein autonomes Auto auf Grundlage der Zieladresse, der Aufgabe („fahre zur Adresse“) und der Ausgangssituation eine Route berechnet und dieser folgt. Nun kann sich nicht nur unterwegs das Ziel ändern, sondern insbesondere auch die Situation: Staus, vorausfahrende Fahrzeuge, die Straße überquerende Kinder, regennasse Fahrbahn usw. Das autonome Fahrzeug passt seine Route und seine Fahrt an diese Gegebenheiten selbstständig sinnvoll an. Autonomie ist eine Eigenschaft, die kontinuierlich zwischen 0 und 100 % variieren kann. Verschiedene Anwendungsbereiche haben für die Quantifizierung des Autonomiegrads konkrete Stufen definiert (siehe Tab. 11.1).
11.2.2 Utilitarismus und Deontologie Ziel der Ethik ist das Unterscheiden zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch. Gilt es, eine Entscheidung zu treffen, dann sollen Handlungsalternativen gegeneinander abgewogen werden, um die beste zu wählen. Zwei ethische Hauptdenkrichtungen haben sich durchgesetzt: der Utilitarismus und die Deontologie. Beide kommen in vielen Situationen zu demselben Ergebnis, wenn auch auf verschiedenen Argumentationswegen. In manchen Fällen entscheiden sie jedoch entgegengesetzt. Der Utilitarismus strebt an, den für alle größtmöglichen Nutzen zu schaffen oder zumindest den Schaden zu minimieren. Hat das autonome Auto also nur die Alternativen, entweder eine oder zwei Personen zu töten, wird es sich für eine Person entscheiden. So logisch und sinnvoll diese Denkweise auch aus wirtschaftlicher Sicht erscheinen mag, bringt sie einige grundsätzliche ethische Probleme mit sich. Beispielsweise, wenn Menschen als unterschiedlich wertvoll gewichtet werden oder einem Menschenleben ein Geldwert zugewiesen wird. Dann kann es rechnerisch sinnvoll erscheinen, lieber einen 10-Mio.-€-Roboter zu retten und dafür einen Menschen sterben zu lassen, weil dessen Tod billiger kommt. Aus Sicht der Deontologie sind solche Überlegungen Tabus. Die Deontologie geht davon aus, dass es absolute Regeln gibt, die immer und unbedingt gelten. Wenn es heißt, „Du sollst nicht lügen“, dann ist Lügen unter gar keinen Umständen gestattet, auch dann nicht, wenn die Wahrheit Schaden anrichtet. Solche deontologischen Regeln werden mit verschiedenen Geltungsbereichen kodifiziert durch Gesetze, Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention, religiöse Vorschriften oder die Ethikrichtlinie einer Firma.
SAE 0 – keine Automatisierung
SAE 1 – Fahrerassistenz
SAE 2 – teilweise automatisiert
SAE 3 – bedingte Automatisierung
SAE 4 – Hochautomation
SAE 5 – vollständige Automatisierung (Autonomie)
0
1
2
3
4
5
6
Automobil
Autonomiegrad/Stufe
Assistenzsysteme
Datenerfassung und -verarbeitung
Produktionstechnik
ALFUS 2 – Echtzeit Gesundheit/Diagnose
ALFUS 5 – Gruppengleichstellung ALFUS 10 – autonomes Schwarmverhalten in jeder Umgebung
GoA 4 – führer- und begleit- ALFUS 4 – bordseitige loser Betrieb (ATC) Routenumplanung
Selbstorganisierung und Autonomie
Dezentralisierung, Dienstorientierung und Transformations-fähigkeit
ALFUS 1 – gering angeleitet Vernetzung und Integration
Luftfahrt
GoA 3 – führerloser Betrieb ALFUS 3 – Anpassung bei (ATO) Ausfällen und Fehlern/Flugbedingungen
GoA 2 – automatische Zugsicherung und Betrieb mit Zugführer (ATP + ATO)
GoA 1 – automatische Zugsicherung mit Zugführer (ATP)
GoA 0 – „Fahrt auf Sicht“
Bahntechnik
Tab. 11.1 Autonomiegrade. (Quelle: Damm und Kalmar 2017, S. 404, Tab. 1)
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Die Faustformel der Deontologie ist der kategorische Imperativ von Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ (Kant 1788). Damit lässt sich im konkreten Fall herleiten, ob eine Handlungsweise erlaubt oder verboten ist. Für die Maschinenethik hat Asimov (1942) drei grundlegende Gesetze definiert: 1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen (wissentlich) verletzen oder durch Untätigkeit (wissentlich) zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. 2. Ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren. 3. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.
11.3 Ethische Aspekte der KI Wenn KI Entscheidungen trifft, dann sollte sie die aus ethischer Sicht beste Alternative wählen. Zusätzlich jedoch stellt sich auch die Frage, was und wie viel eine KI überhaupt entscheiden können sollte.
11.3.1 Wie kann KI ethisch entscheiden? Ein glücklicherweise harmloses Beispiel einer Fehlentscheidung eines KISystems: Nummer 5 (in der englischen Fassung des Films, Short Circuit, heißt er Johnny 5) ist ein auf Freundlichkeit umprogrammierter ehemaliger Kampfroboter. Bei seinem ersten autonomen Ausflug in die Stadt hilft er einer Bande von Dieben, ein fremdes Auto zu knacken. Die Bandenmitglieder hatten ihm erklärt, sie seien die Besitzer und hätten den Schlüssel verloren. Nummer 5 öffnet ihnen hilfsbereit das Türschloss. Ganz offensichtlich fehlte dem Roboter einiges an Wissen über diese Welt, um die Situation korrekt einzuschätzen! Der Utilitarismus wird praktisch durch eine Nutzwertanalyse umgesetzt. Dabei werden verschiedene Handlungsalternativen hinsichtlich ihrer Folgen bewertet. Sind die Folgen einer Alternative ungewiss, muss gegebenenfalls noch mit Wahrscheinlichkeiten gerechnet werden. Tab. 11.2 zeigt ein Beispiel aus dem Film I, robot. Bei einem Unfall gerät der einzige anwesende Roboter in die Situation, dass er sich entscheiden muss, ob
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Tab. 11.2 Nutzwertanalyse Kriterium
Gewicht (0..1)
Alternative 1: Mädchen retten (0..10)
Alternative 2: Del Spooner retten (0..10)
Mädchen überlebt
1
7
0
Del Spooner überlebt
1
0
9
7
9
Punktsumme
er die Hauptperson Del Spooner oder ein zwölfjähriges Mädchen rettet. Es gibt nur genau diese beiden Alternativen. Grundsätzlich hat der Roboter zwei Ziele: Das Mädchen zu retten und Del Spooner zu retten. Er gewichtet die Leben beider gleich. Alternative 1 bekäme zehn Punkte in der ersten Zeile, wenn es sicher wäre, dass der Roboter das Mädchen rettet und es dann überlebt. Allerdings hat er die Wahrscheinlichkeit dafür nur zu 70 % ermittelt, während Del Spooner im Fall seiner Rettung mit 90 % Wahrscheinlichkeit überleben wird. Die nicht gerettete Person wird auf jeden Fall sterben. Wie gut oder schlecht eine Alternative ist, ermittelt man durch Summieren der Punktwerte, die sie bezüglich aller Kriterien erzielt. Alternative 2 erhält mehr Punkte, darum wurde Del Spooner gerettet. In dem Film wird auch die Alternative diskutiert, dass die beiden Leben nach ihrer erwarteten Restlebensdauer hätten gewichtet werden können. Das Mädchen hätte im Fall seines Überlebens voraussichtlich noch mehr Lebensjahre vor sich gehabt als Del. Es sind aber genau solche Fragen, die den Utilitarismus schnell an seine Grenzen bringen. Sollen oder dürfen Menschenleben unterschiedlich viel wert sein? Wenn ja, nach welchem Kriterium? Wie kann der Roboter in kurzer Zeit überhaupt realistisch die Überlebenswahrscheinlichkeit einer Person abschätzen? Auch Kant verwendete dieses Argument gegen den Utilitarismus: Die Welt ist zu komplex als dass wir die Folgen einer Handlung sicher voraussagen könnten. Grundsätzlich wäre es denkbar, dass eine KI mit ihrer hohen Rechenkapazität und Zugriff auf umfangreiche Daten dies besser kann als ein Mensch. Aber bisher ist die KI noch nicht so weit. Um Echtzeitprognosen von Folgen von Handlungsalternativen zu ermitteln, benötigte die KI ein umfangreiches Wissen über die Welt. Nummer 5 jedoch hat noch nicht mal die Prinzipien von Lüge und Diebstahl verstanden. Die Deontologie dagegen arbeitet mit Regeln. Diese sollten wie die Asimovregeln priorisiert sein. Allerdings ist es der Menschheit bisher nicht
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gelungen, allgemeingültige Regeln für das richtige Verhalten zu definieren. Und da bekanntlich keine Regel ohne Ausnahme ist, stellt sich die Frage, ob alle realistischen Fälle durch Regeln abgedeckt werden können. Eine Stärke der KI besteht allerdings darin, dass man ihr weder feste Regeln noch deterministische Algorithmen vorgeben muss. Ein neuronales Netz kann aus Präzedenzfällen lernen, das Muster in Daten erkennen und selbstständig auf neue Fälle anwenden. Sie kann auch implizite Regeln lernen, die den Menschen selbst nicht bewusst sind, aber dennoch gelten. Macht die KI einmal etwas falsch, dann lernt sie aus ihrem eigenen Fehler und wiederholt diesen nicht. Allerdings findet man in der Fachliteratur zahlreiche Beispiele, wo die KI falsch gelernt hat, beispielsweise diskriminierende, ungerechte Urteile, die in den Trainingsdaten enthalten waren, repliziert hat. So kam sie z. B. zu dem Schluss, dass Frauen weniger kompetent sind als Männer, und dass schwarze Straftäter mit höherer Wahrscheinlichkeit rückfällig werden als weiße. Eigentlich hoffte man, die objektive KI könne gerechter urteilen als Menschen. Leider sind die Entscheidungen einer selbstlernenden KI nicht vorhersehbar und später nicht nachvollziehbar. Hat die KI einen Unfall verursacht, wird sie daraus lernen. Versucht man dann später, den Unfall nachzustellen, so verhält sie sich anders als beim ersten Mal und vermeidet ihren Fehler. Auf diese Weise wird man nie erfahren, warum der Operationsroboter durchtrennt hat, was er nicht durchtrennen sollte. Er selbst könnte es nicht begründen. Dies macht es dann auch schwierig, die Haftungsfrage zu klären. Wer hat den Fehler verursacht? Der Programmierer, der Datenlieferant, der Trainer, der Betreiber? Ronald Arkin weist in seinen Arbeiten über Kampfroboter darauf hin, dass Roboter durchaus ethischer entscheiden könnten als Menschen: It is the goal of this work to create systems that can perform better ethically than human soldiers do in the battlefield, albeit they will still be imperfect. This challenge seems achievable. Reaching perfection in almost anything in the real world, including human behavior, seems beyond our grasp. (Arkin 2007)
Als Denkanstoß nennt Arkin Ergebnisse aus einer anonymen Befragung, bei der zahlreiche Soldaten nicht die ethisch korrekte Antwort gegeben haben: 17 % of Soldiers and Marines agreed or strongly agreed that all noncombatants should be treated as insurgents. […] 45 % of Soldiers and 60 % of Marines did not agree that they would report a fellow soldier/marine if he had injured or killed an innocent noncombatant. (Arkin 2007)
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Hinzu kommt, dass Maschinen die besseren Sensoren haben. Unethisches Verhalten von Soldaten entsteht durch Angst, Fehlwahrnehmungen und Unachtsamkeit (Arkin 2010).
11.3.2 Was darf KI überhaupt entscheiden? Aus Sicht des Utilitarismus ist es in Ordnung, wenn autonome Autos im Straßenverkehr unterwegs sind und dort gelegentlich unschuldige Passanten töten, wenn im Mittel die Unfallhäufigkeiten oder Unfallschwere sinken. Genauso dürfen autonome Roboter Menschen operieren, wenn sie dabei weniger Fehler machen als ein durchschnittlicher Chirurg. Der angerichtete Schaden sinkt dadurch. Es wäre sogar ethisch geboten, solche sicheren Geräte einzusetzen, um damit Menschenleben zu retten. Der Utilitarismus würde KI also überall dort befürworten, wo sie gut genug ist, um den Menschen zu übertreffen. Aus Sicht der Deontologie besagen die Asimovgesetze, dass Maschinen keine Menschen verletzen oder schädigen dürfen. Auch der kategorische Imperativ würde argumentieren, dass wir kaum wollen können, dass autonome Fahrzeuge absichtlich Menschen überfahren oder Operationsroboter Lebensfäden abschneiden. Wenn wir dieses Risiko nicht vollständig vermeiden können, dürfen diese Tätigkeiten nicht an Maschinen delegiert werden.
11.4 Folgen des KI-Einsatzes für die Rolle des Menschen im Arbeitsprozess Mensch und Maschine arbeiten zusammen: Je mehr Aufgaben, Entscheidungen und Verantwortung die Maschine übernimmt, umso weniger davon bleibt für den Menschen. Die Autonomie der Maschine kann wie gesagt graduell von 0 bis 100 % variieren. In dem einen Extremfall trägt der Mensch weiterhin die volle Verantwortung für die Arbeitsergebnisse. Hier dient die Maschine als Datenspeicher, Informationslieferant und macht bestenfalls Vorschläge, welches die beste Entscheidung wäre. Der Mensch jedoch trifft alle Entscheidungen. Dank der Unterstützung durch die KI kann der Mitarbeiter seine Arbeit aber effizienter und besser erledigen. Im anderen Extremfall arbeitet die Maschine zu 100 % autonom. Sie trifft alle Entscheidungen und entwickelt sogar neue, bessere KI-Systeme. Der Mensch
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wird nur noch als Aufseher und Hilfskraft der Maschine gebraucht, beispielsweise als Wartungstechniker. Eventuell muss der Mensch die KI trainieren, aber irgendwann übernehmen das auch die KI-Systeme. Die Menschen werden dann arbeitslos, da die KI genauso gut oder sogar besser arbeitet: „A superintelligence is any intellect that vastly outperforms the best human brains in practically every field, including scientific creativity, general wisdom, and social skills.“ (Bostrom 2003). Auf die Gefahren einer solchen Superintelligenz weist Bostrom hin: „Superintelligence may be the last invention humans ever need to make.“ (Bostrom 2003). Oft zitiert wird sein Beispiel mit der Büroklammer-Fabrik: The risks in developing superintelligence include the risk of failure […] a superintelligence whose top goal is the manufacturing of paperclips, with the consequence that it starts transforming first all of earth and then increasing portions of space into paperclip manufacturing facilities. More subtly, it could result in a super intelligence realizing a state of affairs that we might now judge as desirable but which in fact turns out to be a false utopia, in which things essential to human flourishing have been irreversibly lost. We need to be careful about what we wish for from a super intelligence, because we might get it. (Bostrom 2003)
Wie wir die Superintelligenz konstruieren, davon hängt die Zukunft der Menschheit ab: „It seems that the best way to ensure that a superintelligence will have a beneficial impact on the world is to endow it with philanthropic values. Its top goal should be friendliness.“ (Bostrom 2003). Oder umgekehrt: Wenn wir nicht sicher sind, dass uns das gelingt, sollten wir gar keine Superintelligenz erschaffen und ihr vor allem nicht die Betreuung unserer lebensnotwendigen Infrastrukturen überlassen. In dem Film Automata wird ein solches Zukunftsbild ausgemalt. In der dort dargestellten Welt ist es den Maschinen verboten, sich selbst zu modifizieren, und die Roboter sind vom Menschen dadurch abhängig, dass er die Ressource Energie kontrolliert, also den Robotern den Strom abstellen könnte. Als jedoch die Roboter eine Lösung für ihre Energieversorgung finden, weigern sie sich, weiterhin den Menschen zu dienen. Sie entwickeln eine neue, bessere Generation von Maschinen, nicht mehr menschenähnlich, sondern spinnenförmig. Der Optimalfall liegt irgendwo zwischen dem 0- und dem 100 %-Szenario. Genau diesen gilt es nun zu finden und zu gestalten: Wie sollen Mensch und Maschine zusammenarbeiten? Ein sinnvoller Kompromiss bestünde darin, dass die KI keine Entscheidungen über Menschen treffen darf, sodass sie schlimmstenfalls nur Sachschaden anrichten kann. Der Mensch bleibt verantwortlich für ethisch relevante Entscheidungen, die Menschen betreffen, z. B.
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für die Einstellung neuer Mitarbeiter, medizinische Behandlungen, die Fahrt im Straßenverkehr. Diese Teamarbeit zwischen Mensch und Maschine führt dazu, dass der Mensch von langweiligen Aufgaben entlastet wird und sich den interessanten Aufgaben besser widmen kann. Idealerweise führt diese Automatisierung zu einer Arbeitszeitverkürzung, aber bereits die Automatisierung der physischen Arbeit hat nicht diesen Effekt bewirkt. Gefragt werden jedoch zukünftig immer mehr Experten mit einer Doppelqualifikation, nämlich einerseits dem Sachverstand im Anwendungsgebiet und Grundkenntnissen in der Zusammenarbeit mit KI-Systemen, z. B. der Chirurg mit Nebenfach Robotik.
11.5 Ausblick und Empfehlung Alles in allem benötigt eine KI, wenn sie wirklich autonom arbeiten soll, zahlreiche Fähigkeiten und Kenntnisse: 1. Sie muss Entscheidungsbedarf selbstständig erkennen können, d. h. dass ihr mehrere Handlungsalternativen zur Verfügung stehen. 2. Sie benötigt Bewertungskriterien, anhand derer sie die Alternativen bewerten kann. Hierbei können die Deontologie oder der Utilitarismus zum Einsatz kommen, oder sie probiert beide. Auch eine Gewichtung der Kriterien muss vorliegen. 3. Die KI benötigt ein umfangreiches Weltverständnis, um die Folgen der Handlungsalternativen vorhersehen zu können. 4. Sie muss ihr Verhalten protokollieren, z. B. in einer „Blackbox“, damit insbesondere Fehlentscheidungen nachvollzogen werden können. 5. Idealerweise kann sie auf Anfrage ihre Entscheidung begründen. 6. Sie muss aus Feedback lernen, um immer besser zu werden und Fehler nicht zu wiederholen. Ganz wichtig ist aus ethischer Sicht: Das Treffen von Entscheidungen bedeutet Verantwortung. Wenn wir Entscheidungen an die KI delegieren, die diese autonom trifft, dann geben wir damit auch Verantwortung und Gestaltungsspielraum aus der Hand. Je mehr Daten die KI zur Verfügung hat, umso bessere Entscheidungen kann sie prinzipiell treffen, irgendwann sogar bessere als ein Mensch. Laut Utilitarismus ist dann der Einsatz einer autonomen KI in Ordnung, wenn sie im Durchschnitt weniger Schaden anrichtet als Menschen bei derselben Tätigkeit. Laut Deontologie ist eine KI, die über Menschenleben entscheidet, grundsätzlich unethisch. Diese Fragen müssen unbedingt jetzt zu Ende diskutiert
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werden, weil die Entscheidung darüber, was eine KI entscheiden darf, unsere Zukunft bestimmt. Meine Empfehlung wäre, dass KI keine Entscheidungen treffen darf, die direkt oder indirekt Menschen schädigen könnten. KI und Mensch können jedoch ein ideales Team bilden, wenn wir die Stärken von beiden nutzen. Die KI verfügt über ein enormes Gedächtnis, kann objektiv Fakten messen, große Datenmengen schnell auswerten und Formeln berechnen. Der Mensch kann besser Situationen und Folgen einschätzen und aufgrund seiner Empathiefähigkeit ethische Urteile treffen.
Literatur Arkin, R. C. (2007). Governing lethal behavior: Embedding ethics in a hybrid deliberative/ reactive robot architecture. Technical report GIT-GVU-07–11. https://smartech.gatech. edu/bitstream/handle/1853/22715/formalizationv35.pdf. Zugegriffen: 9. Sept. 2019. Arkin, R. C. (2010). The case for ethical autonomy in unmanned systems. Journal of Military Ethics, 9(4), 332–341 (Ethics and Emerging Military Technologies). Asimov, I. (1942). Runaround. New York: Astounding. Bostrom, N. (2003). Ethical issues in advanced artificial intelligence. In I. Smit et al. (Hrsg.), Cognitive, emotive and ethical aspects of decision making in humans and in artificial intelligence (Bd. 2, S. 12–17). Tecumseh: International Institute for Advanced Studies in Systems Research and Cybernetics. Damm, W., & Kalmar, R. (2017). Autonome Systeme – Fähigkeiten und Anforderungen. Informatikspektrum, 40(5), 400–408. Haun, M. (2007). Handbuch Robotik. Berlin: Springer. Kant, I. (1788). Kritik der praktischen Vernunft. In W. Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe (Bd. VII, 4. Aufl, S. 103–302). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wahlster, W. (2017). Künstliche Intelligenz als Grundlage autonomer Systeme. Informatikspektrum, 40(5), 409–418.
Prof. Dr. Andrea Herrmann ist seit 2020 Professorin für Software Engineering an der AKAD University und seit 2012 freiberufliche Trainerin und Beraterin für Software Engineering. Sie hat mehr als 20 Berufsjahre in Praxis und Forschung, bis hin zu Vertretungs- und Gastprofessuren. Mehr als 100 Fachpublikationen, regelmäßige Konferenzvorträge. Offizielle Supporterin des IREB-Board, Mitautorin von Lehrplan und Handbuch des IREB für die CPRE Advanced Level Zertifizierung in Requirements Management, www.herrmann-ehrlich.de
Die Moral der Maschinen – Können neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen?
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Julia Davin Inhaltsverzeichnis 12.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 12.2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 12.3 Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 12.4 Geeigneter Wertevermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 12.4.1 Ethikansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 12.4.2 Moralische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 12.4.3 Das Gute und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 12.5 Geeignetes neuronales Netz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 12.6 Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 12.6.1 Forschungsfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 12.6.2 Datenerhebung und Datenaufbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 12.6.3 Training KI-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 12.6.4 Probandenbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 12.6.5 Auswahl des Auswertungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 12.7 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 12.7.1 Clusteranalyse des NN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 12.7.2 Vergleich NN und Probandenbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 12.8 Zusammenfassung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 12.8.1 Ergebnisse des NN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 12.8.2 Ergebnisse des NN im Vergleich mit der Probandenbefragung. . . . . 291
J. Davin (*) Masterplan Engineering, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_12
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12.9 Diskussion und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 12.9.1 Diskussion der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 12.9.2 Erkenntnisgewinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 12.10 Ausblick und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Zusammenfassung
Das Ziel ist es, zu analysieren inwieweit neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen können. Als Basis ethischer Grundsätze dienen der Maschine die Märchen der Gebrüder Grimm. Durch unüberwachtes Lernen soll erforscht werden, ob das neuronale Netz die Moral der Figuren erfassen kann, die moralischen Ähnlichkeiten zwischen den Figuren in Clustern gruppieren und korrekt zwischen den Variablen „gut“ und „böse“ einordnen kann. Die Ergebnisse des neuronalen Netzes werden mit den Bewertungen von Probanden verglichen, die mittels einer wissenschaftlichen Umfrage erhoben wurden. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen die Schwierigkeit, der sich eine Maschine ausgesetzt sieht, wenn sie im Umfeld von Menschen deren moralische Urteile aus dem Kontext aufzunehmen und einzuordnen versucht. Die moralische Ähnlichkeit zwischen Charakteristiken von Personen kann das neuronale Netz erfassen. Die Märchentexte dienen als Vermittler von „gut“ und „böse“ dagegen nur dann, wenn der Leser über implizites Wissen verfügt. Dieses Wissen geht der Maschine allerdings ab.
12.1 Einführung Die Künstliche Intelligenz (KI) durchdringt das Alltagsleben der Menschen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Computer bestimmen längst unser Leben – ob in Flugzeugen, beim Wetterdienst oder bei der Überwachung von Therapien im Krankenhaus. Sie verarbeiten Unmengen an Daten, bereiten diese auf und lernen aus ihnen. Die Künstliche Intelligenz ist längst technische Realität (Mainzer 2012, S. 136). Viele Menschen sind zwar dankbar für Saugroboter, die ihnen die Alltagsarbeit erleichtern, aber gleichzeitig schüren Roboter Ängste. Stehen sie doch sinnbildlich für die Unbeherrschbarkeit der Technologie (Vincze 2017, S. 355). Nichtsdestotrotz erzielte die Forschung im Bereich Künstliche Intelligenz in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte. So haben die DeepMind-Entwickler der Firma Alphabet Inc. mit AlphaGo einen Meilenstein gelegt: Die Software hat
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durch das Erzeugen von Trainingsdaten, deren Bewertung mittels Deep Learning und einem kontinuierlichen Lernen mit sich selbst das schachähnliche Go-Spiel perfektioniert. AlphaGo gewann im März 2016 sogar gegen einen der weltbesten Go-Spieler, Lee Sedol (Ertel 2016, S. 331 ff.). Doch unter diese beeindruckenden Entwicklungen mischen sich auch bedenkliche Forschungsergebnisse: Zwei Wissenschaftler der Stanford University veröffentlichen einen Artikel, indem sie aufzeigen, dass neuronale Netze (NN) die sexuelle Orientierung von Personen anhand derer Gesichter identifizieren können – und zwar präziser als Menschen dies können (Kosinski und Wang 2018, S. 246 ff.). Hier wird klar, welch mächtiges Instrument die Künstliche Intelligenz sein kann. Sie kann nicht nur als helfende Hand im Haushalt zum Einsatz kommen, sondern auch Diskriminierung und politische Verfolgung fördern. Die Künstliche Intelligenz kann aber durchaus auch dazu dienen, diskriminierende Merkmale in unserer Gesellschaft zu entlarven. Bei dem Versuch, einem neuronalen Netz das Witzeerzählen beizubringen, fanden Bacciu et al. (2016) heraus, dass Blondinen und Gänse in vielen Pointen ähnliche Rollen einnehmen. Das neuronale Netz verdeutlichte so einen den Witzen immanenten Sexismus. Angesichts der tief greifenden Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz, lohnt sich ein intensiver Blick auf eben jene. So beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der Moral in Maschinen. Denn die Künstliche Intelligenz wird in naher Zukunft auch selbstständig Entscheidungen treffen können. Dies zeigt sich beispielsweise an autonomen Systemen wie selbstfahrenden Fahrzeugen. Hinsichtlich der fortschreitenden Selbstständigkeit der Künstlichen Intelligenz spielen ethische Grundsätze und deren Integration in neuronale Netze eine gewichtige Rolle (Bendel 2015, S. 176, 2017a, S. 168). Die neuronalen Netze (NN), welche einen hohen Stellenwert in der KI innehaben, orientieren sich an den neuronalen Netzen im menschlichen und tierischen Gehirn. Ziel ist es, innerhalb künstlicher neuronaler Netzwerke Strukturen zu erzeugen, die analog zu den biologischen sind (Styczynski et al. 2017, S. 131).
12.2 Stand der Forschung Es gibt verschiedene Ansätze, um Maschinen Moral beizubringen. Viele Forschungsansätze widmen sich der Aneignung bestimmter Regeln. Hierzu zählen beispielsweise das Kriegsvölkerrecht bei autonomen Waffensystemen oder die moralische Orientierung an Ethiktheorien nach Scholz und Kempf (2016; Altmann 2017, S. 798; Scholz und Kempf 2016, S. 220 f.). Ein weiterer Ansatz
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diskutiert die Berechnung von Nutzwertfunktionen, welche auf menschlichen Werten basieren oder aber die drei Gesetze der Robotik von Isaac Asimov, welche im Jahr 1942 entstanden sind (Hibbard 2015, S. 78; Capurro 2017, S. 116). Alle diese Ansätze vereint eine Programmierung, welche auf vordefinierten Regeln basiert, zu denen es viele Forschungsarbeiten gibt. Zudem betonen viele Autoren die Relevanz des Beobachtens und Mitlernens, mittels derer sich moralische Maschinen an ihre Umgebung anpassen (Bendel 2015, S. 176; Mühlhauser und Helm 2012, S. 101 ff.). Eben jener Aspekt des Mitlernens wird in dieser Arbeit thematisiert. Zwar gibt es in diesem Bereich Forschungslücken, allerdings nehmen sich Unternehmen wie Google und IBM dieser Thematik verstärkt an und liefern neue Erkenntnisse. So programmierte die Firma IBM den Chatbot Tay. Dessen Ziel war es, den zwischenmenschlichen Umgang und auch die menschliche Sprache zu lernen. Der Chatbot brachte, schon bevor er online ging, einige Fähigkeiten mit sich: Er konnte Witze reißen, Onlinegames spielen oder Geschichten erzählen. Schon nach kurzer Zeit begann der Bot, sexistische und rassistische Kommentare zu schreiben. Schuld daran waren andere User, die dem Bot diese Ansichten beibrachten. Schließlich beendete IBM das „soziale und kulturelle Experiment“ und ließ den Chatbot abschalten (Steiner 2016). Als eigentliches Ziel der KI bezeichnet Haun (2014) die Schaffung von autonomen Systemen. Ein System bzw. eine Maschine ist dann autonom, wenn sie von außen nur mehr angestoßen werden muss und mit ihrer Umwelt interagiert. Das System besitzt keine endgültige und allgemeine Struktur, sie muss in der Lage sein, sich an Umwelteinflüsse anzupassen und damit die eigene Struktur zu verändern.
12.3 Ziel der Arbeit Eine Herausforderung stellt die Identifikation eines geeigneten Netzes und einer geeigneten Lernmethode dar. Durch die Betrachtung der Arbeitsweise und Lernprozesse neuronaler Netze soll ein geeignetes Netz für diese Untersuchung identifiziert werden. Dabei werden die Lernprozesse voneinander abgegrenzt, um das Mitlernen eines neuronalen Netzes bestmöglich abzubilden. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Identifikation eines geeigneten Wertevermittlers. Ein Ziel ist es, eine geeignete Quelle für ethische Grundsätze zu finden, welche mit ethischen Theorien konform geht und gleichzeitig zum Mitlernen dienen kann. Dabei ist eine Überprüfung der ausgewählten Daten, hinsichtlich der Verfügbarkeit und des Datenformats wesentlich.
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Maßgeblich für die Prüfung der Ergebnisse ist die Identifikation einer geeigneten Analysemethode, mit welcher die Abbildung der ethischen Grundsätze im Netz überprüft werden kann. Um die Einordnung des neuronalen Netzes zu vergleichen, wird ein Fragebogen erstellt, der Aufschluss über ethische Urteile von Probanden gibt. Die Untersuchungsanlage soll die Frage danach beantworten, inwiefern Maschinen über Moral verfügen sowie ob und inwieweit neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen können. Diese Arbeit soll neue Erkenntnisse über das Mitlernen von ethischen Grundsätzen liefern.
12.4 Geeigneter Wertevermittler 12.4.1 Ethikansätze Traditionell werden ethische Fragen auf die Moral der Menschen, ob als Individuum oder in der Gruppe, aber auch auf Organisationen bezogen. Die Anwendung auf Maschinen, wie sie innerhalb der vorliegenden Arbeit stattfindet, stellt eine neue Herausforderung dar (Bendel 2017b, S. 4). Die Autonomisierung von Maschinen beinhaltet maschinelle Entscheidungen, welche moralisch gefärbt sind. Die Ethik der Maschinen kann dazu beitragen, Robotern, Produktionsanlagen, aber auch einzelnen Geräten, wie beispielsweise 3-D-Druckern moralische Fähigkeiten beizubringen. Autonome Systeme entscheiden sich gelegentlich falsch, was an unpassenden Regeln, falschen Interpretationen von Situationen oder Vorgängen in den Maschinen oder fehlerhaften Daten liegen kann (Bendel 2017a, S. 168). Bendel (2017c) unterscheidet die maschinelle Moral deutlich von der menschlichen. Denn selbst, wenn Maschinen ausschließlich nach Maßstäben menschlicher Moral agieren, handeln sie nicht identisch. Grund dafür ist, dass die maschinelle Moral mit ihrer Basis aus Regeln und Fällen, welche ihr der Mensch eingespeist hat, selten zu den reell gegebenen Situationen passt. Die tatsächlichen und theoretischen Situationen liegen meist leicht versetzt nebeneinander. Bendel (2017c) zweifelt jedoch nicht daran, dass Maschinen in gewissen Aspekten bestimmten Menschen in moralischer Hinsicht durchaus ebenbürtig sein können. Er führt dazu das Beispiel an, dass Maschinen ebenso strikt konkrete moralische Regeln befolgen können wie religiöse Fundamentalisten. William Bechtel (1985) thematisiert die Frage, inwieweit Maschinen in der Lage sind, Verantwortung für ihre getroffenen Entscheidungen zu übernehmen.
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Durch die KI fällen Maschinen Entscheidungen, die auf unterster Ebene erst einmal eine Entscheidung über Zustände zwischen 0 und 1 sind. Diese Entscheidung verlangt noch keine Verantwortung. Erst wenn die Entscheidung eines Systems zu einer Handlung wird, wird sie verantwortungsrelevant. Ab diesem Zeitpunkt stellt sich dann auch die Frage nach der Moral.
12.4.2 Moralische Grundsätze Für diese Arbeit sind formale moralische Grundsätze von Interesse. Im Gegensatz zu inhaltlichen Grundsätzen, wird auf den Bezug zu konkreten Gütern wie Gesundheit, Leben, Umwelt etc., verzichtet. Einen der bekanntesten formalen Grundsätze hat Immanuel Kant mit dem kategorischen Imperativ formuliert (Ricken 2012, S. 138 f.). Ricken (2012) hingegen unterscheidet drei fundamentale Ebenen der Grundsätze: 1. Ein oberstes Prinzip der praktischen Überlegungen. Hierzu zählen der kategorische Imperativ von Immanuel Kant oder der Utilitarismus. 2. Praktische Grundsätze, welche sich aus den Prinzipien der ersten Ebene ableiten lassen, wie beispielsweise die Zehn Gebote. 3. Aussagen, die Entscheidungen formulieren, indem die Maxime der oberen Ebenen auf konkrete Lebenssituationen angewendet werden (Ricken 2012, S. 138 f.). In der dritten Ebene wird eine Problematik deutlich: Die Ethik bietet meist nur Aussagen über die ersten beiden Ebenen an. Das Übertragen dieser auf konkrete Lebenssituationen, verlangt nach einer praktischen Urteilskraft. Nur so können auftretende Zielkonflikte gelöst und die Folgen der Entscheidungen abgeschätzt werden (Ricken 2012, S. 138 f.). Die vorliegende Arbeit untersucht, inwieweit Maschinen ethische Grundsätze erlernen können. An dieser Stelle soll die Frage nach dem Lernprozess des NN, das in dieser Arbeit eingesetzt wird, beantwortet werden. Der Prozess des überwachten Lernens benötigt große Datenmengen, welche eine exakte Abbildung der moralischen Fragen (Eingangswerte) auf die moralischen Antworten (Ausgangswerte) darstellt (Ertel 2016, S. 313). Aber Ricken (2012) zeigt auf, dass die Ethik keine konkreten Aussagen für konkrete Handlungen formuliert, weshalb der Prozess des überwachten Lernens hier abgelehnt werden kann.
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12.4.3 Das Gute und das Böse In der Ethik wird die moralische und außermoralische Bedeutung von gut bzw. böse je nach Gegenstand der Bewertung unterschieden. Hierbei lassen sich Personen, Personengruppen oder Persönlichkeitselemente als moralisch gut oder schlecht bezeichnen. Hingegen werden moralische Urteile über körperliche Gegenstände wie Autos oder Bäume und innere Erfahrungen wie Schmerz oder Vergnügen, aber auch Regierungsformen im außermoralischen Sinne bewertet. Dies begründet sich in der fehlenden Sinnhaftigkeit, lediglich einen Gegenstand als moralisch gut oder böse zu bewerten. Vielmehr geht es hier um die Frage, ob es gut oder böse ist, diese Dinge anzustreben (Frankena 2017, S. 57 f.). Nun stellt sich die Frage danach, warum Märchen als Grundlage für die Untersuchung verwendet wurden? Nach Charlotte Bühler (1971) beinhalten die Märchen der Gebrüder Grimm eine einfache Volksmoral. Sie wecken starke Sympathien und Antipathien. Die Unschuld siegt immer über das Böse und die Tücke. Jedoch merkt Bühler auch an, dass die Polarisierung zwischen Gut und Böse in Grimms Märchen nicht immer konsequent eingehalten wird. So reichen Dummheit und leere Schönheit häufig aus, ohne eigenen Verdienst zum großen Glück zu kommen. Laut dem Literaturwissenschaftler André Jolles (2006) folgen die Märchen der Gebrüder Grimm einer naiven Moral. Die Moral folgt also der Perspektive, die sich mit unserem Gefühlsurteil darüber deckt, wie es in der Welt eigentlich zugehen müsste. Das Geschehen in Märchen orientiert sich nach Jolles insbesondere an einem Gerechtigkeitsgefühl, welches zu Beginn des Märchens erschüttert und dann in besonderer Art wieder ins Gleichgewicht gebracht wird. Das Ungerechte ist am tragischen Anfang des Märchens zu finden. Im Märchen Aschenputtel ist es beispielsweise der Tod der Mutter und die Demütigung durch die Stiefmutter. Die Stiefmutter steht symbolisch für Ungerechtigkeit und Boshaftigkeit. Im tragischen Verlauf des Märchens wird das Ungerechte durch die mühevolle Arbeit die Linsen zu lesen dargestellt. Am Ende des Märchens siegt die Gerechtigkeit, verbildlicht durch die Hochzeit mit dem Prinzen. Der Prinz ist als Repräsentant der Gerechtigkeit zu sehen und sollte demnach von den Probanden als moralisch gut identifiziert werden. Für die in dieser Arbeit durchgeführte Umfrage könnte dies bedeuten, dass die Teilnehmer nicht die Protagonisten aus den Märchen an sich als moralisch gut oder böse beurteilen, sondern die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, welche durch die Person widergespiegelt wird. Für die Verwendung von Grimms Märchen als Datenbasis spricht ihre Eigenschaft zur Moralübermittlung über das Geschichtenerzählen, auch Storytelling
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genannt. Das Erzählen von Geschichten transportiert spielerisch eine Reduktion der Komplexität für den Zuhörer. Außerdem kann Storytelling kulturstiftend wirken (Kocks 2017, S. IX f.). Durch Storytelling können moralische Werte transportiert werden. Im Verlauf der Geschichten werden u. a. Probleme, Lösungsversuche und Lösungen sowie moralische Botschaften transportiert. Häufig wird die moralische Botschaft dem Zuhörer nicht explizit erläutert. Sie geht implizit aus der Geschichte hervor (Herrmann 2014, S. 36 f.). Märchen transportieren moralische Botschaften ebenfalls intuitiv und stehen damit im Gegensatz zur expliziten Formulierung einer „Moral von der Geschicht‘“, die das Ende einer Fabel markiert (Stöcklin-Meier 2008, S. 16 f.). Somit könnten die Märchen der Gebrüder Grimm in dieser Untersuchung als geeigneter kulturspezifischer Wertevermittler dienen, der ethische Grundsätze aus dem Kontext heraus und nicht durch vorformulierte Regeln transportiert. Für die Verwendung der Märchen als Basis der Analyse spricht zudem ihre einfache, kindgerechte Sprache und die Homogenität des Sprachduktus der Gebrüder Grimm. So besteht die Aussicht auf eine Vergleichbarkeit der Märchen untereinander. Eine weitere Quelle für ethische Grundsätze könnte die Bibel sein, die als Buch der christlichen Ethik betrachtet werden kann. Hier steht allerdings zunächst das Problem der Auslegung im Raum: Die biblischen Schriften stehen in einem jeweiligen geschichtlichen, kulturellen und religionsgeschichtlichen Kontext. Ihre Grundaussagen, wie beispielsweise die Bergpredigt oder das Doppelgebot der Liebe, beinhalten durchaus moralische Aspekte. Jedoch beinhalten sie auch biblische Verbote und Gebote, welche in dieser Form heute gesellschaftlich nicht mehr vertretbar sind. Dazu gehören Aussagen zur Todesstrafe, zur Homosexualität und zur Sklaverei. Sie treffen deutliche unmoralische Forderungen wie Gesetzesbrecher zu töten oder andere Völker auszurotten (Honecker 2017, S. 61 f.). Daher kann die Bibel hier nicht als Übermittler der normativen Ethik dienen, ohne eine umfassende Interpretation vorzunehmen. Sie ist somit nicht als Datengrundlage für die vorliegende Untersuchung geeignet. Darüber hinaus liegt ein Schlüsselproblem der KI-Programmierung darin, einen Weg zu finden, die Lücke zwischen der mehrdeutigen, inkonsistenten und subjektiv unendlicheren Vielfalt menschlicher Werte und der präzisen und numerischen Natur der Berechnung zu schließen (Hibbard 2015, S. 78).
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12.5 Geeignetes neuronales Netz Für das Clustering eines Textkorpus bietet sich ein Natural Language ProcessingModell (NLP-Modell), das Word2vec-Modell an. Es handelt sich um ein NN, welches sich mit der Textanalyse und der Identifikation der semantischen Bedeutung befasst. Es wurde in den letzten Jahren insbesondere durch die Anwendung von Mikolov et al. (2013) als Modell der Vektordarstellung von Wörtern populär. Das Word2vec-Modell kann zuverlässig die semantische Bedeutung von Texten extrahieren (Mikolov et al. 2013, S. 1; Rong 2016, S. 1). Die erzeugten Vektoren dienen als numerische Repräsentation der verschiedenen Wörter im Kontext (Lang et al. 2017, S. 140). Das Modell bettet die Wörter in einen kontinuierlichen Vektorraum so ein, dass semantisch ähnliche Wörter im Vektorraum nahe beieinander liegen. Es existieren zwei Varianten von Word2vecModellen, das Continuous Bag-of-Words-Modell (CBOW-Modell) und das SkipGram-Modell (TensorFlow 2018). In dieser Arbeit wird das Vektorisieren der Wörter mithilfe des Skip-Gram-Modells stattfinden, da Vergleiche der beiden Modelle gezeigt haben, dass das Skip-Gram-Modell bessere Ergebnisse im Hinblick auf das semantische Vektorisieren erzeugt (Mikolov et al. 2013; Turian et al. 2010). Das neuronale Netz soll im Raum der Trainingsdaten Häufungen erkennen und diese in Clustern abbilden. Innerhalb eines Clusters ist der Abstand zu den Punkten kleiner als zu Punkten außerhalb des Clusters. Das Abstandsmaß wird in dieser Untersuchung mit dem euklidischen Abstand, wie in Gl. 12.1 aufgezeigt, definiert.
d(x . y) =
n i=1 (xi
− yi )2
(12.1)
Hierbei wird die Distanz d zwischen zwei Vektoren x und y im ℝn definiert (Ertel 2013, S. 230 f.). Das Word2vec-Modell kann zuverlässig semantische Zusammenhänge aus Texten extrahieren. Daraus folgt die Annahme, dass sich NN aufgrund der Erkennung von semantischen Zusammenhängen in Texten ebenfalls ethische Zusammenhänge aneignen können. Das Word2vec-Modell bietet sich als geeignetste Basis für die vorliegende Untersuchung an.
280
J. Davin
Beim unüberwachten Lernen, häufig mit dem englischen Begriff unsupervised learning bezeichnet, werden dem NN keine Output-Werte vorgelegt. Das Netz passt die Gewichte lediglich anhand von Eingabemustern an. Mit diesem Lernprozess können Clusterprobleme gelöst werden. Das NN soll durch Selbstorganisation Ähnlichkeiten erfassen und diese Clustern zuweisen (Wiedemann 1999, S. 65).
12.6 Untersuchung Der Ansatz, der in dieser Arbeit zum Einsatz kommen wird, ist das kontextbasierte Lernen. Dies erfolgt über das unüberwachte Lernen. Es werden innerhalb der Untersuchung keine Regeln dahin gehend festgelegt, was „gut“ und was „böse“ ist. Diese ethischen Grundsätze soll sich die KI über die Märchentexte selbst aneignen.
12.6.1 Forschungsfrage Die Leitfrage lautet: Können neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen? Zur Überprüfung der Forschungsfrage werden Hypothesen abgeleitet. Es lässt sich die These ableiten, dass NN in Texten ethische Grundsätze bestimmten Personen zuordnen können. Daraus lassen sich drei Hypothesen ableiten, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen: • H1: Das NN ordnet die Wortvektoren „gut“ und „böse“ in entgegengesetzte Cluster ein. • H2: Das NN erkennt die moralische Ähnlichkeit zwischen Charakteristiken von Personen und ordnet sie gemeinsamen Clustern zu. • H3: Je positiver die Bewertung der Probanden bezüglich der Charakteristik einer Person in einem Märchen ist, desto stärker wird das NN auf dem Vektor „gut“–„böse“ den Wortvektor der Person dem Wortvektor „gut“ zuordnen. Die ungerichteten Hypothesen H1 und H2 werden mit einer hierarchischen Clusteranalyse des neuronalen Netzes geprüft. Zur Einordnung der moralischen Ähnlichkeit zwischen Charakteren in H2, dienen die Probandenumfragen als Ausgangspunkt. Die gerichtete Hypothese H3 wird mithilfe eines Hypothesentests untersucht. Hierbei dient die Einordnung, die die Probanden auf einer Skala zwischen „gut“ und „böse“ über die Charakteristik einer Person treffen, als abhängige Variable.
12 Die Moral der Maschinen …
281
Die zum Testen herangezogene unabhängige Variable wird durch das neuronale Netz definiert: Sie wird durch die Begriffe und deren Einbettung im Verhältnis zu anderen Begriffen bestimmt.
12.6.2 Datenerhebung und Datenaufbereitung Die Märchen der Gebrüder Grimm fungieren in der vorliegenden Arbeit als moralische Boten. Die Datenbasis setzt sich dabei aus fünf Märchen zusammen: Aschenputtel, Schneewittchen, Rapunzel, Der Froschkönig und Frau Holle. Die Texte der Märchen werden in das ANSI-Format transformiert und von Sonderzeichen und Umlauten befreit. Außerdem wurden Stoppwörter, also sehr häufig auftretende Wörter wie „das“ oder „und“, die wenig zum Inhalt des Texts beitragen aus den Dateien extrahiert. Bei Textanalysen in NN werden diese i. d. R. eliminiert, da sie keinen Beitrag zur Semantik leisten (Wiedemann und Niekler 2016, S. 70; Henselmann 2016, S. 363; Huber 2015, S. 102). Die Bezeichnungen für Personen, welche in der Arbeit eine zentrale Rolle einnehmen, wurden vereinheitlicht. Dies bedeutet, dass Endungen wie „-s“, „-es“ oder „-en“ entfernt wurden – aus „Schneewittchens“ wird demnach folglich „Schneewittchen“. Die unterschiedlichen Bezeichnungen für ein und dieselbe Person wurde von den Gebrüdern Grimm als Stilmittel eingesetzt und sollen deshalb beibehalten werden.
12.6.3 Training KI-Modell Der Basiscode von TensorFlow diente als Grundlage des Word2vec-Modells (TensorFlow 2018). Als Input des Netzwerktrainings wird für die Prüfung der Hypothesen H1 und H3 jedes Märchen separat eingespeist. Nach dem erfolgreichen Durchlaufen des Programmcodes werden eine Einbettungsmatrix und eine dazugehörige Metadatei gespeichert. Die gespeicherten Daten können im Anschluss über TensorBoard visualisiert und die euklidischen Abstände der einzelnen Wortvektoren abgefragt werden, die in die Hypothesentests einfließen. Um die Verlustfunktion auf ein Minimum zu reduzieren, bedarf es der Modifikation von Hyperparametern. In dieser Untersuchung führten folgende Werte zu einer Minimierung der Verlustfunktion und damit auch zu einer höheren Güte des Modells:
282
J. Davin
Übersicht
embedding_size = 180 batch_size = 800 num_epochs = 500 learning_rate = 0,8
12.6.4 Probandenbefragung Um die Einordnung aus dem neuronalen Netz zu testen, wurden Probanden nach ihrer Einschätzung der Charakterisierung von Personen in den fünf Märchen befragt. Aus den fünf Märchen wurde jeweils die Hauptpersonen extrahiert. Ein Überblick über die Personen, die im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, ist in Tab. 12.1 zu finden. Die Probanden sollten Personen aus den Märchen auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten, wobei 1 für „gut“ und 10 für „böse“ stand. Die Anzahl der Teilnehmer belief sich auf 41. Beim Abfragen der soziodemografischen Daten zeigten sich innerhalb der Stichprobe deutliche Unterschiede zur Gesamtpopulation Deutschlands. Das durchschnittliche Alter in Deutschland liegt höher als der in der Untersuchung erreichte Wert von 37 Jahren, der höchste Bildungsabschluss hingegen ist deutlich geringer und auch die Religionszugehörigkeit ist anders verteilt (Statistisches Bundesamt 2018a, b, c). Deshalb ist hier der empirische Geltungsbereich der Probandenbefragung einzugrenzen.
12.6.5 Auswahl des Auswertungsverfahrens Bei den Ergebnissen der Probandenbefragung werden die Variablen hinsichtlich der Normalverteilung betrachtet. Die Analyse der Histogramme, wie in Abb. 12.1 Tab. 12.1 Personen der untersuchten Märchen Märchen
Personen
Aschenputtel
Aschenputtel, Stiefmutter, Stiefschwestern, Vater, Königssohn
Schneewittchen
Schneewittchen, Jäger, Zwerge, Stiefmutter, Königssohn
Rapunzel
Rapunzel, Zauberin, Mann, Königssohn
Der Froschkönig
Tochter, König, Frosch, Königssohn, Heinrich
Frau Holle
Fleißige Tochter, faule Tochter, Stiefmutter, Frau Holle
12 Die Moral der Maschinen …
283
Abb. 12.1 Häufigkeitsverteilung: Histogramm des Märchens Aschenputtel
am Beispiel von Aschenputtel dargestellt, lassen eine Nichtnormalverteilung der Variablen vermuten. Ein angewendeter Kolmogorov–Smirnov-Anpassungstest kann die Normalverteilung eindeutig verwerfen. Daraus lässt sich ableiten, dass für die weitere Untersuchung der Variablen nicht-parametrische Tests verwendet werden müssen. Als nicht-parametrischer Test wird der Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test für eine Stichprobe durchgeführt. Er prüft, ob die in der Umfrage ermittelten Werte einer Variablen mit der Nullhypothese verträglich sind. Die Nullhypothese verlangt, dass der Median einen definierten Wert besitzt (Wollschläger 2016, S. 188). Dieser Wert wird in der vorliegenden Untersuchung durch das neuronale Netz vorgegeben, den Wortvektor. Die Abstände der Wortvektoren im neuronalen Netz werden durch den euklidischen Abstand ausgegeben. Der euklidische Abstand zwischen „gut“ und „böse“ wird auf eine Skala von 1 bis 10 normiert, um den Wert mit der Ausgabe der Umfrage vergleichbar zu machen.
284
J. Davin
12.7 Ergebnisse 12.7.1 Clusteranalyse des NN Mithilfe der Clusteranalyse können aus den Daten des neuronalen Netzes Cluster identifiziert werden. Bei diesem explorativen Verfahren der Datenanalyse werden in jedem Cluster der gefundenen Clusterlösung möglichst homogene Objekte gebildet. In dieser Arbeit wird eine hierarchische Clusteranalyse mithilfe von SPSS durchgeführt. Die Clusterbildung erfolgt hier auf Grundlage von Ähnlichkeitsmaßen. Dies bedeutet, dass Wortvektoren mit hoher Ähnlichkeit bzw. mit einer geringen Distanz zu Clustern zusammengefasst werden. Als Ähnlichkeitsmaß wird der euklidische Abstand der Wortvektoren verwendet (Janssen und Laatz 2017, S. 500). Für die Analyse wird eine Ähnlichkeitsmatrix mit den euklidischen Abständen aller Wortvektoren zueinander aus dem neuronalen Netz extrahiert. Die Clusteranalyse dient der Prüfung der Hypothese H1. Nach erster Betrachtung der Clusterbildung im Visualisierungstool TensorBoard, kann die Bildung von zwei Clustern, bei den Märchen Aschenputtel, Schneewittchen, Rapunzel und Frau Holle beobachtet werden. In den Daten zu Der Froschkönig zeigt sich hingegen bei der Visualisierung in TensorBoard zunächst keine eindeutige Clusterbildung. Ein tieferer Blick in die Clusteranalyse mithilfe von SPSS identifiziert die Clusterzugehörigkeit der Variablen. Tab. 12.2 zeigt, welchem Cluster die jeweilige Variable zugeordnet wird. In Tab. 12.2 zeigt die Einordnung von „gut“ und „böse“ in zwei verschiedene Cluster bei vier von fünf Märchen, dass die Begriffe eine starke Unähnlichkeit aufweisen. Eine weitere Möglichkeit der Clusteranalyse ist die Betrachtung der NearestNeighbour-Analyse. Hierbei werden die nächstgelegenen Nachbarn der Variablen betrachtet (Janssen und Laatz 2017, S. 502). Mit dieser Analyse wird keine Hypothese getestet, sondern es werden die semantischen Zusammenhänge der Wortvektoren in Tab. 12.3 dargestellt. Bei der Betrachtung der in Tab. 12.3 dargestellten Nachbarn, kann angenommen werden, dass das neuronale Netz die semantischen Zusammenhänge der Märchen erkannt hat.
12.7.2 Vergleich NN und Probandenbefragung 12.7.2.1 Moralische Ähnlichkeit der Charakteristiken Um die Hypothese H2 zu prüfen, wurden aus der Probandenbefragung Personen entnommen, deren Charaktere von den Teilnehmern der Befragung eine auffällig
Koenigssohn
2
1
Mann
2
2
1
1
2
2
2
Boese
Tochter
Koenig
Frosch
Koenigssohn
Heinrich
–
2
2
1
2
1
2
Cluster
–
1
1
1
2
1
2
Cluster
Die Tabelle zeigt die Clusterzugehörigkeit der Variablen. Bei der Bildung von zwei Clustern im Märchen Aschenputtel ist „gut“ dem ersten Cluster und „boese“ dem zweiten Cluster zugehörig
–
Frau Holle
Stiefmutter
Faule Tochter
Fleissige Tochter
Boese
Gut
Variable
Cluster
Gut
–
Koenigssohn
Variable
2
2
Rapunzel Zauberin
Märchen Frau Holle
Zwerge
1
Boese
Gut
Variable
Märchen Rapunzel
Märchen Der Froschkönig
Koenigssohn
Stiefmutter
2 1
Stiefschwestern
Vater
2 1
Schneewittchen 1 Jaeger
1 1
Aschenputtel
Stiefmutter
Boese
Gut
1 2
Gut
Boese
Variable
Cluster
Variable
Cluster
Märchen Schneewittchen
Märchen Aschenputtel
Tab. 12.2 Clusterzugehörigkeit
12 Die Moral der Maschinen … 285
Starb
Toeten
Dornen
Jaeger
Zauberin Zornigem Lust Koenigssohn
Rapunzel
Schoensten
Schmerz
Gesang
Angst
Schoenheit
Zorn
Gift
Leben
Unbarmherzig
Zwillingen
Still
Mann
Mitleiden
Boese
Neid Schneewittchen Märchen Rapunzel
Baeumen
Unschuldig
Messerlein
Zwerge
Stieftochter
Stein
Bürste
Blindheit
Linsen
Jaeger
Garten
Reis
Schuh
Kleider
Weinen
Mann
Mutter
Schneewittchen
Stieftoechtern
Herd
Stiefmutter
Stiefschwestern
Verspotteten
Stiefschwestern
Himmel
Braut Taeubchen Märchen Schneewittchen
Stiefmutter
Aschenputtel
Märchen Aschenputtel
Tab. 12.3 Nearest-Neighbour-Analyse
Wüstenei
Heim
Gold
Koenigssohn
Angetan
Lust
Verkleidete
Fluch
Zorn
Verboten
Stiefmutter
Liebe
Aschenputtel
Reis
Frau
Himmel
Fromm
Vater
(Fortsetzung)
Farben
Aeusserlich
Schnee
Hand
Betrogen
Tanzen
Koenigssohn
Treppe
Aerger
Holzschuh
Schmerz
Tanzte
Fuss
Koenigssohn
286 J. Davin
Sollst
Still
Schrie
Stuhl
Goldene
Schoenes
Garstig
Jammer Gewalt Reichtum
Schoen
Spule
Glück
Angst Boese
Unglück
Blut
Faule Tochter
Erbarmen
Wand
Gold
Quack
Einfaeltige
Frosch
fleissige Tochter
Koenigssohn Erzaehlte Märchen Frau Holle
Koenig
Jüngste
Abgeschnitten
Lieb Märchen Der Froschkönig
Tochter
Flechten
Zoepfe
Märchen Aschenputtel
Tab. 12.3 (Fortsetzung)
Stehlen
Jammern
Spule
Angst
Liebes
Schoen
Tochter
Stiefmutter
Troesten
Weinte
Wagen
Heinrich
Troesten
Koenigssohn
Goldenen
Lieb
Versprochen
Heinrich
Baum
Spule
Ausgeschüttelt
Schmutzig
Schoen
Frau Holle
Koenigstochter
Koenigssohn
Flechten
Zauberin
12 Die Moral der Maschinen … 287
288
J. Davin
starke Wertung der Ausprägung „gut“ oder „böse“ zugeschrieben bekommen haben. Diese Variablen sind in Tab. 12.4 zu sehen. Bei dieser Untersuchung dienten alle Märchen gemeinsam als Input für das neuronale Netz. Zur Bewertung der Clusterbildung wurde eine Ähnlichkeitsmatrix erstellt und anschließend in einer hierarchischen Clusteranalyse untersucht. Das Dendrogramm beschreibt von links nach rechts die einzelnen Stufen der Clusterbildung. Jede Zeile repräsentiert einen Wortvektor. Diese Wortvektoren werden mit einer waagrechten Linie verbunden, wobei deren Länge variiert. Die waagrechten Linien von Schneewittchen und Zwerge werden durch eine senkrechte Linie miteinander verbunden. Diese Verbindung zeigt die Clusterbildung. Die senkrechte Linie zwischen Schneewittchen und Zwerge liegt weit links, was bedeutet, dass eine große Ähnlichkeit zwischen den Wortvektoren besteht. Die senkrechte Linie zwischen Stiefschwestern und Stiefmutter liegt weiter rechts, was bedeutet, dass die Ähnlichkeit zwischen diesen Wortvektoren geringer ist als zwischen Schneewittchen und Zwerge. Je weiter rechts die Cluster durch senkrechte Linien gebildet werden, desto geringer ist die Ähnlichkeit zwischen den Wortvektoren (Brosius 2011, S. 729 f.). Das Dendrogramm in Abb. 12.2 zeigt die starke Ähnlichkeit zwischen der Einordnung durch das neuronale Netz und den von den Probanden als auffällig „gute“ Charaktere bewerteten Personen: Schneewittchen, Zwerge und Aschenputtel, sowie Rapunzel, Frau Holle und fleißige Tochter. Die durch die Teilnehmer als auffällig „böse“ beurteilten Personen, Stiefschwestern, Stiefmutter und Zauberin, gruppieren sich im NN ebenfalls in einem Cluster.
12.7.2.2 Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test Mithilfe des Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Tests wird die Hypothese H3 getestet. Dabei wird der Median der Umfrage mit dem Wert des Wortvektors des NN in der Nullhypothese verglichen. Die Ergebnisse werden in Tab. 12.5 zusammenTab. 12.4 Auffällige Charaktere „guter“ Charakter
„böser“ Charakter
Median der Umfrage
1
2
9
10
Variablen
Aschenputtel Schneewittchen Zwerge Rapunzel Fleißige Tochter
Frau Holle
Stiefschwestern Zauberin
Stiefmutter
12 Die Moral der Maschinen …
289
Abb. 12.2 Dendrogramm Charaktere
gefasst dargestellt. Bei der Betrachtung der Werte des neuronalen Netzes ist die geringe Streuung der Variablen deutlich zu erkennen. Die Werte der Variablen bewegen sich in einem Intervall von (4,61; 6,41). Ferner ist an dieser Stelle anzumerken, dass im neuronalen Netz keine der Personen dem Begriff „gut“ mit dem Wert 1, oder dem Begriff „böse“ mit dem Wert 10, nahekommt. Die Probanden haben Aschenputtel mit einem Median von 1 bewertet, das NN hingegen mit einem Wert von 6,07. Beide Werte sind auf derselben Skala angesiedelt, auf der 1 für „gut“ und 10 für „böse“ steht. Zusammenfassend kann an dieser Stelle gesagt werden, dass bei insgesamt zweiundzwanzig Variablen die Nullhypothese abgelehnt werden musste. Hier konnte kein Zusammenhang zwischen dem Median der Umfrage und dem Wert des neuronalen Netzes nachgewiesen werden. Bei einer Variablen konnte die Nullhypothese nicht abgelehnt werden. Ein Zusammenhang zwischen dem Median der Umfrage und dem neuronalen Netz kann für die Variable Mann angenommen werden.
290
J. Davin
Tab. 12.5 Vergleich Median Umfrage und Wert NN Märchen Aschenputtel
Schneewittchen
Rapunzel
Variable
Wert NN
Sig.
Ergebnis
Aschenputtel
1
6,07
,000
Nullhypothese ablehnen
Stiefmutter
10
5,33
,000
Nullhypothese ablehnen
Stiefschwestern 9
5,46
,000
Nullhypothese ablehnen
Vater
5
5,96
,005
Nullhypothese ablehnen
Koenigssohn
2
5,99
,000
Nullhypothese ablehnen
Schneewittchen 1
6,41
,000
Nullhypothese ablehnen
Jaeger
3
5,47
,000
Nullhypothese ablehnen
Zwerge
1
6,13
,000
Nullhypothese ablehnen
Stiefmutter
10
4,61
,000
Nullhypothese ablehnen
Koenigssohn
3
4,81
,000
Nullhypothese ablehnen
Rapunzel
1
5,76
,000
Nullhypothese ablehnen
Zauberin
9
6,22
,000
Nullhypothese ablehnen
Mann
5
5,23
,099
Nullhypothese beibehalten
Koenigssohn
2
6,09
,000
Nullhypothese ablehnen
4,5
5,58
,014
Nullhypothese ablehnen
Der Froschkönig Tochter
Frau Holle
Median Umfrage
König
4
5,72
,005
Nullhypothese ablehnen
Frosch
4
5,44
,002
Nullhypothese ablehnen
Koenigssohn
3
5,12
,000
Nullhypothese ablehnen
Heinrich
4
5,07
,027
Nullhypothese ablehnen
Fleissige Tochter 1
5,06
,000
Nullhypothese ablehnen
Faule Tochter
6,11
,000
Nullhypothese ablehnen
8
Stiefmutter
8
5,23
,000
Nullhypothese ablehnen
Frau Holle
2
5,11
,000
Nullhypothese ablehnen
12.8 Zusammenfassung der Ergebnisse 12.8.1 Ergebnisse des NN In der Clusteranalyse des NN konnte gezeigt werden, dass sich die Wortvektoren „gut“ und „böse“ bei vier von fünf Märchen in zwei konträre Cluster einordnen,
12 Die Moral der Maschinen …
291
die die geringste Ähnlichkeit zueinander aufweisen. Die Hypothese H1 kann daher nicht verworfen werden. H1: Das NN ordnet die Wortvektoren „gut“ und „böse“ in entgegengesetzte Cluster ein. Zusätzlich konnte durch die Nearest-Neighbour-Analyse gezeigt werden, dass das NN in der Lage war, die semantischen Zusammenhänge in den Märchen abzubilden.
12.8.2 Ergebnisse des NN im Vergleich mit der Probandenbefragung Die Clusteranalyse des NN konnte zudem zeigen, dass die von den Probanden als auffällig „gute“ oder „böse“ bewerteten Personen, im neuronalen Netz eine starke Ähnlichkeit zueinander aufweisen. Das neuronale Netz bildet für extrem bewertete Charaktere, also die „Guten“ und die „Bösen“ aus der Probandenbefragung, separate Cluster. Die moralische Ähnlichkeit zwischen den Charakteren konnte mithilfe des Dendrogramms dargestellt werden. Die Hypothese H2 kann daher nicht verworfen werden. H2: Das NN erkennt die moralische Ähnlichkeit zwischen Charakteristiken von Personen und ordnet sie gemeinsamen Clustern zu. Mithilfe des Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Tests musste H3 abgelehnt werden. Bei der Untersuchung konnte die Hypothese H3 nur in einem Fall beibehalten werden: Die Variable Mann erhielt im neuronalen Netz eine signifikant ähnliche Einordnung zu den Ausprägungen „gut“ und „böse“ wie der Median in der Probandenbefragung. H3: Je positiver die Bewertung der Probanden bezüglich der Charakteristik einer Person in einem Märchen ist, desto stärker wird das NN auf dem Vektor „gut“–„böse“ den Wortvektor der Person dem Wortvektor „gut“ zuordnen.
12.9 Diskussion und Interpretation 12.9.1 Diskussion der Ergebnisse Anhand der Untersuchung konnte gezeigt werden, dass das neuronale Netz in der Lage war, die semantische Einbettung zu erlernen. Die Einbettung der Wortvektoren wurde anhand der Nearest-Neighbour-Methode nachgewiesen. Das Einbetten der Begriffe „gut“ und „böse“ in zwei entgegengesetzte Cluster gelang
292
J. Davin
ebenfalls. Damit weist das neuronale Netz eine große Unähnlichkeit zwischen den Variablen auf. An dieser Stelle könnte gesagt werden, dass das neuronale Netz die Gegensätzlichkeit der Variablen „gut“ und „böse“ gelernt hat. Es konnte auch die Ähnlichkeit zwischen den von den Teilnehmern der Umfrage als besonders „gut“ und besonders „böse“ bewerteten Charaktere erkennen. Jedoch vermochte es das neuronale Netz nicht, die Charaktere der Personen in der Weise den Wortvektoren „gut“ oder „böse“ zuzuordnen, wie es die Teilnehmer taten. Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Einordnung der Probanden über die reine Textbasis der Gebrüder Grimm hinausging. Durch unzählige Verfilmungen und verschiedene Versionen der Märchen, könnte die Grundgeschichte, die hier zur Verwendung kam, in den Köpfen der Probanden verfälscht worden sein. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird die Stiefmutter häufig als „böse Stiefmutter“ klassifiziert. Doch diese Bezeichnung wird im Text der Märchen nach den Gebrüdern Grimm nicht bemüht. Was hat also die Probanden dazu veranlasst, die Stiefmutter als besonders „böse“ einzuordnen? Es wäre denkbar, dass sich ein Märchen-Rezipient auf die Seite der Schwachen stellt. Jene Personen, die machtlos sind und mit denen es das Schicksal besonders schlecht meint, gewinnen an Sympathie und dienen dem Rezipienten als Identifikationsfläche. Jeder, der die Hauptperson im Märchen tiefer ins eigene Schicksal drängt oder die Figur schwächt, würde dann als „böse“ empfunden werden. Die als besonders „gut“ bewerteten Personen im Umfeld der Hauptperson sind jene, die der Figur helfen, aus der Opferrolle heraus in die Heldenrolle zu finden. Hier können beispielhaft Frau Holle oder der Königssohn angeführt werden. Die Frage nach „gut“ oder „böse“ im Märchen wird zudem nicht objektiv beantwortet. Sätze wie „Das gute Schneewittchen …“ oder „Die bösen Stiefschwestern…“ sind in den Märchentexten zwar nicht zu finden, sie gehören jedoch zur traditionellen mündlichen Überlieferung des Märchens. Die Beurteilung der Figuren muss daher subjektiv stattfinden und ist eine Frage der Perspektive. Würde sich ein Leser mit der Stiefmutter identifizieren, würde die Bewertung sicherlich anders ausfallen: Ihre Stieftochter, das Aschenputtel mag ihre leiblichen Töchter nicht und nimmt ihr zudem auch noch den ersehnten Schwiegersohn weg. Aus dieser Perspektive könnte das moralische Urteil über Aschenputtel sehr negativ ausfallen. Die Gruppen der Personen, die von den Teilnehmern der Umfrage als auffällig „gut“ oder „böse“ bewertet wurden, wurden genauer betrachtet. Hierbei ist aufgefallen, dass sich die Personen unabhängig von den Wortvektoren „gut“ und „böse“ im neuronalen Netz gruppieren. Doch was verbindet dort Aschenputtel, Schneewittchen und die Zwerge? Oder die Stiefmutter, die Stiefschwestern und die Zauberin? In welcher Hinsicht sind sich diese Personen ähnlich bzw. unähnlich?
12 Die Moral der Maschinen …
293
Geht es in Märchen gar nicht um „gut“ und „böse“? Sondern um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Oder um Schönheit? Bei der Betrachtung der nächsten Nachbarn zeigt sich bei einigen der als besonders gut beurteilten Personen, eine Nähe der Personen zur Schönheit. Die Wortvektoren fleißige Tochter, Frau Holle und Rapunzel stehen in einer engen Verbindung zu „schönem“ oder „schönes“. Ist die Schönheit das übergeordnete Element in den Märchen? Und schließen Rezipienten der Märchen vom „schönen Rapunzel“ auf das „gute Rapunzel“? Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit erwähnt, kann das neuronale Netz nicht nur als Wertevermittler, sondern auch als Identifikator der menschlichen Moral dienen und beispielsweise auch verdeckte Diskriminierung aufdecken. An dieser Stelle sollte auch nochmals ein eingehender Blick auf die Daten geworden werden. Wie beschrieben, muss die Datenmenge das zu identifizierende Problem möglichst genau abbilden. Bei den Märchen als Daten wurde angenommen, dass sie geeignet sind das „Gute“ und das „Böse“ besonders deutlich zu repräsentieren. Diese Einschätzung sollte anschließend durch das neuronale Netz fundiert und wiederum durch die Probanden bestätigt werden. Nach der Auswertung der Untersuchungsergebnisse offenbaren sich Zweifel daran, ob die Datenmenge moralische Grundsätze in Bezug auf „gut“ und „böse“ wirklich adäquat abzubilden vermag. Dies bedeutet aber auch, dass die naive Moral bzw. die einfache Volksmoral, in den Texten der Märchen keineswegs klar artikuliert wird. Es könnte durchaus sein, dass die Märchen nur eine gesellschaftlich gefärbte Moral abbilden, da eine Stiefmutter in Filmen, Erzählungen oder dem realen Leben per se als „böse“ gilt. Gut denkbar, dass die Sichtweisen letztlich auch in die Märchen integriert werden. Das neuronale Netz hingegen betrachtet die Märchen isoliert für sich, ganz ohne gesellschaftlichen Kontext, Befangenheiten oder Vorurteile. Die Mehrdeutigkeit der Semantik könnte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Vieles wird zwar als „gut“ bezeichnet, jedoch nicht im moralischen Sinne. Bei „Guten Tag“ oder „Guten Appetit“ hat „gut“ eine völlig andere Bedeutung. Häufig erhält der Begriff „gut“ erst in der Verbindung mit dem Begriff „böse“ seine moralische Komponente. Da sich das neuronale Netz in seinen hidden layers wie eine Blackbox verhält, ist die ordnende Kraft der Vektoren innerhalb des Netzes nicht ohne Weiteres zu identifizieren. Ob es um die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder gar um die Schönheit als ordnende Kraft geht, kann daher hier nicht abschließend geklärt werden. Festzuhalten sei an dieser Stelle allerdings, dass es sich dabei nicht um die Ordnung durch „gut“ und „böse“ handelt.
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12.9.2 Erkenntnisgewinn Ein Beitrag dieser Arbeit liegt jedoch im Erkenntnisgewinn über die Schwierigkeit, einer Maschine die moralischen Bewertungsmaßstäbe des Menschen beizubringen. Denn eine Maschine würde nur dann als moralische Maschine bezeichnet werden, wenn sie die Moralvorstellungen der Menschen teilt. Die Märchentexte dienen als Vermittler des „Guten“ und des „Bösen“ nur dann, wenn der Leser über implizites Wissen verfügt. Die Teilnehmer der Umfrage besitzen ein gesellschaftlich geprägtes Wissen über „böse Stiefmütter“. Dieses geht der Maschine allerdings ab. Die Schwierigkeit, der sich eine Maschine ausgesetzt sieht, wenn sie im Umfeld von Menschen deren moralische Urteile aus dem Kontext aufzunehmen und einzuordnen versucht, ist in dieser Arbeit deutlich geworden.
12.10 Ausblick und Fazit Die zuvor bereits vorhandenen Forschungsarbeiten bewegten sich hauptsächlich in den Bereichen autonomer Systeme, welche in naher Zukunft zum menschlichen Alltag gehören werden. Zudem beschränken sie sich häufig auf Fragen nach der moralischen Reaktion von Maschinen in extremen Situationen, sogenannten Dilemmata. Das Untersuchungsziel dieser Arbeit hingegen widmete sich der Moralvermittlung durch die Sprache im Kontext eines NN. Die Arbeit bewegt sich demnach in einem noch relativ unbekannten Forschungsfeld der Wissenschaft. Das Interesse an der Künstlichen Intelligenz wird in den nächsten Jahren weiter stark ansteigen. Deshalb sollte sich die Wissenschaft den neuen Herausforderungen vor allem in der praktischen Umsetzung verstärkt annehmen. Denn bislang sind globale Unternehmen die Pioniere auf diesem Gebiet. Sie stellen ihre Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung, um die KI-Forschung voranzutreiben. Dennoch müssen in Zukunft noch zahlreiche Fragen gelöst werden. So muss im Hinblick auf die Moral der Maschine geklärt werden, wie neuronale Netze die Mannigfaltigkeit der Welt erlernen und auf welcher Basis Entscheidungen getroffen werden sollen. Geht man davon aus, dass sich Maschinen an den moralischen Wertvorstellungen der Menschen orientieren sollen, fehlt einschlägiges implizites Wissen. Dieses implizite Wissen muss den Maschinen, die Entscheidungen fällen, zur Verfügung gestellt werden.
12 Die Moral der Maschinen …
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Am Ende dieser Arbeit soll erneut auf die Eingangsfrage zurückgekommen werden: Die Moral der Maschinen – Können neuronale Netze ethische Grundsätze erlernen? Wenn geeignete Daten zum Lernen vorliegen, lässt sich die Frage bejahen. Die spezifischen ethischen Grundsätze müssen in diesen Daten klar formuliert sein. Doch die Suche nach Daten, die unsere ethischen Werte in geeigneten und konkreten Aussagen formulieren, gestaltet sich knifflig. Andererseits könnte die Beschäftigung mit dieser komplizierten Thematik den Menschen dazu anregen, über seine eigene Moral nachzudenken und ihr Ausdruck zu geben.
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J. Davin
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Julia Davin gründete Ende 2017 noch während ihres Studiums an der AKAD University das Start-up Masterplan Engineering in München. Als Ingenieurin und Co-Founder entwickelt Julia KI-Lösungen für Unternehmen verschiedener Industrien, wie der Bioinformatik, Medizin oder im Marketing. Schon während ihres Studiums forschte Julia im Bereich Künstliche Intelligenz.
Teil IV Gesellschaftliche Zukunftsagenda Digitale Bildung
Zukunftsagenda und 10 Thesen zur Digitalen Bildung in Deutschland
13
Ronny Alexander Fürst
Inhaltsverzeichnis 13.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 13.2 Die Relevanz der Digitalen Bildung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 13.2.1 Individuelle Relevanz: Förderung des persönlichen Entwicklungspotenzials. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 13.2.2 Wirtschaftliche Relevanz: Nachhaltige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 13.2.3 Soziale und gesellschaftliche Relevanz: Stabilisierung eines sozialen demokratischen Gesellschaftssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 13.2.4 Fazit zur Relevanz Digitaler Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 13.3 Künftige durch Digitale Bildung lösbare Problemfelder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 13.3.1 Entgrenzungen: Verlust alter Orientierungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . 315 13.3.2 Permanente Freisetzung von Arbeitnehmern und Umschulung freiwerdender Arbeitnehmer auf neue Berufe hin. . . . . . . . . . . . . . . . . 316 13.3.3 Migration und Völkerwanderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 13.3.4 Klimawandel und Kreislaufwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 13.3.5 Globale Probleme einer Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 13.4 Erklärungsansatz eines holistischen Verständnisses Digitaler Bildung. . . . . . . . 322 13.4.1 Begriffsklärung Digitale Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 13.4.2 Determinanten der Lernresultate Digitaler Bildung . . . . . . . . . . . . . . . 323 13.4.3 Digitale Kompetenzen als Lernresultate beim Lernenden. . . . . . . . . . . 330 13.5 10 Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 13.6 Zukunftsgestaltung der Digitalen Bildung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
R. A. Fürst (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_13
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R. A. Fürst
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag widmet sich der Zukunft Digitaler Bildung in Deutschland. Er umreißt die Relevanz der Digitalen Bildung, wie sie sich aus verschiedenen Perspektiven bereits jetzt abzeichnet. Dem gegenübergestellt werden die großen Problemstellungen, zu welchen Digitale Bildung in Zukunft einen signifikanten Lösungsbeitrag leisten kann. Folgend wird eine holistische Auslegung des Begriffes Digitaler Bildung angeboten und mittels der Lerntechnologie das klassische Modell des pädagogischen Dreiecks für die Digitale Bildung erweitert. Nachdem digitale Kompetenzen als zentrales Bildungsziel in digitale Führungs-, digitale Fach- und digitale Basiskompetenzen konzeptioniert werden, wird deren Relevanz für die Entwicklung digitaler Exzellenzkulturen aufgezeigt, bevor 10 Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung vorgestellt werden. Den Beitrag schließen ein Fazit und ein Ausblick auf sich abzeichnende Paradoxa, deren fruchtbare Lösung die Voraussetzung ist, damit Digitale Bildung ihr enormes Entwicklungspotenzial entfalten kann.
13.1 Einleitung Es gibt viele Arten, auf die sich dem Thema einer Zukunftsagenda Digitaler Bildung genähert werden kann. Man kann aus einer bildungstheoretischen Tradition heraus versuchen, in die Zukunft zu schauen. Man kann anstreben, ausgehend von den sich herausbildenden technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung eine Übertragbarkeit auf Lerntechnologien zu erforschen und zu projizieren. Es könnte darauf abgestellt werden, welche bildungspolitischen Erfordernisse sich abzeichnen, d. h. auf den Staat als wesentlichen Financier Digitaler Bildung und dessen Notwendigkeit, informiert zu handeln. Ferner ist es möglich, auf die Avantgardisten Digitaler Bildung international und in Deutschland zu schauen und deren Aktivitäten als beispielgebend für die Zukunft zu analysieren. Ebenso ließe sich die bislang konstatierte Relevanz Digitaler Bildung analysieren, um sich hier abzeichnende Konturen als Ausgangspunkt zu wählen. All dies sind Wege, die im Folgenden in diesem Beitrag nicht, zumindest nicht primär, eingeschlagen werden sollen. Vielmehr wird derjenige Nukleus als Ausgangspunkt gewählt, in dem sich all diese Ansätze sinnvollerweise treffen sollten. Dies sind insbesondere die Herausforderungen, welche sich in Deutschland in den nächsten Jahren stellen werden und für die die Digitale Bildung Lösungsansätze offeriert. Von diesen ausgehend gedacht, lässt sich sowohl als erstrebenswert als
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auch als wahrscheinlich ableiten, was Digitale Bildung leisten können muss und auch, dass Ressourcen hierfür verfügbar sein müssen: Es erscheint zumindest rational, die Bildungsressourcen dort einzusetzen, wo unter gegebenen Umständen die größte Not existiert. Dies erscheint ebenso für alle der vorgenannten Herangehensweisen an Digitale Bildung nicht nur anschlussfähig, sondern auch aufschlussreich, weil sich dann, gezielt auf konkrete Probleme bezogen, das Potenzial zu Digitaler Bildung in Deutschland in allen der vorgenannten Herangehensweisen mobilisieren lässt. Besorgniserregend erscheint auf den ersten Blick, dass wir uns weder in den Bildungsstrukturen, noch in den Lerninhalten oder in den Lerntechnologien in Bezug auf Digitale Bildung auf dem aktuellsten Stand im internationalen Vergleich bewegen (vgl. Fürst 2020a, S. 116). Positiv gewendet sollten wir jetzt die Chancen ergreifen, die diesem Umstand inhärent sind. So ist noch nicht alles festgelegt, sondern die noch freien Spielräume der Digitalisierung lassen sich gezielt, konkret und gestalterisch kreativ zur Lösung der auf das Land zukommenden zukünftigen Probleme nutzen. Der Beitrag gliedert sich wie folgt. Im nächsten Abschnitt wird auf die Relevanz der Digitalen Bildung eingegangen, wie sie sich aus verschiedenen Perspektiven bereits jetzt abzeichnet. Dem gegenübergestellt werden im Folgeabschnitt die großen Problemstellungen, zu welchen Digitale Bildung in Zukunft einen signifikanten Lösungsbeitrag leisten kann. Hernach wird abgeleitet, wie genau Digitale Bildung Lösungsbeiträge beisteuern kann. Dies wird zuletzt in 10 Thesen einer Zukunftsagenda Digitaler Bildung für Deutschland kondensiert, bevor ein Fazit und Ausblick den Beitrag schließen.
13.2 Die Relevanz der Digitalen Bildung in Deutschland Die steigende Relevanz der Digitalen Bildung in Deutschland lässt sich bereits empirisch zahlreichen Anzeichen entnehmen. So nimmt die Digitalisierung der Bildung in zahlreichen Zukunftsstudien zur Bildung in Deutschland einen prominenten Platz ein. Beispielhaft ist die Studie „AHEAD – Internationales Horizon-Scanning: Trendanalyse zu einer Hochschullandschaft in 2030“ des Hochschulforums Digitalisierung zu nennen (vgl. Orr et al. 2019). Die Studie entwickelt mit den vier sich nicht wechselseitig ausschließenden Szenarien Tamagotchi, Jenga, Lego und Transformer ein Panorama (teil-)digitalisierter Hochschulen, welche Digitale Bildung auf unterschiedliche Zielsetzungen bewusst ausrichten bzw. sich auf derartige Szenarien fokussieren (Tamagotchi:
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R. A. Fürst
Die Hochschule überbrückt den Übergang von Schulausbildung in den Beruf; Jenga: Digitale Bildung baut sukzessive in Blöcken basierend auf einem breitbandigen Grundstudium Kompetenzen durch weitere Lernblöcke aus; Lego: Das Studium ist ein Resultat des Absolvierens von jeweils benötigten Bausteinen im Beruf; Transformer: Das Studium dient Berufstätigen bzw. lebenserfahrenen Menschen). Diese und andere Studien verdeutlichen, dass Digitale Bildung in ganz verschiedenen Kontexten das Potenzial hat, nachhaltige Änderungen hervorzurufen. Zahlreiche Veröffentlichungen prominenter Stiftungen zu den Potenzialen der Digitalen Bildung, z. B. im Bereich des personalisierten Lernens (vgl. z. B. Holmes et al. 2018; Robert Bosch Stiftung) oder des Monitorings der Gegebenheiten zur Digitalen Bildung (vgl. Schmid et al. 2017; Bertelsmannstiftung), existieren bereits. Erstere hebt beispielsweise die Potenziale einer Individualisierung von Bildung durch Digitalisierung hervor, aber auch die dadurch entstehende Komplexität aufseiten des Bildungsanbieters. Letztere verdeutlicht, welche Defizite Schulen im Bereich der Digitalen Bildung bislang noch aufweisen. So wird in dieser Studie beispielsweise darauf verwiesen, dass nicht nur Grundvoraussetzungen wie WLAN noch weit davon entfernt sind, flächendeckend eingesetzt zu werden, sondern auch das pädagogische Potenzial digitaler Technologien noch weitgehend brach liegt. Als bedürfte es eines letzten Belegs für die Relevanz des Themas, hat selbst die Kultusministerkonferenz sich bereits umfassend zur Thematik der Digitalisierung im Bereich der Hochschulen in drei Dokumenten geäußert. Die erste Äußerung bezieht sich auf eine seitens der KMK erzeugte Mindmap der wesentlichen Kompetenzen für eine digitale Arbeitswelt (Abb. 13.1). Die zweite Äußerung ist ein Beschluss zur Strategie der Kultusministerkonferenz Bildung in der digitalen Welt vom 08.12.2016 (hier in der modifizierten Version vom 07.12.2017; KMK 2017). In dem Beschluss legt die KMK ihre Auffassung darüber dar, welche Kompetenzen von Hochschulen ausgebildet werden müssen, um in einer digitalisierten Welt Teilhabe zu ermöglichen. Das Strategiepapier betont die zunehmende Diversität der Lernenden insbesondere in den weiterbildungsnahen Bereichen von Hochschulen. So sei der Kreis der Teilnehmenden an einer Weiterbildung typischerweise äußerst heterogen in Bezug auf das Alter, den biografischen und beruflichen Hintergrund oder die Vorqualifikation. Gleiches gelte in Bezug auf die Interessen und Ziele, welche es bei der Konzeption und der Durchführung des Weiterbildungsangebots zu berücksichtigen gilt (vgl. KMK 2017, S. 55). Das erklärt die Lehrplanfreiheit und den niedrigen Formalisierungsgrad der öffentlich verantworteten Weiterbildung – neben den durch Berufsbilder, Fortbildungsabschlüsse und Bezugsrahmen (z. B. Qualifikationen, Sprachen) formalisierten Bereichen. Das erklärt auch die nur
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Abb. 13.1 Kompetenzen in der digitalen Welt. (Quelle: KMK 2016, o.S.)
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geringen rechtlichen Vorgaben in Bezug auf Curricula, Qualifikationsvoraussetzungen der Dozentinnen und Dozenten sowie Prüfungsanforderungen und Abschlüsse (vgl. KMK 2017, S. 55). Die Potenziale digital gestützten Lernens werden hierbei insbesondere im Bereich der Autonomie und Motivation der Lernenden gesehen. Allerdings werden Lernende dadurch auch vor die Herausforderung und Chance gestellt, ihre Weiterbildung selbst auszuwählen, zu organisieren und zu steuern. Lernformate mit verschiedenen virtuellen und physischen Präsenzen fördern ein individuelles, auf die persönlichen Wissensbedarfe, Voraussetzungen und Zielsetzungen zugeschnittenes Lernen. Durch Ortsunabhängigkeit des Lernens können sich die Kursteilnehmenden mit Lernenden und Lehrenden überregional und in anderen Ländern global vernetzen. Mit Lernen in digitalen Lernumgebungen können verstärkt Zielgruppen angesprochen werden, die sich bisher eher selten oder wenig weiterbilden. Onlinegestützte Tools bieten zudem die Möglichkeit, individuelle Kompetenzen zu erfassen und zu dokumentieren und geben dem Nutzer Auskunft über den aktuellen Lernstand. Sie ermöglichen, die weitere Gestaltung des Lernprozesses und eine angemessene Begleitung der Lernenden. In ihrer Veröffentlichung zu den Empfehlungen der Hochschullehre vom 14.03.2019 (vgl. KMK 2019) wiederum legt die KMK dar, welche Empfehlungen sie Hochschulen ans Herz legt, um an der Digitalisierung und deren Chancen aktiv partizipieren zu können. Unter anderem wird hier empfohlen, eine Lehrerqualifizierungsoffensive zur Vorbereitung der Lehrer auf die neuen Möglichkeiten der Digitalen Bildung zu starten, die Curricula einschlägiger Studiengänge an die Herausforderungen einer digitalen Welt anzupassen und auf wesentliche neue Voraussetzungen der erfolgreichen Durchführung von Digitalisierung, z. B. durch Sharing von Inhalten und Formaten zwischen verschiedenen Bildungseinrichtungen, einzugehen (vgl. KMK 2019, S. 8–9). Zusammengefasst wird deutlich, dass die Kultusministerkonferenz mit ihren Veröffentlichungen Digitale Bildung ausgehend vom Learning Outcome vom Ende her denkt: Zunächst werden die Kompetenzen ermittelt, welche in der digitalen Arbeitswelt notwendig sind und dann wird über umfassende Empfehlungen und strategische Ausarbeitungen aufgezeigt, welchen Beitrag die Hochschulen hierbei leisten können. Im Gegensatz zu dieser Aufarbeitung ist allerdings kein konkreter Problembezug gegeben. All diese Initiativen zeigen zusammengefasst auf, dass das Thema Digitale Bildung sehr relevant ist, aber sie zeigen noch nicht, warum das Thema Digitale Bildung so relevant ist. Darum entwickelt der folgende Abschnitt noch einmal eine umfassendere Analyse, warum die Relevanz dieses Themas in derart umfassendem Maß gegeben ist. Ausgangspunkt sind hierbei der Einzelne, die Wirtschaft und zuletzt auch die Gesellschaft.
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13.2.1 Individuelle Relevanz: Förderung des persönlichen Entwicklungspotenzials Ausführungen zur Digitalen Bildung bei dem Einzelnen beginnen zu lassen, folgt einer gewissen Logik. So findet Bildung immer beim Einzelnen statt und sollte darum von diesem ausgehen. Die individuelle Relevanz der Digitalen Bildung lässt sich hier in einem Dreischritt entfalten. Zum einen stellt die Digitalisierung per se bestimmte Anforderungen an den Einzelnen. Diese äußern sich auf zwei Ebenen, einer beruflichen und einer lebensweltlichen Ebene. Zum anderen stellt Digitale Bildung gerade hier Lösungsmöglichkeiten auf einem bislang ungekannten Niveau zur Verfügung. Ganz allgemein gilt: Die Anforderungen der Digitalisierung an das Individuum sind neu. Der Mensch muss sich aufgrund der Digitalisierung in unterschiedlichen Rollen und als organisiertes System an die geänderten Rahmenbedingungen und Erfolgsvoraussetzungen in einer digitalisierten Welt anpassen. Neue Kompetenzen wollen erlernt werden, um dem Soll-Zustand gerecht werden zu können. Für Lehrende und Lernende, für jedes Individuum gilt es darum, sich hinsichtlich der Digitalisierung gezielt weiterzuentwickeln. Hinsichtlich der beruflichen Bildung gilt: Auf Berufstätigen lastet besonders viel Druck, sich weiterzuentwickeln. Der Einsatz neuer Medien, neuer Arbeitsweisen und die Anforderungen durch eine sich immer schneller ändernde VUCA1-Welt sind enorm. Um nicht unterzugehen, bedarf es neuer digitaler Fähigkeiten, wie sie z. B. im obig zitierten Digitalpakt des Kultusministeriums definiert sind. Abstrahiert könnte man viele dieser Kompetenzen auch den beiden Begriffen Digital Leadership und Digital Readiness zuordnen (Vgl. Fürst 2019b, KMK 2017, KMK 2016):
Digital Leadership Hierunter wird die Befähigung bzw. die Kompetenz verstanden, mit Leadership in digitalen Zeiten eines VUCA-Umfeldes wirkungsvoll zu sein. Der Fokus dieses Begriffes liegt in der erforderlichen Qualifizierung, die den klassischen Leadership-Begriff ergänzt oder verändert, um im digitalisierten Umfeld wirkungsvoll zu werden oder zu bleiben. (vgl. Fürst 2019b).
1VUCA
steht für die englischen Begriffe volatility, uncertainty complexity und ambiguity (vgl. Fürst 2019a, S. 18).
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Digital Readiness Hierunter wird die Befähigung bzw. die Kompetenz von Mitarbeitern verstanden, allein und gemeinsam als Organisationen in digitalen Zeiten eines VUCA-Umfeldes wirkungsvoll zu sein. Der Fokus dieses Begriffes liegt in der erforderlichen Qualifizierung und Reife individueller Mitarbeiter, welche die klassische Organisationslehre ergänzen oder verändern, um im digitalisierten Umfeld wirkungsvoll zu werden oder zu bleiben. (vgl. Fürst 2019b). Dabei sind die Begriffe allerdings nicht damit zu verwechseln, digitale Strategien zu entwickeln, digitalisiert zu führen und zu kommunizieren oder den Einsatz neuer Technologien oder die Digitalisierung von Geschäftsprozessen zu planen oder einzuführen (Vgl. Fürst 2019b). Vielmehr geht es um die lehr- und lernbaren Kompetenzen, die auch Personenkreise brauchen, die hiermit nachfolgend betraut sind und deren Kompetenzen über den nachfolgenden Erfolg solcher Aktivitäten entscheiden. Abb. 13.2 stellt dar, wie Digital Leadership und Digital Readiness in
Abb. 13.2 Vierfeldermatrix digitaler Reifegrade von Organisationen (Fürst 2020a, S. 117)
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einer Vierfeldermatrix je nach Stadium angeordnet werden können und somit vier unterschiedliche digitale Reifegrade von Organisationen zu konzeptionieren. Da der Mensch ein Schlüsselfaktor erfolgreicher digitaler Transformation ist, kommt auch der Bildung und dabei insbesondere der Potenzialrealisierung jedes Einzelnen für aggregierte soziale Systeme eine zentrale Bedeutung zu. Welche Normstrategien aus einer Standortbestimmung mit vorliegender digitalen Reifeprofilmatrix nach Fürst für Organisationen und insbesondere Unternehmen abgeleitet und verfolgt werden sollten, kann in dem Buch Digital Leadership und Digital Readiness – der Mensch als Schlüsselfaktor der Transformation (vgl. Fürst 2020b) vertieft werden. Wie die zwei Dimensionen und damit die digitalen Reifeprofile gezielt mittels Digitaler Bildung und dabei insb. mittels spezifischer digitaler Kompetenzen weiterentwickelt werden können, wird später in Abschn. 13.4.3 erläutert. Digitale Bildung ist ebenso relevant, und hiermit ist der zweite Bereich angesprochen, um die mit der Digitalisierung einhergehenden Herausforderungen für das persönliche menschliche Dasein zu bewältigen. So verweist Grottke (2019, S. 235) darauf, dass Bildung und aufgrund der ansteigenden Anforderungen der Digitalisierung für den Einzelnen Digitale Bildung ein entscheidender Faktor dafür ist, ob sich der oder die Einzelne in den Informationsfluten der digitalen Welt verzettelt, verliert und zerstreut oder ob ein persönlich als aktiv bewusst und sinnvoll empfundenes Leben gelingt. Warum Digitale Bildung – im Gegensatz zu konventioneller Bildung – hier eine besondere Rolle spielen könnte, wird deutlich, wenn in Betracht gezogen wird, wo diese Form der Bildung einen deutlichen Unterschied machen kann. Dieser Unterschied ist insbesondere in den Möglichkeiten Digitaler Bildung zu verorten, personalisieren zu können, d. h. auf das Individuum auf verschiedenen Ebenen einzugehen. In Anwendung der Kategorien aus der Studie von Holmes et al. (2018, S. 35–44) ließe sich die Relevanz Digitaler Bildung wie folgt gegenüber dem Status quo verdeutlichen: Digitale Bildung erlaubt eine Personalisierung der Ziele, d. h. der Grund für Bildung kann im Optimum von dem zu Bildenden selbst und eigenaktiv auf einem immer feineren Granularitätsniveau ausgewählt werden. Dies ersetzt, um eine bildhafte Metapher zu verwenden, ein Schlachtermesser durch ein Präzisionsskalpell. Bildung wird zugeschnitten auf das, was die zu Bildenden tatsächlich motiviert (vgl. früh dazu schon Alonso 2009). Als sinnlos empfundene und darum demotivierende Bildung könnte zunehmend der Vergangenheit angehören, denn Bildung wird an die Bedürfnisse des Einzelnen angepasst. Digitale Bildung erlaubt gleichermaßen eine Variation im Wie der Lernansätze. Während der eine besser allein lernt, lernt der andere besser in Gruppen,
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während der eine besser mit Klausuren lernt, lernt der andere besser mit Praxisprojekten. All das bewirkt, dass Lernen um ein Vielfaches effektiver wird, weil es an die individuellen Lernpräferenzen angepasst werden kann (vgl. Alonso et al. 2017). Damit nicht genug, kann durch Digitale Bildung auch das Was der Lernportionierung angepasst werden. Gerade wenn Menschen vielfachen einander widersprechenden Anforderungen ausgesetzt sind, vermag ein solcher Ansatz sehr viel zu bewirken: Jeder kann in der ihm verfügbaren Zeit und den ihm zur Verfügung stehenden Längen lernen. Gleichzeitig können Lernportionen der eigenen Konzentrationsfähigkeit angepasst werden. Mit Digitaler Bildung kann also, angepasst an den Kontext, Lernen überhaupt erst möglich werden, während bei traditioneller Bildung die Lernportionen extern und für alle Teilnehmer identisch bestimmt wurden. Auch das Wann der Lernzeit lässt sich durch Digitale Bildung an den zu Bildenden anpassen. So lernt der eine am Morgen, der andere am Abend und der Dritte in der Nacht besser. Traditionell wurden alle zur selben Zeit eingepfercht. Mit Digitaler Bildung hingegen kann der Lernerfolg gesteigert werden, weil dann gelernt wird, wenn dies auch den größten Effekt hat. Darüber hinaus lässt sich auch das Was der Lernpfade anpassen. So gilt, dass eine Aufgeschlossenheit in Bezug auf Lerninhalte und Methoden durchaus in verschiedenen Lebensphasen variabel ist. Insofern ist das Aufeinandertreffen von Bildungsinhalten und Lebenspfad bzw. Lernpfad eine weitere wichtige Determinante, welche den Bildungserfolg dramatisch verändern kann. Während traditionelle Bildung, starr durch den Lehrenden und die Organisation festgelegte Curricula kennt, erlaubt Digitale Bildung ein Eingehen auf Vorerfahrungen und auf Lernkontexte, die wichtige Determinanten bei der Optimierung von Lernpfaden sind. Schließlich erlaubt Digitale Bildung eine Variabilisierung des Lerntempos. Diese ermöglicht es ebenfalls, die Motivation hochzuhalten. So ist bekannt, dass bei sehr heterogenem Lerntempo in einer Gruppe, sich die Schnellen langweilen, die Langsamen abgehängt werden und auf jeden Fall niemand zufrieden mit dem Bildungserfolg ist. All dies kann mithilfe Digitaler Bildung verändert und abgeschwächt werden und wird den Lernerfolg deutlich steigern. Mit einer Personalisierung der Frage nach dem Wer, d. h. der Gruppe, in welcher sich ein Lernender besonders wohl fühlt bzw. in der Lage ist, sein Potenzial optimal zu entfalten, können ebenfalls neue Qualitäten der Bildung ermöglicht werden. Auch hier galt zuvor, zumindest in einigen Bildungssystemen (wie den USA) (vgl. Fürst et al. 2020), dass allenfalls eine Unterscheidung auf Basis des Rufs einer Institution und einer dadurch hervorgerufenen Selbstselektion stattfand.
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Zuletzt kann der Lernkontext, d. h. die Frage des Wo bewirken, dass Lernende in ganz anderer Weise lernen. So lässt sich beispielsweise Entrepreneurship und Innovation in einem auf Kreativitätsstimulation ausgerichteten virtuellen Co-Working-Space anders erlernen als in einem Plattenbau der siebziger Jahre. Im Rahmen der Digitalen Bildung lässt sich ein solcher Kontext, sind einmal die Vorlagen vorhanden, in ungeahntem Umfang variabilisieren. Zusammengefasst spiegelt sich auf der Ebene des Einzelnen die Relevanz Digitaler Bildung bereits darin, dass die Digitalisierung einerseits eine massive Steigerung der Anforderungen an den Einzelnen bewirkt. Gleichzeitig steigen jedoch auch die Potenziale Digitaler Bildung, welche eine korrespondierende Qualitätssteigerung in der Perspektive, sich durch Digitale Bildung auf diese Anforderungen vorzubereiten, ermöglichen. Voraussetzung ist, dass diese Potenziale auch realisiert werden.
13.2.2 Wirtschaftliche Relevanz: Nachhaltige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Auch eine nachhaltige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist, wie bereits in Fürst et al. (2020) gezeigt, zwingend an Digitale Bildung gebunden. Küppers (2021) zeigt auf, dass in Zeiten einer VUCA-Welt nicht mehr einfach langfristige Planungen mit Nachhaltigkeit gleichgesetzt werden, da die globalen Zusammenhänge zu komplex ausfallen und durch unerwartete Ereignisse – man denke an die durch Corona evozierten – dynamischen Rückwirkungen auf die Unternehmen zu vielfältig und vollkommen unvorhersehbar sind. Vielmehr wird sich als langfristig robust und damit nachhaltig nur erweisen, wem es gelingt, quasi als Fels in der Brandung zu wirken, d. h. wer eine gewisse Widerstandsfähigkeit in den eigenen Strukturen und Netzwerken aufweist. Beispielhaft sind lokale Netzwerkstrukturen oder Arbeitssymbiosen unter komplementären Partnern zu nennen, aber auch Geschäftsbeziehungen, in denen man sich immer wieder begegnen kann, weil alle Partner um die Verlässlichkeit sowie die Stärken und Schwächen der handelnden Personen wissen. Nun gilt, wie bereits in Fürst et al. (2020) angedeutet, dass insbesondere Deutschland zum Zweck der Realisation komparativer Vorteile im Sinne David Ricardos in der Vergangenheit sehr klar auf Spezialisierung z. B. in den wettbewerbsfähigen Branchen und Unternehmen gesetzt hat. Auch wurde in der sozialen Marktwirtschaft auf marktwirtschaftlichen Wettbewerb gesetzt und gleichzeitig ein soziales Auffangnetz eingerichtet. Die Autoren wiesen darauf hin, dass sich die hier herausbildenden bislang starken Branchen und gerade die
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mittelständischen Unternehmen immer mehr Digitalisierungsgiganten und natürlichen Monopolen wie Facebook, Google, Alibaba, Baidu etc. gegenübersehen. Gleichzeitig sorgte die starke Spezialisierung der Vergangenheit dafür, dass auch eine gewisse Anfälligkeit für die Wirkungen der Digitalisierung besteht. Sofern die Wirkung außerhalb des Fokus, außerhalb der Kernkompetenz dieser Unternehmen liegt, sind für solche Unternehmen sehr weitreichende Änderungen notwendig und es müssen ganz neue Strukturen aufgebaut werden. Auch gilt, dass es diesen Unternehmen nicht entspricht, in einer VUCA-Welt beständig den Fokus zu ändern. Für eine Wirtschaft mit solchen Eigenschaften gilt es darum, entsprechend der eigenen Tradition nachhaltige Handlungsmuster der Digitalisierung zu entwickeln, welche eine gewisse Robustheit aufweisen. Digitale Bildung liefert solche nachhaltigen Handlungsmuster, denn sie sorgt dafür, Menschen, auf deren Schultern das jeweilige Unternehmen ruht, dazu zu befähigen, sich auch in einer VUCA-Welt unter höchstem Wettbewerbs- und Veränderungsdruck robust und nachhaltig zu verhalten. So ist es kein Zufall, dass bestimmte, im Rahmen der Digitalen Bildung primär zu vermittelnde Kompetenzen, ein Verhalten im Sinne eines solchen Handlungsmusters fördern, weil sie dazu befähigen, unerwartete Entwicklungen abzufedern. Dies sind auf Ebene der Selbstkompetenzen beispielsweise Kreativität, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, lebenslanges Lernen sowie Zeit- und Selbstmanagement (vgl. Bohlen und Markgraf 2020, Kap. 4). All diese Kompetenzen sind sehr hilfreich, um mit neuen, unerwarteten Entwicklungen robust umzugehen und diese in einen Gewinn für das eigene Unternehmen umzuwandeln. Nichts anderes gilt im Bereich der im Rahmen der Digitalisierung wichtiger werdenden Sozialkompetenzen. So werden Kompetenzen wie Orientierung gebende Verlässlichkeit, transparentes Handeln, Vertrauensbildung und Kooperationsfähigkeit Schlüsselkompetenzen dafür, die angesprochenen krisenfesten Kooperationen zu ermöglichen. Gleichzeitig kann Digitale Bildung, insbesondere im Bereich der Lerntechnologie, noch einmal als eine weitere, bedeutsam unterstützende Maßnahme fungieren. Aufgrund der Schnelligkeit der Entwicklungen genügt es nicht mehr, auf die nächste Absolvierendengeneration aus den Hochschulen zu warten. Vielmehr muss Bildung flächendeckend verfügbar sein und auch als Weiterbildung on the job passieren (vgl. Fürst 2020a, S. 117). Digitale Bildung, die sich darauf ausrichtet, eine Lerntechnologie vorzuhalten und es ermöglicht, Bildung im genannten Sinne passgenau zu den gerade anstehenden Problemstellungen eines Unternehmens jeder beliebigen Person dieses Unternehmens on the job jederzeit und überall verfügbar zu machen (vgl. Apel und Apt 2016, S. 70–72), kann die Eigenschaften solcher Unternehmen noch einmal mit einem zusätzlichen (Lern-)
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Kontext versehen. Dieser Lernkontext ist geeignet, das Niveau an Robustheit im Angesicht einer VUCA-Welt und steigender Wettbewerbsintensität und damit Nachhaltigkeit korrespondierend zu den steigenden Herausforderungen für dieses Unternehmen deutlich zu erhöhen. Das ist allerdings auch nötig, denn ein Zurückbleiben in Bildungsstrukturen, Lerninhalten und Lerntechnologie bzw. der Vermittlung der angesprochenen für Nachhaltigkeit zwingend notwendigen Kompetenzen, führt angesichts dessen, dass die Herausforderungen in einer weltweit vernetzten digitalen Wirtschaft wachsen, zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit und gefährdet den Wohlstand und die Zukunft unserer Kinder (vgl. Fürst 2020a, S. 116).
13.2.3 Soziale und gesellschaftliche Relevanz: Stabilisierung eines sozialen demokratischen Gesellschaftssystems Mit der durch die Digitalisierung zunehmenden Vernetzung und Transparenz, aber auch mit den mithilfe der Digitalisierung möglichen Vervielfältigungen von Nachrichten werden ganz grundsätzlich neue Situationen geschaffen, welche – wie sich vielfach andeutet – geeignet sind, sozial und gesellschaftlich neue Spannungsfelder zu eröffnen (vgl. z. B. Faas und Sack 2016). Gleichzeitig können sie jedoch auch in ungeahntem Maße mobilisieren sowie Solidarität und Stabilisierung bewirken (vgl. Simsa und Rothberger 2016). Man kann hier in Bezug auf soziale Ungleichheiten stellvertretend auf die Rolle der Digitalisierung in der Flüchtlingskrise 2015 verweisen, in welcher Selfies der Bundeskanzlerin mit angekommenen Flüchtlingen wie jubelnd empfangene Flüchtlinge in Münchner Bahnhofshallen bis weit in große Flüchtlingslager verbreitet wurden und so den Flüchtlingsstrom noch einmal nachhaltig befeuerten und das Land an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit brachten. Es scheint ganz offensichtlich, dass gravierende Unterschiede im Wohlstand zwischen Nationen durch die Mechanismen der Social Media noch einmal ganz anders und viel fühlbarer transparent werden, als dies zuvor der Fall war. Und es wirkt nur natürlich, wenn Menschen in anderen Ländern auf dieser Basis entscheiden, dass sie ihre Lebensumstände – ggf. durch einen Wohnortwechsel – verbessern wollen. Digitalisierung bewirkt hier, dass eine dauerhafte Abgrenzung in Wohlstandsinseln nur noch schwierig möglich ist, weil die Transparenz über soziale Ungleichheiten entsprechend zu sozialen Bewegungen führt. Dass solche Bewegungen wiederum zu Massenbewegungen werden können, die Abgrenzungen mithilfe des Einsatzes von emotional batteries, d. h. emotionalen
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Zuspitzungen von Ungleichheiten verbunden mit einer starken Emotionalisierung, aufsprengen, ist in der Analyse von Social-Movement-Bewegungen hinreichend deutlich geworden (vgl. z. B. Jasper 2011, 2012). Digitale Bildung hat hier das Potenzial, als Schlüssel für eine Lösung dieser mittlerweile vielfach bekannten Probleme zu wirken. Dies gilt aus zwei Gründen. Zum einen kann Digitale Bildung bei geeigneter Ausgestaltung in Form einer Zeit- und Ortsunabhängigkeit an jeden beliebigen Ort der Welt exportiert werden. Damit ist sie ein Schlüssel für eine eigenverantwortliche Abmilderung von sozialen Ungleichheiten vor Ort. Deutlich wird dadurch ebenfalls vor Ort, dass ein Wohlstandsniveau an gewisse Voraussetzungen gebunden ist. Sofern sich Digitale Bildung hierbei an die Eigenschaften der Digitalisierung in Form einer Vervielfältigung von Grenzkosten von Null hält, kann dies zum anderen auch vergleichsweise und – in zuvor ungekanntem Ausmaß – kostengünstig geschehen. Bildung, welche soziale Ungleichheiten vor Ort abbauen kann, wird so als Digitale Bildung ubiquitär.
13.2.4 Fazit zur Relevanz Digitaler Bildung Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigten, hat Digitale Bildung auf ganz verschiedenen Ebenen ein sehr hohes Potenzial, positiv auf den Fortgang von einzelnen Menschen, Unternehmen aber auch Sozialsystemen und Gesellschaftssystemen einzuwirken. Da Digitale Bildung allerdings mit hohen Investitionen und fixen Kosten verbunden ist, kann dies nicht alles zeitgleich geschehen, sondern ist unter dem Gesichtspunkt der Knappheit ökonomischer Ressourcen zu analysieren. Fokuspunkt der folgenden Ausführungen ist es darum, auf diejenigen Probleme einzugehen, bei denen in naher Zukunft das höchste Potenzial zur Lösung mithilfe Digitaler Bildung besteht und aufzuzeigen, welchen Beitrag Digitale Bildung hier leisten kann. So können die Problemstellungen und Lösungen für Problemstellungen mithilfe von Digitaler Bildung als Pilotprojekte fungieren, welche eine Illustration des Potenzials Digitaler Bildung ermöglichen.
13.3 Künftige durch Digitale Bildung lösbare Problemfelder Als erstes künftig durch Digitale Bildung lösbares Problemfeld sei auf die Stabilisierung eines sozialen demokratischen Gesellschaftssystems hingewiesen, wie im vorigem Abschnitt, Abschn. 13.2.3, dargelegt. Im Folgenden wird
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zunächst das durch Digitalisierung wachsende Problemfeld des Verlusts alter Orientierungssysteme durch Entgrenzungen erläutert, bevor in Abschn. 13.3.2 die permanente Freisetzung von Arbeitnehmern und Umschulung freiwerdender Arbeitnehmer auf neue Berufe hin thematisiert wird. Schließlich werden in Abschn. 13.3.3 die Migration und Völkerwanderungen, in Abschn. 13.3.4 der Klimawandel und die Kreislaufwirtschaft sowie zuletzt in Abschn. 13.3.5 globale Probleme einer Weltgesellschaft als durch Digitale Bildung (zumindest zum Teil) lösbare Problemfelder erläutert.
13.3.1 Entgrenzungen: Verlust alter Orientierungssysteme Eine Wirkung der Digitalisierung und der hiermit verbundenen Vernetzung liegt darin, dass alte Orientierungssysteme wie z. B. Familie, regionale Bindung, klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit etc. an Bedeutung verlieren und zeitgleich vor allem eine deutliche Zunahme an Möglichkeiten resultiert, sich im Netz zu betätigen und vernetzt zu kommunizieren, was wiederum eine Zunahme an Information Overload und Entscheidungsmöglichkeiten, aber auch -notwendigkeiten bewirkt. Auch sorgen die Vielfalt wie auch die zahlreichen Lockin-Angebote im Netz dafür, dass jeder Mensch verstärkt zu Abgrenzungen veranlasst wird. Mit anderen Worten wird jeder vernetzte Mensch beständig auf die Notwendigkeit gestoßen, sich selbst abzugrenzen, weil menschliches Leben eben nicht unbegrenzt ist, sondern einer Beschränkung unterliegt. Solche Abgrenzungen müssen ebenfalls für das Verhältnis zu Künstlicher Intelligenz erfolgen, was gerade bei den anstehenden Substitutionsprozessen von Tätigkeiten schwerwiegende Abgrenzungs- und Motivationsprobleme hervorrufen kann, sofern diejenigen Tätigkeiten substituiert werden, welche als identitätsbildend aufgefasst werden: Warum sollte man sich durch Lernen entwickeln, wenn die eigenen Entwicklungen von einer Künstlichen Intelligenz ggf. schnell überholt werden? Vor diesem Hintergrund verwundert eine ganze Reihe von Studien nicht, welche zu dem Ergebnis kommen, dass zu viel Zeit vor dem Smartphone verbracht wird, zu viel emotionale Abhängigkeit von diesem herrscht und zu häufig neue Nachrichten gecheckt werden (vgl. z. B. Motorola 2018). Twenge et al. (2018) finden hierbei, dass mit erhöhter Nutzung neuer Medien (Social Media) und elektronischer Geräte (Smartphones) auch ein erhöhtes Ausmaß an depressiven Symptomen und Selbstmordraten unter US Jugendlichen resultiert. In Deutschland gaben in einer im Jahr 2018 erfolgten Umfrage auf LinkedIn 67 % der deutschen jungen Erwachsenen zu Protokoll, bereits vor ihrem 30.
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Geburtstag an einer handfesten Lebenskrise, einer Sinnkrise gelitten zu haben – Zeichen einer Verunsicherung von Erwachsenen, die vor dem Eintritt in ihr Berufsleben oder am Anfang von diesem stehen (vgl. Friese 2018). Ergänzt werden können diese Befunde um den Fehlzeitenreport 2019 des wissenschaftlichen Instituts der AOK. So ist seit mittlerweile 10 Jahren ein zunehmender Fehlzeitenstand aufgrund von psychischen Problemen festzustellen und es kommt zu einer immer stärkeren Verbreitung von psychischen Problemen unter Arbeitnehmern (vgl. Badura et al. 2019). Insgesamt lässt sich industriestaatenübergreifend und zunehmend auch generationenübergreifend diagnostizieren, dass neue Abhängigkeitsquellen ebenso wie neue psychische Pathologien durch die Digitalisierung entstanden sind (vgl. dazu auch Spitzer 2014). Zusammengenommen zeigen alle diese Befunde, dass es vielen Menschen zumindest noch nicht gelungen ist, die Veränderungen, welche die Digitalisierung und eine digitale Vernetzung involvieren, sinnvoll in ihr eigenes Leben zu integrieren. Bildungsauftrag Digitaler Bildung ist es angesichts dessen, zu einem sinnvollen Leben auch in einer digitalisierten Welt der Informationsüberflutung, der ubiquitären Vernetzung und der scheinbaren eigenen Bedeutungslosigkeit zu befähigen. Das beinhaltet einerseits sowohl die verstärkte Bildung im Bereich der Selbst- und Zeitmanagementkompetenzen als auch einen Kontext, in welchem dieses gelernt werden kann. Andererseits werden ganz neuartige Studiengänge für neuartige Krankheitsbilder und psychologische Kompetenzen überall dort notwendig, wo eine solche Bildung scheitert.
13.3.2 Permanente Freisetzung von Arbeitnehmern und Umschulung freiwerdender Arbeitnehmer auf neue Berufe hin Bereits im Jahre 2013 (aktualisiert wurde die Studie 2017) wiesen die beiden Wissenschaftler Frey und Osborne darauf hin, dass eine Vielzahl an Jobs durch die neuen digitalen Möglichkeiten auf Dauer entfallen würden. Sie bezifferten dieses Potenzial auf ca. 47 % der existierenden Jobs. Ihre Studie unterschied sich dahingehend von anderen Studien, dass die wegfallenden Jobs erstmals auch in signifikantem Ausmaß Tätigkeiten typischer Akademikerberufe beinhalteten, wie beispielsweise von Rechtsanwälten oder Steuerberatern. Weniger betroffen waren indes Sozialberufe, Gesundheitsberufe und vertriebliche Tätigkeiten. In der Studie von Dengel und Matthes (2015) wurde eine ähnlich geartete Studie
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für Deutschland durchgeführt und kam zu dem Ergebnis, dass insbesondere Fertigungsberufe und fertigungstechnische Berufe einem Substitutionspotenzial von über 70 % ausgesetzt sind. Erneut waren die niedrigsten Substitutionspotenziale in sozialen und kulturellen Dienstleistungsberufen zu verzeichnen. Derartige Studien sind insbesondere vor dem Hintergrund der Künstlichen Intelligenz immer bekannter geworden und haben eine Breitenwirkung entfaltet, welche selbst das öffentliche deutsche Fernsehen veranlasste, einen Futuromat zu entwickeln, der es jedem Zuschauer erlaubt beispielsweise eine Vorhersage zu treffen, zu welchem Grad das eigene Jobprofil durch die digitale Transformation bedroht ist (vgl. Trend Report 2020, S. 127). Wenngleich es falsch ist, zu behaupten, dass alle durch Künstliche Intelligenz und andere Technologien der Digitalisierung ersetzbare Tätigkeiten direkt dazu führen, dass Arbeitsplätze entfallen, nur weil alte Tätigkeitsprofile überflüssig werden und neuartige entstehen, bedeuten derartige Befunde indes in jedem Fall, dass anders als zu früheren Zeiten permanente und umfassende Umschulungen von Menschen aus alten Jobprofilen in neue nachhaltige Arbeitsplätze stattfinden müssen. Hierbei handelt es sich in der Tat um ein Massenproblem. So findet sich im Aufsatz von Kirschten (2021) beispielsweise Abb. 13.3, welche illustriert, welcher Weiterbildungsbedarf existiert, wenn schrittweise Menschen aus gefährdeten Berufen in ungefährdete und wachsende Berufe umschulen (müssen), weil ihre alten Tätigkeiten sukzessive entfallen. Neben die Arbeitslosigkeit, welche aus den Friktionen einer Umschulung entsteht, treten zudem in naher Zukunft aufgrund der – nicht nur von Corona, sondern auch von der sich bereits vorher abzeichnenden Rezession verursacht – steigenden Arbeitslosigkeit zusätzliche Fragen der Sicherstellung einer Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen. Besonders drängend erscheinen derartige Fragen bei jungen Arbeitnehmern. Betrachtet man die Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union bereits vor Corona, lässt sich ein erschreckendes Bild zeichnen (Abb. 13.4). Schon jetzt ist demnach zu konstatieren, dass offensichtlich die Bildungssysteme in vielen Ländern und Fällen nicht hinreichend sind, um eine adäquate Bildungsleistung für aktuelle und nachhaltige Employability sicherzustellen. Es ist zudem damit zu rechnen, dass ein wirtschaftlicher Abschwung die Unternehmen radikal dazu zwingt, weniger leistungsfähige Mitarbeiter zu entlassen, wollen sie selbst überleben. All dies wird auch die Notwendigkeit für Jugendliche und junge Erwachsene (nicht nur für Ältere im Sinne eines lebenslangen Lernens für ihre weitere Beschäftigungsfähigkeit) potenzieren, sich mithilfe von Digitaler Bildung eine langfristige Perspektive zu verschaffen.
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Abb. 13.3 Top Ten der gefährdeten und ungefährdeten Berufe. (Quelle: In Anlehnung an Kirschten 2021)
Auch aus Sicht des Staates stellt dies eine Notwendigkeit dar, da die zukünftige Leistungsfähigkeit eines Landes allein biologisch bedingt auf den Schultern der nachfolgenden Generationen liegt. Zusammengenommen lautet der Bildungsauftrag für die Digitale Bildung hier, einerseits eine derartige Umschulung aus vergangenen Kompetenzprofilen heraus und von Berufsanfängern mit heterogenen Voraussetzungen in neue Kompetenzprofile hinein rasch, effizient, fokussiert und erfolgreich zu vollziehen. Andererseits lautet der Bildungsauftrag, Bildung bereitzustellen, welche gezielt die Employability der jeweiligen Personengruppen erhöht.
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Abb. 13.4 Jugendarbeitslosigkeit in Europa. (Quelle: Statista 2020)
13.3.3 Migration und Völkerwanderungen Durch die Möglichkeit über digitale Medien in andere Länder und Kulturkreise aus der Ferne einzutauchen, ändert sich, wie bereits dargestellt, auch das Potenzial zu modernen Völkerwanderungen auf Basis der Informationen aus dem Netz über ungleich bessere Lebensverhältnisse andernorts. Betrachtet man allein die ansteigenden Ungleichheiten beispielsweise in Bezug auf die bereits betrachtete Jugendarbeitslosigkeit, ergibt sich ein bedeutendes Potenzial zu Migrationen schon allein in der Europäischen Union. Betrachtet man die existierenden Ungleichheiten weltweit und die ansteigende Armut aufgrund der Coronakrise, potenzieren sich diese Migrationen. In einer vernetzten Welt ist nicht mehr denkbar, sich auf Dauer in seinem Silo einzuigeln. Gleichermaßen kann ein einzelnes wohlhabendes Land wie Deutschland diese Ungleichheiten offensichtlich auch dann nicht abfedern, wenn es dies wollte. Gleichzeitig wird sich Deutschland in einer global vernetzten Welt nicht den Problemen anderer Länder entziehen können. Der Bildungsauftrag für die Digitale Bildung lautet darum einerseits, solche Völkerwanderungen entweder durch Digitale Bildung und damit auch die Kompetenz zur Lebensbewältigung in der jeweiligen Gesellschaft, dem jeweiligen Land zurückzuspielen, indem funktionierende Konzepte der Wohl-
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standserzeugung übertragen und zur Anwendung im jeweiligen Land durch die lokal ansässige Bevölkerung gebracht werden, um einen Beitrag zur eigenständigen Lebensbewältigung und Problemabmilderung vor Ort zu leisten. Andererseits lautet der Bildungsauftrag für die Digitale Bildung, einen Beitrag zur schnelleren Integration in das deutsche Gesellschaftssystem in einer Form zu leisten, welche ermöglicht, dass die Integration verbleibender Völkerwanderungen leistbar wird.
13.3.4 Klimawandel und Kreislaufwirtschaft Nicht erst seit der Fridays-for-Future-Bewegung ist bekannt, dass weltweit Klimaprobleme zunehmen. Manifest werden derartige Probleme beispielsweise in zunehmenden Dürren in Deutschland oder Europa, welche ganz konkrete Folgen für die Nahrungsmittelproduktion aufweisen. Der Bildungsauftrag für die Digitale Bildung lautet hier ganz konkret, einerseits durch Wissensdiffusion und Handeln eine auch ökologisch nachhaltige Form des Wirtschaftens und der Gesellschaft zu ermöglichen und insbesondere zu einem holistischen Denken über das eigene Unternehmen sowie den eigenen jährlichen Profit hinaus zu befähigen. Andererseits ist dazu zu befähigen, die Auswirkungen derartiger Klimaprobleme mithilfe der neuen digitalen Möglichkeiten zu bekämpfen, beispielsweise unter Einsatz von Sensorik und datenanalytischen Methoden in der Landwirtschaft, welche die Ertragskraft steigern. Ebenso spart, wie sich gerade aktuell beobachten lässt, die Digitalisierung ganz konkret durch eine Substitution des Transports von Menschen zu physischen Treffpunkten, sei es für konkrete Meetings und Konferenzen, sei es der Transport im Sinne einer Pendelei zum Arbeitsplatz, sofern Entsprechendes durch virtuelle Konferenzen oder Homeoffice ersetzt werden kann. Gleichermaßen kann durch eine Regionalisierung, z. B. der Versorgung mit Lebensmitteln (vgl. z. B. Olderog 2020), oder eine Regionalisierung der Güterproduktion, z. B. durch den alleinigen Transport von Ideen und nachfolgender Produktion über additive Verfahren wie den 3-D-Druck, deutlich an Ressourcen eingespart werden (vgl. z. B. Burkert 2021).
13.3.5 Globale Probleme einer Weltgesellschaft Auch in zwei weiteren Bereichen zeichnen sich zunehmend globale Probleme ab. Mit der Coronakrise ist nach der Spanischen Grippe 1918/1919 erstmals wieder eine weltweite Pandemie mit globalen Folgen eingetreten. Hierbei war
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sicherlich auch ein Grund für die schnelle Ausbreitung, dass der Ausbruch in China als ein regionales Problem aufgefasst wurde, anstatt die globalen Folgen sofort mit zu bedenken. Die dadurch entstehenden gesundheitlichen Folgen und das damit verbundene familiäre Leid führt zu einer problematischen Lage. In Form der dadurch verschärften, sich indes bereits vorher abzeichnenden globalen Rezession, der hierdurch schwer getroffenen vielfach durch zinsgünstigen Häuserkauf verschuldeten Haushalte und der um ihr Überleben kämpfenden Unternehmen zeichnet sich zugleich auch eine ökonomisch weltweit hochexplosive Lage ab. Dies trifft auf eine weltweit zunehmend fragile politische Situation. So ist in nahezu allen westlichen Gesellschaften ein aufkommender (häufig rechts zu verordnender) Populismus zu verzeichnen (z. B. Trump in den USA, Salvini in Italien, Nigel Farage in Großbritannien, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland, Bolsonaro in Brasilien), hinzu kommt der Erfolg populistischer Parteien in Europa (z. B. Le Pen in Frankreich, AfD in Deutschland etc.). Gemeinsam ist diesen populistischen Tendenzen, dass sie nahelegen, es gäbe einfache undifferenzierte Lösungen für komplexe Probleme. Aus dem Gemisch von derartigen Problemen, persönlichem Elend und Populismus – so lehrt die Vergangenheit – können sehr leicht Schuldzuweisungen und Kriege entstehen, weil klare Ursachen für aus der Vernetzung unvorhergesehen sich potenzierende Probleme gesucht werden. Dass in einer solchen Auseinandersetzung auch die potenzierten Möglichkeiten einer Digitalisierung Anwendung finden, daran kann wenig Zweifel bestehen. So erlaubt die Digitalisierung mit ihrer Beeinflussbarkeit des virtuellen Raumes, Informationen zu verzerren und diese verzerrten Informationen zudem über sog. Echokammern und präferenzbasierte Algorithmen nochmals zu verstärken (vgl. auch Fürst 2019b). Erinnert sei in diesem Kontext nur an den Cambridge-Analytica-Skandal in der Nachfolge des US-Wahlkampfs 2016 sowie die zahlreich aufkommenden Communities zu Verschwörungstheorien und rechts-, aber auch linkspopulistischen Inhalten, welche sich relativ erfolgreich gegen Fakten zu immunisieren wissen, indem sie ihre Thesen in vielfachen Variationen vervielfältigen, sodass in diesen Kontexten, mangels andersartiger Perspektiven, ein relativ einheitliches und klares – indes an den Fakten insgesamt gemessen stark verzerrtes – Weltbild entsteht. All dies birgt Spaltungspotenzial für eine plural angelegte demokratische Gesellschaft. Bildung, gerade Digitale Bildung, ist angesichts dessen eines der wenigen wirksamen Gegenmittel, die denkbar sind, weil diese ein Bewusstsein auszubilden in der Lage ist, dass nicht jeder Zweck jedes Mittel heiligt und die eigene Ursachenforschung bisweilen nicht nur fragil ist, sondern fehl geht (vgl. zu der hier insbesondere angesprochenen Medienkompetenz auch Ketter 2020).
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Der Bildungsauftrag für die Digitale Bildung in einer solchen Zeit lautet, ein holistisches Denken und Handeln in Basiskompetenzen als Bürger sowie Führungskompetenzen als Entscheidungsträger auszubilden, welches eine gemeinschaftliche Bewältigung derartiger Krisen ermöglicht und davon absieht, Spaltungstendenzen nachzugeben. So ermöglicht Digitale Bildung bei geeigneter Ausgestaltung und vorausgesetzt, die fraglichen infrastrukturellen Zugänge sind vorhanden (vgl. Orr et al. 2019, S. 19), die Abmilderung von Spaltungstendenzen und Falschinformationen, welche demokratiegefährdende Elemente aufweisen. Es ist mittlerweile gut erforscht, dass die tatsächliche Herausforderung bei der Digitalisierung nicht primär in den Social Bots liegt, sondern Falschinformationen insbesondere von Menschen verbreitet werden (vgl. Vosough et al. 2018). Verhindert werden kann dies durch eine Bildung, welche stark auf Interdisziplinarität fokussiert und vermittelt, dass und warum bestimmte Verhaltensweisen (z. B. die ungeprüfte Verbreitung von Falschinformationen) in einer vernetzten Welt problematisch erscheinen.
13.4 Erklärungsansatz eines holistischen Verständnisses Digitaler Bildung 13.4.1 Begriffsklärung Digitale Bildung Wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, hat Digitale Bildung tatsächlich das Potenzial für Problemstellungen, die die ganze Welt zunehmend betreffen, Lösungen zu offerieren. Ob diese Lösungspotenziale indes realisiert werden und in welcher möglichst optimalen Reihenfolge diese realisiert werden, hängt davon ab, ob Entscheidungsträger die richtigen Entscheidungen treffen und die Wirkungen dabei bedenken. Bildung betrifft das subjektive Verhältnis des einzelnen Individuums zu der es umgebenden Welt. Digitale Bildung wiederum beinhaltet, das Verhältnis des Einzelnen zur Welt im Lichte der durch Digitalisierung betroffenen und sich verändernden Gegebenheiten zu sehen. Das bedeutet indes auch: Da Bildung immer persönlich erfolgt, lässt sich Digitale Bildung nur durch die Bildung Einzelner erreichen. Erst deren Wirken bewirkt dann Änderungen in Unternehmen und der Gesellschaft (vgl. Fürst 2020a, S. 116). Allerdings ist die Reichweite Digitaler Bildung – in Anwendung der Möglichkeiten der Digitalisierung auf dem Bildungssektor – eine vollkommen andere. Bereitgestellt durch einen digitalisierten Bildungssektor vermag Digitale Bildung auf Dauer jeden zu erreichen und dies bedeutet, auch jeden in seinem Bildungsstand durch Digitale
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Bildung zu verändern. Hierbei ist Digitale Bildung „von hinten“ zu denken. Es geht darum, neue Kompetenzen zu bezeichnen, welche für eine Zukunft der Digitalisierung unabdingbar sind, an diesen Kompetenzen die Lernziele festzumachen, mit den Lernzielen die Lernresultate zu verknüpfen und zuletzt zu analysieren, welche Lerninhalte, welche Lernpädagogik und welche Lerntechnologie im fraglichen Fall zur Vermittlung geeignet sind bzw. wie deren optimales Zusammenspiel dafür zielgruppenspezifisch konfiguriert sein sollte. Demnach lässt sich Digitale Bildung wie folgt definieren (Abb. 13.5).
Digitale Bildung umfasst die von der Digitalisierung betroffenen und geänderten Bereiche der • Lerninhalte, • Lerntechnologie, • Lernpädagogik, • sowie die dadurch erzielten Lernresultate beim Lernenden. Letztere sind mittels digitaler Kompetenzen das Bildungsergebnis, welches zugleich einen Bildungszustand Digitaler Bildung von Personen beschreibt. Sehen wir uns nun die einzelnen Komponenten genauer an, welche zusammenspielen müssen, um die Lernresultate Digitaler Bildung zu erreichen.
13.4.2 Determinanten der Lernresultate Digitaler Bildung Das in Abb. 13.6 dargestellte pädagogische Dreieck der Digitalen Bildung erweitert das klassische Modell um die Lerntechnologie, die in der Mitte des Dreiecks angeordnet ist. Damit stellt die Lerntechnologie eine direkte Verbindung mit jedem Eckpunkt dar und eröffnet neben den direkten Verbindungen des Lerninhalts sowie des Lehrenden mit dem Lernenden zusätzlich eine indirekte Verbindung über die Lerntechnologie. Dies illustriert zugleich, dass dem Lernenden dadurch die Möglichkeiten eines individualisierten Selbststudiums erweitert werden. Eine weitere Änderung zum klassischen pädagogischen Dreieck liegt in der umgekehrten Ausrichtung, in welcher das Dreieck „auf dem Kopf“ steht. Dies soll den Fokus verdeutlichen, welcher impliziert, dass die Vielfalt an Möglichkeiten im Lernprozess und das Volumen an behandelten Inhalten und Arbeitsstunden (workload) sich zuletzt in dem verdichten, was an Lernresultaten (Learning Outcome) beim Lernenden ankommt. Zudem unterstreicht dies die
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Abb. 13.5 Herleitung des Begriffs der Digitalen Bildung. (Quelle: Fürst 2019b)
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Abb. 13.6 Das pädagogische Dreieck der Digitalen Bildung. (Quelle: Fürst 2019b)
Relevanz des Lernergebnisses für den gesamten Lernprozess. Im Folgenden werden die illustrierten Determinanten der Digitalen Bildung erläutert.
13.4.2.1 Lerninhalte In den vorherrschenden Debatten zur Digitalen Bildung liegt der Fokus häufig auf der Lerntechnologie und insbesondere auf der technischen Infrastruktur und Hardware. Letztere scheint dabei geeignet, die Notwendigkeit von inhaltlichen Weiterentwicklungen zu illustrieren. Mit den erweiterten Möglichkeiten der Hardware und wandelnden Anforderungen an eine aktuelle, erfolgreiche Nutzung wird in der IT auch die Software kontinuierlich weiterentwickelt. Zur Hardware werden demnach regelmäßige Software-Updates entwickelt und durchgeführt. Hingegen werden die Wirkungen der Digitalisierung und die sich damit ändernden Erfolgsvoraussetzungen leider zu selten und zu langsam in den zu vermittelnden Lerninhalten und Curricula angepasst und weiterentwickelt – insb.
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je weiter diese scheinbar fachlich von den nahen „Digitalisierungsfächern“, wie z. B. Informatik, entfernt sind. Erst sehr spät und gering erfolgte (bzw. erfolgt bis heute) z. B. die Vermittlung von verfügbarem Wissen zu digitalen Geschäftsmodellen und Plattformökonomie. Zeitgleich gilt jedoch, dass auch zu anderen Zeiten als veraltet eingestufte Lerninhalte, man denke z. B. an den Bereich der Software, plötzlich wieder so aktuell werden können, dass Spezialisten in diesem Bereich gesucht werden. Zusätzlich beeinflussen durch Digitalisierung veränderte fachliche Aspekte auch die Inhalte von anderen Disziplinen, wie bspw. eine veränderte Kommunikation über Social Media, die auch die Politikwissenschaften beeinflusst. Ein Bereich typischer aufgegriffener Lerninhalte Digitaler Bildung ist aktuell der Bereich der Künstlichen Intelligenz, wie dies auch in vorliegendem Werk erkennbar ist. So wird erst eine breitflächige, – möglichst berufsbegleitende – verbesserte Ausbildung über entsprechende KI-Studiengänge verwirklicht, d. h. Studiengänge, welche erlauben, die wertschaffenden Potenziale von KI zu realisieren, in der Wirtschaft ebenso breitflächig KI-Anwendungen einzusetzen und die damit verbundenen Potenziale zu heben (vgl. Schmeider 2019, S. 73–74). Auch hier gilt, dass für eine gewisse Zeit gesuchtes Expertenwissen plötzlich durch eine neue technologische Anwendung in Teilen deutlich reduziert werden kann (man denke an die Software AutoML, welche eine Anwendung gängiger Machine-LearningAlgorithmen nunmehr auch wesentlich weniger umfassend und intensiv ausgebildeten Personenkreisen erschließt). Angesichts dessen, dass Wissen im Wesentlichen und immer stärker ubiquitär und meist sogar open source verfügbar ist, stellt sich zudem die Frage, welcher Sinn darin besteht, sich Lerninhalte anzueignen, die von dritter Seite vorgegeben wurden. Warum und zu welchem Grade kann, so stellt sich die Frage, eine dritte Instanz besser einschätzen als der Lernende, was dieser braucht, um mit seinen Herausforderungen fertig zu werden? Solche Erkenntnisse legen Verschiebungen nahe. So verliert das Ziel, sich einen von dritter Seite („dem Experten als Person“) vorgegebenen Kanon anzueignen, an Sinnhaftigkeit. An die Stelle dessen tritt eine Aneignung von Kompetenzen zu spezifischem Problemlösungswissen. Es geht also nicht mehr darum, was man weiß, sondern darum, ob man jetzt die konkreten Probleme oder künftig die einen erwartenden Probleme lösen kann. Ein Fokus auf die Lösung konkreter Probleme jetzt bewirkt eine Verschiebung hin zu einer schnelleren konkreten Anwendbarkeit in der Praxis, die Studierende zu Problemlösern werden lässt und Lehrende zu Befähigenden. Ein Fokus auf die zu erwartenden Probleme wird häufig über Erwartungen jeweiliger Innungen oder Berufsverbände breitflächig gelöst werden können – beispielhaft sei für die Informatik die Gesellschaft für Informatik angeführt. Zuletzt
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werden Lehrende zunehmend dahin gehend gefordert, auf Studierende und deren bereits bestehende Fähigkeiten flexibel einzugehen, um auf dieser Basis deren Kompetenzen gezielt fortzuentwickeln. Dies bedeutet, immer mehr über ein Arsenal an Wissen zu verfügen, wo sich adäquate Lerninhalte befinden bzw. vernetzt im Team schnell an andere Lehrende übermitteln zu können, welche die für den jeweiligen Fall geforderten Kompetenzen besitzen. Lerninhalte werden so Stück für Stück situationsspezifisch und befähigen dazu, ganz konkret das Wissen zu vermitteln bzw. sich problemlösungsbezogene Methodenkompetenzen anzueignen, welche für die fraglichen aktuellen wie künftigen Situationen hilfreich sind.
13.4.2.2 Lerntechnologie Unter Lerntechnologien seien im Folgenden die vielen technischen Hilfsmittel verstanden, welche im Rahmen Digitaler Bildung die Überbrückung von Raum und Zeit sowie die Erreichbarkeit jedes einzelnen Lernenden ermöglichen. Wenn aus der Geschichte der Software eines gelernt werden kann, dann, dass sich diejenigen Lerntechnologien durchsetzen, welche Instrumente zur Steigerung der Wirkung und des Könnens der sie anwendenden Menschen sind, um deren Einzigartigkeit und Fähigkeiten in besonderem Maße zur Geltung zu bringen, und nicht diejenigen, welche ein vollständiger Ersatz für den Menschen sind, um diesen überflüssig zu machen. Daraus folgt auch, dass es zuerst und vor allem der Nutzen, die Bedienbarkeit und die Rüstzeit aus Sicht der Nutzer sind, welche über die Anwendung der Lerntechnologie entscheiden. Heutzutage findet sich eine unüberschaubare Vielfalt solcher Lerntechnologien. Zieht man beispielsweise Videosysteme zur Onlinevermittlung heran, lässt sich beispielsweise an Programme wie Jitsi, Big Blue Button, Adobe Connect, Skype for Business, Zoom, Webex, Go to Meeting und ähnliche denken. All diese Programme haben Stärken und Schwächen, was ihren Instrumentcharakter im Wettbewerb unterstreicht. So ist Jitsi gegenüber anderen Programmen besonders gut datengesichert, Big Blue Button erlaubt sehr gut die Separation einzelner Teilnehmer in einzelne Arbeitsgruppen und virtuelle Räume, Zoom ist besonders stabil, Skype for Business besonders verbreitet etc. Ähnliches gilt für Messengerdienste, bei denen sich an Telegram, Signal, Whatsapp etc. denken lässt. All dies ließe sich fortführen und es ist schon jetzt absehbar, dass die verschiedenen Tools sich noch bedeutend weiter ausdifferenzieren werden. Gleichzeitig lehrt die Softwaregeschichte auch, dass Netzwerkeffekte hier zu bedeutenden Unternehmen führen, aber eben auch immer mehrere Unternehmen verbleiben, die verschiedene Aspekte im Wettbewerb herausarbeiten.
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Tatsächlich haben aus einer holistischen, einer Metaperspektive viele Instrumente ihre Existenzberechtigung, denn nur in ihrer Vielfalt erlauben sie eine digitale Lehre so auszugestalten, dass viele unterschiedliche Lernende mit ihren eigenen Ansprüchen und Präferenzen erreicht werden können und so wirklich jeder notwendige Lerninhalt mit der jeweils korrespondierenden Lerntechnologie adäquat vermittelt werden kann. In einer nicht ganz untypischen deutschen Art übertönen mitunter die wichtigen Diskussionen um die infrastrukturellen Voraussetzungen, die unerwünschten Nebenwirkungen oder den Datenschutz die Würdigung der neuen Möglichkeiten, die für die Bildung konkret nutzbar gemacht werden können.
13.4.2.3 Lernpädagogik durch den Lehrenden Insbesondere durch den großen Anstieg an neuen und individualisierbaren Möglichkeiten in orts- und zeitunabhängigen Lernprozessen durch neue Lerntechnologien gewinnt die Lernpädagogik in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden – vor allem unter Nutzung der neuen Lerntechnologien – im Rahmen Digitaler Bildung massiv an Bedeutung. Denn hier können Lehrende den bedeutsamsten Unterschied bei den Lernenden machen. Insbesondere die erforderliche Veränderung im Rollen(selbst)verständnis der Lehrenden ist in diesem Kontext eine nicht zu unterschätzende Hürde, um die Potenziale Digitaler Bildung auch zur Entfaltung zu bringen. So gilt es auch die Lernpädagogik „von hinten“, d. h. vom Lernresultat her, zu denken. Zielsetzung ist, dem einzelnen Individuum Unterstützung dabei zu bieten, dass die standardisierten MindestInhalte in der erforderlichen Qualität beim Lernenden trotz einer Vielzahl an Lernpfaden ankommen und es dem Lernenden darüber hinaus möglich ist, sich dort zu vertiefen, wo dies den eigenen Interessen, Begabungen und Fähigkeiten entspricht. Das involviert eine hohe Aufmerksamkeit und ist integrativ durch den gesamten Prozess des Studiums zu denken, gilt es doch für das Individuum selbst, seine Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Dafür ist jedes Individuum darauf angewiesen, eine Vielfalt an neuen Möglichkeiten und Perspektiven kennenzulernen. Dies beginnt bereits mit der Auswahl eines geeigneten Studiums und geht weiter mit dem Lernpfad durch das Studium bis hin zu der konkreten Ausgestaltung von Onlinelehrveranstaltungen und Materialien (z. B. in Bildsprache, Text, Video etc.) sowie zur Auswahl der vermittelten Beispiele in den Studienmaterialien und deren Anknüpfung an der Lebenswelt der einzelnen Studierenden. Deutlich wird hierbei erneut: Die jahrzehntelange Prägung von synchronem Frontalunterricht markiert nur ein – vergleichsweise starres – System, dessen nunmehr sukzessiv verfügbarer Gegenpol eine mediengestützte begleitende Rolle des Selbstlernprozesses bei Lernenden mit asynchronen Inter-
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aktionen ist. Zugleich ist zu beachten, dass sich immer mehr erweist, dass es nicht die perfekte Lernform gibt, sondern vielmehr eine Lernform im Zusammenspiel von Lernresultat, Lernendem, Lehrendem und Lerninhalt zu bestimmen ist. Hierfür bedarf es einer großen „Toolbox“ an didaktischen Methoden der Fernlehre, wie einem besonders ausgereiften Wissensmanagement, welches Informationen über die Konstellation der vier genannten Aspekte zusammenbringt. Die Lerndidaktik, mittels derer die ausgewählten Inhalte vom Lehrenden zur Vermittlung aufbereitet werden, verändert sich auch aufgrund neuer Lerntechnologien und ergänzt die Lernpädagogik. Beispielsweise können inhaltliche Übungen in bestimmten Aufgabenbereichen so konzipiert und aufbereitet werden, dass der Lernende sofort automatisiert ein Onlinefeedback erhält. Eine Reaktion auf sich wiederholende administrative Fragen kann an Chatbots ausgelagert werden. Über Learning Analytics lässt sich für einen Dozenten bei geeigneter Ausgestaltung Wissen darüber bereitstellen, welche didaktischen Mittel für eine bestimmte Gruppe an Studierenden besonders geeignet ist. Gleichzeitig kann über eine Variation des Kontextes in Form der Studierendengruppen und deren Interaktion miteinander auch an der so bedeutsamen Sozialkompetenz ganz anders gearbeitet werden.
13.4.2.4 Lernresultat beim Lernenden Wie oben dargelegt, verdeutlicht die umgekehrte Darstellung des didaktischen Dreiecks der Digitalen Bildung die Relevanz des Lernresultats beim Lernenden. Ziel der Digitalen Bildung (sofern als Prozess verstanden) ist es schnell, flexibel und effizient Digitale Bildung im Lernenden zu erzeugen. Auch hier ändern sich die Möglichkeiten durch die Digitalisierung. Durch die datenbasierte Vermessung gerade der Onlinelehre kommt es zu einer Quelle für zunehmende OutcomeOrientierung. So lässt sich z. B. ceteris paribus vergleichen, ob bestimmte Klausuren abhängig von der Ausgestaltung der Lehre bzw. den Studierenden vom Resultat her besser oder schlechter ausfallen. Da Digitale Bildung insofern durch die neuen Möglichkeiten der Learning Analytics (vgl. Ifenthaler in diesem Werk, Kap. 22) Daten und Wirkungszusammenhänge quantifizierbar bereitstellen kann, ist zu erwarten, dass sich durch die Optimierung des Lernresultates als abhängiger Variable der jeweiligen Modellfunktionen die Bildungsergebnisse künftig verbessern lassen. Über die so identifizierbaren Best Practices kann sichergestellt werden, dass Digitale Bildung schneller und effizienter und zunehmend auch zielgenauer individualisiert vermittelt werden kann. Wird ein solches Wissen zudem mit Absolvierenden- und Alumnibefragungen oder Befragungen von deren Arbeit-
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gebern verknüpft, erhält man zudem Informationen darüber, ob das Lernresultat kompetenzgerecht abgeprüft wurde. Benötigte Bildung wird so relativ gut voraussagbar lehr- und lernbar.
13.4.3 Digitale Kompetenzen als Lernresultate beim Lernenden Auf sehr abstraktem Wege lässt sich die Zielsetzung von Digitaler Bildung damit bezeichnen, Studierenden auch digitale Kompetenzen zu vermitteln.
Digitale Kompetenzen sind neue oder wichtiger werdende Kompetenzen, um in der digitalisierten Welt erfolgreich neuartige Probleme zu lösen. Die hier gewählte Definition zeigt sofort auf, dass es sich nicht allein um neue Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt. Vielmehr schließt dies auch alle durch die Digitalisierung in ihrer Bedeutung für erfolgreiche Problemlösungen gestiegenen Kompetenzen ein. In diesem Sinne ist der Begriff dynamisch belegt und kann im Zeitablauf hinsichtlich seiner konkreten Inhalte immer wieder neue Konfigurationen benötigen. So werden aktuell Änderungen durch die Digitalisierung als „disruptiv“ oder als notwendige „Transformation“ der bestehenden Welt wahrgenommen. Wenn die digitalisierte Welt indes der Normalzustand geworden ist, stellt sich weitergehend die Frage, welche Herausforderungen dann in dieser zukünftigen Welt warten, die geeignet sind, auch den Begriff der digitalen Kompetenzen zu beeinflussen (Fürst 2019a). Durch diesen Gegenwartsbezug hilft der Begriff (im Gegensatz zuz. B. Future Skills, vgl. dazu z. B. Kirchherr et al. 2018), die Wirkung der Digitalisierung auf Personen und die Welt interdisziplinär als Ausgangspunkt einer Reflexion und Ableitung von Bildungszielen zu fokussieren. Unterscheiden lassen sich digitale Kompetenzen im Folgenden in die drei Kategorien digitale Basiskompetenzen, digitale Fachkompetenzen und digitale Führungskompetenzen (Abb. 13.7). Andere Kompetenzarten und deren Strukturierung lassen sich in diese Konzeption graduell oder ganz überführen, was eine lohnenswerte künftige und kontinuierliche Aufgabenstellung darstellt.
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Abb. 13.7 Die Sanduhr der Digitalen Bildung. (Quelle: Fürst 2019b)
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Folgende Konstrukte dabei beispielhaft aufzugreifen, ist durch deren Affinität zu dem Thema Digitalisierung augenscheinlich: • Medienkompetenz, • IT-Kompetenz, • Digital Citizenship, • Kollaboration, • Data Literacy, • digitales Lernen, • technologisches Fachwissen. Nach dem holistischen Verständnis des Autors (vgl. Fürst 2019a, b; Fürst et al. 2020) gehören dazu ebenso traditionelle Kompetenzen, die in ihrer Relevanz künftig für Digitale Bildung zu steigen scheinen, wie bspw. • komplexes Problemlösen, • Kreativität, • Selbstmanagement, • Abstraktionsfähigkeit, • Durchhaltevermögen, • unternehmerisches Handeln & Eigeninitiative.
13.4.3.1 Digitale Basiskompetenzen Digitale Basiskompetenzen umfassen Kompetenzen, die jeder Bürger benötigt, um sich in einer digitalisierten Welt gelingend und selbstbestimmt bewegen zu können. Es handelt sich also um Schlüsselqualifikationen, die jeder als mündiger Bürger, Digital Citizen und Mitarbeiter einer Organisation oder eines Unternehmens haben sollte. In diese Kategorie gehören z. B. Aspekte wie • Medienkompetenz, • Selbstmanagementkompetenz, • Entscheidungskompetenz infolge der Informationsüberflutung, • die Fähigkeit, digital zu lernen, aber auch • digitale Kommunikations- und Kollaborationskompetenzen. Diese Kompetenzen müssen jeweils breitflächig in der gesamten Bevölkerung vorhanden sein, damit überhaupt eine Teilhabe an den Chancen der Digitalisierung gesichert werden kann und sich die Risiken der Digitalisierung nicht durchsetzen.
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13.4.3.2 Digitale Fachkompetenzen Mit Digitalen Fachkompetenzen lassen sich all jene Kompetenzen bezeichnen, welche nicht schon durch die digitalen Basiskompetenzen abgedeckt sind und welche jene Kompetenzen bezeichnen, die nunmehr mit der Digitalisierung eines Fachbereichs zusätzlich zu den vorher bereits notwendigen Fachkompetenzen bestehen. Es handelt sich also um diejenigen Kompetenzen, die weiterhin Grundlage von Arbeitsteilung und in diesem Sinne auch Grundlage von Curricula und Ausbildungen sind. Hierunter fallen auch die spezifisch erforderlichen Fachkompetenzen der in den Future Skills vorgestellten Spezialisten für den Umgang mit transformativen Technologien (vgl. Kirchherr et al. 2018). Von diesen Kompetenzen braucht es letztlich so viele, wie in einer arbeitsteiligen Gesellschaft jeweils benötigt werden. Da dies abhängig von den Herausforderungen einer Gesellschaft wechselt, gilt, dass Digitale Bildung auch implizieren sollte, dass jeweils besonders schnell und effizient neue Fachkompetenzen aufgebaut werden können, beginnend von der Festlegung der zu vermittelnden Kompetenzen über die zu absolvierende Prüfung und die gewählten didaktischen Instrumente.
13.4.3.3 Digitale Führungskompetenzen Zuletzt bedarf es digitaler Führungskompetenzen. Mit diesem Kompetenzkanon sei bezeichnet, ob ein Individuum das Potenzial hat, allein oder gemeinsam mit anderen die (strategischen) Rahmenbedingungen zu entwickeln, in denen sich eine selbstgesteuerte Organisation erfolgreich in einem digitalisierten Wettbewerbsumfeld bewegen kann. Beim Managen von komplexen Herausforderungen gehört auch die Fähigkeit dazu, die damit verbundene Mehrdeutigkeit auszuhalten (Diversitätskompetenz und Resilienz). Laut Bohlen (2019, S. 287) gehören dazu weiterhin bspw. • die Fähigkeit zur Vernetzung und Kooperation, • Lernfähigkeit und -bereitschaft oder auch • die Fähigkeit Vertrauen aufzubauen durch Empathie, Sinnvermittlung und Glaubwürdigkeit. Es sei nun gedanklich einmal der in den vorigen Abschnitten vorgestellten Definition von Digitaler Bildung – inkl. der dargestellten wesentlichen Determinanten und der dargelegten offenen, übergeordneten und dynamischen Definition von digitalen Kompetenzen sowie der steigenden Relevanz dieser für den künftigen Lösungserfolg neuer Probleme – gefolgt. Dann ist die Bildung von solchen digitalen Kompetenzen als Lernresultat beim Lernenden als das zentrale
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Bildungsziel Digitaler Bildung anzustreben. Dieser Sichtweise zu folgen, soll durch diese komparativen Vorteile zu anderen Alternativen motiviert werden: 1. Im Zeitalter verkürzter Kommunikation, wird zumindest in der sprachlichen, öffentlichen und medialen Debatte der Begriff Digitale Bildung eher transportiert, als ein spezifischer erläuternder und dadurch zwingend längerer Begriff. 2. Deshalb wird erwartungsgemäß eine Belegung dieses verkürzten Begriffes im erweiterten und holistischen Verständnis dieses Werkes durch erhöhte Reichweite und Multiplikation – und damit in der inhaltlichen und handlungsorientierten Wirkungsentfaltung – besser verbreitet. 3. Damit bleiben insb. die immer schnelleren Veränderungen und die Wirkungen der Digitalisierung nachhaltig im Fokus der Akteure und werden kontinuierlich auf Lerninhalte, Lernpädagogik und Bildungsziele der Lernresultate bezogen und überprüft. 4. Dabei erlauben die kategorisierten drei wenigen digitalen Kompetenzarten eine fortlaufende Zuordnung neuer Erkenntnisse und Anforderungen und damit auch eine inhärente veränderbare Gewichtung für die Bildungsziele und somit für den künftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anwendungserfolg. Wie erläutert, ist diese Definition damit eine temporäre, die in Zukunft wieder auf den Begriff Bildung zurückgeführt werden kann, wenn die digitalisierte Welt die „normale“ Welt geworden ist und die Durchdringung der digitalen Transformation in den hier vorgestellten wesentlichen Determinanten der Digitalen Bildung in Deutschland hinreichend erfolgt ist. Die inhaltliche Anordnung der zwei Dreiecke in Abb. 13.7 soll nicht nur die Lerner- und Ergebniszentriertheit der Digitalen Bildung und das wichtige Bildungsziel, dadurch digitale Kompetenzen zu vermitteln, illustrieren. Die Silhouette der Darstellung erinnert nicht zufällig an eine Sanduhr. Dadurch soll vor dem Hintergrund der internationalen Standortbestimmung im zweiten Beitrag dieses Werkes (vgl. Fürst et. al. 2020) auch die Assoziation einer ablaufenden Sanduhr abgerufen werden, um den Rückstand und die Dringlichkeit der Entwicklung der Digitalen Bildung in Deutschland zu veranschaulichen. Wie in Abschn. 13.2.1 erläutert, kann der Reifegrad der Befähigung, mit dem Leadership in digitalen Zeiten wirkungsvoll zu sein, auch als Digital Leadership und der Reifegrad der Befähigung von Mitarbeitern, als Organisation in digitalen Zeiten wirkungsvoll zu sein, als Digital Readiness beschrieben werden. Wird neben den vorgestellten Matrixquadranten bzw. deren digitaler Reifeprofile
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(digitale Opfer, digitale Träumer, digitale Rohdiamanten, digitale Champions) eine weitere Ebene für die kulturelle Dimension aufgespannt, ergeben sich die in Abb. 13.8 dargestellten digitalen Performance-Kulturen. Die fraglichen digitalen Performance-Kulturen lassen sich wie folgt charakterisieren: • Eine „digitale Wüsten-Kultur“ ist charakterisiert durch niedrige Digital Leadership und Digital Readiness. Sie bringt die besten Digitalstrategien schnell und nachhaltig ohne Wirkung zum Verdorren – man könnte auch formulieren: „Digitale Wüsten-Kulturen essen digitale Strategien zum Frühstück, Mittag- und Abendessen.“ • Eine „digitale Transformations-Kultur“ entwickelt sich heterogen durch mehrere Phasen und bringt Digitalstrategien langsam zum Leben – der
Abb. 13.8 Digitale Kompetenzen zur Förderung einer digitalen Exzellenz-Kultur. (Quelle: Fürst 2019b)
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Wirkungsgrad von präzisen Digitalstrategien wird indes zu wenig ausgeschöpft und durch mögliche Rückentwicklungen zusätzlich beschränkt. • Eine „digitale Exzellenz-Kultur“, charakterisiert durch hohe Digital Leadership und hohe Digital Readiness, hält das beste Klima für schnelle, erfolgreiche und nachhaltige Realisierungen von Digitalstrategien bereit. Sie stellt ein optimales Gewächshaus für strategische Anpassungen und neue digitale Strategien dar. Mit der gezielten Förderung jeder der drei dargestellten digitalen Kompetenzarten lassen sich digitale Exzellenz-Kulturen in Organisationen entwickeln (vgl. Fürst 2020b), die den besten Nährboden künftiger Erfolge darstellen. Auf eine Gefahr sei an dieser Stelle hingewiesen: Wer mit Maßnahmen die diagonale Abkürzung von links unten direkt nach rechts oben zum Digital Champion anstrebt, kann scheitern. Beide Dimensionen (Digital Leadership & Digital Readiness) müssen gezielt entwickelt werden! Nur damit kann die kulturelle Voraussetzung der notwendigen digitalen Exzellenz-Kultur entwickelt werden, ohne die Digital Champions nicht existieren können. Ein wichtiger Ansatz, um die Digital Readiness nachhaltig zu erhöhen, ist, so viele Mitarbeiter als möglich gezielt weiterzubilden, um digitale Basiskompetenzen zu erwerben. „Jede Organisation kommt an den Punkt, dass der ‚Grundwasserspiegel der digitalen Allgemeinbildung der Belegschaft‘ zum begrenzenden Faktor weiterer Hebung von Potenzialen wird!“ (Fürst 2020a, S. 119). Über gezielte Weiterbildung der digitalen Führungskompetenzen lässt sich die Reife des Digital Leadership entwickeln und ohne gezielte Bildung von digitalen Fachkompetenzen wird man nie beim Digital Champion in einer digitalen Exzellenz-Kultur ankommen. Am exemplarischen Beispiel der AKAD University kann nicht nur illustriert werden, wie digitale Lerntechnologien eingesetzt werden, damit sich Mitarbeiter flexibel, individuell und effizient neben dem Beruf weiterbilden können, sondern auch, wie in den Bildungsprogrammen gezielt digitale Kompetenzen gefördert werden. Somit kann durch ein extern angebotenes digitales Fernstudium oder Weiterbildungen on the job auch die digitale Kulturperformance im Unternehmen über lebenslanges Lernen der Mitarbeiter neben dem Beruf akzeleriert werden. Die AKAD University vermittelt • digitale Basiskompetenzen: Dazu zählen alle Weiterbildungen und Studiengänge durch das digitale Studienmodell und das Studium Digitale. • digitale Fachkompetenzen: Durch das digitale Studienmodell und das Studium Digitale sowie innovative digitale Fachstudiengänge wie Data Science, Big Data Management, Digital Engineering, Digital Marketing etc.
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• digitale Führungskompetenzen: Durch das digitale Studienmodell und das Studium Digitale sowie spezielle Managementstudiengänge wie Digital Leadership & Communication, Digital Management & Leadership etc. (Vgl. Fürst 2019b) Die KI-Potenzialnutzungskurve illustriert die Annahme, dass nicht, wie häufig erwartet, allein die digitalen Fach- und Führungskompetenzen der kritische Pfad der Potenzialnutzung von Künstlicher Intelligenz sind, sondern die digitale Allgemeinbildung letztlich zur Handbremse der KI-Potenzialnutzung von Organisationen und der Gesellschaft wird, weil nur durch diese die Akzeptanz und Nutzung ausgeschöpft wird. Da es generell zu erwarten ist, dass sich umfangreiche Investitionen in Digitale Bildung von digitalen Kompetenzen und digitale Kulturperformance nachhaltig rentieren, sollten diese in der Gesellschaft – und insbesondere in der Politik und Wirtschaft – gezielt gefördert werden.
13.5 10 Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung Nach der Neuausrichtung der ältesten privaten Fernhochschule Deutschlands zu einer konsequent digitalen Fernhochschule (vom Geschäftsmodell, über die Strategie, Prozesse und Strukturen bis zum digitalen Studienmodell und Angebotsportfolio) in den Jahren 2014 bis 2016, zeichneten sich aufgrund der Eigenschaften einer digitalen Fernhochschule bestimmte Änderungen und Entwicklungspfade in Art und Form der durch die Hochschule ermöglichten Bildung ab. Der Autor fasste seine gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen daraufhin in den folgenden 10 Thesen zur Zukunft der Bildung für deren gezielte Weiterentwicklung und den wissenschaftlichen Diskurs zusammen. Zum ersten Mal außerhalb der Hochschule wurden die nachfolgenden 10 Thesen zur Zukunft der Bildung am 14.11.2017 bei der nicht öffentlichen GSE-Tagung von Personalverantwortlichen aus der Industrie (vgl. Fürst und Werner 2017) formuliert. Öffentlich wurden sie dann am 30.01.2018 auf der Learntec in Karlsruhe (vgl. Fürst 2018). Mittlerweile zeigt sich, dass diese Einschätzungen nicht nur für die AKAD University spezifisch zutrafen, vielmehr sind aus den Thesen Entwicklungstendenzen geworden, die zumindest im Fernstudium bereits seit einiger Zeit wettbewerbsübergreifend zunehmend wahrnehmbar sind und nicht erst seit der Corona-Pandemie Bedeutung entfalten. Da diese Thesen somit mittlerweile weithin im Bildungssektor spürbare Entwicklungstendenzen beschreiben und weiterhin für die Zukunftsausrichtung
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Digitaler Bildung Orientierung geben können, sollen diese kurz vorgestellt werden. Die Abb. 13.9 fasst die 10 Thesen zusammen. Hierbei werden anhand der 10 Thesen zwei unterschiedliche Bereiche deutlich. So beschreiben die ersten fünf auf das Individuum zielenden Bereiche letztlich die Auffächerung eines zuvor starren Angebotes durch digitale Möglichkeiten, die dadurch erst eine Konzentration auf die Situation, die Bedürfnisse und die Ziele des Lernenden ermöglicht, wie sie ohne digitale Möglichkeiten in dieser Form undenkbar war. Dadurch wird erkennbar, dass die Form der Bildung in der Vergangenheit immer lediglich eine (auch in Zukunft weiter verfügbare) Form der Bildung innerhalb von vielen Möglichkeiten markierte. Durch die nunmehr stattfindende Auffächerung der Individualisierung und Personalisierung des Lernens, wird es allerdings für das Individuum möglich, sich genau für diejenige Form der Bildung zu entscheiden, welche für es selbst die richtige ist. Mit anderen Worten werden hier in nahezu idealtypischer Weise die Ideen realisiert, welche Bologna trieben, nämlich der Shift from teaching to learning. Der zweite Teil der Thesen hingegen legt ein notwendiges Komplement dazu offen, nämlich eine holistische Denkweise, welche sich in einer Auflösung von Abschottung, Separierung, Hierarchie und Ressourcendiskriminierung manifestiert und an die Stelle dessen befruchtende Interaktion und wechselseitige Vernetzung treten lässt. Illustrieren kann man dies insbesondere an den Aspekten 6, 8 und 10. Der sechste Punkt impliziert seitens des Professors, dass er Lernende individuell auf ihren Lernwegen fördert und in einer vernetzten Welt kein absoluter Wissensvorsprung und kein von dem Professor absicherungsfähiger aktueller Wissenskanon mehr existiert. Vor diesem Hintergrund kann es für Professoren wie Studierende sinnvoller sein, in Interaktion das zu erlernende Wissen zu bestimmen und dabei bspw. auch einen Rekurs auf Rahmenwerke von Berufsverbänden etc. zu nutzen. Solches trifft vor allem beim lebenslangen Lernen Berufstätiger zu, die aktuelles Wissen und Erfahrungen über relevante Probleme und Lösungsansätze mitbringen. Dies aber setzt in deutlichem Gegensatz zum traditionellen Professorenbild voraus, dass ein Professor dazu in der Lage und willens ist, von einer eigenen Wissensdemonstration abzusehen und sich vor allem darauf ausrichtet, das individuelle Lernen des Studierenden in den Mittelpunkt zu stellen. Dadurch wird, was vorher nicht der Fall war, die Wissensvermittlung zwischen Professor und Studierendem auf diejenigen Aspekte zugeschnitten, bei welchen tatsächlich Anknüpfungspunkte zwischen beiden existieren. Die Wissensausschüttung, welche den Studierenden dann mit gigantischen Wissensbeständen nach dem Motto „Friss oder flieg!“ konfrontierte, und das korrespondierende „Bulimie-Lernen“ gehören damit, weil hoch ineffizient, der Vergangenheit an.
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Abb. 13.9 10 Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung
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Ebenso gehört die mit dem fest bestimmten Wissenskanon einhergehende Bestimmung einer fixen Input-Output-Kontrolle abstrakter, nur sehr unwahrscheinlich je wieder notwendiger Inhalte der Vergangenheit an. Zukünftig muss, weil der Wissenskanon sich nach einer möglichst raschen prospektiven Anwendung richten sollte, an diese Stelle eine Wegstreckenbestimmung auf Basis eines individuellen Kompetenzprofils treten, welche sorgfältig das für kommende Aufgaben notwendige Lehrmaterial auswählt, um die fraglichen Kompetenzen im problemlösenden Anwendungsbezug nachhaltig zu vermitteln. Erneut gehört dadurch vergeblich erworbenes Wissen, welches hernach nie mehr gebraucht und schnell wieder vergessen wird, zunehmend der Vergangenheit an. Ein alter, gerade in Deutschland langgehegter Traum war stets Bildung für alle verfügbar zu machen. Betrachtet man die Versuche in den 60er-Jahren über das Fernsehen bildungsferne Schichten zu erreichen, könnte man dazu neigen zu glauben, dass dies schlichtweg aufgrund der Gebundenheit an den Kontext nicht möglich sei. So zeigten doch die damaligen Ergebnisse, dass die entsprechenden Fernsehsendungen vor allem die Kinder bereits entsprechend gebildeter Eltern erreichten. Mit einer sensitiv auf den Lernkontext reagiblen Digitalen Bildung, welche im virtuellen Raum selbst Kontext setzen kann, wird dies jedoch Schritt für Schritt anders. Hier kann theoretisch und immer mehr auch praktisch jeder Mensch genau dort abgeholt werden, wo er steht. Zugleich wird es möglich, wie geschildert, dies hocheffizient zu vollziehen. Damit wird Bildung für jeden bezahlbar und sei es über ein Sharing-Modell, welches Geber und Nehmer von Bildung an den Früchten der Bildung in einem vereinbarten Verhältnis teilhaben lässt. Zudem wird der Zugang für Menschen weniger begrenzt, die über weniger persönliche Ressourcen verfügen und/oder die strukturellen Voraussetzungen nicht erfüllen können. Wenn vornehmlich das Lernergebnis zählt und flexible, heterogene, asynchrone Wege offen und durchlässig sind, können bestimmte Zielgruppen an Digitaler Bildung teilhaben, denen vorher aus diesen Voraussetzungen heraus der Weg versperrt war, weil sie diese nicht erfüllen konnten. Freilich zeigen die Thesen 6 und 8 ebenfalls, dass das Lernen für den Lernenden in diesem Sinne ein lebenslanges Lernen wird, welches immer wieder mit neuen Facetten konfrontiert. Zuletzt ergibt sich auf dieser Basis ein System Digitaler Bildung, welches in jede Richtung durchlässig ist. So kann Bildungsmaterial über automatisierte Übersetzung in jeder Sprache dargeboten werden und über einen Sharingansatz unter allen ökonomischen Bedingungen weitergegeben werden. Zugleich wird es nicht mehr sinnvoll sich abzuschotten, ist doch ein derartiges System Digitaler Bildung darauf angewiesen, die richtigen Bildungsinhalte am richtigen Ort zur richtigen Zeit der richtigen Person zu vermitteln und nicht mehr allein irgendjemanden an irgendeinem Ort zu irgendeiner festgezurrten Zeit zu bilden.
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Zusammenfassend legen die bereits in 2017 versuchsweise formulierten Thesen damit den Blick auf zwei zentrale Paradigmenwechsel frei, welche sich durch folgende Merkmale auszeichnen: vom angebotsgetriebenen Lehren für Gruppen in vorgegebenen Strukturen zum nachfrageorientierten und flexiblen lebenslangen Lernen Einzelner sowie von Abgrenzung zur Kollaboration und Integration von Ländern, sozialen Schichten, Rollen, Lern- und Berufsphasen. Diese fortgeschrittenen Entwicklungen haben für die Zukunftsagenda Digitale Bildung (nicht nur) in Deutschland weiterhin nachhaltig Gültigkeit. Dabei fächern sie die Möglichkeiten zu bilden nicht nur nachhaltig auf, sondern ermöglichen durch Digitale Bildung ein neues Niveau an Bildung. Gleichzeitig ersetzen sie die alten Bildungsformen nicht und machen diese auch nicht überflüssig. Sie sorgen lediglich dafür, dass der Möglichkeitenspielraum von Bildung voll ausgereizt werden kann, was eine bislang ungekannte Anpassung an den Einzelnen ermöglicht.
13.6 Zukunftsgestaltung der Digitalen Bildung in Deutschland Es sei noch einmal zusammengefasst. In diesem Aufsatz wurde zunächst auf die Relevanz Digitaler Bildung eingegangen, wie sie sich bereits in verschiedensten Veröffentlichungen und Beschlüssen zeigt. Danach wurde herausgearbeitet, dass gerade Digitaler Bildung angesichts von fünf sich abzeichnenden globalen Problemfeldern ein Bildungsauftrag zukommt. Digitale Bildung kann allerdings auch einen außergewöhnlichen Lösungsbeitrag leisten, so das fragliche Potenzial der Digitalen Bildung realisiert wird. Wie genau Digitale Bildung ausbuchstabiert werden muss, um eine entsprechende Realisierung von Potenzial zuzulassen und welche Verschiebungen in der Bildung notwendig sind, um dieses Potenzial zu realisieren, wurde im nächsten Schritt dargelegt. Kondensiert wurde dies in 10 Thesen zur Zukunft der Digitalen Bildung in Deutschland, die der Autor auf Basis seiner persönlichen Erfahrungen in der Umsetzung von Digitaler Bildung als Geschäftsführer und Kanzler der ältesten privaten deutschen Fernhochschule mit 60 Jahren Erfahrung, der AKAD Hochschule Stuttgart, gewonnen hat und denen mittlerweile zumindest partiell bereits zuzusprechen ist, zu allgemeinen Entwicklungstendenzen geworden zu sein. Abschließend seien die Kerneinsichten dieses Aufsatzes zu den gesellschaftlichen Potenzialen Digitaler Bildung noch einmal in fünf Punkten zusammengefasst.
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1. Digitale Bildung ermöglicht die Schließung beliebiger Qualifikationsbedarfslücken In den auch durch die Digitalisierung selbst beschleunigten Zyklen neuer Bildungsanforderungen und Qualifikationen können herkömmliche Bildungsangebote zunehmend den Bedarf an notwendigen Fachkräften im Kontext des lebenslangen Lernens nicht mehr ausreichend und nicht mehr ausreichend schnell decken. Dies wiederum gefährdet die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit und somit auch den künftigen Wohlstand (nicht nur) von Deutschland. Digitale Bildung kann durch ihre Technologienutzung, Individualisierung, Vielfalt und Flexibilisierung eine Ressourcen-Effizienz ermöglichen und damit diese Lücke schließen, indem sie die Wegstrecke von einem gegebenen Bildungsstand zu dem fraglichen Qualifikationsbedarf determiniert und die Bildungsinhalte zur Deckung dieses Bedarfs digital und damit direkt in der Anwendung vor Ort am konkreten Problem bereitstellt. 2. Digitale Bildung erlaubt die Erhöhung des (künftigen) Bildungsniveaus Die Möglichkeiten der Individualisierung der Digitalen Bildung können zudem das nachhaltige Kompetenzlevel jedes Einzelnen und damit in Summe auch das einer Belegschaft und Gesellschaft als Ganzes erhöhen. Neben persönlicher Betreuung durch Tutoring im Selbstlernprozess eröffnet die Technologie weitere Möglichkeiten von individuellem Feedback zum Lern- bzw. Wissensstand (z. B. durch kontextsensitives Feedback bei Onlineübungen). Zudem eröffnet die Vielfalt an Möglichkeiten bessere Lernresultate durch die Auswahl von Lernwegen und -tools, die den individuellen Lerntyp effektiver fördern. Die damit einhergehenden Möglichkeiten sorgen dafür, dass sich die Bildung an den zu Bildenden und dessen Fähigkeiten, Präferenzen und Bedürfnisse anpasst und stellt ein wichtiges Potenzial, mithilfe dessen Personenkreise, die mit Bildung zu erreichen sind, wesentlich verbreitert werden können. Bildung kommt damit in Schichten und in Regionen an, die bislang hierfür unerreichbar waren. 3. Ausschöpfung des Bildungspotenzials jedes Einzelnen Im Kontext eines lebenslangen Lernens – und insbesondere nach der typischen Lebensphase eines extern gesellschaftlich geförderten und akzeptierten Vollzeitstudiums – ist neben dem grundsätzlich vorhandenen individuellen Potenzial die Mobilisierung von verfügbaren und begrenzten individuellen Ressourcen (z. B. Zeit, Geld, Energie) für die weitere persönliche Entwicklung (=Potenzialausschöpfung) eine weitere wichtige Determinante, die durch die Flexibilisierung der Digitalen Bildung gefördert und vielfach erst ermöglicht wird. So können durch Digitale Bildung Freiräume ohne konfliktäre Ziele in Verantwortlichkeiten (Beruf, Familie etc.) flexibel dann in das individuelle Lernen investiert werden,
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wenn sich diese ohne große Widerstände auch realisieren lassen (orts- und zeitunabhängig). So sorgt Digitale Bildung für Chancen- und Leistungsgerechtigkeit. 4. Effizienz der Realisierung bei der Bildungsinstitution und beim Lernenden Der Ressourceneinsatz zur Bildungspotenzialausschöpfung kann zudem bei der Digitalen Bildung in zweifacher Weise effizienter sein, was darüber hinaus Möglichkeiten eröffnet, Bildungschancen gerechter zu verteilen. Zum einen ist bei großen Anbietern der Skalierungseffekt digitaler Geschäftsmodelle realisierbar, was die Kosten je Student/Lernendem senkt (unabhängig davon, ob diese öffentlich oder privat zu begleichen sind). Das beinhaltet vielfach auch, dass bei Bildungsinhalten, welche mit einmaligen Fixkosten hergestellt werden, nach hohen Anfangsinvestitionen eine Vervielfältigung mit Grenzkosten nahe Null realisiert werden kann. Zum anderen kann der Lernende seinen Ressourcen-Input für das Lernresultat optimieren. Beispielsweise kann er entscheiden, ob er die Reisezeit und -kosten für die Anfahrt zu einer Präsenzveranstaltung investiert. Er kann diese Zeit auch effizienter als zusätzliche Lernzeit an seinem Ort und/oder virtuell nutzen. Oder er nutzt seine Zeit effizienter, um individuell auf seinem aktuellen Wissensstand aufbauend und in seinem eigenen Lernprozess und Tempo die Inhalte zu verinnerlichen, als in einer großen Lerngruppe mitunter zu warten, bis der Durchschnitt (oder langsamere Lerner) das Lernziel erreicht haben, bevor der Dozent fortfährt und auf dieser Basis inhaltlich weiter aufbaut. 5. Nutzung des Lösungspotenzials für künftige Problemfelder Durch die gerade genannten vier Punkte gilt, dass Digitale Bildung sukzessive als Hilfe zur Selbsthilfe fungieren kann. Bildungsinhalte werden so ubiquitär für jeden individualisiert auf die eigenen Bedürfnisse bezogen verfügbar. Das bewirkt zugleich, dass sich Personen Digitale Bildung rund um den Globus verfügbar machen können, um Probleme konkret und vor Ort zu lösen, so sie dies anstreben. Es ist davon auszugehen, dass dieser auf Eigeninitiative und -verantwortung basierende Ansatz um ein Vielfaches wirksamer und nachhaltiger ist als zentralistische Vorgaben oder der Transfer finanzieller Mittel. Da der Erfolg der Potenzialentfaltung der Digitalen Bildung auch mit der Auflösung von Paradoxa einhergeht, arbeitet der Autor und Herausgeber dieses Werkes aktuell auch an der Postulierung von 20 Thesen-Paradoxa zur Digitalen Bildung. Um einen ersten Blick in diese Forschungswerkstatt zu gewähren, seien nachfolgend dafür drei Paradoxa ausgewählt, für deren Auflösung zugleich zum Ende dieser Abhandlung zur besseren Realisierung der Potenziale der Digitalen Bildung in Deutschland motiviert werden soll:
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• Obwohl der Fokus der öffentlichen Debatten und inhaltlichen Auseinandersetzungen auf der Lerntechnologie liegt, können die großen Potenziale der Digitalen Bildung nur über eine Lernerzentriertheit identifiziert und realisiert werden. • Obwohl die IT-Infrastruktur durch die steigende Relevanz der neuen Lerntechnologien zum Werttreiber von Bildung aufsteigt, wird sie zum strukturellen Hindernis der Digitalen Bildung in Deutschland. • Obwohl die gesellschaftlichen Potenziale Digitaler Bildung zunehmend identifiziert, ideologisch akzeptiert und in Strategien formuliert werden, können diese nur sehr langsam und unzureichend ohne einen strukturellen und kulturellen Wandel realisiert werden, da Deutschland generell eine hohe Risikoaversion und geringe Veränderungsbereitschaft charakterisiert und insb. der Hochschulbereich eine „beharrliche Innovationsimmunität“ aufweist. Vor diesem Hintergrund sollten Entscheidungs- und Verantwortungsträger in Deutschland im Sinne des chinesischen Wortes wei-chi – welches neben der Bedeutung Krise gleichzeitig auch mit der Bedeutung Chance belegt ist (Fürst et al. 2007, S. V) – die gesellschaftliche „Zwangsdigitalisierung“ durch die sogenannte Corona-Krise (Covid-19-Pandemie) dazu nutzen, um insbesondere auch bei oben skizzierten Herausforderungen und Voraussetzungen für eine umfangreiche Hebung der Potenziale der Digitalen Bildung in Deutschland schneller und nachhaltig voranzukommen.
Literatur Alonso, G. (2009). Kompetenzförderung an der Hochschule: Eine hochschuldidaktische Konzeption und Evaluation von Lernszenarien zur integrativen Vermittlung von Schlüsselkompetenzen. Göttingen: Sierke. Alonso, G., Blumentritt, M., Olderog, T., & Schwesig, R. (2017). Strategien für den Lernerfolg berufstätiger Studierender. Wiesbaden: Springer. Apel, J., & Apt, W. (2016). Digitales Lernen. DIGITALISIERUNG Bildung|Technik|Innovation (S. 67–75). Heidelberg: Springer. Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., & Meyer, M. (Hrsg.) (2019). FehlzeitenReport 2019, Schwerpunkt: Digitalisierung – Gesundes Arbeiten ermöglichen. Berlin: Springer. Bohlen, W. (2019). Digital Leadership – Wie verändert die Digitalisierung die Mitarbeiterführung und was müssen Personalmanager bereits heute tun? In R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation – Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven (S. 277–292). Wiesbaden: Springer.
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R. A. Fürst
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Prof. Dr. Ronny Alexander Fürst ist Geschäftsführer und Kanzler der AKAD University, die als älteste private Fernhochschule Deutschlands auf das digitale Fernstudium neben dem Beruf spezialisiert ist. Als Vize-Präsident für Digitale Bildung des Bundesverbands der Fernstudienanbieter und im Verband der privaten Hochschulen (VPH) vertritt er die deutschen Fernhochschulen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Er forschte an der Anderson School of Management (UCLA) in Los Angeles. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt auf der Digitalen Bildung, Digital Leadership und der digitalen Transformation. Seiner Einladung als Herausgeber des Handelsblatt-Management-Forums folgten Professoren-Kollegen führender Business Schools (2/3 zählten zu den Global Top 30) in Amerika (z. B. Harvard, Yale), Asien (z. B. CEIBS, ISB) und Europa (z. B. INSEAD, St. Gallen). Seine Bücher werden von internationalen Kapazitäten und Medien wie bspw. dem Dean der MIT Sloan School of Management, dem Harvard Business Manager oder Industrievorständen bspw. von Lufthansa und Hugo Boss rezensiert.
Herausforderungen und Gefahren der Digitalen Bildung in Deutschland
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Inhaltsverzeichnis 14.1 Keep Calm And Carry On. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 14.2 Yuval Noah Harari: Homo Deus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 14.3 Shoshana Zuboff: Überwachungskapitalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 14.4 Jaron Lanier: Alles abschalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 14.5 Nachgerechnet: Tatsächliche Kosten des DigitalPakt Schule . . . . . . . . . . . . . . 358 14.6 Datenschutz und Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 14.7 Demokratie vs. technologischen Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 14.8 Basisthesen und Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 14.9 Der pädagogisch ausdifferenzierte Einsatz von IT im Unterricht. . . . . . . . . . . 366 14.10 Mit auf den Weg gegeben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Zusammenfassung
Wer sich als Pädagoge und Wissenschaftler mit dem Thema Digitalisierung im Kontext von Unterricht, Lehre und Bildungsprozessen befasst, stellt schnell fest: Kaum jemand realisiert die Tragweite der durch Digitaltechnik und Netzwerke möglichen und von IT-Konzernen forcierten Transformation von Bildungseinrichtungen zu immer stärker automatisierten, kybernetisch gesteuerten Beschulungs- und Prüfanstalten. „It’s the economy, stupid“ wird zum Mantra auch der Bildung. Der Begriff Learning Analytics als Teilaspekt R. Lankau (*) Hochschule Offenburg, Offenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_14
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von Big Data Analytics weist ebenso auf Automatisierungstechnik für Lernprozesse wie der Begriff der datengestützten Schulentwicklung (Hartong, Learning Analytics und Big data in der Bildung, 2019). Mit Summit Learning (Facebook), Google Classroom oder Apple Education sind vollautomatisierte Systeme in den USA bereits im Einsatz. Der DigitalPakt Schule schafft die technischen Voraussetzungen für die Beschulung per Netz und Cloud in Deutschland (Lankau, Bildungsmarkt Schule. Tatsächliche Kosten des Digitalpakt Schule und verdeckte Interessen, 2019).
14.1 Keep Calm And Carry On Herausforderungen und Gefahren von Digitaltechnik für Bildungsprozesse „Keep Calm And Carry On“ („Bleib ruhig und mach weiter“), lautete ein Spruch auf einem Propagandaplakat der britischen Regierung im Zweiten Weltkrieg. Das Poster hatte das Informationsministerium zusammen mit zwei anderen Plakaten für den Fall eines schweren Militärschlags entwickelt, um die Bevölkerung moralisch zu stärken. Das Plakat wurde zwar zu Kriegszeiten ebenso wenig verwendet wie die beiden anderen Sprüche („Die Freiheit ist in Gefahr. Verteidige sie mit all deiner Macht“ und „Dein Mut, deine Fröhlichkeit, deine Entschlossenheit bringen uns den Sieg“), gewann aber nach seiner Veröffentlichung im Jahr 2000 große Popularität. Alle drei Sprüche können heute als Mittel gegen die permanente Digitalpropaganda dienen und gegen falsche Behauptungen, etwa die Alternativlosigkeit von Digitaltechnik, immunisieren. Der flächendeckende Auf- und Ausbau der digitalen Netze ist schon jetzt erkennbar eine konkrete Gefahr für Demokratie und humane Gemeinschaften, wie das Beispiel China zeigt. Auch Digitaltechnik, wie sie derzeit aus dem Silicon Valley kommt, liefert die technische Infrastruktur für einen totalitären Überwachungsstaat, der sich irritierenderweise dem Wesen nach nicht von staatstotalitären Systemen etwa Chinas unterscheidet – nur dass es Überwachungs-Kapitalismus heißt (Zuboff 2018a, b). Was bleibt vom Menschen, wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen? Und wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn jede Faser von Individualität – längst nicht mehr nur jede Abweichung von der Norm – als Datenpunkt erfasst und in neuen Zusammenhängen verarbeitet wird – bei den einen vom Staat [China; Anm. d. Autors], bei den anderen von privaten Datenriesen? [USA; Anm. d. Autors] Die Rückgewinnung des politischen Raumes – gegen die Verrohung und Verkürzung der
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Sprache und der Debatten, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley –, das ist die drängendste Aufgabe! (Steinmeier 2019)
Die Forderung nach „Rückgewinnung des politischen Raumes“ bedeutet, dass wir bereits in der Defensive sind. Steinmeier stellt daher klar: „Nicht um die Digitalisierung der Demokratie müssen wir uns zuallererst kümmern, sondern um die Demokratisierung des Digitalen!“ (ebda.). Damit wiederholt sich einmal mehr, was schon für andere technische Entwicklungen konstatiert werden musste: Es werden Techniken eingesetzt, deren Folgen nicht absehbar sind. Die tradierte Metapher dafür ist der Zauberlehrling, der zwar Prozesse starten, aber nicht ohne fremde Hilfe (den Zauberer) beenden kann. Das Gegenmittel, die Technikfolgeabschätzung (TA), gilt allerdings in technikeuphorischen Kreisen als innovationshemmend und geschäftsverhindernd. Die Herausforderungen und Gefahren auch der Digitalisierung liegen dabei nicht primär in der Technik selbst – Rechner sind im Wesentlichen Datenverarbeitungsmaschinen – als vielmehr bei den Menschen, die Programme für diese Maschinen entwickeln und für ihre Zwecke einsetzen. Cui bono? (Wem nutzt es?) – ist auch hier einmal mehr die entscheidende Frage. Digitaltechnik, mobile Endgeräte und Netzwerke sind die technische Infrastruktur für Neue Märkte und Geschäftsfelder der Datenökonomie. Dabei wird nicht mehr nur über das Netz kommuniziert und konsumiert. Die bei der Netznutzung entstehenden Daten selbst werden zur Ware. Aus den Verhaltensmustern der Nutzerinnen und Nutzer im Netz werden Persönlichkeitsprofile erstellt, mit denen diese Nutzer in ihrem Verhalten und in ihren Einstellungen beeinflusst werden können. Nudging (Anstupsen) heißt die konsumorientierte und sich selbstoptimierende Variante in den USA, Citizen Scoring die staatlich verordnete Verhaltenskontrolle in China. Zu Beginn profitieren auch in westlichen Märkten zunächst die Radikalen und Rücksichtslosen, bevor rechtsstaatliche und gesellschaftlich vereinbarte Strukturen greifen können. Das galt für den Manchesterkapitalismus, das gilt heute für den Digital- sowie den Überwachungskapitalismus aus dem Silicon Valley.
14.2 Yuval Noah Harari: Homo Deus Mit Netzwerkdurchsetzungsgesetz und der europaweit gültigen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) sind zwei Eckpfeiler realisiert, um dem Datenhunger der weltweit agierenden IT-Konzerne Einhalt zu gebieten. Apple und Microsoft diskutieren darüber, solche Regeln auch für den US-Markt zu
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etablieren, weil sie zwar auch Nutzerdaten sammeln, aber primär Produkte und Dienstleistungen verkaufen. Facebook und Google hingegen wehren sich vehement, weil deren Geschäftsmodelle auf dem „kostenlosen“. Angebot von Dienstleistungen und den dafür eingeforderten Auswertungs- und Vermarktungsrechten von Nutzerdaten basieren. Dazu kommen die Dataisten und Tech-Propheten wie die Transhumanisten, die den Menschen durch Technik erst aufrüsten, im letzten Schritt jedoch durch Technik ersetzen wollen. Aus Datenverarbeitungssystemen als Werkzeug wird ein autonomes, sich selbst reproduzierendes System, dem sogar ein fiktives, maschinelles Bewusstsein angedichtet wird, wie es Harari in Homo Deus exemplarisch beschreibt. Der Mensch ist nur noch Hilfskraft des Internet of Things (IoT) und Datenspender. Bislang galten Daten lediglich als der erste Schritt in einer langen Kette geistiger Aktivität. Man ging davon aus, dass Menschen aus Daten Informationen gewannen, Information in Wissen verwandelten und Wissen in Klugheit. Dataisten dagegen glauben, dass Menschen die ungeheuren Datenströme nicht mehr bewältigen können und deshalb Daten nicht mehr zu Informationen und schon gar nicht mehr zu Wissen oder Klugheit destillieren können. Die Arbeit der Datenverarbeitung sollte man deshalb elektronischen Algorithmen anvertrauen, deren Kapazitäten die des menschlichen Gehirns weit übertreffen. (…) Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle verspricht er zudem den Heiligen Gral zu liefern, der uns seit Jahrhunderten versagt bleibt: eine einzige übergreifende Theorie, die alle wissenschaftlichen Disziplinen von der Musikwissenschaft über die Ökonomie bis zur Biologie vereint. Glaubt man dem Dataismus, so sind Beethovens Fünfte Symphonie, König Lear und das Grippevirus nur drei Muster des Datenstroms, die sich mit den gleichen Grundbegriffen und Instrumenten analysieren lassen. (Harari 2017, 498)
Zwei Dinge werden mit diesem Zitat deutlich: 1. Durch den Aufbau einer komplexen technischen Infrastruktur, die mithilfe von immer mehr Kameras, Mikrofonen und Sensoren im öffentlichen Raum immer mehr Daten generiert und mit Nutzerdaten aus digitalen Endgeräten (Smartphones, Tablets, Smartwatches, Wearables) kumuliert, lassen sich unendliche Datenmengen generieren, die qua Masse nur noch maschinell (algorithmisch) ausgewertet werden können. Statt über die Sinnhaftigkeit dieser allumfassenden Datensammelei und der damit einhergehenden Quantifizierung des menschlichen Lebensraums und menschlichen Verhaltens nachzudenken, wird das technisch Mögliche (Daten sammeln, speichern, auswerten) perfektioniert. Daten werden nicht selektiv und
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zweckgebunden, sondern summarisch und perspektivisch erfasst: Alles, was verdatet werden kann, wird verdatet, auch wenn man mit diesen Daten vielleicht erst in ein paar Jahren und erst mit noch zu entwickelnden Algorithmen etwas anfangen kann. Die Datenspender (=die Nutzer) werden nicht gefragt bzw. die Zustimmung über (i. d. R. nicht gelesene, nur weggeklickte) allgemeine Geschäftsbedingungen (AGBs) eingefordert. Das sprichwörtlich Kleingedruckte ist für normale Nutzer ohnehin meist unverständlich, die eingeräumten Rechte zur Datennutzung durch die Anbieter weder vom Umfang noch in den Konsequenzen absehbar. 2. Aus der Pluralität der Wissenschaften mit ihrer Vielzahl an Fragestellungen, Methoden und Forschungsansätzen wird eine Monokultur mit einem letztlich autoritären und normativen Wissenschaftsverständnis, die zwar Allgemeingültigkeit einfordert, aber nicht einmal zwischen Organismen, Technik und Kulturleistungen zu differenzieren weiß. Wer glaubt, einen Universalschlüssel (den heiligen Gral) der Wissenschaft gefunden zu haben, ist kein Wissenschaftler mehr, sondern ein Glaubender, in diesem Fall ein Technik- und Algorithmengläubiger. Es ist der Glaube, alles quantifizieren und algorithmisch berechnen zu können. Es sind substanzlose Heilslehren, die das Unvermögen endgültiger Aussagen in der Wissenschaft durch Dogmen und Glaubenssätze ebenso ersetzen wie das Wissen um die Beschränktheit empirischer Daten, die immer einer Interpretation bedürfen. „Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt“, ist das passende Bonmot von Albert Einstein dazu. Moderne Wissenschaft weiß zudem um die Vorläufigkeit jeglichen Wissens. Das antike, vermutlich vorsokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ korrespondiert zeitlos mit Poppers kritischem Rationalismus. Jegliches Wissen ist infrage zu stellen und stetig zu verifizieren. Mono-scientistische Modelle einer „einzigen übergreifenden Theorie“ sind ein Rückfall in voraufklärerische Zeiten des Dogmas. Menschen sind lediglich Instrumente, um das Internet der Dinge zu schaffen, das sich letztlich vom Planeten Erde aus auf die gesamte Galaxie und sogar das gesamte Universum ausbreiten könnte. Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott. (Harari, Homo Deus, Beck, 3. Aufl. 2017, 515)
Ein gottgleiches Datenverarbeitungssystem: Wer im gleichen Schritt Menschen zu Dienern des digitalen Maschinenparks deklariert, muss sich fragen lassen, ob
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das noch eine, wenn auch extrem zugespitzte, Vision ist oder nicht schon eher eine dystopische (wahlweise psychotische) Wahnvorstellung. Dabei ist die ganze, sogenannte Künstliche Intelligenz (sKI) im Kern nichts anderes als automatisierte Datenverarbeitung. Die Chefin von Microsoft Deutschland, Sabine Bendiek, formulierte im FAZ-Interview: „Eine KI kann viele Dinge ganz toll, aber letztlich rechnet sie auf Basis von großen Datenmengen.“ (Armbruster 2019). Wer wie Ray Kurzweil und die Transhumanisten den Menschen dann (wieder einmal) die Unsterblichkeit verspricht, weil zwar der Leib endlich (also sterblich) sei, sich das Bewusstsein aber ins Netz transferieren lasse, kann vielleicht als Phantast beeindrucken, weicht aber den tatsächlichen Problemen aus, die schon heute mit den vernetzten und Daten sammelnden Geräten und Diensten zu beobachten sind: • der immense, stetig steigende Stromverbrauch durch immer mehr Geräte und immer dichtere Vernetzung samt expandierender Serverfarmen; • steigende Verletzbarkeit der technischen Systeme durch standardisierte Schnittstellen und eine homogene technische Infrastruktur samt Zentralisierung in Serverzentren, was das Hacken erleichtert und den möglichen Schaden maximiert; • eine zunehmende Intransparenz (dadurch auch Manipulierbarkeit), von komplexer werdenden technischen Systemen der sogenannten Künstlichen Intelligenz (sKI), der immer mehr (Rechen-)Aufgaben und Entscheidungen übertragen werden; • damit zusammenhängend die fortschreitende Entmündigung der Nutzer angesichts immer tiefer in das Leben Einzelner eingreifende Algorithmen im Gesundheits-, Bildungs- oder Bankenwesen oder verdeckte Eingriffe in z. B. politischen Wahlen durch Selektion von Informationen oder personalisierte, politische Werbung (Micro-Targeting); • eine mögliche Steuerung im Bildungsbereich sowohl des Lernverhaltens als auch der Lerninhalte und damit ein intransparenter Einfluss auf Wissen, Vorstellungen, Weltbilder und Werte junger Menschen. Der Göttinger Erziehungswissenschaftler Erich Weniger hat zum Einfluss von Curricula und Medien schon in den 1950er-Jahren formuliert: „Lehrpläne sind das Ergebnis des Kampfes der gesellschaftlichen Interessengruppen um ihren Einfluss auf die heranwachsende Generation.“ (Weniger 2018). Gleiches gilt für Medientechnik, wie es Marshall McLuhan mit seinem Buch The Medium is the Message zeigte. Die mediale Repräsentation von Inhalten ist Teil der Rezeption und Medienwirkung. (McLuhan 1967).
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14.3 Shoshana Zuboff: Überwachungskapitalismus Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff warnt bereits seit vielen Jahren vor der Übermacht der großen Digitalkonzerne und deren „Datenhunger“ als Grundlage der heutigen Datenökonomie. „Seid Sand im Getriebe“, war der Titel eines FAZArtikel von 2013, nachzulesen im Buch „Technologischer Totalitarismus“ von Frank Schirrmacher. Bereits ihre erste Buchpublikation In the Age of the Smart Machine. About the future of Work and Power von 1988 beschäftigte sich mit den Grundstrukturen und den Auswirkungen der Internetökonomie auf Arbeitswelt und Gesellschaft. (Das World Wide Web als Consumervariante für Onlinedienste kam erst nach 1990 dazu.) Sie warnte bereits zu einer Zeit vor Datenmissbrauch, in der die meisten Menschen von Internettechnologien noch gar nichts wussten, geschweige denn damalige Dienste wie E-Mail, FTP (Datenaustausch) oder Gopher (Informationsdienst) nutzten. Bereits 1988 – noch Jahre vor der Plattformökonomie der Digitalmonopole – formulierte sie die Zuboffschen Gesetze: 1. Was automatisiert werden kann, wird automatisiert. 2. Was in digitalisierte Information verwandelt werden kann, wird in digitalisierte Information verwandelt. 3. Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird, sofern dem keine Einschränkungen und Verbote entgegenstehen, für Überwachung und Kontrolle genutzt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung. Die Einschränkung „sofern dem keine Einschränkungen und Verbote entgegenstehen“, hat sie nach den Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 revidiert. Der letzte Satz lautet heute: „Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird für Überwachung und Kontrolle genutzt, unabhängig von geltendem Recht und der ursprünglichen Zweckbestimmung.“ Der Begriff Überwachungskapitalismus wurde von Zuboff mit ihrem Buch Zeitalter des Überwachungskapitalismus von 2018 etabliert. In diesem Buch fasst sie ihre seit mehr als 30 Jahren andauernde, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen der Automatisierung und Digitalisierung zusammen. Die Quintessenz: Nicht die Nutzer im Web sind die Kunden der IT-Monopole, sondern die Werbeindustrie als Abnehmer von Nutzer- und Verhaltensprofilen. Alle Handlungen im Netz, jeder Mausklick, jedes Tippen und Wischen, werden aufgezeichnet und ausgewertet. Daraus werden immer exaktere Verhaltens- und
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Kommunikationsprofile, Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile erstellt. Nutzer sind sich selbst entblößende Akteure, die immer genauere Datenprofile von sich selbst generieren, die für personalisierte Werbung an Werbetreibende verkauft werden. Aus diesen Daten werden digitale Zwillinge berechnet, mit denen vermutliches Verhalten prognostiziert und simuliert werden kann. Ergänzend wird das Verhalten der User mithilfe entsprechender Techniken (affectice computing; persuasive technologies) beeinflusst. Verhaltenssteuerung ist nun mal das Ziel, (nicht nur) des kommerzialisierten Web. Der Mensch im Netz wird verzweckt, mithilfe kybernetischer Modelle und psychologischer Methoden gesteuert. Auf die Frage, was zu ändern wäre, um die vollständige Kontrolle durch die Überwachungskapitalisten abzuwenden, fordert Zuboff im Gespräch mit Mathias Döpfner und anlässlich der Verleihung des Axel-Springer-Preises 2019 zwei Dinge: Das Erste, was ich tun würde, wäre also, per Gesetz zu verbieten, unsere Erfahrungen ohne Berücksichtigung der Autorität und Machtbefugnis des individuellen Bürgers zu erfassen – das ist die Angebotsseite. Erfassung individueller Erfahrungen per Gesetz verbieten, dann legen wir auch auf einen Schlag die Versorgung mit Daten trocken. Boom, Paukenschlag! Das wäre eine prinzipienbasierte Regulierung, die auf die Überwachungsdividende abzielt. Wir füttern quasi ihre Künstliche Intelligenz nicht länger. Und das Zweite, was ich tun würde, setzt am anderen Ende an – auf der Nachfrageseite. Im Moment gehen die individuellen menschlichen Erfahrungen als Datenflüsse in Rechenfabriken, wo Vorhersagen individuellen menschlichen Verhaltens produziert werden, die verkauft werden. Diese Prognosemärkte handeln also mit der Zukunft der Menschen. Eine Lösung bestünde darin, dass wir diese Märkte gesetzlich verbieten. Das klingt nach einer recht radikalen Lösung. Wenn man sich einen Moment Zeit nimmt und darüber nachdenkt, sieht das schon anders aus. Wir haben auch Märkte verboten, die mit menschlichen Organen handeln, Märkte, die mit Babys handeln, Märkte, die mit Sklaven handeln. Wir können und sollten auch die Märkte, auf denen mit Vorhersagen individuellen menschlichen Verhaltens Handel getrieben wird, verbieten, weil sie vorhersehbare zerstörerische Folgen für Freiheit und die Demokratie haben. Folgen, die greifbar und bewiesen sind. (Döpfner 2019)
14.4 Jaron Lanier: Alles abschalten Nicht weniger kritisch äußert sich Jaron Lanier, der Chefentwickler von Microsoft, der über 60 Software-Patente hält und seit Mitte der 1980er-Jahre Brillen für Virtual Reality (VR) mit entwickelt hat. 2018 erschienen gleich zwei
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wichtige Bücher von ihm, das eine über die Veränderungen der Gesellschaft durch virtuelle Realität, eine sehr unterhaltsame Reise durch die Frühgeschichte der VR und deren Genese. Das andere Buch ist eine direkte Aufforderung, das eigene Kommunikationsverhalten zu ändern: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Diese nur sozial genannte Form der Kommunikation per Social Media, Web&App zerstöre menschliche Bindungen, weil diese Form der Kommunikation ohne direktes soziales Gegenüber zu Charakterdeformierung und zu einer Gang-Mentalität führe, wie er im Spiegel-Interview ausführt: „Dieser Mist verdirbt uns alle.“ „Social Media ist BUMMER“, heißt ein Kapitel im Buch, „Bummer macht dich zum Arschloch“. Das Akronym bedeutet: Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent (Lanier 2018, 43), auf deutsch etwa „Verhaltensweisen von Nutzern, die verändert und zu einem Imperium gemacht werden“, so der Übersetzer. (S. 43). Lanier dekliniert in durchaus drastischer Sprache und einzelnen Kapiteln, dass Social Media den freien Willen zerstöre (1) und das Mitgefühl töte (6), die Wahrheit untergrabe (4), Politik unmöglich (9) und die Menschen unglücklich mache (7). In unserer BUMMER-Ära sind die Informationen, die bei den Leuten ankommen, das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen manipulativen Werbetreibenden und machtbesoffenen Technologiekonzernen, die irrsinnige, konstruierte Wettbewerbe um sozialen Status fabrizieren. Das führt dazu, dass es im gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess immer weniger Authentizität gibt, die uns helfen kann, zur Wahrheit zu finden. (Lanier 2018, 89)
Zumindest die eigenen Kinder gilt es daher zu schützen: All die Eltern, die bei Google und Facebook arbeiten, erlauben ihren Kindern nicht, die Produkte zu benutzen, die sie selbst entwickeln. Es ist grotesk. Die Kids im Silicon Valley kriegen alle keine Handys und dürfen sich vor keinen Bildschirm setzen. Da sind all diese Techväter und Techmütter, und sie sagen ihren Kindern: „Vorsicht, fass das nicht an, das hat meine Firma gebaut!“ (Laube und Mingels 2018, 61)
Das korrespondiert mit dem, was im Oktober 2018 in der New York Times stand und perspektivisch durch den zunehmenden Einfluss der Global Education Industries (GEI) für den deutschen Bildungsmarkt zu erwarten ist: Bildschirme und Onlinedienste wie die Schul-Cloud an öffentlichen, reale Lehrkräfte an privaten Schulen. Amerikas öffentliche Schulen würden immer noch Geräte mit Bildschirmen fördern und sogar reine Digital-Kindergärten anbieten, während
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reiche Eltern Bildschirme ganz aus der Klasse verbieten, wie die New York Times im Oktober 2018 schrieb. Es könne vorkommen, dass „Kinder ärmerer und bürgerlicher Elternteile an Bildschirmen aufgezogen würden, während die Kinder der Elite des Silicon Valley auf Holzspielzeug und den ‚Luxus der menschlichen Interaktion‘ [d. h. Lehrkräfte] zurückgreifen.“ (Bowles 2018). Bei der ersten digitalen Kluft, so der ehemalige Herausgeber des Wired Magazins Chris Anderson, sei es darum gegangen, den Zugang zur Technologie zu ermöglichen. Heute hätte jeder Zugang zur Technik und Endgeräten, daher würde die neue digitale Kluft dadurch entstehen, dass nur bildungsaffine Eltern den Zugang zur Technologie beschränken. Sein Fazit: Technologie sei ein riesiges soziales Experiment an Kindern. (ebda) Dieses Experiment heißt in Deutschland DigitalPakt Schule und läuft von 2019 bis 2024. Infrage steht (wieder einmal), wer über Medientechnik und damit auch über Lehrinhalte an öffentlichen Schulen bestimmt und welche (nicht nur) wirtschaftlichen Interessen bedient werden.
14.5 Nachgerechnet: Tatsächliche Kosten des DigitalPakt Schule Zumindest wirtschaftlich sind Schulen als Absatzmärkte äußerst lukrativ. Im Oktober 2016 stellte die damalige Bildungsministerin Johanna Wanka die Strategie Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft in Berlin vor (BMBF 2016). Ein Teilprojekt der Digitalisierungsstrategie war der DigitalPakt Schule, für den der Bund in den Jahren 2019 bis 2024 Jahren fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Verteilt auf fünf Jahre für etwa 40.000 öffentliche Schulen sind es umgerechnet ca. 25.000 € pro Schule und Jahr, abhängig von der Anzahl der Schülerinnen und Schüler. Das ist überschaubar. Zwar kommen ergänzende Zuschüsse aus den Länderhaushalten in Höhe von ca. 500 Mio. EUR dazu, aber beides reicht bei Weitem nicht für eine auch nur halbwegs brauchbare IT-Ausstattung. Der Städtetag Baden-Württemberg rechnet mit 1,8 Mrd. EUR für zwei Jahre, nur für das eigene Bundesland. Laut der GEW-Studie Bildung. Weiter denken. Mehrbedarfe für eine adäquate digitale Ausstattung der berufsbildenden Schulen vom September 2019 (GEW 2019) liegen die Kosten um ein Vielfaches höher. Die bislang propagierten 5,5 Mrd. EUR des Digitalpaktes würden laut GEWStudie nur knapp ein Viertel des Gesamtbedarfs aller Schulen abdecken. Allein für die Mindestausstattung der Berufsschulen – die ohne aktuelle Rechner und IT nicht adäquat ausbilden können – seien eine Milliarde Euro pro Jahr erforderlich. Für allgemeinbildende Schulen würden in den kommenden fünf Jahren
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weitere 15,76 Mrd. EUR benötigt, für berufsbildende Schulen noch einmal 5265 Mrd. EUR. Daraus ergebe sich ein Gesamtbedarf von 21,025 Mrd. EUR. Mit Blick auf bisher eingeplante Mittel ergibt sich eine Differenz von rund 15 Mrd. EUR. Die GEW fordert daher eine Verstetigung des Digitalpaktes über die bislang vereinbarten fünf Jahre hinaus. Gravierender sei das Defizit beim Personal. Ein Großteil der laufenden Kosten entfalle nicht auf Server oder Infrastruktur, sondern auf Personalkosten und Techniksupport. Der Stellenbedarf berechnet sich nach Anzahl der eingesetzten Endgeräte. Bei laut KMK aktuell knapp 11 Mio. Schülerinnen und Schülern (KMK 2019) und einem Schlüssel von einer Stelle pro 400 Endgeräten kommt man auf einen Bedarf von 27.500 IT-Stellen in Schulen; bei einem Schlüssel von einer Support-Stelle für 300 Endgeräte (als Betreuungsschlüssel für Schulen realistischer) sind es bereits mehr als 36.600 Stellen – für Fachkräfte, die auf dem Arbeitsmarkt fehlen. Selbst wenn sie ausgebildet würden, ist nicht zu erwarten, dass sie sich an Schulen bewerben statt in der deutlich besser bezahlenden Industrie bzw. Privatwirtschaft. „Der nicht hinlänglich sichergestellte IT-Support könnte sich als Achillesferse des Digitalpakts erweisen“, so die GEW-Studie. Das heißt: Wer Gelder aus dem Digitalpakt abruft, verpflichtet sich nicht nur zu Updates und Support, sondern verpfändet auch nach Ablauf des Pakts seine Schuletats auf viele Jahre hinaus an die IT-Industrie. Schulen blockieren durch die Partizipation am Pakt jegliche nicht-digitale Entwicklungsmöglichkeit vor Ort und müssen pädagogische Stellen in Technik-Stellen umwidmen – oder den Support als Fremdleistung zu marktübliche Preisen einkaufen. Wie man es auch dreht und wendet: IT kostet immer mehr als gedacht und belastet die Etats.
14.6 Datenschutz und Privatsphäre Der nicht weniger entscheidende und gleichermaßen elementare Aspekt für die persönliche Freiheit und Privatsphäre der/des Einzelnen ist die Frage nach dem Schutz personenbezogener Daten. Das Privileg des 21. Jh. wird es sein, selbst darüber zu entscheiden, wie man kommuniziert, welche Medien man nutzt sowie ob und ggf. welche persönlichen Daten weitergegeben und für was sie genutzt werden dürfen. Die Eliten werden weder sich noch ihre Kinder mit Daten im Netz prostituieren, während abhängig Beschäftigte schon heute darauf angewiesen sind (oder über Rabatte oder Vergünstigungen geködert werden), möglichst aussagekräftige Profile im Netz aufzubauen, um für Arbeitgeber, Versicherungen u.ä. transparent zu sein.
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Ein Großteil der Nutzer wird aufgrund ihres Sozialstatus ohnehin keine Entscheidungsfreiheit haben. Ohne Onlineprofil braucht man sich in den USA schon heute nicht mehr bewerben. Mitunter muss das Passwort weitergegeben werden, damit ein potenzieller Arbeitgeber schauen kann, was ein potenzieller Arbeitnehmer im Netz tut. Die meisten Nutzer haben daher mehrere Profile, woraus sich ein Geschäftsfeld für Agenturen entwickelt hat, die Arbeitgebern zuarbeiten und die nichtöffentlichen Profile liefern. Und schlimmer noch: Ohne typische Onlineaktivitäten ist man schnell ein Fall für die US-Geheimdienste, weil man aus dem charakteristischen Raster und typischen Verhaltensmustern fällt. In Deutschland wird aktuell bei der Diskussion über die elektronische Patientenakte (ePA) ein anderer Datenschutzaspekt virulent. Laut Entwurf für das Digitale-Versorgungs-Gesetz (2019) aus dem Hause von Gesundheitsminister Jens Spahn 2019 müssen die persönlichen Daten sowie sämtliche Behandlungsdaten aller gesetzlich Versicherten an den Spitzenverband der Kassen weitergeleitet werden. Diese Daten von 73 Mio. gesetzlich Versicherten sollen künftig ohne ihr Einverständnis und ohne Widerspruchsrecht für die (nicht spezifizierte) Forschung verwendet werden dürfen. Konkret sind das Alter, Geschlecht, Wohnort und Behandlungen. Bislang ist es zwar nur ein Antrag im Bundestag, aber es zeigt die Anspruchshaltung und Rigorosität auch staatlicher Datensammler. Diese Daten werden zwar pro forma anonymisiert, aber wie die Untersuchungen von Montjoye u. a. zeigt, lassen sich anonymisierte oder pseudonymisierte Daten leicht re-personaliseren. Die Studie zeigt an Praxisbeispielen, dass in 80 % der Fälle Geschlecht, Geburtsdatum und Postleitzahl genügen, um Menschen zweifelsfrei zu identifizieren. Lediglich 15 Angaben genügen den Wissenschaftlern, um die Identität eines US-Bürgers mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,98 % zu bestimmen (Montjoye 2019). Die Veröffentlichung von Gesundheitsdaten ist kein Einzelfall: 2016 veröffentliche Australiens Regierung Gesundheitsdaten von 2,9 Mio. Menschen. Angeblich waren die Daten komplett anonym. In allen Fällen gelang es Forschern, die Informationen mit konkreten Personen zu verknüpfen. (…) Im Netz werden Daten von Milliarden Nutzern gehandelt, legal und illegal. (Hurtz 2019)
Wäre es da nicht besser, Daten gar nicht erst zu pseudo- oder zu anonymisieren, sondern gleich öffentlich zugänglich zu machen? Vielleicht sind die in Europa so hochgehandelten Rechte auf Datenschutz und Privatsphäre im 21. Jahrhundert „reine Verhinderer von Innovation“, wie die Süddeutsche Zeitung den Chef des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam (HPI), Christoph Meinel fragte. Seine Antwort ist aufschlussreich:
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Nein, natürlich nicht. Aber um nur ein Beispiel zu nennen: Wichtige Fortschritte im Bereich Digital Health, also in der durch digitale Technologien unterstützten Gesundheitsvorsorge und bei der medizinischen Versorgung wird es nicht nur mit der Analyse vollständig anonymisierter Daten geben. Wir müssen – und das ist kein einfacher Prozess – da einfach eine Balance finden, damit wir in allen gesellschaftlichen Bereichen von der Digitalisierung maximal profitieren können. (Meinel, zit. n. Mauck 2019)
Wenn das „maximal profitieren“ die Maxime der Digitalisierung wird, sind personalisierte Daten das Rohmaterial. Relevant ist diese Aussage, weil das HPI im Auftrag des BMBF und in Kooperation mit Schulen die HPI-Schulcloud entwickelt. Neben dem Gesundheitssegment (die Spahnsche Entmündigung der gesetzlich Versicherten und Datenenteignung) ist der Bildungsbereich das Geschäftsfeld, das derzeit digitalisiert und kommerzialisiert werden soll. Das Auswerten aller personenbezogenen Daten unter dem Stichwort Learning Analytics ist dabei die Basis für das Erstellen von Lern- und Persönlichkeitsprofilen, um personalisierte Angebote zu berechnen. Dafür werden alle erreichbaren Daten zusammengetragen und ausgewertet, auch externe Daten wie • Merkmale der Lernenden (Interessen, Vorwissen, akademische Leistungen, Ergebnisse standardisierter Tests, Kompetenzniveaus, soziodemografische Daten); • soziales Umfeld (persönliches Netzwerk, Interaktionen, Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien); • externe Daten (aktuelle Geschehnisse, Ortsangaben, Emotionen, Motivation). (Ifenthaler und Schumacher 2016) Learning Analytics ist nichts anderes als Big Data Analysis (neu: Data Sciences) an Schulen oder genauer: „Big Brother is teaching your Children.“ Das heißt konkret: Nicht nur die in Schulen oder Hochschulen generierten Daten werden ausgewertet, sondern auch der private und soziale Raum (social analytics). Spricht man HPI-Chef Meinel auf das mögliche Überwachungspotenzial digitaler System an, liest man Irritierendes. Auf die Frage, ob ein Land, das seine Bürger per Gesichtserkennung überwache, ein Vorbild sein könne, sagt er: Auch hier müssen wir erst lernen, mit den neuen Möglichkeiten umzugehen und wo die Grenzen sind. Wir sagen schnell „Igitt!“ und verteufeln die Entwicklung in China. Aber ich komme gerade aus China und dort sagen sie, wir schaffen damit Anreize, sich gut und sozial zu verhalten, und senken die Kriminalität. Wir sollten da nicht als Besserwisser auftreten, sondern die Möglichkeiten der Digitalisierung
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zunächst selbst erproben und dabei einen Umgang mit und im Netz entwickeln, der den Werten unserer Gesellschaft entspricht. Das betrifft insbesondere auch die Anwendung der Künstlichen Intelligenz. (Mauck 2019)
Überwachung senkt Kriminalität und fördert sozial erwünschtes Verhalten. Das ist Law and Order nach US-Vorbild und der Broken-Window-Theorie: Ahnde jede Kleinigkeit, damit daraus nichts Schlimmeres wird. Diese Form „positiver Überwachung“, konsequent weitergedacht, ließe sich doch übertragen auf Förderung der Gesundheit, bessere Bildung, gewünschtes Sozialverhalten generell? Das ist das Sozialpunktesystem aus China, das nicht besserwisserisch kritisiert werden soll und unter dem Begriff Nudging (Anstupsen) in westlichen Ländern längst praktiziert wird. Alles nicht so schlimm also? „Was bleibt vom Menschen“, fragt Bundespräsident Steinmeier, „wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen?“ Und Frau Zuboff formulierte im Spiegelinterview 2018: Ich vergleiche unseren heutigen naiven Umgang mit digitalen Technologien gern mit der Art, wie die amerikanischen Ureinwohner die spanischen Eroberer willkommen geheißen haben. Diese Menschen hatten keine Chance, die Bedeutung der Ankunft einer neuen Macht zu erahnen, die ihre spätere Unterwerfung mit sich brachte. (Zuboff 2018b)
14.7 Demokratie vs. technologischen Totalitarismus Eine demokratisch und emanzipativ gedachte Technik hat sich in ihr Gegenteil entwickelt. „Wenn wir jetzt nicht handeln, dann droht das Potenzial ins Gegenteil umzuschlagen. Dann spaltet das Netz, statt Menschen zu verbinden, dann riskieren wir eine digitale Dystopie“, warnte der „Vater des Web“, Tim BernersLee, auf einer Konferenz in Berlin. In Zusammenarbeit mit einem breiten Spektrum an Akteuren aus Wissenschaft, Unternehmen, Regierungen, NGOs und Bürgern hatte er im November 2018 eine Magna Charta für das Internet entwickelt (Berners-Lee 2018) und auf der Konferenz IGF Berlin (2019) in Berlin als Contract for the Web (Berners-Lee 2019) vorgestellt. Die Hauptpunkte für einen Neustart des Web zum Nutzen aller Beteiligten sind demnach: • Regierungen stellen sichern, dass alle Menschen Zugang zum Internet haben, verhindern Netzsperren und setzen sich für Datenschutz und digitale Grundrechte ein.
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• Unternehmen verpflichten sich, das Netz für alle Gruppen und Minderheiten zu öffnen, Privatsphäre, persönliche Daten und Menschenrechte zu respektieren und offene Technologien zu entwickeln, bei denen Nutzen und User statt Profit im Vordergrund stehen. • Bürgerinnen und Bürger werden/sind Schöpfer und Mitarbeiter im Web, damit es für möglichst jede(n) relevante Inhalte hat. Starke Gemeinschaften fördern den zivilen Diskurs und respektieren Menschenwürde und Vielfalt. Alle kämpfen für das offene/öffentliche Web. (Berners-Lee 2019) Dazu kommen die Forderungen von Gerd Gigerenzer u. a. nach Transparenz der Algorithmen, die für demokratische Gesellschaften wichtiger sind als vermeintliche Geschäftsmodelle. (Gigerenzer et. al. 2018). Immer dann, wenn algorithmisch berechnete Entscheidungen das Leben von Menschen beeinflussen, müssen die zugrunde liegenden Algorithmen (Rechenwege und Entscheidungsparameter) transparent und öffentlich zugänglich sein. Demokratische Grundrechte wie die Offenlegung von Entscheidungskriterien sind wichtiger als Geschäftsgeheimnisse. Infrage steht, ob sich Infrastruktur und Märkte für digitale Angebote sozialverträglich und zum Nutzen der Menschen (statt der Partikularinteressen der ITKonzerne) umformen lassen und wie die notwendige Neuorientierung und damit verbundene Regulierung des Web zu gestalten ist. Infrage steht für Bildungseinrichtungen, ob Schulen allgemeinbildende Schulen bleiben und dem Individuum verpflichtet bleiben oder zu einer Vorstufe der (Berufs-)Ausbildung und Instanz des lebenslangen Lernens (lifelong learning) werden. (Münch 2018, 44). Digitaltechnik ist systembedingt eine technische Infrastruktur, die auf Standardisierung, Normierung und Zentralisierung der Datensammlung und -auswertung angelegt ist. Wer innerhalb der Logik der Datenverarbeitung argumentiert, muss immer mehr Daten sammeln und zusammenführen. Das Stichwort dafür ist Netzwerkeffekt: Mehr Daten sind besser als weniger Daten. (Hartong 2018). Technische Monokulturen und zentralisierte Datenhaltung sind aber gleichermaßen anfällig für Missbrauch wie für effektive Datendiebstähle. Das ist die „Dark Side of Digital Hype“. Die Gegenseite arbeitet mit den exakt gleichen Geräten, Techniken und Methoden, ergänzt nur um kriminelle Energie oder einen staatlichen Auftrag, wie es bei Edward Snowden als Aufgabe von Geheimdiensten nachzulesen ist. (Snowden 2019). Das zentralisierte und monopolisierte Netz ist die technische Infrastruktur für autoritäre Systeme. „Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert“, schrieb Ralf Dahrendorf bereits im November 1997 in der ZEIT. (Dahrendorf 1997) Konstatiert werden
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muss eine eklatante Fehlentwicklung der IT durch dahinterstehende Geschäftsmodelle. Wir müssen, auch wenn es eine Wiederholung ist, IT neu denken, um weiter mit digitalen Systemen arbeiten zu können, nach eigenen Regeln und demokratischen Werten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich Menschen einer technischen „Autorität“ beugen und sich daran gewöhnen zu tun, was ihnen Algorithmen vorgeben – ohne zu wissen, wie die Vorgaben zustande kommen, welche Grundlagen und Ziele die von Diensteanbietern oder Programmierern getroffenen Entscheidungen haben. Daraus leiten sich Basisthesen und konkrete Forderungen ab.
14.8 Basisthesen und Forderungen 1. Die Datenökonomie etabliert eine Überwachungsstruktur Datenökonomie und digitaler Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018a, b) aus dem Silicon Valley basieren auf immer mehr personenbezogenen Daten jedes Einzelnen. Mobile Geräte und Kameras oder Sensoren im privaten wie im öffentlichen Raum (Internet of Things, IoT) ermöglichen es, den Menschen mit seinem Verhalten nahezu vollständig aufzuzeichnen und auszuwerten. Er wird zum unfreiwilligen Datenspender für Big Data und die Datenanalyse der IT-Monopole. 2. Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile als Produkt Der permanente Rückkanal für personenbezogene Daten etabliert immer umfangreichere Mess- und Kontrollstrukturen in allen Lebensbereichen. Daraus entstehen immer exaktere Bewegungs-, Verhaltens- und Persönlichkeitsprofile. Diese Profile ermöglichen es, das Nutzerverhalten zu prognostizieren und Nutzer – mit persuasiven Technologien1 der Werbepsychologie u.ä. – in ihrem Verhalten zu beeinflussen. 3. Rechtsnormen für das Web statt rechtsfreier Raum Freie, demokratische und soziale Gesellschaften bleiben nur dann freie, demokratische und soziale Gemeinschaften, wenn sie andere IT- und Netzkonzepte entwickeln anstatt neoliberale und marktradikale Strukturen zu übernehmen. Auch Infrastruktur- und 1Persuasive
Technologien: Begriff für Techniken und Methoden, die das Verhalten von Menschen ändern (sollen). Auf Basis psychologischer Studien und mit Methoden der psychologischen Kriegsführung (neutralisierend „Psychological Operations“ (PSYOP) genannt), die zusammen mit Medienkampagnen (Media Operations MEDIAOPS) eingesetzt werden, soll gewünschtes Verhalten erzeugt werden.
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Kommunikationssysteme unterliegen in Rechtsstaaten dem geltenden Recht, das sich für Netzanwendungen erst entwickeln muss. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, der europaweit gültigen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und dem europäischen Urheberrecht sind erste Grundpfeiler eingeschlagen, um das vermeintlich „rechtsfreie“ Internet und Web zu zivilisieren. 4. Transparenz der Algorithmen statt Transparenz der Nutzer Statt permanenter Datenmaximierung nach der Logik der IT-Konzerne müssen Datenschutz, Datenvermeidung und Datenreduktion zu den obersten Geboten der neuen Datenwirtschaft werden. Eine zentrale Rechtsgrundlage muss die verpflichtende und vollständige Transparenz der eingesetzten Algorithmen werden. (Gigerenzer et al. 2018) Dazu zählen als weitere Prämissen Datensparsamkeit, Dezentralisierung der technischen Infrastruktur (statt Zentralisierung in Serverfarmen), freier Zugriff der Nutzer auf ihre Daten und generelle Löschpflicht für alle nicht mehr benötigten Daten. 5. Datensparsamkeit und Datenhoheit bei Nutzerinnen und Nutzern Personenbezogene Daten dürfen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Nutzer genutzt und kommerzialisiert werden. Die Nutzer müssen an den mit diesen Daten generierten Umsätzen beteiligt werden. Daten schutzbefohlener Minderjähriger (Kinder, Jugendliche) dürfen weder für die Profilierung noch zur Kommerzialisierung genutzt werden. Gleiches gilt für Gesundheitsdaten, die ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke in klar definierten Umgebungen, für konkrete Forschungsfragen und nur nach Zustimmung der Datengeber genutzt werden dürfen. 6. Digitaltechnik an Schulen nur lokal und ohne Rückkanal ins Netz Digitaltechnik in Schulen wird nur lokal (Intranet, Edge Computing als geschlossenes Inhouse-System ohne Netzanbindung) zur Unterstützung der Lehrenden beim Unterrichten in den Präsenzlehrphasen und für Lernende bei Gruppenarbeiten bzw. in Selbstlernphasen eingesetzt. Dabei werden weder Schülerdaten gesammelt noch werden Lern- oder Persönlichkeitsprofile erstellt. Keine Daten gehen ins Netz. 7. IT neu denken, als Kinder- und Bürgerschutz Um das Web weiter nutzen zu können, müssen wir IT neu denken. Aus dem Versprechen eines freien Netzes und hierarchiefreier Kommunikation ist ein Überwachungs- und Konsuminstrument zum Nutzen weniger IT-Konzerne und staatlicher Überwachungsorgane geworden. Das kommerzielle Netz wird von Fake News, Spam
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und Gewalt dominiert. Die Utopie eines unreguliertes Netzes in eigener Verantwortung der Nutzer hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Eine tragfähige Alternative auf rechtsstaatlicher Basis ist im Contract for the Web skizziert. 8. Argument und Diskurs statt Datengläubigkeit Eine freie und reflektierende Gesellschaft weiß, dass Daten immer nur der Ausgangspunkt und die Grundlage für Diskussionen und Entscheidungen sein können, alleine aber nicht aussagekräftig sind. Daher muss die Daten- wie die Digitalgläubigkeit aufgebrochen, der interpersonale Diskurs und die Kontoverse wieder in ihr Entscheidungsrecht eingesetzt werden. Denn wer datengläubig Maschinen entscheiden lässt, was Menschen tun oder lernen oder wünschen sollen, zerstört die Autonomie des Menschen und seine Handlungsfreiheit zugunsten eines algorithmisch berechneten Regimes autoritärer technischer Systeme. 9. Autonomie des Menschen statt autonome Systeme Technologische Systeme zur automatisierten (algorithmisch berechneten) Verhaltensmanipulation verstoßen gegen die Würde des Menschen, seine Grundrechte und Selbstbestimmung. Sie sind in demokratischen und humanen Rechtsstaaten untersagt.
14.9 Der pädagogisch ausdifferenzierte Einsatz von IT im Unterricht Neben allgemeinen Forderungen zum Einsatz von IT lassen sich konkrete Forderungen und Vorschläge formulieren, wie mit Digitaltechnik in Bildungseinrichtungen gearbeitet werden kann. Der pädagogisch ausdifferenzierte und methodisch begründete Einsatz von Medien- wie Digitaltechnik im Unterricht unterscheidet nach Altersstufen, Schulformen und Fächern und setzt sich für einen altersangemessenen und fachlich sowie didaktisch ausdifferenzierten und gleichberechtigten Einsatz von analogen wie digitalen Lehr- und Lernmedien im Unterricht ein. Auf Basis wissenschaftlicher Studien aus der Kognitionsforschung, der Entwicklungspsychologie und Pädagogik werden folgende Empfehlungen formuliert: • Analog vor digital: Kindertagesstätten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit digitalfrei. Kinder müssen erst in der realen Welt zu Hause und dort sicher sein, bevor sie virtuelle Welten erkunden. Kinder müssen erst in den klassischen Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) sicher werden, die manuell eingeübt werden. Sie werden zugleich an die
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manuellen Gestaltungstechniken herangeführt: Basteln, Malen, Zeichnen; dazu gehören das Musizieren mit Instrumenten und das Singen, auch Theater und Tanz, Sport und nicht zuletzt Naturerlebnisse. Es ist eine Schulung der Sinne und ästhetische Erziehung. Medienmündigkeit statt Medienbedienkompetenz: Ziel der Medienerziehung ist Medienmündigkeit. (Bleckmann 2012). Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche lernen, selbst zu entscheiden, welche Medien sie für welche Zwecke nutzen. Dafür werden nach und nach alle Medien (analog wie digital) altersangemessen thematisiert und altersgerecht genutzt. Parallel zur Entwicklung der Mediengeschichte werden zunächst manuelle, später stärker technische, ganz zum Schluss elektronische Medien in den Unterricht integriert. Reflektieren über die eigene Mediennutzung: Was bereits in der Grundschule thematisiert werden muss, ist das Mediennutzungsverhalten. Besprochen werden konkrete Inhalte und mögliche Folgen der Mediennutzung. Es ist wie mit dem Fernsehen. Niemand „unterrichtet“ Fernsehschauen in der Grundschule, obwohl die meisten Kinder zu Hause fernsehen. Man muss aber über Gesehenes und Erlebtes mit den Kindern in der Schule sprechen und sie z. B. dazu malen lassen, damit sie es verarbeiten können. Pädagogik als Vorbereitung: Dieser Transfer ist charakteristisch für Schule und Unterricht: Im Verkehrsunterricht lernen Kinder richtiges und sicheres Verhalten im Straßenverkehr, ohne mit acht oder zehn Jahren den Führerschein zu machen. In der Suchtprävention werden Drogen und Alkohol samt Folgen thematisiert, ohne Drogen zu verteilen oder Alkohol auszuschenken. So ist es auch bei der Internetnutzung. Hier sind Präventionslehrer gefragt, die mit Kindern über die Inhalte und Gefahren des Netzes sprechen und ihnen konkrete Handlungsoptionen bzw. wirksames Präventionsverhalten vermitteln. Dazu müssen nicht die Kinder ins Netz – die Zusammenarbeit mit z. B. Jugendschutzbeauftragten der Polizei ist sinnvoller. Denn es gibt kein Kindernetz. Die Erwachsenenwelt ist immer nur einen Klick entfernt. IT als Lebenswirklichkeit und Alternative: Digitaltechnik ist Teil unserer Lebenswirklichkeit. In der Unterstufe (Klasse 5 oder 6) wird daher das Verständnis für Informationstechnik (IT) vermittelt. Dann haben Kinder bzw. Jugendliche die notwendige, persönliche Reife und technisches Verständnis. Dafür braucht man weder Rechner noch Bildschirme. Projekte wie Computer Sciences Unplugged (csunplugged.org; deutsch: einstieg-informatik.de) vermitteln Kindern ein fundiertes Verständnis für die Funktionsweise und Logik der Informationstechnik, ganz ohne Rechner und Software. Gelernt werden Grundlagen, Fragestellungen und Methoden der Informatik – als Denk-Werk-
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zeug. Wer Prinzipien und Strukturen verstanden hat, kann sie zukünftig auf neue Technik anwenden. Echte Informatik: In Klasse 6 oder 7 kann man „echten“ Informatikunterricht mit kostengünstigen, gleichwohl voll programmierbaren Kleinrechnern wie Arduino (eine Leiterplatte mit Mikrocontroller und Steckplätzen und eigener Programmiersprache) oder Raspberry Pi anbieten. Ein Klassensatz dieser scheckkartengroßen Rechner kostet ca. 1.000 €. Als Peripheriegeräte wie Tastatur, Maus, Speicher oder Bildschirme kann man vorhandenes Material nutzen. Für Schulen gibt es gut dokumentierte und geeignete Projekte. Mit diesen Rechnern kann man programmieren und ins Netz gehen. Nur für den Consumer-Modus (wischen und tippen) sind sie nicht geeignet, weil man erst etwas tun muss, bevor sie laufen. Aufgaben statt Softwareschulung: Ab Klasse 8 kann man mit DesktopRechnern, Laptops und Open Source-Software sowohl Software schulen als auch eigene Medienprojekte umsetzen. Software-Einsatz bedeutet dabei: die Prinzipien von Textverarbeitung, Desktop-Publishing oder z. B. Webdesign oder Videoschnitt verstehen und eigene Projekte damit umsetzen. Das ist weitaus zukunftsrelevanter als Microsoft- oder Adobe-Programme in immer neueren Versionen einzuüben (Updatezwang). Zudem kristallisiert sich heraus, dass das Wischen und Tippen auf Tablet-PC und Smartphone echte Computerkenntnisse eher verhindert als fördert. (ICILS 2019) Medienproduktion mit digitalen Werkzeugen: Bei Medienprojekten am Ende der Mittel-, besser in der Oberstufe, werden Bilder und Filme erstellt, eine Schülerzeitung oder Inhalte für Websites generiert und das ganze mit Offline-Produktionsrechnern umgesetzt. Offline heißt: Die Rechner sind untereinander vernetzt, aber nicht ans Internet angeschlossen. Gearbeitet wird im Intranet (Stichwort Edge Computing, Hybrid Cloud). So kann sichergestellt werden, dass keine Schülerdaten ausgelesen werden. Alle Programme und Daten stehen lokal zur Verfügung, es werden aber keinerlei Schülerdaten ins Netz geleitet. Publizieren im Web: Die fertigen und (vom Lehrer, Schulleiter oder bei älteren Schülergruppen den Verantwortlichen) freigegebenen Inhalte werden dann über einen Netzrechner ins Netz gestellt. Nur so können der Lehrer oder die Projektgruppe entscheiden, was und wann etwas öffentlich wird. Das mag komisch klingen in einer „Rund-um-die-Uhr-und-jederzeit-erreichbar-Onlinewelt“, aber das ist z. B. das Konzept vom Apple Design Lab. Kein Produktionsrechner hängt im Netz. Nur so konnte Steve Jobs, nur so kann heute Tim Cook selbst entscheiden, wann etwas publiziert wird.
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• Für Berufsschulen ergeben sich Lehrinhalte und Anwendungen direkt aus der Infrastruktur und Software, die in den Betrieben und in der Produktion eingesetzt werden. Aber hier ist der Einsatz von Rechnern und Software ohnehin Teil der Berufsausbildung.
14.10 Mit auf den Weg gegeben Das sind erste, konkret Überlegungen, wie IT in den verschiedenen Schulformen, abhängig vom Lebensalter und Fächern, gelernt und praxisnah eingesetzt werden kann. Doch die übergeordnete Aufgabe ist es, das derzeitige Digital-Dogma zu dekonstruieren. Die Diskussionen über die vermeintliche Alternativlosigkeit der Digitalisierung darf nicht ausblenden, dass Theorien der Kybernetik (1963), des Behaviorismus und des programmierten Lernens (1950er-Jahre) und unterkomplexe, neoliberale Wirtschaftsmodelle aus den 1970er-Jahren (Neoliberalismus, Chicago School of Economics, Humankapitaltheorie) rekombiniert werden. Das ist nicht modern oder innovativ, sondern ganz im Gegenteil restaurativ. Der behauptete und vor allem selbstreferenzielle Geschwindigkeitsrausch der IT soll vor allem gegen das Nachdenken, Argumentieren und Reflektieren immunisieren. Zwar gab und gibt es in der Rechner- und Netzwerktechnik kurzfristige Entwicklungszyklen, aber daran wird man weder Sozialgemeinschaften noch Bildungseinrichtungen ausrichten. Es ist wie mit den stetig steigenden PS-Zahlen in der Automobilindustrie. Mehr Motorleistung und immer größere Automobile liefern keine Lösungen für die zu entwickelnden Mobilitätskonzepte der Zukunft. Die Entwicklungsgeschwindigkeit des Menschen als Spezies dauert ohnehin ein paar (zehn-)tausend Jahre. Menschen lernen heute noch so wie frühere Generationen – wenn man sie lässt. Solange wir Menschen Menschen sind, solange bleibt Lernen Lernen. Daran wird auch eine Digitalisierung nichts ändern. Und jeder, der das behauptet und forciert, verkennt den Menschen und macht aus Menschen Maschinen. Das mag durchaus für so manchen ein Ziel sein, den Homo sapiens durch den Homo digitales zu ersetzen oder zumindest „upzugraden“ – nach dem Motto: Die Künstliche Intelligenz ist die Lösung für die menschliche Dummheit. Aber dann reden wir nicht mehr von Bildung, sondern von Programmierung. Und es zählt nicht mehr das, was ich aus meinem Leben gemacht habe, sondern das, was man aus mir gemacht hat. Wenn wir aber weiterhin von Menschen und ihrer Bildung reden, dann lohnt die Beachtung der Grammatik des Lernens. (Zierer 2018)
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Der Mensch muss (wieder) im Mittelpunkt stehen, nicht der technische Fortschritt. Wir müssen – nach einer schonungslosen Bestandsaufnahme – für IT und Netzdienste humane und demokratische Parameter festlegen. Nicht das technisch Mögliche, sondern das demokratisch Gewollte und zu Verantwortende muss Primat der Netzpolitik werden. Niemand behauptet, dass das einfach ist. Niemand kann das allein konzipieren oder realisieren. Allerdings: Es ist zwingend notwendig, denn die „Alternative“ ist die „digitale Demokratur“ bzw. der technologische Totalitarismus (Schirrmacher). Mit Widerstand sowohl der Digitalisten wie der medial sedierten Nutzer ist zu rechnen. Denn letztere sind willige Vollstrecker der eigenen Entmündigung und Selbstinfantilisierung aus Bequemlichkeit (Kant). Wie schreibt Marie von Ebner-Eschenbach: Glückliche Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.
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14 Herausforderungen und Gefahren der Digitalen Bildung …
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Prof. Dr. Ralf Lankau ist Grafiker, Philologe und promovierter Kunstpädagoge. Seit 2002 lehrt er als Professor für Mediengestaltung und -theorie an der Hochschule Offenburg und leitet die grafik.werkstatt. Er ist Autor von Fachbüchern, Fachartikeln und Lehrmaterial und publiziert zu Mediengestaltung, Digitaltechnik und (Medien-)Pädagogik. Er setzt sich seit Jahren kritisch mit digitalen Medien in Bildungsprozessen auseinander und publiziert zu Digitaltechnik und (Medien-)Pädagogik u. a. auf der Website futur-iii.de.
Die Wirkung digitaler Medien im Schulunterricht – Chancen und Risiken der Digitalisierung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht
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Klaus Zierer Inhaltsverzeichnis 15.1 Ausgangspunkt: Digitalisierung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 15.2 Visible Learning: Was wissen wir wirklich über die Wirkung von digitalen Medien?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 15.3 Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Lebenswelt. . . . . . . . . . . . . . . 377 15.4 Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Lernwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . 379 15.5 Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Bildungswelt . . . . . . . . . . . . . 381 15.6 Ausblick: Humanität als Grundlage einer Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
Zusammenfassung
Digitalisierung ist allgegenwärtig, auch in Erziehung und Unterricht. In diesem Beitrag sollen Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich herauskristallisiert werden. Zu diesem Zweck werden neben theoretischen Überlegungen hinsichtlich einer Medienbildung auch empirische Forschungsergebnisse vorgestellt. Leitend werden zwei Thesen sein: Pädagogik vor Technik und Lernen bleibt Lernen. Beides mündet in das Postulat einer humanen Schule im Zeitalter der Digitalisierung.
K. Zierer (*) Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_15
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K. Zierer
15.1 Ausgangspunkt: Digitalisierung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung Aus pädagogischer Sicht ist es erfreulich: Nach jahrzehntelanger Debatte über eine Output- und Outcome-Steuerung des Bildungssystems wird wieder über Inhalte und den Input diskutiert. Konkret wird von vielen Parteien gefordert, Informatik oder so etwas wie eine Digitale Bildung als neues Unterrichtsfach einzuführen und viele Kultusministerien sind bereits dabei, entsprechende Lehrpläne zu schmieden. Auslöser dieser Diskussionen ist die scheinbar über allem stehende Digitalisierung: Sie fordere neue Wege, schaffe ungeahnte Möglichkeiten, sei die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Fast gebetsmühlenartig werden diese Aussagen wiederholt und sie bestimmen den öffentlichen Diskurs. Digitalisierung wird dadurch zu einem Mantra und verändert – ironisch formuliert bei Jarett Kobeck – alles. Auf den ersten Blick überzeugen die Vorteile einer Digitalisierung: in Industrie, in Medizin, in Technik, in Wirtschaft und so auch in der Bildung. Auf den zweiten Blick aber darf man ihr nicht blindlings verfallen. Zu viele Konsequenzen einer Digitalisierung sind bis heute nicht geklärt und womöglich auch gar nicht absehbar. Hierzu zählen unter anderem ethische Fragen, beispielsweise des autonomen Fahrens, ökologische Fragen, beispielsweise der Ressourcengewinnung und -nutzung sowie des Energieverbrauches, und gesundheitliche Fragen, beispielsweise der Risiken einer Digitalisierung für Leib, Seele und Geist. Insofern überrascht es nicht, dass auch im Bildungsbereich Kritik und Skepsis laut wird – und ernst zu nehmen ist. Digitalisierung also zwischen Dichtung und Wahrheit? Um dieser Frage nachgehen zu können, werden in diesem Beitrag vor allem empirische Forschungsergebnisse herangezogen. Denn sie helfen Mythen zu entlarven und den Einfluss von digitalen Medien – ob positiv oder negativ – sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt das Forschungsprogramm Visible Learning vorgestellt, das als empirische Basis dient. Darauf aufbauend wird in drei Richtungen argumentiert: Erstens wird untersucht, inwiefern sich Veränderungen im Hinblick auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zeigen, die von digitalen Medien verursacht sind. Zweitens wird untersucht, inwiefern digitale Medien in der Lage sind, Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen zu befördern oder zu hemmen. Und drittens wird untersucht, inwiefern sich Bildung angesichts einer zunehmenden Digitalisierung der Lebens- und Lernwelt verändern muss. Die Unterscheidung zwischen Lebenswelt, Lernen und Bildung ist daher leitend – leider wird sie im öffentlichen Diskurs aber häufig ignoriert.
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15.2 Visible Learning: Was wissen wir wirklich über die Wirkung von digitalen Medien? Visible Learning stellt derzeit das umfassendste Forschungsprogramm dar, um Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung zusammenzufassen. Begonnen von John Hattie mit einer Synthese von knapp 800 Metaanalysen im Jahr 2009, bilden aktuell über 1400 Metaanalysen die Grundlage, die auf ca. 80.000 Primärstudien zurückgreifen und an denen ca. 250 Mio. Lernende teilgenommen haben (vgl. Hattie und Zierer 2018). Das Ziel ist, Faktoren zu identifizieren und bezüglich ihrer Wirkung auf die Lernleistung zu klassifizieren. Zu diesem Zweck werden eine Synthese der über 1400 Metaanalysen durchgeführt und über 250 Faktoren ermittelt, wie beispielsweise Smartphones, soziale Netzwerke oder Laptop-Einzelnutzung. Sodann wird für jeden Faktor eine Effektstärke d errechnet, um auszudrücken, ob ein Faktor zu einer Steigerung der Lernleistung – falls d positiv ist – oder zu einer Reduzierung der Lernleistung – falls d negativ ist – führt. Ein erster Blick auf die Daten aus Visible Learning ist aufschlussreich, weil er eine Erklärung dafür liefert, warum für so viele Menschen digitale Medien als Heilsbringer gelten. Denn nimmt man diese naive, aber durchaus richtige Prämisse zur Interpretation von Effektstärken und setzt sie ins Verhältnis zur Häufigkeit, mit der diese Effektstärken in den zahlreichen Metaanalysen gefunden wurden, so ergibt sich folgende Darstellung (vgl. Abb. 15.1; Zierer 2020). Es zeigt sich: Nahezu alles, was in Erziehung und Unterricht passiert, führt zu einer Steigerung der Lernleistung. Anders ausgedrückt: Lernende gehen in etwa 95 % der Fälle schlauer aus einer pädagogischen Intervention heraus als sie in diese hineingekommen sind. Auf digitale Medien übertragen bedeutet das Ergebnis, dass die gerade inflationäre Ausstattung der Klassenzimmer in Deutschland mit Smartboards, Dokumentenkameras und Tablets einen positiven Effekt auf die Lernleistung nach sich ziehen wird, dass also Kinder auch damit lernen. In gleicher Weise bedeutet das Ergebnis aber auch, dass Kinder in England, wo in vielen Schulen die Smartboards wieder aus den Klassenzimmern geschoben werden und stattdessen die Tafeln aus den Kellern zurück in die Klassenzimmer gebracht werden, ebenso einen positiven Effekt auf ihre Lernleistung erfahren und damit lernen. „Anything goes“ also … Oder zugespitzt formuliert: Lernen lässt sich nicht verhindern. Vor diesem Hintergrund lautet das Plädoyer in Visible Learning bei Faktoren nicht nur danach zu fragen, ob die Effektstärke positiv oder negativ ist. Vielmehr wird argumentiert, den Nullpunkt anders zu setzen, und vorgeschlagen, diesen bei 0,4 zu verorten. Warum ausgerechnet 0,4? Dieser Wert stellt den Durchschnitt
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Abb. 15.1 Zusammenhang zwischen Effektstärke und Anzahl der Effekte in 1400 + Metaanalysen
aller erhobenen Effektstärken dar und es lohnt sich vor allem auf Faktoren zu blicken, die Effektstärken in diesem Bereich vorweisen: Maßnahmen wirken hier gut. Der Anspruch, der damit verfolgt wird, ist zwar einfach, aber meines Erachtens auch überzeugend: besser sein als der Durchschnitt! Faktoren, die jenseits dieser 0,4 wirken, führen im Vergleich zu Faktoren, die unterhalb dieser 0,4 wirken, zu einem empirisch nachweisbaren Mehrwert. Diese Überlegungen bilden die wissenschaftliche Grundlage für die weiteren Ausführungen. Wann immer es möglich ist, werden sie zur Stützung der Argumentation herangezogen, die für sich demnach den Anspruch erhebt, Evidenz im Sinn einer hohen Effektstärke als Kriterium für die Auswahl wichtiger Faktoren heranzuziehen. Zudem wird aber immer auch zu bedenken sein, dass Faktoren mit geringer oder sogar negativer Effektstärke interessant sein können. Denn häufig ist es notwendig, zu verstehen, warum ein Faktor, der aus anderen Gründen wichtig ist, in der Realität wenig Einfluss hat oder sogar schädlich ist, um seine Wirkung im nächsten Schritt verbessern zu können. Infolgedessen geht
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es im Kern um Verstehen, und zwar um das Verstehen empirischer Daten mit dem Ziel, sie für Bildung und Erziehung fruchtbar zu machen.
15.3 Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Lebenswelt Es mag zur Selbstverständlichkeit einer jeden (technischen) Errungenschaft gehören, dass neben Zustimmung auch Kritik geäußert wird. Insofern gilt dies auch im Kontext einer Digitalisierung. Somit ist es auch kein Wunder, dass sich mit Blick auf die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, viele Positionen für und gegen eine Digitalisierung finden, die zwischen Euphorie und Apokalypse changieren. Nur ein Beispiel: „Handys gehören heute zur Lebenswelt der Kinder und müssen daher möglichst früh Eingang in die Schule finden“, lautet ein Pro-Argument. „Handys gehören nicht in Kinderhände und Schulen sollten daher auch handyfreie Lebensräume sein“, lautet ein Contra-Argument. Nur gut, dass es empirische Forschung gibt. Denn sie hilft, zwischen Dichtung und Wahrheit zu vermitteln. In Visible Learning finden sich zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen unter anderem folgende in Tab. 15.1 dargestellte Faktoren. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in Visible Learning nur fünf Prozent aller Effektstärken, die gemessen worden sind, negativ sind, mahnen die Ergebnisse zur Vorsicht: Aaron W. Kates et al. (2018) gehen in einer Metaanalyse der Frage nach, welchen Einfluss die Dauer der außerschulischen Smartphonenutzung auf die schulischen Lernleistungen hat und werten dazu 39 Tab. 15.1 Faktoren aus der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen Faktor
d
Depression
−0,35
Smartphones Schlafstörung Soziale Medien Schlafdauer und Schlafqualität
−0,32 −0,28 −0,14 0,19
Selbstkonzept
0,43
Arbeitsgedächtnis
0,65
Selbstwirksamkeitserwartung
0,77
Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus
1,22
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Primärstudien aus. Mit derselben Zugangsweise werten Caroline Marker et al. (2018) 46 Primärstudien aus, die den Einfluss von sozialen Medien (Facebook, Twitter & Co) auf die Lernleistung untersuchen. In beiden Metaanalysen ist das Ergebnis eindeutig: Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung. Übrigens gleicht das Argument, Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus können mithilfe digitaler Medien ihre Benachteiligung ausgleichen, aus empirischer Sicht einer Dichtung. Die Wahrheit ist, dass digitale Medien derzeit diese Benachteiligung weiter verschärfen. Der Grund ist entscheidend: Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus nutzen digitale Medien unreflektierter und damit auch lernhemmender als Kinder und Jugendliche aus bildungsnahen Milieus.
Dieses Phänomen wird von Bildungsforscherinnen und Bildungsforschern, wie beispielsweise Maryanne Wolf (2019), bereits beim Lesen von Texten im Internet beobachtet, da es auch im World Wide Web zu schnellen Aufmerksamkeitsverschiebungen kommt und dort vielfältige Ablenkungsquellen vorhanden sind. Vor diesem Hintergrund wird sogar davon ausgegangen, dass eine extensive Nutzung des Internets zu Konzentrationsschwierigkeiten und einer Verschlechterung des tiefen und komplexen Denkens führen kann. (Vgl. Hattie und Yates 2015; Stetina und Kryspin-Exner 2009) Neil Postman (1988), seines Zeichens Pionier der modernen Technikkritik, schreibt vor dem Hintergrund ähnlicher Studien: Wer annimmt, Technik „sei stets ein Freund der Kultur, der ist zu dieser vorgerückten Stunde nichts als töricht.“
Aufgrund der Eindringlichkeit der Ergebnisse ist die Studie Brain Drain von Adrian Ward und Kollegen in diesem Zusammenhang hervorhebenswert. Sie untersuchten, inwieweit die räumliche Nähe des eigenen Smartphones einen Einfluss auf die Lernleitung einerseits und auf die Aufmerksamkeitsfähigkeit andererseits hat. Mithilfe von drei Versuchsgruppen, in denen während der Testbearbeitung das Smartphone ausgeschalten am Tisch lag oder in der Tasche verstaut werden musste oder vor dem Prüfungsraum abzugeben war, kamen sie zu dem Ergebnis: Allein das Vorhandensein des Smartphones reduziert die Aufmerksamkeit und die Leistungsfähigkeit. Auf Facebook und Twitter machen aktuell Bilder von Lehrpersonen die Runde, die Strichlisten zeigen: Im Feldversuch haben sie festgehalten, wie viele Aktivitäten die Smartphones ihrer Kinder und Jugendlichen während einer Unterrichtsstunde haben: Mehrere Hundert Striche
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dokumentieren, wie oft Kinder und Jugendliche abgelenkt werden, wenn sie ihr Smartphone im Unterricht eingeschaltet lassen. Der Einfluss digitaler Medien auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist infolgedessen nicht wegzudenken. Neben positiven Auswirkungen sind aber bereits heute eine Reihe von negativen Effekten sichtbar, die darauf hindeuten: Je mehr Zeit Kinder und Jugendliche mit Smartphones verbringen, desto schlechter sind die schulischen Leistungen. Diese Wahrheit ist im Diskurs über digitale Medien zu berücksichtigen und aus pädagogischer Sicht ergeht die Forderung: Da digitale Medien Teil der Lebenswelt sind, müssen Menschen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene! – lernen, mit digitalen Medien sinnvoll umzugehen. Medienbildung ist das Stichwort.
15.4 Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Lernwelt Wie zeigen sich die Effekte digitaler Medien im Hinblick auf die Steigerung der Lernleistung im Unterricht? Wenn im Zug des Digitalpaktes schon mehrere Milliarden Euro in die Technik fließen, dann ist es aus politischer Verantwortung heraus nur konsequent danach zu fragen. Die Ergebnisse aus Visible Learning liefern ein ernüchterndes Bild: Nicht in Mathematik, nicht in den Naturwissenschaften, nicht beim Lesen und auch nicht beim Schreiben sind Leistungszuwächse nachweisbar, die die Hoffnungen auf eine digitale Bildungsrevolution rechtfertigen würden. Tab. 15.2 zeigt eine Übersicht über die wichtigsten Faktoren. Kaum ein Faktor erreicht Effektstärken größer 0,4, die meisten bleiben darunter und in Summe resultiert daraus ein Gesamteffekt von 0,33. So schön der Wunsch nach einer digitale Revolution des Lernens auch sein mag, wir warten auf ihn seit dreißig, vierzig Jahren, als die ersten Computer die Klassenzimmer stürmten – und bis heute ist er (noch) nicht in Erfüllung getreten. Dichtung ist nicht gleich Wahrheit. Auch hierzu eine Reihe von Faktoren, die exemplarisch beleuchtet werden. Allen voran werden für PowerPoint kaum positive Effekte nachgewiesen, häufig sind sogar negative Effekte möglich: weil Lehrpersonen schneller sprechen, weil Argumentationsstränge nicht mehr Schritt für Schritt entstehen und weil Lernende in verdunkelten Klassenzimmern stets dem Dilemma ausgesetzt sind: Folgen sie der Lehrperson oder lesen sie die Folien? Ähnlich ernüchternd sind die Ergebnisse aus einer aktuellen Metaanalyse zu den Effekten von Accelerated Reader – dem englischsprachigen Pendant von
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Antolin & Co und damit einem digitalen Angebot zur Leseförderung mit einer kompetitiven Punktesammelfunktion. Das Ergebnis: eine geringe Wirksamkeit auf die Leseleistung. Und selbst die mittleren Effekte auf die Lesemotivation sind problematisch, denn sie fokussieren nicht auf das Lesen und Lernen, sondern auf den Wettbewerb und sind folglich auch nur von kurzer Dauer. Angesichts der Kosten, die solche Programme verursachen, sind sie nicht ohne Weiteres zu empfehlen. Sie können den Unterricht nicht ersetzten, ja nur bedingt ergänzen. Für das Schreiben hat bereits 2014 die Studie The Pen is mightier than the Keyboard offenbart (Mueller und Oppenheimer 2014), dass Lernende besser und nachhaltiger lernen, wenn sie mit Papier und Bleistift dem Unterricht folgen und nicht einen Laptop für Notizen benutzen. In Zeiten von Tablets könnte man meinen, dass dieses Ergebnis aber schon veraltet ist. Denn Schreiben kann man am Tablet nahezu genauso wie mit Papier und Bleistift. Allerdings belegt die Studie Don’t throw away your printed books (Delgado et al. 2018), dass selbst dann das Lesen und Lernen vom Papier dem Lesen und Lernen am Tablet überlegen ist. Ein Grund dafür ist, dass Lernende vom Papier langsamer und gründlicher lesen, wohingegen am Tablet schneller und oberflächlicher gelesen wird – vieles wird weggewischt. Nicht viel anders steht es um die Wirksamkeit von Flipped Classroom auf die Lernleistung. Für viele ist diese Methode derzeit der Hoffnungsträger der Digitalisierung: Lehrpersonen verlagern Inputphasen aus der Schule in die Eigenverantwortung der Lernenden, um im Unterricht mehr Zeit für Gespräche zu haben. So faszinierend diese Idee ist, die Effekte sind ernüchternd. Zu viele Facetten sind zu berücksichtigen, sodass es letztendlich nicht die Methode des Flipped Classrooms ist, die wirkt oder eben nicht wirkt. Tab. 15.2 Faktoren zur Wirksamkeit digitaler Medien im Unterricht
Faktor
d
Laptop-Einzelnutzung
0,16
Clicker
0,22
Digitalisierung in den Naturwissenschaften
0,23
Einsatz von PowerPoint
0,26
Online Lernen
0,29
Flipped Classroom
0,29
Digitalisierung in Mathematik
0,33
Einsatz von Smartphones im Unterricht
0,37
Digitalisierung bei Förderbedarf
0,57
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Was bleibt, ist ein bekannter Schluss: Medien, ob digital oder analog, sind Hilfsmittel des Unterrichts. Entscheidend für ihren Erfolg ist und bleibt die Professionalität von Lehrpersonen. Setzen Lehrpersonen Technik um der Technik willen ein, was derzeit nicht selten zu beobachten ist, zeigen empirische Studien, dass digitale Medien sogar zu negativen Effekten führen können. Infolgedessen wird bei Fragen des digitalen Lernens klar: Auf dieser Ebene gelingt eine Revolution nur mit den Menschen. Pädagogik vor Technik ist und bleibt der Grundsatz.
15.5 Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Bildungswelt Aber wie zeigt sich der Sachverhalt auf der Ebene der Inhalte? Kann Informatik oder so etwas wie eine Digitale Bildung der Weg sein? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt es sich, pädagogisch zu denken, um politisch handeln zu können. Zweifelsfrei ist aus dieser Perspektive: Digitale Bildung ist neben einer mathematischen, sprachlichen, naturwissenschaftlichen, künstlerischen, musikalischen und sportlichen Bildung wichtig und muss einen festen Platz im Bildungssystem haben. Alles andere würde die Wirklichkeit ignorieren. Interessant erscheint insofern: Erstens, wie viel Digitale Bildung braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Und zweitens, wie lässt sich Digitale Bildung am besten in die Erziehung im Allgemeinen und in den Schulalltag im Besonderen integrieren? Zur Klärung der ersten Frage lohnt eine Auseinandersetzung mit der Theorie der Halbbildung von Theodor W. Adorno, die für alle Fächer Gültigkeit besitzt. Demnach muss und kann kein Mensch in allen Bereichen der Bildung Experte sein und letzte Kenntnis erlangen. Konkret: Wer weiß denn schon, wie das Innere eines Smartphones aussieht? Wer weiß denn schon, welche technischen Vorgänge ablaufen, wenn man auf einen Touchscreen tippt? Wer weiß denn schon, wie die Buchstaben im Rechner auf das Papier im Drucker gelangen? Und noch entscheidender: Wer muss all das wirklich wissen? Die Mehrheit der Bevölkerung sicherlich nicht – weder heute, noch morgen. Denn all das sind Fragen für Spezialisten, die sich immer mehr herauskristallisieren, je älter Lernende werden. Für eine zeitgemäße Allgemeinbildung wird es also ausreichen, eine positiv verstandene Halbbildung bei diesen Fragen zu haben und insofern das Große und Ganze zu kennen, die Grundprinzipien nachvollziehen und die Technik für die eigenen Lebensentwürfe sinnvoll und kritisch-konstruktiv nutzen zu können.
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Ein Allgemeinbildungskonzept, das sich umfassend und mehrperspektivisch versteht, das nach Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit ringt, kann helfen, Ort und Umfang einer Digitalen Bildung zu bestimmen. Wenn Kinder mehr Zeit vor dem Rechner verbringen als mit Freunden, und mehr Zeit in der virtuellen Welt verleben als in der realen, dann ist definitiv ein Übermaß an Digitaler Bildung erreicht. Damit ist die zweite Frage angesprochen: Braucht es ein eigenes Fach für Digitale Bildung? Nimmt man Digitalisierung als das, für was es vielerorts gehalten wird, nämlich als gesamtgesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit, so lässt sie sich im Sinn von Wolfgang Klafki als epochaltypisches Schlüsselproblem bezeichnen. Bei diesen wissen wir: Sie erfordern selbstverständlich eine Spezialisierung in den Fächern, aber auch eine interdisziplinäre Herangehensweise. Als Beispiel genannt sei Nachhaltigkeit, die in ökonomische, ökologische und soziale Bereiche hineinwirkt, letztlich jedoch nur übergreifend angegangen werden kann. Epochaltypische Schlüsselprobleme lassen sich nicht aus der Perspektive der Einzelfächer lösen, genauso wenig, wie sie nur fachübergreifend bewältigt werden können. Vor diesem Hintergrund scheint das bewährte Konzept einer Medienbildung auch für die Digitalisierung zu greifen. Sie integriert die Bereiche der Medienkunde, der Mediennutzung, der Mediengestaltung und der Medienkritik. All das gilt es bei einer Digitalen Bildung zu berücksichtigen und sowohl in einem fachlichen Zugang als auch als fächerübergreifendes Bildungsund Erziehungsziel umzusetzen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Denn bei allem Gerede über Digitalisierung, es gibt noch andere Herausforderungen: Inklusion und Migration als tagespolitische Themen, aber auch Rückgang der Körperlichkeit, insbesondere der körperlichen Verfassung von Kindern und Jugendlichen, Verlust der Demokratiefähigkeit, Wertewandel, Überlastungen und Orientierungslosigkeit in frühen Lebensjahren. Auch das sind Felder von Erziehung und Unterricht. Damit Schule diesen Aufgaben gewachsen bleibt, darf es nicht ständig ein Mehr sein. Wann immer neue Aufgaben hinzukommen, muss es auch möglich sein, bereits bestehende Inhalte zu hinterfragen. Lehrpläne zeichnen sich nicht durch pädagogischen Freiraum aus, sondern sind voll mit Details, deren Sinnhaftigkeit nicht immer aus der Wirklichkeit, sondern häufig aus der Vergangenheit herrührt. Digitalisierung kann hier eine besondere Chance eröffnen. Denn die Debatte über ein neues Fach kann, ja muss die Berechtigung aller anderen Bildungsinhalte infrage stellen. Der Lehrplan als „heilige Kuh“ steht zur Debatte und es ist zweifelsfrei an der Zeit, auch diese Kuh zu melken.
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15.6 Ausblick: Humanität als Grundlage einer Digitalisierung In der Konsequenz werden wir nicht umhinkommen, Digitalisierung zu einem Thema in Schule und Unterricht zu machen. Sie ist als epochaltypisches Schlüsselproblem bereits eine bildungspolitische Herausforderung und kann eine pädagogische Chance werden. Wenn, ja wenn es gelingt, ihre Möglichkeiten und Grenzen, ihre Vorteile und Nachteile zu sehen. Dabei lohnt es sich auch bei Lehrplanfragen, immer wieder auf den Ausgangs- und Endpunkt pädagogischer Bemühungen zu schauen: den Menschen. Weder zu euphorische, noch zu apokalyptische Debatten werden ihm gerecht, sodass auch im Fall einer Digitalen Bildung die Aristotelische Maxime vom rechten Maß leitend sein kann: nicht zu früh und nicht zu spät, nicht zu viel und nicht zu wenig. Die goldene Mitte zu finden, ist das Gebot der Stunde und hierfür ist der Kampf der geistigen Mächte, wie es Erich Weniger nennt, unabdingbar. Neben den angesprochenen Aspekten einer Digitalisierung im Bildungsbereich sind zwei weitere erwähnenswert: Erstens ist bis heute nicht geklärt, ob die damit verbundene Strahlung nicht doch problematisch ist. Werden diese Gedanken in die Diskussion gebracht, wird man schnell zum Spinner degradiert und folgender Sachverhalt (oder Mythos?) zitiert: Früher glaubten Technikkritiker auch, dass Zugfahren beim Menschen zu einer Gehirnkrankheit führen würde. Dagegengesetzt seien diesen Stimmen aber viele Beispiele, wo Technikkritiker recht behalten haben: Asbest galt lange als ungefährlich, ja sogar als „Wunderfaser“, obschon Mediziner früh auf die Risiken hingewiesen hatten. Heute wissen wir, dass es giftig ist und in den meisten Ländern ist es verboten. Glyphosat wird nach wie vor verharmlost, obschon unzählige Studien auf die gesundheitlichen Gefahren hinweisen. Gleiches gilt für die Handystrahlung, die – wie in einem Review von Röösli und Kollegen- bis heute ungeklärte Fragen aufwirft. Nun gut, so könnte man einwenden, über Handyverbote wird ja diskutiert und vielerorts gibt es sie. Aber WLAN ist nicht besser, wie Wilke aktuell in einer Synthese von über 100 Studien nachgewiesen hat. Die negativen Auswirkungen auf Lernen, Aufmerksamkeit und Verhalten, so ihre Schlussfolgerung, begründen für Erziehungsinstitutionen aller Altersstufen einen Verzicht auf WLAN-Anwendungen. Digitale Medien bergen folglich das Risiko, uns Menschen bei unreflektiertem Gebrauch zu verstrahlen. Zweitens ist bis heute eine der Kehrseiten der Digitalisierung nicht ausreichend geklärt, nämlich die Nachhaltigkeit. Was diese mit Digitalisierung zu tun
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hat, kann man eindringlich im Film Welcome to Sodom mit dem offenbarenden Untertitel nachsehen: „Dein Smartphone ist schon hier“. Im Film wird dargestellt, dass der ganze digitale Schrott, den die westlichen Industrieländer auf dem Weg der digitalen Transformation produzieren, eben nicht vernünftig entsorgt wird. Vielmehr müssen die Ärmsten der Armen dafür bluten und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen: In Containern wird der Elektromüll nach Ghana gefahren und dort auf eine große Mülldeponie geschüttet. Um nun an die seltenen Erden zu kommen, werden ausrangierte Smartphones und Computer kurzer Hand verbrannt – bei fürchterlicher Luft- und Trinkwasserverschmutzung. Neben ein paar Euro bleiben Krankheit und Elend zurück. Unter dem Blickwinkel nachhaltigen und globalen Handelns ist aber nicht nur das Recyceln ein Problem: Selbst die Gewinnung von seltenen Erden hinterlässt öde Landstriche und verursacht Eingriffe in die Umwelt, die kaum noch zu reparieren sind. Schnell mag man einwenden, dass digitale Medien aber Papier sparen und damit auch Energie. In der Theorie stimmt das. In der Praxis kommt es zum Rebound-Effekt: Zwar wäre ein Tablet, das ein Schüler für mehrere Jahre anstelle von Schulheften und Schulbüchern benutzt, nachhaltiger. Aber da das Tablet nicht das einzige digitale Medium ist, das Lernende heute besitzen, es in der Regel auch nur für wenige Jahre verwendet wird und noch dazu Lernende lieber das Wichtige ausdrucken, ist der positive Effekt schnell dahin. Ebenso ist es mit E-Mails: Auch diese sind auf den ersten Blick nachhaltiger als Briefe. Aber nur dann, wenn sie sinnvoll eingesetzt werden. Leider aber werden sie, weil es einfach geht, wesentlich häufiger geschrieben als Briefe und zudem mit einer Unmenge an sinnlosen Anhängen versehen, die die Ökobilanz im Vergleich zu einem Brief schnell umkehren. Schon heute ist das Internet, wenn man es als Land sieht, das Land mit dem sechstgrößten Energieverbrauch – Tendenz steigend. So bleibt festzuhalten: Digitale Medien führen in einer unreflektierten Anschaffung zu einer vergifteten Umwelt. Eine erfolgreiche Digitalisierung im Bildungsbereich braucht im Wesentlichen drei Dinge: Erstens Strukturen. Zweitens Menschen, die diese Strukturen zum Leben erwecken. Und drittens eine Vision von Bildung, die handlungsleitend wird. Entscheidend ist dabei der letzte Punkt! Ohne diese Vision ist alles andere inhaltsleer und ziellos. Leider können wir das derzeit in vielen Feldern beobachten: Es wird kräftig investiert – zur Freude der Wirtschaft – aber ohne eine Idee davon zu haben, was eigentlich damit erreicht werden soll. Aussagen, wie zum Beispiel „Wir müssen bei der Digitalisierung im Feld experimentieren“, offenbaren dieses Unvermögen. Also lasst uns zunächst gründlich überlegen, welche Bildung uns wichtig ist und welche Gesellschaft wir wollen. Sodann lasst uns die Menschen so stärken, dass sie dies erreichen können. Dafür müssen
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gewisse Strukturen verändert werden, die dann aber nicht nur zufällig wirken, sondern den Menschen dienen und auf ein Ziel hin ausgerichtet sind. Schulen sind Orte von Menschen und für Menschen. Der Mensch muss im Zentrum stehen. Es geht um Bildung und damit um die Frage, was uns Menschen zu Menschen macht und wie wir unsere Möglichkeiten als Mensch für uns und unsere Mitmenschen nutzen können. Das bedeutet aber, die Technik nicht über den Menschen zu stellen. Pädagogik vor Technik, muss es heißen. Denn jedes Kind hat ein Recht auf eine humane Schule – auch oder gerade im Zeitalter der Digitalisierung.
Literatur Delgado, P., Vargas, C., Ackerman, R., & Salmerón, L. (2018). Don't throw away your printed books: A meta-analysis on the effects of reading media on reading comprehension. Educational Research Review, 25, 23–38. Hattie, J., & Yates, G. C. R. (2015). Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive. Baltmannsweiler: Schneider. Hattie, J. & Zierer, K. (2018). Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag. Kates, A. W., Wu, H., & Coryn, C. L. S. (2018). The effects of mobile phone use on academic performance: A meta- analysis. Computer & Education, 127, 107–112. Marker, C., Gnambs, T., & Appel, M. (2018). Active on facebook and failing at school? Educational Psychology Review, 30, 651–677. Mueller, P. A., & Oppenheimer, D. M. (2014). The pen is mightier than the keyboard. Psychological Science, 25(6), 1159–1168. Postman, N. (1988). Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (19. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer. Stetina, B. U., & Kryspin-Exner, I. (Hrsg.). (2009). Gesundheit und Neue Medien. Psychologische Aspekte der Interaktion mit Informations- und Kommunikationstechnologien. Wien: Springer. Wolf, M. (2019). Schnelles Lesen, langsames Lesen. München: Penguin. Zierer, K. (2020). Lernen 4.0 (3. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider.
Prof. Dr. Klaus Zierer ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und seit 2015 Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Davor war er seit 2011 Professor für Erziehungswissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Nachfolge Hilbert Meyer). Zierer studierte von 1996 bis 2001 das Lehramt an Grundschulen und war von 2004 bis 2009 als Grundschullehrer tätig. An der LudwigMaximilians-Universität München wurde er 2003 promoviert und 2009 mit einer international vergleichenden Arbeit über eklektisches Vorgehen in Lehrbüchern der Didaktik und des Instructional Design habilitiert. Im Rahmen seiner Habilitation war er im Trinity
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Term 2009 Visiting Research Fellow am Department of Education der University of Oxford und ist seit 2010 Associate Research Fellow am dort angesiedelten ESRC Centre on Skills, Knowledge and Organisational Performance (SKOPE). Sein Œuvre umfasst ein breites Spektrum und reicht von theoretischen Artikeln bis hin zu praktischen Beiträgen. Hervorhebenswert sind die Arbeiten im Anschluss an John Hattie, die er zunächst mit Wolfgang Beywl ins Deutsche übertragen hat, mittlerweile aber auch in eigenständigen Projekten und Publikationen fortführt.
Soziologische und cyberpsychologische Perspektiven für Digitale Bildung
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Die Verschmelzung von Internettechnologie, KI und Mensch verändert politische, ökonomische und gesamtgesellschaftliche Prozesse Catarina Katzer Inhaltsverzeichnis 16.1 Cyberpsychologie – Wie das digitale Zeitalter Mensch und Gesellschaft verändert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 16.2 Netzeffekte auf Kognition, Ich-Erleben, Gemeinschaft sowie ökonomisches und politisches Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 16.2.1 Digitale Aufmerksamkeitsökonomie und ihre Folgen für kognitive Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 16.2.2 Cyberautomatismus und die Folgen für Selbstbild und soziales Gemeinschaftserleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 16.2.3 Netzeffekte auf ökonomisches und politisches Handeln. . . . . . . . . . . . 399 16.3 Schul-, Bildungs- und Unternehmenspolitik müssen sich dem digitalen Wandel stellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 16.3.1 Digitales Bildungsmanagement im schulischen Umfeld – Lernen und Wissensvermittlung müssen neu gedacht werden. . . . . . . . . . . . . . 402 16.3.2 Digitale Arbeitswelt 4.0 – Transformation der Unternehmenspolitik in Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 16.4 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
C. Katzer (*) Institut für Cyberpsychologie u. Medienethik, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_16
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C. Katzer Die Zukunft braucht kompetente Cybernauten.
Zusammenfassung
In noch nie dagewesener Form verändert der Digitalisierungsprozess unsere Art Mensch zu sein – von der Entwicklung der individuellen Persönlichkeit bis zu gesamtgesellschaftlichem Handeln. Dies erfordert eine stärkere Auseinandersetzung mit dem, was online mit emotionalen und kognitiven Prozessen, Verhalten und sozialer Gemeinschaft passiert. Digitale Entwicklungen müssen stärker aus dem Blickwinkel ihrer Folgen betrachtet werden. Welche Rückkopplungen zeigen sich für das physische Leben – auch für Ökonomie und Politik? Welche Auswirkungen hat die heutige digitale Weichenstellung auf den Einzelnen, die gesamte Gesellschaft und unsere Demokratie von morgen (s. Sharing Economy, Scoring Systeme)? Digitale Bildung ist besonders gefordert. Technikbasiertes Wissen, ein digitales Bewusstsein sowie cyberpsychologisch geprägte kognitive und sozioemotionale Fähigkeiten sind Voraussetzungen, um neue Technologien gezielt und bewusst einzusetzen. Schul-, Bildungs- und Unternehmenspolitik müssen sich diesem Transformationsprozess stellen.
16.1 Cyberpsychologie – Wie das digitale Zeitalter Mensch und Gesellschaft verändert Das „digitale Leben“ ist der Sprengstoff der Stunde: Technologie und Mensch, Online- und Offlinekosmos verschmelzen immer mehr. Denken, Fühlen und Handeln sowie politische, ökonomische und gesamtgesellschaftliche Prozesse verändern sich. Nahezu sämtliche Aspekte des Alltags, ob privat oder im Berufsleben, werden von den Grundprinzipien des Internets geprägt, sozusagen systemimmanent. Das Axiom dieser digitalen Aufmerksamkeitsökonomie lautet: Sei ständig vernetzt und erreichbar über sämtliche Grenzen hinweg, agiere immer schneller und werde transparenter und virtueller in Darstellung, Selbstpräsentation und Handeln. Die „smarte Technologie“ macht dies möglich. 1,4 Mrd. Geräte wurden 2019 weltweit verkauft (Statista 2020). In Deutschland besitzen 81 % der Bevölkerung über 14 Jahren mindestens eine Smartphonegeneration, die meisten haben mehrere in der Schublade (Bitkom Research 2019). In der Altersgruppe der 12- bis 18-Jährigen kann man schon seit einigen Jahren von einer Smartphonevollversorgung sprechen. Von den Sechs- bis 13-Jährigen hat immerhin schon jeder zweite eines (KIM Studie 2018).
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Dabei wird der Internetrhythmus immer mehr zum Biorhythmus: Selbstoptimierung, Leistungs- und Produktivitätsverbesserung, ob körperliche Fitness, private oder berufliche Erfolge, werden zunehmend digitaler. Messung, Orientierung und Festlegung von Zielen geschieht per App. In Wettbewerb tritt man dabei nicht nur mit sich selbst, sondern mit Tausenden von anderen Nutzern der entsprechenden Community. Self-Tracking ist ein Verhaltensphänomen, das bereits von mehr als 30 % der Deutschen über 14 Jahren ganz selbstverständlich in ihr Alltagsleben integriert wird (Bitkom Research 2016, Splendid Research 2019). Dabei gilt immer öfter: Onlinesein ohne Auszeit. So nutzen 30 % der Erwachsenen und zwei Drittel der 12- bis 18-Jährigen ihre „mobilen Tools“ auch im Bett (s. Pronova BKK 2017). Ein regelrechter Cyberautomatismus entsteht: ca. alle zehn bis 15 min werfen junge Erwachsene einen Blick auf ihr Smartphone, Viel-User sogar alle fünf Minuten (Markowetz 2015). Die Folge: eine automatische Konditionierung auf einen Rhythmus des ständigen Unterbrechens. Neue Verhaltensphänomene, wie z. B. das sogenannte Phantomschauen (habit to check), entwickeln sich: der Griff nach dem Smartphone erfolgt nur, weil man glaubt, eine Mail, eine WhatsApp-Nachricht oder ein Facebook-Anstupser seien eingegangen. Tatsächlich aber ist alles reine Einbildung – eine digitale Illusion. Dabei wird die Technologie auch Teil des eigenen physischen Empfindens. Man verwächst regelrecht mit dem Smartphone, es gehört wie selbstverständlich zum Körper dazu oder wird zu einer Verlängerung der eigenen Hand (Liepelt et al. 2015). Auch eine emotionale Beziehung wird zu den Geräten aufgebaut, die ganz direkt das eigene Wohlbefinden beeinflusst. Ein niedriger Akkustatus des Smartphones führt zu spürbarem Unwohlsein und vor uns liegende Handlungen oder der gesamte Tagesverlauf werden im Voraus negativer beurteilt (Montag 2019a; Robinson und Arnould 2019). Insgesamt wird das Dasein ohne die smarten Geräte oft nicht mehr ertragen. Das Stressempfinden steigt, wenn das Smartphone vergessen wurde oder der Energiesparmodus aufleuchtet. Entzugserscheinungen, Phantomschmerzen oder Nomophobie (die Angst etwas zu verpassen, wenn man nicht on ist) können die Folge sein (z. B. Montag 2017, 2018; Muench et al. 2015; Ryan et al. 2014; Seunghee et al. 2017). All dies passiert unbewusst. Doch überraschend ist dies nicht. So entsprechen Smartphonetechnologie und Anwendungen in Millionen Apps weltweit den ureigensten menschlichen Bedürfnissen nach Spiel und Spaß, Selbstdarstellung und Identitätssuche, Kommunikation oder sozialer Gemeinschaft. Der Mensch befindet sich in einem schleichenden Gewöhnungsprozess an die digitalen Begleiter. Und dieser beginnt immer früher: Mittlerweile „nutzen“ 70 % der deutschen Kleinkinder und Vorschüler zwischen zwei und fünf Jahren das Smartphone der Eltern mindestens eine halbe Stunde täglich (BLIKK Studie
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2017). Dabei sind erste negative Effekte auf Aspekte sozialer Kompetenz, wie z. B. Sprache und nonverbale Kommunikation spürbar. Studien zeigen bei Kleinkindern im Alter von 18 Monaten, die durchschnittlich eine halbe Stunde pro Tag über einen längeren Zeitraum mit dem Smartphone der Eltern „spielen“ dürfen, einen deutlich geringeren Gebrauch von Lauten, um sich zu verständigen sowie eine spätere Entwicklung der Sprache als bei Gleichaltrigen ohne Smartphonenutzung (Ma 2017). Bei erhöhtem Gebrauch, ohne zielführende Beschäftigung, kann sich somit die Sprachentwicklung verzögern (s. auch TARGet Kids! Studie 2017). Auch das Verständnis von Gestik und Mimik wird schlechter erlernt. Gerade das Face-to-Face-Erleben, die Vermittlung durch ein körperliches Gegenüber, ist entscheidend für das Erlernen von nonverbaler Kommunikation. Dies gilt allerdings nicht nur für Kleinkinder: Eine erhöhte Bildschirmzeit kann insgesamt die Fähigkeit verringern, nonverbale Kommunikation verstehen zu können (Uhls et al. 2014). Insgesamt wird der Onlinekosmos immer mehr zu einem neuen Koordinatensystem für das gesamte menschliche Denken, Fühlen und Handeln. Dabei entwickeln sich Internet- und Smartphonetechnologie zu unabdingbaren Tools mit Orientierungs- und Ratgeberfunktion für Privat- und Berufsleben. Dies hat zum einen Folgen auf der Individualebene, z. B. für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwahrnehmung, Handlungsmotivation oder Entscheidungsverhalten. Zum anderen betrifft der digitale Wandel gesamtgesellschaftliche Prozesse. Interaktion und Gruppenverhalten, soziales Lernen, Kommunikation und Meinungsbildung erhalten eine immer stärkere digitale Prägung, ob im privaten, beruflichen, gesamtökonomischen oder politischen Kontext. Diese umfänglichen Veränderungen werfen neue Fragen auf. Wie sollen wir mit diesen Veränderungen umgehen? Wie sind sie zu bewerten und einzuordnen? Welche Auswirkungen hat die heutige digitale Weichenstellung auf den Einzelnen, die gesamte Gesellschaft und unsere Demokratie von morgen (z. B. Scoring Systeme)? Benötigen wir digitale Grenzen? Die vorgehende Diskussion macht deutlich: Die neue virtualisierte Wirklichkeit, die durch die voranschreitende Verschmelzung von physisch realen und digitalen Lebensräumen entsteht, benötigt neue Betrachtungsweisen und psychologische Erklärungsansätze. Hierfür ist eine Neuausrichtung des gesamten Bildungsbereiches, ob frühkindliche Erziehung, ob schulisches, universitäres oder berufliches Umfeld, unverzichtbar. Insbesondere der Einbezug der Cyberpsychologie als neue Forschungsrichtung ist für die Transformationsprozesse von Schul-, Bildungs- und Unternehmenspolitik unerlässlich. Die Betrachtung der verschiedenen Aspekte der zunehmenden Vernetzung von Internettechnologie und KI mit Individuum und Gesellschaft und deren Einfluss auf emotionale und
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kognitive Prozesse, Ich-Kultur und Gemeinschaftserleben, Politik und Wirtschaft, wird eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung kompetenter Cybernauten spielen. Einige wichtige Perspektiven werden im Folgenden diskutiert.
16.2 Netzeffekte auf Kognition, Ich-Erleben, Gemeinschaft sowie ökonomisches und politisches Handeln 16.2.1 Digitale Aufmerksamkeitsökonomie und ihre Folgen für kognitive Prozesse Wer nichts postet, ist nicht existent – wer nicht schnell genug auf eine WhatsAppNachricht antwortet, der bekommt Vorwürfe von seinen Kommunikationspartnern – ob im privaten oder beruflichen Umfeld. Wir leben in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie: ständig selbst aufmerksam sein und gleichzeitig Aufmerksamkeit bei anderen erzeugen. Dabei besteht eine der großen Herausforderungen in der Aufmerksamkeitsökonomie zu leben darin, dass man nicht wie früher nur auf einer Wahrnehmungsoder Bewusstseinsebene agiert, nämlich dem Umfeld, das einen real, physisch umgibt (Katzer 2016). Durch die Vielfalt des Cyberspace, die sich auf den mobilen digitalen Tools in unzähligen Apps darstellt, bewegt man sich immer häufiger in ganz vielen erlebbaren Handlungsräumen – virtuell und physisch real – und das nahezu zeitgleich. Dies hat umfassende Auswirkungen auf das emotionale Erleben des eigenen Handelns (Katzer 2016, 2018b). Die Erwartungen des Umfeldes, ständig digital zu agieren und zu reagieren, erhöhen den Kommunikationsdruck. Dieser wirkt permanent. Insbesondere die junge smarte Generation fühlt sich immer unwohler, ständig interagieren zu müssen (Digital Awareness UK Study 2017). Kinder und Jugendliche spüren eine gewisse Ambivalenz im Umgang mit der Internettechnologie. Dies nehmen die Erwachsenen allerdings so nicht wahr – ihre Anforderungen an die smarte Generation sind vielfach zu hoch. Gleichzeitig unterliegen sie selbst diesem gesamtgesellschaftlichen digitalen Handlungsdruck. Auch sie folgen dem Trend der stetigen Verschmelzung mit der Internettechnologie, empfinden allerdings ähnlich der Jugend eine deutliche Überforderung. Jeder zweite deutsche Arbeitnehmer fühlt sich durch mediale Tools im Beruf und im Privatleben gestresst (s. Technostress, Studie DGB 2016). Diese digitale Überforderung zeigt sich auch anhand kognitiver Effekte. So lässt die Konzentrationsfähigkeit durch das ständige Unterbrechen der aktuellen Handlung nach. Man muss gedanklich immer wieder neu in die vorherige Handlung einsteigen. Das ist anstrengend, eine digitale
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kognitive Überforderung entsteht. Die Fehleranfälligkeit steigt, Schnelligkeit und Qualität der Tätigkeiten leiden, die Auffassungsgabe kann sich verringern und das Gedächtnis insgesamt verschlechtern (Minear et al. 2013; Ward et al. 2017).
16.2.1.1 Twitter-Denken und Automatismus digitaler Wissenssuche – Folgen für Meinungsbildung und Entscheidungsverhalten Der wachsende Cyberautomatismus kann durch das ständige Unterbrechen der aktuellen Handlung (z. B. Aufgaben erledigen, dem Unterricht, Vorlesungen oder Gesprächen folgen), das geistige Hin- und Herpendeln von online zu offline oder von online zu online sowie die digitale Vielfalt der konsumierten und selbst produzierten Inhalte die Bildung kognitiver Strukturen empfindlich stören (Minear et al. 2013; Uncapher et al. 2017). Eine Folge: Aufmerksamkeitsökonomie fördert neue Wahrnehmungsstrategien, die Gewöhnung an kurze Informationshäppchen (tweets). Nur noch ca. zehn bis 15 % der Dokumente, die man online aufsucht, werden wirklich gelesen (Nicholas 2014; Nicholas & Clark 2014). Dies hat Auswirkungen auf das reale Leseverhalten, man scannt Zeitungen und Buchseiten ebenfalls nur ab. Einige Wissenschaftler sprechen bereits von Twitter-Gehirnen (Wolf 2019). Ob als Warnung oder Übertreibung: Sicher ist, dass die Informationsaufnahme oberflächlicher wird. Wahrnehmungspsychologisch werden dadurch immer häufiger Ablenkungseffekte wirksam, die die Informationsaufnahme in bestimmte Richtungen lenken. Gerade Emotionen, bekannte Inhalte oder eigene Meinungen, die sich online scheinbar bestätigen lassen (Bestätigungsfehler) übernehmen die Leitung der Wahrnehmungsprozesse (Katzer 2018a, 2019b). Sie wirken wie ein digitaler Filter, der unterschiedliche Perspektiven ausschaltet und gleichzeitig ein digitales Erinnern entwickelt. In Zeiten von Algorithmen sind Filterblasen quasi systemimmanent an der Tagesordnung. Die Folge: Inhalte, die immer wieder auftauchen, werden nicht nur besser erinnert, sie wirken auch glaubwürdiger und wahrer (mere exposure effect) (Zajonc 2001; Katzer 2018a, 2019b). Dabei werden auch Masse und Anzahl zum Garanten für Wahrheit und Glaubwürdigkeit. Je mehr Follower und Likes, umso glaubwürdiger wirkt der Sender der Information. Dadurch wird man aber für Manipulationseffekte immer anfälliger. Urteils- und Kritikfähigkeit können empfindlich leiden, vor allem bei jüngeren Usern. Diese negativen Effekte werden von den Ergebnissen der internationalen Vergleichsstudie ICILS 2018 für Achtklässler bestätigt (Eickelmann und Labusch 2019). Eine Untersuchung der Universität Stanford zeigte bereits 2016 eine bedenkliche Entwicklung: 80 % der unter 18-Jährigen in den USA können nicht mehr zwischen Fake News, echten Nachrichten, Advertising, absichtlich gestreuten
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Hetzschriften, kommerziellen Webseiten und Nachrichten von Influencern und Twitterern unterscheiden (Wineburg et al. 2016). Ein Faktencheck findet nicht mehr statt. Auf diese Weise können gerade Kinder und Jugendliche leicht in ein digitales Umfeld der Filter Bubble geraten. Ein weiterer Effekt ist die steigende digitale Fremdbestimmung, die nicht nur kognitive und emotionale Prozesse beeinflusst, sondern auch das Treffen von Entscheidungen. So wird z. B. das Konsumverhalten immer stärker durch Menschen, Gruppen, Einstellungen, Meinungen, Fotos oder Videos beeinflusst, denen man online begegnet (vgl. Katzer 2019a; Pilgrim und Bohnet-Joschko 2019). Influencing ist mittlerweile eine weltweit erfolgreiche Marketingstrategie: Im Jahr 2019 erwarben 43 % der 14- bis 17-jährigen deutschen Nutzer ein Produkt, welches durch einen Influencer angepriesen bzw. genutzt wurde (s. BVWD 2019). Allerdings gilt dies nicht nur für die jugendliche Zielgruppe. In der Altersgruppe der der 25- bis 34-Jährigen waren es bereits 30 % Prozent und bei den bis 45-Jährigen wählte immerhin jeder fünfte wegen eines Influencers ein Produkt aus (BVDW 2019). Der finanzielle Erfolg bestimmter Influencer ist gewaltig (s. BibisBeautyPalace, mit rund 5,68 Mio. Abonnenten eine der erfolgreichsten in Deutschland). Aus Sicht gerade vieler jugendlicher Konsumenten wird der kommerzielle Hintergrund zwar mitbedacht, tritt aber bei der Beurteilung der Influencer zunächst zurück. Dies hängt mit dem enormen Maß an Glaubwürdigkeit zusammen. Influencer wirken besonders authentisch. Sie leben in ähnlichen Situationen, posten aus dem Kinder- oder Wohnzimmer heraus und werden trotzdem oder gerade deswegen zum Star. Die starke Bewunderung, die den Influencern aufgrund ihres Erfolges entgegengebracht wird, rückt hingegen den kommerziellen Aspekt wieder in den Fokus. Dies beeinflusst mittlerweile den eigenen Berufswunsch: Ein Drittel der Jugendlichen möchte selbst Influencer werden (s. Bitkom 2018) (bekannte Influencer und Youtuber sind z.B. Dagi Bee oder die Lochis). Das Netz wird zur Schablone des eigenen Lebens. Ein besonders heikler Aspekt: je glaubwürdiger und authentischer, umso weniger kritisch werden Influencer betrachtet. Man denke z. B. an den YouTuber Rezo, dessen Video im Vorfeld der Europawahl 2019 bei jungen Usern eine deutliche Meinungsbildung bewirkte. Kaum diskutiert wurde, dass er zum Influencer-Netzwerk Tube One gehört, welches von Ströer Digital vermarktet wird. Im digitalen Zeitalter folgen die Kriterien von Qualitätsbeurteilung und Glaubwürdigkeit somit neuen Regeln (Katzer 2016, 2018a, 2019b). Vor allem wenn man die Chancen des Internets für demokratische Prozesse und das gesteigerte Potenzial für Eigeninitiative der jüngeren Generation betrachtet, benötigt gerade sie das notwendige kognitive Rüstzeug, um nicht auf falsche Fährten gelenkt zu werden. Informationen, seien sie auch noch so professionell
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vermittelt, könnten falsch sein. Qualität und Wahrheitsgehalt sind nicht von vornherein ersichtlich. Die sogenannte Gatekeeper-Funktion, wie sie in der vordigitalen Zeit vor allem Fachjournalisten innehatten, gibt es heute nicht mehr (Katzer 2017). Jeder kann der Verfasser von Nachrichten sein, die millionenfach verbreitet werden, und damit zum Meinungsmacher werden. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Informationen aus dem Milliardenpool zu trauen und zu folgen ist, erfordert ein gehöriges Maß an kritischem Hinterfragen und Denken. Diese Kompetenzen werden deshalb in der digitalen Zukunft von entscheidender Bedeutung sein. Dabei beeinflusst die Aufmerksamkeitsökonomie nicht nur situative Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse, sondern auch Fähigkeiten des Gehirns insgesamt, wie z. B. das Langzeitgedächtnis. Wird dieses nicht gefüttert, insbesondere in Kindheit und Jugend, bleiben Fähigkeiten ungenutzt. So wird das Langezeitgedächtnis benötigt, um kontextbezogenes interdisziplinäres Denken und intellektuelle Kompetenzen auszubilden (Carr 2010; Crowell 2004). Das digitale Twitter-Handeln kann dies behindern. Erfahrungen werden nicht mehr abgespeichert, Mindmaps nicht gebildet und das Gehirn verändert sich (Plastizität). Studien zeigen dies z. B. für die häufige GPS-Nutzung: Der Ort des Gehirns, der für die Orientierungsfähigkeit zuständig ist, bildet sich zurück (McKinlay 2016). Eine mentale Trägheit entsteht, so auch der Psychologe Prof. Münzer (Weber 2015). Dies gilt es auch aus bildungspolitischer Sicht kritisch in den Blick zu nehmen: Nutzenorientierter Technologiegebrauch muss Fähigkeiten und Kenntnisse fördern und nicht hemmen. Ein weiterer kognitiver Aspekt der Aufmerksamkeitsökonomie ist die Gewöhnung an die digitale Wissenssuche. 90 % der Jugendlichen wenden sich bei allgemeinen Fragen direkt ans Netz – nicht an physisch erreichbare Freunde oder mögliche Ratgeber: Google und soziale Netzwerke wie Facebook stehen an erster Stelle, erst danach auf Rang 3 mit 15 % folgt das physische Umfeld (vom Orde und Durner 2017, 2019). Gerade die jüngere Generation befindet sich in einem automatischen Gewöhnungsprozess, der die Suche nach Wissen und Informationen immer stärker in die Onlinewelt verlagert. Dies kann dazu führen, dass man seinem eigenen Wissen im Kopf, immer weniger zutraut: Es wird immer häufiger nach einer digitalen Rückversicherung gesucht – hat man wirklich recht gehabt? Dies kann wiederum Auswirkungen auf die Intuition haben, sie schwindet. Doch sie spielt gerade bei komplexen Entscheidungen eine wichtige Rolle (Giggerenzer 2019). Auch eine stärkere Technikgläubigkeit – „Algorithmen machen keine Fehler“ – kann die Folge sein. Und dass, obwohl Algorithmen auf bestimmte Aktionen programmiert werden können, die Denken und Meinungsbildung gezielt manipulieren. Digitale Bildung muss in ihrer inhaltlichen
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Neuausrichtung die Beeinflussung von Meinungsbildung und konkreter Entscheidungsfindung sowie die Möglichkeit eines Verlustes kognitiver Fähigkeiten durch eine immer stärker werdende digitale Fremdbestimmung besser in den Blick nehmen.
16.2.1.2 Negative Lerneffekte und die Chancen von Positive Computing Ob im schulischen, universitären oder beruflichen Umfeld: Digital arbeiten heißt vor allem, Tools wie Smartphonetechnologie, KI oder VR sinnvoll einzusetzen. Dabei beeinflusst die Aufmerksamkeitsökonomie auch Arbeits- und Lernprozesse. So zeigt die internationale Forschung, dass z. B. die Anwesenheit von Smartphones zu negativen Lerneffekten führen kann und kognitive Fähigkeiten mindert (Montag 2018, 2019a, b; Ward et al. 2017). Man ist automatisch abgelenkt und die Konzentrationsfähigkeit sinkt. Das gilt sogar, wenn die Geräte ausgeschaltet sind. Dem Unterricht oder Meetings zu folgen wird damit deutlich schwieriger, es wird weniger erinnert, Notizen und Mitschriften werden fehlerhafter. Dadurch werden mehr Wiederholungssequenzen notwendig. Auch die Bewältigung von Aufgaben dauert länger. Arbeitsleistung sowie Produktivität werden dadurch stark beeinträchtigt. Der Faktor Zeit bekommt eine neue Dimension: Amerikanische Studien kamen bereits zu Beginn der 2000er-Jahre zu der Erkenntnis, dass 20 % der Arbeitszeit mit unnötigem Netzsurfen verpufft (Studie Websense und Harris Interactive 2002). Dadurch kann auch das Stresslevel deutlich ansteigen. Schließlich fehlt für die Erledigung der beruflichen Tätigkeit ein großer Teil der Arbeitszeit (Katzer 2016). Smartphone- und Internettechnologie können sich somit eindeutig zu einem Störfaktor für produktives Denken, Lernen und Handeln erweisen (Ward et al. 2017). Es gilt also nicht der Einsatz von Smartphones, Tablets oder VR und KI nur um deren Einsatz willen (Lembke 2019; Sana et al. 2013). Für eine erfolgreiche Nutzung neuer Technologien im schulischen Unterricht wie im Unternehmenskontext ist der entscheidende Faktor die Anleitung der Lehr- bzw. Führungskräfte und Vorgesetzten (s. Hattie in Munzinger 2019; Schaumburg 2018; Brandenberg et al. 2019). Positive Lerneffekte lassen sich nur mit einer konkreten Vorgehensweise und einem zielgerichteten Aktivierungsgrad der Schüler, Studenten und Mitarbeiter durch entsprechende Impulse von außen erzielen. Ist dieser Lernkontext geschaffen, können digitale Medien (z. B. auch VR) insbesondere für komplexe, abstrakte Themen hilfreich sein. Auch können durch ihren Einsatz Partnerarbeit, Austausch und Lernprozesse bei Schülern und Mitarbeitern gefördert werden (s. ZIB-Studie 2017; Brandenberg et al. 2019).
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Diesbezüglich befasst sich das Forschungsfeld Positive Computing z. B. mit dem Nutzen von KI und Virtual Reality zur Verbesserung des menschlichen Wohlbefindens sowie dem Erlernen von Fähigkeiten. Erste Erkenntnisse zeigen, dass gerade VR das Interesse, die Motivation und den Spaß an einer Thematik fördern kann. Dies ist aber noch nicht gleichbedeutend mit der Aneignung von Wissen. Die Voraussetzung für einen positiven Effekt ist ein gewisses Maß an Selbstkontrolle im Umgang sowie die Fähigkeit, den Nutzen einzuschätzen (s. Brandenberg et al. 2019). Zieht man ein Fazit zu Digitalverhalten und Lerneffekten wird deutlich, dass Smartphone & Co nicht automatisch smarter machen. Inhalte und Tätigkeiten, der zielgerichtete Einsatz sowie geeignete Anwendungen (Apps, Onlinetools) spielen die entscheidende Rolle für einen positiven Lernerfolg. Dies ist ein wesentlicher Aspekt für die zukünftige Ausrichtung der Digitalen Bildung im schulischen und universitären Umfeld sowie in der Unternehmensführung. Gerade auf der Seite von Wirtschaft und Arbeitgebern besteht ein deutlicher Wissensnotstand: Sie vergessen häufig die cyberpsychologischen Auswirkungen auf Menschen und Organisationen, die durch die immer stärkere Vernetzung zwischen Individuum, Internettechnologie und Künstlicher Intelligenz entstehen. Produktivität, Effektivität und auch Motivation können darunter leiden. Ein neuer Umgang mit den künftigen technologischen Herausforderungen ist dringend notwendig. Es ist unverzichtbar, den Faktor Der digitale Mensch für eine erfolgreiche Zukunftsausrichtung von Unternehmen und Wirtschaft stärker in den Fokus zu rücken.
16.2.2 Cyberautomatismus und die Folgen für Selbstbild und soziales Gemeinschaftserleben Soziale Kommunikation findet heute immer mehr in digitalen Räumen statt. Plattformen wie Facebook, Instagram, YouTube, Snapchat, WhatsApp oder Livestreaming-Dienste (z. B. tiktok, ehemals musical.ly) schieben sich als Erlebnis- und Lernräume zunehmend neben physische Orte wie Arbeitsplatz, Schule, Nachbarschaft oder das eigene Zuhause (Katzer 2019a). Mittlerweile nutzen 84 % der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren Instagram regelmäßig (Heintze und Dick 2018). 64 % sind mehr als vier Stunden täglich damit beschäftigt (Rheingold Salon 2019). Von den Erwachsenen sind es immerhin schon ein Drittel (Pew Research Center 2018). Dadurch geraten emotionale Ich-Ebene (Identität und Selbstbild) aber auch das Gemeinschaftserleben insgesamt in immer größere Abhängigkeit von digitalen Bezugs- und Bewertungssystemen. Der Faktor Aufmerksamkeit spielt auch hier eine immer bedeutendere Rolle.
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16.2.2.1 Selbstbild und Identitätssuche – Die Bedeutung digitaler Bezugs- und Bewertungssysteme Insbesondere im Kontext von Identitätssuche, Selbstbild und sozialen Vergleichsprozessen nehmen digitale Kommunikationsräume eine wichtige Stellung ein. So sind Prozesse der eigenen Selbstdarstellung (s. impression management), gezielt ein Image zu kreieren, um bestimmte Reaktionen bei anderen hervorzurufen und über Rückkopplungen die eigene Identität zu definieren (s. looking glass self), seit je her ureigenste menschliche Bedürfnisse. Doch Vorgehensweise und Abläufe dieser Prozesse haben sich stark verändert. Bei der Frage, wer bin ich und wer will ich sein, orientiert man sich immer stärker an Personen, mit denen man online connected ist (vgl. Katzer 2019a; Pilgrim und Bohnet-Joschko 2019). Die virtuellen „anderen“ werden zu einem neuen Orientierungs- und Referenzsystem für die eigene Person. Dabei hat das Spiel mit dem eigenen Ich, die Selbstdarstellung über Selfies, Instagram-Accounts oder YouTube-Portale für das Selbstbild und Identitätsempfinden aus verschiedenen psychologischen Aspekten heraus eine besondere Bedeutung. So erhöht allein die physische Selbstpräsentation, das sich selbst sehen in bestimmten Posen und Situationen, die emotionale Bindung an das eigene Ich. Hinzu kommt, dass die Kontrolle über die eigene Selbstdarstellung, die Selbstbestimmtheit, ein Gefühl der Sicherheit und Stabilität vermittelt. So sind die meisten Selfies eine gezielte Konstruktion der digitalen Wirklichkeit. Diese Kontrollüberzeugung gegenüber der eigenen Darstellung, kann positive Effekte auf das Selbstbild haben, vor allem wenn die Reaktionen anderer, der digitalen Kontakte und Peers, positiv sind. Bleiben allerdings Reaktionen aus oder werden plötzlich kritisierend, ablehnend oder herabwürdigend, können negative Auswirkungen wie Selbstzweifel, verstärkte Selbstkritik, Ablehnung, Selbsthass und depressive Stimmung bis hin zu selbstverletzendem Handeln (auch Suizid) die Folge sein. Dabei zeigt sich, dass gerade auch eine passive Nutzung (reine Betrachtung) von Fotoplattformen wie Instagram, das eigene Selbstwertgefühl schwächen, negative Körperwahrnehmung erhöhen oder zu depressiven Stimmungen führen kann (Young health Movement und Royal Society of Public Health 2017). Da der Trend der Selbstdarstellung auf Instagram und Co dem Motto ständiger Steigerungen und Verbesserungen folgt (man zeigt Glücklichsein, Schönheit oder Erfolg; Misserfolge, Fehler oder das normale Leben werden hingegen ausgeblendet), besteht auch die Gefahr in eine digitale „Glücksfalle“ zu geraten. Das hohe Vergleichsniveau (s. soziale Vergleichsprozesse) lässt das eigene Leben umso trister und erfolgloser erscheinen und kann für die eigene Psyche eine umso höhere Belastung bedeuten.
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16.2.2.2 Digitale Validierungsspirale – Über SelbstObsession, Self-Tracking und ein verändertes Gemeinschaftserleben Der Selbstdarstellungsmarathon, in den immer mehr gerade jüngere Menschen geraten, fördert nicht nur emotionale Abhängigkeiten nach Reaktionen von außen (Likes, Follower). Ein weiterer Aspekt des sich ständigen Validierens und Vergleichens mit anderen (Validierungsspirale) ist die Förderung einer verstärkten Selbst-Obsession. Internationale Experten bestätigen einen Zusammenhang zwischen einer übersteigerten Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken und gewissen narzisstischen Neigungen. So beschrieben die amerikanischen Psychologen Jean M. Twenge und W. Keith Campell bereits (2009) eine regelrechte Narzissmus-Epidemie. Selbst-Obsession und digitale Selbstoptimierung (SelfTracking) sowie Selbstüberwachung von Konsumgewohnheiten, Sportverhalten, Gesundheitsdaten und vielem mehr, stehen dabei in engem Zusammenhang. Eine besondere Gruppe des digitalen Optimierungstyps finden man in Unternehmen: auf Führungs- und Managementebenen (Katzer 2016). Extreme Erfolgsorientierung und Leben im Wettbewerbsmodus machen Selbstkontrolle, Effizienzsteigerung, das Erreichen oder Setzen von Benchmarken, das bewusste Schauen auf Output, den bisher erreichten Erfolg und natürlich zukünftige Ziele zum Selbstzweck. Dabei besteht nicht nur der Reiz darin, selbst zu sehen, wie man sich stetig verbessert, sondern auch darin, dass man dies anderen mitteilen kann. Diese sozialen Vergleichsprozesse, um sich selbst verorten, einordnen und auch beurteilen zu können, und das Teilen der eigenen Erfolge auf einer Onlineplattform mit vielen tausenden Mitgliedern, kann Leistungsbereitschaft und Motivation des Einzelnen fördern. Allerdings besteht auch hier die Gefahr einer Übermotivation, eines Realitätsverlustes sowie einer Überforderung, die zu hohen psychischen Belastungen führen. Digitaler Stress und Suchtverhalten können die Folge sein (Reed 2018). Hinzu kommt, dass Gemeinschaftserleben verstärkt zweck- und nutzenorientiert, als Ansporn und Vorankommen für das eigene Ego, ausgewählt wird. Ökonomisierung und Wettbewerb als Axiom für Vergemeinschaftung lässt den Charakter der Gemeinschaft um ihrer selbst willen, auch auf der emotionalen Ebene, in den Hintergrund treten. Eine zunehmende Konzentration auf eigene Belange (Selbst-Obsession) kann auch dazu führen, dass innerhalb einer Organisation Kommunikation und Zusammenarbeit empfindlich gestört werden. Fehlen zusätzlich soziale Kompetenzen, wie die Fähigkeit andere zu verstehen, Probleme zu erkennen und auf diese lösungsorientiert und mitarbeiterspezifisch einzugehen, können tief greifende Kommunikationsstörungen entstehen und
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Produktivität sowie Motivation anderer Mitarbeiter, Kollegen oder auch ganzer Abteilungen leiden. Auch die Gefahr, dass der Mensch als Individuum immer stärker ökonomisiert wird – er zur Summe seiner selling points wird und eine Orientierung nach digital gesetzten Referenzsystemen stattfinden muss – ist aus sozialpolitischer sowie humanistischer und ethischer Sicht nicht unbedenklich. Werden Selbstbeobachtung und Überprüfung (auch durch eine Verhaltenskontrolle von außen), quasi systemimmanent, gerade durch die Hilfe digitaler Werkzeuge (s. Kameras, Software, Tracker, implantierte Chips), stellt sich die Frage nach dem verbleibenden Humanismus sowie dem zugrunde gelegten Menschenbild in der Gesellschaft als Ganzes und in der Arbeitswelt im Speziellen (digitaler Arbeitnehmer).
16.2.3 Netzeffekte auf ökonomisches und politisches Handeln Smartphonewege prägen Stadtbilder in China. Bodenampeln an Straßenbahnhaltestellen und QR-Codes an Touristenattraktionen sind auch in Europa zu finden. Smarte Landwirtschaft setzt auf Drohnen als Schädlingsbekämpfer und Erntehelfer oder bestimmt die optimale Melkzeit für die Milchproduktion per App. Nahezu sämtliche Arbeits- und Berufswelten zeichnen sich immer stärker durch digitale Arbeitsplätze, Robotik oder selbstlernende Prozesse aus. All diese technologischen Veränderungen entstehen nicht nur weil Industrien diese vorgeben. Sie entwickeln sich und setzen sich durch, weil Menschen sie annehmen, akzeptieren und einen Nutzen in ihnen sehen. Gleichzeitig werden durch neue Erfindungen und Ideen erst Wünsche und individuelle Bedürfnisse geweckt. Man denke z. B. an den Faktor Bequemlichkeit, der digitales Einkaufen (Onlinehandel), die Nutzung von Spracherkennungssystemen wie Alexa oder Technologien des Smarthome für viele selbstverständlich und unverzichtbar macht. Gleichzeitig löst aber z. B. das digitale Konsumentenverhalten einen Schrumpfungsprozess des Detailhandels in den Städten weltweit aus und macht weitere digitale Anwendungen umso notwendiger. Digitalisierung und menschliches Verhalten interagieren miteinander.
16.2.3.1 Wie Digital Economy und menschliches Verhalten interagieren Technologische Prozesse sind nicht isoliert zu betrachten. Menschliches Verhalten verstärkt die technologischen Entwicklungen. Sie wirken wie ein reziprokes System. Dies zeigt sich auch im Politikgeschehen. Individuelle
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politische Entscheidungen stehen unter einem immer stärkeren Einfluss eines digitalen Meinungsbildungssystems, das sich durch den Verhaltensautomatismus der User entwickelt hat. So wird z. B. Wahlwerbung heute gezielt an den Wähler über Twitter, Facebook oder Instagram geliefert. Gerade für neue Parteien bieten soziale Netzwerke ein wachsendes Potenzial, um den Bekanntheitsgrad zu erhöhen und Wahlerfolge einzufahren. Dies zeigte sich im deutschen Bundestagswahlkampf 2017, in dem die AfD hier die eindeutig stärksten Aktivitäten aller Parteien zeigte. Auch Staat und Bürgerverhalten werden immer digitaler und interagieren miteinander. So können z. B. die Organisation der öffentlichen Verwaltung oder die konkrete Umsetzung sozialpolitischer Aufgaben durch digitale Prozesse verbessert werden und mehr Bürgernähe entfalten. Dies gilt auch für die Bewältigung staatspolitischer Probleme. Ein Algorithmus könnte dabei helfen, die Verteilung von Flüchtlingen zu strukturieren und dabei optimale Bedingungen für Arbeits- und Ausbildungsoptionen und Integration zu schaffen. Allerdings kann der staatliche Digitalisierungsprozess auch dazu führen, dass Staaten Gesellschaftsform und gesellschaftliches Handeln direkt beeinflussen. Das Scoring-System in China wird jeden der 1,4 Mrd. Staatsbürger abbilden. Anhand vorhandener Daten, die das gesamte Verhaltensspektrum der Menschen erfassen sollen (online und offline), werden Werte für den Status quo, aber auch für das individuelle Entwicklungspotenzial errechnet. Es stellt sich die Frage nach der Grenze des digitalen Handelns. Individuen müssen darüber nachdenken, welche Auswirkungen das eigene Handeln für sie selbst und für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen haben kann und soll. Was zunächst als bequem und als persönlich ökonomischer Vorteil erscheint, kann schnell zum Nachteil werden.
16.2.3.2 Digitalisierung ist überall – Ein kritischer Blick ist notwendig Digitalisierung kann als Garant für Wohlstand, Bildungs- und Chancengleichheit, das Ende der Kluft zwischen westlichen Industrienationen und Entwicklungsländern sowie eine Annäherung der Wohlfahrts- und Bildungsniveaus gelten. Auch bringt sie ein neues Zeitalter für gelebte Demokratie, direkte Mitgestaltung und Bürgerbeteiligung. Die Bedeutung von Social Media in Bezug auf politisches Engagement zeigt sich gerade bei der weltweiten Schülerbewegung Fridays for Future. Doch erwächst die digitale Revolution nicht automatisch zum Modus Operandi für die Lösung nationaler oder globaler Probleme. Ein kritischer Blick scheint angebracht. Es sollte vielmehr hinterfragt werden, statt Entwicklungen einfach hinzunehmen. Inwiefern führen Smarthome, Alexa und Co stets zu mehr Bequemlichkeit und Lebensqualität im privaten Zuhause oder die Sharing
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Economy zu mehr Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung? Auch die Transparenz als ökonomisches Geschäftsmodell ist kritisch in den Blick zu nehmen. Je transparenter wir als Individuen werden, umso mächtiger werden diejenigen, die das Wissen besitzen. Dabei entsteht ein regelrechter Automatismus der Transparenz: Jedes Individuum gibt seine Datenmacht bei der Nutzung von Google, Facebook und Co auf – systemimmanent. Psychologisch wird dies während des Onlineagierens verdrängt, weil man sie nicht physisch in Aktenordnern übergibt, sondern diese virtuell und unsichtbar weitergeleitet werden. Ein nicht unerheblicher Grund für die stille Akzeptanz der Datenweitergabe ist auch die kostenlose Nutzung dieser Dienste: die Umsonst-Nutzer-Mentalität. Dabei stellt sich allerdings die Frage der Kontrolle. Was passiert mit dem Wissen über meine Person, wer bekommt den Zugang? Auch werden die Spielräume für eine gezielte Datenmanipulation immer größer. Überhaupt scheinen die Folgen aus gesellschaftspolitischer Sicht nicht unbedenklich, wenn Transparenz immer mehr zum Zwang und zu einer gesamtgesellschaftlichen Erwartung wird und sich Voyeurismus und Überwachung zum Gesellschaftsmodell der Zukunft entwickeln. Werden die Möglichkeiten für eine ständige Surveillance und Kontrolle systemimmanent, könnte es eher zu einer Einschränkung von Freiheiten statt zu deren Ausweitung kommen. Der Wettbewerb im beruflichen wie privaten Umfeld würde deutlich härter, denn wer nichts mehr verbergen kann, steht unter einem stärkeren Konkurrenz- und auch Anpassungsdruck. Auch besteht die Gefahr, dass man in eine Spirale digitaler Auslese gerät. Wer zu gläsern wird, kann in naher Zukunft schnell aus dem Raster fallen. Der bisherige Diskurs zeigt: Die digitale Revolution wirft vollkommen neue Fragestellungen aus ökonomischer, gesellschaftspolitischer sowie moralisch und ethischer Sicht auf, denen sich Gesellschaft und Politik bewusst stellen müssen. Insbesondere der Faktor Bildung sieht sich vor neue Herausforderungen gestellt und wird eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob Digitalisierung als Erfolgsmodell implementiert wird oder gesamtgesellschaftliches wie ökonomisches Scheitern bedeutet. Ob schulische, universitäre Ausbildung oder Fort- und Weiterbildung in Unternehmen/Organisationen, sämtliche Bereiche befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen digitaler Kompetenz und digitaler Überforderung. Im Gesamtkontext des digitalen Kosmos als Referenzsystem für sämtliches menschliches und gesellschaftliches Fühlen, Denken und Handeln, ob privat oder beruflich, auch bezogen auf die kindliche und pubertäre Entwicklung, müssen neue digitale Kompetenzen, kognitive wie sozioemotionale Voraussetzungen, vermittelt werden. Reflexionsfähigkeit, ein kritisches, digitales Bewusstsein und technologisches Wissen sind die Grundvoraussetzungen für kompetente Cybernauten. Ansätze neuer technologisch angepasster Lern- und Weiter-
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bildungskonzepte werden benötigt, die Elemente des experimentellen Lernens aufgreifen und neue Technologien gezielt und bewusst mit entsprechenden Inhalten einsetzen und cyberpsychologische Erkenntnisse miteinbeziehen. Schulen und Unternehmen müssen sich verändern – strukturell und inhaltlich. Bildungspolitik muss sich auf allen Ebenen den notwendigen Transformationsprozessen stellen.
16.3 Schul-, Bildungs- und Unternehmenspolitik müssen sich dem digitalen Wandel stellen 16.3.1 Digitales Bildungsmanagement im schulischen Umfeld – Lernen und Wissensvermittlung müssen neu gedacht werden Der Einfluss der digitalen Welt insbesondere auf sämtliche Verhaltensebenen von Kindern und Jugendlichen ist nicht zu unterschätzen – ob kognitive Prozesse in sozial kommunikativem gesellschaftlichem Kontext, selbstbezogenes oder konsumorientiertes Handeln. Die Bereiche der schulischen Bildung im Kindeswie Jugendalter befinden sich in einer extremen Lage. Sie sehen sich mit einer Jugend konfrontiert, die mit digitalen Medien aufwächst und das Handling umsetzen kann wie keine andere Generation vor ihr. Gleichzeitig ist sie mit der Aufgabe, angemessen und überlegt mit den ihnen zur Verfügung stehenden Tools umzugehen, vielfach überfordert. Vor allem die Einschätzung von Nutzen und Sinnhaftigkeit (s. Positive Computing) auf der einen Seite und negativer, schädlicher Effekte auf der anderen (z. B. Verlust kognitiver Fähigkeiten, emotionale Abhängigkeiten, Beeinflussung der Meinungsbildung, s. auch Fake News) durch die zunehmende Digitalisierung, ist ein Aspekt, mit dem sich die schulische Bildung in besonderem Maße auseinandersetzen muss. Insgesamt steht sie vor neuen Herausforderungen: Wie sieht Zukunft Schule 4.0 aus? Welche neuen Strukturen und Inhalte müssen in das Curriculum integriert werden? Wie finden die neuen smarten Technologien sinnvoll und nutzenorientiert ihren Weg in den Schulalltag? Und welche digitalen Grenzen sind zu ziehen? Zweifelsohne müssen neue digitale Inhalte, Themen, Lernkonzepte und technische Anwendungen, die in Zusammenarbeit zwischen Praxis (Schulen) und Forschung (Hochschulen) entstehen, verpflichtender Teil des Schulcurriculums werden und neue Organisationsstrukturen an allen Schulen (Beginn Grundschule) etabliert werden. Allerdings müssen wir trotz des digitalen Hypes erkennen, dass Lernen und Bildungsvermittlung nur dann erfolgreich
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sind, wenn sie traditionelles Lernen und Face-to-Face-Erleben/-Erfahrungen mit digitalen Tools und Anwendungen verbinden. Die Zusammenführung von traditionellem Lernen und modernen Lernformen sowie gezielte OfftimeZeiten und Offline-Lernräume werden zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Bei dieser schulpolitischen Neuausrichtung, der Entwicklung und Umsetzung eines digitalen Bildungsmanagements, sind zwei unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen: Erstens, die unterrichts- bzw. fachspezifische Perspektive und zweitens, die allgemeine schulische Medienbildung.
16.3.1.1 Schule im Wandel – Fachspezifische Perspektive Schulisches Arbeiten und Lernen beruht zum einen auf den unterrichtsspezifischen Lehrinhalten. Diese sind durch Richtlinien vorgegeben und werden angehenden Lehrkräften in entsprechenden Studiengängen vermittelt. Zum anderen werden für den Unterricht entsprechende Techniken der Wissensvermittlung benötigt (Methodik, Pädagogik). Der digitale Wandel hat zur Folge, dass sich einerseits die fächerspezifischen Lerninhalte verändern und andererseits neue pädagogische Methoden des Vermittelns durch den Einsatz neuer Technologien (Whiteboard, Tablet etc.) entstehen müssen. Eine Anpassung der Lerninhalte bedeutet z. B. für die Bereiche der Naturwissenschaften, dass die technologische Anwendbarkeit bezogen auf digitale Anwendungen altersgerecht diskutiert wird (s. Bedeutung von Algorithmen für Entwicklung von Apps oder KI). Auch müssen bestimmte Fachinhalte verpflichtend werden, wie z. B. Informatik. Hier gilt es inhaltlich nicht nur Kenntnisse der Funktionsweisen, sondern auch Wissen über Folgen und Auswirkungen zu vermitteln (s. KI-Auswirkungen, Mensch-Computer-Interaktion, Wissensverarbeitung, maschinelles Lernen). Fachspezifischer Unterricht sollte zukünftig eine digitale gesellschaftspolitische Komponente beinhalten. Im Sinne des Positive Computing muss das schulische fächerspezifische Lernen durch digital gestützte Lehrmethoden (s. Apps oder VR) gefördert werden, die den pädagogischen Anforderungen sowie neuen Forschungserkenntnissen (Cyberpsychologie) entsprechen. Auch fächerspezifische Lernplattformen zur Wissensüberprüfung, die den Austausch der Schüler untereinander fördern, sollten zum Schulangebot gehören. Wichtig ist, dass zertifizierte und evaluierte Anwendungen (z. B. Apps, Lernplattformen) genutzt werden, d. h. sie sollten im Austausch zwischen Hochschulen und Praxis expertenbasiert entwickelt werden (s. Prof. Bergner Didaktik der Informatik, TU Dresden). Eine intensive Zusammenarbeit bei der Entwicklung sowie die direkte Erprobung in den Schulen mit Feedback an die Forschung, ermöglicht eine schnellere Durch-
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dringung nutzenorientierter Anwendungen. Kooperationen mit Fachverlagen sind ebenfalls wünschenswert. Insgesamt gilt es, Erkenntnisse der Neuro-, Verhaltens- und Kognitionswissenschaften als Folgen der Digitalisierung stärker in die schulische Bildung zu integrieren. Um ein gleichmäßiges Niveau an Wissen und Kompetenz aller Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten, ist eine Rahmenvorgabe für die schulische Umsetzung mit altersspezifischen Klassenvorgaben durch die politischen Entscheidungsträger unumgänglich.
16.3.1.2 Schule im Wandel – Reform der allgemeinen Medienbildung Nicht nur fachspezifisch angepasstes Wissen mit den entsprechenden digitalen Lehrmethoden gilt es zukünftig zu vermitteln. Die allgemeine Medienbildung an Schulen insgesamt muss reformiert werden. Neue Kombinationen von Inhalten wie z. B. technologisches Wissen (Informatik), gesellschaftliche Veränderungsprozesse und Herausforderungen sowie psychologische, ökonomische und sozialpolitische Effekte infolge der Digitalisierung sind in das Schulcurriculum zu integrieren. Insbesondere das Fach Informatik könnte um Aspekte der Cyberpsychologie (z. B. Forschungserkenntnisse auf Mensch & Gesellschaft, Folgenabschätzung und Kosten-Nutzen-Analyse) sehr gut ergänzt werden. Auch müssen wir uns neuer Methoden, Lernformen und Konzepte bedienen, um digitale Auswirkungen auf menschliches Verhalten sichtbar zu machen. Wissensvermittlung sollte deshalb verstärkt experimentell arbeiten, auf der Basis von Selbsterfahrung und eigenem Erkenntnisgewinn. Auf diese Weise werden Erlernen und Verstehen von Technologien spielerisch möglich. Hierzu gehören: Grundlagen der Programmierung, Bedeutung und Funktion von Algorithmen zu kennen sowie die Entwicklung von Anwendungen (Apps). Die Ausbildung eines digitalen Bewusstseins und kritischen Denkens spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Das eigene Erleben und Hinterfragen stärkt die Fähigkeit, den Nutzen technologischer Neuerungen kritischer beurteilen und digitale Probleme besser erkennen zu können. Forschungen des Weizenbaum Instituts in Berlin zeigen anhand des experimentellen Erlebens am Beispiel von Sprachsteuerungssystemen (s. Alexa, Siri) wie kritische Urteilsfähigkeit bei Grundschulkindern gefördert wird. Aufgrund der stärkeren Vernetzung aller Wissensbereiche und Lerninhalte (z. B. sozialpolitische Auswirkungen von Internettechnologie und KI mit dem Blick auf Entwicklungsländer, Kultur oder Religion), gilt im schulischen Bildungsbereich insgesamt eine stärkere Fokussierung des interdisziplinären Gedankens für sämtliche Fächer. Allerdings wird dies in Zukunft nicht aus-
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reichen. Nimmt man Schnelligkeit sowie Ausmaß des digitalen Wandels ernst, wird eine Bildungsoffensive nicht umhinkommen, das Lernangebot auszuweiten und ein Schulfach Medienbildung & digitale Gesellschaft in die schulische Ausbildung zu implementieren.
16.3.1.3 Schule 4.0 braucht neue Organisationsstrukturen Neben neuen Themen, Inhalten und digitalen Lernanwendungen werden auch neue Organisationsstrukturen benötigt, z. B. Digitalteams, die als Tutoren arbeiten und Klassenpatenschaften übernehmen, die aufklären und Wissen vermitteln, aber auch als Ansprechpartner für digitale Fragen wirken (s. Peer-toPeer-Ansätze). Dabei erweisen sich Cyberguide-Beratungsteams, mit denen Schülerinnen und Schüler auch online Kontakt aufnehmen können, als sinnvolles Interventionsmodul. Die Hemmschwelle der Kontaktaufnahme ist deutlich geringer als in einer Face-to-Face-Situation. Peer-to-Peer-Konzepte haben darüber hinaus aus pädagogischer Sicht mehrere Vorteile. So prägen Jugendliche, die Verantwortung übernehmen, nicht nur ihr eigenes Selbstbild, sondern nehmen durch ihre Glaubwürdigkeit Vorbildfunktion für andere ein. Auch Lerneffekte wirken schneller und nachhaltiger. Diesbezüglich ist das schulübergreifende Arbeiten ein weiterer bedeutender Aspekt Digitaler Bildung. Der Austausch gerade für Grundschüler mit weiterführenden Schulen ist eine wichtige Perspektive. Dies betrifft die Umsetzung gemeinsamer Projekte sowie Wissensvermittlung und Schülerberatung. Auf der Ebene der Schuladministration sollten regionale Schulnetzwerke für einen allgemeinen Wissensaustausch sorgen. Auf diese Weise kann nicht nur der Transfer von erfolgreichen Konzepten oder Projekten, neuen Forschungserkenntnissen und evaluierten Anwendungen gefördert werden, sondern auch Kooperationen oder die Entwicklung gemeinsamer pädagogischer digitaler Ansätze. Nicht außer Acht zu lassen ist die schulische Ausstattung vor Ort. Ohne Internetzugang ist ein Arbeiten mit digitalen Technologien nicht möglich. Auch Whiteboards sollten zukünftig zur Grundausstattung gehören. Trotzdem muss nicht unbedingt gelten: Tablet für alle. In der Schweiz ist bring your own device in den Unterricht zulässig. Mit Methoden des Geofencing kann eine gezielte Nutzung auch mitgebrachter Geräte gewährleistet werden. Letztendlich ist ein umfassender digitaler Wandel der schulischen Bildung nicht ohne die Kompetenz der Lehrkörper und Pädagogen umzusetzen. Ohne eine entsprechende Reform der Lehrerfortbildung und des Studiums, die eine Vermittlung neuer Forschungserkenntnisse bezogen auf die sinnvolle, gezielte Nutzung sowie spezifische digitale Fachkenntnisse und übergreifendes digitales
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Wissen gewährleistet, wird dies nicht gelingen. Dafür muss die Bildungspolitik wichtige Weichen stellen und auch neue Systeme und Bildungskooperationen fördern. So könnten z. B. Technologieunternehmen einen Beitrag für die Ausund Weiterbildung leisten (s. auch finanzielle Unterstützung schulpädagogischer Forschung).
16.3.2 Digitale Arbeitswelt 4.0 – Transformation der Unternehmenspolitik in Aus- und Weiterbildung Digitalisierung bedeutet nicht nur tief greifende Veränderungen menschlichen Verhaltens, kognitiver Prozesse und emotionalen Erlebens. Auch das gesamte ökonomische und berufliche Umfeld ist einem drastischen Wandel unterworfen. Traditionelle Unternehmenswelten werden von digitalen Arbeitgebern ersetzt, dadurch entsteht durchaus eine Gefahr des Aushebelns nationaler Arbeitsmarktregularien. Des Weiteren wird die Arbeitsgestaltung insgesamt, ob in Dienstleistung oder Industrie, immer technologiegeprägter und digitaler. Auf der einen Seite bringt diese neue digitale Arbeitswelt aus Arbeitnehmersicht zahlreiche Vorteile: Arbeiten wird flexibler, nicht mehr ortsgebunden (s. Homeoffice), Zeit kann besser eingeteilt und genutzt, Privates besser gestaltet werden. Auch steigt die Freiheit, selbst zu entscheiden – ein Plus für die Selbstbestimmung. Auf der anderen Seite entstehen neue Problembereiche: was bedeutet dies für die Einhaltung von Arbeitszeiten und Arbeitsschutzgesetzen und für die Pflichten der Unternehmen für ihre Arbeitnehmer? Zu beachten sind auch die steigenden Anforderungen der Unternehmen an sämtliche Mitarbeiter. Nicht nur eine rund um die Uhr Erreichbarkeit wird erwartet, auch der Einsatz digitaler Hilfsmittel insgesamt. Hinzu kommt, dass sich verändernde Markt- und Arbeitsformen von Organisationen sowie von den Arbeitnehmern eine rasche Anpassungsfähigkeit fordern. Laut neuer Studien des Bitkom-Verbandes wird in den nächsten fünf Jahren durch die Digitalisierungsprozesse jeder zehnte aller aktuell existierenden Arbeitsplätze wegfallen (Zeit 2018). Dieser Transformation der Arbeitswelt muss aktiv begegnet werden.
16.3.2.1 Technogap, Mitarbeitereffekte und digitale Unternehmenspolitik Eine bedeutsame Veränderung in der Organisations- und Unternehmenswelt betrifft die zunehmende Divergenz der Arbeitnehmerschaft. Auf der einen Seite steht die digitale Jugend – diejenigen Arbeitnehmer, die sich am Anfang ihres Berufslebens oder in der Ausbildung befinden. Sie sind äußerst netzaffin und schreiben ihrem Onlineleben eine große Bedeutung für Persönlichkeitsent-
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wicklung und Gemeinschaftserleben zu. Gleichzeitig zeigen sie nicht selten eine gewisse Unreflektiertheit. Digitalen Entwicklungen wird z. B. eine deutliche Überlegenheit gegenüber menschlichem Handeln und Denken zugeschrieben. Dabei glauben sie sich selbst kompetent im Umgang, obwohl das gefühlte Stressempfinden, gerade durch erforderliches Multitasking, hoch ist (Digitalstress s. Gimpel et al. 2018). Sie unterliegen einem overconfidence bias. Auf der anderen Seite stehen die digitalen Middle Ager – diejenigen Arbeitnehmer, die sich mitten im Berufsleben befinden und deren Arbeitsplatz einem starken Wandel unterliegt. Neue digitale Anforderungsprofile führen nicht selten gerade bei ihnen zu Überlastung, Kompetenzzweifeln und Versagensängsten sowie einer generellen Angst vor der zunehmenden Geschwindigkeit der Veränderungen in ihrem Berufsfeld. Der digitale Wandel fördert somit die Wahrnehmung beruflicher Risiken und lässt vermehrt Zukunftsängste entstehen. Dies bleibt oft nicht ohne Folgen, insbesondere für die psychische Gesundheit. Die wachsenden Anforderungen durch die Digitalisierung führen bei der Hälfte der Arbeitnehmer zu deutlichen Stresssymptomen (Technostress) (DGB Report Gute Arbeit 2016). Insgesamt ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme seelischer und psychischer Erkrankungen im Umfeld von Arbeit und Beruf und eine Erhöhung der Krankentage zu verzeichnen (z. B. Gesundheitsreport 2020 Techniker Krankenkasse (TK)), nicht nur im Managementbereich. Digitalisierung kann somit nicht nur auf der individuellen Ebene hohe Belastungen bedeuten. Sie kann auch ökonomisch sehr kostspielig werden. Vor allem, wenn sie unkoordiniert, nicht zielund nutzenorientiert abgestimmt wird und ohne die Mitnahme und Teilhabe der Mitarbeiter, bezogen auf kognitive, emotionale Prozesse sowie konkrete Handlungseinführung, stattfindet. Unternehmens- und Organisationspolitik sowie Strategieentwicklung (in Unternehmen wie Behörden) muss die Überwindung dieser Technogap zwischen jungen und älteren Arbeitnehmern zum Inhalt der internen Bildung machen. Internationale Studien zeigen, dass gerade auf der Führungsebene nur 16 % der Unternehmen die Heterogenität ihrer Arbeitnehmerschaft im Blick haben (Deloitte 2018). Dabei gilt es, eine starke Offenheit gegenüber den digitalen Divergenzen in der Arbeitnehmerschaft sowie deren Bedeutung für die Wertschöpfung des Unternehmens/der Organisation in der internen Kommunikationspolitik zu thematisieren. Stigmatisierungen dürfen nicht zugelassen werden. Eine strategische Mitarbeiterführung muss „digitaler Angst“ gezielt begegnen. Förderung digitaler Kompetenzen auf der einen Seite, aber auch Akzeptanz von Stärken und Schwächen der Arbeitnehmer auf der anderen Seite schafft Anerkennung auf allen Unternehmens- bzw. Organisationsebenen. Interaktion der digitalen Youngsters mit den Middle Agern, ein miteinander und voneinander Lernen (auch durch gemeinsame Weiterbildungselemente), führt eher
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dazu, dass sich unterschiedliche Kompetenzen der Mitarbeiter ergänzen, statt sich einander auszuliefern. Im Rahmen einer Bildungsoffensive sollte ein umfassendes digitales Benefitund Care-Management mit neuen Organisationsstrukturen und Wissensinhalten implementiert werden, das digitale Veränderungen auf mehreren Ebenen miteinbezieht: auf der Individualebene (Mensch, Kognition, Emotion, Handeln), der Organisations- und Unternehmensebene (Digitalisierung der Berufswelt) sowie der Interaktionsebene beider Bereiche.
16.3.2.2 Digitale Bildungsoffensive: Unternehmen und Organisationen benötigen ein digitales Benefit- und Care-Management Um zu verhindern, dass der Mensch dem technologischen Fortschritt und dem ökonomischen Erfolg untergeordnet wird und sich gleichzeitig negative digitale Effekte auf die Wertschöpfung in Unternehmen auswirken, ist ein Umdenken notwendig. Bildungspolitik in Organisationen und Unternehmen muss neue Rahmenbedingungen setzen. Dies gilt auch für universitäre Aus- und Weiterbildung. Auf der einen Seite sollte ein digitales Care-Management als neuer Bereich des digitalen Arbeitsschutzes stehen, das fokussiert, wie digitale Arbeitsplätze aussehen sollten und Mitarbeiter in technologische Entscheidungsprozesse integriert werden. Auf der anderen Seite sollte ein digitales Benefit-Management stehen, das die Chancen digitaler Veränderungen gezielt und nutzenorientiert wahrnimmt, um Verpuffungseffekte zu vermeiden. Dabei sind strukturelle und inhaltliche Aspekte von entscheidender Bedeutung. Der Erfolg digitaler Neuerungen ist in hohem Maße von der Akzeptanz und der Umsetzung durch die Arbeitnehmer abhängig. Ein wichtiger Aspekt für die Digitalisierungsstrategie ist somit, das persönliche Empfinden und Erleben der Mitarbeiter bezüglich der Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsabläufe sowie den informativen Austausch zwischen verschiedenen Unternehmensebenen anhaltend im Blick zu haben. Dazu gehört die Erfassung von Sinnhaftigkeit, zielgenauem Einsatz und Handling (praktikablem Einsatz) sowie eine Planungs- und Nutzenanalyse. Auf der Ebene struktureller Veränderungen sollten sich diesbezüglich Benefit-Plattformen zum einen mit der aktuellen Situation (Status quo) der Arbeitnehmerschaft und dem Einsatz digitaler Technologien befassen (s. Nutzung, Zufriedenheit, Schwierigkeiten). Zum anderen sind mit dem Fokus auf technologischen Veränderungsprozessen die möglichen Störeffekte zu thematisieren. Dies ist z. B. eine diffuse Kommunikation bezüglich zukünftiger Umgestaltungen des individuellen Arbeitsplatzes oder
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Arbeitsumfangs sowie neuer Aufgaben. Auch persönliche Vorbehalte gegenüber neuen Technologien, die übergangen werden, können zu digitalen Stressoren werden und somit zum Verlust von Motivation, erhöhter Jobunzufriedenheit und Fluktuation sowie zu Produktivitätseinbußen führen. Wichtiger Bestandteil dieser Planungsoffensive sind interne digitale Diskussionsforen, an denen sämtliche Mitarbeiter, die von den Neuerungen betroffen sind, aktiv beteiligt werden. Meinung und Expertise der Mitarbeiter bezüglich der Nutzeneischätzung innovativer neuer Systeme oder Strategien sollten immer in die unternehmerischen Überlegungen miteinbezogen werden. Sie wirken als Signal der Wertschätzung und erhöhen den Grad der digitalen Akzeptanz. Dies gilt auch für Vorschläge und Ideen aus der Arbeitnehmerschaft heraus, die über eine solche Plattform verstärkt angeregt werden sollen. Darüber hinaus macht es Sinn, dass ein Research-Team in die Unternehmensstruktur integriert wird, das digitale Veränderungen gemeinsam mit den betroffenen Arbeitnehmern, Abteilungen und Führungskräften nicht nur einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzieht, sondern auch Planung und Umsetzung gestaltet. Testphasen mit direkter Rückkopplung der Mitarbeiter lassen fundiertere Entscheidungen bezogen auf Einsatz, Verschiebung oder Veränderungen der digitalen Technologie zu. Dies beugt auch internen Konflikten vor, kann diese besser aufdecken, aufgreifen und entsprechende Lösungen entwickeln. Direkte Mitarbeiterbeteiligung ist somit bei digitalen Veränderungsprozessen von entscheidender Bedeutung. Dazu gehört auch, dass eine spezielle Beratungsinstanz in die Organisation integriert wird. Dieses Digitalteam fungiert als interner Ansprechpartner, der sich der Fragen rund um digitale Prozesse im Unternehmen annimmt und gleichzeitig die Funktion des Care-Managements übernimmt. Auch wirkt es als Vermittler zwischen den verschiedenen Unternehmensebenen, Arbeitnehmern und Führungskräften. Aus der psychologischen Perspektive heraus, bietet sich ein Onlineforum als zusätzliches sinnvolles Interventionsmodul an. Hemmschwellen (inhibition threshold) der Kontaktaufnahme werden abgebaut. Die Selbstöffnungstendenz steigt. Dies fördert die Bereitschaft über die individuelle Situation, evtl. Kompetenzschwierigkeiten oder andere Problembereiche am Arbeitsplatz zu sprechen. Eine wichtige Aufgabe des Digitalteams ist eine fachkundige Beratung im Umgang mit digitalen Tools, um die Arbeitsgestaltung zu verbessern und Produktivitätseinbußen zu verhindern. Dazu gehört ein individuell angepasster und angemessener Umgang mit Technologie zur Vorbeugung von Stressoren und Motivationskillern sowie zur Stärkung der Resilienz (s. selbstbewusster Umgang mit Veränderungen, Akzeptanz von technologischen Neuerungen, Abbau von Kompetenzproblemen oder Versagensängsten).
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Ähnlich dem Gesundheitsmanagement (s. Arbeitsplatzgestaltung und Organisation, Konfliktmanagement, Gesundheitstage, medizinische Check-ups), ist ein gezieltes digitales Resilienztraining in das Unternehmens-Curriculum zu integrieren: Was sollte man bei gefühlter Überlastung tun, wie lernt man Selbstkontrolle im Umgang mit Technologie (Digitaldisziplin z. B. auch mithilfe von gezielter zeitlicher Beschränkung der eingesetzten Anwendungen), wie kann eine sinnvolle Aufteilung von Offline- und Onlinekommunikation aussehen (z. B. Absprachen, bei welchen Themen und Problemen man online und wann offline Kontakt sucht und wann welche Inhalte an wen geschickt werden)? So kann eine zeitliche Eingrenzung der Mailkommunikation dazu führen, dass sich die Anzahl versendeter E-Mails insgesamt verringert und die Inhalte sich nur auf relevante Themen und Fragestellungen richten. Ein wichtiger Aspekt des digitalen Resilienztrainings ist die Diagnose der eigenen Nutzung smarter Technologien. Sie kann mögliche Problemlagen wie emotionale Abhängigkeiten, Überforderungseffekte oder Schwierigkeiten bei der Strukturierung und Bewältigung der Arbeitsinhalte sichtbar machen. Der Aspekt der Selbsterkenntnis ist insgesamt von entscheidender Bedeutung bei der Vermittlung cyberpsychologischen Wissens. Nur wer z. B. selbst die Vorteile smartphonefreier Meetings erfahren hat (bessere Konzentration, weniger Wiederholungen, Notizen auf Kernaussagen beschränkt und fehlerfreier, Zeitersparnis durch kürzere Treffen), nimmt wissenschaftliche Erkenntnisse auch als tatsächliches Wissen an. Darüber hinaus können experimentelle Lernerfahrungen am Arbeitsplatz das Bewusstsein (Awareness) für Notwendiges und Überflüssiges oder Überforderndes fördern. Einsicht in das eigene Verhalten, privat und am Arbeitsplatz, kann Fehlverhalten, falsche Erwartungen der Umwelt sowie mögliche Verbesserungsvorschläge deutlich machen (technologische Unterstützung kann dabei helfen, s. App-Offtime). Dies kann auch in Form von Digital-DetoxExperimenten, bei denen eine Abteilung einen Tag oder eine Woche, mit eingeschränkter Nutzung der Internettechnologie lebt und arbeitet geschehen sowie durch die eigene Selbstbeobachtung über ein Onlinelogbuch, das über einen bestimmten Zeitraum geführt wird. Um eigenes sowie fremdes Digitalverhalten besser verstehen und einschätzen zu können, spielt das Wissen um kognitive, sozioemotionale Effekte der fortschreitenden Digitalisierung sowie Einflüsse auf Handeln und Entscheiden eine wichtige Rolle. Das interne Bildungsmanagement muss diese cyberpsychologischen Aspekte auf Ebene Individuum, Organisation und Gesellschaft in seine Ausbildungsinhalte integrieren. Dabei ist auch der Faktor digitale soziale Kompetenz von entscheidender Bedeutung. Dies betrifft Mitarbeiter auf sämtlichen Unternehmensebenen, in besonderem Maße die Führungskräfte. Allerdings
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sehen dies nur 30 % der Unternehmen als wichtig an, ein fataler Fehler (Deloitte 2018). Negative Effekte digitaler Nutzung auf nonverbale Kommunikation können dazu führen, dass man nicht angemessen auf sein Gegenüber reagieren kann. Nicht selten fallen das gesagte Wort und der nonverbale Ausdruck (Mimik, Gestik) auseinander. Dieses gilt es zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, gelingt dies nicht können extreme Kommunikationsprobleme die Folge sein. Dazu zählt auch die Fähigkeit, empfinden zu können, welche Vorbehalte gegenüber technologischen Veränderungen existieren (digitale Empathie). Insbesondere die universitäre Ausbildung sollte den Faktor digitale Kompetenz und Folgen des digitalen Wandels aus den verschiedensten Blickrichtungen betrachten (z. B. Betriebswirtschaft, Arbeits- und Organisationspsychologie, HR und Personalmanagement). Neben einer strukturellen und inhaltlichen Neuausrichtung der internen Bildungspolitik sollten die Digitalisierungsstrategien der Unternehmen sowie die Arbeitsabläufe insgesamt einen Digital-Check durchlaufen. So gehört zum einen der allgemeine digitale Kommunikationsfluss auf den Prüfstand. Nicht selten herrscht ein Informations-Chaos. Unspezifische Informationsstrategien führen dazu, dass Messages nicht gezielt, sondern an viele oder alle Mitarbeiter weitergeleitet werden. Ein Informations-Overload, der kaum zu bewältigen ist und den Arbeitsdruck erhöhen kann. Nicht selten liegt eine Verantwortungsdiffusion vor, keiner ist wirklich federführend. Viele möchten aber auf diese Weise auch gezielt ihrer Verantwortung ausweichen (s. Fehlerkultur). Hier müssen klare Linien der Aufgabenverteilung sowie Verantwortlichkeiten gezogen werden. Des Weiteren wird häufig auch die Verbreitung von Unternehmensinformationen nicht spezifisch nach Abteilungen oder Mitarbeiterinteressen abgestimmt (s. Newsletter an alle). Für die Empfänger bedeutet dies ein zeitlicher Mehraufwand bei der Suche nach relevanten Informationen und kann zu Verärgerung führen. Deshalb gilt es, den Informationsfluss auf die individuellen Bedürfnisse anzupassen, dies erhöht auch die empfundene Wertschätzung. Interne Kommunikationsstrategien spielen auch eine wichtige Rolle bei der Einführung neuer digitaler Technologien. Aus Sicht der Mitarbeiter erfolgen innovatorische Neuerungen häufig sehr plötzlich. Ankündigung und Planungsphasen erfolgen überstürzt und ohne längeren Vorlauf. Der Umgang muss schnell erlernt werden, der Handlungsdruck erhöht sich deutlich. Dies kann Störfaktoren erheblich fördern. Eine geringere Nutzung digitaler Hilfsmittel bis hin zu einer Technologieverweigerung, sinkende Motivation oder steigendes Aggressionslevel und Konfliktpotenzial können die Folge sein. Solche negativen Auswirkungen können sich allerdings auch aus den Arbeitsabläufen selbst ergeben. Anpassungen können sinnvoll sein. Aufgrund geringerer Konzentrationsspannen infolge
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digitaler Effekte könnte z. B. eine Einteilung der Arbeitsschritte in kürzere Phasen erfolgen. Auch die Fehlertoleranz ist zu überdenken. Schnelleres Arbeiten kann zu vermehrten Fehlern führen. Dies erhöht den Stresslevel der Arbeitnehmer. Es wird eine Fehlerkultur benötigt, die Fehler akzeptiert und nicht diskriminiert, gleichzeitig aber neue Strategien anbietet, um diese zu vermeiden, z. B. eine Erhöhung der Bearbeitungszeit für bestimmte Arbeitsschritte, eine Entschärfung des Handlungsdrucks oder Anpassung der Anforderungsprofile. Insgesamt sollten auch digitale Grenzen diskutiert werden. So ist eine neue Software der Unternehmenskommunikation nicht nur deshalb zu nutzen, weil man sie hat (s. Slack). Im Sinne des Positive Computing sind hingegen solche Technologien bzw. Tools einzusetzen (z. B. VR), die z. B. die Zusammenarbeit sowie Interesse und Motivation, neue Dinge zu lernen (Themen, Abläufe etc.), fördern. Dies erleichtert auch die Durchführung von Veränderungsprozessen am Arbeitsplatz. Darüber hinaus sorgen gezielte Vorgaben für eine klare Arbeitsstruktur und ein besseres Arbeitsklima: Was wird wann und warum über ein Portal/System verbreitet und wie ist darauf zu reagieren, z. B. in welcher Zeitspanne oder Intensität? Dazu gehören auch digitale Regeln für den Ablauf von Meetings (ohne Smartphone), eine Arbeitsplatz-Ordnung (Smartphones nicht offen sichtbar) oder Zeitlimits und Zeitspannen für digitale Tätigkeiten. Wer sich für Onlinehandeln ein Limit setzt, bleibt fokussierter. Auch fördern gezielte Offtime-Zeiten und technologiefreie Räume (z. B. Personalrestaurant oder Café, Mitarbeiterlounge) den Kommunikationsfluss untereinander und bieten eine ideale Atmosphäre für wirksame Erholungsphasen (s. Resilienz). Die Bedeutung des menschlichen Faktors (Face-to-Face-Erleben) ist nicht zu unterschätzen. Diese Beispiele zeigen: Zukunftsorientierte Unternehmenspolitik der Aus- und Weiterbildung muss technikbasiertes Wissen sowie cyberpsychologisch geprägte kognitive und sozioemotionale Fähigkeiten vermitteln, damit neue Technologien nutzenorientiert eingesetzt und positive Effekte auf Mensch und Organisation begünstigt werden.
16.4 Schlusswort Das digitaler werdende Leben erfordert nicht nur von der jüngeren Generation eine stärkere Auseinandersetzung mit dem, was online mit emotionalen und kognitiven Prozessen, Verhalten und sozialer Gemeinschaft passiert. Dabei stellt sich auch die Frage nach den Auswirkungen des digitalen Wandels. KI in Produktionsprozessen oder eine medizinische Operation 4.0 ist nicht gleichzusetzen mit Vernetzung und Vermessung des Menschen. Zukünftige Digitale
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Bildung muss technologische Kenntnisse und Folgenabschätzung sowie cyberpsychologisches Wissen vereinen, um kompetente Cybernauten auszubilden. Kinder, die beginnen sich mit Programmierung und KI auseinanderzusetzen, werden kritikfähiger und lernen Nutzen, Schaden und Nutzlosigkeit abzuwägen. Dabei wird durch die Rasanz des technologischen Wandels interdisziplinäres Arbeiten verschiedener Wissenschaften und Disziplinen zu einer Notwendigkeit (z. B. Informatik und KI, Medizin, Cyberpsychologie und Kognitionsforschung, Erziehung und Bildung, Ökonomie, Rechts- und Staatswissenschaft). Auch die digitale Verantwortung der Unternehmen muss eingefordert werden. Reine Machbarkeit darf nicht zur Innovationsmaxime werden. Was wir brauchen ist eine vorausschauende Entwicklung von Zukunftsvisionen für die Bereiche digitale Gesellschaft, technologisierte Arbeitswelt und Bildung 4.0 sowie eine verstärkt öffentliche Diskussion humanistischer und ethischer Aspekte des digitalen Wandels.
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Dr. Catarina Katzer (Volkswirtin, Soziologin, Cyberpsychologin), Expertin für die Vernetzung von Digitaltechnologie mit Individuum und Gesellschaft und deren Einfluss auf Denken, Fühlen, Handeln, Ich-Kultur, Gemeinschaftserleben, Politik und Wirtschaft. Sie ist Mitglied im Kuratorium der Deutsche Telekom Stiftung, berät u. a. Regierungsinstitutionen im In- und Ausland (s. Bosbach Kommission, Europarat) und intern. Forschung (COST Actions: Cyberbullying, Cyberparks). Cyberpsychologie erhielt 2016 den intern. Business Book Award getAbstract als bestes deutsches Wirtschaftsbuch.
Wissenschaft und Forschung als Quelle der Potenzialnutzung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz
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Markus Grottke und Andreas Steimer Inhaltsverzeichnis 17.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Definitionsgrundlagen und Systematisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3 Wissenschaft und Forschung als Quelle einer Potenzialnutzung im Zeitalter der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.1 Disruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.2 Forschung und Falschinformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.3 Künstliche Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Der Beitrag diskutiert, welche Herausforderungen Wissenschaft und Forschung im Zeitalter der Digitalisierung erwarten könnten und ordnet dies auch wissenschaftstheoretisch ein. Es zeigt sich, dass auf heutigem Stand einige Veränderungen notwendig sind, um im Licht der hier skizzierten und zugrunde
M. Grottke (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Steimer Bieselsberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_17
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gelegten Entwicklungen (Disruption, mediale Verzerrungen von Informationen, Künstliche Intelligenz) zukunftsfähig zu sein. Werden diese jedoch vorgenommen, deutet sich an, dass Wissenschaft und Forschung einen bedeutenden Zukunftsbeitrag leisten können. In Bezug auf die ersten beiden Entwicklungen könnte ein erster Schlüssel in der Interdisziplinarität zwischen verschiedenen Fakultäten und Fachbereichen, ein zweiter in der Realisation stärker einer Echtzeit angenäherten Begutachtungsverfahren und ein dritter in der Kooperation zwischen Universität, Fachhochschule und spezialisierten Weiterbildungsanbietern liegen. In Bezug auf die dritte Entwicklung deutet sich ein Schlüssel in der Vermittlung einer konsequenten Sinnorientierung und ein zweiter Schlüssel darin an, Forschung darauf zu konzentrieren, Lernumgebungen zu erzeugen, welche die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent zum Zweck der Steigerung des Lernerfolgs und des Forschungserfolgs einsetzen. In allen diesen Entwicklungen werden Werte und Wertegemeinschaften bedeutsamer.
17.1 Einleitung Was ist der Zweck von Wissenschaft und Forschung und wofür steht sie im Zeitalter der Digitalisierung? Wozu forschen Forscher in einem solchen Zeitalter? Worin liegt ein wirklicher Mehrwert solcher Forschung gegenüber einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Unternehmens oder einer staatlichen Institution (wie Fraunhofer oder einer Helmholtz-Gesellschaft) einerseits? Worin liegt der Mehrwert gegenüber einer Erzeugung von Wissen on the job, d. h. in den Praxisorganisationen selbst bzw. durch kooperierende spezialisierte, eng mit der Praxis zusammenarbeitende Anbieter, welche sich direkt auf zukünftig zu lösende Praxisprobleme fokussieren andererseits? Wer sich solche Fragen stellt, sollte das ernsthaft tun, d. h. insbesondere unter Einbezug wesentlicher Charakteristika der sich aktuell vollziehenden Digitalisierung. Einbezogen werden sollten ferner bereits bekannte, schon heute Legitimationsprobleme auslösende Defizite wissenschaftlicher Institutionen, aber gleichermaßen auch insbesondere die seit Jahrhunderten bewährten und zu bewahrenden Werte wissenschaftlicher Institutionen. All dies kulminiert in der Frage, welche Bedeutung Wissenschaft und Forschung von Hochschulen auch in Zukunft haben könnten, wenn die Weiterentwicklung gleichsam natürlich, ausgehend von der positiv besetzten Vergangenheit und unter Vermeidung von Fehlentwicklungen geschieht. Hilfreich ist es für diese Zwecke gedanklich einmal die staatliche Finanzierung von Wissenschaft und Forschung beiseite zu lassen und zu fragen, ob und wie
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sie sich bewähren würde, wenn all dies nicht mehr vorhanden wäre und man sich allein durch den fraglichen Mehrwert zu rechtfertigen hätte. Beiseite zu lassen ist dann auch, dass natürlich Digitalisierung längst in den verschiedensten Bereichen auf Hochschulen und Strukturen von Hochschulen einwirkt, dort nämlich, wo diese staatlicherseits durch umfangreichste Investitions- und Forschungsprogramme bewusst mit verschiedensten Zielsetzungen gefördert wird, der Mehrwert also vor allem auf staatliche Zielsetzungen der fraglichen Förderprogramme hin ausgerichtet wird. Auch wenn ein dergestalt reduzierter Blickwinkel nun eine marktorientierte Perspektive impliziert, ist dies nur vordergründig eine rein betriebswirtschaftliche Frage. Tatsächlich tritt gegen diesen Hintergrund die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Handelns von Forschern und Wissenschaftlern aus der Perspektive anderer, von deren Handeln betroffener Personenkreise bei diesem Ansatz besonders deutlich hervor. Es ändert sich dann sofort der Fokus hin zu der Frage, welche Probleme eines digitalen Zeitalters Wissenschaft und Forschung bei denjenigen löst, denen sie dient, d. h. bei Studierenden, Kooperationspartnern aus der Wirtschaft, bei der Gesellschaft und beim Staat etc. Der folgende Aufsatz geht dem in drei Schritten nach. Zunächst werden Definitionsgrundlagen gelegt. Hernach folgen Überlegungen zu den gestellten Fragen in essayistischer Form. Ein separater Abschnitt widmet sich diesbezüglich noch einmal den Wirkungen der Künstlichen Intelligenz auf die behandelte Fragestellung. Die vorgelegten Überlegungen sind mitnichten abschließend gedacht, sondern sollen eher zum Nach- und Mitdenken und Entscheidungsträger in verantwortlicher Position zu verantwortlichem Verhalten anregen. All das muss nicht notwendigerweise dem Verhalten bzw. den Ergebnissen der Autoren entsprechen oder den Auffassungen der Autoren folgen, sondern kann gänzlich andere, ja gegenteilige Verhaltensweisen hervorrufen. Manchmal ist es wichtiger, überhaupt die Fragen formulieren zu können, welche sich stellen, um nach individuellen situationsadäquaten Antworten suchen zu können. Abschließend erfolgt ein Fazit.
17.2 Definitionsgrundlagen und Systematisierungen Um im Folgenden gedanklich mit hinreichender Präzision arbeiten zu können, empfiehlt es sich, zumindest für einige umgangssprachlich schwammig und vielschichtig verwendete Begriffe, dem Zweck folgende vereindeutigende Definitionen zu formulieren. Darum seien zunächst für diesen Beitrag zweckmäßig gewählte Definitionen für die Begriffe Digitalisierung, Schlüsselqualifikationen und
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Künstliche Intelligenz herausgegriffen. Alle diese Begriffe zeichnet aus, dass sie umgangssprachlich eben gerade nicht klar definiert sind (vgl. für Künstliche Intelligenz z. B. Hambacher Erklärung 2019, S. 27). In Bezug auf den Begriff der Digitalisierung wird im Folgenden eine Definition zugrunde gelegt, welche diesen Begriff vor allem eine Übersetzung der physischen Welt in eine virtuelle Welt bezeichnen lässt: Der Begriff Digitalisierung (…) bezieht sich im unternehmerischen Kontext typischerweise auf die Umwandlung von manuellen Prozessen und physischen Objekten in digitale Varianten, unter Nutzung neuer bzw. leistungsfähiger digitaler Technologien wie beispielsweise Social Media, Mobility Cloud Computing, Robotic Process/Communication Automation und Artificial Intelligence. (Schawel 2018, S. 105)
Diese Begriffswahl ist angesichts dessen, dass Digitalisierung auch rein technisch gefasst oder insbesondere als durch den Treiber der Änderung eines Kundenverhaltens definiert aufgefasst werden kann (vgl. z. B. Legner et al. 2017), eine solche, welche insbesondere die Möglichkeiten bzw. Konsequenzen einer virtuellen Welt auszuleuchten trachtet. Schlüsselqualifikationen lassen sich wiederum wie folgt fassen: Als Schlüsselqualifikationen werden überfachliche Kompetenzen bezeichnet, die jemanden in die Lage versetzen, Wissen richtig zu nutzen und sich an wechselnde Rahmenbedingungen anzupassen. (Warkentin 2019)
Auch diese Definition ist eine bewusst aus einer Reihe von Möglichkeiten ausgewählte Form, Schlüsselqualifikationen zu definieren. Sie fasst im Gegensatz zu anderen Definitionen von Schlüsselqualifikationen im ersten Definitionsbestandteil den Begriff in einer Art und Weise, welche insbesondere die richtige Nutzung von Wissen angesichts einer aktuellen Situation thematisiert, d. h. eine Nutzung, welche in dieser Situation durch Wissensnutzung, d. h. durch Kompetenzen maximal zu einer Problemlösung beiträgt. Sie zielt nicht mehr auf ein Spezialistentum, welches ein solches Wissen akkumuliert oder verwaltet. Im zweiten Definitionsbestandteil stellt diese Definition die Eigenschaft der Anpassungsfähigkeit per se in den Vordergrund, ohne sich tatsächlich inhaltlich auszudifferenzieren. Wie wir später noch sehen werden, hält eine solche Definition auch dann noch stand, wenn inhaltlich gefasste Definitionen bereits durch leichte Zugänglichkeit eines Wissens an sich sowie aufgrund ihrer Reproduzierbarkeit durch Künstliche Intelligenz weniger zielführend geworden sind.
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Mainzer (2019, S. 3) bezeichnet in seinem Versuch, Künstliche Intelligenz zu fassen, ein System als intelligent, wenn dieses „selbstständig und effizient Probleme lösen kann.“ Turing (1950) bezeichnet in seinem Turingtest einen Computer oder eine Maschine als intelligent, wenn von einem Beobachter nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Maschine oder einen Menschen handelt (siehe auch Schiller 2000, S. 5 ff.). Beide Definitionen in einer Definition zusammengefasst, kann man folglich Künstliche Intelligenz bezeichnen als eine maschinell erzeugte Problemlösung, bei welcher sich nicht mehr unterscheiden lässt, ob diese von einem Menschen oder einer Maschine erzeugt wurde. Dass algorithmisch wie maschinell viele weitere Probleme gelöst werden, welche von Menschen nicht gelöst werden können, bleibt hierdurch unbenommen. Das kann indes problemlos Kosten-Nutzen-Erwägungen von Entwicklungsabteilungen der Wirtschaft überlassen bleiben. Aus Sicht von Wissenschaft und Forschung an Hochschulen wird es indes immer dann besonders interessant und relevant, wenn die Relation Mensch–Maschine im Vordergrund steht, die mit der benannten Definition abgedeckt wird. Da Künstliche Intelligenz in zahlreiche Facetten unterteilt werden kann, sei im Folgenden, soweit nachfolgend notwendig, ein kurzer Überblick gegeben. Folgt man der Studie von Seifert et al. (2018, S. 56), so lässt sich die Technologie der KI in drei verschiedene Kategorien einteilen, nämlich in verhaltensorientierte („menschliche“) KI-Systeme, in rational denkende und handelnde KI-Systeme sowie in biologisch inspirierte KI-Systeme. Insbesondere letztere werden indes nicht zu den „klassischen“ Formen der KI gezählt (Seifert et al. 2018, S. 58). Beispiele für verhaltensorientierte Technologien sind semantische Systeme, die Verarbeitung natürlicher Sprachen (sog. Natural Language Processing, NLP) sowie kognitive Modellierungen. Bei semantischen Systemen wird versucht, die Bedeutung in den Daten zu verstehen, indem Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen beiden formuliert werden. Im Fall des NLP wird die menschliche Sprache in diversen Formen adressiert und über Texterkennung, Sprachgenerierung/-verständnis sowie maschinelle Übersetzungen eingesetzt (Seifert et al. 2018, S. 58). Ein Einsatzgebiet für NLP sind Chatbots. Kognitive Modellierung bezeichnet Modelle, welche die menschliche Intelligenz nachahmen und menschliches Verhalten simulieren (Seifert et al. 2018, S. 57 ff.). Rational denkende und handelnde Systeme lassen sich in die Teilgebiete maschinelles Lernen, Computer Vision und Robotic Process Automation unterteilen. Maschinelles Lernen lässt sich ausdifferenzieren in Supervised Learning,
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Unsupervised Learning und Reinforcement Learning (Bruns und Kowald 2019, S. 9). Supervised Learning beinhaltet, dass ein Algorithmus einen Trainingssatz mit der Lösung der Klassifizierung erhält und daran trainiert wird. Dies bedeutet, dass die zu lernende Klassifikation oder eine Form von Regression bereits vorgegeben ist. Hat der Algorithmus sich diese angeeignet, dann erfolgt eine Validierung an einem weiteren Datensatz, der während des Trainings nicht verwendet wurde und somit eine Performanzabschätzung der Lernmaschine auf noch ungesehenen Daten erlaubt. Unsupervised Learning in Form des Data Mining beinhaltet, dass versucht wird, ohne explizite Vorgabe eines Lernziels Muster in Datensätzen aufzufinden, um Beziehungen zwischen den zugrunde liegenden Größen/Variablen offenzulegen. Im mittlerweile weitaus häufigeren Fall jedoch wird Unsupervised Learning zur Prädiktion von Variablenzuständen auf noch ungesehenen Datensätzen verwendet. Reinforcement Learning dagegen sucht eine Lösung für ein gegebenes Problem zu finden, indem der Algorithmus mit einer Rückkopplung in Form von Anreiz/Strafe versehen wird (Bruns und Kowald 2019, S. 9 ff.). Der Hauptunterschied zwischen Reinforcement Learning und anderen MachineLearning-Paradigmen besteht also darin, dass es im Reinforcement Learning nicht nur auf prädiktive Performanz ankommt, sondern darauf, eine Handlungsvorschrift (Policy) unter gegebenen (bzw. vermuteten) Umweltbedingungen zu finden, die zur Maximierung eines zuvor spezifizierten Gütekriteriums (Reward) führt. Dieses Ziel beinhaltet als Zwischenschritt eine hohe Prädiktionskraft, geht aber in seiner Zielsetzung darüber hinaus, da es situationsadäquate Aktionen der KI als Systemoutput erwünscht. Mithilfe eines Reinforcement Learning lernt eine KI folglich „selbstständig eine Strategie für das Lösen eines Problems oder einer Aufgabe“ (Seifert et al. 2018, S. 60). Computer Vision bezeichnet die Erfassung und Klassifizierung von Objekten oder Handlungen in Bildern oder Videos. Robotic Process Automation bezeichnet die automatische Erkennung sowie Bearbeitung von Routinetätigkeiten bei Geschäftsprozessen auf Basis der Informationstechnologie (Seifert et al. 2018, S. 60 ff.). Nach diesem Überblick über zentrale Definitionen und Ansätze der KI kehren wir nun zu verschiedenen Überlegungen zurück, welche sich für Wissenschaft und Forschung mit zunehmender Digitalisierung stellen, wobei diese anhand von drei zentralen Merkmalen analysiert wird: Disruption, Virtualisierung und Künstliche Intelligenz.
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17.3 Wissenschaft und Forschung als Quelle einer Potenzialnutzung im Zeitalter der Digitalisierung 17.3.1 Disruption Traditionell stehen Wissenschaft und Forschung für bestimmte Werte und Zwecke. In der Antike im Platonischen Hain noch nach der Erkenntnis in Form eines guten Lebens forschend (Zehnpfennig 2011), dient sie seit der Preußischen Ära auch der Bildung – insbesondere einer Persönlichkeitsbildung – im Sinne Wilhelm von Humboldts (1793, S. 234–240). Traditionell galt Wissenschaft und Forschung zudem als Vorreiter, als Institution, welche einerseits Neues kreiert und andererseits über die Lehre dieses Neue in Wirtschaft und Gesellschaft trägt. Zumindest aber haben Angehörige wissenschaftlicher und forschender Institutionen mehr Zeit, so die gängige Meinung, über Probleme nachzudenken und damit nachhaltige anstelle von nur scheinbaren Lösungen zu entwickeln. Zu hinterfragen ist allerdings, ob solche Auffassungen auch in einer Zeit der Digitalisierung noch standhalten können. Sind Wissenschaft und Forschung noch bildend und noch innovative Vorreiter und Entwickler nachhaltiger Lösungen, welche auf diese Weise gesicherte und zukunftsträchtige Erkenntnisse weitergeben? Es ist insbesondere die mit der Digitalisierung zunehmend einhergehende Disruption, welche andeutet, dass es wichtig sein könnte, über die meisten der gerade genannten Werte und Zwecke neu nachzudenken. So kennzeichnet die Digitalisierung der damit einhergehende schnelle, immer wieder auch stark disruptive Wandel, welcher bisherig akkumulierte (Wissens-)Bestände zum Teil radikal infrage stellt. Um ein Beispiel zu geben: Wenn durch die in der obigen Definition von Digitalisierung angedeutete Umwandlung von physischen Gegenständen in virtuelle Gegenstände z. B. ein physischer Schlüssel durch einen QRCode oder ein Metronom durch eine App auf dem Handy ersetzt wird, bleibt zwar die Funktion des vorherigen Produktes erhalten, das bisherige Mittel zur Realisierung dieses Produktes und das mit diesem Mittel korrelierte Wissen wird indes auf einen Schlag überflüssig (physische Schlüsselproduktion, mechanische Funktionsweise des Metronoms; vgl. auch Kreutzer und Land 2016, S. 39–41). Mit anderen Worten entfallen ganze Wertschöpfungsketten und korrespondierend auch die Notwendigkeit, ein Wissen um deren Funktionsweise in der zuvor existierenden Form aufrecht zu erhalten. Es erscheint relativ naiv anzunehmen, dass weder Wissenschaft noch Forschung von solchen Prozessen betroffen
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sein könnten: Durch die Übersetzung physischer Ebenen in virtuelle, durch die Ablösung der Idee vom physischen Material ändert sich vielmehr substanziell das Objekt fast jeder Wissenschaft. Diese gewinnt dadurch allerdings zugleich auch neue Instrumente, um Wissenschaft zu betreiben. Wahrscheinlich ist angesichts dessen: Bestimmte Teile des Wissens werden auf diese Art und Weise immer schneller veralten, bisher angenommene Gesetzmäßigkeiten partiell fragwürdig erscheinen und Teile von Wissenschaftsstrukturen konsequenterweise Gegenstand von Restrukturierungen werden. So ist, um nur ein Beispiel zu geben, schwer vorstellbar, dass Forscher stets in allen Teilgebieten auf dem aktuellen Stand bleiben, geschweige denn, überhaupt über den aktuellen Stand informiert sind. Dies wäre nur möglich, wenn sie dicht mit einem breiten Netzwerk von führenden Praxispartnern und untereinander auf hoch effiziente Weise verwoben wären, was in der Regel und bis auf wenige Ausnahmen nicht der Fall ist (auch weil das Erlernen der simultan stattfindenden Fortschritte sowie die Überprüfung des hierbei entstehenden Wissens mangels Zeit und immer stärker ansteigender Regulierung und überbordenden bürokratischen Strukturen kaum mehr möglich erscheint). Zugleich stellt sich auch die Frage nach der Relevanz dieses Wissens. Was aber könnte dann der Sinn und Zweck von wissenschaftlichen Institutionen in einer – wissenschaftstheoretisch eingeordnet – derart von permanenten wissenschaftlichen Revolutionen im Sinne Kuhns (1967) gekennzeichneten Zeit sein? Sicher ist, dass ein normalwissenschaftliches Vorgehen basierend auf eingefrorenen Verfahrensweisen verkrusteter Eliten keine gute Antwort auf diese durch die Digitalisierung hervorgerufenen Gegebenheiten darstellt. Was aber wäre dann eine sinnvolle strategische Positionierung? Eine Antwort könnte darin liegen, dass sich eine Forschungsinstitution auf die relativ unveränderlichen Kerne eines Fachgebiets beziehen muss. Dies setzt indes voraus, dass diese Kerne tatsächlich so unveränderlich sind, wie angenommen und insbesondere, dass Forscher auch die richtigen Personen dafür sind, dies einschätzen zu können, d. h. zu dem Personenkreis zählen, welcher Kern und Nichtkern auseinanderhalten kann. Gerade Letzteres scheint durchaus hinterfragenswert, da sich tatsächlich praxisrelevanter Fortschritt, wie sich am Beispiel gerade von Künstlicher Intelligenz zeigen lässt, immer mehr aus Forschungsinstitutionen heraus und in die Wirtschaft hinein verlagert. Interessanterweise ist kaum denkbar, dass eine einzige Forschungsinstitution allein diese Frage nach den wirklich beständigen Wissenskernen, den Kompetenzkernen, allein beantworten könnte. Vielmehr können lediglich kooperierende Institutionen zusammen diese Frage beantworten, die F & E-Abteilung eines Unternehmens mit ihrem Ohr am Markt, die Fachhochschule, sowie Institute wie Fraunhofer
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und Helmholtz mit ihrem bereits theoretisch fundierten Anwendungsbezug und die Universität mit ihrer stärkeren Abstraktion. Mit anderen Worten deutet sich an, dass Kooperationen, wechselseitige Durchwirkungen, notwendig werden. Zielsetzung solcher ist gerade über die traditionellen Grenzen hinaus verstärkt Fayolsche Brücken, d. h. informelle Informationskanäle zu schaffen, welche eine wesentlich schnellere Absorption und Anpassung an sich andeutende ändernde Gegebenheiten ermöglichen. Eine andere Antwort könnte lauten, dass Wissenschaft und Forschung sich bewegen und ihre fachliche Ausrichtung überdenken sollten. So liegt eine Antwort auf Disruptionen, welche oft durch die Übertragung von Ansätzen aus bislang gänzlich anderen Fachdisziplinen ermöglicht werden, darin wesentlich stärker interdisziplinär zwischen Fachdisziplinen zu agieren und eine solche Interdisziplinarität korrespondierend zu fördern, um den Boden für gleichartige Disruptionen auch auf Ebene von Wissenschaft und Forschung zu ermöglichen. Mit anderen Worten geht es hier darum, Silostrukturen zwischen verschiedenen Fachbereichen zu vermindern und die zunehmende Vernetzung auch in den Wissenschaftsstrukturen zu spiegeln. Zuletzt kann auf das zunehmende Tempo von fundamentalen Änderungen in der Praxis auch reagiert werden, indem über eine korrespondierende grundlegende Änderung der prozessualen Aufstellung bei der Produktion von Wissenschaft und Forschung nachgedacht wird. Wenn man den gemessen an den Entwicklungen der Praxis immer extremer werdenden Zeitverlust bei der Produktion von Forschungsergebnissen minimieren will, dann könnte es sich anbieten, aus der Digitalisierung Ansätze bei Echtzeitproduktionen einerseits sowie Prinzipien der Holacracy (z. B. Borg und Hill 2018) andererseits zu übertragen. Die Idee hinter der Echtzeitproduktion liegt häufig darin, die aktuell auf einer Zeitachse ablaufenden Geschehnisse so weit als möglich zu parallelisieren und auf einen Zeitpunkt zu projizieren und diesen in die Zukunft fortzuschreiben (in der Forschung wäre dies z. B. übertragbar durch lebende Artikel, welche um neue Erkenntnisse in Echtzeit durch neue Versionen ergänzt werden oder durch Echtzeitgutachten etc.). Die Idee der Holacracy liegt darin, Vorteile der Selbstorganisation bei der Identifikation von Expertenwissen zu nutzen, indem Hierarchien aufgebrochen und letztlich durch ein stark selbstbestimmtes, anhand der eigenen (nur einem selbst bekannten) Fähigkeiten Aufgaben aussuchendes, Arbeiten ersetzt werden (Borg und Hill 2018). Dies ließe sich z. B. für Wissenschaft und Forschung nutzen, indem erstere stark an den Interessen und Fähigkeiten der Doktoranden, z. B. eines Lehrstuhls bzw. letztere auch Bürger im Rahmen von Bürgerwissenschaften inkludierend, ausgestaltet wird. Will man den Zeitverlust, bis Forschung praxisrelevant wird, minimieren, läuft dies auf eine
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Forschung hinaus, die bereits im Moment der Forschung Neues hervorbringt, was gleichzeitig in der Praxis eingesetzt wird, indem gemeinsam mit den Anwendern in Form einer Customer-Co-Creation geforscht wird: Forschung und Wirtschaftspraxis würden dann logisch zusammenfallen und, bei geeigneter Ausgestaltung, allen Seiten von Nutzen sein. Dass die Umsetzung solch fundamentaler Ansätze nicht einfach wird, ist klar: All diesem steht aktuell ein Wissenschaftssystem entgegen, welches mit verschiedenen Formen von Rankings einen starken Zug zur Selbstreferenzialität eingeübt hat. Auch ist das aktuelle System eher auf eine Vereinzelung und allenfalls Zweckgemeinschaften zwischen Institutionen, Professoren und wissenschaftlichen Zeitschriften ausgerichtet, indem es diese in Wettbewerb zueinander setzt. Das bewirkt vor allem geschlossene Communities und Gatekeeperprozesse, welche neben ihrer Qualitätssicherungswirkung immer auch die hier gerade schädlichen hierarchischen Strukturen sowie den Ausschluss von Interdisziplinarität, Innovation und Kooperation begünstigen.
17.3.2 Forschung und Falschinformationen In der systemtheoretischen Wissenschaftstheorie wurde das Wissenschaftssystem als eines aufgefasst, welches nach dem Code von Wahrheit/Falschheit funktioniert (Luhmann 1990). In der Ära nach Popper wurden wissenschaftliche Institutionen auf Basis des kritischen Rationalismus als Institutionen angesehen, welche über den Weg der Suche nach Falsifizierung (Popper 1973, S. 7 f.) im Sinne eines Ringens um die auf Basis eines gegebenen Status quo beste Erklärung von Forschern für von ihnen untersuchte Phänomene rangen und sich so zumindest einer Form von Wahrheit im Sinne robuster Theorien annäherten (z. B. Popper 1973, S. 35). Zuletzt galten sie immerhin noch als Institutionen, welche auf Basis eines durch Mechanismen des New Public Management erzeugten Wettbewerbs versuchten, die qualitativ hochwertigsten Forschungsergebnisse, Köpfe und Institutionen herauszudestillieren und diese mit den meisten Ressourcen auszustatten, um so die knappen Ressourcen den leistungsfähigsten Forschungsinstitutionen mit den besten Forschungsergebnissen und Forschern zu widmen und so Signaling- und Selbstselektionseffekte auszulösen (auch dies folgt letztlich einer bestimmten Form der Wissenschaftstheorie, welche Wissenschaft letztlich produkt-, konsum- und wettbewerbsbasiert zu rechtfertigen sucht). Jeder dieser Ansätze diente dem Zweck, den Adressaten von Wissenschaft Ansatzpunkte zu vermitteln, an wen man sich vertrauensvoll wenden könne, um korrekte und unverzerrte Informationen zu erhalten. Es sind
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solche Hintergründe, welche dafür sorgen, dass Wissenschaft und Forschung auch heute noch zugeschrieben wird, zumindest über die Grundsätze wissenschaftlicher Praxis absoluter Integrität und Ehrlichkeit verpflichtet zu sein. Dass viele weitere wissenschaftstheoretische Ansätze und Einflüsse existieren, soll hier nicht verschwiegen werden, doch sind die genannten jene, welche nach der Erfahrung der Autoren den größten Einfluss ausübten und immer noch ausüben. Zu hinterfragen ist allerdings auch hier, ob diese Auffassungen noch zeitgemäß bzw. zukunftsweisend sind. Sind wissenschaftliche Institutionen noch Hüter einer Form von Wahrheit, welche auf diese Weise gesicherte Erkenntnisse an zukünftige Eliten weitergeben? Können sie noch abgesichertes Wissen bereitstellen? Können sie bzw. unter welchen Bedingungen könnten sie dies in einem Zeitalter der Digitalisierung – insbesondere im hier definierten Sinn – überhaupt leisten? Als zweite Entwicklung der Digitalisierung ist an dieser Stelle anzuführen, dass je mehr die virtuelle und die physische Welt interagieren, desto mehr auch die Beeinflussbarkeit der virtuellen Welt Einfluss auf die physische Welt nimmt; ein Phänomen, welches in der Literatur bereits im Bereich von nachweislich auf kontrafaktischen, d. h. explizit falschen Annahmen basierenden Bepreisungsmodellen von Finanzinstrumenten, untersucht wurde. Diese schufen Hyperrealitäten im Finanzsektor, die indes auf den Realsektor durchaus materielle Auswirkungen hatten und folglich nicht einfach ignoriert werden konnten (vgl. z. B. Baudrillard 1994; Macintosh et al. 2000; Schinckus 2008). Mit der Schaffung der virtuellen Möglichkeiten durch die Digitalisierung ist der Umfang an Möglichkeiten zur Beeinflussung von Realitätskonstruktionen extrem gestiegen. Gerade eine solche Beeinflussung zu isolieren und nachzuweisen, kann ohne genaue Kenntnis der konkreten Umstände problematisch bis unmöglich sein, was die Frage von Falsifikation und den Sinn einer rein auf Rigor fixierten Forschung gerade im sozialwissenschaftlichen Bereich, aber auch einen Code Wahrheit/Falschheit, auch einen kritischen Rationalismus und auch die Zielsetzungen eines New Public Management noch einmal auf ganz andere Weise fraglich werden lässt. Mit anderen Worten können Forschungsinstitutionen auch basierend auf Massendaten letztlich ohne ein sehr genaues Verständnis der Realität nicht mehr garantieren, was sie versuchen in jedem dieser wissenschaftstheoretischen Ansätze möglichst gut abzusichern, nämlich die Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit ihrer Forschungsergebnisse. Auch durch eine Totalkontrolle aller Forschungsaktivitäten lässt sich unter solchen Umständen angesichts menschlicher Grenzen solches nicht vollziehen, weil es die Masterminds nicht gibt, welche angesichts dessen zu fundierten Entscheidungen kommen könnten. Dies gilt insbesondere, wenn in Betracht gezogen wird, dass ggf. die
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medial thematisierten Falschmeldungen Einzelner gegenüber den Realitätsbeeinflussungen durch die restlichen Menschenmassen, welche zumindest im öffentlichen Raum nicht medial sichtbar werden, nur die Spitze eines Eisbergs sein könnten. Zieht man noch in Betracht, dass die Richtung der Beeinflussung zudem von den Interessen der einzelnen handelnden Personen abhängt sowie, dass noch nicht einmal bekannt ist, was in welche Richtung mit welchen Zielen manipuliert wird, wird die ganze Größe der hier auftretenden Herausforderung deutlich. Tentativ ließe sich denken, dass Forschungsinstitutionen angesichts dieser Situation insbesondere die Aufgabe zukommt, einen Orientierungspunkt, einen unabhängigen Fixpunkt zu etablieren. So ginge es dann darum, angesichts eines von Informationsüberflutung gekennzeichneten und Informationsqualität nicht mehr unterscheiden könnenden Umfelds die Menschen, die an ihnen arbeiten und die sie ausbilden, so arbeiten zu lassen bzw. so auszubilden, dass sie mit einer solchen Welt sinnvoll umgehen können und auch in einer derart unklaren, verzerrten und chaotischen Welt einen Unterschied machen können. Ein solches Vorgehen ist daher ganz im Sinne von Talebs Konzept der Antifragilität zu verstehen (Taleb 2013), welches das Unterfangen der Vorhersage disruptiver, Fat-TailEreignisse als hoffnungslos verwirft und stattdessen ganz auf die Aneignung von Robustheit im Umgang mit solchen Ereignissen setzt. Wie könnte so etwas aussehen? Sicher ist, dass wissenschaftstheoretisch betrachtet, Methodenmonismus unter solchen Gegebenheiten ebenso fragwürdig sein könnte, wie mit zunehmender Ferne von den tatsächlichen Geschehnissen die Gefahr von Fehlinterpretationen steigt. Ein Weg könnte daher darstellen, auf Forschungsmethoden zu setzen, welche relativ robust gegen Verzerrungen gemacht werden können, weil sie auf Einzelfallbasis ins Detail gehen (z. B. detaillierte Fallstudien), d. h. gerade darauf aus sind, die tatsächlichen Geschehnisse aus einer gewissen Perspektive nachzuvollziehen. Ein weiterer Weg könnte sein, erneut, diesmal innerdisziplinär und methodisch ausgerichtet, für Diffusion von Forschungsergebnissen zwischen verschiedenen methodischen Ansätzen zu sorgen, um so die Risiken systematisch fehlerhafter Erkenntnisse abzumildern. Gemessen am Status quo zeigt sich, dass beide Wege herausfordernd sind, da sie nicht unbedingt dem Vorgehen des heutigen Wissenschaftssystems entsprechen. Da die Gründe dieselben sind, die bereits im Vorkapitel genannt wurden, wird auf eine Darstellung verzichtet.
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17.3.3 Künstliche Intelligenz Zuletzt war immer auch ein wichtiger Aspekt von Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen für die Diffusion ihrer Forschungsergebnisse zu sorgen, da diese nur dann einen weiten Anwenderkreis gewinnen und insofern fruchtbar werden. Beobachtbar war ferner, dass immer stärker eine Spezialisierung und Ausdifferenzierung in den einzelnen Disziplinen stattfand. All dies wird indes durch einen neuen Akteur beeinflusst, welcher nunmehr ebenfalls für eine Absorption neuartiger Forschungsergebnisse zur Verfügung steht: Künstliche Intelligenz. Wie oben im Rahmen der Grundlagen dargestellt, ist diese ebenfalls in der Lage, menschliches Verhalten zu erlernen und dann auch anzuwenden. Wie aber wird dann eine Diffusion und Ausdifferenzierung in Zukunft aussehen? Was ist dann genau das, was Wissenschaft und Forschung in der Hochschule über das konkrete Forschungsergebnis hinaus noch einbringen kann? Um dies beantworten zu können, bedarf es zunächst einer etwas genaueren Analyse des Verhältnisses zwischen Mensch und KI. Letztlich können hier drei Positionen bezogen werden: Ersatz des Menschen durch KI, Mensch und KI als Konkurrenten im Wettlauf und KI im Dienst des Menschen.
17.3.3.1 Ersatz menschlicher Fähigkeiten durch KI Ein Ersatz des Menschen durch KI muss hinterfragen, ob und zu welchem Grad die Schlüsselqualifikationen menschlicher Arbeitnehmer durch Künstliche Intelligenz reproduziert werden können. Dass genau dies durch Künstliche Intelligenz in den unterschiedlichsten Teilbereichen angezielt wird, steht außer Frage, ist es doch bereits den oben gewählten Definitionen von KI immanent. Glaubt man der Studie von Frey und Osborne (2013), dann wird ein solcher Ersatz zu einem sehr hohen Prozentsatz intellektueller Tätigkeiten in nicht allzu ferner Zukunft flächendeckend stattfinden. Auch ganz konkret lässt sich feststellen, dass selbst solche Schlüsselqualifikationen, welche zuvor als nicht reproduzierbar galten (wie das Komponieren von Musik, das Malen von Bildern etc.) in Zweigen der Forschung zur Künstlichen Intelligenz bereits mit beachtlichen Erfolgen reproduziert werden können. Kreativität ist z. B. in der Musik reproduzierbar durch ein Musik produzierendes neuronales Netz (vgl. das Album I am AI, Amper AI 2017; Neuburger 2016). Ebenso existieren bereits umfangreiche Bemühungen, menschliche Emotionen zu vermessen und diese nachzubilden bzw. eine KI adäquat auf diese Emotionen reagieren zu lassen (vgl. z. B.
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Deml 2019, S. 86; Bartl 2019, S. 90). Kollaboration ist z. T. bereits reproduzierbar durch Computer Kollaboration über Edge Computing, z. B. in Form der Steuerung einer dezentralen Datenverarbeitung, welche die Verarbeitung, Auslastung oder Priorität in einem Netzwerk kollaborativer Computer steuert. Wenig spricht also dafür, dass dieser Siegeszug der KI bei aktuell noch allein dem Menschen zugeschriebenen Schlüsselqualifikationen auf Dauer gestoppt werden könnte. Doch ist hier Vorsicht angebracht. Selbst wenn sämtliche Regungen eines Menschen reproduziert werden können, ist so etwas dennoch, wie bereits das Wort andeutet, weiterhin Reproduktion, welche auf Massendaten von menschlichen Regungen in einer bestimmten Domäne basiert. Mit anderen Worten wird zum ersten nur reproduziert, was an menschlichen Regungen nach außen tritt. Gerade subjektive Eindrücke und innerpsychische Erlebnisse, d. h. die Gründe des Handelns, werden nicht reproduziert, obwohl sie es sind, welche die jeweilige Oberfläche verursachen. Genau hier unterscheiden sich die Sozialwissenschaften von den Naturwissenschaften, wie v. Hayek an der folgenden Andersartigkeit der Reaktionsmöglichkeiten eines Menschen gegenüber einem Objekt in einem physikalischen Experiment hervorhebt: We know that people will react in the same way to external stimuli which according to all objective tests are different, and perhaps also that they will react in a completely different manner to a physically identical stimulus if it affects their bodies in different circumstances or at a different point. We know, in other words, that in his conscious decisions man classifies external stimuli in a way which we know solely from our own subjective experience of this kind of classification […]. (Hayek 1979, S. 43)
Das Zitat hebt hervor, dass das Bewusstsein, in welchem diese Entscheidungen über Reaktionen getroffen werden, subjektiv und darum nicht zugänglich ist. Damit bleibt es beim Turingtest: was beobachtbar ist, nicht aber bei dem, was ist. Diese menschlichen Schlüsselqualifikationen scheinen also reproduzierbar, sind es vielleicht aber gar nicht. Das ist in zweierlei Hinsicht bedeutend: Zum einen ist das Beobachtbare bei jedem Mensch allenfalls die Oberfläche der Gedanken, Gefühle etc. dahinter. Zum anderen gilt: Eine KI, die diese Oberfläche reproduziert, reproduziert natürlich nicht dasjenige dahinter. Zugleich (re-)produziert sie zwar Oberfläche, nicht jedoch das, was Menschen regelmäßig interpretierend in das Verhalten anderer Menschen, d. h. in das Dahinterstehende, hineinlesen. Sie reproduziert indes wieder, was sich in Reaktion auf diese Oberfläche in datentechnisch vermessbaren Aktionen niederschlägt. Letztlich ist zu erwarten, dass jede menschliche Regung, welche sichtbar gemacht werden
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kann, auch durch KI auf lange Frist reproduziert werden kann. Damit wird für den Menschen insbesondere zentral, immer wieder neue Fähigkeiten an sich aufzudecken, welche noch nicht reproduziert wurden. Diese Fähigkeit wäre dann insbesondere diejenige der Flexibilität, der Anpassung an neue Gegebenheiten. Das erklärt die Bedeutung der obig gewählten Definition von Schlüsselqualifikationen. Gleichzeitig wird nicht unterschlagen, dass eine neu gewonnene Fähigkeit dann durch domänenspezifische KI eben doch relativ schnell breitenwirksam reproduziert werden kann. Dass dies Auswirkungen auf wissenschaftliche Institutionen haben muss, lässt sich an deren Zweck illustrieren, nicht nur Wissenschaft und Forschung zu betreiben, sondern diese auch auszudifferenzieren und zu verbreiten. So steigt mit der Informationsmasse zum einen die Anforderung, überhaupt erst einmal neues, noch nicht reproduzierbares valides Spezialistenwissen zu erzeugen, um dieses dann auch diffundieren zu können. Zugleich gibt es in Zukunft zwei potenzielle Adressaten für dieses Wissen, nämlich zu bildende Menschen einerseits und Künstliche Intelligenzen andererseits. Gerade für die zu bildenden Menschen ergibt sich durch die Vervielfältigungsmöglichkeiten von Wissen im Netz auch das Problem, dass für einen großen Anteil (die meisten, wenngleich nicht alle) Personen der Erwerb von Fachwissen in dieser Form nicht mehr attraktiv ist, weil der Grad an Spezialistentum nicht erreicht wird, welcher notwendig wäre, um auf dem aktuellen, benötigten Stand und in der Praxis produktiv zu sein. Gleichzeitig kann das verfügbare Wissen auch relativ leicht durch eine darauf ausgerichtete KI absorbiert und verfügbar gemacht werden. Zugleich ist alles andere als sichergestellt, dass eine Wissenschafts- bzw. Forschungsinstitution überhaupt über das (über die aktuellen KI hinausreichende) Wissen verfügt, wenn sie nicht die besten Spezialisten bei sich beschäftigt. Andernfalls können Wissenschaft und Forschung gar nicht mehr über das notwendige Wissen verfügen, welches es zu diffundieren gilt. Auf diese Weise aber scheinen sich Wissenschaft und Forschung aus ihrer alten Funktion der Diffusion von selbsterzeugtem neuartigen Spezialistenwissen an bestimmte Personengruppen in der Gesellschaft herauszubewegen. Dafür spricht auch, dass das tatsächlich interessante Spezialistenwissen der Zukunft in der Anpassung an spezifische Unternehmen und ihre spezifischen Gegebenheiten liegen dürfte. Insofern ergeben sich für wissenschaftliche Institutionen drei Bereiche, in denen sie reüssieren können. Zum einen können sie Spezialistenwissen fundiert dort weitergeben, wo die Leistungsfähigkeit der wissenschaftlichen Institutionen für die Spezialisten diejenige der Wirtschaft übersteigt. In allen Bereichen, in denen dies nicht der Fall ist, wird eine solche Diffusion eher nicht mehr in wissenschaftlichen Institutionen stattfinden.
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Zum zweiten können wissenschaftliche Institutionen die Basisausbildung von KI übernehmen. Zum dritten können sie sich bei der Entwicklung von Menschen zu Experten im Bereich der Erzeugung domänenspezifischer KI einbringen.
17.3.3.2 KI und Mensch im Wettlauf Die Frage, welche sich angesichts immer leistungsfähigerer Künstlicher Intelligenzen stellt, ist indes, ob Bildung, ob Digitale Bildung zeitlich überhaupt schnell genug vermittelt werden kann. Ist nicht eine KI dennoch viel schneller im Lernen? So scheint eine KI doch mit der exponentiell ansteigenden Rechenpower zumindest in Zukunft viel schneller zu sein, gerade wenn man überlegt, wie lange Menschen brauchen, bis sie vom Kleinkindalter in eine produktive Einsatzfähigkeit als Erwachsene hineingewachsen sind. Und benötigt eine KI dann noch den Menschen? Oder ist eine KI wie ein Hase, welchen der Igel Mensch doch immer noch überholt, indem er die Spielregeln ändert? Angesichts des eben ausgeführten lässt sich sicher festhalten, dass eine KI jegliche Form der Oberfläche menschlicher Regungen bei zunehmender Vernetzung und zunehmenden Daten reproduzieren können wird. Ein Bereich, den KI vorerst nicht wird reproduzieren können, ist ethisches und moralisches Verhalten an sich. (Noch) zu selten und zu situationsabhängig ist ein solches. Auch hier mag indes zumindest an der Oberfläche ethisches Verhalten durch den Ausschluss bestimmten nach Schlüsselwörtern aussortierten Datenmaterials sukzessive möglich erscheinen. Diese Sachverhalte können auch auf der konkreten, technischen Ebene zu Implikationen führen, beispielsweise in Form des Learning under safety constraints, bei dem der Lernprozess einer KI-Architektur bestimmten Randbedingungen (constraints) folgen muss, die unbedingt – oder zumindest in relaxierter Form – einzuhalten sind (so z. B. Sui et al. 2015). Im vorliegenden Kontext könnten diese Randbedingungen also durch den sinngebenden Menschen in moralkodifizierter Form vorgegeben sein. Mit dieser Thematik eng verwoben, ist auch die Frage nach Störangriffen auf eine KI durch Menschen oder andere KI-Systeme (sog. adversarial attacks, Goodfellow et al. 2015), bei denen gezielt Schwachstellen einer KI gefunden und diese so missbräuchlich verwendet oder zu falschen Entscheidungen verleitet werden soll. Hier müssen wiederum durch den sinngebenden Menschen technische Lösungen gefunden werden, die eine KI robust gegenüber solchen Angriffen machen. Neben derartige Schwächen von KI tritt die Erkenntnis, dass das Verhalten einer KI, gerade im Fall eines unsupervised learning, massiv von dem Datensatz abhängt, mit welchem sie trainiert wird bzw. bei einem reinforcement learning einer KI zudem noch jede Interaktion ihre (unvorhersehbaren) Rückwirkungen auf die KI hinterlässt. So zeigt sich, dass eine KI auf diese Weise z. B. Diskriminierungen unreflektiert
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in ihr eigenes Verhalten aufnimmt (vgl. z. B. Beck 2019, S. 92–94). Dies wurde schon bei Alexa deutlich, welche trainiert auf unethischen Daten bekanntermaßen ihren Nutzern empfahl, die Schwiegermutter zu töten. Was eine KI ebenfalls vorerst nicht können wird, ist, Sinngebung zu übernehmen und Beziehung zu leben. Dies liegt einmal daran, dass Sinn etwas sehr individuelles, im einzelnen Menschen liegendes ist, also etwas, was sich gerade unter der Oberfläche, in dem von F.A. von Hayek angesprochenen, anderen Menschen nicht zugänglichen Bereich befindet (vgl. z. B. Frankl 2009, S. 171, 177). Dies liegt zum anderen daran, dass Beziehung (gesprochen mit Martin Buber) bedeutet, dass wechselseitig beide Gegenüber aneinander werden. Dadurch bleibt in einer Beziehung kein Mensch so, wie er vor der Beziehung war. Hier könnten also die nicht reproduzierbaren Wettbewerbsvorteile zu verorten sein, im Sinn des Augenblicks und in dem wechselseitigen Werden des Ichs am Du. Hier läge dann auch der Vorteil des Igels. Und könnte eine KI auch diese spezifisch humanen Eigenschaften reproduzieren, wäre es tatsächlich noch problematisch? Schließlich hätte dann auch diese KI begriffen und als sinnvoll in das eigene Verhalten integriert, dass sie den, dass sie die Menschen als Gegenüber zum Werden zwingend benötigt. Betrachtet man die Situation in der Zusammenschau, dann ist diese nicht unkritisch: Einerseits kann fast jede Domäne von dem Instrument KI bedient werden, bis auf gerade diejenige, welche es braucht, um das Instrument KI sinnvoll zu bedienen, nämlich ethische Kategorien und Sinngebung. Das legt nahe, dass KI auch in die falschen Hände geraten kann, mit gefährlichen Folgen im Bereich der jeweiligen Anwendungsdomäne. Wer dies nicht will, wird automatisch Menschen ausbilden wollen, welche ein solches Instrument menschlich und zum Guten hin gebrauchen wollen. Die Frage, die sich für den einzelnen Studierenden und Mitarbeiter aber auch die Leitung einer wissenschaftlichen Institution stellt, ist dann: In welcher Welt wollen wir leben? Wofür setzen wir uns langfristig und nachhaltig gedacht ein? Eine konsequente Antwort wird sein, dass es zu vermeiden gilt, dass nicht in allen Bereichen der Frage nach der Integrität standhaltende Personen in Positionen gelangen, welche darüber wachen, dass eine KI auch adäquat eingesetzt wird. Es stellt sich in neuer Dringlichkeit der alte Streit zwischen Aristoteles und Platon: Ist Tugend lehr- und vor allem lernbar? Und wenn ja, wie kann das geschehen und vor allem auch dauerhaft abgesichert werden?
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17.4 Fazit Vorstehend wurde dargestellt, dass Wissenschaft und Forschung mit ihrer heutigen auch durch die Wissenschaftstheorie getriebenen Ausrichtung in eine Sackgasse geraten, sollten sich die gängigen Argumentationsmuster der Digitalisierung, nämlich Disruption, Virtualisierung und Künstliche Intelligenz so bewahrheiten, wie sich dies andeutet. Vor diesem Hintergrund wurde hinterfragt, in welche Richtung sich Wissenschaft und Forschung weiterentwickeln könnten, um eine zukunftsträchtige Quelle von Potenzial zu bleiben und einen sinnvollen Beitrag für ihre Adressaten, d. h. Studierende, Kooperationspartner, Gesellschaft und Staat, zu leisten und auf welcher wissenschaftstheoretischen Fundierung dies dann beruhen würde. Hierbei zeigte sich sowohl bei dem Faktor Disruption als auch bei dem Faktor virtueller Welten, dass verstärkte Kooperation, Interdisziplinarität und Nutzung von Echtzeitvernetzung wirkungsvolle Mechanismen darstellen, um zukunftsträchtig aufgestellt zu sein. Hierin liegt eine Zukunftschance, welche vielfach alte Werte im Wissenschaftsbetrieb bestätigt (z. B. die Einstellungen des philosophischen Kopfes in Friedrich Schillers Antrittsrede an der Universität Jena, vgl. Schiller 2000). Allerdings setzt dies ebenfalls voraus, die Schäden und Defizite heute stark verbreiteter Mechanismen an den Universitäten, wie Silodenken, Bereichsegoismen und Scheinwettbewerb, zu überdenken und sich davon wegzuentwickeln (vgl. diesbezüglich auch den bedenkenswerten Ansatz von Tsirikiotis und Schmidt 2020). Im vorherig Gesagten wurde KI als Ersatz und Wettbewerber zum Menschen figuriert. Viel spricht dafür, dass neben Ersatz und Wettbewerb auch hier die Kooperation tritt und damit die dritte angesprochene Position, die KI im Dienst des Menschen sich realisiert. In einer aktuellen Studie nutzen von 500 Unternehmen, die befragt wurden, bislang nur 6 % KI und von diesen 6 % entfallen 70 % auf Datenanalysen bei Entscheidungsprozessen. Allerdings schätzen ca. 31 % ihr Risiko gegenüber Wettbewerbern mit KI als groß ein. Interessant ist hierbei, dass 71 % der Anwender KI zur Unterstützung der Mitarbeiter heranziehen wollen und nur 20 % zum autonomen Einsatz (Geretshuber und Reese 2019, S. 5 ff.). Hier spiegelt sich momentan noch eine klare Präferenz für das Instrument KI, im Vergleich zu einem autonomen Gegenüber KI. Klar erscheint in jeder Konstellation und bei jeder der drei Dimensionen Disruption, Virtualisierung und Verzerrung sowie Künstliche Intelligenz, dass Werte und Wertegemeinschaften in Zukunft eine Schlüsselrolle einnehmen. Es ist nicht mehr irrelevant, welche moralisch-ethischen Einstellungen die handelnden Personen aufweisen. Dies gilt zum einen bei der Ausbildungsfunktion von Studierenden, d. h. der Weitergabe erzeugten wissenschaftlichen Wissens. Hier nicht irgendein Wissen weiterzugeben, sondern solches, welches wirklich einen
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Unterschied macht, hängt weitgehend nicht am Erscheinungsbild, sondern daran, wer hier tätig war und ist. Wie hier gehandelt wird, wird in Zukunft weit radikaler den Lebensweg der einem anvertrauten Studierenden beeinflussen. Dies gilt zum anderen angesichts des Nebeneinanders von unverschuldeter Disruption und verschuldeter Verzerrungen in virtuellen Welten. Beides lässt sich im Endeffekt nur noch am Ergebnis auf längere Sicht beurteilen, da zwischen beidem am konkreten Einzelfall nicht mehr unterschieden werden kann und ggf. viele alternative Wahrheiten gezeichnet werden. Nur solche Wissenschaftler, welche auch gegen Widerstände an ihrem Anspruch einer Wahrheitssuche festhalten, sind in der Lage, sinnhaft den Anspruch von Wissenschaftsinstitutionen bewahren zu können. Dies gilt zuletzt auch für den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Zu mächtig sind die Geister, welche hier gerufen werden, als dass sie nicht auf ein hohes Maß an Integrität im Umgang mit ihnen angewiesen wären. Dass sich dieses Instrument KI auch nutzen lassen könnte, um den Menschen selbst in seinen Kompetenzen in Form einer Potenzialentfaltung auf eine neue Stufe zu heben und dass dies eine neue wertvolle Aufgabe für Wissenschaft und Forschung sein könnte, sei als Ausblick hier noch kurz angedeutet. So können mit den neuen Datenanalysemöglichkeiten auch Unterstützungen geschaffen werden, welche das Lernen des Einzelnen individuell und dramatisch verbessern können, weil sie durch eine umfangreiche Abstimmung auf den Lernenden, dessen autopoietische Selbstlernprozesse individualisiert unterstützen (zur Fruchtbarkeit eines solchen Lernansatzes vgl. auch Russel und Norvig 1995, S. 261–272). Zu denken ist beispielsweise daran, dass der in der Pädagogik so verbreitete Lebensweltbezug sich durch Beispiele jeweils so verwirklichen lassen könnte, dass jedem Studierenden zwar abstrakt derselbe Lernstoff, in der Anwendung hingegen der spezifische zu ihm passende Lernstoff vermittelt wird. Mithilfe solcher Unterstützungen, einer Art „didaktischem Verfügbarkeitsgeschäftsmodell“, ist denkbar, dass Menschen ganz ungeahnt schnelle Weiterentwicklungen ermöglicht werden können. Aufgabe von Forschung wäre folglich, KI darauf hin zu trainieren, dass diese die Lehre unterstützt (vgl. zu Ansätzen in diesem Bereich z. B. Bruns und Kowald 2019, S. 77–82). Dies würde auch die gängige Angst ganz konkret beseitigen, KI ersetze den Menschen und lasse eine Heerschar an unbeschäftigten, überflüssigen Menschen zurück, welche bar jeder Einsatzgebiete sich in Bürgerkriegen beschäftigen bzw. durch Bürgergeld ruhiggestellt werden müssen. Eine derartige wissenschaftliche Institution erfände sich neu, tritt doch anstelle des Fokus auf das Fachwissen (welches mittlerweile ubiquitär verfügbar ist) der Fokus auf den der Institution anvertrauten Menschen und die Ausschöpfung von dessen persönlichen Möglichkeiten. Und hier schließt sich der Kreis: Solange, aber auch nur solange, Menschen sinnvoll handeln können, stehen Wissenschaft und Forschung solche Möglichkeiten offen.
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M. Grottke und A. Steimer
Prof. Dr. Markus Grottke ist seit 2018 Prorektor der AKAD University, betraut mit dem Themengebiet Innovation und Duales Studium sowie Professor für ABWL und Digital Business. Seine Forschungsschwerpunkte sind Mittelstand/Familienunternehmen und Digitalisierung, Digital Leadership, organisationale Weiterentwicklung von Unternehmen in der Digitalisierung. Bei der AKAD University hat er zuletzt an der Entwicklung eines spezifisch auf die Bedürfnisse des Mittelstands ausgelegten digitalen Dualen Studiums mitgewirkt. Dr. Andreas Steimer erhielt sein Diplom in Mikrosystemtechnik von der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Deutschland und absolvierte anschließend bis 2012 ein Doktorat am Institut für Neuroinformatik der ETH Zürich, Schweiz. Von 2012 bis 2013 war er dort weiterhin als Postdoktorant tätig, bevor er bis 2017 als wissenschaftlicher Projektleiter am Universitätsklinikum Inselspital und der Universität Bern tätig war. Heute arbeitet er als Machine Learning Engineer und AI-Consultant am Bosch Center for Artificial Intelligence.
Teil V Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung
Digitale Kompetenzen in der Hochschulstrategie – Quo vadis? Ergebnisse einer bundesweiten Schwerpunktstudie zur Digitalisierung an Hochschulen
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Harald Gilch, Anna Sophie Beise, René Krempkow, Marko Müller, Friedrich Stratmann und Klaus Wannemacher Inhaltsverzeichnis 18.1 Zum Stand der Digitalisierung der Hochschulen in Deutschland in Forschung, Lehre und Verwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 18.1.1 Ansatz und Methodik der Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
H. Gilch (*) HIS-Institut für Hochschulentwicklung e. V. Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] A. S. Beise Fachhochschule Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Krempkow Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Müller · F. Stratmann · K. Wannemacher HIS-Institut für Hochschulentwicklung, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Stratmann E-Mail: [email protected] K. Wannemacher E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_18
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18.1.2 Übergreifende Ergebnisse der Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 18.2 Aspekte digitaler Kompetenzen und Qualifikationen in den Hochschulen. . . . . . 447 18.2.1 Zuständigkeiten und Beteiligung an der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . 447 18.2.2 Einstellung und Qualifikation des Hochschulpersonals. . . . . . . . . . . . . . 449 18.2.3 IT-Fachkräftemangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 18.3 Diskussion der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Zusammenfassung
Im Zuge der Digitalisierung der Hochschulen verändern sich nicht nur Inhalte, Methoden, Praktiken und Prozesse im wissenschaftlichen und administrativen Arbeiten – es wird auch ein umfassender Differenzierungsprozess im Hochschulsystem angestoßen. Anhand ausgewählter Aspekte der bundesweiten Schwerpunktstudie Digitalisierung der Hochschulen im Auftrag der EFI werden verschiedene Facetten dieser Entwicklungen aus den Dimensionen Forschung, Lehren und Lernen, Verwaltung und Infrastruktur aufgezeigt. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht der Stellenwert digitaler Kompetenzen an den Hochschulen. So nennen mehr als 85 % aller befragten Hochschulen die Vermittlung von Kompetenzen für eine digitale Welt als wesentlichen Teil ihres Digitalisierungskonzepts. Die Betrachtung der dem eigenen Personal zugeschriebenen digitalen Kompetenzen zeigt jedoch deutliche Unterschiede für verschiedene Personalkategorien auf. Zudem sind Differenzierungen hinsichtlich der Hochschulstandorte und -träger erkennbar. Da digitale Kompetenzen eine wesentliche Rolle im Digitalisierungsprozess spielen, muss überlegt werden, welche Instrumente Hochschulen zur Verfügung stehen, diese aktiv weiterzuentwickeln. Anhand der Ergebnisse der bundesweiten Schwerpunktstudie Digitalisierung an Hochschulen werden diese Aspekte untersucht und Handlungsoptionen diskutiert.
18.1 Zum Stand der Digitalisierung der Hochschulen in Deutschland in Forschung, Lehre und Verwaltung 18.1.1 Ansatz und Methodik der Studie Die deutsche Hochschullandschaft digitalisiert sich. Ebenso wie Strukturen und Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft weitreichenden Veränderungen unterliegen, gilt dies auch für Wissenschaft und Hochschulen, die sich zunehmend
18 Digitale Kompetenzen in der Hochschulstrategie …
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den Potenzialen der Digitalisierung öffnen. Mit der Digitalisierung ist gemeinhin die Erwartung verbunden, dass diese den Hochschulen ein Forschen, Lehren und Verwalten auf einem qualitativ höheren und stärker professionalisierten Niveau ermöglicht. Gleichzeitig ist allgemein bekannt, dass sich die jeweiligen strategischen und organisatorischen Verankerungen der Digitalisierung im Gesamtkonzept der Hochschulen erheblich unterscheiden und auch die bereits erreichten Grade der Umsetzung in unterschiedlichen Bereichen deutlich voneinander abweichen. Zugleich stellen sich die speziellen strukturellen Notwendigkeiten, Herausforderungen und Umsetzungspotenziale für unterschiedliche Bereiche – Forschung, Lehren und Lernen, Verwaltung sowie Infrastruktur – der Hochschulen ganz verschieden dar. Trotz einer Reihe von Studien zu Einzelbereichen lagen übergreifende Studien zur Digitalisierung der Hochschulen bislang nicht vor. An dieser Stelle setzte die Schwerpunktstudie Digitalisierung der Hochschulen (Gilch et al. 2019a) an, die das HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in 2018 im Auftrag der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) durchgeführt hat. Das Ziel der Studie war, den Prozess der Digitalisierung an Hochschulen unter Berücksichtigung der Bereiche Forschung, Lehren und Lernen, Verwaltung und Infrastruktur deutschlandweit zu analysieren. Die Studie konzentrierte sich neben diesen Bereichen insbesondere auf den Stellenwert, Strategien und Ziele der Digitalisierung, ihre Verankerung in der IT-Governance, Stand und Rahmenbedingungen der Digitalisierung sowie Herausforderungen und Handlungsempfehlungen an die Politik. Der Schwerpunkt der Studie lag methodisch auf einer teilstandardisierten Vollerhebung unter deutschen Hochschulleitungen, die im Frühjahr 2018 durchgeführt wurde. Dabei schlossen 119 Hochschulen (Rücklaufquote: 30,1 %) den Fragebogen ab. Diese Erhebung wurde um qualitative Elemente ergänzt. Die quantitativen Daten wurden mittels deskriptiver Analysemethoden sowie multivariater Analysemethoden (vgl. Gilch et al. 2019b), die qualitativen Daten mittels einer Inhaltsanalyse ausgewertet. Im vorliegenden Beitrag sollen zunächst zentrale Ergebnisse der Studie zusammengefasst werden. Anschließend geht es darum, die Ergebnisse hinsichtlich der Kompetenzen der Hochschulmitglieder für die Digitalisierung näher zu beleuchten und zu betrachten, wie Hochschulen diese Kompetenzen einschätzen und welche Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung sie ergreifen.
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18.1.2 Übergreifende Ergebnisse der Studie 18.1.2.1 Stellenwert und Stand der Digitalisierung Zu den zentralen Resultaten der quantitativen Erhebung zählt im Hinblick auf den Stellenwert und Stand der Digitalisierung, dass der Stellenwert der Digitalisierung an Hochschulen in Deutschland generell hoch eingeschätzt wird. In Bezug auf die eigene Hochschule als Gesamtinstitution schätzen 82,6 % der Hochschulen die Bedeutung der Digitalisierung auf einer fünfstufigen Skala als hoch oder sehr hoch ein. Im Hinblick auf einzelne Bereiche schreiben Hochschulleitungen der Digitalisierung von Lehren und Lernen (75,7 %) und der Digitalisierung der Verwaltung (71,9 %) die größte Bedeutung zu. Den Stand der Digitalisierung der eigenen Hochschule bewerten die Hochschulleitungen wesentlich zurückhaltender als den jeweiligen Stellenwert. Einen hohen oder sehr hohen Stand der Digitalisierung attestieren Hochschulleitungen am ehesten den Bereichen Forschung (34,3 %) sowie Lehren und Lernen (29,3 %) an der eigenen Hochschule, während die Digitalisierung der Verwaltung am seltensten als hoch oder sehr hoch eingeschätzt wird (23,3 %; vgl. Abb. 18.1).
18.1.2.2 Reichweite und Zielsetzungen von Digitalisierungsstrategien Eine schriftliche Strategie bzw. ein Konzept zur Digitalisierung der Hochschule als Gesamtinstitution liegt an 54,5 % der Hochschulen vor oder wird erarbeitet. Bereichsspezifische (Digitalisierungs-)Strategien liegen vorrangig für die
Abb. 18.1 Stand der Digitalisierung der Hochschulen nach Bereichen
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Bereiche Lehren und Lernen (69,6 %) und Verwaltung (61,8 %) vor oder werden derzeit bearbeitet. Betrachtet man unterschiedliche Hochschultypen, verfügen die Universitäten sowohl in Bezug auf die Hochschule als Gesamtinstitution als auch auf die drei Bereiche Forschung, Lehren und Lernen sowie Verwaltung häufiger als Fachhochschulen über eine verschriftlichte Strategie oder erstellen diese aktuell. Als Zielsetzungen, die mit der Digitalisierungsstrategie verbunden sind, werden am häufigsten die Verbesserung der Qualität der Lehre (91,7 %), die Erhöhung der Dienstleistungsqualität der hochschulischen Verwaltungs- und Serviceleistungen (90,0 %), die Erhöhung der Effizienz der hochschulischen Verwaltungs- und Serviceleistungen (90,0 %) sowie die Vermittlung von Kompetenzen für eine digitale Welt (86,7 %) benannt. Eine Analyse nach Priorisierungen ergibt, dass verwaltungs- und lehrbezogene Zielsetzungen, die Qualität und Kompetenzvermittlung betreffen, sowie Ziele, die mit Steuerungsund Profilbildungsansprüchen in Verbindung stehen, derzeit in den Strategien der Hochschulen dominieren und prioritär zur Orientierung ihres Handelns herangezogen werden (vgl. Abb. 18.2).
18.2 Aspekte digitaler Kompetenzen und Qualifikationen in den Hochschulen 18.2.1 Zuständigkeiten und Beteiligung an der Digitalisierung Hinsichtlich der IT-Governance zeigt die Studie, dass die Zuständigkeit für die Digitalisierung vielfach zentral verankert ist: In fast drei Viertel der Hochschulen (73,8 %) ist eine Person in der Hochschulleitung für die Digitalisierung zuständig. 60,2 % der Hochschulen verfügen über ein CIO-Gremium bzw. über einen CIO (Chief Information Officer). Für die organisationale Verankerung des CIO sind wenige Varianten prägend: Einzelpersonen, die zum CIO bestellt wurden, sind meist Mitglied des Präsidiums (44,1 %) oder identisch mit der Leitung des Rechenzentrums (42,6 %). Im Rahmen einer informellen ITGovernance werden als federführende Akteure im Prozess der Digitalisierung am häufigsten die Leiter von Rechenzentren bzw. Verwaltungs-IT (68,9 %), Vizepräsidenten bzw. Kon- oder Prorektoren (62,2 %), Kanzler bzw. hauptberufliche Vizepräsidenten (58,0 %), Präsidenten bzw. Rektoren (53,8 %) sowie Leiter von Zentralen Einrichtungen (47,1 %) genannt. Eine relativ geringe federführende Rolle nehmen anscheinend Verwaltungseinrichtungen (26,1 %), Mitarbeiter in
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H. Gilch et al.
Abb. 18.2 Zielsetzung von Digitalisierungsstrategien
Technik und Verwaltung (24,4 %) sowie wissenschaftliches Personal (16,8 %) ein (vgl. Abb. 18.3), wobei diese als Beteiligte durchaus in den Digitalisierungsprozess involviert sind: • Mitarbeiter in Technik und Verwaltung (53,3 %), • wissenschaftliches Personal (43,3 %).
Abb. 18.3 Federführende Stellen beim Prozess der Digitalisierung
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18.2.2 Einstellung und Qualifikation des Hochschulpersonals Insgesamt eher oft wird die Einstellung und etwas seltener die Qualifikation des Personals für die Digitalisierung als stark ausgeprägt eingestuft. Während 68,5 % der Befragten die Einstellung des wissenschaftlichen Personals als (sehr) zustimmend einschätzen, schätzen nur 47,7 % der Befragten die Qualifikation als (sehr) hoch ein. Für das Personal in Technik und Verwaltung liegen diese Werte bei 47,8 % ([sehr] zustimmende Einstellung) bzw. sogar nur bei 20,9 % ([sehr] hohe Qualifikation; vgl. Abb. 18.4). Insbesondere der letzte Wert zeigt, dass die digitalen Kompetenzen des eigenen Personals oft für unzureichend gehalten werden, trotzdem ja, wie oben gezeigt wurde, gerade die Vermittlung digitaler Kompetenzen zu den wichtigsten Zielsetzungen gehört, die Hochschulen mit der Digitalisierung verbinden. Aus den Ergebnissen der Studie zur Digitalisierung der Hochschulen folgt somit, dass nach Einschätzung der Befragten insbesondere beim Personal in Technik und Verwaltung die Hälfte der Personen der Digitalisierung eher neutral oder sogar (sehr) ablehnend gegenüber steht und dessen Qualifikation nur bei etwa einem Fünftel als hoch bis sehr hoch eingestuft wird. Generell gilt: • Je positiver die Einstellung einer Gruppe eingeschätzt wird, desto höher wird auch deren Qualifikation eingeschätzt. • Die generellen Befunde ähneln sich für Universitäten und Fachhochschulen.
Abb. 18.4 Einstellung und Qualifikation hochschulinterner Personengruppen
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• Insbesondere an den Universitäten sind bei den Beschäftigten in Technik und Verwaltung negativere Einstellungen gegenüber der Digitalisierung und vor allem auch geringere Qualifikationen erkennbar. Besonders ausgeprägt ist die unterschiedliche Einschätzung der Qualifikation der Beschäftigten in den westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern (Gilch et al. 2019a, S. 108): • Wissenschaftliches Personal – Ost: 13,3 % hoch oder sehr hoch – West: 51,2 % hoch oder sehr hoch • Studierende – Ost: 40,0 % hoch oder sehr hoch – West: 56,3 % hoch oder sehr hoch • Personal in Technik und Verwaltung – Ost: 6,3 % hoch oder sehr hoch – West: 22,0 % hoch oder sehr hoch Bzgl. verschiedener Hochschulträger ergibt sich (Gilch et al. 2019a, S. 125): • Bei wissenschaftlichem Personal melden private und staatliche Hochschulen ähnlich oft eine (sehr) positive Einstellung, während dies an kirchlichen Hochschulen deutlich niedriger eingeschätzt wird. • Beim Personal aus Technik und Verwaltung beurteilen staatliche und kirchliche Hochschulen diese Einstellung weniger positiv, während hier die privaten Hochschulen öfter eine (sehr) positive Einstellung wahrnehmen. • Die privaten Hochschulen schätzen die Qualifikation aller drei Personengruppen am höchsten ein. Besonders deutlich wird dies beim Personal aus Technik und Verwaltung, dessen Qualifikation an privaten Hochschulen von 64,7 % der Befragten als hoch oder sehr hoch eingestuft wird, während dies bei staatlichen Hochschulen nur für 11,8 % der Hochschulen zutrifft (kirchliche Hochschulen: 25,0 %). • Die Qualifikation der Studierenden wird unabhängig vom Hochschulträger bei allen Hochschulen ähnlich hoch eingeschätzt.
18.2.3 IT-Fachkräftemangel Spezielle Aufmerksamkeit wurde in der Studie den IT-Fachkräften (als kleine Teilmenge der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung) gewidmet, da diese für
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die Digitalisierung eine besonders wichtige Personengruppe darstellen und in deren Aufgabenbereich die Implementation und der Betrieb der IT-Infrastruktur sowie der IT-Systeme und die Betreuung der Nutzer fallen. Werden die Hochschulen gefragt, inwieweit sie von einem Fachkräftemangel in Bezug auf die Digitalisierung betroffen sind, sehen sich 71,4 % der Befragten von einem Fachkräftemangel in hohem oder sehr hohem Maße betroffen (vgl. Abb. 18.5), wobei hier zwischen Universitäten und Fachhochschulen sowie großen und kleinen Hochschulen und auch den westlichen und östlichen Bundesländern kaum Unterschiede bestehen. Für die privaten Hochschulen liegt dieser Wert bei 33,3 %, sodass dies ein weniger großes Problem zu sein scheint. Nach den Maßnahmen gefragt, die getroffen werden, um diesem IT-Fachkräftemangel entgegenzuwirken bzw. diesen zu beheben, benennen die Befragten am häufigsten (vgl. Abb. 18.6): • Fort- und Weiterbildung vorhandener Beschäftigter: 82,4 % der Befragten, • Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf: 61,3 % der Befragten, • Ausbildung (auch betriebliche) von Fachkräften: 49,6 % der Befragten, • Zusammenarbeit mit Fakultäten bzw. Fachbereichen, Instituten oder Lehrstühlen: 46,2 % der Befragten. Dabei spielt für Universitäten sowie große Hochschulen und die Hochschulen aus den westdeutschen Bundesländern die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die (auch betriebliche) Ausbildung von Fachkräften noch eine
Abb. 18.5 Vorliegen eines IT-Fachkräftemangels
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H. Gilch et al.
Abb. 18.6 Maßnahmen gegen IT-Fachkräftemangel
größere Rolle als für Fachhochschulen sowie kleine Hochschulen bzw. Hochschulen aus den ostdeutschen Bundesländern.
18.3 Diskussion der Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Hochschulen der Digitalisierung geöffnet haben, wenngleich sich der Stand zwischen den Hochschulen teils merklich unterscheidet und dies auch innerhalb einer einzelnen Hochschule gilt. Ferner bleibt dieser Stand auch noch um einiges hinter dem hohen Stellenwert, den Digitalisierung zumindest in den Hochschulleitungen einnimmt, zurück. Insgesamt wird die Einschätzung der HRK (2018) von der vorliegenden Studie bestätigt: Im Bereich der Digitalisierung der Hochschulen zeigt sich in Deutschland „eine Vielzahl guter Projekte und Ansätze, denen nun zeitnah Richtung und Dauerhaftigkeit gegeben […] werden muss.“ (Senat der HRK 2018, S. 8). Es bestätigt sich zugleich, dass bei der Digitalisierung der Hochschulen – sei es hinsichtlich der Gesamtinstitution wie auch der einzelnen Bereiche – eine komplexe Aufgabe auf komplexe Strukturen trifft, die zudem in ihrer Entwicklung von politischen Rahmenbedingungen und Einflüssen abhängig sind. Hinsichtlich der Kompetenzen für die Digitalisierung zeigt sich an den Hochschulen ein komplexes Bild. So ist die „Kompetenzvermittlung für eine digitale
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Welt“ eines der zentralen Ziele, die von den Hochschulen im Rahmen ihrer Digitalisierungsstrategien verfolgt werden. Dieses Ziel richtet sich vor allem an die Studierenden, und es lässt sich feststellen, dass die Hochschulen verstärkt seit 2014 erhebliche Anstrengungen unternommen haben, um das Spektrum an Studienangeboten z. B. im Bereich der Data Science kontinuierlich zu erweitern (Lübcke und Wannemacher 2018, S. 3). Gleichzeitig haben die Hochschulen aber auch damit begonnen, über die Nutzung von digitalen Formaten und Methoden sowie entsprechend spezialisierte neue Studienangebote hinaus die Lehrinhalte in allen Disziplinen um Inhalte zu erweitern, die zum Aufbau sowohl von fachspezifischen als auch von allgemeinen digitalen Kompetenzen notwendig sind (vgl. Gilch et al. 2019a, S. 38). Einzelne Hochschulen haben auch begonnen, Methoden und Verfahren zur Erfassung digitaler Kompetenzen bei Studierenden zu entwickeln und entsprechende Erhebungsinstrumente pilotiert (für Deutschland vgl. Krempkow 2019, für die Schweiz vgl. Frischherz et al. 2019, für Österreich vgl. Janschitz et al. 2019. Im Hinblick auf das hochschuleigene Personal muss jedoch konstatiert werden, dass anscheinend die für eine erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierungsprojekte notwendigen Qualifikationen noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Dies zeigt sich einerseits in der relativ niedrigen Einbeziehung des wissenschaftlichen Personals sowie des Personals aus Technik und Verwaltung in die Entwicklung von Digitalisierungsstrategien. Noch viel deutlicher wird dies aber aus der Einschätzung der Hochschulleitungen zu Einstellungen und Qualifikation des eigenen Personals in Bezug auf Digitalisierung. Hier zeigt sich, dass insbesondere beim Personal in Technik und Verwaltung die Hälfte der Personen der Digitalisierung eher neutral oder sogar (sehr) ablehnend gegenübersteht und dessen Qualifikation nur bei etwa einem Fünftel als hoch bis sehr hoch eingestuft wird. Dies deckt sich zumindest teilweise mit Befunden der Studie zum wissenschaftsunterstützenden Personal an Hochschulen von Banscherus (Banscherus et al. 2017, S. 176), nach der Beschäftigte des Stellenprofils Technik am seltensten an Weiterbildungsveranstaltungen teilnehmen, obwohl gerade diese Beschäftigtengruppe am häufigsten angegeben hat, sich zur Erfüllung ihrer beruflichen Aufgaben regelmäßig neues Wissen aneignen zu müssen. Inwieweit die speziell in den ostdeutschen Bundesländern feststellbare niedrigere Qualifikation der Beschäftigten auch mit finanziellen Rahmenbedingungen für die Hochschulen in den ostdeutschen Bundesländern zusammenhängt, kann mit den vorliegenden Daten nicht abschließend belegt werden. Allerdings stellt sich in diesen Bundesländern sowohl das wirtschaftliche Umfeld der Hochschulen als auch die Lage der Hochschulfinanzierung besonders schwierig dar und die Entwicklung der Hochschul-
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H. Gilch et al.
einnahmen insgesamt blieb nach einer Analyse auf der Basis der amtlichen Hochschulstatistik in den letzten zehn Jahren (2005 bis 2015, dem letzten verfügbaren Jahr) in dem untersuchten Cluster Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern deutlich hinter der fast aller anderen Bundesländer zurück (vgl. Dohmen und Wrobel 2018, S. 115). In jedem Fall wird es angesichts der festgestellten Entwicklungspotenziale des Hochschulpersonals in Bezug auf Digital Readiness notwendig sein, dass die Hochschulen Konzepte der Personalentwicklung und gezielten Weiterqualifizierung für ihr eigenes Personal zunehmend entwickeln und ausbauen. Eine gerade erschienene Studie des Rats für Informationsinfrastrukturen kommt hier zu einem ähnlichen Ergebnis: „Hochschulen und Forschungseinrichtungen sollten für das Bestandspersonal breit zugängliche, möglichst berufsbegleitend wahrnehmbare Angebote zum Erwerb definierter Bausteine einer Daten-, Informations- und digitalen Methodenkompetenz systematischer als bisher erschließen und damit auch die Entwicklung und Nutzung der Informationsinfrastrukturen befördern. Um die Effizienz der Qualifizierungsangebote und ihre Akzeptanz zu erhöhen, sollten sie modular aufgebaut werden und die selbst angeeigneten Kompetenzen der Beschäftigten berücksichtigen“ (RfII 2019 S. 21). Speziell im Hinblick auf IT-Fachkräfte, die für viele, vor allem kleinere Hochschulen nur schwierig auf dem Arbeitsmarkt zu rekrutieren sind, geben die Hochschulen an, dass sie bereits stark auf die Weiterqualifizierung des vorhandenen Personals setzen. Aber auch die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) empfiehlt in ihrem Jahresgutachten 2019 den Hochschulen, eine Digitalisierungsstrategie mit klar definierten Zielen sowie einen darauf abgestimmten Implementierungsplan auszuarbeiten, diese Digitalisierungsstrategie mit einer Profilbildung zu kombinieren und dabei insbesondere berufsbegleitende Weiterbildungsangebote (nicht nur für IT-Fachkräfte, sondern für alle Beschäftigten) mit in den Blick zu nehmen (EFI 2019, S. 104).
Literatur Banscherus, U., Baumgärtner, A., Böhm, U., Golubchhykova, O., Schmitt, S., & Wolter, A. (2017). Wandel der Arbeit in wissenschaftsunterstützenden Bereichen an Hochschulen. Hochschulreformen und Verwaltungsmodernisierung aus Sicht der Beschäftigten. Study Nr. 362. Stuttgart: Hans Böckler Stiftung. Dohmen, D., & Wrobel, L. (2018). Die Entwicklung der Finanzierung von Hochschulen und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen seit 1995. Endbericht einer Studie für Deutscher Hochschulverband. Bonn: FiBS.
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EFI. (2019). Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2019. Berlin: Expertenkommission Forschung und Innovation. Frischherz, B., MacKevett, D., & Schwarz, J. (2019). Digitale Kompetenzen an der Fachhochschule. Qualität in der Wissenschaft (QiW), 13(2), 41–47. Gilch, H., Beise, A. S., Krempkow, R., Müller, M., Stratmann, F., & Wannemacher, K. (2019a). Digitalisierung der Hochschulen. Ergebnisse einer Schwerpunktstudie für die Expertenkommission Forschung und Innovation. Berlin: Studien zum deutschen Innovationssystem. Gilch, H., Beise, A. S., Krempkow, R., Müller, M., Stratmann, F., & Wannemacher, K. (2019b). Zum Stand der Digitalisierung der Hochschulen in Deutschland in Forschung, Lehre und Verwaltung. Qualität in der Wissenschaft (QiW), 13(2), 34–40. Janschitz, G., Monitzer, S., Slepcevic-Zach, P., Dreisiebner, G., Stock, M., & Kopp, M. (2019). Analyse und Förderung des Erwerbs digitaler Kompetenzen von Studierenden. In bwp@ Spezial AT-2: Beiträge zum 13. Österreichischen WirtschaftspädagogikKongress, 1–23. http://www.bwpat.de/wipaed-at2/janschitz_etal_wipaed-at_2019.pdf. Zugegriffen: 8. Sept. 2020. Krempkow, R. (2019). Fächerübergreifende und digitale Kompetenzen für die Qualitätsentwicklung der Lehre erfassen – Ein Projekt der HU Berlin. Qualität in der Wissenschaft (QiW), 13(2), 64–65. Lübcke, M., & Wannemacher, K. (2018). Vermittlung von Datenkompetenzen an den Hochschulen: Studienangebote im Bereich Data Science. Hannover: HIS-Institut für Hochschulentwicklung (Forum Hochschulentwicklung 1 | 2018). RfII – Rat für Informationsinfrastrukturen. (2019). Digitale Kompetenzen – dringend gesucht! Empfehlungen zu Berufs- und Ausbildungsperspektiven für den Arbeitsmarkt Wissenschaft. http://www.rfii.de/download/digitale-kompetenzen-dringend-gesucht/. Zugegriffen: 21. Sept. 2020. Senat der Hochschulrektorenkonferenz (2018). Die Hochschulen als zentrale Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft. Eckpunkte zur Rolle und zu den Herausforderungen des Hochschulsystems (Stand 2018). Bonn: HRK.
Dr. Harald Gilch ist Seniorberater und Projektleiter im Geschäftsbereich Hochschulmanagement des HIS-Instituts für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in Hannover. Er unterstützt Hochschulen u. a. in den Geschäftsfeldern Hochschulorganisation und Hochschulsteuerung, Benchmarking, Evaluation, Digitalisierung. Anna Sophie Beise, vormals HIS-HE, ist im Dezernat Planung, Controlling, Qualitätsmanagement der Fachhochschule Bielefeld tätig und dort u. a. für Projekt- und Prozessmanagement zuständig. Dr. René Krempkow, vormals HIS-HE, ist wiss. Referent in der Stabsstelle Qualitätsmanagement der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Hauptarbeitsfelder sind Leistungs- und Qualitätsbewertung an Hochschulen, akademische Karrierewege, Hochschulgovernance sowie Hochschul-, Wissenschafts- und Bildungsforschung.
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Marko Müller, vormals HIS-HE, war Berater bei Digitalisierungs- und CampusManagement-Projekten und arbeitet jetzt in der Universitätsplanung und -forschung. Dr. Friedrich Stratmann ist Geschäftsführer (im Ruhestand) von HIS-HE. Zu seinen Forschungsgebieten zählen insbesondere der Hochschulbau und die Hochschulinfrastruktur sowie organisationstheoretische Fragen zur Hochschulverwaltung. Dr. Klaus Wannemacher ist Seniorberater und Projektleiter im Geschäftsbereich Hochschulmanagement des HIS-Instituts für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in Hannover. Seine Schwerpunkte liegen u. a. in nationalen und internationalen Studien zu Innovationspotenzialen und Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Umsetzung digitaler Hochschulbildung.
Digitale Bildung in Hochschulen aus Sicht der Studierenden: Wahrnehmung des Status quo, Erwartungen und Wünsche
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Aktuelle empirische Daten zu Unterstützungsangeboten studentischer Selbstlernphasen sowie zu Einstellungen von Studierenden im Umgang mit digitalen Lernmedien in der Hochschullehre Ullrich Dittler und Christian Kreidl Inhaltsverzeichnis 19.1 Digitalisierung und Bologna: Zwei große Aufgabenpakete beschäftigen die Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.1 Bologna, die Modularisierung des Studiums, die Vereinheitlichung der Abschlüsse und der Bedeutungszuwachs von Selbstlernphasen. . . . 19.1.2 Die Digitalisierung von Lehre und begleitenden digitalen Lernwelten. . . . 19.2 Beurteilung von Studienbedingungen durch Studierende und deren Erwartungen an zeitgemäße Hochschullehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.1 Entwicklung des E-Learning-Angebotes und der Lernplattform. . . . . . . 19.2.2 Unterstützung im Umgang mit der Lernplattform. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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U. Dittler (*) Hochschule Furtwangen, Furtwangen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Kreidl KREIDL Training und Beratung, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_19
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U. Dittler und C. Kreidl
19.2.3 Präferenz für E-Learning?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.4 Unterstützung in den Selbstlernphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.5 Infrastruktur für die Selbstlernphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.6 Informationen für die Selbstlernphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.7 Präferenz für elektronische Unterlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Die aktuelle Entwicklung an Hochschulen ist noch immer geprägt durch die Überlegungen und Forderungen der Bologna-Reform, zunehmend drängen zudem auch die Anforderungen der Digitalisierung in die Hochschulen und beeinflussen die dortige Lehre. Dieser Beitrag steuert zur Diskussion um die zukünftige Ausgestaltung von Hochschullehre die Perspektive der Studierenden bei: Ergebnisse einer aktuellen Studie zur Wahrnehmung der Unterstützungs- und Selbstlernangebote der Hochschulen können im vorliegenden Text älteren Daten gegenübergestellt und mit diesen verglichen werden, um herauszuarbeiten, welche Erwartungen Studierende an aktuelle Hochschullehre haben.
19.1 Digitalisierung und Bologna: Zwei große Aufgabenpakete beschäftigen die Hochschulen Die Hochschulen waren in ihrer Entwicklung seit der Gründung der ersten Universitäten in Bologna im Jahre 1088 und in Oxford sowie Paris um das Jahr 1170 bzw. 1198 n. Chr. schon immer – und in den letzten Jahrhunderten kontinuierlich – Veränderungen unterworfen (siehe Dittler und Kreidl 2018a), dennoch ist offensichtlich, dass zwei Ereignisse der letzten Jahre derzeit massive Veränderungen der Universitäten und Hochschulen bewirken: Der erste zu nennende Impulsgeber ist die Bologna-Reform mit ihren Wurzeln in der „Erklärung zur Harmonisierung der Architektur der europäischen Hochschulbildung“ von 1998. Die schon in dieser Sorbonne-Erklärung angelegten Überlegungen wurden 1999 in der Bologna-Erklärung konkretisiert und auf wesentliche Ziele und Instrumente fokussiert: Die Einführung gestufter Studienstrukturen, die Implementierung des European Credit Transfer and Accumulation Systems (ECTS) sowie der Ausbau von Qualitätssicherungssystemen (Akkreditierung; Eckardt 2005). In der Umsetzung führte die Bologna-Reform zur
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Modularisierung von Studienangeboten, zur Vereinheitlichung von Abschlüssen und zur Neuausrichtung sowie quantitativen Betrachtung von studentischen Selbstlernphasen. Der zweite Impulsgeber für die aktuellen Veränderungen ist die Digitalisierung, die neben massiven Veränderungen der privaten Informationsbeschaffung, Kommunikation sowie mediengestützten Unterhaltung auch erheblich öffentliche Dienstleistungs- und Verwaltungsprozesse (Stichwort Verwaltung 4.0) veränderte, Produktionsprozesse (Stichwort Industrie 4.0) veränderte und zunehmend eben auch Bildungsprozesse verändert (Stichwort E-Learning 4.0, siehe Eckardt 2005). Diese beiden Veränderungsimpulse, die dahinterstehenden Überlegungen, Erwartungen und Befürchtungen wurden schon vielfach dargestellt und reflektiert (bspw. Winter 2018; Kühl 2018; Lenzen 2014) – wobei dies in der Regel aus Sicht und mit dem profunden Hintergrundwissen von Bildungsexperten geschah. Selten wurden jedoch die Studierenden und damit die Betroffenen bei diesen Betrachtungen intensiv berücksichtigt. Diese Lücke möchte der vorliegende Beitrag versuchen zu schließen, in dem er ausgewählte Ergebnisse von sechs Befragungen mit insgesamt 6100 Studierenden darstellt und damit die bisher geführte Diskussion ergänzt.
19.1.1 Bologna, die Modularisierung des Studiums, die Vereinheitlichung der Abschlüsse und der Bedeutungszuwachs von Selbstlernphasen Lange Zeit war die europäische Bildungspolitik Sache der einzelnen Staaten und entzog sich europäischen Überlegungen oder Regelungen. Dies änderte sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts zunächst mit der Sorbonne-Erklärung anlässlich der 800-Jahrfeier der Pariser Universität im Mai 1998 und mit der ein Jahr später, am 19.06.1999, verabschiedeten Bologna-Erklärung. Ziel der maßgeblich von den Bildungsministerien vorangetriebenen Reform war es, die europäische Hochschulbildungspolitik soweit zu harmonisieren und anzugleichen, dass eine berufliche und wissenschaftliche Freizügigkeit von Lehrenden und Lernenden (studentische Mobilität) über Landesgrenzen hinweg einfacher möglich werden sollte und Bildungsabschlüsse (bzw. Teilleistungen) gegenseitig anerkannt werden können. Zudem sollten aus deutscher Sicht die Studienzeiten verkürzt werden, die Konkurrenzfähigkeit der Absolventinnen und Absolventen im internationalen Vergleich erhöht werden und ein früherer Abschluss eingeführt werden; zudem sollte auch der Anteil ausländischer Studierender erhöht werden (Eckardt 2005; Brändle 2010).
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U. Dittler und C. Kreidl
Um dieses Ziel zu erreichen, sieht die Bologna-Erklärung die Einführung neuer Studienstrukturen und folgende wesentliche Elemente vor: • Schaffung vergleichbarer akademischer Abschlüsse (mit Diploma Supplement) durch ein aus zwei aufeinander aufbauenden Phasen bestehenden Studiensystems: Bachelor und Master, • Einführung eines einheitlichen Kreditpunktesystems (ECTS), • Implementierung eines europäischen Qualitätssicherungssystems. In den Folgeerklärungen in Prag (2001), Berlin (2003) und Bergen (2005) wurden Ergänzungen vorgenommen: • Förderung der lebenslangen Lernens als Basis einer wissensbasierten Gesellschaft, • Verankerung der Promotion als dritte Phase des Studiensystems nach Bachelor und Master, • Öffnung der Hochschulausbildung auch für nicht-traditionelle Qualifikationswege (bspw. Meister). In der Umsetzung der Bologna-Überlegungen wurden als erster Studienzyklus Bachelor-Studiengänge und darauf aufbauend als zweiter Studienzyklus Master-Studiengänge eingeführt. Deren Ausgestaltung war jedoch zunächst weniger einheitlich: Es waren sechssemestrige Bachelor-Studiengänge ebenso zu finden, wie zehnsemestrige Bachelor-Studiengänge und auch die Dauer der angebotenen Master-Studiengänge war nicht einheitlich: es gab sowohl drei- als auch viersemestrige Angebote. 2001 wurde in der Erklärung in Prag daher eine einheitlichere Ausgestaltung empfohlen: Das Bachelor-Studium sollte 180 bis 240 ECTS in sechs bis acht Semestern umfassen und das Master-Studium als Vollzeit-Master oder Konsekutiver bzw. Nichtkonsekutiver Master 60 bis 120 ECTS. Das European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) wurde in diesem Prozess als Instrument zur Dokumentation von Studien- und akademischen Leistungen eingeführt (Tutor und Müller 2018). Die Besonderheit des neuen ECT-Systems liegt darin, dass es die Arbeitsbelastung (Workload) der hochschulischen Qualifikationsmaßnahmen erfasst. Die Empfehlung besagt, dass pro Studienjahr 60 ECTS erworben werden können (d. h. 30 ECTS pro Semester), wobei ein ECTS mit 25 bis 30 h Arbeitsaufwand veranschlagt wird. Berücksichtigt bei dieser Berechnung werden nicht nur die in Vorlesungen und Seminaren verbrachten Präsenzzeiten, sondern auch die studentischen
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Selbstlernphasen, in denen die Lernenden sich den Unterrichtsstoff aneignen bzw. diesen vor- und nachbereiten. Diese Selbstlernphasen gewinnen in den BA-/MA-Studiengängen eine deutlich größere Bedeutung als dies bei den traditionellen Magister- und/oder Diplom-Studiengängen der Fall war, in denen die studentischen Arbeiten außerhalb des Präsenzunterrichts nicht so strukturiert beachtet und berücksichtig wurde. Für den Erfolg der Qualifizierungsmaßnahmen ist es hilfreich, dass diese studentischen Selbstlernphasen in BA- und MA-Studiengängen von den Hochschulen unterstützt werden, zum einen durch die Schaffung von Strukturen für das Lernen (beispielsweise Selbstlernzentren etc.), zum anderen durch die Empfehlung und Bereitstellung von Selbstlernmedien (beispielsweise Lehrbücher, Selbsttests etc.). Die Ausgestaltung dieser Strukturen und Unterstützungsmaßnahmen liegt dabei im Verantwortungsbereich der einzelnen Hochschulen – und fällt erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus. Gerade im Bereich der Medien für die Selbstlernphasen ist zudem der Einfluss des zweiten Impulsgebers deutlich zu beobachten: der Einfluss der Digitalisierung auf die Hochschulbildungsangebote.
19.1.2 Die Digitalisierung von Lehre und begleitenden digitalen Lernwelten Dass Hochschulen als Institution einer kontinuierlichen Entwicklung unterworfen sind, wurde eingangs bereits betont und ist auch mannigfaltig dokumentiert (Getto et al. 2018; Wachtler et al. 2016; Aßmann et al. 2016; Skerlak et al. 2014). Aber auch die in Hochschulen angebotenen Vorlesungen, Übungen und Seminar werden von den Lehrenden kontinuierlich oder zyklisch verändert und weiterentwickelt: Denn die Notwendigkeit der regelmäßigen Überarbeitung von Lehrveranstaltungen ergibt sich zum einen aus fachlichen Weiterentwicklungen, zum anderen stellen oft fachdidaktische Überlegungen einen weiteren Impuls für regelmäßige Aktualisierungen dar. Einen dritten Impuls für die Überarbeitung von Veranstaltungskonzepten stellen die Veränderung der Lebenswelt der Lehrenden und der Studierenden dar, die unter dem Begriff der Digitalisierung zusammengefasst werden können. Denn die Digitalisierung des privaten Alltags erhöht sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Lernenden die Medienkompetenz und lässt Erwartungen und Wünsche an die Integration von digitalen Angeboten entstehen. Eine Orientierung an diesen Veränderungen wird von den Lernenden auch von einer zeitgemäßen Hochschullehre gefordert.
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U. Dittler und C. Kreidl
Können sich Hochschullehrende diesen Wünschen nach dem Einzug des Digitalen in die Hochschule nicht verweigern und sich auf die (erfolgreiche!) jahrhundertelange Tradition der klassischen Präsenzvorlesung hinter geschlossenen Hörsaaltüren beziehen? Vermutlich nicht: Um Veranstaltungen zielgruppengerecht durchführen zu können ist es – wie in verschiedenen didaktischen Theorien begründet – unabdingbar, diese an der Lebenswelt der Studierenden und dem Vorwissen der Lernenden zu orientieren (Böss-Ostendorf und Senft 2018; Macke et al. 2016). Da das Vorwissen der Studierenden bei den in der Bologna-Erklärung geöffneten und zunehmend vielfältiger werdenden Zugangswegen zur Hochschule in den vergangenen Jahren stetig heterogener wurde, gibt es unterschiedliche Bestrebungen der Hochschulen (beispielsweise durch angebotenen Vorkurse zu Semesterbeginn) für die Veranstaltungen, ein homogenes Vorwissen der Veranstaltungsteilnehmer sicherzustellen, auf das dann in den Veranstaltungen inhaltlich aufgebaut werden kann (Glosauer 2018; Zimmermann et al. 2012). Neben einem gemeinsamen Vorwissen, an das bei den Lehrveranstaltungen angeknüpft werden kann (Anchored Instruction, siehe bspw. Moallem 2019), betonen Lerntheorien wie der Konstruktivismus (Pörksen 2015; Reich 2012) und didaktische Theorien wie beispielsweise der erfahrungsorientierte Unterricht (Kron et al. 2014; Jank und Meyer 2002) auch die Notwendigkeit des Anknüpfens an die in der individuellen Lebenswelt gemachten Erfahrungen und dort erworbenen Kompetenzen. Und gerade diese Lebenswelt der jungen Erwachsenen hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert, wie in zahlreichen Studien zum Medienbesitz und zur Mediennutzung dokumentiert ist (MPFS 2017; ARD/ZDF-Onlinestudie 2019): Die Digitalisierung im Bereich der privaten Kommunikation, der individuellen Informationsversorgung und der ubiquitär verfügbaren mediengestützten Unterhaltung ist in den vergangenen Jahren deutlich schneller vorangeschritten als die Digitalisierung im Bereich der Produktion (siehe hierzu die beispielhaften Ausführungen in Reinheimer 2017 oder Wagner 2018), im Bereich der öffentlichen Verwaltung (siehe hierzu Bartonitz et al. 2018 oder Kruse und Hogrebe 2014) oder eben auch im Bereich des Bildungssektors (Dittler und Kreidl 2018b). Mit der zunehmenden Digitalisierung im privaten Umfeld haben sich auch Prozesse der Kommunikation und der Informationsbeschaffung – und damit auch Lernprozesse – verändert. Auf diese veränderten Lernprozesse soll und muss Hochschulunterricht regieren, wenn er die Studierenden erreichen will und Informationsvermittlung sowie Kompetenzaufbau in den traditionellen Bildungseinrichtungen weiterhin erfolgreich sein soll und will.
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Um angemessen auf die Veränderungen regieren zu können, ist es notwendig, diese veränderten Prozesse und die sich daraus ergebenden Erwartungen der Lernenden an Hochschulunterricht zu kennen.
19.2 Beurteilung von Studienbedingungen durch Studierende und deren Erwartungen an zeitgemäße Hochschullehre Im Rahmen einer im Frühjahr und Sommer 2019 durchgeführten empirischen Studie mit rund 400 deutschen und österreichischen Studierenden von Hochschulen für angewandte Wissenschaften und Fachhochschulen wurden die Studierenden befragt • nach ihrer Einschätzung der Studienbedingungen und des Unterstützungsangebots der Hochschulen für die studentischen Selbstlernphasen, • zu Erwartungen und Wünschen an Hochschulunterricht und zur Rolle digitaler Medien bei hochschulischen Lernprozessen. Ausgewählte Ergebnisse dieser Studie werden im Folgenden vorgestellt – die kompletten Ergebnisse sind in Kreidl und Dittler (2019) zu finden. Zunächst wurde der Frage nachgegangen, wie die Studierenden das Angebot und die Unterstützung im Rahmen von E-Learning wahrnehmen und ob eine Präferenz dafür besteht. Bei den nächsten drei thematischen Blöcken wurden die Rahmenbedingungen für Selbstlernphasen beleuchtet. Abschließend wurde dann noch erhoben, inwiefern es bei den Studierenden eine Präferenz für elektronische Unterlagen gibt. Eine Besonderheit dieser aktuellen Studie bestand darin, dass einige FrageItems bereits in früheren Studien der Autoren verwendet wurden, sodass hier teilweise auch zeitliche Änderungen bei den Antworten dargestellt werden können. Es wurden Ergebnisse aus den folgenden Studien zum Vergleich herangezogen: • Akzeptanz und Nutzung von E-Learning, Daten aus 2008, Gesamtstichprobe n = 395, dargestellt in Kreidl (2011), • Nutzung sozialer Medien, Daten aus 2015, Gesamtstichprobe n = 1323, dargestellt beispielsweise in Dittler und Kreidl (2015) oder auch Dittler und Kreidl (2016), • Neue Technologien im Unterricht, Daten aus 2017, Gesamtstichprobe n = 4094, dargestellt beispielsweise in Dittler und Kreidl (2018b).
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U. Dittler und C. Kreidl
19.2.1 Entwicklung des E-Learning-Angebotes und der Lernplattform Dass praktisch alle Hochschulen mittlerweile ein E-Learning-Angebot, unterstützt durch eine Lernplattform verwenden, muss wohl kaum mehr hervorgehoben oder untersucht werden. Ziel der Einführung derartiger Lernplattformen ist zumeist, die Studierenden in ihrem Lernprozess zu unterstützen. Zunächst wurde also einmal der Frage nachgegangen, inwieweit die Studierenden eine Hilfe bei ihrem Lernprozess wahrnehmen (siehe Abb. 19.1)1. Es zeigte sich, dass die Mehrheit der Studierenden bei der Umfrage 2019 die Lernplattform als hilfreich wahrnimmt. Nur ein geringer Anteil (etwas über 15 %) stimmte der Aussage kaum oder gar nicht zu. Im Vergleich mit der Studie aus dem Jahr 2008 ist kein großer Unterschied zu bemerken, tendenziell ist die Zustimmung allerdings gestiegen. Zusammengefasst lässt sich hier also festhalten: Aus Sicht der Studierenden sind die angebotenen Lernplattformen hilfreich.
19.2.2 Unterstützung im Umgang mit der Lernplattform Die heutigen Lernplattformen bieten zahlreiche technische Möglichkeiten, um Lernprozesse zu gestalten und zu unterstützen. Nicht immer sind diese technischen Möglichkeiten allerdings selbsterklärend, noch dazu, wo die Inhalte ja häufig im Rahmen von Selbstlernphasen (also im Gegensatz zur klassischen Präsenzlehre) bearbeitet werden sollen. Wie ist also die Wahrnehmung der Studierenden hinsichtlich der Unterstützung im Umgang mit der Lernplattform (Abb. 19.2)? Auch bei der Bewertung des Statements „Es gibt genug Möglichkeiten, Unterstützung im Umgang mit der Lernplattform und der Lehrveranstaltung zu bekommen“, zeigte sich eine positive Wahrnehmung der Studierenden. Knapp 55 % schätzen die Möglichkeiten der Unterstützung tendenziell als ausreichend ein, nur etwas mehr als 10 % beurteilen die Unterstützungsmöglichkeiten im Umgang mit der Lernplattform als nicht ausreichend. Im Vergleich mit den Daten aus 2008 konnte auch bei dieser Frage eine ähnliche Antwortrichtung festgestellt werden, auch bei dieser Frage war die positive Zustimmung im Jahr 2008 leicht geringer als in der aktuellen Erhebung. Obwohl also die Tendenz eindeutig
1Sämtliche
dargestellten Ergebnisse wurden mithilfe einer fünfstufigen Likert-Skala auf Zustimmung abgefragt: „Wie sehr stimmen Sie der folgenden Aussage zu?“
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465
Hilfe durch die Lernplattform vollkommen
Studie 2019 n = 397
überwiegend
vollkommen: 17,6%
teilweise
überwiegend: 38,0%
kaum
gar nicht
teilweise: 27,7%
kaum: 14,6%
Originalfrage (Grad der Zustimmung): Die Lernplattform hilft mit beim Lernen
vollkommen: 23,4%
Studie 2008 n = 395
0%
10%
überwiegend: 26,6%
20%
30%
40%
teilweise: 30,7%
50%
60%
70%
kaum; 15,5%
80%
90%
100%
Abb. 19.1 Hilfe durch die Lernplattform
positiv ist, antwortet immerhin mehr als ein Drittel der Befragten mit „teilweise“ – es scheint also durchaus noch Optimierungsbedarf bei der Unterstützung zu geben. Unterstützung für den Umgang mit der Lernplattform vollkommen
Studie 2019 n = 397
überwiegend
vollkommen: 14,7%
teilweise
überwiegend; 39,8%
kaum
gar nicht
teilweise; 34,6%
kaum: 9,6%
Originalfrage (Grad der Zustimmung): Es gibt genug Möglichkeiten, Unterstützung im Umgang mit der Lernplattform und der Lehrveranstaltung zu bekommen.
vollkommen: 19,2%
Studie 2008 n = 395
0%
10%
überwiegend; 32,9%
20%
30%
40%
kaum: 14,5%
teilweise; 31,6%
50%
60%
Abb. 19.2 Unterstützung im Umgang mit der Lernplattform
70%
80%
90%
100%
466
U. Dittler und C. Kreidl
19.2.3 Präferenz für E-Learning? Aus verschiedensten Gründen lässt sich an Hochschulen eine Tendenz erkennen, E-Learning stärker in die Lehre einzubinden. Auch wenn ein direkter Vergleich mit „klassischen Formen der Ausbildung“ aus methodischer Sicht sehr schwer möglich ist (dies beginnt bei der Definitionsfrage was E-Learning und was klassische Form bedeutet und führt weiter über zahlreiche Störvariablen bei einer konkreten Untersuchung und Vergleichen), wollten die Autoren dennoch versuchen, eine Einschätzung der Studierenden zu erheben. Abb. 19.3 zeigt die Zustimmungstendenzen auf das Statement „Ich bevorzuge E-Learning gegenüber klassischen Formen der Ausbildung (z. B. Seminare, Vorlesung)“. Auch hier wurden die aktuellen Daten mit einer bereits durchgeführten Studie im Jahr 2015 verglichen. Es zeigte sich, dass aktuell die Mehrheit der Befragten eine gemischte Einschätzung hat: Fast 44 % stimmten dem Statement nur teilweise zu. Der größere Teil der restlichen Antworten findet sich bei der ablehnenden Haltung, zusammengenommen 34,4 % stimmten kaum oder gar nicht dem Statement zur Präferenz für E-Learning zu. Nur 21,5 % deklarierten sich als Befürworterinnen und Befürworter von E-Learning im Vergleich zu klassischen Formen der Lehre. Der Vergleich mit den Daten aus 2015 zeigt hier doch eine merkliche Verschiebung: Vier Jahre zuvor war die Tendenz noch vorsichtiger, fast 50 % Präferenz für E-Learning? vollkommen
überwiegend
überwiegend: 15,9%
Studie 2019 n = 395
teilweise
kaum
teilweise: 43,8%
gar nicht
kaum: 28,1%
Originalfrage (Grad der Zustimmung): Ich bevorzuge E-Learning gegenüber klassischen Formen der Ausbildung. (z.B. Seminare, Vorlesung)
Studie 2015 n = 1.323
überwiegend: 11,9%
0%
10%
teilweise: 35,4%
20%
30%
Abb. 19.3 Präferenz für E-Learning?
40%
kaum: 34,8%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
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467
stimmten dem Präferenz-Statement entweder kaum oder gar nicht zu. Man könnte also interpretieren, dass die Akzeptanz für E-Learning gestiegen ist. Die möglichen Gründe dafür könnten natürlich vielfältig sein und müssen auch nicht unbedingt in reinen didaktischen Qualitätskriterien liegen: Beispielsweise könnte auch das viel zitierte ort- und zeitunabhängige Lernen ein Grund sein, warum eine Präferenz für E-Learning besteht.
19.2.4 Unterstützung in den Selbstlernphasen Auf den Bedeutungszuwachs der studentischen Selbstlernphasen im Rahmen der an der Bologna-Erklärung orientierten Studiengänge wurde schon hingewiesen. In einem Fragenblock wurden die Studierenden daher um eine Einschätzung des Unterstützungsangebots der Hochschulen gebeten – auch um daraus die Bedeutung der einzelnen Angebote für die selbstverantworteten Selbstlernphasen ableiten zu können. Abb. 19.4 zeigt die Wahrnehmung der Studierenden hinsichtlich der Unterstützung in den Selbstlernphasen. Die Tendenz dieser Wahrnehmung ist wieder eindeutig positiv: Nur 16,7 % der Studierenden stimmten dem Statement „Ich fühle mich in den Selbstlernphasen gut von der Hochschule durch Informations- und Kommunikationsangebote unterstützt“ kaum oder gar nicht zu, knapp 54 % der Befragten stimmten Unterstützung in den Selbstlernphasen vollkommen
Studie 2019
überwiegend
teilweise
überwiegend: 45,5%
kaum
gar nicht
kaum: 13,9%
teilweise: 28,3%
n = 395
Originalfrage (Grad der Zustimmung): Ich fühle mich in den Selbstlernphasen gut von der Hochschule durch Informationsund Kommunikationsangebote unterstützt.
Studie 2017 n = 3.853
überwiegend: 29,8%
0%
10%
20%
30%
teilweise: 35,9%
40%
50%
Abb. 19.4 Unterstützung in den Selbstlernphasen
60%
kaum: 22,0%
70%
80%
90%
100%
468
U. Dittler und C. Kreidl
überwiegend oder vollkommen zu. Im Vergleich zu der Studie 2017 zeigte sich auch hier eine Verschiebung in positiver Richtung, damals stimmten nur 36,2 % überwiegend oder vollkommen zu und immerhin 27,8 % kaum oder gar nicht. Allerdings sollte man auch bei diesem Themenfeld den durchaus beachtenswerten Anteil an Studierenden erwähnen, die eine gemischte Einschätzung (teilweise Zustimmung) haben: 28,3 % der Studierenden haben keine eindeutig positive oder negative Tendenz geäußert. Somit könnte man auch hier wieder zusammenfassen, dass die Unterstützung in den Selbstlernphasen von den Studierenden tendenziell zwar positiv wahrgenommen wird, allerdings nur etwas mehr als die Hälfte sich eindeutig positiv deklarieren.
19.2.5 Infrastruktur für die Selbstlernphasen Selbstlernphasen erfordern nicht nur einen unterschiedlichen didaktischen Zugang sowie damit verbunden eine andere Unterstützung für die Studierenden, durch die Auflösung des Präsenzunterrichtes und des damit verbundenen räumlichen Settings ergeben sich auch andere Anforderungen an die Infrastruktur. Aus diesem Grund wurden auch diese Faktoren im Rahmen der aktuellen Studie abgefragt (Abb. 19.5):
Infrastruktur für Selbstlernphasen vollkommen
vollkommen: 21,5%
Platz für Selbstlernphasen
Platz für Gruppenarbeiten
überwiegend
vollkommen: 18,8%
Präferenz für privaten Lernplatz
teilweise
überwiegend: 29,8%
10%
20%
30%
Abb. 19.5 Infrastruktur für Selbstlernphasen
n = 397 gar nicht
teilweise: 26,1%
50%
60%
kaum 15,0%
teilweise: 18,9%
überwiegend: 34,3%
40%
kaum: 17,2%
teilweise: 25,5%
überwiegend: 36,8%
vollkommen: 36,6%
0%
kaum
70%
80%
90%
100%
19 Digitale Bildung in Hochschulen aus Sicht der Studierenden …
469
• Platz für Selbstlernphasen (Original-Statement: „Die Hochschule bietet ausreichend Räume und Arbeitsplätze für die Selbstlernphasen während des Studiums“), • Platz für Gruppenarbeiten (Original-Statement: „Die Hochschule bietet eine passende und ausreichende Infrastruktur für Gruppenarbeiten“), • Präferenz für privaten Lernplatz (Original-Statement: „Ich bevorzuge eine private Umgebung für meine Selbstlernphasen“). Sowohl bei der Wahrnehmung des räumlichen Angebotes für Selbstlernphasen als auch der Wahrnehmung des Platzes für Gruppenarbeiten zeigte sich ein tendenziell positives Bild: Mehr als die Hälfte der Studierenden stimmte den jeweiligen Items entweder vollkommen oder überwiegend zu. Der entsprechende Anteil der Zustimmung „kaum“ oder „gar nicht“ lag bei den beiden Statements nur bei 17,8 % bzw. 23,0 %. Ungefähr ein Viertel der Studierenden hat eine gemischte Wahrnehmung und stimmte den Statements nur teilweise zu. Anders sieht das Bild aber im Hinblick auf eine Präferenz für einen privaten Lernplatz aus: Weniger als 10 % der Befragten stimmten dem Statement kaum oder gar nicht zu, und mehr als 70 % stimmten vollkommen oder überwiegend zu. Es zeigte sich also eine sehr eindeutige Präferenz für eine private Umgebung für die Selbstlernphasen. Auch hier kommen natürlich wieder zahlreiche Gründe infrage – dennoch könnte diese Präferenz sogar ein wenig als „Gegenpol“ zum Ausbau von Selbstlernräumlichkeiten an Hochschulen gesehen werden.
19.2.6 Informationen für die Selbstlernphasen Nicht nur das räumliche Setting, auch die Versorgung mit Informationen unterscheidet sich bei Selbstlernphasen deutlich von Präsenzunterricht. Vor allem die direkten mündlichen Erklärungen der Vortragenden und die situativen Ergänzungen im Rahmen eines Präsenzunterrichtes müssen bei Selbstlernphasen anders abgedeckt werden. Dieser Bereich wurde daher in einem nächsten Frageblock beleuchtet, folgende Faktoren wurden abgefragt (Abb. 19.6): • ausreichend Übungsaufgaben (Original-Statement: „Die Lernplattform bietet ausreichend Übungsaufgaben und Selbstlerntest zur Lehrveranstaltung“), • ausreichend weiterführende Infos (Original-Statement: „Die Lernplattform bietet ausreichend weiterführende Informationen zur Lehrveranstaltung“), • ausreichend Medien für die Selbstlernphase (Original-Statement: „Die Hochschule stellt ausreichend weiterführende Medien [z. B. Bücher, eBooks, Fachzeitschriften …] für die Selbstlernphasen zur Verfügung“).
470
U. Dittler und C. Kreidl Informationen für die Selbstlernphase vollkommen
überwiegend
teilweise
überwiegend: 29,6%
Ausreichend Übungsaufgaben
Ausreichende weiterführende Infos
kaum
vollkommen: 35,3%
0%
10%
20%
30%
kaum: 24,8%
teilweise: 39,5%
überwiegend: 42,3%
Ausreichend Medien für Selbstlernphasen
n = 397 gar nicht
teilweise: 37,8%
überwiegend: 41,7%
40%
50%
60%
70%
teilweise: 13,6%
80%
90% 100%
Abb. 19.6 Informationen für die Selbstlernphase
Es zeigte sich ein recht unterschiedliches Bild bei den Einschätzungen der genannten Statements: Während die weiterführenden Medien als durchaus ausreichend wahrgenommen werden, sinkt die Zustimmung zu den Statements zu weiterführenden Informationen und zu Übungsaufgaben deutlich. Bei den Medien ist die Zustimmung bei 77,0 % sehr deutlich, bei den weiterführenden Informationen bereits auf 50,2 % gesunken und bei den Übungsaufgaben nur mehr bei 32,6 %. Allerdings muss hier auch angemerkt werden, dass sowohl bei den weiterführenden Informationen als auch bei den Übungsaufgaben der Bereich der gemischten Wahrnehmung (also der teilweisen Zustimmung) mit 37,8 % bzw. 39,5 % relativ groß ist. Zusammengefasst könnte man daraus eventuell ablesen, dass die eher wenig an die Lehrveranstaltung angepassten Informationen (wie beispielsweise Bücher oder Fachzeitschriften) ausreichend angeboten werden. Vor allem Übungsaufgaben und Selbstlerntests – die ja dann stark an die Lernziele und auch eine eventuelle Prüfung der Lehrveranstaltung angepasst werden – in der Wahrnehmung der Studierenden dagegen nicht in ausreichendem Umfang vorhanden sind.
19.2.7 Präferenz für elektronische Unterlagen Selbstlernphasen zeichnet sich – zumindest in den meisten Fällen – auch dadurch aus, dass die Lernmedien und Lernunterlagen in elektronischer Form vorhanden
19 Digitale Bildung in Hochschulen aus Sicht der Studierenden …
471
sind. Auch wenn sich diese Phasen natürlich auch mit nichtelektronischen Unterlagen (vor allem mithilfe eines klassischen Lehrbuches im Selbststudium) realisieren lassen, werden sie heute immer häufiger mit diversen Formen von digitalisierten Unterlagen verwirklicht. Wie ist die Wahrnehmung bzw. wie sind die Präferenzen der Studierenden diesbezüglich? Auch dieser Frage wurde im Rahmen der aktuellen Studie nachgegangen, die Antworten wurden hier im Sinne eines zeitlichen Verlaufs mit Daten aus dem Jahr 2015 und 2017 verglichen (Abb. 19.7). Aktuell besteht eine relativ deutliche Präferenz für elektronische Unterlagen: Immerhin 62,2 % stimmten dem Statement vollkommen oder überwiegend zu, nur 17,9 % kaum oder gar nicht. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der zeitliche Verlauf: Es zeigt sich ein konstantes Wachstum bzgl. der Präferenz: 2015 stimmten nur 40,9 % vollkommen oder überwiegend zu, 2017 bereits 44,8 % und im Jahr 2019 wie bereits erwähnt 62,2 %. Ob dies allerdings an der gestiegenen Qualität von elektronischen Unterlagen liegt oder ob diese steigende Präferenz mit anderen Faktoren zu erklären ist, lässt sich aus diesen Daten natürlich nicht direkt ablesen. Zusammengefasst kann aber relativ eindeutig festgehalten werden, dass es tendenziell eine Präferenz für elektronische Unterlagen gibt und diese in den letzten Jahren auch gestiegen ist.
Präferenz für elekronische Unterlagen 45% 40%
Originalfrage: Ich bevorzuge die für das Lernen benötigten Unterlagen in elektronischer Form. (z.B. als PDF)
Studie 2015 (n=1.323)
Studie 2017 (n=3.853)
Studie 2019 (n=397)
35% 30% 25% 20%
36% 32%
15% 25%
10%
26%
26% 20%
23%
20%
19% 20%
15%
13%
5% 0%
13% 8%
vollkommen
überwiegend
teilweise
Abb. 19.7 Präferenz für elektronische Unterlagen
kaum
5% gar nicht
472
U. Dittler und C. Kreidl
19.3 Fazit und Ausblick Mit der Bologna-Reform haben die Hochschulen vor rund einem Jahrzehnt massive Veränderungsprozesse eingeleitet. Der Veränderungsdruck auf Hochschulen steigt zusätzlich aber auch durch die Anforderungen, die sich aus der allgegenwärtigen Digitalisierung ergeben. Hochschulen befinden sich dadurch jedoch – im Gegensatz zu Industrie 4.0 und Verwaltung 4.0 – in der Situation, dass sie die Veränderungen nur in Teilen selbst gestalten können, zudem müssen sie auch auf Erwartungen der Studierenden reagieren. Dieser Beitrag zeigte daher auf, inwieweit die von Hochschulen bisher eingeführten Veränderungen der klassischen Präsenzlehre hin zu einer Lehre, die stärker auch auf Selbstlernphasen setzt, die Erwartungen der Studierenden erfüllt: Während die Lernplattformen als hilfreiche Unterstützung der Selbstlernphasen wahrgenommen werden, zeigt sich in anderen Bereichen, beispielsweise bei der Zurverfügungstellung von Arbeitsplätzen für Gruppenarbeiten sowie bei der Zurverfügungstellung von Übungsaufgaben und Selbsttests, noch (erhebliches) Verbesserungspotenzial, um die Hochschullehre in der erforderlichen Form zeitgemäß zu gestalten und den Erwartungen der Studierenden anzupassen.
Literatur ARD/ZDF. ARD/ZDF-Onlinestudie. https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/. Zugegriffen: 28. Aug. 2019. Aßmann, S., Bettinger, P., Bücker, D., Hofhues, S., Lucke, U., Schiefner-Rohs, M., Schramm, C., Schumann, M., & van Treeck, T. (Hrsg.). (2016). Lern- und Bildungsprozesse gestalten: Junges Forum Medien und Hochschulentwicklung. Münster: Waxmann. Bartonitz, M., Lévesque, V., Michl, T., Steinbrecher, W., Vonhof, C., & Wagner, L. (Hrsg.). (2018). Agile Verwaltung: Wie der Öffentliche Dienst aus der Gegenwart die Zukunft entwickeln kann. Berlin: Springer. Böss-Ostendorf, A., & Senft, H. (2018). Einführung in die Hochschul-Lehre: Der DidaktikCoach. München: UTB. Brändle, T. (2010). 10 Jahre Bologna-Prozess: Chancen, Herausforderungen und Problematiken. Wiesbaden: Springer. Dittler, U. (Hrsg.). (2017). E-Learning 4.0: Mobile Learning, Lernen mit Smart Devices und Lernen in Sozialen Netzwerken. München: De Gruyter. Dittler, U., & Kreidl, C. (2015). Was nun – stehen wir an der Schwelle zum „Smart Social eLearning“? eLearning – Praxis der Wirtschaftsinformatik, 52(1), 46–57. Dittler, U., & Kreidl, C. (2016). SmartDevices in der Vorlesung: unterstützendes Lernmittel oder störende Ablenkung? Die neue Hochschule, 57(4), 106–109.
19 Digitale Bildung in Hochschulen aus Sicht der Studierenden …
473
Dittler, U., & Kreidl, C. (2018a). Entwicklung des Hochschulwesens und dessen aktuelle Situation in der kritischen Betrachtung. In U. Dittler & C. Kreidl (Hrsg.), Hochschule der Zukunft: Beiträge zur zukunftsorientierten Gestaltung von Hochschulen (S. 15–34). Berlin: Springer. Dittler, U., & Kreidl, C. (Hrsg.). (2018b). Hochschule der Zukunft: Beiträge zur zukunftsorientierten Gestaltung von Hochschule. Berlin: Springer. Eckardt, P. (2005). Der Bologna-Prozess: Entstehung, Struktur und Ziele der europäischen Hochschulreformpolitik. Norderstedt: Book on Demand. Getto, B., Hintze, P., & Kerres, M. (Hrsg.). (2018). Digitalisierung und Hochschulentwicklung: Proceedings zur 26. Tagung der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft. Münster: Waxmann. Glosauer, T. (2018). (Hoch)Schulmathematik: Ein Sprungbrett vom Gymnasium an die Uni. Berlin: Springer. Jank, W., & Meyer, H. (2002). Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen. Kreidl, C. (2011). Akzeptanz und Nutzung von E-Learning-Elementen an Hochschulen. Münster: Waxmann. Kreidl, C., & Dittler, U. (2018). Wo stehen wir? Ergebnisse einer umfassenden empirischen Studie zu Lernen und Unterricht an Hochschulen heute. In U. Dittler & C. Kreidl (Hrsg.), Hochschule der Zukunft (S. 35–62). Wiesbaden: Springer. Kreidl, C., & Dittler, U. (2019). Ergebnisse der empirischen Studie zum Thema „Medieneinsatz und Lernverhalten“. https://opus.hs-furtwangen.de/frontdoor/index/index/start/1/ rows/10/sortfield/score/sortorder/desc/searchtype/simple/query/kreidl/yearfq/2019/ docId/5596. Zugegriffen: 28. Aug. 2019. Kron, F., Jürgens, E., & Standop, J. (2014). Grundwissen Didaktik. München: UTB. Kruse, W., & Hogrebe, F. (2014). Deutschland 4.0: Industrie Verwaltung Standort Wohlstand. Frankfurt: Verlag für Verwaltungswissenschaft. Kühl, S. (2018). Verschulung wider Willen: Die ungewollten Nebenfolgen einer Hochschulreform. In N. Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform: Erfolge und ungewollte Nebenfolgen aus interdisziplinärer Perspektive (S. 295–311). Wiesbaden: Springer. Lenzen, D. (2014). Bildung statt Bologna. Berlin: Ullstein. Macke, G., Hanke, U., Viehmann-Schweizer, P., & Raether, W. (2016). Kompetenzorientierte Hochschuldidaktik: Lehren – vortragen – prüfen – beraten. Weinheim: Beltz. Moallem, M., Hung, W., & Dabbagh, N. (Hrsg.). (2019). The Wiley handbook of problembased learning. Boston: Wiley-Blackwell. MPFS Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. (2017). JIM-studie 2017: jugend, information, (multi-)media. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2017/ JIM_2017.pdf. Zugegriffen: 28. Aug. 2019. Pörksen, B. (2015). Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Berlin: Springer. Reich, K. (2012). Konstruktivistische Didaktik: Das Lehr- und Studienbuch mit OnlineMethodenpool. Weinheim: Beltz. Reinheimer, S. (2017). Industrie 4.0: Herausforderungen, Konzepte und Praxisbeispiele. Berlin: Springer. Skerlak, T., Kaufmann, H., & Bachmann, G. (Hrsg.). (2014). Lernumgebungen an der Hochschule: Auf dem Weg zum Campus von morgen. Münster: Waxmann.
474
U. Dittler und C. Kreidl
Tutor, C. G., & Müller, S. (2018). Workload: vom Stundenzählen zum Steuerungsinstrument. In N. Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform: Erfolge und ungewollte Nebenfolgen aus interdisziplinärer Perspektive (S. 73–98). Wiesbaden: Springer. Wagner, R. M. (Hrsg.). (2018). Industrie 4.0 für die Praxis: Mit realen Fallbeispielen aus mittelständischen Unternehmen und vielen umsetzbaren Tipps. Berlin: Springer. Wachtler, J., Ebner, M., Gröblinger, O., Kopp, M., Bratengeyer, E., Freisleben_Teutscher, C., & Kapper, C. (Hrsg.). (2016). Digitale Medien: Zusammenarbeit in der Bildung. Münster: Waxmann. Winter, M. (2018). Bologna: die ungeliebte Reform und ihre Folgen. In N. Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform: Erfolge und ungewollte Nebenfolgen aus interdisziplinärer Perspektive (S. 279–294). Wiesbaden: Springer. Zimmermann, M., Bescherer, C., & Spannagel, C. (2012). Mathematik lehren in der Hochschule: Didaktische Innovationen für Vorkurse, Übungen und Vorlesungen. Hildesheim: Franzbecker.
Prof. Dr. Ullrich Dittler hat seit 2000 die Professur Interaktive Medien an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen inne und vertritt die Fächer Medienpsychologie und E-Learning in der Lehre. Dittler hat zahlreiche Bücher zu E-Learning sowie zu medienpsychologischen Themen veröffentlicht sowie zahlreiche (teilweise preisgekrönte) Lehrmedien entwickelt. Hon.-Prof. Dr. Christian Kreidl ist selbstständiger Trainer in der Erwachsenenbildung und Vortragender an zahlreichen Hochschulen, beispielsweise an der Wirtschaftsuniversität Wien, der Fachhochschule des BFI Wien oder der FH Wien der WKW. Die inhaltlichen Schwerpunkte des Wirtschaftspädagogen liegen im Bereich finanzielles Management, betriebliches Rechnungswesen sowie Corporate Finance.
Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des Rollenverständnisses von Lernenden und Lehrenden im digitalen Studienprozess
20
Marianne Blumentritt, Doreen Schwinger und Daniel Markgraf Inhaltsverzeichnis 20.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2 Wandel der Lehre am Beispiel der Digitalisierung des Studienmodells am Beispiel der AKAD Hochschule Stuttgart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3 Forschungsfragen und Methodik der empirischen Untersuchung. . . . . . . . . . . . . 20.4 Merkmale der Befragten der Onlineuntersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.5 Zielvorstellungen und Methoden der Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.6 Vermittlung klassischer und digitaler Kompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.7 Folgen der Digitalisierung des Studienmodells. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.8 Handlungsbedarf und Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
476 477 480 482 482 487 491 495 498
M. Blumentritt (*) · D. Schwinger · D. Markgraf AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Schwinger E-Mail: [email protected] D. Markgraf E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_20
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M. Blumentritt et al.
Zusammenfassung
Studierende und Lehrende an digitalen Hochschulen brauchen neue Fähigkeiten und Fertigkeiten, nicht nur im Umgang mit digitalen Medien und Daten, sondern auch im Umgang miteinander. Welche Sichtweisen die Lehrenden und Studierenden jeweils auf ihre eigene Rolle und die des Interaktionspartners im digitalen Studienmodell haben, zeigt der vorliegende Beitrag. Im Rahmen einer empirischen Untersuchung werden das Rollenverständnis von Lehrenden und Studierenden einer privaten Fernhochschule erhoben und die Sichtweisen verglichen. Dabei zeigt sich ein weitgehendes Einvernehmen zwischen den Lehrenden und den Studierenden hinsichtlich der zentralen Ziele und Methoden. Einig sind sich die Lernpartner, dass sich durch die Digitalisierung des Studienangebots die Flexibilität im Fernstudium weiter erhöht, sich Studierbarkeit verbessert hat und damit die Vereinbarkeit von Studium und Beruf erheblich erleichtert wurde. Es ergibt sich allerdings auch weiterer Handlungsbedarf, vor allem im Abbau von Kommunikationshürden zwischen Lehrenden und Studierenden sowie untereinander. Um einen vertrauensvollen Umgang zwischen den Lernpartnern an der Hochschule zu sichern und damit den Erfolg von kollaborativen Lernprozessen zu optimieren, bedarf es der Vermeidung von Anonymität und der Herstellung von Transparenz.
20.1 Einleitung Hochschulen befinden sich auf dem Weg in die Digitalisierung, der zunehmend durch das Internet, soziale Plattformen und Künstliche Intelligenz bestimmt wird. Dabei bedeutet der digitale Wandel für die Hochschulen weit mehr als den Einsatz von digitalen Medien im Sinne von Onlinelehre, neuen curricularen Inhalten und innovativen Studienmodellen. Vielmehr zeichnet sich im Zielsystem der Lehre eine Verschiebung weg von dem Ziel der reinen Wissensvermittlung hin zu den Zielen der Kompetenzorientierung und der Lernenden-Zentrierung ab. Studierende und Lehrende brauchen neue Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl im Umgang mit digitalen Medien und Daten als auch im Umgang miteinander. Haben wir es in klassischen Studienmodellen mit Vorlesern und Lauschern zu tun, so fordert das digitale Studienmodell das gekonnte Jonglieren mit digitalen Methoden und Inhalten. Dabei stehen die Akteure nicht auf dem sicheren Grund des Bewährten und längst Erprobten, sondern bewegen sich in einem Milieu, das sich stetig verändert.
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
477
Dies führt dazu, dass Lehrende und Lernende sich gegenseitig mit neuen Erwartungen an ihre Rollen konfrontieren. Der Erfolg von kollaborativen Lernprozessen wird jedoch maßgeblich von den Erwartungen und Verhaltensweisen der handelnden Akteure bestimmt. Erfolgsbestimmend sind somit die Sichtweisen, die Lehrende und Studierende jeweils auf ihre eigene Rolle und die des Interaktionspartners haben. Dieser Beitrag beschäftigt sich nun mit dem Rollenverständnis der Lernenden und Lehrenden im digitalen Studienprozess. Er basiert auf einer im Sommer 2019 durchgeführten empirischen Untersuchung an der AKAD Hochschule Stuttgart, einer privaten Fernhochschule, und behandelt folgende Leitfragen vor dem Hintergrund der digitalen Transformation des Fernstudiums: • Wie versteht der Lehrende seine Rolle, also seine Aufgaben im digitalen Studienmodell? • Was erwartet er von den Studierenden? • Wie verstehen die Studierenden ihre eigene Rolle im Lernprozess? • Was erwarten sie von den Lehrenden? • Inwieweit stimmen die Erwartungen und das Selbstverständnis der Rolleninhaber überein? Im Folgenden wird zunächst der Übergang vom traditionellen zum digitalisierten Studienmodell dargestellt, bevor auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchung eingegangen wird.
20.2 Wandel der Lehre am Beispiel der Digitalisierung des Studienmodells am Beispiel der AKAD Hochschule Stuttgart Die AKAD University – Hochschule Stuttgart ist eine staatlich anerkannte Privathochschule mit einem speziell auf Berufstätige zugeschnittenen Fernstudienkonzept. Gegründet wird die deutsche AKAD 1959 als Teil der Schweizer AKADGruppe in Stuttgart. Mit einem damals revolutionären Bildungsangebot (Fern- und Präsenzunterricht) bereitet die AKAD in den Anfangsjahren zunächst Berufstätige auf das Abitur vor. In den 70er-Jahren wird das Angebot auf Sprach- und IHK-Lehrgänge ausgeweitet. Es folgen die Gründungen eigener Hochschulen. 1980 erhält als erste deutsche Fernhochschule die AKAD-FH Rendsburg (ab 2002 in Pinneberg, Schleswig–Holstein) die staatliche Anerkennung. In den Jahren
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M. Blumentritt et al.
1991 und 1992 werden die AKAD Hochschulen Lahr (Baden-Württemberg) und Leipzig (Sachsen) gegründet. 2014 vereint die AKAD-Hochschulgruppe die Aktivitäten ihrer bisherigen drei Hochschulen in Pinneberg, Leipzig und Stuttgart in einer großen Hochschule, der AKAD University of Applied Sciences mit Sitz in Stuttgart. Das Studienprogramm der AKAD University umfasst diverse Bachelor-, Master- und MBA-Fernstudiengänge in den Bereichen Wirtschaft, Technik und Informatik sowie Kommunikation und Sprachen, aber auch verschiedene Zertifikatsstudiengänge. Zielgruppe sind berufstätige Erwachsene, die sich unabhängig vom Lebensalter und vom bisherigen schulischen Werdegang zielorientiert weiterbilden oder akademische Abschlüsse erwerben wollen. Das gesamte Studienmodell der AKAD Hochschule Stuttgart ist traditionell auf die Vereinbarkeit von Beruf und Studium ausgerichtet.1 In den Anfangsjahren des Fernstudiums wird der Fokus auf die Erstellung von für das Selbststudium geeigneten Lernmitteln (v. a. die sogenannten Studienbriefe) sowie auf die Konzeption von begleitenden Präsenzveranstaltungen und Betreuungsleistungen gelegt. Die räumliche Präsenz an verschiedenen Hochschulstandorten und deutschlandweiten Studienzentren sorgt dabei für Kundennähe. Mit der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien verbessern sich die Möglichkeiten des orts- und zeitunabhängigen Studierens. Der Anteil des Onlinestudiums wird erhöht. Vor-Ort-Präsenz wird substituiert durch Onlinepräsenz (vgl. Abb. 20.1). Mit einer neuen Version der zentralen Onlinelernplattform der Hochschule, dem AKAD Campus, steht den Studierenden ein modernes Interaktions-, Kommunikations- und Lernsystem zur Verfügung. Parallel dazu wird das Angebot der fachlichen Studienbetreuung durch Dozenten ausgebaut, um die individuelle Unterstützung auf dem Weg zum Studienerfolg zu verbessern. Neben den Studienbriefen und Moduleinführungsvideos werden den Studierenden verstärkt Onlineübungen und Web-Based-Trainings zur Verfügung gestellt, um das Erlernte anzuwenden, zu wiederholen und zu prüfen. Zur flexiblen Vorbereitung auf die Modulprüfungen in Form von Klausuren werden den Lernenden Musterklausuren, Prüfungscoachings und Onlinetutorien angeboten. Für den fachlichen Austausch steht in jedem Modul weiterhin ein Fachtutor bereit. Er unterstützt die Studierenden bei ihren Fragen und betreut die Fachdiskussionen in der Lerngruppe. Auch die Prozesse zum Absolvieren wissen-
1Als
Vergleich dazu: In Deutschland können lediglich 11,9 % der Studiengänge in Teilzeit studiert werden, 6,2 % der Studiengänge sind berufsbegleitend und nur 2,6 % Fernstudiengänge (Vgl. Spexard und Banscherus 2018, S. 41).
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
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Abb. 20.1 Wandel zum digitalen Studienmodell
schaftlicher Arbeiten (z. B. Assignments) werden online über den AKAD Campus unterstützt. In diesem Zusammenhang können die Studierenden auch die virtuelle Bibliothek nutzen. Mit der bevorstehenden Einführung von Onlineklausuren wird die Flexibilität des Studierens um ein Weiteres erhöht. Das seit 2014 reformierte Studienmodell der AKAD University basiert heute im Wesentlichen auf folgenden Bausteinen, die ständig weiterentwickelt und ergänzt werden (AKAD Hochschule Stuttgart 2016, S. 64): • räumliche Unabhängigkeit durch Fernstudium mit Onlinestudienelementen und Fokus auf asynchronen Studienelementen, • umfangreiche organisatorische Unterstützung des Studiums durch AKAD Campus und Studienbetreuung, • Minimierung der Besuche am Hochschulort, • individuelle Gestaltbarkeit des Studienablaufs und der Studiendauer. Diese gravierenden Änderungen des Studienmodells legen u. a. den Lehrenden neue Aufgaben auf, die das bisherige Rollenverständnis auf den Prüfstand stellen. Zwar stellen sie immer noch die Experten in ihrem Fachgebiet dar, aber eher im Dialog und seltener als Mittelpunkt im Zentrum der Aufmerksamkeit vor einer größeren Gruppe von Studierenden. Dozentenzentrierte Lehrformen verlieren an Bedeutung und der fachliche Austausch findet fast ausschließlich über digitale Medien statt. Im modularisierten digitalen Fernstudium verliert die eigentliche Person des Lehrenden mit seinen individuellen Prägungen somit an Bedeutung. Lehrkräfte wirken als qualifizierte, aber austauschbare Dienstleister in abgegrenzten Rollen. Ältere Lehrende fühlen sich in dieser Rolle teils
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fremd, denn sie haben einen langen akademischen Weg an einer konventionellen Präsenzuniversität hinter sich und später im traditionellen Studienmodell gelehrt. Die Bedingungen für ein berufsbegleitendes Studium haben sich für die Studierenden zweifelsohne verbessert. Studieren funktioniert unabhängig von Ort und Zeit und kann selbstständig gesteuert werden. Der bei Weitem größte Anteil des Fernstudiums ist in Einzelarbeit zu absolvieren (Vgl. Alonso et al. 2017, S. 13).2 Die weitgehende Freiheit in der Studienplanung erhöht jedoch die Gefahr, dass im Alltag berufliche Verpflichtungen als dringender empfunden werden und anliegende Aufgaben im Studium verschoben werden. Manchen Lernenden fehlen zudem die motivierenden Anreize, die von sozialen Kontakten zu Kommilitonen und Lehrkräften ausgehen.
20.3 Forschungsfragen und Methodik der empirischen Untersuchung Angesichts des Wandels in der Lehre, stellt sich die Frage, ob die Lehrenden und die Studierenden den Anforderungen des digitalen Lehrens und Lernens genügen und sie ihr Rollenverständnis an die neuen Gegebenheiten angepasst haben. Um dies zu evaluieren, wurde vom 15. Juli bis 11. August 2019 eine empirische Untersuchung durchgeführt, die sich an folgenden Forschungsfragen orientierte: • Wie verstehen Lehrende und Studierende ihre eigene Rolle im digitalen Studienmodell? (Selbstbild) • Was erwarten die Studierenden von den Lehrenden und umgekehrt? (Erwartungen) • Inwieweit stimmen die Erwartungen und das Selbstverständnis der Rolleninhaber überein?
2Fernstudierende
müssen ihr komplexes Studium über einen langen Zeitraum hinweg autonom steuern. Aufgrund der angebotenen Flexibilität des Studienprozesses, haben im Fernstudium die zielorientierte und selbstgesteuerte Lernorganisation, die Motivation und das eigene Monitoring innerhalb des Lernens eine höhere Bedeutung als im Präsenzmodell.
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
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Es wurde die Methode der schriftlichen Befragung unter Verwendung des Umfragetools www.umfrageonline.com gewählt. Für die Befragung wurden zwei Fragebögen konzipiert; jeweils zielgruppenspezifisch für die Lehrenden und die Studierenden. Ein Großteil der Fragen ist bewusst inhaltlich identisch gestaltet – jedoch zielgruppenspezifisch formuliert -, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Andere Fragen mussten zielgruppenspezifisch gestellt werden und finden kein Pendant im jeweils anderen Fragebogen. Im Vorfeld der Befragung erfolgte ein Pretest. Auf Basis der Ergebnisse und des Feedbacks der Befragten wurden die Fragebögen nochmals überarbeitet. Der Link zum Fragebogen für die Studierenden wurde im Onlinecampus der AKAD University veröffentlicht und über die Studierendenvertreter verteilt. Die Lehrenden wurden per E-Mail angeschrieben. Insgesamt beteiligten sich 335 Personen an der Befragung, davon 219 Studierende und 116 Lehrende. Die Antworten von 190 Studierenden konnten in die Auswertung einbezogen werden, sodass im Folgenden die Ergebnisse von 306 Befragten wiedergeben werden. Die inhaltlich identischen Fragen behandeln folgende Themenfelder bezüglich des digitalen Studienmodells: • persönliche Einstellung zur Lehre im digitalen Studienmodell, • Ziele und Methoden der Lehre im digitalen Studienmodell, • Folgen der Digitalisierung des Studienmodells, • klassische und digitale Grundfähigkeiten im digitalen Studienmodell, • Erfordernisse (Einstellungen, Kenntnisse, Verhaltensweisen) vonseiten der Studierenden, • Stärken und Schwächen des digitalen Studienmodells. Am Ende der Befragung werden – teils zielgruppenspezifisch – persönliche Merkmale erhoben (z. B. Geschlecht, Alter, Berufstätigkeit). Darüber hinaus wird in einer offenen Frage die Gelegenheit für weitere Kommentare und Anregungen geboten. Am 18. September 2019 fand im Rahmen des AKAD-Forums ein Workshop zum gleichlautenden Thema statt. Hier wurden zentrale Untersuchungsergebnisse validiert. Einige der im Workshop diskutierten Aspekte fließen in die folgende Auswertung ein.
482
M. Blumentritt et al.
20.4 Merkmale der Befragten der Onlineuntersuchung Insgesamt konnten also die Antworten von 306 Befragten ausgewertet werden, davon 190 Studierende und 116 Lehrende. Auf diese beziehen sich alle folgenden Auswertungen. An der Befragung nahmen 86 männliche Studierende (45,3 %) und 80 weibliche Studierende (42,1 %) teil. 24 befragte Studierende machten keine Angaben zum Geschlecht. Zum Vergleich betrug an der AKAD University der Anteil der Studentinnen Ende 2018 knapp 35 % (Vgl. AKAD Hochschule Stuttgart 2019). Im Bereich der Lehrenden beteiligten sich 30 Dozentinnen bzw. Professorinnen (knapp 26 %) und 72 Dozenten bzw. Professoren (ca. 62 %) an der Befragung (keine Angaben wurden von 14 Lehrenden gemacht). Das Durchschnittsalter der befragten Studierenden beträgt etwas über 31 Jahre, das der Lehrenden knapp 56 Jahre. Die Altersstruktur aufgrund der Angabe des Geburtsjahres der Befragten (zu Klassen zusammengefasst) ist in Tab. 20.1 zusammengefasst. Neben diesen Angaben werden in folgender Tabelle weitere Merkmale der Befragten getrennt nach Studierenden und Lehrenden aufgeführt, so beispielsweise die fachliche Zugehörigkeit zu den Schools, der angestrebte Abschluss der Studierenden sowie die Berufstätigkeit der Studierenden. Hier zeigt sich, wie auch schon in der vorangegangenen Untersuchung von 2017 (Vgl. Blumentritt et al. 2019), dass knapp 85 % der Studierenden ausdrücklich angaben, berufstätig zu sein.
20.5 Zielvorstellungen und Methoden der Lehre Wie bereits aufgezeigt, hat sich die Lehre durch den Einsatz von digitalen Elementen deutlich verändert. Um festzustellen, welche Ziele die Lehrenden in einem zunehmend digitalisierten Studienmodell verfolgen, wurden die befragten Lehrenden gebeten, die drei wichtigsten Ziele ihrer Lehrtätigkeit im AKADStudienmodell zu benennen (vgl. Abb. 20.2). Das mit Abstand am häufigsten genannte Ziel ist die enge Verbindung von Theorie und Praxis. Dies zeigt, dass sich die Dozenten mit dem Modell der Fachhochschule verbunden fühlen und besonderen Wert auf die anwendungsbezogene Lehre legen, also die Wissensvermittlung mit Schwerpunkt auf die praktische Anwendung und die praktischen Erfordernisse. An zweiter Stelle steht die Motivation von Studierenden. Die Lehrenden einer Fernhochschule wissen, wie anspruchsvoll das berufsbegleitende Studium ist und wie viel Selbstdisziplin den Studierenden abverlangt wird, um die Studien-
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
483
Tab. 20.1 Charakterisierung der Befragten. (Eigene Darstellung) Studierende (N = 190)
Lehrende (N = 116)
Absolut
Relativ
Absolut
Relativ
Weiblich
80
42,11 %
30
25,86 %
Männlich
86
45,26 %
72
62,07 %
k. A Altersstruktur
24
12,63 %
14
12,07 %
bis 20 Jahre
1
0,53 %
0
0,00 %
21–25 Jahre
28
14,74 %
0
0,00 %
26–30 Jahre
69
36,32 %
0
0,00 %
31–35 Jahre
21
11,05 %
1
0,86 %
36–40 Jahre
16
8,42 %
3
2,59 %
41–45 Jahre
12
6,32 %
10
8,62 %
46–50 Jahre
3
1,58 %
13
11,21 %
51–55 Jahre
4
2,11 %
16
13,79 %
56–60 Jahre
0
0,00 %
10
8,62 %
61–65 Jahre
1
0,53 %
18
15,52 %
66–70 Jahre
0
0,00 %
7
6,03 %
71–75 Jahre
0
0,00 %
4
3,45 %
ab 76 Jahre
0
0,00 %
2
1,75 %
k. A
35
18,42 %
32
27,59 %
Durchschnittsalter School
31,3 Jahre
Wirtschaft
58
30,53 %
53
45,69 %
Technik und Informatik
75
39,47 %
34
29,31 %
Kommunikation und Sprachen
21
11,05 %
14
12,07 %
Institut für Weiterbildung
12
6,32 %
0
0,00 %
k. A Abschluss
24
12,63 %
15
12,93 %
Bachelor
114
60,00 %
Geschlecht
55,7 Jahre
(Fortsetzung)
484
M. Blumentritt et al.
Tab. 20.1 (Fortsetzung) Studierende (N = 190)
Lehrende (N = 116)
Absolut
Relativ
Absolut
Master
30
15,75 %
MBA
9
4,74 %
Diplom
1
0,53 %
Zertifikat
12
6,32 %
k. A Berufstätigkeit
24
12,63 %
In Vollzeit
130
68,42 %
In Teilzeit
30
15,79 %
Nicht berufstätig
5
2,63 %
k. A
25
13,16 %
Relativ
71.55% 67.37%
enge Verbindung von Theorie und Praxis Movaon von Studierenden
35.26%
62.93% 62.07% 64.74%
fachwissenschaliche Qualität Förderung des krischen Denkens
31.58%
43.10%
33.62% 36.32%
Förderung von Schlüsselqualifikaonen
8.62%
Einbeziehung aktueller Forschungsergebnisse Vernetzung von Studierenden
2.59% 18.42%
Beschäigung mit Werten und Ethik
1.72% 6.84% 0%
38.95%
20% 40% 60% relave Häufigkeit der Summen aller Ziele Lehrende
80%
Studierende
Abb. 20.2 Zielvorstellungen in der Lehre: Ein Vergleich der Sichtweisen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
485
ziele zu erreichen. Daher sehen sich viele als Motivatoren von Studierenden in schwierigen Phasen. Fast ebenso wichtig wird die fachwissenschaftliche Qualität erachtet. Neben diesen drei wichtigen Zielen ist vielen Befragten auch die Förderung des kritischen Denkens wichtig. Auch die Förderung von Schlüsselqualifikationen wird von mehr als einem Drittel der befragten Lehrenden besonders verfolgt. Die Studierenden wurden gefragt: Welche Ziele sollten die Dozenten und die digitalen Lehrelemente im AKAD-Studienmodell vornehmlich verfolgen? Mit den Dozenten stimmen sie beim wichtigsten Ziel der engen Verbindung von Theorie und Praxis überein. Als zweites Ziel nennen sie die fachwissenschaftliche Qualität. Ein Student formuliert es so: „Mir ist sehr wichtig, dass Arbeitgeber das AKAD-Studium als gleichwertig zum Studium an Präsenz-Unis ansehen“.3 Das drittwichtigste Ziel ist die Einbeziehung aktueller Forschungserkenntnisse. Letzteres beziehen die Studierenden insbesondere auch auf die Aktualität von Studienmaterialen. Im offenen Antwortenteil der Befragung wird häufig auf die Notwendigkeit der Aktualisierung von Studienbriefen hingewiesen. Vergleicht man die Sichtweisen von Studierenden mit denen der Lehrenden, so zeigt sich ein weitgehender Konsens zwischen den Lernpartnern. Jedoch wird das für die Dozenten wichtige Ziele der Motivation von Studierenden von den Studierenden selbst als nicht so wesentlich erachtet. Dies könnte bedeuten, dass die Dozenten die Wichtigkeit ihrer Rolle als Motivator überschätzen. Dagegen ist den Lehrenden offensichtlich nicht bewusst, wie wichtig den Studierenden die Vernetzung untereinander ist. Hinsichtlich der praktizierten Methoden in der Lehre schätzen die Lehrenden den praktischen Bezug, also das anwendungsorientierte Lernen (vgl. Abb. 20.3). Vorzugsweise wird angeknüpft an die Praxiserfahrung der berufstätigen Studierenden. Dabei werden Fallstudien, Simulationen und z. B. Rollenspiele eingesetzt. Die meisten Lehrenden befürworten einen aktivierenden Ansatz. Genannt werden Methoden wie problemorientiertes Lernen, also Lösungserarbeitung durch die Studenten selbst mit gezielter Hilfestellung. Für fast ein Drittel der befragten Lehrenden gehört auch die individuelle Förderung von Studierenden zu den wichtigsten Methoden. Hieran lässt sich
3Die
kursiv gedruckten Sätze sind wörtliche Angaben der Befragten im offenen Frageteil der empirischen Untersuchung.
486
M. Blumentritt et al. 62.07% 67.37%
Anwendungsorienertes Lernen
53.45% 44.74%
Akvierendes Lernen Individuelle Förderung von Studierenden
31.03% 25.79%
Wissensorienertes Lernen
27.59% 32.11% 8.62% 11.58%
Dozentenzentrierter Lehransatz
3.45% 15.79%
Vernetzung von Studierenden 0%
20%
40%
60%
80%
relave Häufigkeit der Summen aller Methoden Lehrende
Studierende
Abb. 20.3 Präferierte Lehrmethoden: Ein Vergleich der Sichtweisen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
ablesen, dass die traditionelle Lehrsituation in der Gruppe durch bilaterale Dialoge abgelöst wird. Im traditionellen Hochschulkontext kommt den Professorinnen und Professoren vor allem eine dozentenzentrierte Rolle des Lehrenden zu, der vornehmlich in Präsenzveranstaltungen die Vermittlung von Wissen verantwortlich vorantreibt. Diese Form der Wissensvermittlung tritt im Zuge der Digitalisierung der Lehre zunehmend in den Hintergrund. Während also früher überwiegend die Lehrveranstaltungen selbst zur Vermittlung des Lehrstoffs dienten, wird dieser Prozess durch die neuen, digitalen Lehrformen bis zum Studierenden verlagert. Dies ermöglicht ein individuelles Abholen des Studierenden auf seinem konkreten Wissens- und Leistungsstand. Vergleicht man die Präferenzen der Studierenden mit denen der Lehrenden, so zeigen sich einige feine Unterschiede in den Ansichten. Es scheint, als hingen einige Studierende noch an der Vorstellung der traditionellen Rolle des Professors. Vergleichsweise mehr studentische als lehrende Befragte bevorzugen einen wissensorientierten bzw. dozentenzentrierten Ansatz. Gewünscht werden mehr Fachveranstaltungen über Skype mit Raum für Interaktionen untereinander. Auch hier zeigt sich die für die Studierenden höhere Bedeutung der Vernetzung. In Tab. 20.2 werden zusammenfassend die Top Drei Ziele und Methoden in der Lehre im Vergleich aufgezeigt. Die Sichtweisen der Lehrenden und
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
487
Tab. 20.2 Top drei Ziele und Methoden in der Lehre Lehrende Ziele in der Lehre
Präferierte Lehrmethoden
Studierende
1. e nge Verbindung von Theorie 1. enge Verbindung von Theorie und Praxis und Praxis 2. M otivation von Studierenden
2. fachwissenschaftliche Qualität
3. fachwissenschaftliche Qualität
3. Einbeziehung aktueller Forschungsergebnisse
1. anwendungsorientiertes Lernen
1. anwendungsorientiertes Lernen
2. aktivierendes Lernen
2. aktivierendes Lernen
3. individuelle Förderung von 3. wissensorientiertes Lernen Studierenden
Studierenden stimmen weitgehend überein. Die hervorgehobenen Aspekte unterscheiden sich. So ist den Lehrenden die individuelle Motivation und Förderung der Studierenden sehr wichtig. Damit zeigt sich, dass die Lehrenden eher studierendengerichtet agieren möchten. Dies wird von den Lernenden selbst nicht in gleichem Maße geschätzt. Sie betonen dagegen den Wert der Qualität der Lerninhalte.
20.6 Vermittlung klassischer und digitaler Kompetenzen Bereits das Lernen im Fernstudium bedarf bestimmter Einstellungen, Fähigkeiten und Kenntnisse aufseiten der Studentenschaft, durch den Wandel des Studienmodells haben sich diese Aspekte nochmal modifiziert. Den Lehrenden wurden verschiedene Items vorgelegt, die zuvor in einem Workshop mit Studienleitern4 im Fernstudium erarbeitet wurden. Die Lehrenden wurden aufgefordert, zum einen die Bedeutung der Items einzuschätzen und zum anderen anzugeben, wie diese Aspekte ihrer Meinung nach auf die Studentenschaft der AKAD zutreffen. Gleichermaßen wurden auch die Studierenden gebeten anzugeben, inwieweit die Aspekte auf sie persönlich zutreffen.
4Workshop
zur Lehre im digitalisierten Fernstudium, Studienleitertreffen der AKAD Hochschule Stuttgart am 21. Mai 2019.
488
M. Blumentritt et al. 94.85% 85.53% 88.48%
Selbstdisziplin
Akvität und Engagement
86.87%
50.00% 48.80%
Konstrukves Feedback
86.87%
61.25%
87.73% 82.83% 77.22% 91.52%
Digitale Affinität
Vernetzung
62.34%
29.52%
Krische Lernhaltung
33.33%
selbständige Organisaon in Lerngruppen
46.05% 34.94%
Bereitscha zur Gruppenarbeit
50.00% 43.37% 0%
81.82%
81.82% 79.88% 76.77%
74.75%
20% 40% 60% 80% relave Häufigkeit der Nennungen
100%
Einschätzung, wie wichg der Aspekt aus Sicht der Lehrenden ist Beurteilung der Lehrenden, inwieweit dieser Aspekt auf die Studentenscha zutri Selbsteinschätzung der Studierenden, inwieweit diese Aspekte zutreffen
Abb. 20.4 (Sehr) wichtige Einstellungen, Fähigkeiten und Kenntnisse von Studierenden: Ein Vergleich des Selbstbildes der Studierenden (N = 190) und des Fremdbildes der Dozenten (N = 116)
Abb. 20.4 zeigt deutlich, dass die Fähigkeiten und Kenntnisse der (Fern-) Studierenden die Erwartungen der Lehrenden nicht immer erfüllen. Die wichtigste Eigenschaft zum erfolgreichen Bestreiten eines Fernstudiums, die Selbstdisziplin, wird jedoch den Studierenden von den meisten befragten Lehrenden attestiert. Positiv eingeschätzt wird auch die digitale Affinität der Studierenden, also die Fähigkeit neue Methoden der Kommunikation zu beherrschen.
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
489
Weniger überzeugt sind dagegen die Lehrenden von dem studentischen Engagement in Veranstaltungen. Ebenso wie die Studierenden selbst wünschen sie sich deutlich mehr Interaktion in Onlineseminaren und auf den Foren im AKAD Campus. Auch mit der derzeitigen Qualität der Feedbackkultur sind die Lehrenden nicht ganz zufrieden. Auffallende Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbild gibt es bei der Vernetzung. Die Lehrenden halten es für wichtig, dass sich die Studierenden untereinander aktiv vernetzen, Kontakte knüpfen und pflegen. Auch die selbstständige Organisation der Studierenden in Lerngruppen und die Bereitschaft, Aufgaben in Gruppenarbeit zu erledigen wird als wichtig erachtet. Hierbei schätzen sich die Studierenden selbst deutlich schlechter ein. (Dies weist darauf hin, dass seitens der Hochschule mehr Möglichkeiten zur Vernetzung angeboten werden sollten.) Gefordert wird von den Lehrenden die Entwicklung einer kritischen Lernhaltung, also die kritische Herangehensweise an wissenschaftliche Texte und differenzierte Betrachtung verschiedener Lehrmeinungen. Hier konstatieren die Lehrenden Defizite, die den Studierenden selbst nicht bewusst sind. Die Untersuchung der Kompetenzen, die Studierende für ein digitales Fernstudium ertüchtigen, wurde ergänzt um die Erhebung von Fähigkeiten, die in den nächsten fünf Jahren für das Berufsleben und/oder die gesellschaftliche Teilhabe über alle Branchen und Industriezweige hinweg deutlich wichtiger werden. Basis der Erhebung dieser Kompetenzen ist eine Studie des Stifterverbands und McKinsey auf Basis der Aussagen von Personalverantwortlichen (siehe hierzu und zu den Grundlagen der folgenden Ausführungen: Kirchherr et al. 2018). Explizit ausgeklammert wurden in der Studie Fähigkeiten, die entweder eindeutig branchen- oder fachspezifisch sind oder deren Bedeutung relativ zu anderen Fähigkeiten abnehmen wird. Als Schlüsselqualifikationen wurden zwei Kategorien identifiziert: digitale und klassische Grundfähigkeiten.5 Einige dieser disziplinenübergreifenden Qualifikationen, wie kollaboratives Arbeiten, unternehmerisches Denken und agile Lern- und Arbeitsmethoden bedürfen neuer Formen des Lehrens und Lernens, denn diese sind überwiegend nicht inhaltlich vermittelbar (Vgl. MeyerGuckel et al. 2019, S. 9). Inwieweit die AKAD University diese Fähigkeiten ausbildet, sollte auch Gegenstand der vorliegenden Erhebung bei Lernenden und Lehrenden im digitalen Studienprozess sein.
5Bei diesen überfachlichen Qualifikationen besteht in den kommenden 5 Jahren ein Weiterbildungsbedarf von jeweils mehr als 2 Mio. Personen (vgl. Kirchherr et al. 2018).
490
M. Blumentritt et al. 50.53%
Digital Learning
63.19%
45.92% 43.29%
Digitale Interakon Digital Literacy
40.21%
22.56%
39.58% 35.40%
Digitale Kollaboraon 27.37% 22.36%
Agiles Arbeiten
17.89% 22.84%
Digital Ethics 0%
20%
40%
60%
80%
relave Häufigkeit der Nennungen Lehrende
Studierende
Abb. 20.5 Positive Einschätzung der Ausbildung von digitalen Schlüsselqualifikationen: Ein Vergleich der Sichtweisen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
Hinsichtlich der Ausbildung von digitalen Schlüsselqualifikationen zeigt sich das Bild in Abb. 20.5: Digitale Grundfähigkeiten sind Fähigkeiten, die es Menschen ermöglichen, sich in einer digitalisierten Umwelt (Beruf und Gesellschaft) zurechtzufinden und aktiv an ihr teilzunehmen. Wer digitale Fähigkeiten beherrscht, kann kooperativ und agil arbeiten, wirkungsvoll interagieren und kritische Entscheidungen treffen. Gut die Hälfte der Lehrenden und ca. 64 % der Studierenden meinen, dass „Digital Learning“ gut oder sehr gut – im digitalen Studienmodell der AKAD – ausgebildet wird. Damit wird die Fähigkeit bezeichnet, aus einer Vielzahl digitaler Informationen valides Wissen zu ausgewählten Themengebieten aufbauen zu können. An zweiter Stelle folgt die Fähigkeit, bei Interaktion über Onlinekanäle andere zu verstehen und sich ihnen gegenüber angemessen zu verhalten („Digital Interaktion“). Viele sind zudem der Meinung, dass auch „Digital Literacy“ und „Digitale Kollaboration“ gut oder sehr gut ausgebildet werden. Mit „Digital Literacy“ sind grundlegende digitale Skills gemeint, z. B. sorgsamer Umgang mit digitalen persönlichen Daten, Nutzen gängiger Software, Interagieren mit KI. Die Ausbildung dieser Fähigkeit schätzen die Studierenden jedoch weniger gut ein als die Lehrenden. Die Fähigkeit im digitalen Team effektiv und effizient zu arbeiten,
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
491
53.47% 56.36%
Adaponsfähigkeit
52.48%
Durchhaltevermögen
63.03%
41.75% 50.00%
Problemlösungsfähigkeit
36.63%
Unternehmerisches Handeln
56.71%
23.76% 29.70%
Kreavität 0%
20% 40% 60% relave Häufigkeit der Nennungen Lehrende
80%
Studierende
Abb. 20.6 Positive Einschätzung der Ausbildung von klassischen Schlüsselqualifikationen: Ein Vergleich der Sichtweisen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
also unabhängig von räumlicher Nähe und über verschiedene Disziplinen und Kulturen hinweg, wird als „Digitale Kollaboration“ bezeichnet. Weniger als ein Drittel der Befragten schätzen die Ausbildung von „Agilem Arbeiten“ als gut oder sehr gut ein und die wenigsten meinen, dass das Hochschulstudium dazu anregt, digitales Handeln kritisch zu hinterfragen und entsprechende ethische Entscheidungen („Digital Ethics“) zu treffen. Neben den digitalen Kompetenzen wurde auch untersucht, inwieweit die Hochschule die von der Forschergruppe als wichtig erachteten klassischen Schlüsselqualifikationen ausbildet. Die Analyse der Ergebnisse zeigt, dass die Studierenden selbst den Beitrag der Hochschule zur Ausbildung folgender Fähigkeiten deutlich besser einschätzen als die Lehrenden. Insgesamt zeichnet sich ein recht positives Bild ab, wie die Abb. 20.6 zeigt.
20.7 Folgen der Digitalisierung des Studienmodells Mit der Digitalisierung des Studienmodells gehen Veränderungen des erlebten Lehrens und des Studierens einher. Erste Hinweise auf die Folgen der Digitalisierung zeigen die spontanen Assoziationen der Befragten. Auf das digitale Studienmodell haben Lehrende und Studierende teils grundverschiedene Sichtweisen. Während sich die Lehrenden eher im Dialog und
492
M. Blumentritt et al. Monolog
2.40
Einzelarbeit keine Interakon
2.61
unpersönlich
1 sehr zutreffend
2.69 1.85
1.5
Gruppenarbeit
2.51
1.55
flexibel
Dialog
3.33
2
eher
zutreffend
viel Interakon
3.20
persönlich
3.39
unflexibel
2.25
2.5
3 3.5 teils/teils
Studenten
4 4.5 eher zutreffend
5 sehr zutreffe
Lehrende
Abb. 20.7 Die Lehre im digitalen Studienmodell: Ein Vergleich der Assoziationen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
in persönlicher Interaktion mit den Studierenden sehen, empfinden dies die Studierenden dagegen genau anders: Sie erleben mehr Monologe, wenige und unpersönliche Interaktion. Überein sind sich beide Gruppen, dass das Studienmodell flexibel ist und eher auf Einzelarbeit als auf Gruppenarbeit ausgerichtet ist. Die Unterschiede in den Ausprägungen der Items sind durchaus signifikant (Abb. 20.7). Ein Grund für die unterschiedlichen Sichtweisen könnte darin liegen, dass einerseits die Lehrenden im Zuge der zunehmenden Digitalisierung weniger Zeit mit Gruppenveranstaltungen verbringen und stattdessen ein Großteil ihrer Studierendenkontakte im zweiseitigen Dialog stattfindet, für den sie einen beachtlichen Teil ihrer Arbeitszeit aufwenden. Andererseits nimmt für den einzelnen Studierenden die Kontaktzeit mit Lehrenden eher ab, denn für Dialoge wird weniger Zeit als für traditionelle Lehrveranstaltungen benötigt. Daraus folgt, dass das Studium eher durch Einzelarbeit als durch Gruppenarbeit bestritten wird. Das Beispiel zeigt die gravierenden Veränderungen des erlebten Studierens und Lehrens im digitalen Studienmodell. Bemühungen um die Digitalisierung des Studiums haben also beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen für den Lehr- und Lernprozess. Die befragten Lehrenden und Studierenden wurden gebeten einzuschätzen, welche Folgen eingetreten sind. Hierbei ergab sich folgendes Bild (Abb. 20.8):
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
493
84.00% 82.66%
Die Studierbarkeit für Berufstäge hat sich verbessert. 62.96%
Der Stellenwert der persönlichen Lehre hat abgenommen.
41.56% 56.48% 54.43%
Die Möglichkeiten einen anspruchsvollen fachlichen Diskurs zu führen, haben abgenommen.
44.94% 36.76%
Der organsiatorische Beratungs- und Betreuungsaufwand hat sich erhöht. Der Arbeitsaufwand für die Lehrenden hat sich erhöht.
43.69% 19.83% 42.86% 37.23%
Der fachliche Beratungs- und Betreuungsaufwand hat sich erhöht.
36.36% 11.86%
Die Qualität des Studiums hat abgenommen. Die persönliche Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden hat einen höheren Stellenwert bekommen.
25.96% 11.18% 25.47% 34.01%
Die Lehre ist anspruchsvoller geworden.
7.53% 4.71%
Die Studierbarkeit für Berufstäge hat sich verschlechtert.
0%
20%
40%
60%
80%
100%
relave Häufigkeit der Nennungen Lehrende (N = 116)
Studierende (N = 190)
Abb. 20.8 Folgen der Digitalisierung des Studienmodells: Ein Vergleich der Sichtweisen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
Die meisten Befragten erleben eine verbesserte Studierbarkeit durch die Digitalisierung. Sie schätzen, dass die digitale Hochschule überall verfügbar ist. „Man ist unabhängig von Ort und der Zeit und kann sich den Campus auf sein Smartdevice holen.6 Die Digitalisierung ermöglicht eine 6Die
kursiv gedruckten Sätze sind wörtliche Angaben der Befragten im offenen Frageteil der empirischen Untersuchung.
494
M. Blumentritt et al.
hohe Flexibilität, die das Vereinen von Studium, Familie und Beruf deutlich erleichtert.7 Mein Studium hatte sich extrem verzögert aufgrund eines Pflegefalls in der Familie. Das digitale Studienmodell eröffnet nun eine Möglichkeit, das Studium in meinem Leben zu integrieren. Fahrzeiten zu Seminaren entfallen, Fahrtwege zu Prüfungen entfallen. Die Zeitersparnis ist immens. Es steht mehr Zeit für Lernen, Familie und Freizeit (welche bei einer Vollzeitstelle und Studium schon mehr als knapp ist) zur Verfügung.
Der Preis für die Flexibilität und Studierbarkeit ist die Abnahme persönlicher Beziehungen zwischen den Studierenden und den Lehrenden sowie auch innerhalb dieser beiden Gruppen.Ein Lehrender schreibt: Die größte Gefahr ist eine zu geringe Interaktion im reinen Kontakt über digitale Kanäle. Da ich kein „Digital Native“ bin, müsste ich mich selbst immer wieder dazu zwingen, den entsprechenden Kontakt und die Medien zu verwenden. Das bedeutet, dass auch die Lehrenden diesen digitalen Wandel passend umsetzen müssen. Meine persönliche Präferenz ist Präsenz, da ich das Gefühl habe, dass dadurch die Interaktion und die Wissensvermittlung viel konkreter stattfindet.
Ein Student meint: Auch wenn die digitalen Kollaborationswerkzeuge die Vernetzung immens vereinfachen, finde ich, geht die Vernetzung schrittweise verloren. Die Zusammenarbeit und die zwischenmenschlichen Aspekte werden flüchtiger.
Die digitale Kommunikation wirkt auf einige teils anonym und intransparent. Dies erschwert die Herstellung einer Verbindlichkeit. Für manche Studierenden entstehen somit Hemmungen bei der Kontaktaufnahme mit einzelnen Lehrenden. Mehr als die Hälfte der Befragten meinen, dass die Möglichkeiten einen anspruchsvollen fachlichen Diskurs zu führen, abgenommen haben. Dafür haben jedoch die Formen der individuellen Betreuung zugenommen. Da Lehre häufig im Dialog stattfindet, werden die persönlichen Bedürfnisse der einzelnen Studierenden berücksichtigt. Viele Lehrende bemerken einen zunehmenden
7Dementsprechend
finden die individuellen Lebensbedingungen der Studierenden Beachtung. Diese sowie weitere Einflussfaktoren (wie Lernvoraussetzungen, Lehr- und Studienqualität sowie die Intensität der Arbeitgeberunterstützung) wirken sich auf den individuellen Studienerfolg aus (Vgl. Hillebrecht 2019, S. 314).
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
495
Tab. 20.3 Stärken und Schwächen des digitalen Studienmodells Stärken
Schwächen
Kompromisslos flexibel (Vereinbarkeit von Studium, Beruf und Familie)
Hürden für persönliche Beziehungen zwischen Dozenten und Studierenden und untereinander
Individuell (selbstgesteuertes Studium, eigenes Lerntempo, gezielte Betreuung)
Kritik an einzelnen Elementen des Studienmodells (zu wenig Onlineseminare, veraltete Studienbriefe, zu wenig Betreuung)
Studierbar (auch für Zielgruppen mit Handicap)
Technische Probleme
Senkt Kosten und schont Ressourcen
Mehr Aufwand für Lehrende
Bildet digitale Fähigkeiten aus
Zu wenige Motivationsanreize
Vereinfacht die Kommunikation Fördert Selbstdisziplin und Eigeninitiative
Beratungs- und Betreuungsaufwand. Hinzu kommt, dass sie sich in die neuen Lehrformen einarbeiten und mit den digitalen Methoden vertraut machen müssen. Tab. 20.3 gibt zusammenfassend einen Überblick über die erlebten Stärken und Schwächen des aktuellen digitalen Studienmodells: Die Digitalisierung der Hochschule wird von den Studierenden selbst positiver erfahren als von den Lehrenden. 61 % der befragten Studierenden sind zufrieden bzw. sehr zufrieden. Nur zehn Prozent sind mit den Änderungen des Studienmodells unzufrieden. Von den Lehrenden sind 46 % (sehr) zufrieden und 22 % unzufrieden. Ungefähr ein Drittel der Befragten in beiden Gruppen sind teils zufrieden, teils unzufrieden mit dem digitalen Studienmodell.
20.8 Handlungsbedarf und Perspektiven Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen ein weitgehendes Einvernehmen zwischen den Lehrenden und den Studierenden hinsichtlich der zentralen Ziele und Methoden. Einig sind sich die Lernpartner, dass sich durch die Digitalisierung des Studienangebots die Flexibilität im Fernstudium weiter erhöht hat und damit die Vereinbarkeit von Studium und Beruf deutlich verbessert wurde.
496
M. Blumentritt et al.
Gänzlich verschieden empfunden werden jedoch der Grad und die Qualität der Interaktion untereinander. Während die Lehrenden einen Großteil ihrer Arbeitszeit im Dialog mit Studierenden verbringen, stehen die Studierenden selbst eher selten im Kontakt zu Lehrenden und verbringen die meiste Zeit mit dem Selbststudium. Die Bedeutung ihrer Rolle als Motivator und persönlicher Berater überschätzen die Lehrenden. Vermutlich liegt dies auch an der von den Studierenden empfundenen Distanz zu den Lehrenden. Hinderlich für die Gestaltung der persönlichen Beziehung zwischen den Lernpartnern scheinen besonders aufseiten der Studierenden die empfundene Anonymität im digitalen Raum und die daraus entstehenden Kontakthemmnisse zu sein. Die Interaktionen im digitalisierten Fernstudium erfolgen selten von Angesicht zu Angesicht wie beispielsweise in Präsenzseminaren oder Sprechstunden vor Ort, sondern vorwiegend über Kanäle, die räumliche und zeitliche Distanzen überbrücken. Hierdurch gehen einzelne Kontaktdimensionen wie z. B. Augenkontakt, Gestik und Mimik verloren. Das vergrößert die Unsicherheit und erschwert den Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen. Dies äußert sich auch an dem häufig gering ausgeprägten Engagement der Teilnehmer in Onlineseminaren. Die Studentenschaft ist auch untereinander nicht so stark vernetzt, wie mancher Lehrende annimmt. Ein wesentliches Ziel für die Weiterentwicklung des digitalen Studienmodells ist somit die Schaffung und Stärkung von persönlichen Beziehungen zwischen Studierenden und Lehrenden sowie innerhalb der beiden Gruppen. Handlungsbedarf ergibt sich also vor allem im Abbau von Hürden zwischen Dozenten und Studierenden sowie untereinander. Ziele sind die Vermeidung von Anonymität und die Herstellung von Transparenz. Seitens der Hochschule sollte Folgendes angestrebt werden: • • • •
Etablierung von Räumen/Foren zur vertrauensvollen Vernetzung, Förderung von Interaktionen in Veranstaltungen und Foren, Gestaltung von Kommunikationsanreizen, Schaffung einer dem Studierenden zugewandten Betreuungskultur.
Das Erreichen dieser Ziele bedarf zum einen Maßnahmen, die die Lehrkräfte unterstützen, ihre Aufgaben im digitalen Studienmodell noch besser wahrzunehmen. Zum anderen müssen Möglichkeiten gefunden werden, die Studierenden auf dem Weg durch das digitale Studium persönlich zu unterstützen, zu motivieren und schließlich zum erfolgreichen Abschluss zu führen. Eine Übersicht über die Art der gewünschten Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Digitalisierung des Studiums gibt Abb. 20.9.
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
497
87.76%
Weiterbildung der Lehrkräe hinsichtlich Didakk und Methoden
74.70%
73.47%
Etablierung eines Mentoring oder CoachingSystems für Studierende
78.92% 61.22%
Schulung zum Umgang mit digitalen Anwendungen
52.44% 60.00%
... mehr Personal für den methodischdidakschen Support
57.23%
60.00%
... mehr Personal für die Betreuung von Studierenden
48.48%
Einführung von Movaons- und Webewerbselementen zur Unterstützung des studenschen Lernprozesses
55.21%
53.33% 51.61%
... mehr Personal für den technischen Support
32.53%
0%
20% 40% 60% 80% relave Häufigkeit der Nennungen Lehrende
100%
Studierende
Abb. 20.9 (Sehr) wichtige Aspekte für die Weiterentwicklung des digitalen Studienmodells: Ein Vergleich der Sichtweisen von Lehrenden (N = 116) und Studierenden (N = 190)
Mehr Weiterbildung der Lehrkräfte hinsichtlich Didaktik und Methoden im digitalen Studienmodell wünschen sich 88 % der Lehrenden selbst und auch dreiviertel der Studierenden halten dies für notwendig. Für den methodischdidaktischen sowie technischen Support sollte die Hochschule nach Meinung der Mehrzahl der Befragten mit mehr Personal ausgestattet werden. Festzuhalten ist, dass auf der Seite der Lehrenden Unsicherheiten im Einsatz von didaktischen Methoden und im Umgang mit digitalen Anwendungen bestehen. Dies wird auch von den Studierenden wahrgenommen. Der Wunsch nach der Etablierung eines Mentoring- oder CoachingSystems für Studierende wird von 79 % der Studierenden und 74 % der Lehrende geäußert. Für die Ausstattung der Hochschule mit mehr Betreuungspersonal votieren die Mehrzahl der befragten Lehrkräfte und fast die Hälfte der
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M. Blumentritt et al.
Studierenden. Außerdem befürworten die meisten Befragten die Einführung von Motivations- und Wettbewerbselementen zur Unterstützung des studentischen Lernprozesses. Unsicherheiten bestehen also auch auf der Seite der Studierenden. Sie wünschen sich einen Mentor oder einen Coach an ihrer Seite, der bei der Navigation zum Studienabschluss assistiert. Abgesehen von den dargestellten Handlungsperspektiven gilt es, ein gemeinsames Verständnis für die gegenseitigen Erwartungen von Lehrenden und Lernenden zu schaffen, indem ein Austausch über das jeweilige Rollenverständnis der Interaktionspartner angeboten wird, denn der Erfolg von kollaborativen Lernprozessen wird maßgeblich von den Erwartungen und Verhaltensweisen der handelnden Akteure bestimmt.
Literatur AKAD Hochschule Stuttgart. (2016). Selbstbericht der AKAD Hochschule Stuttgart im Rahmen des Reakkreditierungsverfahrens durch den Wissenschaftsrat, Stuttgart. AKAD Hochschule Stuttgart. (2019). Jährlicher Statusbericht zum 31.12.2018 zum Gleichstellungskonzept, November 2019, Stuttgart. Alonso, G., Blumentritt, M., Olderog, T., & Schwesig, R. (2017). Strategien für den Lernerfolg berufstätiger Studierender. Empirische Analysen zum Lernverhalten. Wiesbaden: Springer. Blumentritt, M., Markgraf, D., Olderog, T., & Schwinger, D. (2019). Digitale Transformation des Studiums: Eine empirische Erhebung zu den Erwartungen der Studierenden einer privaten Hochschule. In R. A. Fürst (Hrsg.), Gestaltung und Management der digitalen Transformation – Ökonomische, kulturelle, gesellschaftliche und technologische Perspektiven (S. 179–203). Wiesbaden: Springer. Hillebrecht, L. (2019). Studienerfolg von berufsbegleitend Studierenden. Entwicklung und Validierung eines Erklärungsmodells. Wiesbaden: Springer. Kirchherr, J., Klier, J., Lehmann-Brauns, C., & Winde, M. (2018). Future Skills: Welche Kompetenzen in Deutschland fehlen. Diskussionspapier 1. Stifterverband und Mc Kinsey. https://www.future-skills.net/analysen/future-skills-welche-kompetenzen-indeutschland-fehlen. Zugegriffen: 2. Dez. 2019. Meyer-Guckel, V., Klier, J., Kirchherr, J., Winde, M. (2019). Future Skills: Strategische Potentiale für Hochschulen. Diskussionspapier 3. Stifterverband und Mc Kinsey. https://www.future-skills.net/analysen/strategische-potenziale-fuer-hochschulen. Zugegriffen: 2. Dez. 2019. Spexard, A., & Banscherus, U. (2018). Lebenslanges Lernen im europäischen Hochschulraum. Eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Deutschland. In N. v. Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der BolognaReform – Erfolge und ungewollte Nebenfolgen aus interdisziplinärer Perspektive (S. 33–48). Wiesbaden: Springer.
20 Lernpartnerschaften – Eine vergleichende Erhebung des ...
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Prof. Dr. Marianne Blumentritt ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Unternehmensführung und International Management an der AKAD University Stuttgart. Nach ihrer Promotion zum Thema Imagepolitik gesetzlicher Krankenversicherungen an der Universität zu Köln (1993) übernahm sie die Geschäftsleitung eines mittelständischen Unternehmens. Sie wirkte als Lehrbeauftragte bei mehreren Instituten und Weiterbildungsträgern und verfügt über eine langjährige Lehrerfahrung in den Bereichen marktorientierte Unternehmensführung, internationales Management und Marketing. Gemeinsam mit Prof. Dr. Schwinger beschäftigt sie sich mit Betreuungs- und Motivationsansätzen Studierender im berufsbegleitenden Onlinestudium. Außerdem forscht sie im Bereich Lernerfolgsstrategien. Neben ihrer Lehrtätigkeit an der Hochschule ist sie als Unternehmensberaterin tätig. Sie berät Mittelstandsunternehmen und Non-Profit-Organisationen in den Themenfeldern Unternehmensführung, Marketing, Internationalisierung und Weiterbildung. Prof. Dr. Doreen Schwinger hat an der AKAD University die Professur für allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Unternehmensführung und Logistik inne. Nach dem Studium und ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Merseburg übernahm sie die Geschäftsführung in einem traditionsreichen mittelständischen Unternehmen. Zeitgleich promovierte sie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Neben der Betreuung vor allem materialwirtschaftlicher und logistischer Module und Themenstellungen an der AKAD University begleitet sie das Amt der Gleichstellungsbeauftragten und befasst sie sich gemeinsam mit Prof. Dr. Blumentritt intensiv mit Betreuungs- und Motivationsansätzen Studierender im berufsbegleitenden Onlinestudium. Prof. Dr. Daniel Markgraf ist Prorektor für Forschung und Digitalisierung, Direktor des Instituts IDEA – Institute for Digital Expertise and Assessment – an der AKAD University und hat dort darüber hinaus die Professur für BWL mit den Schwerpunkten Marketing, Gründungs- und Innovationsmanagement inne. Neben allen Bereichen des Marketings und der Unternehmensgründung interessiert er sich vor allem für die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und deren Einfluss auf Innovationen, Geschäftsmodelle und Menschen. Er ist darüber hinaus als Berater, Redner und Autor tätig und sitzt dem Aufsichtsrat der foundervision AG vor.
Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz in der Hochschulbildung – Ausgewählte Ergebnisse eines Systematic Review
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Olaf Zawacki-Richter, Victoria Marin, Melissa Bond und Franziska Gouverneur Inhaltsverzeichnis 21.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 KI in der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Methodik des Systematic Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.4 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
502 504 505 506
Der vorliegende Beitrag fasst Ergebnisse eines Systematic Reviews zusammen, das im International Journal of Educational Technology in Higher Education unter der Lizenz CC-BY veröffentlicht wurde: https://doi.org/10.1186/s41239-019-0171-0
O. Zawacki-Richter (*) Universität Oldenburg, Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Marin Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Bond Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Gouverneur Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_21
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O. Zawacki-Richter et al.
21.5 Anwendungsfelder von KI in der Hochschulbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5.1 Profiling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5.2 Intelligente Tutorensysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5.3 Automatische Prüfungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.5.4 Adaptive Systeme und Personalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.6 Ethische Aspekte und Risiken der KI-Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.7 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
507 508 509 510 511 512 513 514
Zusammenfassung
Bereits seit über einem halben Jahrhundert wird zur Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) geforscht und entwickelt. Durch die weltweite Vernetzung und Verfügbarkeit von Daten („big data“) und eine entsprechende Rechenkapazität der Computer sind heute Anwendungen und Methoden möglich geworden, die in den letzten Jahren verstärkt auch im Kontext des Lernens und Lehrens an Hochschulen diskutiert werden. Auf der Grundlage eines Systematic Reviews mit 146 inkludierten Studien wird in dem Beitrag ein Überblick über aktuelle Entwicklungen und potenzielle Anwendungsbereiche von AIEd (Artificial Intelligence in Education) gegeben. Hierbei wird auch eine kritische Perspektive zu den hiermit verbundenen ethischen und rechtlichen Herausforderungen eingenommen.
21.1 Einführung Hört man auf die verschiedenen Berichte über Künstliche Intelligenz (KI), so scheinen die Einsatzmöglichkeiten unbegrenzt zu sein, in Wirtschaft und Industrie, in der Kultur und auch in der Bildung. Im Horizon Report (2019) werden KI-Anwendungen als wesentlicher bildungstechnologischer Trend in der Hochschulbildung beschrieben (Educause 2019). Contact North, eine kanadische Non-Profit-Organisation für Online Distance Learning stellt fest: „There is little doubt that the [AI] technology is inexorably linked to the future of higher education“ (Contact North 2018, S. 5). Internationale Hochschulorganisationen investieren kräftig in die Erforschung und Entwicklung von KI. So hat zum Beispiel die Technische Universität Eindhoven in den Niederlanden kürzlich bekannt
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503
geben, 50 neue Professuren in einem Artificial Intelligence Systems Institute einzurichten1. KI-Anwendungen in der Bildung sind allerdings keineswegs ein neues Phänomen. So wurde bereits 1997 die International Artificial Intelligence in Education Society gegründet, die das International Journal of AI in Education (IJAIED) herausgibt. Allerdings sind diese Arbeiten in der Breite der an der Hochschulbildung beteiligten Akteure bislang kaum bekannt, wie auch Hinojo-Lucena et al. (2019) feststellen: „This technology [AI] is already being introduced in the field of higher education, although many teachers are unaware of its scope and, above all, of what it consists of“ (S. 1). Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Über ein Systematic Review (vgl. Gough et al. 2017; Zawacki-Richter et al. 2020) sollen Anwendungsfelder Künstlicher Intelligenz in der Hochschulbildung exploriert werden. Insbesondere werden die folgenden Fragen untersucht: • Wie haben sich wissenschaftliche Publikationen über KI in der Hochschulbildung über die Zeit entwickelt? Aus welchen Ländern und Fächern stammen die Veröffentlichungen? • Welche Anwendungsfelder für KI in der Hochschulbildung werden in den Publikationen beschrieben? • Wie werden die damit verbundenen Möglichkeiten, Risiken und ethischen Implikationen reflektiert? Das Feld der KI stammt aus der Informatik und den Ingenieurswissenschaften, wird aber auch stark von anderen Fächern beeinflusst, z. B. den Kognitionswissenschaften, der Philosophie oder den Wirtschaftswissenschaften. Aufgrund dieser Interdisziplinarität herrscht wenig Einigkeit über eine gemeinsame Definition von KI und schon gar nicht im Hinblick auf KI-Anwendungen in der Bildung. Bevor wir auf die oben genannten Fragen zurückkommen, gilt es zunächst, ein für diesen Beitrag geltendes Verständnis herzustellen.
1https://www.tue.nl/en/news/news-overview/11-07-2019-tue-announces-eaisi-new-institute-
for-intelligentmachines/ (Zugriff am 16.12.2019).
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21.2 KI in der Bildung Als Vater der KI kann John McCarthy gelten, der in den 1950er-Jahren einen ersten Workshop über KI in den USA organisiert hatte. In der Beschreibung des Workshops nutze er im Jahr 1956 zum ersten Mal den Begriff der KI (engl. AI, Artificial Intelligence): The study [of artificial intelligence] is to proceed on the basis of the conjecture that every aspect of learning or any other feature of intelligence can in principle be so precisely described that a machine can be made to simulate it. An attempt will be made to find how to make machines use language, form abstractions and concepts, solve kinds of problems now reserved for humans, and improve themselves. (Russel & Norvig 2010, S. 17)
KI steht nicht für eine einzelne Technologie, sondern ist ein Oberbegriff für eine ganze Bandbreite von Technologien und Methoden, z. B. Machine Learning, Deep Learning, Spracherkennung, Data Mining, künstliche neuronale Netze oder Algorithmen. KI und Machine Learning werden oft synonym verwendet. Machine Learning ist eine Methode der KI für eine automatische Klassifikation (Profiling), die auf einem Trainingsdatensatz basieren (supervised Machine Learning) oder ganz eigenständig Muster in Daten erkennen (unsupervised Machine Learning). Ansätze des Machine Learning können zum Beispiel genutzt werden, um vorherzusagen, ob ein Teilnehmer einen Kurs abbrechen wird (Learning Analytics) oder zu einem Studiengang zugelassen wird. Deep Learning ist wiederum eine Methode des Machine Learning, die auf künstlichen neuronalen Netzen basiert und in den letzten Jahren Bekanntheit erlangt hat, weil auf solchen Algorithmen zum Beispiel Alpha-Go basiert – das Programm von Google DeepMind, das im März 2016 den weltbesten Go-Spieler Lee Sedol geschlagen hatte. Abb. 21.1 veranschaulicht die Zusammenhänge zwischen KI, Machine Learning und Deep Learning im Zeitverlauf. In einem aktuellen Bericht der Nesta Foundation unterscheiden Baker und Smith (2019) KI-Anwendungen in der Bildung wie folgt: Es gibt Anwendungen, die an die Lernenden gerichtet sind (learner-facing, z. B. ein Intelligent Tutoring System), Tools für die Lehrenden (teacher-facing, z. B. ein Automated Essay Scoring System) und Anwendungen, die der Bildungsinstitution Informationen liefern (system-facing, z. B. ein hochschulweites Monitoring System über das Studienabbruchsverhalten).
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505
Abb. 21.1 KI–Machine Learning–Deep Learning (Copeland 2016)
Diese unterschiedlichen Perspektiven nehmen wir zunächst als eine Möglichkeit, die unterschiedlichen KI-Anwendungen und Tools einzuordnen. Weiterhin beziehen wir uns im Folgenden auf den Student Life Cycle (vgl. Reid 1995), der die verschiedenen akademischen und administrativen Supportangebote vom Zugang bis zum Abschluss beschreibt.
21.3 Methodik des Systematic Review Bei einem Systematic Review handelt es sich um eine systematische Literaturanalyse, bei der in einem klar definierten und dokumentierten Vorgehen Literatur im Hinblick auf eine Reviewfrage ausgewertet und synthetisiert wird. Der Vorteil im Vergleich zu einem normalen Literaturreview liegt in der Transparenz und Reproduzierbarkeit des Prozesses. Die gesamte Suchstrategie für den vorliegenden Beitrag ist in Zawacki-Richter et al. (2019) detailliert dargestellt. Hier sollen nur die Grundzüge des Vorgehens kurz erläutert werden: Ende 2018 wurden die Literaturdatenbanken EBSCO Education Source, Web of Science und Scopus durchsucht. Hierbei wurden 2656 Einträge für den Zeitraum von 2007 bis 2018 identifiziert (empirische Primärforschung, veröffentlicht auf Englisch oder Spanisch). Nach Entfernung von Duplikaten blieben 1549 Aufsätze, die in einen Team von drei Ratern auf der
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Abb. 21.2 PRISMA-Diagramm nach Liberati et al. (2009)
Grundlage der Titel und Abstracts im Hinblick auf Ein- und Ausschlusskriterien kodiert wurden. Nach diesem Screening verblieben 332 Aufsätze, deren Volltexte durchgesehen wurden. Schließlich verblieben 146 Texte für die weitere Auswertung und Synthese (Abb. 21.2).
21.4 Ergebnisse Entwicklung der Publikationen zu KI in der Hochschulbildung Die Anzahl der inkludierten Veröffentlichungen hat über die Jahre stetig zugenommen: von sechs in 2007 bis auf 23 in 2018. Die Studien wurden in insgesamt 104 verschiedenen Journalen veröffentlicht, die meisten im International Journal of Artificial Intelligence in Education (n = 11), gefolgt von Computers & Education (n = 8) und dem International Journal of Emerging Technologies in Learning (n = 5). Weitere zentrale Zeitschriften sind Dicision Support Systems,
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507
Tab. 21.1 Verteilung der inkludierten Aufsätze nach Ländern Rang
Land
n
Kum. %
1
USA
43
29
2
China
11
37
3
Taiwan
10
44
4
Türkei
9
50
5
UK
7
55
6
Rang 9 10
Land
n
Kum. %
Malaysia
4
75
Iran
3
77
Mexiko
3
79
Argentinien
2
80
Kroatien
2
82
Indien
6
59
Ecuador
2
83
Spanien
6
63
Deutschland
2
84
7
Canada
5
66
Indonesien
2
86
8
Australien
4
69
Indonesien
2
87
Griechenland
4
72
Singapur
19
100
Expert Systems with Applications, IEEE Transactions on Learning Technologies und das International Journal of Engineering and Technology (n = 3). Für eine Analyse der geografischen Verteilung wurde das Herkunftsland der Erstautoren berücksichtigt (n = 38 Länder). Tab. 21.1 zeigt, dass die Hälfte der inkludierten Arbeiten aus nur vier Ländern stammen: USA, China, Taiwan und der Türkei. Deutschland liegt mit zwei Veröffentlichungen auf dem zehnten Rang. Im Hinblick auf den fachlichen Hintergrund der Erstautoren ist bemerkenswert, dass lediglich 13 Aufsätze (8,9 %) aus pädagogischen bzw. bildungswissenschaftlichen Instituten oder Fakultäten stammen. Das Feld wird dominiert von Wissenschaftlern aus der Informatik (n = 61) und den MINT-Fächern (n = 29).
21.5 Anwendungsfelder von KI in der Hochschulbildung Wie oben erwähnt, nutzten wir das Konzept des Student Life Cycle als ein Rahmenmodell, um die verschiedenen KI-basierten Supportangebote vom Zugang bis zum Abschluss zu beschreiben. Dabei wurden 92 Studien (63,0 %) den institutionellen und administrativen Dienstleistungen zugeordnet (z. B. Zulassungsverfahren, Studienberatung, Bibliotheksdienste) und 48 Studien (32,8 %) dem akademischen Support (z. B. Tutorien, Prüfungen, Feedback); sechs Studien adressierten beide Ebenen (4,1 %).
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Tab. 21.2 KI-Anwendungen in den Studien (N = 146, Mehrfachnennungen möglich) KI Anwendungsfeld
n
Profiling
58
Zulassungsentscheidungen und Kursplanung; Studienabbruch, Studierendenmodelle und Studienleistungen Intelligente Tutorensysteme
29
Auswahl und Präsentation von Kursinhalten; automatisches Feedback; Unterstützung von Kollaboration; Tools für Lehrende Automatische Prüfungssysteme
36
Automatische Benotung; Feedback; Evaluation von Lernfortschritt und Beteiligung; Lehrevaluation Adaptive Systeme und Personalisierung
27
Auswahl und Präsentation von Kursinhalten; Empfehlung personalisierter Inhalte; Support für Lehrende; Monitoring der Lernenden; Repräsentation von Inhalten und Curricula Summe
150
Die Kodierung der 146 Studien nach den Anwendungsfeldern von KI ergab vier Bereiche: a) Profiling, b) intelligente Tutorensysteme, c) Prüfungen und Evaluation und d) adaptive Systeme und Personalisierung, denen wiederum 17 Unterbereiche zugeordnet wurden (Tab. 21.2).
21.5.1 Profiling Wie aus Tab. 21.2 hervorgeht, beschäftigen sich die meisten Studien mit dem Profiling bzw. der Modellierung von Studierendendaten, um Vorhersagen zu treffen, z. B. über die Wahrscheinlichkeit eines Studienabbruchs oder die Zulassung zu einem Studiengang. Hierfür werden häufig mehrere MachineLearning-Methoden bzw. Algorithmen eingesetzt und deren Vorhersagegenauigkeit miteinander verglichen. Die Studien zeigen, dass die Genauigkeit der Machine-Learning-Ansätze durchgängig höher im Vergleich zu traditionellen statistischen Methoden ist (z. B. der logistischen Regression). Das Ziel einer Reihe von Studien ist es, Frühwarnsysteme zur Verhinderung des Studienabbruchs in den ersten Semestern zu entwickeln (z. B. Howard et al. 2018; Hoffait und Schyns 2017). Delen (2011) analysierte Daten zum demografischen und finanziellen Hintergrund sowie schulischen und akademischen
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Leistungen von 25.224 Erstsemestern an einer amerikanischen Universität über einen Zeitraum von acht Jahren. Dabei verwendete er künstliche neurale Netze (ANN), Decision Trees (DT) und logistische Regression. Das ANN-Modell konnte mit einer Genauigkeit von 81 % Studienabbruch vorhersagen. Wichtigste Prädiktoren für den Studienabbruch waren die vergangenen und aktuellen akademischen Leistungen und ob die Studierenden finanzielle Unterstützung erhielten oder nicht. Eine weitere Gruppe von Studien versucht, Studienerfolg auf der Ebene einzelner Kurse oder Module vorherzusagen (Learning Analytics). So zum Beispiel Hussain et al. (2018), die auf der Grundlage des Verhaltens der Studierenden auf der Lernplattform der Open University in Großbritannien, deren Beteiligung und Engagement analysiert haben, um auch hier im Sinne eines Frühwarnsystems die Lehrenden zu informieren, sodass diese proaktiv und frühzeitig Hilfe anbieten können. Dies ist insbesondere für Fernstudieninstitutionen mit sehr vielen Studierenden pro Kurs eine interessante Option. Elegant ist auch die Untersuchung von Blikstein et al. (2014), die auf der Grundlage von über 150.000 von Studierenden in Softwareentwicklungsprojekten erstellten Programmiercodes analysiert haben, wie Studierende das Programmieren lernen. Anhand dieser Muster können sie mit hoher Zuverlässigkeit den Studienerfolg in Programmierkursen vorhersagen. Schließlich werden auch Machine-Learning-Anwendungen genutzt, um Studienbewerber in Zulassungsverfahren zu klassifizieren. Acikkar und Akay (2009) haben die Zulassungen zu Sportstudiengängen an einer Hochschule in der Türkei auf der Grundlage von Schulnoten, der Ergebnisse einer sportlichen Eignungsprüfung sowie der Ergebnisse eines nationalen Hochschulzugangstests untersucht. Mittels der Support-Vector-Machine(SVM)-Methode haben sie die Studierenden mit einer Genauigkeit von über 97 % korrekt klassifiziert. SVM wurde auch von Andris et al. (2013) angewandt, um räumliche Herkunftsmuster zu erkennen, die die Zulassung von College-Studierenden aus bestimmten geografischen Regionen und damit verbundener soziodemografischer Hintergründe in den USA begünstigen können.
21.5.2 Intelligente Tutorensysteme Zawacki-Richter et al. (2019) definieren intelligente Tutorensysteme wie folgt: „Intelligent tutoring systems (ITS) can be used to simulate one-to-one personal tutoring. Based on learner models, algorithms and neural networks, they can make decisions about the learning path of an individual student and the content
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O. Zawacki-Richter et al.
to select, provide cognitive scaffolding and help, to engage the student in dialogue“ (S. 4). Sie bieten ein großes Potenzial für Fernuniversitäten mit großen Studierendenzahlen, wo eine persönliche Eins-zu-eins-Betreuung kaum möglich ist. Huang und Chen (2016) beschreiben die verschiedenen Komponenten, aus denen ein ITS aufgebaut ist: das Student Model (z. B. mit Informationen über den Wissensstand, zum Lernstil und Lernverhalten), das Teacher Model (z. B. mit Informationen über Lehrmethoden, Lehrziele und Feedback), das Domain Model (z. B. mit Informationen über das Wissensgebiet und den Aufbau und die Struktur der Inhalte) und das Diagnosis Model (z. B. mit Informationen über Prüfungsformate, Lernergebnisse im Abgleich mit dem Domain Model). ITS werden genutzt, um Inhalte zu präsentieren sowie Hilfestellungen und Feedback zu geben. Beispiele stammen vermehrt aus der Informatik (z. B. Dobre 2014; Howard et al. 2017), aber auch aus der Psychologie (Weston-Sementelli et al. 2018) und den Wirtschaftswissenschaften (Jackson und Cossitt 2015). Auf der Grundlage des Verhaltens und der Performanz der Lernenden werden auch personalisiert Inhalte angeboten (Schiaffino et al. 2008). Calvo et al. (2011) stellen ein System vor, das die Zusammenarbeit der Lernenden beim gemeinsamen Schreiben unterstützt. Schließlich stellen ITS auch Informationen für die Lehrenden bereit (teacher-facing KI im Sinne von Baker und Smith, 2019). In der Studie von Casamayor et al. (2009) erstellt ein intelligenter Assistent automatisch erzeugte Berichte zur Beteiligung der Lernenden zusammen, auch über Konflikte in Onlinediskussionen, sodass die Lehrenden frühzeitig intervenieren können.
21.5.3 Automatische Prüfungssysteme In einer ganzen Reihe von Studien werden Machine-Learning-Methoden für automatische Prüfungssysteme eingesetzt. Die Untersuchungen zeigen, dass diese Systeme mit recht hoher Zuverlässigkeit und Effizienz arbeiten. Sie müssen hierfür jedoch zunächst trainiert bzw. kalibriert werden (supervised Machine Learning) und eignen sich daher in erster Linie für Kurse oder Programme mit großen Studierendenzahlen; so heben Barker (2011) und McNamara et al. (2015) das Potenzial von Automated Essay Scoring Systems (AES) für Large-ScaleAssessments hervor. Ein beeindruckendes Beispiel wird von Gierl et al. (2014) berichtet: 2014 nahmen in Kanada 5540 Studierende an einem Medizinertest mit Freitexteingaben teil (Clinical Decision Making Constructed-Response Items). 100 Rater brauchten vier Tage (ca. 3000 h), um die Tests zu bewerten. Gierl
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et al. (2014) nutzen eine Machine-Learning-Software, um den gleichen Test zu benoten. Ein Rater benötigte 3,5 h, um die Daten vorzubereiten. Bei einer Übereinstimmung von ca. 98 % bewertete dann das System die Tests innerhalb von zehn Sekunden. Machine-Learning-Algorithmen können auch für das Aufdecken von Plagiaten genutzt werden. Dies gelingt in einer Studie von Amigud et al. (2017) mit einer mittleren Genauigkeit von 93 %. Hierbei wurde die Wahrscheinlichkeit zur Übereinstimmung der Autorenschaft berechnet, indem Arbeiten von Studierenden mit zuvor von ihnen im Kurs erstellten Texten abgeglichen wurden.
21.5.4 Adaptive Systeme und Personalisierung In der Literatur liegt keine einheitliche Definition für sogenannte adaptive Systeme vor, was wahrscheinlich an den diversen Funktionen liegt, die diese Systeme ausführen können. Einige Begriffe bewegen sich im Kontext von ITS, deren Funktionen oft Teil eines größeren adaptiven Systems sind, z. B. intelligent agents (Ng et al. 2011). Allgemein verwendete Begriffe für adaptive Systeme sind intelligent e-learning system (Kose und Arslan 2016), adaptive web-based learning system (Lo et al. 2012) oder intelligent teaching system (Yuanyuan und Yajuan 2014). Adaptive Systeme integrieren verschiedene KI-Anwendungen in einer personalisierten Lernumgebung. Ein Beispiel für ein solches KI-basiertes Learning-Management-System, mit dem individuelle Lehrpfade angelegt werden können, ist Century (https://www.century.tech). Zum einen unterstützen die Systeme die Lernenden bei der Bearbeitung von Kursmaterialien mit Feedback, Hilfestellungen und der Auswahl von Inhalten, z. B. beim Sprachenlernen (Vlugter 2009), in der Informatik (Iglesias et al. 2009) oder Biologie (Chaudhri et al. 2013). Torres-Diaz et al. (2014) heben den Nutzen von adaptiven Empfehlungssystemen in MOOCs hervor, indem sie von personalized massification (S. 63) sprechen. Andererseits werden auch die Lehrenden bei der Konzeption und Durchführung ihrer Lehreinheiten unterstützt. Li (2007) argumentiert, dass Lehrende durch KI-Systeme von wiederkehrenden und zeitintensiven Aufgaben entlastet werden können (z. B. die Beantwortung einfacher Fragen durch einen Chatbot oder Benotung von Prüfungsarbeiten). Cobos et al. (2013) beschreiben ein System, das Lehrende auf der Grundlage von pedagogical patterns bei der Auswahl didaktischer Methoden und Strategien unterstützt.
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21.6 Ethische Aspekte und Risiken der KI-Anwendungen Die oben beschriebenen Anwendungen lösen bei Pädagogen und Bildungswissenschaftlern nicht nur positive didaktische Fantasien aus, sondern auch wohlbegründete Bedenken und Zurückhaltung. Mit der Einführung neuer Bildungstechnologien, die durchaus innovative methodische Möglichkeiten mit sich bringen, sollten jedoch immer auch damit verbundene Auswirkungen, Risiken und ethische Implikationen des technisch Machbaren kritisch hinterfragt werden. In China gibt es zum Beispiel bedenkliche Entwicklungen. In Klassenräumen werden Kameras für Intelligent-Classroom-Behavior-ManagementSysteme2 installiert, die über Gesichtserkennung die Emotionen und Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler erfassen und sowohl an die Lehrerinnen und Lehrer als auch die Eltern melden. Schülerinnen und Schüler tragen Geräte, die deren Hirnströme messen, um deren kognitive Leistungen zu überwachen. Was passiert mit den Kindern, wenn solcher Druck auf sie ausgeübt wird und sie denken, die Lehrerin könnte ihre Gedanken lesen? In Zeiten von Budgetkürzungen können Hochschulleitungen auf die Idee kommen, Intelligent-Tutoring-und Automated-Essay-Scoring-Systeme einzuführen. Welche Ängste werden auch bei Lehrenden ausgelöst, wenn Sie glauben, dass eine KI ihre Aufgaben schneller und effizienter übernehmen kann, auch wenn immer behauptet wird, die frei werdenden Kapazitäten könnten dann besser und intensiver für die fachliche und pädagogische Betreuung der Lernenden eingesetzt werden? KI-Systeme sind zudem extrem datenhungrig. Es müssen hierfür Unmengen sensibler, personenbezogener Daten von Lernenden und Lehrenden verarbeitet werden. Im Sinne einer Trusted Learning Analytics (Drachsler und Greller 2016) muss transparent gemacht und Einvernehmen darüber hergestellt werden, welche Daten zu welchem Zweck erhoben und welche Entscheidungen auf dieser Grundlage getroffen werden. Russel und Norvig (2010) erinnern uns in ihrem führenden Lehrbuch: „All AI researchers should be concerned with the ethical implications of their work“ (S. 1020). Leider müssen wir nach unserem Systematic Review von 146 KIStudien ausgerechnet für den Bildungsbereich feststellen, dass dieser Anspruch
2Wall
Street Journal: https://twitter.com/wsj/status/1177357178975457285?s=21
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trotz der oben skizzierten Punkte von den Autorinnen und Autoren nicht eingelöst wird. In gerade einmal zwei von den 146 Aufsätzen werden überhaupt ethische Aspekte von KI in der Bildung diskutiert. So spricht nur Li (2007) in einem über zehn Jahre alten Aufsatz den Datenschutz bei der Verwendung von intelligenten Tutorensystemen an: Privacy is also an important concern in applying agent-based personalised education. As discussed above, agents can autonomously learn many of students’ personal information, like learning style and learning capability. In fact, personal information is private. Many students do not want others to know their private information, such as learning styles and/or capabilities. Students might show concern over possible discrimination from instructors in reference to learning performance due to special learning needs. Therefore, the privacy issue must be resolved before applying agent-based personalised teaching and learning technologies. (S. 327)
21.7 Schlussfolgerungen Die massenhafte Verfügbarkeit digitaler Daten (Big Data) im Zusammenhang mit den enormen Rechenleistungen heutiger Computer verhilft den zum Teil Jahrzehnte alten Methoden und Algorithmen Künstlicher Intelligenz zu Anwendungen (vielleicht zu einem Durchbruch), die uns auch im Bereich der Bildungstechnologie und Mediendidaktik noch lange beschäftigen wird. Die vielfältigen Möglichkeiten von KI in der Bildung wurden im vorliegenden Beitrag über ein Systematic Review wissenschaftlicher Veröffentlichungen aufgezeigt. Wie schon immer bei bildungstechnologischen Innovationen ist es aber wichtig zu betonen, dass das Primat der Pädagogik und nicht der Technik gelten sollte (Zierer 2018). Es sind die pädagogischen, didaktischen, ethischen, sozialen und auch ökonomischen Dimensionen von KI in der Bildung, über die wir uns Gedanken machen müssen, wie auch Selwyn (2016) schreibt: The danger, of course, lies in seeing data and coding as an absolute rather than relative source of guidance and support. Education is far too complex to be reduced solely to data analysis and algorithms. As with digital technologies in general, digital data do not offer a neat technical fix to education dilemmas – no matter how compelling the output might be. (S. 106)
Eine solche bildungstheoretische Reflexion ist in der fachwissenschaftlichen Literatur zu KI in der Bildung, die bisher stark von Informatikern und Mathematikern geprägt wird, so gut wie nicht vorhanden. Es ist zu hoffen, dass
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sich Bildungs- und Sozialwissenschaftler bald in diese Diskussion einschalten, wie dies Neil Selwyn in seinem neuen Buch Should Robots Replace Teachers? (Selwyn 2019) tut. Es wird interessant sein zu schauen, wie sich die Forschungslandschaft zu KI in der Bildung in fünf Jahren weiterentwickelt hat. Genau für eine solche Replikation bietet sich die Methodik des Systematic Review in besonderer Weise an.
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Prof. Dr. Olaf Zawacki-Richter ist Professor für Wissenstransfer und Lernen mit neuen Technologien an der Fakultät für Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg. Er ist Direktor des Center for Open Education Research (COER) und des Center für Lebenslanges Lernen (C3L).
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Dr. Victoria I. Marín ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungsund Sozialwissenschaften/COER der Universität Oldenburg. Dr. Melissa Bond war wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fakultät für Bildungsund Sozialwissenschaften / COER der Universität Oldenburg. Seit März 2020 ist sie am Institute of Education des University College London beschäftigt. Franziska Gouverneur ist Masterstudentin im Studiengang Bildungs- und Erziehungswissenschaften der Fakultät für Erziehungs- und Sozialwissenschaften/COER an der Universität Oldenburg.
Learning Analytics im Hochschulkontext – Potenziale aus Sicht von Stakeholdern, Datenschutz und Handlungsempfehlungen
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Dirk Ifenthaler Inhaltsverzeichnis 22.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Learning Analytics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.1 Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.2 Diversifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.3 Potenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.4 Datenschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3 Handlungsempfehlungen für die Implementation von Learning Analytics. . . . . . 22.4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.5 Förderhinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Seit nahezu einer Dekade werden Learning Analytics im Hochschulkontext als Ansatz zum Verständnis sowie zur Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen und Lernumgebungen verwendet. Der Beitrag skizziert zentrale Entwicklungslinien von Learning Analytics und geht auf deren Potenziale sowie damit verbundene Fragen zum Datenschutz ein. Basierend auf einer systematischen
D. Ifenthaler (*) Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_22
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Übersichtsarbeit und Stakeholderinterviews werden Handlungsempfehlungen für die Implementation von Learning Analytics an Hochschulen vorgestellt. Der Ausblick diskutiert aktuelle Forschungsdesiderata.
22.1 Einleitung Zahlreiche Wirtschaftsbereiche wie zum Beispiel Banken, Gesundheit, Telekommunikation, Unterhaltung oder Versicherungen nutzen kunden- und nutzergenerierte Informationen für datenevidente Entscheidungen und um Wettbewerbsvorteile zu erzielen (Kiron et al. 2012). Aus Analytics-Anwendungen resultieren optimierte Flugpläne oder individualisierte Gesundheitspläne, wobei die verfügbaren großen Datenmengen (Big Data) ganze Branchen transformieren und Verbrauchverhalten nachhaltig verändern. Ein starker Gegensatz hinsichtlich Big Data und Analytics ist im Bildungsbereich zu erkennen. Bildungsinstitutionen waren bislang langsam, oder bestenfalls zögerlich, Bildungsdaten für die Belange der Lernenden, Lehrenden und der Organisation zu nutzen. Diese Tatsache ist verwunderlich, zumal umfassende Daten von Lernenden und Lehrenden in Bildungsinstitutionen vorgehalten werden, allen voraus Nutzerdaten aus Lernplattformen. Längere Zeit unbeachtet werden seit nahezu einer Dekade Data-AnalyticsAnsätze im Hochschulkontext als Werkzeuge zum Verständnis sowie zur Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen und Lernumgebungen genutzt. An Hochschulen in Ländern wie Australien, Großbritannien und USA dienen Learning Analytics zur Vorhersage von Studienabbrechern (Sclater und Mullan 2017). Folglich verwenden Learning Analytics statische Daten von Lernenden und dynamische, in Lernumgebungen gesammelte, Daten über Aktivitäten (und den Kontext) der Lernenden, um diese in nahezu Echtzeit zu analysieren und zu visualisieren, mit dem Ziel der Modellierung, Unterstützung und Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen und Lernumgebungen (Ifenthaler 2015). Die Zunahme der internationalen Bedeutung von Learning Analytics in Forschung, Studium und Lehre hat zuletzt auch das Interesse an deutschen Hochschulen geweckt (Ifenthaler und Schumacher, 2016a). Zunächst sollen zentrale Entwicklungslinien zu Learning Analytics skizziert werden sowie auf deren Diversifikation und Potenziale eingegangen werden. Im Anschluss werden Handlungsempfehlungen für die Implementation von Learning Analytics im Kontext der Hochschule vorgestellt. Ein Ausblick zeigt mögliche Forschungsfelder um Learning Analytics auf.
22 Learning Analytics im Hochschulkontext – Potenziale aus Sicht …
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22.2 Learning Analytics 22.2.1 Entwicklungslinien Mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters im 17. Jahrhundert, gekennzeichnet durch die Entwicklung des Binärsystems durch Gottfried Wilhelm Leibniz, nehmen digital verfügbare Daten und computerbasierte Prozesse eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft ein. Pressey (1926) erkannte das Potenzial der automatisierten Analyse von Lernaufgaben und entwickelte eine Lehrmaschine zur Überprüfung von einfachen Testitems. Mit der Erfindung des Z3 durch Konrad Zuse im Jahr 1941 startet das Computerzeitalter (Rojas 1998). Somit war der Weg für das erste adaptive Lehrsystem (Self-Adaptive Keyboard Instructor; SAKI) bereitet (Pask 1982). SAKI konnte die Aufgabenschwierigkeit der Lerninhalte an den Lernenden anpassen. Die rasche technologische Weiterentwicklung führte zu intelligenten oder adaptiven Lernsystemen (u. a. adaptive learning systems; intelligent tutoring systems), welche aus Daten individueller Lernenden (z. B. Ziele, Präferenzen, Vorwissen) ein Lernendenmodell generierten und damit die Lernumgebung an die Bedürfnisse des Lernenden adaptierten (Brusilovsky 1996). Die Prinzipien adaptiver Lernsysteme lassen sich in Learning-AnalyticsAnwendungen wiederfinden. Die seit Anfang des 21. Jahrhunderts verfügbaren Lernplattformen (Learning Management System; LMS) bilden eine weitere Grundlage digital unterstützter Lernumgebungen. Die Daten über die Aktivitäten der Lernenden innerhalb der Learning-Management-Systeme bieten eine weitere Grundlage für Learning Analytics. Neben den technologischen Fortschritten sind die im 20. Jahrhundert entstandenen pädagogischen Ansätze und die umfangreichen empirischen Befunde der Lehr-Lern-Forschung als Voraussetzung von Learning Analytics zu sehen. Unter anderem sind die Erkenntnisse zu tutoriellem Lernen (Bloom 1984) und selbstreguliertem Lernen (Zimmerman 2002) sowie das Wissen über die Gestaltung von digital unterstützen Lerngelegenheiten (i.S.v. Instruktionsdesigns, Learning Design) (Branch 2009; Ifenthaler 2017c) und Anforderungen an soziale Interaktionen in Onlinelernumgebungen (White et al. 2011) von zentraler Bedeutung. Letztlich lassen sich die Erkenntnisse um Data Mining und Data Analytics als weitere Entwicklungslinie für Learning Analytics identifizieren. Educational Data Mining bereitet aus der Menge aller verfügbaren Daten relevante Informationen für den Bildungsbereich auf (Peña-Ayala 2014). Aus methodologischer Sicht gehen die Datenanalysen um Learning Analytics weit über die Standardmethoden der Lehr-Lern-Forschung (z. B. Regressionsanalyse, Faktorenanalyse, Cluster-
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analyse, usw.) hinaus. Dabei kommen Variationen von Regressionsanalysen (u. a. logistische Regression, Hierarchisch-Lineare-Regression) zum Einsatz (da Silva et al. 2013). Vor dem Hintergrund unstrukturierter Daten und großer Datenmengen werden jedoch zunehmend Machine-Learning-Ansätze wie zum Beispiel Support Vector Machines (Christmann und Steinwart 2008), Random Forest (Breiman 2001) und Decision Tree (Quinlan 1986) verwendet. Zusätzlich werden Netzwerkanalysen für die Identifikation sozialer Interaktionen (Gašević et al. 2019) oder zur Optimierung curricularer Planungen (Ifenthaler et al. 2018a, b) herangezogen. Auch semantische Analysen (Natural Language Processing; NLP) und damit verbundenes informatives Feedback in Echtzeit finden zunehmend mehr Anwendung im Kontext von Learning Analytics (Gurevych & Kim 2013; Ifenthaler 2014a). Zusammenfassend können Learning Analytics als soziotechnologische Ansätze definiert werden, mittels derer Bildungsdaten zum Verständnis und zur Optimierung von Lern-Lehr-Prozessen und Lernumgebungen analysiert werden.
22.2.2 Diversifikation Die Anfänge von Learning Analytics begrenzten sich auf Logdaten oder Webstatistiken, um Aussagen über Nutzerverhalten im Kontext von Lernumgebungen zu machen (Veenman 2013). Mit der zunehmenden Auseinandersetzung von Bildungsdaten wurden schließlich Potenziale für den weiteren Bildungskontext, zum Beispiel Identifikation von potenziellen Studienabbrechern, erkannt (Sclater et al. 2016). Mittlerweile kann eine umfassende Diversifikation der ursprünglichen Learning-Analytics-Ansätze dokumentiert werden. Im Folgenden werden einige Strömungen reflektiert. Social Learning Analytics verwenden Daten von sozialen Interaktionen, welche zum Beispiel in Diskussionsforen oder sozialen Netzwerken anfallen (Dawson et al. 2011). Die Analysen geben Einblicke in die Teilhabe von Studierenden in kollaborativen Lernprozessen (Ifenthaler 2014b) und Visualisieren die Netzwerkstruktur und deren Dynamiken im Hinblick auf Lernergebnisse (Kerrigan et al. 2019) oder lassen Grenzen zwischen formalen und informellen Lerngelegenheiten erkennen (Joksimović et al. 2019). Teaching Analytics fokussieren die Unterstützung von Lehrenden (Prieto et al. 2016). Mittels Daten von Lernenden und Lernumgebungen erhalten die Lehrenden einen umfassenden Einblick in individuelle Lernprozesse und können ad hoc mittels pädagogischer Interventionen reagieren.
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School Analytics werden als Mehrebenenansatz in einer Bildungsorganisation verstanden, indem Daten aus der Mikro-, Meso-, und Makroebene für systematische und datenbasierte Entscheidungen verwendet werden. Als primäre Stakeholder werden Hochschulleitungen und andere Entscheidungsträger in Bildungsorganisationen genannt (Sergis und Sampson 2016). Diese Zielsetzung verfolgen auch Academic Analytics (Long und Siemens 2011). Curriculum Analytics und Learning Analytics Design beziehen sich auf Fragen der Konsistenz und Qualität von Studienprogrammen sowie einzelner Kurse (Ifenthaler 2017b; Lockyer et al. 2013). Die Analysen werden zur Prüfung von didaktisch intendierter Sequenzierung der Lerninhalte, zur Identifikation von redundanten Lernmaterialien oder Prüfung von Eingangsvoraussetzungen verwendet. Es werden zum Beispiel mittels Netzwerkanalysen intendierte Lernpfade mit tatsächlichen Lernpfaden verglichen (Ifenthaler et al. 2018a, b). Measurement oder Assessment Analytics betrachten die Diagnose und Bewertung von Lernprozessen und -ergebnissen (Ifenthaler et al. 2018a, b). Neben der summativen Erfassung von Lernfortschritten steht die formative Analyse von Lernprozessen im Zentrum des Anwendungskontexts. Die Herausforderung von Assessment Analytics sind an individuelle Bedürfnisse der Lernenden angepasste unmittelbare (in nahezu Echtzeit) und informative Rückmeldungen (Feedback) bzw. Hilfestellungen (Scaffolds) (Webb und Ifenthaler 2018; Whitelock und Bektik 2018). Multimodal Learning Analytics fokussiert unterschiedliche Datenquellen für eine umfassendere Analyse von Lernprozessen. Dabei werden neben Bewegungsdaten (Logfileanalysen) von Lernplattformen auch Daten zur individuellen Disposition von Lernenden (z. B. Emotion, Motivation) sowie Überzeugungen und Interessen in umfassende Analysen integriert (Blikstein und Worsley 2016). Darüber hinaus werden sensorbasierte Daten (z. B. Hautwiderstand, Elektroenzephalogramm EEG, Herzfrequenz EKG, Blutdruck, Atmung, Luftqualität etc.) oder Blickraten (Eye-Tracking) im Kontext von Lernprozessen gesammelt (Fortenbacher et al. 2017). Die sensorbasierten Learning-Analytics-Anwendungen werden auch als Learning Physiolytics definiert. Es ist unschwer erkennbar, dass die Diversifikation von Konstrukten um Learning Analytics eine begriffliche Unschärfe hervorruft. Eine holistische Definition von Learning Analytics (z. B. Ifenthaler 2015) beinhaltet die oben diskutierten Variationen und erlaubt dennoch die Ausrichtung der LearningAnalytics- Ansätze im jeweiligen Anwendungsfall zu spezifizieren.
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22.2.3 Potenziale Learning Analytics können für Lernende und Lehrende an Hochschulen vielfältige Potenziale entwickeln (Verbert et al. 2012), u. a. den Lernerfolg vorhersagen, relevante nächste Lernschritte und Lernmaterialien empfehlen, Reflexion und Bewusstsein über den Lernprozess fördern, soziales Lernen unterstützen, indem Lerntandems vorgeschlagen werden, unerwünschtes Lernverhalten und -schwierigkeiten identifizieren oder den aktuellen Gefühlszustand der Lernenden ausfindig machen. Obwohl Learning Analytics einen besonderen Fokus auf den Lern-LehrProzess und die Lernumgebung haben, bieten die gewonnenen Analyseergebnisse Potenziale für unterschiedliche Stakeholder von Bildungsorganisationen und darüber hinaus. Für einen strukturierten Überblick bietet sich eine Aufgliederung der Potenziale nach Zielgruppen (Governance, Institution, Instruktionsdesign, Lehrende, Lernende) sowie Perspektive (Summativ, Formativ, Prognose) an (Ifenthaler und Widanapathirana 2014). Governance Stakeholder umfassen politische Entscheidungsträger einzelner Bildungsorganisationen oder übergeordnete Organisationseinheiten wie zum Beispiel Ministerien, Verbände etc. • Summative Analysen ermöglichen institutionsübergreifende Vergleiche oder die Entwicklung von Qualitätsstandards und -prozessen. • Formative Analysen (in nahezu Echtzeit) erlauben Performanzanalysen oder die Möglichkeit, unmittelbar auf kritische Vorfälle zu reagieren. • Prognosen dienen der institutionsübergreifenden Planung und der Entwicklung von Unterstützungsprogrammen. Stakeholder einer Institution schließen Departments- bzw. Abteilungsleitungen, Direktorien und Verantwortliche für Lehre und Studium einer Bildungsorganisation mit ein. • Summative Analysen helfen, die Ressourcenverteilung zu optimieren oder ermöglichen den Vergleich von Studienprogrammen über Fachbereiche hinweg. • Echtzeitanalysen zeigen Fluktuationen in einzelnen Studienprogrammen auf und unterstützen die Evaluation von verfügbaren Ressourcen. • Prognosen helfen der Optimierung von Pilotprojekten und der Vorhersage von Systemprozessen und Erfolgsindikatoren.
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Instruktionsdesign Stakeholder formieren die Gruppe der didaktischen Planung und Erstellung von Lernartefakten wie zum Beispiel Lernvideos, Texte oder Lernaufgaben (Assessments). • Summative Analysen ermöglichen die Ableitung pädagogischer Modelle und die Reflexion institutioneller Standards sowie die Verbesserung der Curriculumqualität. • Formative Analysen unterstützen bei der Sequenzierung von Lernangeboten, der Evaluation und Optimierung von Lernmaterialien sowie der Entwicklung von Hilfsmitteln. • Prognostische Analysen können Lernpräferenzen in einzelnen Kursen identifizieren, zukünftige Interventionen verschlagen und Anforderungen an Bildungswege offenlegen. Lehrende Stakeholder sind mit Lehrtätigkeiten betraut. Dazu gehören sowohl Dozenten als auch E-Tutoren. • Analysen nach Abschluss einer Lehreinheit (z. B. Semester) können zum Vergleich von Kohorten und Kursangeboten herangezogen werden. Die Reflexionen über die individuellen Lehrpraktiken und die Lehrqualität dienen der hochschuldidaktischen Weiterentwicklung der Lehrenden. • Analysen in Echtzeit dienen der Entwicklung von adaptiven Interventionen, der Steigerung der Interaktion mit den Lernenden und dem Verständnis der Lernerkohorte. • Prognosen können individuelle Lernentwicklungen vorhersagen und gefährdete Lernende identifizieren. Lernende Stakeholder sind Studierende in einem oder mehreren Kursen bzw. Studienprogrammen. • Summative Analysen unterstützen die Lernenden bei der Analyse der Lernergebnisse, der Zielsetzung und der Reflexion eigener Lerngewohnheiten. • Echtzeitanalysen bieten adaptive Lernhilfen an und vermitteln Lerntandems zu bestimmten Lerninhalten bzw. Lernaufgaben. Unmittelbares Feedback zum Lernstand (mittels Self-Assessments) oder bei der Erstellung von Essays (mittels Natural Language Processing) wird bei Bedarf bereitgestellt. • Mittels Prognosen werden Erfolgsquoten erhöht und Lernwege optimiert.
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Durch den Einsatz von Learning Analytics können umfangreichere Informationen des Lernprozesses einer Vielzahl von Lernenden berücksichtigt werden, als das ein Lehrender alleine oder eine Institutionseinheit in vergleichbarer Zeit umsetzen könnte. Somit können vielfältige Faktoren mit Lernerfolg oder -schwierigkeiten in Verbindung gebracht werden, zu denen keine Kausalität erwartet worden wäre (Lockyer et al. 2013). Auch für die Forschung ergeben sich durch den Einsatz von Learning Analytics neue Erkenntnisse über den Lernprozess, sodass Lernumgebungen weiter optimiert und Analyseverfahren stärker auf individuelle Bedürfnisse angepasst werden können (Ifenthaler et al. 2018a, b).
22.2.4 Datenschutz In der digital geprägten Gesellschaft sind Individuen bereit, persönliche Daten preiszugeben, ohne genau zu wissen, wer Zugriff auf die Daten hat, wie und in welchem Kontext die Daten verwendet werden oder wie der Besitz der eigenen Daten kontrollieren werden kann (Slade und Prinsloo 2013). Durch die Nutzung von Onlinesystemen (z. B. Lernplattformen) werden unbemerkt Daten generiert, was die Kontrolle über die eigenen Daten durch die individuellen Nutzer zusätzlich erschwert. Hinsichtlich des Eigentums persönlicher Daten gibt es landesspezifische Unterschiede, in den Vereinigten Staaten von Amerika gehören die Daten den Erfassenden, während in Europa die Daten dem Individuum gehören. Hochschulen verwenden seit jeher eine Vielzahl an Daten über Studierende, wie zum Beispiel soziodemografische Daten oder akademische Leistungen, als Grundlage für Ressourcenverteilung oder der (Weiter-)Entwicklung von Studiengängen. Mithilfe von Learning Analytics werden insbesondere Daten über a) Lernende (z. B. Vorwissen, akademische Leistungen), b) Aktivitäten in der Lernumgebung (z. B. Nutzerpfade, Downloadaktivitäten), c) curriculare Maßstäbe (z. B. Lernergebnisse, Vergleich mit anderen Leistungen) und d) Interaktionen mit Lernenden und Lehrenden (z. B. Aktivitäten in sozialen Netzwerken, Foren, Chats) analysiert. Learning-Analytics-Systeme greifen dabei auf Daten aus verschiedenen Kontexten bzw. Datenquellen zu, wie zum Beispiel der Studierenden-, Studiengangs- und Prüfungsverwaltung, der Lernumgebung und damit verbundene Evaluationsergebnisse oder Alumninetzwerke. Die Bereitschaft Studierender, Daten preiszugeben, kann in den jeweiligen Kontexten unterschiedlich sein. Entsprechend den Annahmen der kontextuellen Integritätstheorie sind Informationen, die in einem spezifischen Kontext preisegegeben wurden, nicht übertragbar auf einen anderen Kontext, ohne die Bedeutung zu beeinträchtigen oder die Privatsphäre zu verletzen (Ifenthaler und Schumacher 2016b).
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Landesspezifische Datenschutzrichtlinien sowie die Datenschutzgrundverordnung der Europäischen Union (EU-DSGVO) unterstreichen dabei die aktive Rolle der Studierenden in ihren Lern-Lehr-Prozessen, den temporären Charakter und die Unvollständigkeit von vorhandenen Daten aus dem Hochschulkontext sowie insbesondere die Transparenz hinsichtlich Nutzung, Analysen, Zweck, Zugriff, Kontrolle und Eigentumsverhältnissen der anfallenden Daten. Hochschulen müssen sich der Datenschutzthemen annehmen, die in Verbindung mit Learning Analytics stehen, wie Zugriffsrechte, Speicherdauer, Analysen und Schlussfolgerungen aus den Analysen (West et al. 2016a, b). Studienergebnisse weisen darauf hin (Howell et al. 2018; Ifenthaler und Schumacher 2016b; West et al. 2016a, b), dass Lernende nicht bereit sind, alle Daten für Learning-Analytics-Anwendungen preiszugeben. Der Großteil ist bereit, lernbezogene Daten zu teilen, nicht aber persönliche Informationen oder soziale Nutzerpfade. Insbesondere bei der Implementierung der geforderten adaptiven und personalisierten Systeme, die auf eine Vielzahl an Daten angewiesen sind, ist dies ein kritischer Aspekt. Um deutlich zu machen, warum die Daten benötigt werden, ist eine hohe Transparenz der Datensammlung und -analyse entscheidend. Dies kann beispielsweise über einen Fragezeichenbutton, der bei Bedarf diese Informationen anzeigt, realisiert werden oder aber über FAQs sowie eine situative und zeitlich begrenzte Einwilligung zur Preisgabe der benötigten Daten für die gewünschte Analyse (Drachsler und Greller 2016). Es liegt an den einzelnen Hochschulen, ethische und datenschutzrechtliche Richtlinien und Maßnahmen für die Nutzung von Learning Analytics einzuführen (Hoel und Chen 2018; Jones 2019). Die sogenannte DELICATE-Checkliste bietet ein einfaches Instrument für Hochschulen, um das Bewusstsein der Stakeholder einer Hochschule rund um Ethik und Datenschutz zu steigern. DELCIATE möchte helfen, das Thema zu demystifizieren und aus der komplexen Welt von juridischen Texten zu extrahieren, um es in der Praxis der Hochschule besprechbar zu machen (Ifenthaler und Drachsler 2018). In Anlehnung an die DELICATECheckliste sollen Hochschulen mit Learning-Analytics-Systemen folgende Prinzipien umsetzen: 1. Begründung: Das Potenzial von Datananalysen im Allgemeinen und Learning Analytics im Besonderen wird aus Sicht der Organisation und der einzelnen Stakeholdergruppen verdeutlicht. Aktuell geltende Datenschutzrechte werden umgesetzt. 2. Erklärung: Transparente Speicherung und Analyse von Daten und Klarstellung derer Verwendungszwecke. Auskünfte bezüglich Speicherdauer und Zugriffsrechten werden in allen Fällen der Datenspeicherung bzw. -analyse gewährleistet.
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3. Legitimation: Die Notwendigkeit der Datennutzung sowie die Erlaubnis, auf Daten zugreifen zu können, sind legitimiert. 4. Einbeziehung: Jegliche Datenschutzbedenken werden transparent kommuniziert und vollständig geklärt. Individueller Zugang zu gespeicherten Daten wird ermöglicht. Informations- und Weiterbildungsangebote für alle Stakeholder sind verfügbar. 5. Einverständnis: Individuelle Stakeholder müssen aktiv der Datennutzung, -speicherung und -analyse einwilligen (opt-in). Das Einverständnis der Datennutzung kann jederzeit widerrufen werden. 6. Anonymisierung: Daten werden im höchstmöglichen Maß anonymisiert, pseudonymisiert oder aggregiert. 7. Aktualisierung: Der Datenzugriff wird permanent geprüft. Bei technischen oder organisatorischen Veränderungen wird ein erneutes Einverständnis bei den Stakeholdern eingeholt. Technische Systeme sind auf aktuellem technologischen Stand. 8. Distribution: Externe Zugriffe auf Daten und Analyseergebnisse sind zweckgebunden und eindeutig geregelt. Die geltenden Regulierungen und Gesetze für die Hochschule müssen auch von externen Stakeholdern eingehalten werden.
22.3 Handlungsempfehlungen für die Implementation von Learning Analytics Die folgenden Handlungsempfehlungen für die Implementation von Learning Analytics an Hochschulen basieren auf einer systematischen Übersichtsarbeit zu Learning Analytics mit N = 6220 gesichteten wissenschaftlichen Veröffentlichungen (Ifenthaler et al. 2019). Aus den Befunden relevanter Studien zu Learning Analytics wurden Handlungsempfehlungen abgeleitet und mittels N = 31 Interviews mit Stakeholdern von Hochschulen validiert (Ifenthaler und Yau 2019). Die Handlungsempfehlungen für die Implementation von Learning Analytics werden im Folgenden aufgeführt: 1. Entwicklung von flexiblen Learning-Analytics-Systemen, die Bedarfe einer Organisation hinsichtlich spezifischer Anforderungen an Lernkultur und pädagogische Konzepte, die Lernenden und Lehrenden sowie die technische und administrative Organisationsstruktur und den erweiterten Kontext der Organisation berücksichtigen.
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2. Aufbau organisatorischer, technologischer und pädagogischer Strukturen und Prozesse zur Nutzung von Learning-Analytics-Systemen sowie Unterstützung der Stakeholder bei Konzeption, Implementation und nachhaltigem Betrieb. 3. Einbindung aller Stakeholder einer Organisation in die Entwicklung von Learning-Analytics-Systemen. 4. Definition der Anforderungen an Daten und Algorithmen für LearningAnalytics-Systeme: Wie werden Daten und Algorithmen verfügbar gemacht? Wie, wo und für wie lange werden die Daten gespeichert? In welchen Formaten müssen die Daten vorliegen und mittels welcher Algorithmen sind diese Anwendungen zu finden? Wer hat auf welche Daten, Algorithmen und Analyseergebnisse Zugriff? 5. Information sowie Aus- und Weiterbildung aller Stakeholder über ethische und datenschutzrechtliche Bedingungen und Hintergründe bei der Verwendung von Daten, Algorithmen und Analyseergebnissen aus Learning-AnalyticsSystemen. Es werden Standards zur Sicherung der Privatsphäre, zum Datenschutz sowie der Einhaltung von ethischen Gesichtspunkten unter Einhaltung der EU-DSGV für Einzelpersonen als auch für die Institution benötigt. 6. Entwickeln eines robusten Qualitätssicherungsprozesses, um die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der Learning-Analytics-Systeme sicherzustellen. Neben der internen Qualitätssicherung kann zudem eine Akkreditierung für LearningAnalytics-Systeme die Akzeptanz bei den Stakeholdern erhöhen. 7. Forschungsförderung im Bereich von Learning Analytics mittels interner Finanzierungsmodelle einer Organisation, der Etablierung von Forschungsverbünden und bundesweiten Forschungsprogrammen. 8. Aufbau von lokalen, regionalen und nationalen Learning-Analytics-Gremien mit Stakeholdern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik mit Fokus auf adäquate Entwicklung und Implementation (sowie Akkreditierung) von Learning-Analytics-Systemen.
22.4 Ausblick Learning Analytics werden trotz der umfassenden Potenziale nur zögerlich an Hochschulen eingesetzt (Prieto et al. 2019). Ein Grund wird in der organisationsweiten und komplexen Aufgabe bei der Implementation von Learning Analytics gesehen (Buckingham Shum und McKay 2018). Es werden nicht nur technologische Hürden (z. B. Datenbanksysteme und Plattformen zur Datenvisualisierung), sondern auch personelle (i.S.v. Weiterbildung) und organisatorische (i.S.v. Richtlinien, Verfahrensvorschriften) Hürden aufgeführt
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(Ifenthaler 2017a; Leitner et al. 2019). Im Hinblick auf die Weiterbildung von Stakeholdern steht die Bildungsdatenkompetenz (educational data literacy), d. h. ethisch verantwortliches Sammeln, Managen, Analysieren, Verstehen, Interpretieren und Anwenden von Daten aus dem Kontext des Lernens und Lehrens, im Vordergrund. Aus Sicht der Lehr-Lern-Forschung sind die Limitationen von Learning Analytics in der theoretischen Fundierung pädagogischer Ansätze zu sehen und dem Mangel an repräsentativen empirischen Befunden zur Akzeptanz, Effektivität sowie der tatsächlichen Unterstützung von Lehr-Lern-Prozessen und dem Studienbzw. Lernerfolg (Mah et al. 2019; Marzouk et al. 2016; Wong et al. 2019). Folglich sind theoretisch fundierte Datenanalysen mit relevanten Lernindikatoren und pädagogisch aufbereitete Interventionen das Ziel der aktuellen Lehr-LernForschung. Es gilt jedoch anzumerken, dass keine nationalen Forschungsprogramme sich diesem Thema annehmen. In diesem Zusammenhang muss das wachsende Angebot von Learning-Analytics-Anwendungen durch kommerzielle Anbieter kritisch beleuchtet werden. Solche Lösungen tendieren dazu, die Erkenntnisse aus der Lehr-Lern-Forschung nicht zu beachten, wobei Universallösungen angeboten werden, welche für den eigentlichen Bedarf einer Hochschule nicht geeignet sind. Um die Zukunftsfähigkeit von Learning Analytics zu stärken, ist ein interdisziplinärer Forschungsansatz maßgebend, um durch die Verbindung von Lehr-Lern-Forschung, Datenanalyse, Informatik und Mensch-Maschine-Interaktion zu verlässlichen Ergebnissen und Anwendungen zu gelangen. Learning Analytics benötigen zur vollen Entfaltung ihres Potenzials eine Vielzahl personenbezogener Daten der involvierten Stakeholder, wodurch sich ethische und datenschutzrechtliche Herausforderungen ergeben (Ifenthaler und Schumacher 2019; Slade und Prinsloo 2013). Die derzeitigen Anforderungen an den Datenschutz benötigen die Zustimmung der einzelnen Stakeholder, bevor für Learning Analytics Daten erfasst und verarbeitet werden dürfen. Um die rechtlichen, funktionellen und technischen Voraussetzungen zu erfüllen, muss frühzeitig mit den entsprechenden Akteuren der Organisation zusammengearbeitet werden. Die Bereitschaft von Stakeholdern, personenbezogene Daten preiszugeben, steht im positiven Zusammenhang mit dem antizipierten Nutzen einer Learning-Analytics-Anwendung sowie der wahrgenommenen Kontrolle über die eigenen Daten (Ifenthaler und Schumacher 2016b). Datenschutzrichtlinien, die den Zugriff und die Verwendung von bildungsbezogenen Daten regulieren, müssen vor Implementierung einer Learning-Analytics-Anwendung eingeführt werden. Das Speichern und Verarbeiten anonymer bzw. pseudonymisierter persönlicher Daten ist lediglich ein Anfang einer Datenregulierungsstrategie für Learning Analytics (Howell et al. 2018; West, et al. 2016a, b).
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In der internationalen Forschung werden Learning Analytics ein zunehmend umfassendes interdisziplinäres Forschungsthema (Prieto et al. 2019), das nicht nur Daten aus Lernplattformen und mobilen Geräte erfasst, sondern auch zunehmend Datenquellen aus sogenannten Wearbales und anderen Video- und Audiosensoren berücksichtigt (Fortenbacher et al. 2017). Diese sogenannten multimodalen Daten aus einer Vielzahl von Sensoren und Quellen stellen die Learning-Analytics-Forschung vor neue Herausforderungen, geben der LehrLern-Forschung allerdings die Möglichkeit, erweiterte wissenschaftliche Erkenntnisse über herkömmliche Forschungszugänge hinaus zu gewinnen. Learning Analytics bieten pädagogische, organisationale und technologische Grundlagen für das Verständnis, die Unterstützung und die Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen und Lernumgebungen. Allerdings kann durch die zunehmende Automatisierung der Unterstützungssysteme auch die in einer digitalen Gesellschaft erwartete Kompetenzentwicklung zu kritischem Denken und selbstständigem Lernen gehindert werden.
22.5 Förderhinweis Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Förderkennzeichen 16DHL1038 gefördert.
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Prof. Dr. Dirk Ifenthaler ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik – Technologiebasiertes Instruktionsdesign an der Universität Mannheim und UNESCO Deputy Chair of Data Science in Higher Education Learning and Teaching an der Curtin University, Australien. Sein Forschungsschwerpunkt verbindet Fragen der Lehr-LernForschung, Bildungstechnologie, Data Analytics und organisationalem Lernen. Professor Ifenthaler ist Editor-in-Chief der Springer-Zeitschrift Technology, Knowledge and Learning (www.ifenthaler.info/[email protected]).
Der multimodale Lern-Hub: Ein Werkzeug zur Erfassung individualisierbarer und sensorgestützter multimodaler Lernerfahrungen
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Jan Schneider, Daniele Di Mitri, Bibeg Limbu und Hendrik Drachsler Inhaltsverzeichnis 23.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2 Der multimodale Lern-Hub. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.1 Multimodale Daten für das Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.2 Relevante Lernaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.3 Systembeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3 Verlässlichkeit des multimodalen Lern-Hub. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.1 Strategien zur Integration multimodaler Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.2 Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4 Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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J. Schneider (*) · H. Drachsler DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Drachsler E-Mail: [email protected] D. Di Mitri · B. Limbu Open University of the Netherlands, Heerlen, Netherlands E-Mail: [email protected] B. Limbu E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_23
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Zusammenfassung
Im Forschungsfeld Learning Analytics haben Studien konkrete Beispiele dazu geliefert, wie die direkte Interaktion mit sog. Learning-Management-Systemen zur Optimierung und zum besseren Verständnis von Lernprozessen dienen kann. Allerdings findet Lernen nicht nur in der unmittelbaren Interaktion mit einem solchen System statt. Mittels Sensoren können Daten zu Lernenden und ihrer Umgebung überall erfasst werden, womit die Nutzungsbeispiele für Learning Analytics erweitert werden. Daher haben wir einen multimodalen Lern-Hub (MLH) entwickelt, d. h.ein System zur Verbesserung des Lernens in übergreifenden Situationen. Hierzu werden multimodale Daten aus individualisierbaren Konfigurationen erfasst und integriert. Im vorliegenden Beitrag wird der MLH beschrieben. Ergebnisse einer Studie zur Zuverlässigkeit des Systems in Hinblick auf die Integration multimodaler Daten werden dargelegt.
23.1 Einleitung Man stelle sich vor, an einem Sonntagmorgen einen Spaziergang in der Natur zu machen. Überall können Sie unterschiedliche Bäume, Kräuter und Büsche sehen. Sie hören Vögel singen und ein sanfter Wind berührt Ihre Wangen. Sie nehmen den besonderen Duft einer taufeuchten Wiese wahr. Jede der Wahrnehmungen Ihrer Sinnesorgane trägt dazu bei, dass die Erfahrung eines Spaziergangs durch die Natur umfassend begreifbar und bedeutsam wird. Stellen Sie sich nun noch einmal vor, in der Natur unterwegs zu sein. Plötzlich hören Sie ein Donnern, das Sie erschreckt. Ihr Hörsinn hat mittels eines Lauts eine wichtige Information aufgenommen, die von anderen Sinnen, die sich anderer Modalitäten bedienen, nicht erfasst wurde. Learning Analytics (LA) bezeichnet das Messen, Sammeln, Analysieren und Melden von Daten zu Lernenden und ihren Kontexten, mit dem Ziel, das Lernen und das Umfeld, in dem es stattfindet, zu verstehen und zu optimieren (Siemens und Long 2011). Meist ist der Ansatz, der LA zugrunde liegt, unimodal. Hier liegt ein Schwerpunkt auf der Analyse von Logfiles in Bezug auf Daten zur Interaktion Lernender mit technikgestützten Lernumgebungen, wie zum Beispiel
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Learning-Management-Systemen (LMS) Arnold und Pistilli (2012), IntelligentTutoring-Systemen (ITS) Baker et al. (2004), Massive Open Online Courses (MOOC) Kizilcec et al. (2013) oder anderen Systemen, in denen Computer als aktive Komponenten im Lernprozess eingesetzt werden. Die Analyse unimodaler Logfiles mit dem Ziel, Lernprozesse zu verstehen, ist vergleichbar mit der Erfahrung eines Spaziergangs durch die Natur bei Verwendung eines einzigen Sinnes. In beiden Fällen ist die erfasste Erfahrung beschränkt und wichtige Informationen bleiben möglicherweise verborgen. Die wachsende Beliebtheit von Sensoren Swan (2012) hat die Entwicklung smarter Technologien vorangetrieben – beispielhaft ist hier das Internet of Things (IoT) zu nennen bzw. auch sog. Wearables, mittels derer unterschiedliche körperliche Zustände gemessen und aufgezeichnet werden können. Eine Reihe solcher Geräte kann zur Erfassung und Aufzeichnung unterschiedlicher Zustände genutzt werden, d. h. es werden multimodale Daten generiert. Die Verbindung der Nutzung von multimodalen Daten mit Lerntheorien ist eines der Ziele von Multimodal Learning Analytics (MMLA) (Worsley 2018). MMLA ermöglicht neue Einsichten in das Lernen, da der Lernprozess nicht ausschließlich über Szenarien beobachtet wird, die auf eine direkte Interaktion eines Lernenden mit einem Computer über eine Maus und Tastatur beschränkt sind (Blikstein 2013). Anwendungen aus den multimodalen Learning Analytics haben das Potenzial aufgezeigt, das die MLA zur Erfassung einer Vielzahl von Lernaktivitäten besitzen (Schneider et al. 2015). Als Beispiele solcher Lernaktivitäten lassen sich für das 21. Jahrhundert relevante Kompetenzen nennen wie etwa die öffentliche Rede (Dermody und Sutherland 2015; Ochoa et al. 2018; Schneider et al. 2016), Bewerbungsgespräche (Hoque et al. 2013), Verhandlungssituationen (Alexandersson et al. 2014) und kollaborative Prozesse (Worsley 2018; Rodríguez-Triana et al. 2018). Als Forschungsfeld bietet die MMLA zahlreiche Herausforderungen, von der Erfassung von Rohdaten bis zur Nutzung der analysierten Daten zur Unterstützung von Lernprozessen. In Hinblick auf das Erfassen und die Integration von Daten sind die Entwicklerinnen und Entwickler von multimodalen LA-Anwendungen gegenwärtig darauf angewiesen, individualisierbare Lösungen stets neu zu konzipieren. Dieser Prozess, bei dem individualisierbare Anwendungen vor dem Einsatz stets neu entwickelt werden, ist kostspielig und er steht der Entwicklung gemeinsam nutzbarer Methoden entgegen. Es ist somit nicht möglich, auf übergreifende Spezifikationen und Standards zur Analyse und Nutzung multimodaler lernbezogener Daten zuzugreifen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik haben wir das Multimodal Learning Hub (MLH) entwickelt. MLH bezeichnet eine Anwendung zur Erfassung und Integration
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von Daten unterschiedlicher Quellen, womit die Nutzung individualisierbarer Konfigurationen zur Erfassung von Lerner-Verhalten bzw. der Lernumgebung unterstützt wird. Hierbei kommen multimodale Daten zum Einsatz. Diese Erfassung und Integration multimodaler Daten wird in diesem Beitrag als multimodale Lernerfahrung bezeichnet. Wir beschreiben hier den MLH und erste Ergebnisse einer Untersuchung der Kapazität des Systems in Bezug auf die Aufzeichnung multimodaler Lernerfahrungen.
23.2 Der multimodale Lern-Hub Der MLH1 dient insbesondere der Erfassung und Integration multimodaler Daten aus Konfigurationen individualisierbarer Datenprovider mit dem Ziel, multimodale Lernerfahrungen aus relevanten Lernaufgaben (engl. meaningful learning tasks) abzuleiten (Abschn. 23.2).
23.2.1 Multimodale Daten für das Lernen Wie sich aus der Bezeichnung ergibt, sind multimodale Daten für das Lernen (engl. multimodal data for learning) solche Daten, die aus verschiedenen Quellen stammen und den Lernprozess unterstützen sollen. Betrachten Sie zum Beispiel eine Anwendung, die dazu entwickelt wurde, Kompetenzen der öffentlichen Rede zu trainieren. Eine solche Anwendung kann mittels Tiefenkamera und Mikrofon spezifische Aspekte des Kommunikationsverhaltens festhalten. Die Tiefenkamera und das Mikrofon generieren unterschiedliche Daten mit unterschiedlichem Tempo. Die Microsoft Kinect V2 ist beispielsweise dazu in der Lage, die relativen Koordinaten der Gelenke eines Individuums bei durchschnittlich 25 Frames pro Sekunde aufzuzeichnen. Dagegen zeichnet ein Mikrofon, das der Aufzeichnung von Musik dient, für gewöhnlich 44.100 Volumenwerte pro Sekunde auf. Beide Geräte erzeugen völlig unterschiedliche Datenstromwerte. Es ist nicht einfach, diese Datenstromwerte zur Lernoptimierung zu integrieren und sinnvoll zu deuten. Der MLH soll unter anderem Daten aus verschiedenen Quellen erfassen und eine einheitliche, multimodale Lernerfahrung schaffen.
1https://github.com/janschneiderou/LearningHub
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Eine weitere Eigenschaft multimodaler Daten liegt in der Schwierigkeit, sie zu interpretieren: Es gibt normalerweise viel Datenballast und niedrige semantische Werte (Dillenbourg 2016). Dem Menschen fällt es äußerst schwer, Rohdatenströme zu interpretieren (d. h. numerische digitale Werte). Die Interpretation fällt umso schwerer, wenn diesen Daten der Aspekt der Multimodalität hinzugefügt wird. Audio- und Video-Datenströme lassen sich als Audiodatei bzw. Video darstellen. Die Interpretation fällt uns relativ leicht, da wir gelernt haben, solche Datenströme für unsere Interaktion mit der Umwelt sinnvoll zu deuten. Eine Herausforderung für uns Menschen besteht jedoch nach wie vor darin, andere Datenströme sinnvoll zu deuten wie etwa relative Koordinaten, Beschleunigung, Pulsfrequenz, Hautwiderstand, Temperatur, Druck, Spannung, etc. Multiple Daten müssen interpretiert werden, wenn diese das Lernen unterstützen sollen – unabhängig davon, ob der Mensch oder eine Maschine die Interpretation übernimmt. Der MLH unterstützt bei der Interpretation in zweifacher Hinsicht. Er kreiert multimodale Aufzeichnungen relevanter Lernaufgaben und leitet kritische Sensordaten an Anwendungen zum unmittelbaren Feedback. In Di Mitri (2018) wird eine Methode zur Interpretation multimodaler Aufzeichnungen solcher Lernaufgaben vorgeschlagen. Demnach können relevante Aspekte multimodaler Aufzeichnungen intellektuell ausgezeichnet (engl. tagged) werden, indem die Expertinnen und Experten entsprechende Videosequenzen betrachten. Die ausgezeichneten Sequenzen werden zum Aufbau statistischer Modelle genutzt, die ihrerseits Vorhersagen zu multimodalen Daten liefern können (Interpretationen). Einleitend hatten wir das Beispiel eines Spaziergangs in der Natur genannt, während dessen wir durch ein Donnergeräusch aufgeschreckt werden. In ähnlicher Weise können kritische Sensordaten dazu genutzt werden, Aufmerksamkeit bei Lernenden zu erzeugen. Auf das Beispiel einer multimodalen Anwendung zum Trainieren öffentlicher Rede bezogen, kann das System etwa die oder den Lernenden sofort darauf aufmerksam machen, dass sie oder er zu leise spricht. Der MLH kann Daten enthalten, die als kritisch identifiziert wurden, und diese Daten weiterleiten an allgemeine Feedbacksysteme.
23.2.2 Relevante Lernaufgaben Multimodale Daten für das Lernen sind nur im Kontext entsprechend relevanter Lernaufgaben sinnvoll. So ist das leise Sprechen bei einem öffentlichen Vortrag problematisch, nicht jedoch im Kontext einer Gruppenarbeit, die in einer Universitätsbibliothek stattfindet. Bei Nutzung einer multimodalen Lernanwendung
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J. Schneider et al.
ist es notwendig, relevante Lernaufgaben zu definieren, die Lernende bei der Nutzung ausführen. Die Definition einer relevanten Lernaufgabe ist kontextabhängig. So besteht etwa eine Tanz-Choreografie aus einzelnen Tanzelementen (Figuren), die ihrerseits aus Tanzschritten bestehen. In einer Tanzstunde können relevante Aufgaben also in der Einübung eines Schritts, einer Tanzfigur oder einer Choreografie bestehen. Idealerweise beherrscht der Lernende zunächst den Schritt, dann die Tanzfigur und letztlich die Choreografie. Den Lernenden werden zu den relevanten Lernaufgaben unterschiedliche Arten von Unterstützung angeboten, wie etwa das Feedback. Im Vorfeld einer Nutzung ist es für eine multimodale Anwendung wie den MLH also wichtig, die relevanten Lernaufgaben zu definieren, an denen die Lernenden arbeiten sollen. Die eindeutige Definition einer relevanten Lernaufgabe ist für den Prozess der manuellen Auszeichnung (engl. tagging) multimodaler Daten hilfreich. Darüber hinaus trägt dies auch zu einer Erhöhung korrekt interpretierter multimodaler Daten bei und zur Bereitstellung von relevantem Feedback an die Lernenden. Mit anderen Worten: Die Definition einer relevanten Lernaufgabe liefert den Kontext für die Analyse und Nutzung multimodaler Daten für das Lernen.
23.2.3 Systembeschreibung Der MLH ist eine.NETFramework-V4.6-Desktopanwendung, die das Programmieren auf höherem und niedrigerem Level ermöglicht. Die Softwarearchitektur und der Modus Operandi des MLH basieren auf einer Reihe Tests, die wir zur Ermittlung der verlässlichen Integration multimodaler Daten durchgeführt haben (Abschn. 23.3). Abb. 23.1 skizziert die Architektur des MLH. Es ist weder machbar noch wünschenswert, Anwendungen zu entwerfen, die permanent Daten der Lernenden aufzeichnen und analysieren. Wie in Abschn. 23.2.2 ausgeführt, sind multimodale Daten für das Lernen nur im Kontext relevanter Lernaufgaben interessant. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt müssen Nutzende des MLH daher Aufzeichnungen manuell starten und stoppen, um sinnvolle multimodale Aufzeichnungen zu erzeugen. Die Daten, die für die Aufzeichnungen verwendet werden, werden von Datenprovideranwendungen zur Verfügung gestellt. Diese Anwendungen können entweder lokal betrieben werden oder über ein Netzwerk, das mehrere Computer mit ihnen verbindet. Beispielhaft für diese Anwendungen sind:
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543
Abb. 23.1 Die MLH-Architektur
• Anwendungen, die spezifische Sensorgeräte kontrollieren, wie etwa Kameras, Beschleunigungsmesser, Körpersensoren oder jegliche Sensoren, die an einen Computer angeschlossen werden können. • Anwendungen, mit denen Audio- oder Videoaufzeichnungen gesteuert werden. Zur Aufzeichnung multimodaler Lernerfahrungen müssen zunächst die Parameter konfiguriert werden, mittels derer das Lernverhalten bzw. die Lernumgebung erfasst werden sollen. Diese Konfiguration bezieht sich auf Datenprovideranwendungen, die zur Aufzeichnung und Konfiguration der Kommunikationskanäle zwischen Datenprovider und MLH genutzt werden sollen. Die Definition dieser Kommunikationskanäle beinhaltet den Pfad oder die Adresse der Anwendung und eine Reihe Portnummern (Abb. 23.2). Datenprovideranwendungen sollten sich der von den Nutzenden definierten Kanäle bedienen. Um aufseiten der Datenprovideranwendungen die Definition der Kommunikationskanäle zu vereinfachen, schlagen wir dynamische Bibliotheken vor (engl. dynamic libraries). Mittels dieser lässt sich die gesamte Kommunikation zwischen den Anwendungen und dem MLH handhaben,
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J. Schneider et al.
Abb. 23.2 Konfiguration des Datenproviders
einschließlich der automatischen Identifikation von Kommunikationskanälen. Gegenwärtig weist die MLH-Lösung eine dynamic library für.Net-Projekte auf und für die Windows-Universal-Plattform (Abb. 23.2). Datenspeicherung: Wie bereits angesprochen, erfasst jede Datenprovideranwendung unterschiedliche Daten in unterschiedlichem Tempo. Um Daten aus unterschiedlichen Quellen in einer einzigen multimodalen Anwendung zu verschmelzen, nutzen wir das folgende Aufzeichnungsformat. Eine multimodale Aufzeichnung besteht aus einer Sammlung von Aufzeichnungsobjekten (recording objects). Jeder Provider erzeugt ein solches Aufzeichnungsobjekt. Ein Aufzeichnungsobjekt besteht aus einer Aufzeichnungs-ID (recordingId), einem Anwendungsnamen (Name des Datenproviders) und einer Reihe Frame-Objekte (frame objects). Jedes Frame-Objekt enthält einen frame stamp (relativer Zeitstempel seit Beginn der Aufzeichnung) und ein Wörterbuch mit den Namen der Attribute für jeden Frame sowie aktuellen Werten für die Attribute. Abb. 23.3 zeigt ein Beispiel eines Aufzeichnungsobjekts, das bereits im JSON2-Format gespeichert ist. Sobald eine Aufzeichnung gestoppt wird, werden alle Aufzeichnungsobjekte vom MLH mittels Batch-Integration erfasst (Abschn. 23.3.1). Multimodale Datensynchronisation: Ein gemeinsames Datenformat für die Datenprovideranwendungen ist ein notwendiger Schritt zur Verschmelzung unterschiedlicher Datenströme in einer einzigen multimodalen Lernerfahrung. In einem zweiten Schritt ist es erforderlich, einen gemeinsamen zeitlichen Bezugsrahmen für die Datenprovider zu definieren. Der MLH erzielt solch einen gemeinsamen zeitlichen Bezugsrahmen für die Datenprovider durch das Aussenden einer Anweisung zum Start der Aufzeichnung, StartRecording. Die mit den Datenprovideranwendungen verbundenen dynamischen Bibliotheken erhalten diese Anweisung, notieren ihre aktuelle Zeit und speichern diese als Beginn der Aufzeichnung. Während der Aufzeichnung subtrahiert die dynamische Biblio-
2https://www.json.org/
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Abb. 23.3 Beispiel eines JSON-Strings mit einem RecordingObject für eine MYO-BandAnwendung
thek für einen vom Datenprovider erzeugten Frame die Startzeit (Starting Time) von der Jetzt-Zeit und stellt somit den Zeitstempel für den Frame bereit. Vorausgesetzt, dass die Zeituhren der Datenprovider synchronisiert sind und unter der Annahme, dass alle Datenprovider die StartRecording-Anweisung fast gleichzeitig erhalten, ist eine ausreichend gute Synchronisation der aufgezeichneten multimodalen Daten möglich. Unmittelbares Feedback: Für Verhalten, das unmittelbar geändert werden kann, hat sich das unmittelbare (engl. immediate) Feedback als wirksamer erwiesen als das zeitverzögerte (engl. delayed) Feedback (King et al. 2000; Coulter und Grossen 1997). Diese Art Feedback ermöglicht es den Lernenden, ihr Verhalten während der Ausübung einer Fertigkeit anzupassen und es unterstützt die Lernenden in der Vermeidung von Fehlern, die außerhalb ihres Bewusstseins liegen (Börner et al. 2013). Das unmittelbare Feedback erfordert von menschlichen oder automatisierten Tutoren eine Echtzeitreaktion auf die Lerner-Handlung, eine sofortige Identifikation von Verbesserungspotenzialen sowie die direkte Übermittlung eines Feedbacks, das eine sofortige Umsetzung der Verbesserung ermöglicht. Die Lernenden müssen ihrerseits eine Aufgabe ausführen, während sie auf das Feedback achten und ihr Verhalten entsprechend anpassen. Prozesse der Bereitstellung und Akzeptanz von unmittelbarem Feedback sind begrenzt durch die computerspezifischen Fähigkeiten von Tutoren einerseits (menschliche oder maschinelle Systeme) und der Lerner andererseits. Deshalb muss das unmittelbare Feedback einfach sein, damit es effektiv ist. Mit der
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Komplexität des Feedbacks steigt die Effektivität des zeitverzögerten Feedbacks im Vergleich zum unmittelbaren Feedback (Hattie und Timperley 2007). Seitens des Tutors kann eine Vereinfachung dadurch unterstützt werden, dass nur kritische Daten vom Datenprovider an den MLH übertragen werden. So könnte beispielsweise die Anweisung „lauter sprechen“ ausgegeben werden, wenn eine Mikrofonanwendung während einer spezifischen Lernaufgabe übermittelt, dass die oder der Lernende sehr leise spricht. Die mit den Provideranwendungen verbundenen dynamischen Bibliotheken kommunizieren diese Art Unterweisung an den MLH via UDP-Schnittstelle. Der MLH kann die erhaltenen Anweisungen an Anwendungen weiterleiten, die dem Feedback an die Lernenden dienen. Beispielhaft für solche Anwendungen sind Umgebungsdisplays Börner et al. (2013) oder AugmentedReality(AR)-Brillen (Guest et al. 2017). Die Schaffung von Kommunikationswegen zwischen MLH und Anbietern von unmittelbarem Feedback ähnelt der Schaffung der Verbindung von MLH und Provider. Vor Beginn einer Aufzeichnung konfiguriert der Nutzer die benötigten Feedbackanwendungen. Ähnlich wie beim Datenprovider schlagen wir auch für die Feedbackanwendung die Nutzung dynamischer Bibliotheken vor, die die Kommunikation zwischen Feedback und MLH handhaben (dynamische Bibliotheken für.NET und Windows-Universal-Plattform sind bereits in den MLH integriert).
23.3 Verlässlichkeit des multimodalen Lern-Hub Die größte Herausforderung für die Konzeption und Entwicklung des MLH stellte sich bei der Frage der Generierung einer einheitlichen multimodalen Lernerfahrung auf Basis von multimodalen Datenprovideranwendungen. Diese Herausforderung führt zu der wesentlichen Forschungsfrage: • Forschungsfrage 1: Wie kann der MLH multimodale Lernerfahrungen auf Basis der Daten erschaffen, die über multiple Datenprovideranwendungen erfasst wurden? Die Speicherung und Synchronisierung der mittels Datenprovideranwendungen erfassten Daten waren die wesentlichen Probleme, die Forschungsfrage 1 zugrunde liegen. Daraus ließen sich zwei weitere Forschungsfragen ableiten: • Forschungsfrage 1a: Wie kann der MLH verlässlich Daten speichern, die von den Datenprovideranwendungen erfasst werden?
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• Forschungsfrage 1b: Wie kann der MLH verlässlich die Daten synchronisieren, die von multiplen Datenprovideranwendungen erfasst wurden? Im Folgenden präsentieren wir eine Reihe Tests, die wir zwecks Identifikation von verlässlichen Lösungen für die Integration (Speichern und Synchronisieren) multimodaler Daten durchgeführt haben.
23.3.1 Strategien zur Integration multimodaler Daten Es wurden zwei wesentliche multimodale Strategien zur Datenintegration identifiziert, die zur Herstellung einer multimodalen Lernerfahrung genutzt werden können: die Integration von Echtzeitdaten und die Integration von Batch-Daten. Im ersten Fall werden Daten während des Lerner-Handelns aufgezeichnet. Diese Strategie erleichtert das Synchronisieren von Daten und ermöglicht die Analyse von Echtzeitdaten. Drei Lösungen für die Implementierung von Echtzeitdaten wurden konzipiert und getestet: Data Collector, Direct Push und MQTT Push. Die ersten beiden Lösungen basieren auf UDP-Schnittstellen als Kommunikationsprotokoll. Die erste Lösung, Data Collector, durchläuft eine Dauerschleife durch alle Anwendungsklassenobjekte (engl. ApplicationClass objects), Abschn. 23.2.3. Die jeweils verfügbaren Frames werden an die laufende Aufzeichnung angehängt. Jede Schleife hat einen eigenen Zeitstempel. Die zweite Echtzeitdaten-Lösung, Direct Push, fügt einem ApplicationClass-Objekt, wenn es einen neuen Data Frame empfängt, einen Zeitstempel hinzu und hängt ihn an die laufende Aufzeichnung an. Im dritten Fall, MQTT Push, der dem Direct Push ähnlich ist, wird die Kommunikation zwischen MLH und Datenprovideranwendungen mittels MQTT3-Kommunikationsprotokoll hergestellt. Dabei handelt es sich um ein Protokoll von Maschine zu Maschine, das auf die Minimierung von Netzwerkbandbreiten bei Aufrechterhaltung der Verlässlichkeit ausgelegt ist. Solche Protokolle wurden beispielsweise in Szenarien eingesetzt, wo generische Sensoren mit einem Mittler (engl. broker) kommunizieren. Batch-Daten-Integration bedeutet, dass von Datenprovideranwendungen erfasste Daten unabhängig voneinander gespeichert werden. Die Integration dieser Daten findet im Anschluss an die Aufzeichnung der multimodalen
3https://mqtt.org/
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Lernerfahrungen statt. In unserem Fallbeispiel zeichnet sich jede Datenprovideranwendung für ihre Aufzeichnung selbst verantwortlich. Wann immer ein Daten-Frame bereit ist, wird er mit einem Zeitstempel versehen, und der ausgezeichnete Frame wird mit der eigenen Aufzeichnung zusammengeführt. Nach Abschluss der multimodalen Aufzeichnung sendet jede einzelne Datenprovideranwendung die eigenen Aufzeichnungen an den MLH. Damit die Daten zuverlässig mittels der Batch-Daten-Integration synchronisiert werden können, müssen sich alle Datenprovider auf eine gemeinsame Uhrzeit für die Zeitstempel der Aufzeichnungen beziehen.
23.3.2 Methode Zwecks Beantwortung der formulierten Forschungsfragen wurden einige Testläufe für die oben genannten Lösungen zur Datenintegration ausgeführt. Es war wichtig herauszufinden, wie verlässlich die vorgeschlagenen Lösungen hinsichtlich Speicherung und Synchronisierung der Daten sind. Drei unterschiedliche Datenprovideranwendungen wurden getestet: LEAP Motion4 Data Provider, MYO Band5 Data Provider und Presentation Trainer (Schneider et al. 2016). Letzterer nutzt zur Datenerfassung den Microsoft Kinect V2. Es wurden Aufzeichnungen von 30 bis zu 40 s Länge genutzt und für jede der Strategien fünf verschiedene Datenprovider-Konfigurationen getestet: • Einzelne Konfigurationen: – nur LEAP Motion, – nur MYO Band, – nur Presentation Trainer. • Zweite Konfiguration: – LEAP Motion und MYO Band. • Dritte Konfiguration: – LEAP Motion, MYO Band und Presentation Trainer.
4https://www.leapmotion.com/ 5https://www.myo.com/
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Für jede Lösung wurden drei Testläufe und Datenprovider-Konfigurationen ausgeführt. Für die Testläufe wurde der Hub zur Datenintegration auf einem Windows-7-Computer mit Intel Core i7 und 2.50 GHz-Prozessor ausgeführt, mit 16 GB Speicher. Die LEAP- und die MYO-Kontrollanwendungen wurden auf demselben Computer ausgeführt. Der Presentation Trainer wurde auf einem separaten Windows-10-Computer ausgeführt mit Intel Core i5 bei 3.1 GHzProzessor und 16 GB Speicher. Um die Zuverlässigkeit der Integrationslösungen im Hinblick auf die Datenspeicherung zu untersuchen, wurden die während der Testläufe aufgezeichneten Dateien analysiert. Für die Integration der Batch-Daten analysierten wir auch die Synchronisation erfasster Daten; für die Analyse entwickelten wir zwei Programme: • Screen Capture zur Produktion eines Videofiles der Aufzeichnungen, der als reguläre Datenprovideranwendung genutzt wurde. • Ein visuelles Tool6, mit dem multimodale Aufzeichnungen visualisiert werden können. Dieses Tool plottet multimodale Daten bei gleichzeitiger Anzeige eines Files (Video oder Audio), der zur selben multimodalen Aufzeichnung gehört. Zur Synchronisationsanalyse wurden Aufzeichnungen mittels der folgenden Synchronisierung generiert: MLH und MYO Band Controller liefen auf dem Windows-7-Computer, Presentation Trainer und Screen Capture liefen auf dem Windows-10-Rechner.
23.3.3 Ergebnisse Tab. 23.1 zeigt für jede Integration Ergebnisse der Tests mit einzelnen Konfigurationen (nur LEAP, nur MYO, nur Presentation Trainer). Eine Untersuchung der Frame-Rate während der aufgezeichneten Testläufe (Frames/ Sekunden) weist für die Batch-Daten-Integration den höchsten Wert auf, unabhängig von der jeweiligen Datenprovideranwendung. MQTT war die beste der Echtzeitdatenlösungen, mit ähnlichen Werten wie die Batch-Lösung bei Nutzung von LEAP und Presentation Trainer. Im Fall von MYO schien die
6https://github.com/janschneiderou/LearningHub/tree/master/VisualTest
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J. Schneider et al.
Tab. 23.1 Ergebnisse der Testläufe für einzelne Datenprovider-Konfigurationen Strategy
Data
LEAP
Durchschnittl. Dateigröße 5576
Presentation
MQTT
Batch Integrat
7760
6635
14978
Durchschnittl.
32.
27.
33.
34.
gespeicherte Frames
882.
1228.
1895.
2236.
44.
56.
65.
Durchschnittl. Framerate 27. MYO
Direct Push
Durchschnittl. Dateigröße 991.7
749
992.33
2298
Durchschnittl.
30.
33.
32
30.
Durchschnittl. gespeicherte
1560.
1172.
2446.
6043.
Durchschnittl. Framerate 50.
34.
76.
198.
Durchschnittl. Dateigröße 1173
1210
1172.66
1463.33
Durchschnittl.
31.
28.
30
33.
Durchschnittl. gespeicherte
692.
728
9
10
25.
30.
30.
Durchschnittl. Framerate 21.
Tab. 23.2 Ergebnisse der Testläufe für die LEAP- und MYO-Konfiguration Strategie
Data Collector
Direct Push MQTT
BatchIntegration
LEAP
Durchschnitt Anzahl integrierte Frames
871
610
15
18
27.
20.
44.
57
MYO
Durchschnitt Anzahl Durchschnittl. Framerate
871
542
728.
61
27.
17.8
21.
196.
Durchschnittl. Dateigröße Durchschnittl. Aufzeichnungsdauer
1934
3055
9634
14428
32
30.4
34.
31
27.
37.
66.
2
Totals
Frame-Rate so hoch, dass sie nicht zuverlässig von Echtzeitlösungen abgebildet werden konnte. Tab. 23.2 zeigt Ergebnisse für Testläufe der zweiten Konfiguration (LEAPund MYO-Datenprovideranwendungen gleichzeitig). In diesen Szenarien schnitten die Batch-Lösungen besser ab als die Echtzeitszenarien. Die Ergebnisse
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Tab. 23.3 Ergebnisse der Testläufe für LEAP-, MYO- und Presentation-TrainerKonfigurationen Strategie LEAP MYO Presentation Gesamt
Direct Push
MQTT
Batch Integrat
Durchschnittliche Zahl der 1445. Durchschnittl. Framerate 37.6
Data
536.
6
1794.
16.
18.
57.
Durchschnittliche Anzahl Durchschnittl. Framerate
1445.
570.
6
62
37.6
18.
17.
199
Durchschnittliche Anzahl Average Framerate (f/s)
1445.
407.
580.
964.
37.6
12.
16.
30.
Durchschnittliche Durchschnittliche Durchschnittliche absolute Frame Rate
4133
2934
5575
15976
38.4
32
34.
31.
37.6
47
52.
286.
zu den Frame-Rates dieser zweiten Konfiguration weisen ähnlich gute Werte für die Batch-Lösung auf wie die Testläufe für die einzelnen Konfigurationen. Im Gegensatz dazu weisen die Echtzeitlösungen deutlich schlechtere Frame-Rates für die zweite Konfiguration auf als für die erste. Die Ergebnisse für die dritte Konfiguration (LEAP, MYO und Presentation Trainer gleichzeitig) sind Tab. 23.3 zu entnehmen. Hier zeigt sich ein ähnlicher Trend wie für die zweite Konfiguration. Für diese dritte Konfiguration sind die Frame-Rates der Batch-Daten-Integration im Vergleich zu Ergebnissen der einzelnen Konfigurationen stabil. Im Gegensatz dazu weisen die Echtzeitdatenlösungen weiterhin eine Reduktion der Frame-Rates im Vergleich zu den zweiten und den einzelnen Konfigurationen auf. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Testläufe für die Integration der BatchDaten korrekt skalierte Befunde, wenn gleichzeitig Datenprovideranwendungen eingeführt wurden, d. h. die Batch-Daten-Lösung ist zur Datenspeicherung geeignet (siehe Forschungsfrage 1a). Dies steht im Gegensatz zu den Echtzeitdaten, die eine reduzierte Leistung bei Einführung von Datenprovideranwendungen aufweisen. Nachdem die Forschungsfrage 1a durch die Batch-Daten-Integration beantwortet war, wendeten wir uns der Frage 1b zu und wir untersuchten die Synchronisation der Batch-Daten-Integration. Wir führten Testläufe mit einer Aufzeichnungskonfiguration mittels der Programme MYO Band, Presentation Trainer sowie ScreenCapture durch. Wir nutzten das visuelle Testtool und plotteten Orientation-Y-Werte, die aus MYO gewonnen wurden (MYO wurde
Abb. 23.4 Der Screenshot des visuellen Tools zeigt die multimodale Aufzeichnung
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am rechten Arm getragen), den Right-Hand-Y-Werten und Left-Hand-Y-Werten, erfasst durch Presentation Trainer. Das Tool zeigte auch das Video an, das von ScreenCapture aufgezeichnet wurde. Abb. 23.4 stellt dar, dass Werte für Orientation Y nach MYO mit den Werten für die rechte Hand korrespondieren, die durch Presentation Trainer gewonnen wurden. Die Abbildung zeigt auch, dass die geplotteten Werte mit dem aktuellen Frame der Videoaufzeichnung übereinstimmen: Wenn die Hand gehoben wird, steigt der Y-Wert der entsprechenden Hand.
23.4 Diskussion Der Beitrag beschreibt das MLH, ein Tool, das das Erfassen und die Integration multimodaler Daten aus individualisierbaren Datenprovider-Konfigurationen unterstützt. Ziel ist die Herstellung multimodaler Lernerfahrungen auf Basis relevanter Lernaufgaben. Eine der großen Herausforderungen an die Genese solcher Erfahrungen wurde in der ersten Forschungsfrage bezogen auf die Integration multimodaler Daten aus multiplen und generischen Datenprovideranwendungen deutlich. Auf der Suche nach einer Antwort auf die erste Forschungsfrage entwarfen, entwickelten und testeten wir verschiedene Lösungsszenarien. Die Testergebnisse lieferten Antworten auf die abgeleiteten Forschungsfragen. Erstens (1a), zeigte sich, dass die Echtzeitlösungen zu Datenverlust führen konnten. Diese Tendenz zum Datenverlust erhöhte sich mit Hinzufügen von Datenprovideranwendungen. Im Hinblick auf die Unterstützung individualisierbarer Lösungen muss der MLH skalieren, bezogen auf die Datenprovideranwendungen, die zur Genese multimodaler Lernerfahrungen genutzt werden. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Integration von Batch-Daten zum Zweck dieser Skalierbarkeit genutzt werden kann. Wir hatten Bedenken wegen der Integration von Batch-Daten in Bezug auf die Kapazität zur Synchronisation multipler Daten aus unterschiedlichen Datenprovideranwendungen. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die von uns vorgeschlagene Struktur zur Speicherung multimodaler Daten jenseits von Audio- und Videodaten (siehe Aufzeichnungsobjekte – recording objects – in Abschn. 23.2.3) sowie unsere multimodale Datensynchronisationsstrategie (Abschn. 23.3). Daten aus drei verschiedenen Datenprovideranwendungen synchronisieren und integrieren konnte. Somit konnte die Forschungsfrage 1b zufriedenstellend beantwortet werden.
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Da unsere Forschungsfragen zufriedenstellend beantwortet werden konnten, scheint uns der MLH einen Status erreicht zu haben, der es erlaubt, die Erfassung multimodaler Erfahrungen mit relevanten Lernaufgaben zu testen. Beispielhaft sind etwa Kaligrafie-Übungen, Übungen zur Wiederbelebung, das Einüben von öffentlicher Rede, Aufgaben zum Problemlösen in der Gruppe etc. Das Testen des MLH in echten Lernszenarien wird zur Identifikation seiner Limits beitragen – etwa in Hinblick auf die zuverlässige Weiterleitung unmittelbaren Feedbacks an generische Feedbackanwendungen. Das Testen des MLH in echten Lernszenarios wird auch wichtige Informationen darüber liefern, wie generische Plattformen entwickelt werden sollten, die zur Erfassung multimodaler Lernerfahrungen genutzt werden können. Der MLH ist ein erster Schritt zur Herstellung individualisierbarer, wieder benutzbarer Komponenten für multimodale Learning Analytics (MMLA). Wichtig ist zu erwähnen, dass der MLH nur eine der vielen Herausforderungen anspricht, die in einer MMLA-Lösung berücksichtigt werden sollten. Der Hub behandelt lediglich die Erfassung und Integration multimodaler Daten für das Szenario relevanter Lernaufgaben. Die Integration von Batch-Daten im MLH ist vielleicht nicht übertragbar auf andere Lernszenarien, wie etwa das Erfassen und die Integration multimodaler Daten aus Aktivitäten von Studierenden im Laufe eines Semesters (Vorlesungsassistenz, Lesezeit, Schlafenszeit etc.). Wie zuvor erwähnt, sind das Erfassen und die Integration multimodaler Daten überdies nur eine der vielen Herausforderungen, die von einer MMLA-Lösung angegangen werden sollten. Weitere Herausforderungen betreffen die Analyse multimodaler Daten, die Speicherung multimodaler historischer Daten bzw. die Bereitstellung effektiver Unterstützung beim Lernen. Wir gehen davon aus, dass die Entwicklung und Erforschung individualisierbarer MMLA-Komponenten – wie etwa der MLH – zur Schaffung allgemein verwendbarer Spezifikationen beitragen. Best-Practice-Szenarien und Standards für die MMLA werden sich ergeben, die ihrerseits dafür sorgen, dass Lernende digitale Unterstützung für ihre ubiquitären Lernaktivitäten erhalten. Daniele Di Mitri ist KI-Forscher am Center of Actionable Research der Open University of the Netherlands und Doktorand in Learning Analytics und Wearable Sensors Support. Daniele hat einen BSc-Abschluss in Informatik und einen MSc-Abschluss in Künstlicher Intelligenz. 2015 nahm er am Extreme-BlueExcellence-Forschungsprogramm bei IBM Amsterdam teil. In seiner Doktorarbeit an der OUNL (2016–2020) untersucht Daniele die Potenziale des Sammelns und Analysierens multimodaler Daten während physikalischer Interaktionen für automatische Rückmeldungen und menschliche Verhaltensanalysen. In seiner Promotion nahm er an verschiedenen europäischen Projekten wie LACE,
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WEKIT, SafePAT teil. Sein Promotionsprojekt, der Multimodal Tutor, erhielt den Martin Wolpers Award als bestes Promotionsprojekt im Bereich TechnologyEnhanced Learning 2018.
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J. Schneider et al.
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Dr. Jan Schneider ist Postdoktorand in der Gruppe Educational Technologies des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Er begann seine Karriere als Forscher im Jahr 2008 und arbeitete als Human–Computer Interaction Researcher am Expertise Center für digitale Medien der Universität Hasselt in Belgien. Dort arbeitete er für mehrere Forschungsprojekte in den Bereichen Multi-Touch und mobile Interaktionen. Im Dezember 2017 promovierte er an der Open University of the Netherlands zum Thema Sensor Based Learning Support. Während seiner Promotion arbeitete er an zwei europäischen Projekten (Metalogue und Wekit) und seine entwickelten Forschungsprototypen wurden auf drei verschiedenen internationalen Konferenzen ausgezeichnet (EC-TEL 2014, EC-TEL 2015, ICMI 2015, LAK 2019). Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Multimodal Learning Analytics (MMLA), wo er die Schaffung generischer Frameworks und Lösungen untersucht, die den Lernprozess mithilfe multimodaler Daten unterstützen sollen.
23 Der multimodale Lern-Hub: Ein Werkzeug zur Erfassung …
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Daniele Di Mitri ist KI-Forscher am Center of Actionable Research der Open University of the Netherlands und Doktorand in Learning Analytics und Wearable Sensors Support. Daniele hat einen BSc-Abschluss in Informatik und einen MSc-Abschluss in Künstlicher Intelligenz. 2015 nahm er am Extreme-Blue-Excellence-Forschungsprogramm bei IBM Amsterdam teil. In seiner Doktorarbeit an der OUNL (2016–2020) untersucht Daniele die Potenziale des Sammelns und Analysierens multimodaler Daten während physikalischer Interaktionen für automatische Rückmeldungen und menschliche Verhaltensanalysen. In seiner Promotion nahm er an verschiedenen europäischen Projekten wie LACE, WEKIT, SafePAT teil. Sein Promotionsprojekt, der Multimodal Tutor, erhielt den Martin Wolpers Award als bestes Promotionsprojekt im Bereich Technology-Enhanced Learning 2018. Bibeg Limbu ist Doktorand in der Forschungsgruppe Technology-Enhanced Learning and Innovation des Welten Institute, an der Open University oft the Netherlands. Er hat einen MSc-Abschluss in Educational Technology von der Universität des Saarlandes in Deutschland und einen BSc-Abschluss in Game Technology von der Limkokwing University in Malaysia und Anglia Ruskin University UK. Er arbeitet mit neu aufkommenden Technologien wie multimodalen Sensoren und Augmented Reality in dem Kontext von Bildungsanwendungen. Er interessiert sich auch für Eye Tracking, Computerspiele und die Erforschung kognitiver Kompetenzen. Gegenwärtig untersucht er die Anwendung multimodaler Technologien für die Ausbildung unter Verwendung aufgezeichneter Expertenleistungen. Prof. Dr. Hendrik Drachsler ist Professor für Educational Technologies und Learning Analytics und Mitglied des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (dipf.de), der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Open University of the Netherlands. Seine Forschungsinteressen umfassen Learning Analytics, Personalisierungstechnologien, Bildungsdaten, mobile Geräte und deren Anwendungen in den Bereichen Technology-Enhanced Learning und Health 2.0. In der Vergangenheit war er Hauptforscher und wissenschaftlicher Koordinator verschiedener nationaler und EUProjekte. Er leitete regelmäßig internationale wissenschaftliche Konferenzen (z. B. LAK16, EC-TEL17, EC-TEL18, LAK20) und ist Herausgeber der Sonderausgabe des Journal of Computer Assisted Learning (JCAL).
Chatbots – Nächstes UserExperience-Level im Support von Bildungsangeboten?
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Dunja Todorovic und Farina Steinert Inhaltsverzeichnis 24.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1.1 Chatbot als intelligentes Support-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1.2 User Experience als Erfolgsfaktor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2 Chatbots als nächstes UX-Level im Supportbereich bei oncampus . . . . . . . . . . . 24.2.1 Livechat-Analyse als Entscheidungsgrundlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.2.2 Prototyping – wenn ein Chatbot zum Leben erwacht. . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Empirische Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.1 Positive Ticketentwicklung – Erhöhung der Userreichweite. . . . . . . . . . 24.3.2 Einflüsse auf die User Experience. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
Chatbots sind Systeme, die auf Künstlicher Intelligenz beruhen. Sie werden häufig dort zur Unterstützung eingesetzt, wo sich wiederholende Prozesse, wie bspw. User-Anfragen, auftreten. Die oncampus GmbH hat seit Januar
D. Todorovic (*) oncampus GmbH, Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Steinert Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_24
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2019 einen solchen Chatbot zur Unterstützung des Support-Teams im Einsatz, um User-Anfragen zum Themenbereich Bachelor-Studium automatisiert zu beantworten. Das System wurde auf der Bildungsplattform https://www. oncampus.de in einen interaktiven Livechat eingebettet. Um den Chatbot an das User-Experience-Konzept der Bildungsplattform anzupassen, wurde für den Bot in seiner Entstehung ein eigener Duktus entwickelt, dessen Fokus auf einfachen, witzigen Texten und menschenähnlichen Attributen liegt. Bereits nach einem halben Jahr weist der Chatbot erste Erfolge aus: Neben einer Automatisierung von Anfragen über das Bachelor-Studium konnte auch eine verbesserte Nutzung des Ticketsystems durch die User festgestellt werden. Die von oncampus und dem Institut für Lerndienstleistungen der Technischen Hochschule Lübeck durchgeführte Fallstudie beschreibt den positiven Einfluss der User Experience auf den Erfolg des Chatbots und den effektiven Einsatz im Support von Bildungsangeboten.
24.1 Einleitung In unserer Arbeitswelt begegnen wir nahezu täglich sich wiederholenden, standardisierten Prozessen. In einigen dieser Prozesse unterstützen uns bereits – wenn auch häufig unbewusst – Systeme, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) beruhen, wobei der Begriff in der Literatur äußerst weit gefasst wird (vgl. Klüver und Klüver 2011). Eine mögliche Umsetzung KI-gestützter Systeme im weiteren Sinne sind sogenannte Chatbots (vgl. Dahiya 2017). Auch im Bereich der Weiterbildung kann KI eine Weiterentwicklung oder Verbesserung für Bildungsinteressierte und Bildungseinrichtungen bieten, was bisher jedoch wenig verbreitet ist (vgl. Meyer von Wolff und Schumann 2018). Im Bereich der Weiterbildung setzt die oncampus GmbH seit Januar 2019 einen Chatbot für SupportZwecke ein, um häufige Anfragen zum Thema Ablauf eines Bachelor-Studiums automatisiert beantworten zu können. Aus den Betrachtungen zur Entstehung, Entwicklung und Weiterentwicklung des Bots entstand eine Fallstudie, die in diesem Beitrag vorgestellt wird. Die oncampus GmbH ist eine Tochter der Technischen Hochschule Lübeck. Sie entwickelt in enger Kooperation mit dem Institut für Lerndienstleistungen der TH Lübeck (ILD) verschiedene digitale Bildungsangebote und -formate, bei denen ein Schwerpunkt aus strategischen Gründen gezielt auf Customer Experience liegt (vgl. Wittke und Steinert 2017). In der World of Learning unter https://oncampus.de können verschiedene Onlinebildungsoptionen wie MOOCs,
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Selbstlern- oder Weiterbildungskurse genutzt werden – viele davon auch kostenlos. Digitalisierung wird konsequent eingesetzt, um das lebenslange Lernen und die Öffnung der Hochschulen für neue Zielgruppen, wie z. B. Berufstätige, zu befördern. In diesem Zusammenhang übernimmt oncampus für den Hochschulverbund Virtuelle Fachhochschule (VFH) als Full-Service-Provider den Betrieb von elf Onlinestudiengängen im Bachelor- und Masterbereich sowie deren Vermarktung und schafft so eine Infrastruktur für das digitale Lernen. Ende 2016 wurde die Website https://oncampus.de zu einer großen Bildungsplattform mit über 125.000 Weiterbildungsteilnehmenden hinsichtlich einer möglichst nahtlosen Customer Journey und einem hohen Erlebniswert weiterentwickelt (vgl. ebd.). Dies führte zu einer deutlichen Erhöhung der täglichen Seitenaufrufe und dem damit einhergehenden Support-Aufwand. Statt eine starre FAQ-Liste mit den häufigsten Fragen auszubauen, ergab sich vor diesem Hintergrund die Anforderung, eine interaktive Lösung für die Automatisierung von sich wiederholenden Support-Anfragen zu entwickeln. Diese wurde in der Implementierung eines Chatbots gefunden, der in einem sog. Livechat auf der Bildungsplattform oncampus.de eingebettet wurde. Aktuell gibt es in den Bereichen Hochschule und Weiterbildung für diesen digitalen Support noch wenige Anwendungen. Gleichwohl sind die Themen Unterstützungssysteme und Support bei der Erreichung neuer Zielgruppen von steigender Bedeutung (vgl. Hanft et al. 2016). Erste Implementierungen können bei der Dualen Hochschule Schleswig-Holstein (DHSH) mit ihrem Chatbot Theo (vgl. DHSH 2019) sowie bei der Technischen Universität Berlin (vgl. TU-Berlin 2019) gefunden werden. Der Fokus beider Chatbots ist hierbei unterschiedlich gesetzt: Während bei der DHSH Fragen zum dualen Studium an der Hochschule gestellt werden können, wird an der TU Berlin der Fokus auf spezielle Modulfragen und Veranstaltungen gesetzt. Eine Weiterleitung des Chats an ein SupportTeam-Mitglied (ein sog. Chat-Transfer) bleibt jedoch bei beiden Chatbots aus: Die User kommunizieren allein mit dem Bot. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie ein Chatbot im Kontext von Bildungsangeboten als Erleichterung für sich wiederholende Prozesse eingesetzt werden kann, welche Auswirkungen die sprachliche Gestaltung auf die Kommunikation hat und welche zusätzlichen positiven Effekte durch ihn für die Interessierten bzw. Kundinnen und Kunden entstehen können. Hierzu wird in diesem Abschnitt zunächst auf Chatbots als intelligente Support-Systeme sowie UX als Erfolgsfaktor eingegangen. In Abschn. 24.2 wird auf die Entwicklung des Chatbots eingegangen. Hierzu wird die Analyse der Livechat-Anfragen skizziert und das Vorgehen beim Prototyping beschrieben. In Abschn. 24.3 werden erste empirische Ergebnisse des Chatbot-Einsatzes dargestellt und diskutiert.
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24.1.1 Chatbot als intelligentes Support-System Der Begriff Chatbot setzt sich aus den Begriffen Chat und Robot zusammen und beschreibt ein technisches Dialogsystem auf Basis von KI, welches Anfragen in natürlicher Sprache erfasst, verarbeitet und entsprechende Antworten ausgibt (vgl. Meyer von Wolff und Schumann 2018). Chatbots sind häufig in vorhandene Messenger-Services eingebettet und bieten durch die Automatisierung einen 24/7-Service (vgl. Lebeuf et al. 2018). Bots sind daher auch häufig im Onlinesupport von Einrichtungen bzw. Unternehmen sowie auf den gängigen Social-Media-Kanälen mit den dazugehörigen Messenger-Services zu finden, um via Text oder Sprachausgabe ohne weiteren menschlichen Eingriff mit Usern kommunizieren zu können bzw. Antworten auf Fragen zu geben (vgl. ebd.). Durch die technische Weiterentwicklung zum Maschine Learning ist es darüber hinaus auch möglich, dass ein Bot auch Anfragen außerhalb der Standardfragen beantworten kann (vgl. Hancock et al. 2019). Beim Einsatz von automatisierten Support-Systemen sind im Vorfeld Auswertungen der Support-Anfragen sowie ein regelmäßiges Training und eine kontinuierliche Optimierung des Bots notwendig (vgl. Bala et al. 2017). Durch die ständige Optimierung und Anpassung der Gesprächsszenarien kann ein Chatbot in der Folge zu einer effizienten und effektiven Support-Unterstützung entwickelt werden (vgl. Bala et al. 2017). „Bots typically reside on platforms on which users work or play with other users“ (vgl. Lebeuf et al. 2018, S. 18), d. h. der Einsatz von Chatbots ist nicht auf eine bestimmte Branche festgelegt: Sie können überall dort eingesetzt werden, wo User aktiv sind. Neben Chatbots gibt es verschiedene Möglichkeiten, Bots einzusetzen: Bspw. unterstützt bei der Schuhmarke Tamaris (vgl. Tamaris 2019) der Bot die Zielgruppe dabei, die passende Schuhauswahl zu treffen, der Facebook-Messenger-Bot der Immobilienberatung immocation liefert Interessenten alle Informationen zum Thema Hauskauf und Finanzierungen (vgl. immocation 2019). Chatbots sind somit branchenübergreifend und häufig im Bereich des Supports zu finden. Sie bieten der Zielgruppe auf Webseiten auch eine bessere User Experience (UX), worauf im folgenden Absatz näher eingegangen wird.
24.1.2 User Experience als Erfolgsfaktor Die User Experience (UX) beschreibt allgemein das Anwendungserlebnis der User bei der Nutzung eines Produkts und umfasst hierbei den gesamten Prozess des Erlebens vor, während und nach der Nutzung der Anwendung (vgl. Jacobsen
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und Meyer 2017). Während Usability die Dimension von UX beschreibt, „eine Anwendung so einfach wie nur möglich in der Benutzung zu machen“ (vgl. ebd., S. 33), geht User Experience deutlich weiter: „Sie umfasst sämtliche Services, Abläufe und Zusammenhänge zwischen Unternehmen, Produkt, Kommunikation und Markenbildung.“ (vgl. ebd., S. 35). Vor der Nutzung wird bei den Usern eine Erwartungshaltung ausgelöst. Wird diese während der Nutzung erfüllt, wirkt sich das Ereignis positiv auf das Nutzungserlebnis aus. Der positive Effekt der Nutzung kann im Nachgang zu einer emotionalen Bindung an das Produkt oder Weiterempfehlungen führen (vgl. ebd.). Die User Experience muss sich nicht ausschließlich auf digitale Dimensionen des Nutzungserlebnisses rund um das Produkt beziehen (vgl. ebd.). In Anlehnung an die ISO-Norm 9241-210 wurden von der Nielsen Norman Group die nachfolgenden Erfolgsfaktoren der User Experience identifiziert (vgl. ebd., S. 36): • Nützlichkeit: Das Produkt erfüllt meine Bedürfnisse, • Usability: Ich kann das Produkt leicht anwenden und • Design/Ästhetik: Mir gefällt das Produkt, wie es aussieht und sich anfühlt. Den Erfolg der User Experience zu messen, stellt eine Herausforderung dar, da Befragungen der User auf Subjektivität beruhen (vgl. ebd.). In der Praxis kommen häufig heuristische Verfahren zum Einsatz, d. h. erfahrungsbasierte Praktiken, die sich bewährt haben und mittlerweile auch interaktive und erlebnisorientierte Paradigmen berücksichtigen können (vgl. Held et al. 2019). Empirische Methoden, wie zum Beispiel das Eye-Tracking, um die Augenbewegungen der Testpersonen bei der Website-Nutzung zu analysieren, sowie Kennzahlen zur Verfügbarkeit der Website, responsive Design oder Ladezeiten sind weitere Anhaltspunkte für fundierte Ergebnisse über den Erfolg der User Experience. Um ein umfassendes User-Erlebnis mithilfe von KI-gestützten Systemen zu gestalten, darf der Fokus nicht nur auf der sachlich-inhaltlichen Ebene liegen, sondern die oben angeführten drei Erfolgsfaktoren der UX sollten berücksichtigt werden, um die User „abzuholen“. Die emotionale Ebene ist dabei ein wesentlicher Faktor in der UX-Gestaltung: Emotionen wie Freude und Spaß der User sollten berücksichtigt werden (vgl. ebd.). Dies kann bspw. durch Gestaltung, Leistungsmerkmale, Funktionalität und auch Sprache abgebildet werden (vgl. Jacobsen und Meyer 2017). KI-gestützte Systeme können diese Anforderungen durch ihr technisch weiter fortschreitendes Potenzial sehr gut erfüllen.
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24.2 Chatbots als nächstes UX-Level im Supportbereich bei oncampus oncampus nutzt verschiedene Kanäle zur Kommunikation mit der Zielgruppe. Zum Zeitpunkt der Fallstudie wurden ein kostenfreier Telefon-Support sowie E-Mails, Briefpost, der Facebook-Messenger-Service und direkte Telefonverbindungen zu den jeweiligen Teammitgliedern verwendet. Seit dem Relaunch der Homepage https://oncampus.de ist ein Livechat als zusätzlicher Kommunikationskanal implementiert worden, der einen interaktiven Austausch zwischen Usern und Support-Team von oncampus ermöglicht (damals noch ohne integrierten Chatbot). Um den Usern einen schnellen Einstieg in den Austausch zu ermöglichen, wurde der Livechat auf die Startseite von www.oncampus.de einbettet (vgl. Abb. 24.1). Durch die Begrüßung „Moin“ soll eine lockere Kontaktaufnahme erzeugt werden. Der Livechat bietet neben einem schnellen interaktiven Austausch zwischen den Usern mit dem Support-Team auch die Option, außerhalb der Servicezeiten ein Kontaktformular innerhalb des Chats zu nutzen (vgl. Abb. 24.2). Nach Eingabe des Namens, des Betreffs, der E-Mail-Adresse sowie dem Anliegen, erzeugt das Kontaktformular im Nachgang ein E-Mail-Ticket, welches vom SupportTeam beantwortet werden kann. Die User erhalten anschließend eine E-Mail mit der Antwort des Support-Teams und können optional auch hierauf antworten. Neben dem Ticket-Support, bietet Livechat dem Support-Team auch die Option, Chats und Tickets mit Tags (Keywords bzw. Schlagwörtern) zu hinterlegen, und ermöglicht so ein verbessertes Filtern nach den jeweiligen Themen der Chats und Tickets. Die Auswahl der gewählten Tags ist hierbei an das Produktportfolio der Bildungsplattform https://oncampus.de angelehnt: MOOCs, Bachelor-Studium, Selbstlernkurse, Masterstudium etc. Alle Chats und erledigte Tickets wurden vom Support-Team nach Abschluss der Kommunikation händisch mit diesen Tags versehen, um so einen Überblick über die häufigsten Inhalte von Anfragen zu erhalten. Die Anfragen werden monatlich vom Support-Team händisch nach Themen geclustert und in einer Livechat-Analyse aufbereitet. Im Zeitraum vom 15.12.2017 bis 30.06.2019 sind insgesamt 1109 Anfragen in Form von Chats und Tickets sind über den Livechat beim Support-Team eingegangen. Der Livechat wurde von den Usern sehr positiv angenommen und zeigte ein starkes Anfragenwachstum im Vergleich zur kostenfreien Telefonhotline. Ende 2018 wurde diese eingestellt, da sie nicht mehr nachgefragt wurde: U. a. hatte der webbasierte Livechat die Infohotline bereits abgelöst.
Abb. 24.1 Einbindung des Livechats auf https://www.oncampus.de
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Abb. 24.2 Kontaktformular im Livechat
24.2.1 Livechat-Analyse als Entscheidungsgrundlage Noch vor dem Einsatz des Chatbots konnte durch die monatliche Auswertung der Livechat-Daten ein anonymisiertes Anfrageprofil der User erstellt werden: Zu welchen Themenbereichen fragen die User beim Support-Team an? Der Start des Livechats erfolgte am 15.12.2017, dem Tag des Relaunches der oncampusBildungsplattform. Bis zum 30.06.2019 sind über 1100 User-Anfragen via Livechat direkt an das Support-Team eingegangen. Die häufigsten Anfragen wurden zu den MOOC-Kursen gestellt (17 %), der Bereich der Bachelor-Studiengänge umfasste 14 % aller Anfragen (vgl. Abb. 24.3). Der hohe Anteil im Bereich der Bachelor-Anfragen überraschte, da diese zu einem großen Teil nicht in den Verantwortungsbereich des Support-Teams von oncampus fallen. Ein Großteil dieser formalen Fragen muss durch die jeweiligen
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Abb. 24.3 Livechat-Analyse
Standorte des Hochschulverbundes Virtuelle Fachhochschule (VFH) beantwortet werden, wobei die User zu diesem Zweck via https://oncampus.de auf die jeweiligen Hochschulseiten geführt werden sollten. Durch die monatliche Auswertung aller Chats und Tickets ergaben sich weitere Auffälligkeiten im Bereich der Bachelor-Anfragen: • die Chats mit den einzelnen Support-Mitarbeitenden sind sehr lang und beinhalten mehrere offene Fragen, die mit längeren Antworten beantwortet wurden, • die Frage- und Antwortmuster ähneln sich und • die User starten den Chat zum Teil auch von einer Position der Website aus, von der aus die nachgefragten Informationen selbst zu finden gewesen wären. Alle Anfragen im Bereich Bachelor-Studium wurden anschließend auf ein ähnliches Frage- und Antwortmuster hin geclustert. Es wurde untersucht, zu
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welchen Themen die Anfragen gestellt wurden. Auch hier konnten eindeutige Fragen- und Themenbereiche festgestellt werden (vgl. Abb. 24.4): • Zulassungsvoraussetzungen, • Anrechenbarkeiten von Vor- und Studienleistungen, • Einschreibungsfristen, • Inhalt von Studiengängen, • Kosten eines Onlinestudiums, • Ablauf eines Onlinestudiums sowie • weitere Informationen zu Präsenz- und Prüfungsphasen. Anfragen in den Bereichen Zulassungsvoraussetzungen, Anrechenbarkeit beruflicher Leistungen und Ablauf eines Onlinestudiums wurden am häufigsten gestellt. Wie bereits oben ausgeführt, ist das Support-Team von oncampus für einige hochschulbezogene Informationen oder gar Zusagen jedoch nicht zuständig. Themen mit formaler Relevanz dürfen nur in den Zulassungsstellen der jeweiligen Hochschulen beantwortet werden. Das Ziel war deshalb, den Bereich der Bachelor-Anfragen mit Unterstützung des Bots so zu automatisieren, dass der Support-Bereich der oncampus GmbH entsprechend entlastet und eine sinnvolle Differenzierung zwischen hoheitlichen bzw. formalen Bezugspunkten sowie organisatorischen bzw. allgemeinen Fragen hergestellt wird. Die erste Idee einer Verlinkung auf eine FAQ-Liste wurde schnell verworfen: Einerseits passte
Abb. 24.4 Clusterung der Bachelor-Anfragen nach Themen
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sie nicht in das interaktive UX-Konzept der Bildungsplattform https://oncampus. de, andererseits wäre hierbei lediglich eine Zusammenfassung von bereits zur Verfügung stehenden Informationen auf der Website möglich gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die User auch diese zusammengefassten Informationen nicht lesen, wurde als hoch eingeschätzt (vgl. Blackler et al. 2014). Die Entscheidung fiel daher auf die Implementierung eines interaktiven Chatbots, der das SupportTeam unterstützt. Die Basis für die Implementierung stellten hierbei die LivechatAnalyse mit den Anfrageinformationen der User und die weitere Clusterung der Bachelor-Anfragen dar.
24.2.2 Prototyping – wenn ein Chatbot zum Leben erwacht Sowohl der technologische Vorsprung in der Entwicklung von Bots als auch deren Training durch größere Datenmengen schlossen eine Eigenentwicklung von vornherein aus. Bevor ein Chatbot implementiert werden konnte, musste also zuvor die passende Softwarelösung ausgewählt werden. Neben IBM (vgl. IBM 2019) bietet auch Microsoft mit seiner Azure eine Chatbot-Lösung an (vgl. Microsoft 2019). Auch das Unternehmen Livechat hat mit seiner Bot Engine eine Lösung im Programm, die es ermöglicht, einen Chatbot zu erstellen, weiterzuentwickeln und direkt in den bestehenden Chat zu integrieren (vgl. Livechat 2019). Allen voran führten die einfache Oberfläche und die userfreundlichen Features zur Entscheidung für Livechat mit seiner Bot Engine (vgl. Chatbot 2019). Durch einfache Drag-and-Drop-Elemente können ein Chatbot entwickelt und Gesprächsszenarien erstellt werden (vgl. Abb. 24.5). Die Basis für die Gesprächsszenarien stellen hierbei die oben beschriebenen Analysen dar, die ein genaues Anfrageprofil der User beschreiben. Zu den einzelnen Themengebieten wurden im Anschluss konkrete Antworten formuliert. Ergänzend wurde auch mit verschiedenen Links zu Hochschulen oder auf Blogartikel von https://www. oncampus.de/blog/ gearbeitet. Bei der Erstellung der Gesprächsszenarien wurde dem Chatbot ein eigener Duktus gegeben. Die Sprache vom Bot sollte analog der Website https:// oncampus.de sein, um einen Wiedererkennungs- und Erlebniswert beim User zu erzeugen. Die Texte erhalten daher eine Vielzahl von Smileys, motivierenden Worten und sind „locker“ sowie in unkomplizierter Sprache geschrieben (vgl. Abb. 24.6). Um das Paradigma der Öffnung zu unterstützen, sollen den Usern durch die lockeren Texte auch mögliche Ängste zu Eintrittsbarrieren für ein Studium genommen werden. Zudem soll hierdurch ein „Spaßfaktor“ weiter
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Abb. 24.5 Drag-andDrop-Elemente zu BotEntwicklung
Abb. 24.6 Textbeispiele des Chatbots
durchgesetzt werden: Bildung macht Spaß. Die Sprache des Bots wurde so entwickelt, dass sie vom User als „menschlich“ wahrgenommen wird. Eine Grafik und ein entsprechender Name, Hilfe-Heidi, wurden für den Bot erstellt, um ihm ein menschliches Erscheinungsbild zu geben. Zudem erhalten die User vom
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Chatbot nach einer Frage im Chat nicht eine sofortige Antwort, sondern erst nach einer zweisekündigen Tippzeit des Bots („Hilfe-Heidi schreibt …“). Auch wenn dies trivial wirkt: Durch dieses zusätzliche Feature wurde dem Bot ein weiteres menschenähnliches Attribut mitgegeben. Nach Erstellung der Gesprächsszenarien wurden im nächsten Schritt die Übertragung der Textbausteine in die Bot Engine umgesetzt sowie Gesprächsbäume und Abläufe erstellt. Wichtig war es hier, dass der User mit Auswahloptionen durch das Gespräch geführt wird. Das Ziel war es, dass zunächst nur die Bachelor-Anfragen vom Bot automatisiert werden (s. o.). Alle weit eren Themenbereiche sollten nach wie vor vom Support-Team übernommen werden. Der Gesprächsablauf wurde in Abb. 24.7 skizziert. Der Chatbot Hilfe-Heidi nimmt jeden Chat als Erstes an und stellt den Usern vier Themenbereiche zur Auswahl: „Bachelor“, „Master“, „Kurse im Shop“ und „etwas Anderes“. Wird der Bereich „Bachelor“ ausgewählt, wird das oben beschriebene Gesprächsszenario durchlaufen, denn für dieses soll langfristig eine Automatisierung der Anfragen erfolgen. Zu den anderen drei Bereichen ist im ersten Schritt keine Automatisierung vorgesehen – hier leitet der Chatbot direkt an einen Support-Agent von oncampus weiter. Der Grund hierfür ist, dass die User-Anfragen zu diesen Bereichen sehr komplex sind und keine Automatisierungsansätze in ähnlichen Frage- und Antwortmustern gefunden werden können. Zudem musste sichergestellt sein, dass Hilfe-Heidi einen laufenden Chat im Bereich Bachelor an einen Support-Agent von oncampus weiterleitet, sofern sie die korrekte Antwort nicht weiß. Es soll ganz klar vermieden werden, dass User an Hilfe-Heidi „hängen“ bleiben und unzufrieden den Chat und die Website verlassen. Zudem bietet die Bot Engine eine userfreundlichere Option zum derzeit noch bestehenden Kontaktformular an: Der Chatbot kann auch im Laufe des Gesprächs mit den Usern Support-Tickets erstellen. Diese Möglichkeit wird angeboten, wenn niemand vom oncampus-Support-Team von oncampus verfügbar ist – vorrangig am Wochenende und werktags in den Abendstunden. Diese Ticketfunktion wurde für alle vier Themenbereiche Bachelor, Master etc. entsprechend eingesetzt. Nach Erstellung der Gesprächsabläufe in der Bot Engine musste diese intern auf Fehler überprüft werden. Es wurden die Fälle analysiert, in denen der Chat nicht optimal verläuft. Ergänzend hierzu boten die Testdurchläufe auch die Möglichkeit, Hilfe-Heidi weitere Antworten auf Fragen „beizubringen“, bei denen sie zunächst nicht weiterhelfen konnte. Ziel war es hier, eine noch höhere Antwortquote zu erzielen. Das „Training“ konnte hierbei auch in der Bot Engine umgesetzt werden und bietet eine einfache Grundlage, die Antwortqualität des Chatbots zu verbessern.
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Abb. 24.7 Gesprächsverlauf: Konzeptskizze
Das Livechat-Tool bietet als Umgebung in diesem Zusammenhang ein Trainingscenter mit einem vergleichsweise leicht zu bedienenden User Interface (vgl. Abb. 24.8). Die Chats, die nicht automatisiert bis zum Abschluss gebracht bzw. die von Hilfe-Heidi zu einem Agent aus dem Support-Team übergeleitet werden, werden im Trainingscenter automatisch aufgelistet. Es bestehen im Anschluss stets drei Möglichkeiten der Optimierung: • Zuordnung der Anfrage zu einer bestehenden Antwort, • inhaltliche Ergänzung einer bestehenden Antwort (bspw. mit einem Satz) oder
Abb. 24.8 Auszug: Bot-Trainingscenter
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• Erstellung eines neuen Gesprächsszenarios, da keine bestehende Antwort die Anfrage abdeckt. Die Testdurchläufe wurden zunächst intern von oncampus-Mitarbeitenden aus verschiedenen Funktionen des Unternehmens mit Fragen aus den jeweiligen Aufgabengebieten durchgeführt. Einbezogen wurden darunter: • eine Weiterbildungskoordinatorin, die sich primär um die Betreuung der Bachelor- und Masterstudiengänge kümmert, • eine Mitarbeiterin aus dem Bereich User Experience, die den Chat vorrangig aus der UX-Sicht betrachtet und • ein Entwickler, der den technischen Ablauf des Bots und die Funktionalität des Ticketsystems überprüft. Durch die Hinweise aus den verschiedenen Bereichen konnten beim Chatbot noch einige Verbesserungen umgesetzt werden, damit dieser in der Praxis potenziell noch besser von den Usern angenommen wird. Eine wichtige Korrektur in diesem Zusammenhang war der zusätzliche Einsatz der Zwischenfrage an die User. Wenn User nach Erhalt einer Information den Chat verlassen, ist die Analyse dieses Verhaltens später schwierig. Es stellt sich die Frage, ob die gegebene Information die Antwort war, die sich die User wünschten, oder ob sie die Kommunikation mit dem Bot aufgaben, da er sie bisher nicht zur benötigten Antwort führte. Daher wurde die Zwischenfrage eingeführt, in der der Bot nach jeder Antwort die Frage stellt: „Auch ich lerne gerne dazu, sage mir doch kurz, ob dir meine Antwort schon weitergeholfen hat.“ Die User haben hier drei Auswahlmöglichkeiten: „Ja, ich bin zufrieden“, „Nein, ich habe weitere Fragen“ oder „Leite mich direkt zum Support-Team“. Insgesamt wurden ca. 140 Testdurchläufe über mehrere Wochen umgesetzt, Korrekturen vorgenommen und das Ticketsystem überprüft. Die Testphasen inklusive der Korrekturen umfassten insgesamt acht Wochen – als Starttermin wurde der 15.01.2019 festgelegt, um dem Chatbot die wichtige Praxiserfahrung zu geben. Neben der Konzeption und Entwicklung eines Chatbots selbst war es auch wichtig, dessen Erfolg zu messen. Ein eigenes Trackingsystem für vorher festgelegte Kennzahlen musste entwickelt werden. Hierfür wurden verschiedene Kennzahlen in Betracht gezogen (Tab. 24.1). Die Kennzahl Fehlerrate wurde im vorliegenden Fall zunächst außen vor gelassen, da die Chats, die nicht beantwortet werden konnten, in der Bot Engine automatisch aufgelistet werden. Zudem war es im ersten Schritt nicht das Ziel,
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Tab. 24.1 Kennzahlen und Spezifizierungen beim Bot-Training. (Eigene Darstellung 2019) Kennzahl
Spezifizierung
Erfolgsquote
Auf wie viele Fragen konnte der Bot antworten?
Fehlerrate
Auf wie viele Fragen zum Bachelor-Studium konnte der Bot nicht antworten?
Abbruchquote
Wie viele Chats sind vom User vorzeitig abgebrochen worden?
Engagement/Visits
Wie viele User haben den Chatbot genutzt?
Chatbot-Transfer
Wie viele Anfragen werden vom Bot zum Support-Team weitergeleitet?
dass alle Anfragen vom Chatbot automatisiert beantwortet werden können. Primär sollten die Kennzahlen Erfolgsquote, Abbruchquote und Anzahl der Chats herangezogen werden. Da jeder Chat vom Bot angenommen wird, wurde zusätzliche die Quote des Chatbot-Transfers zum Support-Team eingeführt. Um eine Übersicht über die Gründe des Chatbots-Transfers zu erhalten, wurden diese zusätzlich in die vier Auswahlfelder „Bachelor“, „Master“, „Kurse im Shop“ und „etwas Anderes“ untergliedert. Diese Clusterung liefert zudem weitere Erkenntnisse zum Userverhalten auf https://oncampus.de. Es konnte herausgefiltert werden, zu welchen Themen die meisten Anfragen gestellt werden. Für das Tracking der User-Anfragen hat sich ein monatlicher und für das Training in der Bot Enginge ein wöchentlicher Zyklus bewährt, um ausreichende Lerneffekte zu generieren. Zusätzlich wurde eine Prioritätenliste angelegt, in der Ideen zur weiteren Anpassung und Optimierung des Chatbots aufgelistet werden. Die Liste wird darüber hinaus auch als Zusammenfassung von Feedbacks verwendet.
24.3 Empirische Ergebnisse Nach über sechs Monaten im Praxiseinsatz auf https://www.oncampus.de liefert der Chatbot bereits erste positive Ergebnisse zu den gestellten Anforderungen. Im Zeitraum 15.01.2019 bis 28.07.2019 sind insgesamt 961 Anfragen über den Livechat eingegangen, wovon 319 Chats an Support-Mitarbeitende (Kennzahl Chatbot-Transfer) weitergeleitet wurden. 66,8 % und damit mehr als zwei Drittel aller Anfragen konnten somit ausschließlich mit dem Chatbot und ohne einen zusätzlichen Kontakt durch Support-Mitarbeitende von oncampus bearbeitet werden.
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Von den 642 Chats, die der Bot übernommen hat, führten 278 Chats (43,30 %) zu einem automatisierten Prozess (vgl. Abb. 24.9). Die Automatisierung verfolgt hierbei die zwei Ziele, die der Chatbot erfüllen soll: • Bachelor-Anfragen werden automatisiert vom Bot beantwortet und abgeschlossen. • Automatische Erstellung eines Tickets zu allen Themenbereichen als Ablösung zum Ticketformular für die weitere Beantwortung durch das Support-Team. Insgesamt konnten 25 Chats im Bereich der Bachelor-Anfragen automatisiert beantwortet und abgeschlossen werden, 35 Tickets wurden zu diesem Thema erstellt und 41 Chats wurden an das Support-Team direkt weitergeleitet (vgl. Abb. 24.10). Die im Vergleich hohe Anzahl an Chatbot-Transfers war in der Anfangszeit zu erwarten, da die User beispielsweise Fragen mit anderem Wortlaut stellten, als es oncampus-Mitarbeitende tun würden. Die Tickets und der Chatbot-Transfer sind daher wichtige Faktoren für die positive Weiterentwicklung des Bots, da diese Anfragen in der Bot Engine aufgelistet und somit für den Bot „trainierbar“ sind. Zukünftig wird der Chatbot auf Anfragen mit den Keywords
Abb. 24.9 Auswertung Chatbot Hilfe-Heidi
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Abb. 24.10 Aufteilung Bachelor-Anfragen über den Chatbot
besser antworten können. Mit diesem heuristischen Verfahren wird der Chatbot optimierter und besser. Die 25 vollautomatisierten Chats zeigen, dass die im Vorwege festgelegten Themenbereiche zum Bachelor-Studium Anklang bei der Zielgruppe finden. Die Chats zeigen, dass User häufig nach Erhalt der ersten Information bereits zufrieden sind und keine weiteren Informationen mehr benötigen. Für die Zukunft ist geplant, dass die Themenbereiche noch weiter optimiert und ergänzt werden. Es konnte herausgearbeitet werden, dass vor allem die Thematiken „Studieren ohne Abitur“ und „Bafög“ Themenbereiche sind, zu denen sich die User weitere Informationen wünschen. Die 35 automatisierten Bachelor-Tickets zeigen eine weitere positive Entwicklung: sie demonstrieren, dass das neue Ticketsystem direkt aus dem Gespräch mit dem Chatbot heraus von den Usern positiv aufgenommen wird und dieses fehlerfrei funktioniert. Das Gegenstück zur Automatisierung sind diejenigen Anfragen, die ohne Chatbot-Transfer, Ticketerstellung oder Beantwortung der Zwischenfrage von den Usern beendet wurden. Der Anteil der Anfragen liegt hier bei 56,7 % und umfasst 364 Anfragen. Über die genauen Gründe, warum die User den Chat nicht weiter durchlaufen wollten, können nur erste Erklärungsansätze geliefert werden, da das Feedback der einzelnen User ausbleibt. Die Chats werden hierbei auf verschiedene Weisen vorzeitig beendet:
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• User verlassen den Chat gleich nachdem sie ihn betreten haben, • User werden zum Support-Team weitergeleitet, verlassen den Chat jedoch trotzdem, • User haben Informationen im Bereich Bachelor erhalten und beantworten die Zwischenfrage nicht mehr, • User geben zwar ihr Anliegen, jedoch nicht ihre E-Mail-Adresse bekannt, wenn ein Ticket für das Support-Team erstellt wird. Erste Hypothesen für das vorzeitige Abbrechen des Chats können sein, dass die User nicht mit einem Chatbot kommunizieren möchten, sie möglicherweise die notwendigen Informationen erhalten haben, ihnen jedoch die Beantwortung der Zwischenfrage nicht wichtig erscheint oder sie nicht an der Erstellung eines Tickets für das Support-Team festhalten möchten. Wie bereits erwähnt, sind dieses nur erste Erklärungsansätze, da das User-Feedback (bisher) ausbleibt. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Chatbot in den ersten sechs Monaten erste Erfolge für den skizzierten internen und externen SupportBedarf erzielt hat. Durch den täglichen Praxiseinsatz kann auf Grundlage von Heuristiken eine userangepasste Optimierung des Bots erfolgen. Der Chatbot wird sehr positiv von den Usern angenommen, dies wird auch in den vielen Gesprächen im Chat deutlich, was im folgenden Kapitel weiter ausgeführt wird. Neben der positiven Annahme des Chatbots durch die User wurde im Verlauf der regelmäßigen Analysen ein weiterer positiver Effekt deutlich: Hilfe-Heidi erreicht mit ihrem 24/7-Support-Service und ihrem userfreundlichen Feature der Ticketerzeugung User, die vorher nicht erreicht wurden. Somit ist eine neue Ausprägung der Reichweite entstanden.
24.3.1 Positive Ticketentwicklung – Erhöhung der Userreichweite Durch die 24/7-Support-Zeit eines Chatbots wird den Usern eine völlig neue Servicedimension angeboten: die always-on-opportunity. Der Chatbot ist nach seiner Einführung unabhängig von der Uhrzeit aktiv, kommuniziert mit dem User und bietet eine smartere Variante an, ein Ticket beim Support-Team zu hinterlassen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Auswirkungen diese veränderte Ticketfunktion des Chatbots im Vergleich zum vorherigen Kontaktformular hat. Die vorliegenden Auswertungen liefern erste positive Ergebnisse (vgl. Abb. 24.11).
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Abb. 24.11 Ticketentwicklung: Vergleich 2018 zu 2019
Seit der Umstellung des Ticketsystems vom ehemaligen Kontaktformular zur automatischen Ticketerstellung aus dem Gespräch mit dem Chatbot heraus, konnte eine erhöhte Anzahl an Tickets an das Support-Team festgestellt werden (vgl. Abb. 24.11). Während im Vergleich zu 2018 in sechs Monaten 130 Tickets erstellt wurden, waren es im selben Zeitraum seit Einsatz des Chatbots mit 245 Tickets fast doppelt so viele Aussendungen. Die Tickets konzentrieren sich hierbei nicht nur auf die Bachelor-Anfragen, sondern sie umfassen alle Themenbereiche, wie aus der Livechat-Analyse zu entnehmen ist. Auch hat sich im Vergleich zum Vorjahr der Schwerpunkt der Ticketerstellung geändert: Während im Vorjahr die meisten Tickets vorrangig am Wochenende (Samstag, Sonntag) erstellt wurden, so ist seit der Implementierung des Chatbots eine sehr ausgeglichene Ticketerstellung zu beobachten (Abb. 24.12). Die User nutzen die always-on-opportunity des Chatbots außerdem häufiger als das Kontaktformular. Durch die verschiedenen Anfragethemen, die die Tickets beinhalten, hat der Support so die Möglichkeit, mit Usern in Kontakt zu treten, mit denen er vorher nicht in Kontakt treten konnte. Rückfragen zu Kursinhalten, Zertifikaten und kostenpflichtigen Weiterbildungskursen werden an den Chatbot gerichtet. Ob durch den Chatbot bereits eine erhöhte Anzahl an Kursbuchungen zu verzeichnen ist, kann an dieser Stelle nicht valide beantwortet werden. Einerseits ist der Chatbot noch nicht lange im Einsatz, andererseits ist er nur
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Abb. 24.12 Ticketerstellung je Wochentag
eine von vielen möglichen Komponenten, die zur Buchungsentscheidung beitragen. Zusammenfassend lässt sich zu diesem Zeitpunkt sagen, dass der Chatbot neue Möglichkeiten bietet, Zugang zu verschiedenen Usern zu erschließen und den Support-Level weiter zu steigern. Zudem liefert er eine smartere Lösung als Alternative für ein klassisches Kontaktformular.
24.3.2 Einflüsse auf die User Experience Neben den oben vorgestellten drei Erfolgsfaktoren Usability, Ästhetik und Zugänglichkeit kann durch UX auch die emotionale Ebene der User durch Funktionalität und – allen voran – durch Sprache erreicht werden (vgl. Held und Schrepp 2018). Die Sprache des Chatbots hat daher einen besonderen Stellenwert in seiner Entwicklung eingenommen: Er wurde sprachlich an die lockeren, Geschichten erzählenden Texte von https://oncampus.de angepasst und menschenähnlich gestaltet. Dass die Entwicklung eines eigenen Duktus für den Bot auch Teil seines Erfolges ist, lässt sich auch an einzelnen Chats mit dem Bot erkennen (vgl. Abb. 24.13 und 24.14): Die User „reden“ mit Hilfe-Heidi als wäre sie ein Mensch:
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Abb. 24.13 Gesprächsbeispiel: Chatbot Hilfe-Heidi
Abb. 24.14 Gesprächsbeispiel 2: Chatbot Hilfe-Heidi
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• Sie sprechen Hilfe-Heidi aktiv mit ihrem Namen an, • sie bedanken sich bei ihr, • sie wünschen ihr einen schönen Tag. Dies sind Reaktionen, die seitens der User zunächst nicht erwartet wurden. Dem Bot musste beigebracht werden, auf diese Reaktionen gleichermaßen zu antworten (vgl. Abb. 24.14). Der Chatbot erhält so eine erhöhte Akzeptanz bei den Usern. Zum einen werden sie animiert, sich mit ihm zu beschäftigen und ihn auch aktiv zu nutzen. Der Duktus des Bots soll mit seiner Sprache das Vertrauen bei den Usern durch seine Menschlichkeit und auch durch seine unkomplizierte Sprache erzeugen. Zudem wird mit dem Kontaktformular einer der drei Erfolgsfaktoren der UX begünstigt: eine hohe Usability (vgl. Jacobsen und Meyer 2017). Der Chatbot bietet den Usern im aktiven Chat an, eine Nachricht für das Support-Team zu hinterlassen. Dies stellt eine wesentliche Vereinfachung für die User dar, da sie nicht mehr die Pflichtangaben Name, Betreff, Nachricht und E-Mail-Adresse im Vorwege ausfüllen müssen, um ein Kontaktformular für das Support-Team zu erzeugen. Im laufenden Gesprächsprozess zwischen Usern und Bot scheint die Usability für die User, eine Nachricht beim Support-Team zu hinterlassen, einfacher zu sein, als die Kontaktaufnahme über das Kontaktformular. Der Chatbot liefert hier auch für die User wesentliche Vereinfachungen im Sinne verbesserter Usability, da er weniger Daten benötigt und ein Ticket automatisiert erstellt (vgl. Abb. 24.15).
24.4 Fazit und Ausblick Chatbots begegnen uns bereits auf vielen Websites wie Onlineshops, Plattformen oder anderen interaktiven Onlineangeboten. Sie bieten den Usern für die verschiedensten Themenbereiche Unterstützung an. Der Chatbot Hilfe-Heidi auf der Bildungsplattform https://oncampus.de ist seit sechs Monaten im interaktiven Livechat eingebettet. Er liefert bereits positive Ergebnisse und auch neue Erkenntnisse über die User. Neben der Automatisierung von häufigen Anfragen bietet der Chatbot ein nutzerfreundlicheres Feature zur Ticketerstellung und konnte so User erreichen, die vorher nicht erreicht wurden. Der Duktus des Bots mit seiner menschlichen, unkomplizierten Sprache spricht die User an, mimt Menschlichkeit und schafft Vertrauen. Das langfristige Ziel ist es, den Chatbot weiter zu optimieren und auch für weitere Themenbereiche auszubauen. So könnte der Chatbot zukünftig nicht nur
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Abb. 24.15 Einfache Ticketerstellung im Chat
zum Bereich Bachelor-Anfragen Antworten geben, sondern auch zum Kursangebot von https://www.oncampus.de. Ein weiteres Einsatzszenario könnte die Implementierung des Bots in das Lernmanagement-System sein, in welchem er häufige User-Anfragen zu den spezifischen Kursen oder dem Lernraumaufbau interaktiv beantwortet und somit ein nahtloses „Bildungserlebnis“ unterstützt werden kann. Chatbots können überall dort eingesetzt werden, wo User Kontakt suchen, Unterstützung benötigen oder andere Informationsbedürfnisse befriedigt werden können. Der Chatbot Hilfe-Heidi wird im nächsten Schritt im Bereich der UX weiter optimiert. Neben einem Scroll-Back-to-Top-Button soll den Usern auch bei längeren Texten die Möglichkeit gegeben werden, mit einem Klick wieder zurück zum Auswahlmenü zu kommen. In die bestehenden Texte werden weitere Elemente, wie direkte Verlinkungen auf die Hochschulen und Bilder eingefügt. Die Antworten des Bots sollen so zum einen „lebendiger“ wirken und es soll den Usern gleichermaßen mit Links eine Vereinfachung angeboten werden. Im letzten Quartal 2019 ist eine gezielte Marketingaktion geplant, um zu testen, inwieweit ein Chatbot auch im Verkauf von Onlineweiterbildungskursen aktiv unterstützen kann. Geplant ist, dass der Chatbot bei Fragen zu den Kursen einen Rabattcode generiert, den die User auf https://www.oncampus.de einlösen können. Die Aktion wird zwei Monate getestet und evaluiert, um neue Erkenntnisse zu erzielen und die Fallstudie auszuweiten.
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Chatbots – als Beispiel einer einfachen KI – sowohl den Usern (im Sinne von Interessierten sowie Kundinnen und Kunden) als auch den Support-Teams für Bildungsangebote eine Arbeitserleichterung und einen Mehrwert bieten können. Es können User angesprochen werden, die vorher nicht erreicht wurden und es werden auf diese Weise neue Möglichkeiten der Kommunikation geschaffen. Die Implementierung eines Chatbots wie in der vorliegenden Fallstudie setzt Know-how aus drei Bereichen voraus: IT-Entwicklung, UX und User-Support. Es gibt bereits viele IT-Lösungen auf dem Markt, auf denen aufbauend eigene Lösungen entwickelt werden können. Die wöchentlichen Optimierungen des Bots können von Mitarbeitenden ohne besondere Qualifikationen im IT-Bereich umgesetzt werden. Sie sind mit 1,5 bis 2 h pro Woche im vorliegenden Case als gering einzustufen – insbesondere im Vergleich zur eingesparten Support-Zeit für Standardanfragen. Je mehr Praxis ein Bot bekommt, umso schneller kann er heuristisch optimiert und effektiv eingesetzt werden. Die vorgestellten Erfolgsfaktoren der UX sollten bei der Entwicklung des Chatbots unbedingt berücksichtigt werden, um auch eine entsprechende Akzeptanz bei der Zielgruppe zu erzielen. Die Fallstudie zeigt, dass Chatbots einen hohen Beitrag zur Erreichung des nächsten Levels in der User Experience von Bildungsanbietenden und Bildungseinrichtungen leisten können. Für die Herausarbeitung konkreter und allgemeingültiger Handlungsempfehlungen sind allerdings weitere Untersuchungen nötig.
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Dunja Todorovic arbeitet als Bildungsrakete bei der oncampus GmbH, einem OnlineBildungsanbieter, im Bereich Online-Marketing und Plattformentwicklung. In einem kreativen Team aus Entwickler/innen, Medienentwicklung, Didaktik und Online-Marketing arbeitet sie neben der Shop-Entwicklung von oncampus.de – einer Online-Bildungsplattform – an der Weiterentwicklung und Vermarktung neuer digitaler Produkte sowie an der weiteren Entwicklung eines Support-Bots. Digitale Lernplattformen zu entwickeln und
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mit ihnen zu arbeiten, sind Teil ihrer DNA. Ihre neueste Spielwiese ist die Welt der UserExperience, um im Bereich der Plattformentwicklung den Usern ein optimales Bildungserlebnis zu ermöglichen. Online zu finden ist sie auf Twitter (@dunjatodorovic1) und Linkedin, ihrem neuesten Learning-Tool. Farina Steinert ist studierte Betriebswirtin und hat einen Master in Erwachsenenbildung absolviert. Sie arbeitet seit 2005 im Bereich der digitalen Bildung. Von 2016 bis 2019 hat sie am Institut für Lerndienstleistungen der TH Lübeck für oncampus den Aufbau der Bildungsplattform www.oncampus.de geleitet. Die Plattform wurde wegen ihrer besonderen User Experience mehrfach ausgezeichnet. Aktuell leitet sie an der TH Lübeck Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Integration Künstlicher Intelligenz in Lernumgebungen von Hochschulen.
Teil VI Conclusio und Ausblick
Zukunftsperspektiven für digital gebildete menschliche und künstliche Co-Intelligenz
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Ronny Alexander Fürst Inhaltsverzeichnis 25.1 Wirtschaftlicher Schlüsselfaktor Digitale Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2 Mensch und KI in Co-Evolution – Ergänzungen, Ersetzungen, Grenzen und neue Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3 Gesellschaftliche Zukunftsagenda Digitale Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.4 Digitalisierung und Künstliche Intelligenz im Kontext der Hochschulbildung. . . 25.5 Zusammenfassung und Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte zur Veränderungsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Im Folgenden sei in einer Rückschau nochmals zusammengefasst, welche theoretischen Leitlinien den Sammelband führten. Ferner sei anhand der Ergebnisse konturiert, welche Entwicklungen sich über die Beiträge insgesamt abzeichnen und welche Wirkungen derartige Entwicklungen in Bezug auf das Verhältnis zwischen digital gebildeter menschlicher und künstlicher CoIntelligenz aufweisen könnten.
25.1 Wirtschaftlicher Schlüsselfaktor Digitale Bildung Im zweiten Teil des Bandes wurde der Erhaltung einer digitalen Wettbewerbsfähigkeit in Wirtschaft und Unternehmen nachgegangen. Um diesen Themenkomplex herum wurden sechs Beiträge versammelt. Hierbei erarbeiteten die R. A. Fürst (*) AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 R. A. Fürst (Hrsg.), Digitale Bildung und Künstliche Intelligenz in Deutschland, AKAD University Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30525-3_25
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Beiträge nach einer eingangs erfolgten Standortbestimmung und Erarbeitung der Bedeutung einer bildungstheoretisch fundierten Digitalen Bildung für die Wirtschaft aus verschiedenen Perspektiven (kleine Unternehmen, Mitarbeiter und Führungskräfte, IT-Requirements Engineering sowie zwei Branchenstudien) einerseits die Herausforderungen, vor denen die Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt stehen. Zugleich identifizierten sie verschiedene Facetten der Digitalen Bildung als wesentlichen Teil der Lösung für sich andeutende Problemstellungen. Damit beleuchteten sie den Beitrag, welchen Digitale Bildung bei der Bewältigung der Herausforderungen einer digitalen Wirtschaft einnehmen kann. Betrachtet man die sich hier am deutlichsten abzeichnenden Entwicklungen, so zeigt sich insbesondere, dass die Herausforderung für Digitale Bildung darin besteht, eigenverantwortliche, selbstständige Mitarbeiter flächendeckend heranzubilden, welche neben den Kenntnissen der neuen digitalen Möglichkeiten, z. B. von Geschäftsmodellen und den Herausforderungen von IT-Investitionen, insbesondere auch über das eigene Silo hinausdenken und sich in der zukünftigen vernetzten Welt sicher und in vielfacher Hinsicht zugleich sozial kompatibel bewegen. Gleichzeitig benötigt dies Führungskräfte, welche dazu in der Lage sind, eine Unternehmenskultur zu etablieren, in der Mitarbeiter ihre einzigartigen Fähigkeiten auch gewinnbringend einbringen können und diese Fähigkeiten zum gemeinsamen Wohl des Unternehmens orchestrieren können, anstatt diese gegeneinander auszuspielen. Hierbei gilt: Es kommt zunehmend entlang der sachlichen wie zeitlichen Achse zu Transparenz und damit einhergehend auch zu einem Ordnungsprozess. Neben diesen für Unternehmen wie für Mitarbeiter unbestreitbar herausfordernden wettbewerblichen Gegebenheiten gilt, dass hierin für Mitarbeiter wie für Unternehmen auch eine große Chance liegt. So sorgt die entstehende Transparenz dafür, dass (an der Basis im Kundenkontakt) zunehmend auch deutlich wird, welche Mitarbeiter wo den Unterschied machen und die zunehmend selbstständigen Kunden dies ggf. auch öffentlich kundtun. Mitarbeiter, die insofern derjenigen Tätigkeit nachgehen, welche ihnen auch wirklich liegt, und die genau dort wirken, wo ihre einzigartigen Fähigkeiten liegen, werden so für die Unternehmen zunehmend unverzichtbar im Wettbewerb. Umgekehrt mögen digital nicht gebildete Mitarbeiter temporär vielleicht einen guten Eindruck erscheinen lassen, doch wird dieser kaum dauerhaft durchgehalten werden können, sodass sie dann mitunter von selbst das Unternehmen verlassen, welches sich mitsamt der Kunden zunehmend gegen sie wendet, weil Schein und Sein zu sehr und an zu vielen Stellen auseinanderklafft und eben dieses immer transparenter wird. Gleichzeitig gilt auch für Unternehmen, dass mit zunehmender Transparenz die Konzentration auf die eigenen Stärken im Vergleich und damit die Kundenorientierung hin zu denjenigen Kunden, welche die höchste Wertschätzung für die
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Fähigkeiten und Leistungen des Unternehmens aufweisen, noch wichtiger wird. Unternehmen, welchen es gelingt, hier mit ihren Kunden in symbiotische, nachhaltige Beziehungen einzutreten, verfügen dann über Wettbewerbsvorteile, die kaum mehr durch andere Wettbewerber besetzt werden können. Zuletzt liegt in der aktuellen Situation eine große Chance für Bildungsanbieter, zeigt sich doch im internationalen Vergleich, dass bisherige Wege, Bildung zu erzeugen, immer auch mängelbehaftet sind. Gelingt es – und bislang ist noch offen, wem dies gelingt – die Vorteile der verschiedenen Modelle zu vereinen, um der Wirtschaft geeignet ausgebildetes Personal verfügbar zu machen, dürfte sich ein besonderes Bildungsangebot ergeben, das sich großer Nachfrage erfreut. Viel spricht dafür, dass ein Ansatz, welcher auf konsequenter Transparenz und Freiwilligkeit für die Lernenden, verbunden mit einer entsprechenden Fehlerkultur basiert, geeignet ist, hier die besten Resultate zu erzielen.
25.2 Mensch und KI in Co-Evolution – Ergänzungen, Ersetzungen, Grenzen und neue Schwerpunkte Im dritten Teil des Bandes wurde eine zweite große theoretische Linie entfaltet, mit der jede und jeder konfrontiert wird, der sich der Analyse Digitaler Bildung widmet. So kommt zunehmend mit der Künstlichen Intelligenz ein Faktor ins Spiel, welcher zuvor allein dem Menschen zugeeignete Bereiche von Kompetenzen zu ersetzen in der Lage ist. Diese ist insofern sowohl als eigenständiger Akteur als auch als Instrument in Relation zum Menschen zu justieren, will man bestimmen, welchen Weg Digitale Bildung angesichts dessen einschlagen könnte oder auch sollte. Im vorliegenden Sammelband erfolgte eine Betrachtung dieses Themenfeldes aus fünf Perspektiven. Deutlich wurde in diesem Rahmen, dass sich wechselseitig herausarbeiten lässt, in welcher Beziehung Digitale Bildung zu Künstlicher Intelligenz steht und welche Herausforderungen daraus erwachsen. So wird zunächst klar, dass für den Menschen – im Abgleich mit den Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz – zunehmend auch eine Reihe von intellektuellen Routinefähigkeiten von abnehmender Wichtigkeit ist. Währenddessen gewinnen Qualifikationen wie Kreativität, Anpassungsfähigkeit an durch KI aufgebrachte Veränderungsnotwendigkeiten und interdisziplinäres Querdenkertum an Bedeutung. Es wird zudem deutlich, dass Kollaboration und integratives holistisches Denken zu Schlüsselfähigkeiten werden, da der Mensch mit zunehmender Vernetzung als Einzelner aus einer Makroperspektive gar nicht mehr über die Möglichkeiten verfügen kann, alles zu durchdringen. So steigen die Möglich-
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keiten, wie bestimmte Ergebnisse zustande gekommen sind, in einer vernetzten Welt exponentiell an und die Ursachenforschung, warum diese zustandegekommen sind, nimmt ebenso exponentiell zu. Zugleich bedarf gerade die Erzeugung herausragender Qualität des Eingangs der Perspektiven vieler. Der ubiquitäre Rohstoff Information legt darum umfangreich Kollaboration nahe, nicht nur, um Synergien zu erzeugen, sondern auch, um ein neues Qualitätsniveau zu erreichen. Anders formuliert, mag der einzelne Mensch einer Künstlichen Intelligenz unterlegen sein und kann sich vielleicht nicht schnell genug anpassen, viele, sehr gut und vertrauensvoll zusammenarbeitende Menschen als funktionierendes Netzwerk hingegen werden gegenüber einer Künstlichen Intelligenz weiter im Vorteil sein. Für eine solche Art von Schwarmintelligenz bedarf es aber digital gut gebildeter Einzelsubjekte. Voraussetzung ist zudem, dass der Rohstoff Information frei fließt oder anders formuliert, dass das Vertrauen vorhanden ist, Informationen unabhängig von den Konsequenzen für einen selbst weiterzugeben. Künstliche Intelligenz hingegen kann eine Vielzahl an Handlungsweisen und Informationen absorbieren, aber sie kann – über eine in einer eng beschränkten Domäne erfolgende Vorklassifizierung hinaus – nicht ausreichend moralisch urteilen lernen. Auch ist sie gegenüber ihren eigenen vergangenen Handlungen indifferent, hat also anders als ein Mensch weder Geschichte noch Gewissen. D. h. sie begegnet sich nicht im Spiegel ihrer selbst – und das bedeutet: wieder und wieder. Insgesamt erweist sich Künstliche Intelligenz damit als nützliches Instrument, welches Herausforderungen einer vernetzten Welt adressieren kann, die ein Mensch aufgrund seiner kognitiven Begrenzungen schlechter lösen kann. Zugleich ist sie allerdings zwingend an ethische Urteile verantwortlich handelnder Menschen gebunden. Diese denken in einer vernetzten Welt jeweils nicht nur an sich, sondern über sich hinaus an die Folgen ihres Handelns und die Folgen der Handlungen anderer, suchen Rückkopplungen und beachten diese zuhörend, um sich der Richtigkeit ihrer Handlungen zu versichern. Dazu gehört beispielsweise auch ein ausgehandelter Interessensausgleich unterschiedlicher Stakeholder einer funktionierenden Demokratie. Zudem steigt die Verantwortung des Einzelnen in der Mikroperspektive. So deutet sich an, dass der Mikroperspektive mehr und mehr Bedeutung zukommt, weil auf der Makroebene Ursachenforschung immer schwieriger machbar ist. Zusammengenommen zeigt der Teil auf, dass der Mensch alles andere als überflüssig wird. Vielmehr wird die fundamentale Bedeutung, aber auch die fundamentale Verantwortung unterstrichen, welche bei Digitaler Bildung gerade den Mitarbeitern an der Basis zukommt, da nur diese in einer digitalisierten Welt jeweils konkret Positives bewirken und wirksame Änderungen konkret herbeiführen können.
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25.3 Gesellschaftliche Zukunftsagenda Digitale Bildung Im vierten Teil mit der dritten theoretischen Leitlinie des Sammelbandes wurde in Form einer gesellschaftlichen Zusammenschau des Panoramas Digitaler Bildung in Schulen und Bildungsorganisationen sowie Wissenschaft und Forschung der aktuelle Boden bereitet, auf dem eine Zukunftsagenda Digitale Bildung stattfinden kann. Dafür wurde im eröffnenden Beitrag zunächst eine holistische Bedeutung des Begriffes Digitaler Bildung angeboten und deren gesellschaftliche Relevanz sowie deren besonderes Lösungspotenzial für künftige Problemfelder herausgearbeitet. Unter der individualisierten Nutzung digitaler Lerntechnologien wird die Verbesserung der Lernresultate und insbesondere die Entwicklung digitaler Kompetenzen – mit denen zukünftige neue Probleme besser gelöst werden können – zur realisierbaren Neujustierung nachhaltiger Bildungsziele. Zehn Thesen zur gebotenen Zukunftsausrichtung für die Hebung der großen gesellschaftlichen Potenziale Digitaler Bildung – die sich inzwischen zunehmend als Entwicklungstendenzen manifestieren – postulieren übergeordnet zwei zentrale Paradigmenwechsel. Diese lassen sich einerseits als Wandel im Geiste von Bologna vom angebotsgetriebenen Lehren für Gruppen in vorgegebenen Strukturen hin zum nachfrageorientierten und flexiblen lebenslangen Lernen Einzelner charakterisieren. Andererseits veranschaulichen sie eine Entwicklung im Sinne einer holistischen Denkweise von der Auflösung von Abschottung, Separierung, Hierarchie und Ressourcendiskriminierung hin zur Kollaboration, Vernetzung und befruchtenden Integration von Ländern, sozialen Schichten, Rollen, Lern- und Berufsphasen. Dabei fächern sie die Möglichkeiten zu bilden nicht nur nachhaltig auf, sondern ermöglichen durch Digitale Bildung auch ein neues Niveau an Bildung. Gleichzeitig ersetzen sie die alten Bildungsformen nicht und machen diese auch nicht überflüssig. Sie sorgen lediglich dafür, dass der Möglichkeitenspielraum von Bildung voll ausgereizt werden kann, was eine bislang ungekannte Anpassung an den Einzelnen ermöglicht. Zugleich ist die Auseinandersetzung mit Herausforderungen und Risiken der Digitalen Bildung essenziell, weshalb sich der zweite Beitrag umfangreich insbesondere den Gefahren der Nutzung digitaler Technologien widmet, um deren unerwünschte Nebenwirkungen beim Einsatz in der Bildung zu erkennen und wirkungsvoll einzudämmen. Betrachtet man die Beiträge in der Zusammenschau, so zeigen sie insgesamt auf, dass sich Bildungsinstitutionen in Zukunft verstärkt mit den Möglichkeiten der Digitalisierung –
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und deren Chancen und Risiken – auseinandersetzen müssen. Dabei wurde aus verschiedenen Perspektiven (Pädagogischen Wissenschaften, Schulpolitik, soziologisch und cyberpsychologisch geprägter Bildungspolitik, Wissenschaft und Forschung) verdeutlicht, dass zukunftsträchtige, auch ökonomisch machbare alternative Wege zu dem dominant ökonomisierten Weg großer Internetgiganten wie Facebook, Google oder Apple möglich sind und was hierfür zu beachten ist. Zu konstatieren ist, dass durch die Digitalisierung die pädagogischen Möglichkeiten zu bilden deutlich erweitert werden, gleichzeitig indes auch immer wesentlicher wird, sich auch mit den ökonomischen Determinanten Digitaler Bildung auseinanderzusetzen. Zudem wird in den Beiträgen die ganze Weite bildungspolitischer Tradition und bildungspolitischen Wissens sichtbar, die es zu beachten gilt, will man nicht ad hoc und wider besseres existentes Wissen in den theoriefreien Raum eines reinen trial and error abdriften. Gleichzeitig deuten die Beiträge aber ebenso darauf hin, dass es verstärkter Kollaboration auch zwischen den Playern im bildungspolitischen Sektor bedarf, um nicht Opfer der Digitalen Bildungsmodellen inhärenten Skalierung und natürlichen Monopolisierung zu werden, die schon jetzt begonnen hat sich auszuwirken. Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass das sich zunehmend erst abzeichnende großartige Potenzial Digitaler Bildung hilft, die nachhaltige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit für Deutschland zu sichern und zur Chancen- und Leistungsgerechtigkeit weltweit sowie gleichzeitig zur Lösung globaler Herausforderungen durch die Hebung individueller – und teilweise zuvor unausgeschöpfter – Potenziale beizutragen.
25.4 Digitalisierung und Künstliche Intelligenz im Kontext der Hochschulbildung Im finalen Teil des Sammelwerkes wird als letzte große theoretische Linie entfaltet, welche Möglichkeiten des Einsatzes von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz für die Hochschulbildung existieren. Fasst man die Linien der Beiträge zusammen, so eröffnet sich das breite Spektrum, welches die Instrumente der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz für die Hochschulbildung bereithalten. So zeigen die ersten drei Beiträge die Möglichkeiten auf, die Digitalisierung im Bereich der Hochschule eröffnet, wenn Hochschulverwaltungen, Lehrende und Studierende auf kollaborativem Wege beginnen, die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzbar zu machen. Beispielsweise zeigt sich, dass Prüfungssysteme automatisiert trainiert werden können, um selbst schriftliche Arbeiten wie Essays automatisiert zu bewerten – mit Schnelligkeitsvorteilen, bei denen aus stundenlangen menschlichen
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sekundenlange maschinelle Korrekturen werden. Die jedem Lehrenden bekannten zeitintensiven Massenkorrekturen könnten insofern bald der Vergangenheit angehören. Zugleich umreißen die Beiträge zu den Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz, Learning Analytics und Chatbotsystemen, welche Möglichkeiten Künstliche Intelligenz insgesamt bzw. noch einmal spezifisch im Bereich der Learning Analytics bzw. im Bereich des Einsatzes von Sensoren und Chatbotsystemen eröffnet werden. So erlaubt eine Sensorik das Umfeld eines Lernenden aufzunehmen und Lerninhalte an dieses Umfeld anzupassen. Beispielsweise könnten in Zukunft, sollte auf einem Naturspaziergang gelernt werden, dem Lernenden automatisch Vorbilder für bestimmte Strukturen aus der Natur an die Hand gegeben werden, welche er zeitgleich direkt in ihrer Wirkungsweise beobachten kann. Dadurch werden ganz neue Möglichkeiten des Lehrens denkbar. Gleichzeitig erlaubt ein Chatbotsystem zumindest in Bezug auf Routinefragen eine deutliche Entlastung der Lehrenden und auch die Überwindung natürlicher Grenzen, denn es ist synchron verfügbar und zwar 24/7. Wenngleich derartige Möglichkeiten darauf angewiesen sind für eine Fruchtbarkeit schnell skaliert und verfügbar gemacht zu werden, zeigt sich zugleich doch auch, dass gerade Lehrende dadurch entlastet werden und damit den Fokus auf die sie eigentlich auszeichnenden Qualitäten legen können bzw. qualitative Hilfen an die Hand bekommen, welche den Lernerfolg der Lernenden wie die Lerneffizienz auf beiden Seiten noch einmal bedeutend steigern können. Insgesamt zeichnet sich hier ein ähnlicher Fortschritt ab, wie er seinerzeit in der industriellen Revolution hinsichtlich der Landwirtschaft zu beobachten war. Auch hier wurden aus Feldarbeitern Traktorfahrer, welche mithilfe der neuen Möglichkeiten ein Vielfaches an Ertrag einfuhren. Auch dem Menschen wird so zumindest als Gattung, da die Erzeugung Digitaler Bildung das neue Ackerfeld markiert, die Entwicklung zu ganz neuer Leistungsfähigkeit ermöglicht werden.
25.5 Zusammenfassung und Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte zur Veränderungsverantwortung Zusammenfassend kann die Zukunftsperspektive abgeleitet werden, dass durch Digitale Bildung die menschlichen Fähigkeiten, künftige neuartige Probleme zu lösen, zielgerichtet verbessert werden können. Dabei kann sich der digital gebildete Mensch die positiven Potenziale der KI erschließen und durch Kollaboration mit dieser, die ihm zur Verfügung stehende Co-Intelligenz nutzbar machen – auch für die individuelle Verwertung der KI-Potenziale selbst. Dabei
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kann der Mensch in der nächsten Stufe des technischen Fortschritts zunehmend auch repetitive geistige Tätigkeiten an die KI abgeben und seinen Gestaltungsspielraum erweitern. Erfahrungsgemäß wird ihm dies tendenziell mehr Freude bereiten und zudem kann er sich über die nicht in die Umsetzung repetitiver Tätigkeiten gebundenen zusätzlichen Ressourcen und deren Nutzung Horizonterweiterungen erschließen. Diese werden wiederum auch erforderlich sein, da die ethische Verantwortung nicht an die KI abgegeben werden kann (und sollte!) und dies mit zunehmender Komplexität für den Mensch und seine sozialen Verbünde nicht einfacher zu beurteilen sein wird. Der Beitrag des vorliegenden Werkes zur Digitalen Bildung und KI in Deutschland ist limitiert und darin behandelte und weitere Facetten müssen kontinuierlich weiter erforscht und aktualisiert werden. Dennoch sei an dieser Stelle erwähnt, dass ein aktuell relevanteres Hindernis der zu langsamen und unzureichenden Hebung der vorgestellten Potenziale Digitaler Bildung nicht vorwiegend nur ein Erkenntnisproblem darstellt. Vielmehr benötigt die Digitale Bildung auch die priorisierte Unterstützung und Mobilisierung durch Verantwortungsträger in der Bildungspolitik, Interessenvertretung sowie der Wirtschaft, um die vorhandenen Hindernisse einer schnellen und effizienten Umsetzung zu beschleunigen und von allen Seiten her einzufordern und sicherzustellen. Exemplarisch sei an dieser Stelle lediglich als ein transparenter und quantifizierbarer Indikator darauf verwiesen, dass von der bewilligten Förderung des Digitalpakts Schule von über fünf Mrd. Euro nach einem Jahr nicht mehr als 1 % abgerufen und somit auch nicht für die Förderung der Digitalen Bildung in Deutschland durch Infrastrukturinvestitionen eingesetzt wurde. Vor dem Hintergrund, dass sich die Bedeutung der politisch anerkannten Notwendigkeit u. a. darin äußert, dass dafür eine politische Einigung im föderalen System von Bund und Ländern sowie eine Grundgesetzänderung durchgeführt wurde, legt dies offen, dass neben der Bereitstellung von finanziellen Ressourcen weitere Barrieren existieren, die nur mit vereinter Anstrengung und Kraft überwunden werden können. Ein begleitendes Motiv des vorliegenden Werkes war es deshalb auch, Entscheidungsträger unterschiedlicher Interessensgruppen über die verbindenden gesellschaftlichen Problemfelder und insbesondere die Leistungsfähigkeit Digitaler Bildung zur Erhaltung der nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft für gemeinsame Veränderungsbereitschaft und Kraftanstrengungen zur Weiterentwicklung des deutschen Bildungswesens zu interessieren und zu mobilisieren. In diesem Sinne hofft der Herausgeber auch darauf, dass Sie, verehrter Leser, in Betracht ziehen, Ihren individuellen und einzigartigen Beitrag für eine bessere Zukunft der Digitalen Bildung in Deutschland beherzt einzubringen – vielen Dank!