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German Pages 288 Year 2014
Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.) Die Zukunft der Kartographie
Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.)
Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen
Diese Veröffentlichung wurde gefördert von den folgenden Institutionen: • • • • • • •
Deutsch-Französische Hochschule (Saarbrücken) DAAD Institut français d’histoire en Allemagne (Frankfurt) Fakultät Lettres et Sciences Humaines der Universität Limoges Forschungsgruppen EHIC und GEOLAB/CNRS der Universität Limoges Forschungsgruppe ECHANGES der Universität Aix-Marseille Region Limousin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen Marion Picker | 7
I. Ü BER NEUE ... Digitales Mapping in der Medienkunst Hedwig Wagner | 23
Projektionskunst oder Taktik? Mapping und die zeitgenössischen Künste Bettina Wind | 41
Vom Suchen und Finden der Großstadtliteratur im 21. Jahrhundert oder auch: Mapping Mumbai/Bombay Sara-Duana Meyer | 47
Venedig als ein anderes Bouville? Paradoxien eines Bewusstseinsraums Saskia Wiedner | 61
Wenn der SS-Mann Lindenblütentee trinkt Oder: Über die Anstrengungen topographischen Arbeitens Christian Luckscheiter | 81
Der Literatur in die Karten schauen Überlegungen zu Kartographie und Literatur am Beispiel von W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn Mandana Covindassamy in Zusammenarbeit mit Géraldine Djament-Tran | 93
II. ... UND NICHT SO NEUE ... Tafeln, Maßstäbe, Schachteln, Bäume Zum Gebrauch einiger räumlicher Schemata in der neuzeitlichen Geographie Jean-Marc Besse | 109
Mapping als Bildrhetorik Das karto- und abstrakt-graphische Denken der frühneuzeitlichen Publizistik Florent Gabaude und Véronique Maleval | 135
Kartographische Kommunikation, räumliche Organisation und ihre Darstellung im vorspanischen Mexiko und in der frühen Kolonialzeit Viola König | 159
Raum und Grenze: Vergleichende Überlegungen zur Entwicklung im mittelalterlichen Reich Jens Schneider | 177
Kritik der Karte Mapping als literatur wissenschaftliches Ver fahren Maximilian Benz | 199
III. ... EPISTEMOLOGISCHE K RISEN DER K ARTOGRAPHIE Die Unheimlichkeit des Mapping Jörg Dünne | 221
Die Transgression der Karten Augustin Berque | 241
Im Anfang war die Karte Franco Farinelli | 257
Autorinnen und Autoren | 279
Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen Marion Picker
»Élargissez l’Art! Diese Frage tritt, mit ihrer alten, mit ihrer neuen Unheimlichkeit, an uns heran«. »Der Meridian« (Celan 1986: 200) »[…] cartographia (invento esta palavra já que ahi se tem inventado tantas)«. Manuel Francisco de Barros e Sousa, visconde de Santarém (zit.n. Cortesão 1960: 16)1
Etwa hundert Jahre nach Max Eckerts maßgeblichen Bemühungen, »die theoretische Kartographie als Wissenschaft zu begründen« (Eckert 1921: III; vgl. auch Eckert 1907), fiel in einer Stellungnahme zur Zukunft der Kartographie scheinbar beiläufig die Frage: »Ist die Kartographie noch eine Wissenschaft?« (Wolodtschenko 2009: 58). Die implizite Antwort lautet zwar: ja, aber der Rest der Erklärung nennt einige Gründe, warum die von Eckert eröffnete Klammer sich wieder zu schließen droht und warum die wissenschaftliche Kartographie Gefahr läuft, irrelevant zu werden – nämlich aufgrund ihrer »methodisch-konzeptionelle[n] Defizite«, die der neueren Dominanz von Anwendungen und Anwendbarkeit, von Technik über Theorie anzulasten sind (ebd.: 45; vgl. auch Koch 2004: 5). Schon Eckert hatte dereinst dazu ermahnt, die Kartographie nicht den »Technikern« zu überlassen (Eckert 1921: 2).2 Sein Werk selbst belegt, inwiefern sich zukunftsweisende Fragen gerade aus der Durchdringung von technischen, kulturhistorischen sowie erkenntnistheoretischen Aspekten ergeben. 1 | Peter van der Krogt (2006) zufolge ist diese Stelle aus einem Brief des Vizegrafen von Santarém von 1839 nicht die erste Erwähnung des Kartographiebegriffs. Schon in den 1820er Jahren sollen deutsche Geographen »Kartographie« als Bezeichnung für den Berufszweig der Kartenhersteller verwendet haben. 2 | Vgl. als weiteres Echo auf Eckerts historische Forderung Glasze (2009: 181; 187).
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Anders als Wolodtschenko sieht Denis Wood das Problem genau bei denjenigen, die sich als wissenschaftliche Gralshüter der Kartographie verstehen. In seiner Polemik »Cartography is Dead (Thank God!)« begrüßt er das Ende des exklusiven Anspruchs der an Instituten und in Berufsverbänden organisierten Kartographie auf das gültige Kartenwissen. Wood zufolge haben Geoinformationssysteme und ihre erfolgreiche Kommerzialisierung zu einer faktischen Neudefinition kartographischer Kompetenz geführt. Ungeachtet des NietzscheKalauers im Titel ist Woods Erklärung am aufschlussreichsten, wenn man sie als ein paradoxes Bekenntnis zum Altbewährten liest – zumindest zum Ancien Régime der Kartenfertigung und -technik: die Kartographie ist tot, lang lebe die Kartographie. Die Kartographie, die Wood auf- und hochleben lässt, ist freilich eine, die nicht unter ihrem prätentiösen Namen firmiert, sondern bodenständig als »mapmaking« daherkommt (2003: 6). Mit der »gemachten« Karte ist die gekritzelte Wegskizze nicht weniger gemeint als eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, maßstabsgetreue und mit einer Legende versehene Karte. Wie in der Zeit vor der Usurpation der Karten durch die Kartographie steht nunmehr, Wood zufolge, die »gültige« Konzeption, Fertigung und Verwendung von Karten wieder allen frei, die in langjähriger Laienpraxis solide Kenntnisse gesammelt haben – oder auch bloß ad hoc eine Karte benötigen. Die weiterhin weltweit zunehmende Präsenz von Karten aller Art in Alltagskontexten und für spezialisierte Zwecke, die steigende Verfügbarkeit von Geodaten und kartographischer Software führt zu einer egalitäreren Verteilung von Kartentechniken und Kartenwissen. Die Karte erscheint bei Wood somit als Emanzipationsinstrument,3 allerdings durchaus mit den Zügen einer Waffe, wenn er schreibt, dass auch indigene Völker die Erkenntnis gewonnen haben, dass die kartographische Kultur den kriegerischen Naturzustand lediglich mit anderen Mitteln fortsetzt: »it’s map or be mapped« (ebd.: 7).4 Dies ist die zynische Pointe eines kurzen Textes, in dessen vordergründig optimistischer Entgrenzungs-Rhetorik nur verhalten die Frage aufkommt, wie es um die gleichmäßige Verteilung und freie Verfügbarkeit von Kartentechniken und Geodaten angesichts ihrer Abhängigkeit von staatlich-territorialen und wirtschaftlichen Interessen (Stichwort »ESRI«; ebd.: 4) wirklich bestellt ist.5 3 | So setzt Wood, gemeinsam mit John Krygier, seinen kartenaufklärerischen Impetus in die pädagogische Praxis um. Vgl. Krygier/Wood (2005); vgl. auch http:// makingmaps.net/author/environmentalgeography/ vom 15.9.2012. 4 | Vgl. auch Franco Farinellis Beitrag in diesem Band. Der mythologische Gründungsakt der abendländischen Kartographie erscheint in Farinellis Lektüre als Waffengang – Odysseus‹ Angriff auf das Zyklopenauge. Farinelli sieht die kartographische Vernunft als Prinzip der abendländischen Vernunft überhaupt. 5 | Zum Thema des »Interesses« der Karte siehe jedoch Wood 1992. Glasze (2009: 188) meint: »So fehlen noch weitgehend Studien, welche hinter die Kulissen der neuen digitalen Weltbilder schauen«. Vgl. aber Hedwig Wagners Beitrag in diesem Band.
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Trotz ihrer entgegengesetzten Stellung zur Kartographie als Wissenschaft sind sich die Autoren der angeführten Stellungnahmen in einem Punkt einig: die Kartographie befindet sich derzeit in der Krise, d.h. an einem über ihr Fortbestehen entscheidenden Moment ihrer Geschichte.6 In beiden Fällen ist die Krisendiagnostik mit der jüngeren Erfolgsgeschichte der Karte korreliert. Trotz der unvermeidlichen Tendenzansagen und des Aufs und Abs der Karten- und Mapping-Konjunktur (die gängige Rhetorik bewegt sich in der Tat im Register des Ökonomischen)7 geht auch der allgemeine Konsens dahin, dass das »Zeitalter des Raums« (Foucault 2005: 931) zu beginnen nicht aufgehört hat, und mit ihm die Anfertigung, Verwendung, Thematisierung, Historisierung und Neuerfindung von Karten. Wie lässt sich also der zunächst erstaunlich anmutende Zusammenhang zwischen dieser Popularität der Karte und der Krise der Kartographie näher erläutern? Hier wäre zuerst eine konkret institutionelle Seite des Problems hervorzuheben, die schon bei Wolodtschenko und Wood auf unterschiedliche Weise im Vordergrund stand: die den Karten inhärenten Ordnungs-, Verteilungs- und Machtfragen werden von der Kartographie als Institutionalisierungsform der Karten übernommen; mit der technisch-kommerziellen Multiplikation von Karten und dem Auftauchen neuer Kartentypen oder kartenverwandter Medien (z.B. Raumdatenbanken, dreidimensionale Visualisierungen) gerät dieses Zuständigkeitsmonopol in Bedrängnis. Wurde der strukturalistische, semiologische bzw. kommunikationswissenschaftliche Wandel einer weiten Reihe von sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen seit den 1960er Jahren auch von der Kartographie vollzogen – wofür hier exemplarisch Jacques Bertins Sémiologie graphique (1967) und Ulrich Freitags kommunikationstheoretische Überlegungen (z.B. 1980) stehen sollen –, so ergeben sich neuerdings aufgrund der außerwissenschaftlichen Entwicklung Konkurrenzsituationen. Die Möglichkeiten der Web 2.0-Kartographie haben spezialisiertes Wissen hervorgebracht, das nun in Disziplinen wie Geoinformatik oder Visual Analytics verwaltet wird – mit »Geltungsansprüche[n], die sich weit in das von der traditionellen Kartographie abgesteckte Forschungsfeld erstrecken« (Hruby/Guerrero 2008: 9).8 Je nachdem, ob der Kartographie noch ein Aufholen oder ein Ausweichen zugetraut wird, bescheinigt man ihr einen Handlungsbedarf oder das »Zu spät« der Agonie. Interessanterweise bezieht eine neuere Begrifflichkeit – und damit eine Form von Institution – der Kartographie ihre Begründung gerade aus ihrer eigenen Krise, welche zur Kritik der Karte und der Kartographie entfaltet wird, neuerdings durchaus auch unter Einbeziehung von »critical GIS studies«, 6 | Vgl. u.a. auch Hruby/Guerrero (2008: 1; 7); Crampton (2010: 4). 7 | Wie z.B. bei Schelhaas/Wardenga (2007: 147); Bachmann-Medick (2006: 303); zur Problematik vgl. auch Picker (2010: 196-197). 8 | Die territoriale Metapher des Zitats ist dabei von nicht sekundärem Interesse.
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wie in Jeremy Cramptons Handbuch (2010). Der kritischen Kartographie, die sich im anglo-amerikanischen Kontext besonders in der Rezeption von James Brian Harleys Aufsätzen seit den 1990er Jahren entwickelt hat, geht es nicht nur darum, die diskursiven Bedingungen der Kartenproduktion in und an Karten zu untersuchen, sondern auch, Karten als Modelle und Programme für soziale und politische Prozesse zu analysieren. Die Wissens- und Wissenschaftssoziologie (Latour, Kuhn) hat neben der historischen Diskursanalyse in der Rezeption Foucaults und der politisch-ästhetischen Philosophiesubversion Deleuzes und Guattaris entscheidende Anstöße dazu gegeben, Karten und Topographien im weitesten Sinne als »Welt« konstituierende, sie nicht nur repräsentierende Paradigmen des Denkens aufzufassen.9 Trotz einer hauptsächlich universitärwissenschaftlichen Basis ist die kritische Kartographie durchaus nicht nur in der Geographie und der Kartographie als universitäre Disziplinen beheimatet. Die Vielfalt der in ihr vertretenen Ansätze, die sich im Interesse bündelt, ein historisch informiertes, kritisches Verhältnis zu Karten und Kartographie zu gewinnen, ist vor allem auf den »cultural turn« (Cosgrove 2005: 27) zurückzuführen, den fast alle Human- und Sozialwissenschaften im Laufe der letzten 20 Jahre auf die eine oder andere Weise vollzogen haben. Karten werden in diesem Kontext als kulturell ausdifferenzierte Praktiken im geschichtlichen Wandel wahrgenommen.10 Insofern dieser kritische Ansatz eine historische Perspektivierung mit der Öffnung und Multiplikation der Institution verbindet, präsentiert er sich als eine Lösung der Krise der Kartographie.11 Die institutionelle Krise der Kartographie reicht jedoch bis in die Problematik der Begrifflichkeit hinein. Was ist »noch« eine Karte? Wo endet der Begriff, wo beginnt die Metapher? Wie verhält sich die Kartographie zu den Karten, deren Begriffsumfang sie festlegen, deren Theorie sie bilden soll? Dass sich in diesen Fragen die Kehrseite der Durchdringung aller Lebens- und Wissensbereiche durch Karten und kartenähnliche Medien zeigt, daran ist der »cultural turn« nicht unschuldig, und zwar in seiner anglo-amerikanischen wie auch in sei-
9 | Aus einem anderen Blickwinkel vgl. zu dieser Problematik die Beiträge von Augustin Berque und Franco Farinelli in diesem Band. 10 | Matthew Edney (2005: 34) und Cosgrove (2007: 203-207) weisen darauf hin, dass die anglo-amerikanische Geographie und Kartographie dabei auf einen früheren, impliziten »cultural turn« zurückgreifen konnten, für den John K. Wrights geosophische Aufsätze aus den 1940er Jahren stehen. 11 | Auf eine differenzierte Weise – die Krise als Anstoß zu einem historisch-kritischen Rückgang nehmend – argumentiert auch Jean-Marc Besse in diesem Sinne, allerdings ohne sich selbst einer Strömung zuzuordnen (2008: 19). Sein in diesem Band vorgelegter Aufsatz verlängert diese Perspektive und gibt einen Ansatz für eine Typologie der heutigen »erweiterten« Kartenauffassung.
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ner deutschen Version.12 Der Hinwendung zu kulturrelevanten Aspekten von Karten und Kartographie, dem »cultural tun« in der Kartographie, entspricht die topographische bzw. kartographische Wende in den Kulturwissenschaften (Weigel 2002: 151): eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Räume, Orte und Ordnungsprinzipien, gekoppelt mit einer für kulturwissenschaftliche Ansätze typischen »Entwendung« von Themen oder Gegenständen, die dann als Methode bzw. Strategie eingesetzt werden (vgl. Bachmann-Medick 2006: 25-26). Das »Hybride« und die »Hybridisierung«, das »Netzwerk« und die »Vernetzung« sind dafür ebenso Beispiele wie die Karte. Mapping oder Kartieren als methodische Tropen verweisen allerdings nur noch sehr bedingt auf Karten als graphische Darstellungen räumlicher Relationen (oder selbst auf virtuelle Karten in Form von gespeicherten Geodaten), wenn von »cross-mapping« in Geschlechterfragen oder von einem »re-mapping« der Theorie (ebd.: 192) die Rede ist. Im Hinblick darauf fällt häufig das Stichwort der »Erweiterung« der Karte und des Kartenbegriffs (vgl. z.B. ebd.: 299; Cosgrove 2005: 27-28; u.ö. in diesem Band), welche sich längst nicht nur auf eine Herausforderung des Kartenbegriffs für die wissenschaftliche Kartographie im Sinne Wolodtschenkos, Hrubys und Guerreros bezieht. Diese »Erweiterung« über alle Maßen ist in den letzten vier Jahrzehnten virulent geworden – mit der Mondlandung; der Multiplikation der Satelliten in der Erdumlaufbahn; der Entdeckung der Globalisierung als Thema; geopolitischen, technischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Revolutionen – und sie hat Geschichte, auch wenn es angesichts ihres proteischen Zugs unzulässig sein dürfte, von einer ihr »eigenen« Geschichte zu sprechen. Konnte Jean-Loup Rivière in seinem Geleitwort zum Katalog der Ausstellung Cartes et figures de la Terre 1980 noch schreiben, dass die Karte als einzig verbliebene Terra incognita zu gelten habe, und damit einen immensen Reflexions- und Forschungsbedarf anzeigen, so entkräftet der dadurch eröffnete Band diese Behauptung gleich in zweierlei Hinsicht. Zunächst legt der Perspektivenreichtum der darin vorgestellten Überlegungen nahe, dass ein Reflexionsschub sich über geraume Zeit hin vorbereitet hatte,13 im Sinne der Ablösung einer positivistischen Kartographie durch das, was Christian Jacob als »opake« Wahrnehmung der Karte benennen sollte (1996: 191). Zudem läutete der Katalog das 12 | Zur anders gelagerten Entwicklung in Frankreich vgl. Bachmann-Medick (2006: 32-33) und Allerkamp/Raulet (2010). 13 | Als eine weitere wesentliche Etappe dieses Prozesses ließen sich die Veröffentlichung von Yves Lacostes La géographie, ça sert, d’abord, à faire la guerre (1976) sowie die Gründung der Zeitschrift Hérodote im gleichen Jahr nennen. In Frankreich spielte die kritische Geopolitik neben Urbanistik (Henri Lefebvre) und Semiotik eine wichtige Rolle bei der Problematisierung der Karte. Hinzu kommt eine literarisch-künstlerische Traditionslinie, die von den Flâneurs des 19. Jahrhunderts über die Surrealisten bis zur Psychogeographie der Situationnistes reicht.
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goldene Zeitalter der Entdeckung der Karte in gewisser Weise selbst ein. Durch das Präsentationsverfahren des Katalogs und seine erkenntnistheoretische Dimension (z.B. im Beitrag von Louis Marin) ergaben sich überhaupt erst neue Fragen bezüglich des Kartenbegriffs: nachträglich erscheint Cartes et Figures de la Terre als eine vorläufige Kartierung, eine Art Mapping der Karte und der Kartographie in ihrer historischen Dimension. Der Band zeigt einige Achsen auf, entlang derer sich die erwähnte begriffliche »Erweiterung« vollziehen sollte, so z.B. in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Karte; in ihrem Verhältnis zur Fiktion, zum Spiel, zur Virtualität; in der Betonung ihrer Bildlichkeit einerseits und ihres Diagrammcharakters andererseits; in ihren kognitiven, ideologischen oder auch technischen Dimensionen. Im Vorwort zum ersten Band der sechsbändig angelegten History of Cartography trugen James Brian Harley und David Woodward dieser Erweiterung Rechnung, indem sie der »Karte« eine sehr generelle, eher deskriptive als präskriptive Definition gaben: »Maps are graphic representations that facilitate a spatial understanding of things, concepts, conditions, processes, or events in the human world« (1987: XVI). Da dies an exponierter Stelle geschah, wirkte die Feststellung jedoch eher normsetzend, wie ein Verstärker, was Cosgrove 1999 in seinem nachdrücklich der erweiterten Auffassung der Karte gewidmeten Mappings festhielt. Er reiht die History of Cartography in die Liste der Faktoren ein, die zu einer »modischen Faszination« durch die Karte beitrugen (1999: 3). Diese Erweiterungen des Kartenbegriffs (von denen hier lediglich wenige maßgebliche Beispiele angeführt sind) beugen sich jedoch den Erfordernissen der Begrifflichkeit: sie sind von Eingrenzungen und Perspektivierungen begleitet. Während Harley in einer Fußnote Karten-Analogien und -Metaphern weitgehend aus dem Projekt der History of Cartography ausschließt und damit unausgesprochen auf einen eigentlichen Begriff der Karte rekurriert,14 erhebt Cosgrove die graphische und repräsentative Qualität zum Kriterium der Kartizität (1999: 1; 17), weshalb narrative, literarische Wegbeschreibungen ebenso wenig wie abstrakte geometrische Kompositionen seinen Anforderungen genügen. Eine der Abgrenzungen, die in der Einleitung zu Mappings mal mehr, mal weniger deutlich zum Tragen kommen, wendet sich gegen simplifizierende Wechselwirkungen mit verschiedenen Bereichen der Kognitionswissenschaft, die durch »kognitive Karten«, »mind maps« und »concept« bzw. »semantic maps« entscheidend dazu beitrugen, alternative Karten-Begrifflichkeiten in Umlauf zu bringen. Diese sind nicht zuletzt durch Kevin Lynchs The Image of the City (1960) und Peter Jacksons Maps of Meaning (1989) auch in der Human-
14 | Er schreibt u.a.: »the map has become an almost universal metaphor […]. The present History cannot be systematically concerned with the development of these metaphorical uses« (Harley/Woodward 1987: 1).
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geographie einflussreich.15 Cosgrove weist darauf hin, dass schließlich jeder Kartierungsprozess notwendig auch kognitiv sei (Cosgrove 1999: 7) – kognitive Karten somit diskursiven Bedingungen unterworfen blieben, die man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Dass für die Historiker unter den mit Karten befassten Wissenschaftlern der terminologische Wildwuchs eine mindestens ebenso große Herausforderung darstellt wie die neuen technischen Möglichkeiten der Kartographie, zeigt sich auch in einem Artikel von Matthew Edney, dem jetzigen Herausgeber der History of Cartography: »One of my favourite instances of how the idea of the map is accepted automatically is provided by educational and psychological theorists in the United States. Numerous scholars have written extensively on what they refer to as ›semantic mapping‹ […]. Despite the evident importance of the map as a metaphor for the concept, their literature seems to contain no discussion of just what ›mapping‹ is. The sub-discipline as a whole is underpinned by an unexamined assertion, and authors rely on the communal understanding of what maps are« (Edney 1996: 187).
Besonders folgenreich für die erweiterte Verwendung der Kartenbezeichnung ist der kognitionswissenschaftliche Ansatz von George Lakoff und Mark Johnson, auf den Edney indirekt Bezug nimmt. Ihre eigene Mapping-Terminologie, mit der sie den für das menschliche Denken, Bezeichnen und Bewerten fundamentalen Übertragungsprozess von einem konzeptuellen Bereich in einen anderen bezeichnen, stellten sie zuerst 1987 vor (Lakoff 1987: 276; Johnson 1987: 116). Die Karte gerät dabei zu einer Metapher für den metaphorischen Prozess schlechthin; sie wird zur Metapher für die Metapher. Die Autoren verwiesen im Nachwort zu Metaphors we live by darauf, dass ihre als Begriff verwendete Metapher zunächst eine Entlehnung aus der Mathematik gewesen sei (vgl. Lakoff/Johnson 2003: 252), wo Mapping die Abbildung eines Werts aus einem »Ursprungsbereich« in einen »Zielbereich« und damit eine mathematische Funktion bezeichnet. Jedoch ist fraglich, ob das, was in der Mathematik begrifflichen Status genießt, nicht ebenso gut als sekundäre Metapher aus der geographischen Kartographie gelten könnte.16 Zudem ist die Einengung des Mapping 15 | Das nicht konfliktfreie Verhältnis der Kartographie zur Geographie, spezieller zur Humangeographie bzw. Kulturgeographie, fällt nicht zentral in die in diesem Band behandelte Problematik, welche der gewandelte Kartenbegriff in einem weiteren kulturellen Kontext als dem geographischen darstellt. Ich verweise daher u.a. auf Glasze (2009), den von Berndt/Pütz herausgegebenen Sammelband Kulturelle Geographien (2007), Cosgrove (2005) sowie Harley/Woodward (1987: 30-31). 16 | Es bleibe dahingestellt, was hierbei als ursprünglicher »Ursprungsbereich« für die Kartenmetapher gelten soll, die Mathematik oder die Kartographie. Dass es der kognitiven Linguistik in der Tat um Ursprungsfragen geht, ist kein Geheimnis, zeigt sich jedoch
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auf seine mathematische Bedeutung nur im Englischen plausibel; in anderen Sprachen wie dem Deutschen und Französischen ist bei der Erwähnung von »kartieren« bzw. »cartographier« der assoziative Verweis auf die geographische Kartographie (und deren epistemologische Bedingungen) wesentlicher direkter – zumindest noch. Edneys Kritik am reduktiven Umgang ganzer Disziplinen mit der Kartenmetapher richtet sich daher vor allem auf den »Ursprungsbereich«, auf das, was daran »unexamined« ist, weil es unerwähnt bleibt oder selbstverständlich scheint. Im speziellen Fall von Lakoff und Johnson geht die mit dem Mapping verbundene Demonstration immerhin in eine kritische Richtung. Den Effekt der Zuordnung qua Metapher, den sie als mythisch und handlungsdeterminierend erkennen, analysierte auf eine ähnliche Weise, aber in gänzlich anderem Kontext schon Roland Barthes, als er seine Darstellung der Konnotation als Trägerin des alltäglichen Mythos dahingehend ergänzte, dass der Mythos umso machtvoller wirkt, je mehr er als Denotation, als »natürlich« erscheint (Barthes 1987: 14). Das Bild, das Natur überhaupt erst als Natur in Erscheinung treten lässt: dies ist auch ein – alter – Topos der Kartographie. In den Human- und Sozialwissenschaften und denjenigen Teilen der Literaturwissenschaften, die eine kulturwissenschaftliche Wendung vollzogen haben, werden die mythischen Effekte der »erweiterten« Kartographie jedoch auf neue Weise problematisch, und dies in mehrfacher Hinsicht. Es ist nicht nur so, dass sich der Kartenbegriff vom Objekt auf die historisch und kulturell kontingente Praxis hin öffnet; dass in der heutigen Bezugnahme auf Karten ihre Gegenständlichkeit gegenüber Aspekten der Herstellung und des Gebrauchs zurücktritt. Mit dieser »Dynamisierung« verringert sich die prinzipielle Unterscheidbarkeit von Karte und Kartographie. Bezeichnete »Kartographie« traditionell die Technik, das Wissen, die Geschichte der Karten sowie deren Gesamtheit, »Karte« hingegen das Objekt der Kartographie, so nähern sich beide einer Auffassung an, bei der das definierte Objekt gegenüber fundamentalen Operationen zurücktritt – diskursiven, mathematischen, kognitiven –, welche in der Kartographie statthaben. Diese Tendenz kennzeichnet zwar die historische Kartographie ebenso wie die Humangeographie, auf die Spitze getrieben wird sie jedoch in den Kulturwissenschaften und im allgemein publizistischen Sprachgebrauch. Mapping und Kartieren – wie die Verlaufsform bzw. das substantivierte Verb nahelegen – bezeichnen Vorgänge, die oft allein kraft ihrer Bedeutlich auch an Titeln wie Where Mathematics Comes From: How the Embodied Mind Brings Mathematics into Being (Lakoff/Nuñez 2000). Eine besondere kartographische Pointe liegt in der zeitweiligen Ersetzung der »mathematischen« Metapher des Mapping durch die Terminologie der »Projektion« (Lakoff/Johnson 2003: 253). Mag dieser Begriff auch kein Privileg der Kartographie sein, so spielt die Projektion jedoch eine entscheidende Rolle für sie.
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zeichnung auf eine wie immer geartete Karte verweisen: man denke beispielsweise an das »emotion mapping«, welches die in Bezug auf den Kartenbegriff unterschiedlichsten Techniken evoziert, wie Emotionen sich in eine Ordnung oder unter einen Zweck bringen lassen: von der Topographie der Hirnregionen über Klassifikationsdiagramme der Gefühle bis hin zu Emotionsanalysen in der Werbebranche, deren Verweis auf die Karte rein suggestiv bleibt. Mit dieser metaphorischen Erweiterung des Kartographie-Begriffs, die ihn zugleich in die Nähe der Austauschbarkeit mit Operationen wie Anordnung, Zuweisung, Klassifikation bringt, geht notwendig eine Verunsicherung über die maßgeblichen Kriterien der »Kartizität« einher – und dieser Verunsicherung leisten zusätzlich die neuen technischen Möglichkeiten der Produktion, Speicherung, Kommunizierbarkeit und Visualisierung von Raumdaten Vorschub. Wie die begrifflichen Einschränkungen z.B. bei Harley und Woodward so wie auch bei Cosgrove ex negativo zeigten, sind in ihrer Unerlässlichkeit für die Karte fast alle Parameter instabil geworden, die in Definitionen traditionell eine Rolle spielten: die räumliche Ausdehnung und Materialität der Karte; ihre Sichtbarkeit; ihr Verhältnis zu und ihre Besonderheit gegenüber Schrift, Diagramm, Bild; ihr darstellender Charakter und ihre Überprüfbarkeit; das Vorhandensein eines Maßstabs und eines Kartenrahmens. – Ist, um es zugespitzt zu formulieren, die Zukunft der Kartographie eine ohne Karte? Neben dieser Wandlung oder auch Auflösung dessen, was sich als kartographischer Begriff der Karte benennen ließe, macht sich jedoch eine scheinbar entgegengesetzte Tendenz bemerkbar: die Zählebigkeit, um nicht zu sagen heimliche Wiederkehr einer reduzierten Kartenauffassung, die dem frappant ähnelt, was sich die Wanderkartenbenutzerin oder der ehemalige Schulkartenbetrachter als »Karte« eingeprägt haben mögen, aller neuen Benutzeroberflächen und Darstellungsmodi zum Trotz. Diese Kartenauffassung ist historisch auf das sich im Laufe des 19. Jahrhundert auch allgemein durchsetzende »Realismus«-Paradigma datierbar und wird wohl selbst unvermeidlich einem Wandel unterworfen sein, und dennoch fällt auf sie der Schein des Natürlich-Ewigen, des zeitlich und räumlich gesicherten Wissens. Und die Vergewisserung durch Kartierung, Mapping, die Berufung auf die Karte ist nicht die unwesentlichste Hinsicht, in der Karten – Wanderkarten, didaktische Wandkarten, klassifikatorische Baumdiagramme oder auch graphische Darstellungen semantischer Mappings – mit Ängsten und Wünschen verbunden sind.17 Es ist in dieser Hinsicht bedenkenswert, dass Sigmund Freud in der Schrift Die Zukunft einer Illusion, deren Leitfrage die nach einer möglichen Aussöhnung mit der Kultur ist, ausgerechnet ein geographisches Beispiel für einen illusionslosen, d.h. nicht von Wünschen und Ängsten determinierten Wissens17 | Zu den Konsequenzen der Verortungsgeste der Kartographie, die selbst in als rein relational aufgefassten Mappings wiederkehrt, vgl. Jörg Dünnes Beitrag in diesem Band.
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typus gibt: im Gegensatz zu den religiösen Lehrsätzen sei es bei den geographischen möglich und hinreichend, selbst nachzusehen. Eine Reise genüge, so Freud, um die auf einer Karte dargestellten Lehrsätze zu überprüfen, in diesem Fall »Konstanz liegt am Bodensee«. Aber Freud verrät uns zumindest indirekt auch, dass der Grundsatz des Selbst-Sehens, der Autopsie, sich gerade in der Kartographie als problematisch herausstellt: »die schöne Stadt liegt am Ufer eines weiten Gewässers, das alle Umwohnenden Bodensee heißen« (1974: 159) – als ausschlaggebend für die Überprüfung erweist sich das Hörensagen; was als natürlich gegeben erscheint, ist benennende Konvention. Hätte Freud im Jahre 1927 eine Stadt im umstrittenen Rheingebiet als Beispiel gewählt, wäre dies noch deutlicher aufgefallen. In den hier versammelten Beiträgen geht es darum, die Erkenntnisbedingungen von Karten und Kartographie als historisch und kulturell spezifische zu überdenken, ohne den – nicht ganz neuen – Anspruch der Kartographie, eine universelle menschliche Praxis zu sein und universell Wissen darstellen zu können, aus dem Blick zu verlieren (Viola König, Jens Schneider; zur epistemologischen Problematik Augustin Berque, Jörg Dünne, Franco Farinelli). Die Krise der Repräsentation und der Bobachtung, welche die gesamte Neuzeit kennzeichnet und welche von der Kartographie nicht nur dokumentiert und begleitet, sondern auch verschärft wurde (Véronique Maleval und Florent Gabaude, Jean-Marc Besse), hat sich durch die technologisch-perzeptiven Beschleunigungen, Multiplikationen und Maßstabsmanipulationen der letzten Jahrzehnte neu konfiguriert (zur Rezeption dieser Wahrnehmung in den Künsten: Hedwig Wagner und Bettina Wind) – und dies auch in vielfältigen Wechselwirkungen mit einer Wissenschaft, die sich kulturell »global« versteht. Tendenziell assimiliert sie daher alles, nimmt keine privilegierte Beobachterposition mehr ein und versetzt sich umso dezidierter »in« die Karte. Die Literatur, das andere MetaMedium, in dem Erkenntnis- und Darstellungskrisen Tradition haben, fordert eine Erprobung des kulturwissenschaftlich zum Analysewerkzeug gewendeten Kartenkonzepts geradezu heraus, zumal sowohl literarische Texte als auch Karten komplexe Beziehungen nicht nur untereinander, sondern auch jeweils zu Schrift und Bild unterhalten. In dieser Publikation nimmt daher die Problematisierung des Verhältnisses von Kartographie und Literatur den breitesten Raum ein, sei es in der Frage nach der Kartierbarkeit von narrativen Texten (Mandana Covindassamy und Géraldine Djament-Tran, Saskia Wiedner, Maximilian Benz) oder nach den Kartierungen, welche die Literatur auf ihre Weise vornimmt (Sara Duana Meyer, Christian Luckscheiter). Die Herausgeber Véronique Maleval, Florent Gabaude und Marion Picker danken Frau Jacqueline Hoareau-Dodinau von den Presses Universitaires de Limoges für die Erlaubnis, die im ebenfalls von uns herausgegebenen Band Géographie poétique et
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cartographie littéraire auf Französisch erscheinenden Beiträge von Augustin Berque, Mandana Covindassamy/Géraldine Djament-Tran und Franco Farinelli hier auf Deutsch zu bringen. Für die großzügige Förderung, welche die Drucklegung dieses Bandes erlaubte, sprechen wir der Deutsch-Französischen Hochschule (Saarbrücken) unsere Dankbarkeit aus. Weitere Unterstützung erhielt unser Projekt vom CNRS, vom DAAD, von den Forschungsgruppen EHIC und GEOLAB der Universität Limoges sowie ECHANGES der Universität Aix-Marseille, von der Region Limousin und dem Institut français d’histoire en Allemagne (Frankfurt). Nicht zuletzt geht unser Dank an die Archives départementales des Bouches-du-Rhône und ihre Direktorin Frau Jacqueline Ursch, die uns für die Umschlagabbildung eine Portulankarte aus dem Archivbestand zur Verfügung stellte.
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I. Über neue ...
Digitales Mapping in der Medienkunst Hedwig Wagner
I. K ARTOGR APHIE UND IHR G EBR AUCH »Kartographie befasst sich mit dem ›Sammeln, Verarbeiten, Speichern und Auswerten raumbezogener Informationen sowie deren Veranschaulichung‹ [Hake/Grünreich/Meng 2002: 3]. Die Geodäsie ist nach der bis heute gültigen Definition des Potsdamer Geodäten Friedrich Robert Helmert (1843-1917) die ›Wissenschaft von der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche‹« (Schneider 2010: 24).
Die Geschichte der Kartographie ist nach den medial-technischen Möglichkeiten der Raumdarstellung, den Darstellungsmedien und Visualisierungskonventionen historisch nachzuzeichnen. Als wissenschaftliche Disziplinen sind die Kartographie und Geodäsie im 19. Jahrhundert entstanden, die Kunst operativer Landkartenerstellung reicht bis in die Antike zurück und in einschlägigen Darstellungen (vgl. Schneider 2004) wird der Beginn der historischen Kartographie entweder mit der Berechnung des Erdumfangs durch Eratosthenes (276-195 v. Chr.) oder mit dem Werk von Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) angegeben. Die visuellen Transformationsprozesse, die das Medium Karte durchlief, waren enorm. Drucktechnik, Informatik, das satellitenbasierte GPS sind die entscheidenden medientechnischen Meilensteine in dieser Entwicklung. Mit der Drucktechnik z.B. ging eine weitreichende soziale Neuorganisation der Gesellschaft einher. Darin zeigt sich, dass der mediale Geocode stets in der Verschaltung von Gesellschaft und Technik gedacht werden muss. Die disziplinären Meilensteine, die ebenfalls grundlegende Bedingung für einen sozialen Geocode darstellen, sind mit den »sogenannten disziplinären Narrativen« »Exaktheit« und »Genauigkeit« zu benennen und deren Funktionalität, ihr gesellschaftlicher Gebrauch in Betracht zu ziehen. »›Exaktheit‹ und ›Genauigkeit‹ sind zwei zentrale Topoi beider Disziplinen, und der stete Gewinn oder Fortschritt an ›Genauigkeit‹ ist Bestandteil ihrer vorherrschenden und wiederkehrenden Erzählmuster, den sogenannten disziplinären Narrativen« (Schneider 2010: 24). Wie sehr diese disziplinären
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Narrative ihren Beitrag zu einer schon imaginär zu nennenden Geographie geleistet haben, zeigt die Einführung von Höhenschraffuren und Reliefdarstellungen, die dazu führten, dass sich Luftfahrt-Alpenüberquerer beschwerten, die scharfkantigen Umrisslinien der Reliefdarstellungen seien in der Natur gar nicht vorhanden (vgl. Schneider 2010). Visuelle Darstellungskonventionen in der Kartographie haben sich hier verselbständigt zu medialen Perzeptionen, die aufgrund der Ikonizität der Karten, ihrer visuellen Ähnlichkeitsrelation von Abzubildendem und Abgebildetem zur Wahrnehmungserwartung einer visuellen Gleichheit von Abgebildetem und Abzubildendem führten. Exaktheit und Genauigkeit arbeiten dem Objektivitätsmandat der so genannten exakten Wissenschaften zu, und noch heute finalisieren die beiden Topoi die Kartographie und Geodäsie. Dies kann als der soziale Aspekt des Geocodes bezeichnet werden, als geo-sozialer Code. Der geo-staatliche bzw. der geo-institutionelle Code zeigt sich in folgender Bestimmung: »Ein weiteres Charakteristikum der fachlichen Entwicklung ist die große Nähe zu Staat und Militär, die etwa in der Einrichtung nationaler Vermessungsanstalten seit dem 19. Jahrhundert ihren Ausdruck fand. Ihre zentralen Aufgaben sind bis heute die Landesaufnahmen und die Bereitstellung entsprechenden Kartenmaterials, denn erst die Kenntnis des nationalen oder imperialen Raumes erlaubt umfassende staatliche Planungen und Interventionen, sowohl innerhalb des eigenen Territoriums als auch in globalem Maßstab« (ebd.; Herv. H.W.).1
Was von Ute Schneider so selbstverständlich mit einem denn in diesem Satz verbunden wird, ist die – gerade auch kritisch zu bewertende – Indienststellung von Geodaten für Staat und Militär. Die Funktionalität dieser Perspektive wird noch im Jahr 2011 von den Akteuren selbst in keinster Weise erkannt. Als Vertreter des Landesamtes für Vermessung und Geoinformation Thüringen auf dem Workshop »Geoinformation. Woher? Wozu? Warum?«2 die Zugriffs- und Nutzungsmöglichkeiten von Geobasisdaten vorstellten, sprachen sie von diesen als von »unschuldigen Daten«. Daten werden dann von »unschuldigen« zu »schuldigen Daten«, wenn ihr Einsatz in einer bestimmten Forschungsfragestellung und Nutzungsperspektive erfolgt. Und diese Perspektivierung liege nicht beim Landesamt. Bei Ute Schneider hingegen wird der soziale Geocode mit der Geobasisdatenbereitstellung zu einem Dispositiv, das seine Dateninstrumentalisierung schon in sich trägt und somit mitnichten »unschuldige« Daten produziert. 1 | Und weiter, bezogen auf die Auswirkungen schreibt Schneider: »Zu den Folgen dieser Vermessungen gehören Standardisierungen etwa im Hinblick auf Maßeinheiten, Benennungen und Projektionsformen, die weitgehende und langfristige kulturelle Folgen zeitigten« (ebd.). 2 | Vgl. www.thueringen.de/de/tlvermgeo/ vom 18.7.2012.
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Das angesprochene staatliche und militärische Interventionsmandat erwachse aus dem Kartenmaterial, das unabdingbar mit der Kenntnis und damit der Etablierung des nationalen oder imperialen Raums verbunden ist, und zwar kausalursächlich. In diesem Sinne gäbe es keine »unschuldigen« Daten. Die Frage ist nun: kann durch audiovisuelle Transformationsprozesse der soziale Geocode so verändert werden, dass GIS und andere technisch-mediale Systeme zu einer critical geopolitics genutzt werden können? Könnte damit eine Delegitimierung von hegemonialen und imperialen Machtansprüchen herbeigeführt werden, die sich über Herrschaftsansprüche an Räumen vollziehen? Können Medienund Genrenarrative über ihre Medialität, die sie in Geomedien hineintragen, einen neuen Geocode etablieren? Ist dies auch jenseits künstlerischer Interventionen, die auf imaginäre Geographie oder Geopoetik/géocritique abzielen, möglich? Doch was ist überhaupt der Geocode der Medien?
II. D ER G EOCODE DER M EDIEN : R EAL VIRTUALIT Y STAT T VIRTUAL R EALIT Y ? Ein Geocode ist, nach Niels Werber, eine bestimmte Codierung des Raums, die Bewegung einer globalen Territorialisierung (vgl. Werber 2008: 166). Medien implementierten einen Geocode. Ihnen, so betont der Systemtheoretiker Werber, könne kein genuiner Geocode eingeschrieben werden, denn beobachtbar (hier zeigt sich Werbers Verpflichtung an die Systemtheorie) seien lediglich die Beschreibungstraditionen von Medien. Nicht die Technik würde erfasst werden, sondern die kulturelle Interpretation derselben. In die Medientechnik würde auch eine je spezifische politische Codierung des Raums (des Territoriums wie der Gesellschaft, die über den Raum zusammengeführt wird) hineingelegt werden.3 Zwischen Raumüberwindung, also Entterritorialisierung einerseits und Ortung des Selbst, also Relokalisierung andererseits, schwankt die gesellschaftliche Beschreibung der Medienleistungen. Zwischen den beiden Extremen wird der Geocode der Medien entworfen. Eine raumbasierte Medienwissenschaft soll zwei gegensätzliche Strömungen vereinen helfen: die der Virtual Reality und die der Real Virtuality. Werbers medientheoretische Analyse weist aus, dass je nach Medienzuschreibung, also der angenommenen Medienfähigkeit zur Raumdeterminierung, ein je anderer Geocode der Medien entworfen wird. Dies gilt insbesondere für die Netzwerkgesellschaft. Der Geocode der Medien ist von der Semantik der Selbstbeschreibungen einer Gesellschaft abhängig, die Medien bestimmte Leistungen der sozialen Ordnungsbildung zuschreibt. In einem nicht systemtheoretischen Diskursvo3 | In Frage steht, ob es einen medialen Bias der Codierung des Raums gibt. Nach Werber ist er sozial, nicht medial.
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kabular könnte man sagen, dass es ideologisch geprägte Zuschreibungen sind, die ideologiekritisch untersucht werden können. Den Geocode der Medien zu erfassen, heißt die Zumutungen zu erfassen, die Medien angelastet werden als ihr je besonderes Verhältnis zum geopolitischen Raum.4 Äußerst bemerkenswert ist Werbers Urteil über die Semantik der Netzwerkgesellschaft, die auf die soziale weltumspannende friedliche, antiimperialistische Netzwerkgesellschaft abzielt: »Der Geocode der Medien bestünde in dieser Form also in der Aufhebung traditioneller geopolitischer Codierungen« (Werber 2008: 178). Und weiter schreibt Werber: »Die demokratische Weltgemeinschaft als Rhizom, so lautet der Geocode der Netzwerkgesellschaft Castells, Hardts und Negris« (ebd.: 181). Manuel Castells denkt Europa als Netzwerkstaat (vgl. Castells 2003). Und da ein (Netzwerk-)Staat von seiner Grenze her zu denken ist, ein Staatenbund sich an seiner territorialen Außengrenze zu erkennen gibt, stellt sich die Frage nach der medialen Codierung des geographischen Grenzraums Europas. Auf Europas Außengrenze wirft die »European Border Watch Organisation« (vgl. Abb. 1) im doppelten Sinne einen Blick.
Abbildung 1: Logo der »European Border Watch Organisation« (www.europeanborderwatch.org vom 18.7.12)
4 | In diesem Sinne ist der folgende Satz zu verstehen: »Die Medien, die den Selbstbeschreibungsformeln ihre Evidenz verleihen, artikulieren also auch stets – vermittelt über ihr je besonderes Verhältnis zum geopolitischen Raum – einen bestimmten Geocode« (Werber 2008: 170).
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III. D IE »E UROPE AN B ORDER W ATCH O RGANISATION « Das Ziel wird einfach, klar und verständlich dargelegt: »Die European Border Watch (EUBW) bietet allen rechtmäßigen EU-Bürgern die Möglichkeit, sich in der Überwachung der EU-Außengrenzen zu engagieren. Ziel ist die permanente Überwachung der mehr als 12000 km langen Grenze, die ohne eine aktive Bürgerbeteiligung nicht möglich ist«.5 Der Netzauftritt der »European Border Watch Organisation« ist seriös. Auf der Hauptseite wird das Problem der illegalen Migration und der Grenzschutz der europäischen Außengrenze dargestellt, die Rechtslage wird dargelegt, der Verweis auf europäische Institutionen erfolgt, Zahlenmaterial wird bereitgestellt und ein fett gedruckter humanistischer Appell ruft auf: »Helfen Sie, diese Menschen vor einem solchen Schicksal zu bewahren! Helfen Sie, die EU-Außengrenzen für alle sicherer zu machen!«6 Die Zusammenarbeit mit der EU-Institution Frontex scheint die »European Border Watch Organisation« letztendlich zu legitimieren. Kein Zweifel kommt auf, andernorts in der Welt, in Texas (USA), sind solche Ideen auch propagiert worden. Alle EU-Bürger werden aufgerufen: »be a web patrol – save your border«. Auch die Partizipation ist einfach: kostenlos online registrieren, sich das Überwachungsgebiet per Mausklick aussuchen, ein wenig dank der europäischen Galileo-Satellitentechnik die EU-Außengrenze einfach und bequem am Bildschirm von zu Hause aus observieren und im Verdachtsfalle geschwind eine Email absenden. Dann kooperiert die »European Border Watch Organisation« mit der EU-Grenzschutztruppe Frontex, die sogleich operativ einen Einsatz im Feld ausführt. Klarnamen, Kontaktadressen, Emails sind angegeben. Dies ist die Internetversion der künstlerischen Arbeit des Klang- und Medienkünstlers Georg Klein. Der politische Aktionskünstler Klein, der in mehreren Werken mit interaktiven Klanginstallationen arbeitete, bei denen er stark auf die Partizipation des Publikums setzte und mit Fakes künstlerisch provozierte, hat zu diesem politischen Kunstwerk auch eine Vor-Ort-Aktion und -Installation erarbeitet. »In einer seiner letzten Arbeiten turmlaute.2: watch tower (MaerzMusik 2007) in einem ehem. DDR-Grenzwachturm setzte er mit der Gründung der www.europeanborderwatch.org einen politischen Fake als künstlerisches Mittel ein, was zu erheblichen Irritationen bei Presse und Besuchern führte« (Herv. i.O.).7 Seine bisherigen Arbeiten sowie auch turmlaute 2 realisierten sich an einem ganz konkreten Ort, der mittels medialer interaktiver partizipativer Arrangements zu einer – so das künstlerische Verfahren – »verdichteten Situation« gemacht wurde, bei der ein realer Ort mit einer virtuellen Situation überblendet bzw. zusammengebunden wurde. Bei der im Raum stattfindenden 5 | www.europeanborderwatch.org/de_goal.html vom 18.7.2012. 6 | www.europeanborderwatch.org/de_aboutus.html vom 18.7.2012. 7 | http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Klein_(Klangkünstler) vom 18.7.2012.
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Installation, die im ehemaligen DDR-Grenzturm »Schlesischer Busch« von März bis April 2007 untergebracht war, wurde im Erdgeschoss die Registrierungszentrale eingerichtet: Empfangsbereich, Broschüren, Papieranmeldeformulare. Im ersten Stock wurde der so genannte visual showroom mit sechs Überwachungsmonitoren installiert, die via Satelliten nach Eingabe der Koordinaten auf einen spezifischen Grenzabschnitt der EU-Außengrenze zoomten. Im zweiten Stock befanden sich in einem nachtsichtgerätgrünem Raum (der durch Abkleben der Fenster diese visuelle Assoziation bekommen hat) die Lautsprecher, die durch Passantenbewegung außerhalb des Grenzturms, die von Kameras aufgenommen wurden, in Gang gesetzt wurden. Aus den Lautsprechern im Innern des ehemaligen Grenzturms tönten auf Sächsisch gesprochene Dialogfragmente von Wache habenden DDR-Grenzern, die in verschleiernder Weise von gelungenen oder nicht gelungenen Grenzdurchbrüchen sprachen. Diese Arbeit des Klangkünstlers wird von Kulturwissenschaftlern als Grenzkunst rubriziert und ist Bestandteil politischer Aktionskunst. Die Besucher dieser nicht als künstlerische Intervention ausgewiesenen Aktion wurden aufgefordert, sich mittels des Anmeldeformulars zur Überwachungshilfe der EU-Außengrenze zu verpflichten und bekamen eine Einweisung in die technische Handhabung der Überwachungskameras. Insbesondere wurde ihnen erklärt, dass zunächst eine Georeferenzierung vorzunehmen ist, dass also jeder auf der Erde befindliche Ort eine geographische x-Koordinate sowie eine y-Koordinate hat. Diese werden, wie bei der Benutzung von geographischen Informationssystemen (GIS) auch, eingegeben. Auf der Grundlage der Zuweisung dieser geographischen Referenzen (Georeferenzierung) werden sämtliche technische Steueroperationen vorgenommen. Nicht nur der Gebrauch, sondern die Kartierung eines Erdabschnitts wird damit möglich.8 Dieser interaktive Eingriff in die Steuerung stellt medientechnisch den entscheidenden Schritt vom consumer zum prosumer (= consumer + producer) dar. Der User wird damit zum Produzenten geographischen Wissens. Die meisten Besucher der Vor-Ort-Installation wie der Internetseiten registrierten sich nicht und wollten nicht überwachen. Der rechtsstaatliche Impuls ist zu tief verankert, führte zu Auf- und Ablehnung und hinterließ eine tiefe Verunsicherung bei den politisch mündigen EU-Bürgern. Die prosumer-Perspektive, diese interaktive medientechnologische Steuerung der Grenzüberwachung durch Zivilpersonen der EU-Staaten, wandelt die geographische Codierung des territorialen EU-Grenzraums um in eine geo-mediale Codierung des Territoriums der EU-Staaten. Technisch gesehen liegt hier eine mediale Geo-Codierung, eine digitale Georeferenzierung vor. Dass diese nicht rein instrumentell 8 | Im strengen Sinne des Wortes würden Kartographen dies nicht als Kartieren bezeichnen, denn Satellitenbilder, wenn auch georeferenziert, sind keine kartographierten Landschaftsaufnahmen.
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ist, sondern eingebettet in die sozialen Selbstbeschreibungen einer Gesellschaft, versteht sich nicht von selbst und muss ins Bewusstsein gehoben werden.9 Man könnte sagen, es ist ein politischer Geocode der Medien. Welche GesellschaftsSelbstbeschreibungen bzw. Zuschreibungen an Medien können bei der Kunstaktion »European Border Watch Organisation« aufgedeckt werden?
IV. D IE K UNST DER »E UROPE AN B ORDER W ATCH O RGANISATION « Die Kunstaktion »European Border Watch Organisation« kann eingeordnet werden in eine Kunstrichtung, die die Kulturwissenschaftlerin Anita Moser »Prekäre Performances« nennt und die abzielt auf »die liminalen performativen Arbeitsweisen sozialkritischer Kunst im öffentlichen Raum« (Moser 2011: 129). Moser stellt in »Die Kunst der Grenzüberschreitung« verschiedene österreichische Grenzkunstprojekte vor und geht auf »Die Ordnung des neuen Europa«, »Migrationen in Europa« und »Europas Grenzregime« ein. Über Frontex und das Schengener Abkommen urteilt die politisch engagierte Autorin Moser mit den Worten Kien Nghi Has: »Das halbdurchlässige Grenzregime wird durch seine Verlegung ins Innere immer mehr zu einem selektierenden und technisch hoch gerüsteten System des Identitätsscannings ausgebaut, das Flexibilität und Totalität staatlichen Handelns ermöglichen soll. […] Indem die Inlandsexistenz der Immigrierten nicht mehr der einmaligen staatlichen Autorisierung im Alltag bedarf, vollzieht sich ihr Leben in den ›marginalen Bahnen beständiger Grenzerfahrung‹« (ebd.: 76; Herv. i.O.).10
Die »European Border Watch Organisation« spielt mit einer doppelten Liminalität. Neben dem Sujet der »marginalen Bahnen beständiger Grenzerfahrung« ergeht der Aufruf an europäische Bürger, die – allesamt aus demokratischen Staaten kommend – dem Staat allein das Gewaltmonopol überantworten und im Gegenzug den Staat, und diesen allein, in der Pflicht sehen die Bürger zu schützen, die Exekutive zu stellen, und damit Grenzschutz als staatliche Ange9 | Nach Werber gibt es keinen medialen Geocode, nur einen sozialen. Doch anders als in der Werber’schen Untersuchung handelt es sich hier nicht um globale Medienkommunikation, sondern um Medientechnologien des territorialen Grenzschutzes. 10 | Moser zitiert Ha aus dem Jahr 2003 (vgl. Moser 2011: 89). Abschließend urteilt sie: »Der augenfälligste Effekt des Grenzregimes in Europa ist nicht die von politischer und wirtschaftlicher Seite angestrebte Steuerung von Zuwanderung – die auf eine Zunahme ›hochqualifizierter‹ Arbeitskräfte bei gleichzeitiger Abnahme ›minderqualifizierter‹ Migranten abzielt –, sondern die Illegalisierung von Migration« (ebd.: 76).
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legenheit ansehen. Diese demokratischen EU-Bürger werden in ihrem rechtsstaatlichen Verständnis verunsichert und aufgefordert, sich aktiv an der Überwachung der Grenze zu beteiligen, wobei die Form der Kameraüberwachung nicht einen direkten, im Feld stattfindenden Grenzschutz darstellt und keine direkte Anwendung von Schutzmaßnahmen der inneren oder äußeren Sicherheit erfordert. Diese würden ja – so das künstlerische Arrangement – von der rechtsstaatlich legitimierten Organisation Frontex ausgeführt werden. Es erfüllte also lediglich den Tatbestand der Beihilfe zum Grenzschutz. Und ob diese Form schon nicht-rechtsstaatlich ist, vermag selbst der politisch mündige Staatsbürger nicht ohne Weiteres zu sagen. (Schließlich ergeht ja auch der rechtsstaatlich legitime Aufruf, verdächtige Gesprächsstücke an Transitorten der Polizei zu melden). Zudem wird auf den Aufruf zur Installierung eben jener Praxis dieses angeblich zivilgesellschaftlichen Engagements für den Staat in den USA verwiesen, wo dieses Grenzregime in der Tat von demokratischen Politikern vorgeschlagen und teilweise implementiert worden ist. Von einer europäischen Perspektive aus betrachtet, erscheint es eine illegitime Aneignung der gemeinsamen Staatengrenze von Seiten der EU-Bürger zu sein. In Zweifel gezogen werden damit nicht nur die Handlungsmacht von Akteuren des Staates, sondern auch die demokratischen Grundmanifeste der Gewaltenteilung. Hier geraten Legitimität und Illegitimität grundlegend durcheinander. Und diese Kunstaktion wirft ihren Schatten auf das Kartenwissen als grundsätzlich ambivalent zwischen Legalität und Illegalität, zwischen staatlich-militärischem Interventionsmandat und humanistischem Gegengebrauch.11 Und es taucht das viel grundlegendere Problem des Schutzes einer Grenze vor Menschen auf, die in nicht feindlicher Absicht – wahrscheinlich von wirtschaftlicher Not getrieben – flüchten. Dass mit militärischen Mitteln einem humanitären Problem begegnet wird, bleibt eine Grundproblematik dieser Grenze, die hier sehr deutlich zu Tage tritt. Ebenso wird klar, dass hier keine äußeren Feinde abgewehrt, sondern allenfalls wirtschaftlicher Schaden begrenzt werden soll. Was hier schlagartig zu Bewusstsein kommt, ist die Obsoletheit der Funktion von Grenzen als militärische Schutzeinrichtung vor Feinden. Diese Begründung aber ist nach wie vor ihre Legitimation. Die Diskrepanz zwischen demokratietheoretischer Rechtfertigung und tatsächlichem Grenzregime, das antihumanitäre Praktiken bedeutet und einer anderen Interessenssphäre zuarbeitet, drängt sich auf. Die Unentschiedenheit, ob hier im Staatsinteresse volkswirtschaftliche Erwägungen anzustellen oder ob kapitalistische Interessen zu schützen sind, macht sich breit. Die Selbstermächtigung Grenzübertritte abzuwehren würde in einer starken Lesart des Kunstwerks zur Delegitimierung jedweder Grenze führen, in einer weniger starken Lesart zur Delegitimierung der Selbstermächtigung. Zu Bewusstsein kommt auch die staatspolitische Einschränkung transnationaler Mobilität. Es 11 | Bei der Kunstaktion »Border Rescue« wurden Fluchtwege auf Karten dokumentiert.
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bleibt die Frage: Worin besteht der utopische Gehalt dieser Kunstaktion? Ist es die Utopie der Kunst, auf die Repression zu verweisen? Hat diese Kunstaktion einen kritischen Impakt? Auffällig an Kleins Arbeit ist die Gegenperspektive zu vielen anderen mit der Grenze arbeitenden Performances oder Kunstaktionen. In dem von »Social Impact« realisierten Projekt »Border Rescue« hat eine Künstlergruppe sichere Fluchtwege von Tschechien (als es noch nicht in der EU war) nach Österreich ausgemacht und dokumentiert. Auch hier eine selbstbestimmte Aneignung der Grenze seitens der Künstlerinnen, doch nicht zur Verhinderung, sondern zur Ermöglichung der Flucht.
V. V ISUELLE P ERFORMANCE DER K ARTE Die gefakten Border-Watch-Bilder der von Georg Klein realisierten Videos, die auf Monitoren laufen, die in den Schießscharten des Grenzturms eingelassen sind, stehen in Kontrast zu den über das Fernsehen bekannten Kontrollbildern der EU-Außengrenze. Als Fernsehbilder von der EU-Außengrenze gingen die Überwachungskamerabilder von den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, die einzigen Süd-Außengrenzen Europas auf dem Lande, um die Welt. Die über das Fernsehen und Dokumentarfilme verbreiteten Schwarz-Weiß-Bilder der Überwachungskameras von der EU-Außengrenze zu Lande stammen von der spanischen Guardia Civil (vgl. Abb. 2 und 3). Sie sind statisch, unscharf, krisselig wie alte Videokopien und laufen im Zeitraffer ab. Gezeigt wird, wie nicht zu erkennende anthropomorphe Gestalten mit primitiven Leitern die Grenzzäune übersteigen und an Stacheldraht hängen bleiben. Diese Bilder, die für das Bildmedium Fernsehen zum »Realsymbol« (Thiele 2005: 45) geworden sind, sind seit dem September 2005 im kollektiven visuellen Gedächtnis aller EU-Bürger. Es ist ein radikaler Wechsel von im Fernsehen ausgestrahlten schwarz-weißen Videoüberwachungskamerabildern zu den Videos in der Ästhetik von interaktiven digitalen farbigen Satellitenbildern in Computern. Die Border-Watch-Bilder stellen einen Gegenentwurf dar zur von Ramón Reichert konzedierten politischen Dimension des Zeitraffers. Die Videobilder, von denen einige in der Klein’schen Dokumentation betrachtet werden können (vgl. Abb. 4-5), sind nahezu monochromatisch und kontemplativ.
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Abbildungen 2 und 3: Bildschirmphotos vom 20.2.2012 um 19.37.50 bzw. 19.38.01 Uhr
Im Vergleich zu diesen Bildern, die nach Reichert »eine radikale Feindseligkeit gegenüber der Migrationsbewegung« (Reichert 2011: 51) zum Ausdruck bringen, kann das Mapping als Gegenbild und Gegenstrategie eingesetzt werden. Mapping12 ist als eine Kulturtechnik aufzufassen, die stets das Verfertigungsverfahren der kartographischen Raumerfassung vornimmt und dabei den Menschen in seiner sozialen Verortung im Raum in den Vordergrund stellt.13 Betont wird 12 | Zum »Mapping« vgl. Schoonderbeek (2010: 155-166). 13 | »Mapping« ist die Bezeichnung eines kartographischen Verfahrens, wohingegen als künstlerisches Verfahren die Kulturtechnik, die Leib und Kartographie verbindet, mit »spekulativer Kartographie« bezeichnet worden ist. Der Begriff »spekulative Kartographie« wurde von Nigel Thrift (2008) verwendet, bezogen auf die Arbeiten der Künstlerin Julie Mehretus, und meint dynamische und strategische Arrangements. In ihren Arbeiten beziehen sich Arrangements auf die neue Operationalität im Raum und dem
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hierbei das nicht fertige Produkt der Karte, das von der Eintragungspraxis abstrahiert und ein Territorium repräsentiert, sondern die Sichtbarmachung der inhärenten ideologischen Absicht (vgl. Schoonderbeek 2010: 158).
Abbildungen 4 und 5: von Klein eingesetzte Videobilder eines Grenzflusses (oben) und eines Küstenabschnitts (www. georgklein.de/installations/014_t2-watchtower_d.html vom 18.7.2012) »Mappings are indices of possibilities, or actualizations of virtualities, that introduce multiple perspectives and multiple dimensions on spatial issues. In a way, when referring to the original understanding of maps, namely as descriptions of the surface of the earth, nowadays a more non-hierarchical, less top-down, or even ›lateral‹ way of conceiving space is part of maps and the practice of mapping« (ebd.: 159).14 neuen Raumverständnis, das in den vier »Abkehren« zum Ausdruck kommt und auf einen sozialen, dynamischen, künstlerischen, nicht-metrischen Raum abzielt. Es steht ganz im Zeichen des neuen Raumverständnisses nach dem spatial turn. 14 | Mit dem Begriff der »Virtualitäten« wird auf Gilles Deleuzes Differenz und Wiederholung verwiesen (1992) und mit dem zitierten Begriff »lateral« auf Stefano Boeris »Eclectic
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Dass Mapping dabei nicht nur auf die Kartenerstellung, sondern auf deren Lektüre anzuwenden ist, also ein konkreter Raumnachvollzug, der zuweilen die vorhandenen Karten auch nicht ratifizieren kann, geht aus dem folgenden Zitat hervor: »Mapping, to be more precise, is perhaps not so much a mechanism that allows a completely new and open reading of contemporary urban conditions or landscapes, rather, it asks for a postponement of judgement in the sense of a direct ›reality-check‹« (ebd.).
Diesen »reality check« unternimmt dann mit einer sehr differenzierten Karte von Ceuta der Autor Marc Schoonderbeek und setzt diese im Ausweis unterschiedlichster Zonen, der Altstadt, dem Flüchtlingscamp, Zwischenzonen (also auch Begegnungsstätten zwischen Spaniern, Marokkaner und Illegalen) den statischen Überwachungskamerabildern vom Grenzzaun entgegen (vgl. Abb. 6).
Abbildung 6: Karte von Ceuta (Schoonderbeek 2010: 158). Die Karte, die auch eine Zone »informal activities area organised by nationality« aufweist, steht hier gegen die zur Schau gestellte Repression und antihumanistische Flüchtlingspolitik der eingesetzten Bilder in den Dokumentarfilmen. Gerade das digitale Mapping der Medienkunst stellt die Ambivalenz digitaler Kartographie zwischen dystopischer geosurveillance und medienkompetenter Empowerment-Mapping-Strategie, das der Befreiung zuschlägt, in besonderer Weise heraus. Kartenerstellung und ihre Bereitstellung als Fluchthilfe ist eine Koppelung von Medien (-Karten), Migration und (Wissens-)Transport. Die Atlases. Four possible ways of seeing the city« (1998-1999). »Lateral« bezeichnet eine Bewegung, die zugleich durch den physischen wie durch den mentalen Raum geht.
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strukturelle Verkoppelung, der systemische Zusammenhang weist Medien und Migration als gleichursprünglich und füreinander konstitutiv aus.
VI. M EDIEN , M IGR ATION UND TR ANSPORT Migration und Film als ureigene Bewegung der Welt sind »raumzeitliche Veränderung«, sind über »wesenhafte Bewegung« (Meurer/Oikonomou 2009: 11) miteinander verbunden. Die mediale Codierung von Migration und Kinematographie über Bewegung und Welt schlechthin, ihre epistemologische Ineinssetzung und argumentationslogische Verschaltung findet sich in vielen medienwissenschaftlichen Schriften.15 Da Migration, Auswanderung und Exil notwendig geographischen Transport mit sich bringen, wird hier ein medialer Geocode behauptet; genauer: behauptet wird, dass nicht nur geographische Transpositionen und Translationen medial dargestellt werden können, sondern dass jedwede geographische Fortbewegung (über Bewegung und Welt) notwendig medial ist. Der Zusammenhang von medialer und geographischer Bewegung, von Migration, im Sinne des Menschentransports, und Transport, im Sinne des analogen Bildertransports im Kinematographen, ist kennzeichnend für die analoge Phase des Kinos. Von der »geschichtliche[n] Koinzidenz von geopolitischer und medialer Bewegung sowie ihrer Kontrolle« (Meurer/Oikonomou 2009: 13) bis hin zur medientheoretisch starken These der gegenseitigen Konstitution von Film und Migration, reicht das Spektrum in der Theoriebildung. Das angelegte Analogieverhältnis beider Bewegungsphänomene wird von Ulrich Meurer und Maria Oikonomou über die klassische Phase des Kinos hinaus weiter geführt und mit dem Ende des Transports von Zelluloid-Bildern im Zeitalter der digitalen Bildprojektion seine Auflösung behauptet: »Wie die körperliche Bewegung des Migranten geht diejenige des Films und auch seines Zuschauers, geht der Transport in eine[r] flächige[n] Verteilung und Präsenz der Bilder on demand auf« (ebd.: 15). Mit dem Digitalen wird die Löschung des Ursprungs der Bewegung behauptet (vgl. ebd.: 16). Entgegen den Erkenntnissen der Migrationsforschung, die nach wie vor – auch im 21. Jahrhundert – starke Migrationsströme diagnostizieren, die verursachenden push- und pull-Faktoren auch zu benennen wissen (vgl. Pries 1997), behaupten die Autoren in ihrer fortgeführten Analogiesetzung mit der Digitalität das »Ende der räumlichen Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen«, die »Transnationalisierung von Identitäten« (Meurer/Oikonomou 2009: 14), das Ende der Fremdheit und deren Alltäglichwerden. Die Foucault’sche Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander des Raumes führen zur »Diagnose vom Verschwinden des Transports und der physischen Bewegung« (ebd.). Mithin wird nichts weniger behauptet 15 | Vgl. »Das Fehlen des Volkes« (in: Deleuze 1991) und Naficy (2001).
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als das Fortbestehen der Bewegung, aber das Ende der Migration. Von der Genesis zur Kinematographie springend werden Exil/Auswanderung und Kinematographie als gegenseitig konstitutiv gesetzt. Die Moderne und mit ihr der Nationalstaat sowie das Europa des 19. und 20. Jahrhunderts (Europa als Migrationsfeld), weisen Staat und Kinematographie als Bewegungsregulatorien aus. Wenn »in der Nachmoderne das universelle Bewegungsprinzip in das weite Spatium unterschiedsloser Verfügbarkeit zurück[sinkt]« (ebd.: 16), was, so muss ich für mein Projekt fragen, heißt dies dann für den medialen Geocode? Wenn der moderne mediale Geocode von vektoriellem, linearem Transport bestimmt war, wo die Vorwärtsbewegung aus einer Antriebskraft heraus geschah, so ist der nachmoderne mediale Geocode Ubiquität, Distribution, Emergenz, eine flächenmäßige Verteilung und Verfügbarkeit. Nicht gedacht wurde von Meurer und Oikonomou der Argumentationsschritt hin zur Verschaltbarkeit, zur Medienkonvergenz, die hier jedoch nicht nur vormals einzelne Medien-Leistungen zusammenbindet, sondern auf der Ebene des Dispositivs ebenso Subjekt und Ortung verschaltet. Die flächenmäßige Verteilung muss über die mediale Leistung auch für das Subjekt gelten. Wir haben es also mit zwei ganz unterschiedlichen medialen Geocodes zu tun, die hier von der Moderne zur Nachmoderne über den Wechsel von analogem Bilder- und Menschentransport hin zum digitalen Datenweltexil parallel in Kraft gesetzt werden. Der audiovisuelle Transferprozess, hat er von Analog zu Digital tatsächlich seine Physis verloren? Mit dem spatial turn wurde das Ende des »Virtualisierungshypes« der Medien (-wissenschaft) eingeläutet; betont wurde die Materialität, die physische Präsenz des Raumes, die nicht geleugnet werden kann. Der nachmoderne mediale Geocode habe, so Meurer und Oikonomou, den Transport in die Narration hinein verlagert und dort mit Beginn, Mitte und Ende Migrationserfahrung und Film verschaltet: »Insofern sind mit Situation und Milieu, Aktion und Ereignis die Pole benannt, zwischen denen gleichermaßen Auswanderung, Exil und das filmische Erzählen siedeln. Aus dem zutiefst Prozessualen der Wirklichkeit und den technischen Bedingungen des Films gehen dort Wege und Karten der Migration, hier der Handlungsbogen oder gar all jene Motive und Stoffe der Mobilität hervor, die das Kino als die ihm gemäßen bevorzugt« (ebd.: 17; Herv. H.W.).
Der Transport wurde also zur Struktur des Films, zur filmischen Narration. Und was, wenn aus den Karten der Migration der Handlungsbogen selbst wird, und dies in unterschiedlichen Medien, »dort« und »hier« also eins werden? Die Besonderheit, dass das Sujet der Migration im Film dargestellt wird, der als Medium Bildtransport und Migration verschaltet, wie muss sie gedacht werden? Was ist, wenn die beiden unterschiedlichen Geocodes, der analoge und der digitale, nicht nacheinander, sondern gleichzeitig existierten? Um welchen
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politischen Geocode handelt es sich, wenn digitale Bild-Emergenz und Ubiquität sowie Staat und Kinematographie als disziplinierende Bewegungsregulatoren zugleich wirken? Im Nexus von Medien, Migration und Transport kann mit der Gleichzeitigkeit der beiden Geocodes die gleiche Ambivalenz wie bei der digitalen Kartographie auch ausgemacht werden: zwischen dystopischer geosurveillance und medienkompetenter Empowerment-Strategie stehend. Die Vervielfältigung von Karten, von »objektiven« des instrumentellen Gebrauchs zu kritischen Gegenkarten, von modifizierten und modifizierbaren in den verschiedenen audiovisuellen Medien, trägt in der Praxis der Perspektive einer critical geopolitics zu. Der neue Gebrauch der Kartographie – Strategien des Mapping, gefakte Videos der Satellitenüberwachung – unterminieren die Nähe zu Staat und Militär.
VII. F A ZIT : M EDIALE TR ANSFORMATIONSPROZESSE Evident ist, dass im digitalen Zeitalter, das eine große Popularisierung von Karten in Form von Applikationen in vielen verschiedenen transportablen Medien hinter sich hat, dass im Zeitalter der prosumer die tagging-Funktion, das heißt die Verknüpfung von Landkarten mit Bildern und Textinformationen, zum grundlegenden Wissensmodus über Karten geworden ist. War es im 19. Jahrhundert das Bildungsideal, für breite Bevölkerungsschichten im Geographieunterricht das Wissen zu vermitteln, wo sich die Grenzen befinden, welchen Verlauf sie nehmen, welche Länder an welche grenzen, ob Gebirge oder Flüsse die Grenze bilden, so ist es nun im 21. Jahrhundert ein Automatismus, zu einzelnen auf Karten eingetragenen politischen Grenzen ein Bildrepertoire zur Verfügung zu haben. Dies Bildrepertoire muss dabei nicht notwendig als abgespeichertes, verfügbares visuelles (Bewegt-)Bild zur Verfügung stehen, sondern ist auch ein imagery: ein aufgrund schon vielfach gesehener, nicht mehr exakt erinnerter und nicht mehr exakt lokalisierbarer Bilder von Grenzen imaginäres Bildassoziationsfeld. Dies speist sich in den seltensten Fällen aus eigener Anschauung, sondern ist zumeist genährt von Fernsehberichterstattungen. Das digitale Kartenwissen ist zu einem primär ikonischen geworden. Die Ikonizität von Film-, Fernseh- und Überwachungskamerabildern steht dabei in einem seit Jahrzehnten vermittelten visuellen Narrativ von GrenzberichterstattungsTraditionen. »Border Watch« sowie andere Formen der Grenzkunst arbeiten an diesem mentalen tagging, welches das isolierte »geopolitische« Wissen über Grenzen zu einem umfassenderen, diskursiv verfassten Wissen macht, das auch narrative Momente mit einschließt. Die Etablierung von Bildassoziationen ist das primäre Ziel dieser Interventionskunst. Seinen politischen Impakt erweist dieses Projekt in einem Registerwechsel: von einer notwendig abstrakten, objek-
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tivistischen Kartenperspektive hin zu einer konkreten, visuellen und narrativen Perspektive; von der Makro- zur Mikroebene; von der indexikalischen zur ikonischen Zeichenklasse; von der entpolitisierten zur politischen. Von einer, die dem Medium Karte seine Medialität als Vermittlerdimension nimmt, hin zu einer, die die Medialität der Wissensgenerierung über das Bildwissen einschreibt. Eintrainiert in diese Verknüpfung wird das, was man als geistigen Zoom-Faktor bezeichnen könnte. Der Durchgriff von der Makro- auf die Mikroebene ist in den letzten Jahren durch die Fernsehästhetik vorbereitet worden. Moderatoren gehen dabei in der Live-Berichterstattung von der Karte aus; mit der deiktischen Geste auf das (Grenz-)Gebiet (die auch von der Kamera übernommen werden kann) wird im wahrsten Sinne des Wortes ein Feld eröffnet. In diesem Zoom auf das Feld, das alle User durch Google Earth und andere interaktive Kartenformen kennen und sei es für die eigene Navigation, sei es für die virtuelle Wissensnavigation selbst auch praktizieren, wird durch das Fokussieren die mentale Verbindung von geographischen Koordinaten (abstrakte Zahlen) und die Anschauung von lebensweltlicher Realität gewährleistet. Das kamera- bzw. computer-technische Fokussieren wird in diesem Akt zu einem thematisch-visuellen Fokussieren. Es ist ein Wechsel vom geographischen zum bildpolitischen Wissen. Es ist eine Form der Geo-visiotype (vgl. Döring 2009). Es ist die Performanz der digitalen Karte.16
L ITER ATUR Boeri, Stefano (1998/1999): »Eclectic Atlases. Four possible ways of seeing the city«, in: Daidalos 69/70, S. 102-113. Castells, Manuel (2003): Das Informationszeitalter, Bd. 3. Die Jahrtausendwende, Opladen: Campus. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung, München: Fink (zuerst 1968). — (1990): Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (zuerst 1985). Dennerlein, Bettina/Frietsch, Elke (Hg.) (2011a): Identitäten in Bewegung: Migration im Film, Bielefeld: transcript. — (2011b): »Einleitung«, in: dies., Identitäten in Bewegung, S. 7-19. Döring, Jörg (Hg.) (2009): Geo-Visiotype. Zur Werbegeschichte der Telekommunikation (= Massenmedien und Kommunikation, Bd. 170/171), Siegen: Universi. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.) (2008a): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript.
16 | Vgl. Wagner 2012.
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— (2008b): »Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen«, in: dies., Spatial Turn, S. 7-45. Hake, Günter/Grünreich, Dietmar/Meng, Liqiu (2002): Kartographie, Berlin: de Gruyter. Meurer, Ulrich/Oikonomou, Maria (2009): »Fremdbilder – Aspekte geographischer und medialer Bewegung«, in: dies. (Hg.), Fremdbilder. Auswanderung und Exil im internationalen Kino, Bielefeld: transcript, S. 9-34. Moser, Anita (2011): Die Kunst der Grenzüberschreitung. Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik, Bielefeld: transcript. Naficy, Hamid (2001): Accented Cinema, Princeton, NJ: Princeton University Press. Pries, Ludger (Hg.) (1997): Transnationale Migration (= Soziale Welt, Sonderbd. 12), Baden-Baden: Nomos. Reichert, Ramón (2011): »Das Geschlecht der Grenze. Genderrepräsentationen von der Berliner Mauer bis zur EU-Außengrenze«, in: Dennerlein/Frietsch, Identitäten in Bewegung, S. 35-56. Schneider, Ute (2010): »Kartographie und Geodäsie«, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 2433. — (2004): Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schoonderbeek, Marc (2010): »The Image versus the Map. The Ceuta Border«, in: Christine Bischoff/Francesca Falk/Sylvia Kafehsy (Hg.), Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, Bielefeld: transcript, S. 155-166. Thiele, Matthias (2005): Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, Konstanz: UVK. Thrift, Nigel (2008): »Raum«, in: Döring/Thielmann, Spatial Turn, S. 393-409. Wagner, Hedwig (2012): »Performanz der digitalen Karte«, in: Stephan Günzel/ Lars Novak (Hg.), KartenWissen, Wiesbaden: Reichert (im Druck). Werber, Niels (2008): »Die Geo-Semantik der Netzwerkgesellschaft«, in: Döring/Thielmann, Spatial Turn, S. 165-183. www.europeanborderwatch.org/de_goal.html vom 18.7.2012. www.georgklein.de/installations/014_t2-watchtower_e.html vom 18.7.2012. http://vimeo.com/12759883 vom 18.7.2012. www.thueringen.de/de/tlvermgeo/vom 18.7.2012. http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Klein_(Klangkünstler) vom 18.7.2012.
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Projektionskunst oder Taktik? Mapping und die zeitgenössischen Künste Bettina Wind
Auf die Einladung hin, einen Beitrag über »Mapping und die zeitgenössischen Künste« zu entwickeln, saß ich einige Zeit vor dem Bildschirm meines Computers und fragte mich, was diese Wortkombination wohl beinhalten könnte. Vielleicht sollte ich verschiedene Karten vorstellen, die in den letzten Jahrzehnten im Kunstbereich entstanden sind und Projekte im zeitgenössischen Tanz und den »tactical media« erwähnen, die über Bewegungen Karten generieren? Dann könnte ich aufzeigen, in welcher Form verschiedene Theorien und Ansätze in die Künste eingeflossen sind und die Resultate ihrer Umsetzung einer kritischen Betrachtung unterziehen. Auf den zweiten Blick hin wirkte die Beziehung zwischen »Mapping und den Künsten« allerdings nicht mehr so einfach. Der Titel könnte bedeuten, und vielleicht war das meine ursprüngliche Auffassung, wie Mapping in den Künsten visuell in Erscheinung tritt, oder wie die Künste den Begriff »Mapping« im Vergleich zu anderen Bereichen anwenden und erweitern, oder einen Überblick über die Werke, die Karten zitieren oder neue subjektive Karten entwerfen oder die Beziehungen zwischen all diesen Aspekten. Als ich allerdings über diese Beziehungen nachdachte, die mir der interessanteste Blickwinkel erschienen, sah ich bald ein, dass es hier ein fundamentales Hindernis gab: ich würde nie zu einem abschließenden Resultat kommen. Das einzige, was ich stattdessen anbieten kann, ist eine Stellungnahme zu einem nebensächlichen Aspekt: nämlich, dass Kartierung – in welcher Form auch immer – dazu dienen kann, die Bedingungen eines gemeinsamen Raumes in der Kunstproduktion verstehen und verhandeln zu können. Dieser Aspekt lässt zwar die vielseitigen Verbindungen zwischen Mapping und den Künsten außer Acht, aber da das Thema ohnehin höchst komplex und umstritten ist, kann ich nur darauf hoffen, meinem Publikum eine Möglichkeit zu geben, seine eigenen Schlüsse aus meinem eigenwilligen Standpunkt und meiner eingeschränkten Perspektive zu ziehen. Deswegen schlage ich vor, alle Freiheiten der literarischen Erzählung zu nutzen, um die Geschichte der wenigen Wochen zu skizzieren, die diesem Beitrag vorausgingen und in denen ich, von
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der Last meines eigenen Vorschlages und Vorhabens gedrückt, verschiedene Fragen hin und hergedacht und zum Teil meines Alltags gemacht habe. Unnütz zu erwähnen, dass die Stimme, mit der ich hier spreche, nicht wirklich mir gehört, sondern Virginia Woolf, deren Vortrag A Room of One’s Own (Woolf 2004) ich in meinen eigenen Text übersetze, und dass die Realität der beschriebenen Orte so wenig gesichert ist wie in Virginia Woolfs Originalversion; ich sollte anfügen, dass das Wort »ich« nur eine passende Beschreibung für jemanden ist, der nicht wirklich existiert. Es bleibt also nicht nur Virginia Woolfs, sondern auch meinem Publikum überlassen zu entscheiden, welche Gedanken es wert sind, näher betrachtet zu werden. Da fand »ich« mich also, unter welchem Namen auch immer, auf den Stufen einer verhältnismäßig unbekannten Kunstinstitution mitten in einem aufgelassenen Industriegebiet im fernen Texas wieder, und zwar an einem wolkenlosen Frühlingstag, an dem die Temperaturen gut und gerne dreißig Grad Celsius überstiegen. Zur Rechten der Hinterhof mit Blick auf unscheinbare Lagerhallen, zur Linken, etwas weiter entfernt die Vorstadtstraße, deren Rand mexikanische Restaurants, Second-hand-Möbellager und Tankstellen säumten. Mangels eines eigenen Wagens, um in die Innenstadt zu gelangen, und angesichts der Hitze jenseits des schützenden Vordachs blieb mir nichts anderes übrig, als mich in Gedanken zu verlieren. Was hatte mich anfangs dazu gebracht, Karten als Ausdrucks- und Hilfsmittel in meinen künstlerischen Projekten einzusetzen? War es die Möglichkeit, die Erfahrung von Beziehungen in bestimmten Räumen, seien es konkrete Orte, soziale Netzwerke, oder die Schnittfläche zwischen beiden, visualisieren zu können? Kann Mapping als ein Werkzeug eingesetzt werden, um in einer Gruppe partizipativ Positionen zu verorten, und wenn ja, in welchem Verhältnis steht dann diese kollektive Autorenschaft zu der Perspektive eines einzelnen kartierenden Künstlers? Sind Karten in der Kunst Dokumente eines Moments? Oder können sie sich dynamisch entwickeln, ohne dabei an Lesbarkeit zu verlieren? Suggerieren programmgestützte Karten eine höhere Funktionalität als gezeichnete? Und warum habe ich an einem Punkt aufgehört, Karten zu entwerfen? Haben die ständigen Perspektivenwechsel zwischen verschiedenen Orten und Disziplinen dazu geführt, dass ich einen Blickpunkt nicht mehr so lange aufrechterhalten konnte, bis ein bestimmtes Verhältnis in einer Karte festgehalten werden kann? Oder war ich bereits in der Bewegung sesshaft geworden? Plötzlich fand ich mich auf den Beinen, die Treppe hinauf eilend, auf die Eingangstür der Kunstinstitution zuhaltend, als in eben jener eine junge Frau auftauchte, die mir zurief: »Stop! Don’t step on the red carpet«. Ich sah nach unten und tatsächlich: wo ich noch vor wenigen Tagen wie selbstverständlich den Eingangsbereich auf dem Weg zur Ausstellungshalle durchquert hatte, lag nun ein roter Teppich, frisch gelegt und angeklebt für die Vernissage am selbigen Abend, an der nicht nur andere Künstler, sondern auch ein berühmter Mo-
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dephotograph aus New York seine Werke präsentieren würde. Ohne Zweifel war der Teppich in freudiger Erwartung der großzügigen Spender und Sponsoren ausgerollt worden, die vor der bunten Werbewand posieren würden. Was war nur in mich gefahren, dass ich so ohne jeden Respekt für die Grenzen meines Standes diesen rot markierten Bereich hatte durchqueren wollen? Mir blieb nichts anderes übrig, als mich wieder unter das Vordach zu setzen und abzuwarten, bis die Eröffnungszeremonie begann. Nach und nach wurden Bar und Büffet im Freien aufgebaut, eine Tonanlage montiert und schließlich ganz offiziell die Türen zur Ausstellung geöffnet. An den kleinen Bartischen begannen die ersten Gespräche unter Kollegen, über die Schwierigkeiten, in einer Stadt eine neue Arbeit zu entwickeln, in der für jede noch so kleine Besorgung ein Auto und eine ausgedehnte Suche nach einem geeigneten Einkaufsgebiet nötig war. Über Improvisationen innerhalb enger Zeit- und Budgeträume und die Frage, wie viel die Künstler in ihre Arbeit investieren sollen und wie viel oder wenig sie von den Institutionen erwarten können, die ihre Arbeiten präsentierten. So unterhielten wir uns also; im Hintergrund legte eine DJane, frisch aus New York eingeflogen, professionell arrangierte Musikstücke auf, und während unser Blick bisweilen von ihrem lässigen und doch glamourösen Auftritt eingefangen wurde, kamen uns zwei Gedanken in den Sinn: dass sie wohl an diesem Abend mehr verdienen würde als das gesamte Produktionsbudget unserer Ausstellung betrug. Und dass ihr Auftritt selbst nach diesem Gedanken nichts an seinem Charme eingebüßt hatte. Als ich zusammen mit meinen Kollegen schließlich in Richtung Hotel aufbrach, war ein leichter Wind aufgekommen (aus Südwest, wie es Virginia Woolf festgelegt hatte). Von der sanften Stimme aus dem GPS gelenkt, gelangten wir auf die Autobahn, die in die nördlichen Vororte führte. Während der Fahrt riefen wir uns Erlebnisse unserer Reise in das texanisch-mexikanische Grenzgebiet in Erinnerung: wie überrascht wir waren, die endlosen Landstraßen von Zäunen flankiert zu sehen, die den Zugang zur weiten Landschaft auf wenige Nationalparks beschränkten. Wie die Kopie einer alten Karte in der Hotel-Lounge, auf der die Besitzer der jeweiligen Landstriche eingetragen waren, anschaulich machte, dass fast die gesamte Landfläche von Texas sich in privater Hand befand. Wie schmal und seicht der Grenzfluss Rio Grande vor der massiven Bergwand erschien und wie winzig die amerikanische Grenzstadt im Vergleich zu dem Lichtermeer auf der anderen Seite der Grenze. Wie deren Existenz sich plötzlich in unsere Reise hineinschob, als wir achtzig Meilen jenseits der Stadt aufs Genaueste kontrolliert wurden, zu einem Zeitpunkt, als wir uns bereits jenseits jedweder Grenzzone wähnten und der mexikanische Radiosender, den wir sporadisch während der Fahrt empfingen, nur noch ein schwaches Signal aussendete, eine kaum merkliche Unterbrechung des amerikanischen Unterhaltungsprogramms. Würden sich diese Erfahrungen in unsere Arbeit einschreiben oder würde unsere Ausstellung ohne spürbaren »Bodenkontakt«
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an beliebige Orte verschiffbar sein? Denn tatsächlich … diese drei Punkte markieren den Ort, an dem wir auf der Suche nach dem rechten Verhältnis von Lokalität und Translokalität die Ausfahrt in Richtung Universität verpassten. Und tatsächlich: Was bedeutet der Kontakt mit lokalen Räumen in einer Zeit, in der Kunstwerke und ihre Autoren wie andere Waren international zwischen Institutionen hin und her geschickt werden? Wieder wurden unsere Gedanken unterbrochen, als die Stimme aus dem GPS uns nun in einem energischeren Tonfall anwies, nach mehrmaliger Rekalkulation der Fahrroute doch bitte die nächstmögliche Ausfahrt zu nehmen. Die Sterne strahlten am texanischen Himmel und machten der glitzernden Dekoration der Shopping-Mall neben dem Hotel Konkurrenz. Nun war es endlich an der Zeit, dachte ich, die vorläufige Karte, die diese ereignisreichen Stunden beschrieb, aufzurollen, mit all ihren Eindrücken, Kontroversen und Gedanken, und den Tag für beendet zu erklären. Am nächsten Morgen hatte sich die Umgebung deutlich verändert: Die Sterne waren dem wolkenlosen Blau des Himmels gewichen, diesmal jedoch des Himmels von Paris. Wir befinden uns in einer der lichtdurchfluteten Atelierwohnungen, die einen spektakulären Blick auf die Seine, und eine weniger spektakuläre Nähe zur vierspurigen Schnellstraße aufweisen. Auf dem Tisch stand mein Laptop, der Titel »Mapping und die zeitgenössischen Künste« schwebte in dem ansonsten leeren Bildschirmfenster. Nach meinen Aufenthalt in Texas stand nun ein unausweichlicher Besuch in der hiesigen Bibliothek an, hatten meine Reiseerlebnisse doch einige Fragen und Probleme aufgeworfen, wie zum Beispiel: Welche Rolle spielt die Erfahrung von Räumen und insbesondere von Grenzräumen für die Kunstproduktion »vor Ort«? In welcher Weise können bewegliche Standorte kartographiert werden, wenn sich mit jedem Schritt die Matrix für die eigene Wahrnehmung und Position in einem Kräftefeld verändert? Ist das Mapping in den Künsten bereits zu einer historischen Ausdrucksform geworden, obwohl die Mobilität von Kunst- und Theorieschaffenden weiterhin als konstitutiv für einen erfolgreichen Lebenslauf angesehen wird? Wenn die Antworten auf diese Fragen nicht in der Bibliothek zu finden waren, dachte ich, in klassischer Manier zu Notizbuch und Stift greifend, wo sonst könnte ich sie finden? Nachdem die neunziger Jahre zum Jahrzehnt der »Nomadologie« deklariert worden waren (Haberl/Strasser 1995), in dem die erneute Rezeption von Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Werken, insbesondere von Tausend Plateaus (1992) das Potential »nomadischer« Subjekte in Theorie und Praxis hervorhob, setzten bald darauf kritische Stimmen ein, die eine Ausbeutung eben jenes Potentials unter neoliberaler Prämisse konstatierten. So untersucht zum Beispiel Miwon Kwon in ihrer Studie One Place After Another (2004) die Kehrseiten von Lokalität
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und Mobilität in einer Welt, in der die ausgezeichnet werden, die sich ständig an anderen Orten befinden, oder, wie Kwon es ausdrückt, am »falschen« Ort. Während Kwon die Existenz eines »richtigen« Ortes als Konstruktion ablehnt, die im Namen einer scheinbaren Authentizität Differenzen unterdrückt, weist sie gleichzeitig darauf hin, wie verwundbar Subjekte in kontinuierlicher Mobilisierung sind, in der sie sich ständig neuen, unvorhersehbaren Situationen ausgesetzt sehen. Ursula Biemann greift in der Publikation der Ausstellung Geografie und die Politik der Mobilität diese »Bildung entorteter Subjektivitäten« (Biemann 2003: 14) als Thema und als Voraussetzung für eine Beschäftigung mit Geographie in den zeitgenössischen Künsten auf. Dabei sei die Position kultureller Produzentinnen und Produzenten, so Biemann, »destabilisiert und beweglich« (Biemann 2003: 15); entsprechende Auswirkungen habe diese Destabilisierung auf die Politik der Wissensproduktion und die Ausdrucksformen, mit denen geographische Kategorien befragt würden. Einen bevorzugten Bereich hierfür stellen, nicht nur in Biemanns Ausstellungsprojekt, die »tactical media« dar, in denen die kritische Auseinandersetzung mit (räumlichen) Macht- und Kontrollstrukturen in technologisch gestützten Ausdrucks- und Aktionsformen als politisches Projekt entwickelt wird. In der Vielfalt der Arbeiten und Projekte, die sich der »subjektiven« oder »kritischen« Kartographie zurechnen lassen, lädt allerdings der bloße Hinweis auf eine Karte, in konkreter oder abstrakter Form, dazu ein, die entsprechende Arbeit als politisch engagiertes Projekt wahrzunehmen. Kartographie in den Künsten – schlichtweg eine Taktik? Hier war nun der Moment gekommen, in dem ich anhand der Analyse konkreter Fallbeispiele und der Einordnung in größere theoretische Zusammenhänge Antworten auf meine vielleicht allzu leichtfüßig gestellten Fragen entwickeln oder zumindest eine fundiertere Formulierung selbiger zustande bringen sollte. Doch was sich in meinem Notizbuch abzeichnete, waren nicht etwa Schlussfolgerungen anhand geordneter Zitate oder Hinweise auf weiterführende Literatur, sondern ein Gekritzel, das sich bei näherem Hinsehen als – wie könnte es auch anders sein – eine Karte entpuppte. Diese Karte ähnelte ein wenig jener Karte, die Virginia Woolf entwickelte, während sie beim Sprechen die von ihr entworfenen Landschaften imaginär durchlief. In dem Prozess des Durchlaufens geschieht etwas: die Möglichkeit einer Annäherung an ein Publikum, aber auch unvorhersehbare Gedankensprünge und Volten, die durch die ständige Bewegung ausgelöst werden. Es handelt sich hiernach um eine Karte, die vier Ebenen aufeinander projiziert: die imaginären Orte, die wiederum möglicherweise existierende urbane Landschaften abbilden, auf denen ein Parcours der Gedankenläufe verzeichnet wird, ohne dass die Grenze zwischen Außen und Innen fixiert werden kann: »in which the material and the psychological are mapped on top of each other«, wie es Miwon Kwon in ihrem Aufsatz »Flânerie d’intérieur« beschreibt (Kwon 2003: 127). Schließlich enthält die Karte die Quelle ihrer eigenen Produktion, wenn
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es der jeweiligen Autorin gelingt, das Publikum davon zu überzeugen, dass die Gedanken, die sich auf ihr abbilden und sie bilden, tatsächlich an den in ihr beschriebenen Orten gedacht wurden. Als gelernte Dramaturgin frage ich mich an diesem Punkt: Wozu dient all diese Projektionskunst? Mir scheint, als habe Virginia Woolf mit der detaillierten Beschreibung des imaginären Parcours – ebenso wie ich selbst in meinem verkürzten Remake – eine Bühne geschaffen, auf der Gedanken inszeniert werden, mit der Möglichkeit, in Brecht’scher Manier aus der Narration herauszutreten, während sie/ich gleichzeitig als Akteurin im eigenen Stück immer tiefer eintritt in einen Raum, in dem Positionen nicht mehr markiert werden können, ohne Persönliches preiszugeben. Dieses Oszillieren zwischen einem exponierten Sich-Zeigen bei gleichzeitiger virtuoser Vorführung der Kunst- und Gedankenproduktion zeichnet nicht nur Virginia Woolfs Vortrag aus, sondern könnte vielleicht im Allgemeinen eine Bewegung beschreiben, die die Künste, im Unterschied zur Geographie, zu kartieren imstande sind.
L ITER ATUR Biemann, Ursula (Hg.) (2003): Geografie und die Politik der Mobilität, Wien: Generali Foundation. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix Guattari (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Haberl, Horst Gerhard/Strasser, Peter (Hg.) (1995): Nomadologie der Neunziger, Ostfildern: Cantz. Kwon, Miwon (2004): One Place After Another. Site-Specific Art and Locational Identity, Cambridge/London: MIT Press. — (2003): »Flânerie d’intérieur«, in: Renée Green (Hg.), Negotiations in the Contact Zone, Lissabon: Assírio & Alvim, S. 121-136. Woolf, Virginia (2004): A Room of One’s Own, London: Penguin Books.
Vom Suchen und Finden der Großstadtliteratur im 21. Jahrhundert oder auch: Mapping Mumbai/Bombay Sara-Duana Meyer »Bombay is the future of urban civilization on the planet. God help us« (Suketu Mehta, Maximum City. Bombay lost and found).
»Es ist weder zu leugnen noch zu übersehen. Der ›Raum‹ ist wieder da« (Maresch/Werber 2002: 7). Mit dieser saloppen Feststellung beginnen zwei Raumforscher ein Werk, das sich damit in eine ganze Reihe von ähnlicher Entdeckerfreude geprägter Texte einfügt. Einige Jahre später benennt Doris Bachmann-Medick in ihrem umfassenden Überblick zu den kulturellen Wenden der letzten Jahrzehnte den Raum zusammenfassend als wieder und neu entdeckte »sozial- und kulturwissenschaftliche Leitkategorie« (2006: 285), nicht ohne zu betonen, dass diese Wiederentdeckung zweifellos voraussetze, dass der Begriff zu irgendeinem Zeitpunkt verschwunden gewesen sein müsse. Und, so lässt sich schlussfolgern, auch der Raum selbst eine Veränderung erfahren hat. Nun ist er also wieder da, und damit die konstitutiv profilierte Ortlosigkeit1 der Postmoderne ad acta gelegt. Ein neugieriger Geist freilich lässt sich damit nicht so einfach abspeisen. Zu laut tönten vorher Begriffe wie globale Entgrenzung, Entzeitlichung, und überhaupt eine ganze Reihe von Termini, die bestimmte soziokulturelle Phänomene entweder negierten, oder aber zumindest ihr Ende ausriefen. Raum zeichnete sich zuletzt vorwiegend durch austauschbare »All-« oder schlicht »Nicht-Orte«2 aus, charakteristisches Merkmal 1 | Vgl. hierzu die Definition von »Ort« nach Michel de Certeau: »Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität«. Aber auch: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (de Certeau 1980: 345; Herv. i.O.). 2 | Vgl. Marc Augés Begriffsprägung des »non-lieu« (Augé 1992).
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(oder eben gerade nicht) der postmodernen Metropolis: urbane Konglomerate, die nicht viel mehr sein wollen als Knotenpunkte im Netzwerk globaler Ströme, deren urbaner Raum sich zunehmend entmaterialisiert und entdichtet darstellt und deren geographische Lage durch die Virtualisierung städtischer Funktionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheinbar immer diffuser wird. Und schließlich stellt Michel de Certeau angesichts zunehmender Dezentralisierung den Verfall der durch christlich-europäische Züge geprägten »KonzeptStadt« fest (1980: 343), die als spezifischer Bedeutungsträger den tatsächlichen Gegebenheiten einer Großstadt nicht mehr angemessen zu sein scheint. Düster wurde das »Ende der Städte« verkündet. Und im Zuge dieser Entwicklung schien auch das Ende des Stadttextes eingeleitet, jenes Genres, das sich im 18. Jahrhundert aus literarischen Sozialstudien des Phänomens Großstadt entwickelte und dessen Besonderheit in eben jener intrinsischen Wirklichkeitsrelation liegt – der Bezugnahme auf einen hochverdichteten, mehr oder weniger realen Ballungsraum. Es geht, um es mit einem englischen Wortspiel zu umschreiben, buchstäblich um »concrete matter«. Im Fall der Großstadtliteratur scheinen die Erzählparameter zumindest teilweise bereits festgelegt: Die Geschichten einer Stadt sind mit der Geschichte der Stadt verwoben; Zeit, Ort und Gegenstand sind Elemente einer spezifischen urbanen Struktur, die »erzählt« und »gelesen« werden kann. Doch dem Stadttext sei »die Stadt als Gegenstand des Erzählens abhanden gekommen« konstatierte Heinz Ickstadt (in Scherpe 1988: 197), und so steckt das Genre Ende des 20. Jahrhunderts scheinbar endgültig in einer Sackgasse: »War es die Aufgabe der Großstadtliteratur gewesen, die gigantisch wuchernde, alles verschlingende Metropole, die sich als solche der Erfahrung des Einzelnen verweigert, dieser doch immer wieder anzuverwandeln, hat die Thematik der Großstadt bei RobbeGrillet offenbar ihr nec plus ultra erreicht: Von hier aus ist weder Fortschritt noch auch nur das Fortschreiten dieses Themas vorstellbar« (Corbineau-Hoffmann 2003: 210).
An dieser Stelle ist es vielleicht an der Zeit, der literaturhistorischen Entwicklung einen Moment den Rücken zu kehren und den Begriff des Mapping einzuführen, der, nach Bachmann-Medick metaphorisch verstanden als »Ordnungsmuster« oder auch »Modell der Organisation von Wissen« (2006: 299), in Bezug auf die Großstadt und ihre Literatur möglicherweise eigentlicher anwendbar ist als in anderen Bereichen.3 Die Verlagerung des Stadtraums in einen Text ruft Parallelen von Struktur und Textur auf. Die Stadt als Text setzt 3 | Vgl. dazu Robert Stockhammer, der »eine ausfasernde, sehr oft schlecht kontrollierte Übertragung der Wörter ›mapping‹ und ›kartieren‹ auf die verschiedensten künstlerischen oder theoretischen Operationen« ohne konkrete Bezugnahme auf die mediale Praktik kritisiert (Stockhammer 2005: 341).
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eine Lesbarkeit wie Schreibbarkeit voraus, die assoziiert, dass die Stadt durch die Kenntnisse ihrer Kodizes entziffert und geschrieben werden kann – von ihren Bewohnern, den literarischen Figuren, einem Autor, einem Leser; in der physischen oder erzählten Bewegung durch den Stadtraum ebenso, wie in der Bewegung durch den Text. In diesem Zusammenhang scheint das Moment der Bewegung, zu dem später noch mehr zu sagen sein wird, unmittelbar verknüpft mit dem Akt des Mapping als buchstäbliche Spurensuche, als forschen, suchen, finden und erfinden, als subjektives, durch Bewegung konstituiertes und erfahrenes Ordnungssystem. In topographischer Literatur würde deutlich, und dies meint erneut Bachmann-Medick, »dass die Einteilung der Welt nicht auf isolierte physische, kulturelle und politische Gegebenheiten zurückgeht, sondern vor allem ein Produkt sozialer Konstrukte und imaginärer Geographie ist« (1996: 60). Damit korrespondiert die Auffassung Roland Barthes’ von der Stadt als Diskurs oder Sprache, was zunächst impliziert, dass die Stadt selbst bereits etwas zu erzählen hat und durch das Erzählen eine Stadt geschaffen werden kann, aber auch beinhaltet, dass eine Beschreibung stets Repräsentation bedeutet und damit immer ein politischer Akt ist. Der chronologische Dreischritt von der Entdeckung des literarischen Topos der realen Großstadt über die Erkenntnis und Erfahrung ihrer so genannten »Unwirtlichkeit« in der Moderne bis hin zur Feststellung der »Unwirklichkeit der Städte« ist ausführlich und eingehend dokumentiert worden.4 Doch liegt es bereits in der Natur des Genres, dass die Grenzen zwischen »realer« und »imaginärer« Stadt verschwimmen: der Leser folgt den Figuren durch eine mehr oder weniger fiktive Stadt im Text, die durch ortsspezifische Referenzen mit ihrem Gegenpart, der Stadt außerhalb des Textes, verknüpft wird. Der Text produziert also eine Art Stadtplan, der sich über die »real« existierende Stadt legt. So erklärte auch die Raumsoziologin Martina Löw vor einiger Zeit in einem Interview, es gäbe immer zwei Städte, nämlich die reale, und eine durch Texte, Bilder und persönliche Erwartungen und Vorstellungen antizipierte. Die Dichotomie der »realen« gegenüber der »erfundenen« Stadt mag allerdings gerade im Hinblick auf die Großstadtliteratur zu kurz greifen. Wenn man sich nicht in ontologischen Fragestellungen verlieren will, hat man es immer mit drei Ebenen zu tun: mit einer mehr oder weniger »realen« Stadt, weiter mit der im Text dargestellten Stadt als Doppelung ihres Bezugsortes, und schließlich mit jenem subjektiven Stadtraumentwurf, der von den Figuren des Textes in einem Akt des Mapping geschaffen wird. Auch der dreiteilige Raumentwurf Lefebvres umgeht eine Binarität, indem er dem wahrgenommenen Raum der alltäglichen räumlichen Praxis (»espace perçu«) diskursiv konzipierte Repräsentationen des Raums (»espace conçu«) 4 | Vgl. beispielsweise Pike 1981; Scherpe 1988; Corbineau-Hoffmann 2003; Ta 2007.
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sowie repräsentative Orte tatsächlich gelebten Raums (»espace vécu«) zur Seite stellt. Zu letzterem zählt er neben den Bewohnern und Benutzern auch Schriftsteller und Philosophen, »ce qui décrivent [Herv. i.O.] et croient seulement décrire« (Lefebvre 1974: 49). Ich lese vor allem diesen im Rahmen der Dreiheit als Gegenentwurf zu jener »real/fiktional«-Dichotomie, und folglich die Kreation subjektiver Räume innerhalb einer vorgegebenen Topographie, in diesem Fall der Stadt, als »espace vécu«. Dahingehend mag Mapping weniger im Sinne eines tatsächlichen Kartographierens verstanden werden, als in der Verwandlung eines topographischen Stadtraumes in einen topologischen, subjektiv mit Bedeutung aufgeladenen und durch Bewegung erlebten wie erschaffenen Raum innerhalb der urbanen Landschaft, der sich nichtsdestotrotz im hier diskutierten Rahmen der Großstadtliteratur auf einem Stadtplan wiederfinden ließe. Doch wir waren am scheinbaren Ende des Stadttextes angekommen und wollen an dieser Stelle wieder anknüpfen, um zu sehen, wie es weiter geht. Entsprechend ihrer spezifischen Besonderheit versucht die Literatur der Großstadt zunächst auf die zeitgenössischen Entwicklungen zu reagieren: der Versuch einer realistisch geprägten Gesamtschau des urbanen Raumes und seines Zeichentheaters scheint mit der zunehmend unlesbar gewordenen Großstadt unmöglich geworden, und so führt die lediglich fragmentiert erfahrbare urbane Wirklichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr zur Abkehr von realistischen Erzählpraktiken. Die internationale Großstadtliteratur der Postmoderne zeichnet sich durch die ambivalente Darstellung ihres »entstofflichten« oder »abwesenden« Topos aus und erschreibt statt dessen unspezifische urbane Konstrukte, die zunehmend das Unauthentische und Imaginäre, also besagte »Unwirklichkeit der Städte«, inszenieren.5 Das zeigt sich auch an den Charakteren: als »ortloser« Transitraum stellt die Großstadt die literarische Bühne zur Aufführung »verschwundener« Subjekte, die ebenfalls der allgemein betonten Bindungslosigkeit anheimfallen und als kleinste Einheit des Stadtgefüges und zugleich postmodernes Subjekt ständig von den sie umgebenden Zeichen an der Nase herumgeführt werden. Nicht mehr mit dem Ausloten und programmatischen Überschreiten von Grenzen ist die postmoderne Großstadtliteratur befasst, vielmehr verwischen sich die Grenzen zwischen Realität und Virtualität respektive Fiktion im gleichen Maße, wie die Grenzen zwischen der Stadt als Zentrum und ihren Randgebieten verschwimmen – wodurch, wie der Raumsoziologe und Urbanist Edward Soja mit dem von ihm eingeführten Begriff der »Postmetropolis« ar-
5 | Wie etwa ein Roman Ricardo Piglias von 1992, La Ciudad Ausente, zu Deutsch Die Abwesende Stadt, bereits im Titel vorschlägt. Beispielhaft auch aufgeführt in Italo Calvinos Città invisibili von 1972, den Unsichtbaren Städten, der »wohl umfassendste und systematischste Entwurf der Erschreibung imaginärer Textstädte« (Mahler 1999: 34).
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gumentiert, nicht nur die Stadt-Land-Dichotomie, sondern jegliche Dialektik urbaner Raumaufteilung aufgehoben wird.6 Allerdings hat das urbane Leben als solches, wie Soja weiter argumentiert, vor allem in den letzten paar Jahrzehnten globale Ausmaße angenommen. Die Bevölkerungszahlen aus dem Jahre 2007 erklären den Menschen kurzerhand per se zum Stadtbewohner – mehr als die Hälfte der Menschheit lebt mittlerweile in Städten, und nur in ein paar wenigen hundert global ausgerichteten Agglomerationen wird sich laut Prognosen zukünftig das Leben eines Großteils der weltweiten Bevölkerung abspielen. Soja versteht die globalisierte Megalopolis folglich einerseits als Knotenpunkt und andererseits als inklusiven Mikrokosmos »globaler« Kultur, dessen Untersuchung einen allumfassenden Einblick in das menschliche Daseins ermöglicht – »on to every aspect of the contemporary human condition everywhere on earth« (Soja 2003: 270). Im Umkehrschluss findet Globalisierung, die sich als buchstäblicher Gemeinplatz einer eindeutigen Definition entzieht, vornehmlich in der Megalopolis statt. Was bedeutet dies nun für die literarische Verarbeitung und Darstellung? Offensichtlich gab und gibt es nach wie vor und zunehmend literarische Texte, die urbane Geschichten erzählen, die die Stadt als Bühne und oft genug als heimliche Protagonistin inszenieren. Da gängige Konzepte offensichtlich nicht mehr greifen, fordern die aktuellen Entwicklungen neue Raumvorstellungen wie neue Begrifflichkeiten. Wie aber kann dies aussehen? Wie ist ein Mapping des urbanen Raums möglich, eine Aneignung und zugleich individuelle Einschreibung in eine nunmehr »Meta City«, deren schier unfassbare Masse die literarische Metapher des späten 19. Jahrhunderts von der Stadt als Organismus nicht nur übertrifft, sondern buchstäblich verschlingt? Und welche Städte sind es, die als Bezugsorte der heutigen Großstadtliteratur firmieren? Hier lässt sich erneut ein Paradigmenwechsel feststellen. Zunächst erfährt im Zuge der allgemeinen Entgrenzung auch die Idee der Grenze selbst einen signifikanten Wandel. Statt eindeutiger Abtrennungen dominiert zunehmend die Auffassung hybrider Grenzräume, die beispielsweise in der Diskussion eines »third space« (vgl. Bhabha 1994; Soja 1996) deutlich wird, und über den Stadtraum hinaus in die Thematik kultureller oder auch nationaler Identität führt. Während die Literatur der Großstadt bis vor wenigen Jahren hauptsächlich europäische oder nordamerikanische Metropolen und damit so genannte Städte des Zentrums inszenierte, fällt im Zuge des globalen Trends der Entgrenzung 6 | Vgl. »The new urban form increasingly blurred the simple dualism that dominated the modern metropolis – the separation between a dense, heterogeneous and highly synekistic central city and the sleepy, homogeneous world of the suburbs. In its place, there has been developing a more multi-centred, networked, globalized and information-based City-Region […]« (Soja 2003: 279).
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die zunehmende literarische Konzentration auf das auf, was Saskia Sassen »new geographies of centrality« (2000: 80) nennt. Neben den altbekannten Finanz-, Geschäfts- und Machtzentren gehörten, so Sassen, nun auch Städte wie Saõ Paulo, Buenos Aires, Bombay, Bangkok, Taipeh und Mexico City zu besagten »neuen Geographien«. Diese erstrecken sich dabei keinesfalls nur auf wirtschaftliche oder politische Bereiche, vielmehr verlagert sich auch die Literatur zunehmend in die »Mega Cities« der »Ränder« – in Städte also, die sich in so genannten Entwicklungs- oder »Dritte-Welt«-Ländern mit einer kolonialen Vergangenheit befinden, und zugleich langsam aber sicher die alten urbanen Zentren ablösen. In diesen neuen »global cities«, so scheint es, findet im Zeitalter der Globalisierung die gegenwärtige und zukunftsweisende urbane Entwicklung statt, oder, um es lapidar auszudrücken: this is where it happens. An dieser Stelle möchte man vielleicht vorsichtig nachfragen, ob und wie das gängige Konzept der Großstadt in Anlehnung an Max Weber ein distinktives Kulturprodukt westlicher Zivilisation sein mag, und wie eine literarische Darstellung einer »anderen« Großstadt in der Tradition des Genres folglich möglich ist. Die amerikanischen Herausgeber des City Reader vertreten hierzu eine recht eindeutige Meinung. Angesichts globaler Urbanisierung, die eine Auflösung spezifischer räumlicher Merkmale zugunsten transnationaler urbaner Netzwerke implizierte, wären urbane Realitäten und Prozesse überall anwendbar, »precisely because they have become internationalized« (LeGates/ Stout 2000: XVI). Zweifellos bietet etwa die Megalopolis Mumbai (wie Bombay seit der hindu-nationalistisch geprägten Rück- bzw. Umbenennungsreform 1995 offiziell heißt) Bedingungen, die eine hybride Form translokaler Identität(en) ermöglichen, wenn nicht gar erzwingen. So stellt sich zum wiederholten Male nicht nur die provokante Frage der Übertragbarkeit kultureller Konzepte, sondern auch, inwiefern der konkrete Bezugsort in der aktuellen Literatur der Großstadt überhaupt noch eine Rolle spielt. Andreas Mahler etwa erklärte vor nunmehr über zehn Jahren, der Stadttext habe vor allem »als Konstrukt des Imaginären […] vornehmlich Konjunktur in postkolonialen Literaturen« (1999: 35). Dies mag auf den ersten Blick postmodernes und postkoloniales Bestreben mit der Dekonstruktion »großer Erzählungen« des Westens verbinden, und auch das buchstäbliche »lost in space« des postmodernen Subjekts findet in der postkolonialen fragmentierten Identität einen Widerhall. Letztere allerdings ist, und dies macht vielleicht den für die hier diskutierte Weiterschreibung des Stadttextes entscheidenden Unterschied aus, stets räumlich konnotiert. Und wie die Literatur der »neuen Zentren der Ränder« zeigt, erfordern die spezifischen Eigenheiten dieser »maximalen Städte« als Raum der Erzählung und erzählter Raum vor ihrem räumlich-geographischen wie historischen Hintergrund ganz klar eine ebensolche spezifische Art und Weise der Darstellung.
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Darüber hinaus fordern ökonomische und politische Globalisierungsprozesse »die differenzierenden kulturellen Selbstdarstellungs- und Überzeugungsleistungen von (literarischen) Texten« (Bachmann-Medick 1996: 263) verstärkt heraus und verlangen neue Repräsentationsmodi, um die globale Stadt an den ehemaligen Rändern zu erzählen. So nimmt die Literatur der neuen »global cities« vom Versuch der Moderne, die Stadt und ihre Vorgänge in ihrer Gesamtheit abzubilden, deutlich Abstand – verliert sich aber auch nicht in der diffus-surrealen Raumlosigkeit der Postmoderne. Und um eine subjektive (Neu-)Verortung vorzunehmen, die angesichts der Unermesslichkeit einer Megastadt nötig scheint, um nicht nur eine spezifische Identität, sondern auch einen subjektiven Raum innerhalb des Stadtraums zu (er-)finden, be- und erschreiben die Stadtschreiber (womit sowohl der Autor als auch die Figuren, und zu einem gewissen Grad auch die Leser gemeint sind) äußerst individuelle Stadträume, die sich dennoch durch einen enorm differenzierten Wirklichkeitsbezug auszeichnen. So wird beispielsweise in der Literatur des indischen Subkontinents eine Tendenz erkennbar, die zunehmende Komplexität und Unbeschreibbarkeit der Megastädte nicht nur zu akzeptieren, sondern bewusst literarisch zu nutzen und vielmehr eine persönliche, subjektiv geprägte Neuschreibung der er- und gelebten Stadt zu unternehmen. Die in Mumbai/Bombay ansässige Literaturszene etwa ist sich ihrer selbst wie ihrer Stadt bewusst, wie sich unter anderem an der regen Produktion von ausdrücklich ortsbezogener Literatur oder auch der Stadt gewidmeter Anthologien7 zeigt. Als heimliche Hauptstadt Indiens gehört die »Maximum City« Mumbai/Bombay mit annähernd 19 Millionen Einwohnern zu den fünf größten Metropolen der Welt – eine Stadt, die erst vor einigen Jahren scheinbar aus dem Nichts auf den Landkarten der »global cities« auftauchte und heute aus diesen Geographien nicht mehr wegzudenken ist, wenngleich die Frage, ob sie wirklich alle Bedingungen einer »global city« erfüllt, kritisch diskutiert wird.8 Doch die Disposition zu diesem Status mag bereits sowohl in der Historie wie auch den räumlichen Gegebenheiten der Stadt begründet liegen, denn Mum7 | Beispielsweise Bombay, meri jaan. Writings on Mumbai (Fernandes/Pinto 2003). 8 | So macht etwa Rashmi Varma in ihrem gleichlautenden Artikel eine »Provinzialisierung« der »global city« aus: »One key paradox […] is that the moment in which Bombay begins to be embraced by theorists and practitioners of global cities and globalization in the North is also paradoxically the moment of Bombay’s provincialization« (Varma 2004: 65f.). Laut Varma befindet sich »Bombay as a global city of the South« nach der Auflösung seines ehemals »ikonischen« Status »as the nation’s cosmopolitan center« im Niedergang, was sie vor allem an den politischen Ereignissen der 1990er Jahre fest macht (vgl. ebd.). Auch Appadurai spricht in diesem Zusammenhang von »decosmopolitanization« (Appadurai 2000).
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bai/Bombay war von Beginn an ein globales Unterfangen. Die von britischen Kolonialherrschern gebaute ehemalige Handelsstadt, die in beide kulturelle Richtungen ein Tor zu einer »anderen« Welt darstellte, galt und gilt als Ort des Transits. Mumbai/Bombay wird als Stadt der Gegensätze und Widersprüche beschrieben – und ist bereits in ihren Superlativen ambivalent. Suketu Mehta etwa bezeichnet seine Heimatstadt in einer ausführlichen narrativen Reportage als »the biggest, fastest, richest city in India« (2006: 17), in deren geographischem Zentrum sich zugleich der größte Slum Asiens und möglicherweise der Welt befindet. Als Räume literarischer Repräsentation stellen Städte wie Mumbai/Bombay oftmals durch die Erfahrung der Kolonialisierung bereits transnationale oder auch transkulturelle Kontexte dar und bilden die Folie für eine Literatur, die zwar auf die europäisch-westliche Großstadtliteratur rekurriert, sich aber dennoch durch spezifische Themen von dieser unterscheidet. »I’m a Roman Catholic in the rest of India, and I’m a brown man in Great Britain – where else should I live if not in Bombay?«, fragt Jerry Pinto,9 einer der Herausgeber der erwähnten Anthologie, und unterstreicht damit eine Form kosmopolitischen Verständnisses, durch das die Megastadt mehr Gemeinsamkeiten mit New York teilt als mit einem Dorf in Südindien. Andererseits markiert seine Aussage die Stadt aber zugleich als »global city of the South«, wie Rashmi Varma sie nennt, als Stadt also, die durch ihre geokulturelle Positionierung sicherlich mehr mit Mexico City gemein hat als mit New York. So wird auch in der Literatur Mumbais/Bombays deutlich, dass die Stadt sich zwar als »global city« versteht und damit zunächst jenen charakteristischen Status völliger Austauschbarkeit etabliert (jede »global city« kann jede andere repräsentieren), zugleich aber eine dezidiert »andere« Stadt darstellt. Neben der globalen Aufwertung von Lokalität, die mit der Auflösung lokaler Kulturen einhergeht (Robertsons »glocalization«), ist es nicht zuletzt die koloniale Vergangenheit einer Stadt wie Mumbai/Bombay, die sich in der Literatur wie ihrem realräumlichen Bezugsort ausmachen lässt. Angesichts der urbanen Aufladung mit »Geschichte« lassen sich in der Erzählliteratur Mumbais/Bombays sowohl die Spuren eines kolonialen als auch eines variablen »indischen« kulturellen Erbes aufweisen, das allerdings unweigerlich mit dem oftmals vergeblichen Versuch verbunden ist, den urbanen Text kultureller Erinnerung zu entschlüsseln. So zeigt sich in der Literatur der Stadt die Verhandlung kolonialen Erbes in Form hybrider Identität, die mit dem Versuch der Abgrenzung und der Betonung lokalspezifischer Eigenheiten eine Reterritorialisierung und Verortung der Stadt in einem explizit »indischen« Kontext unternimmt. Der Akt des Mapping meint per se immer eine Raum-Aneignung, ein modifizierendes Sich-Einschreiben, und kann in der hier betrachteten Literatur und 9 | Bei einem Interview am 16.1.2009 in Mumbai/Bombay.
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vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit Mumbais/Bombays als strategisches, geopolitisches »re-mapping« gelesen werden, das den durch die imperiale Vergangenheit aufgeladenen urbanen Raum mittels einer subjektiven Neuschreibung zum »espace vécu« transformiert. Dies geschieht einerseits durch die bewusste literarische Umgestaltung historischer (kolonialer) Wahrzeichen, wodurch in einem performativen Akt der Stadtraum neu konstruiert und konstituiert wird.10 Andererseits produziert der Text vor dem Hintergrund der im höchsten Maße diversen und vielschichtigen sozialen wie kulturellen Gleichzeitigkeiten der Stadt, oft durch die Nennung bestimmter offizieller wie inoffizieller »landmarks« bzw. deren Verknüpfung mit dem subjektiven Erleben der Figuren, ein System narrativ-emotional aufgeladener Bezugsorte, die, zunächst in der Vorstellung des mehr oder weniger ortskundigen Lesers existierend, oft genug eins zu eins auf einen »tatsächlichen« Stadtplan übertragen werden könnten – im Sinne Bachmann-Medicks folglich der Akt des Mapping, »eine Erweiterung der physischen Karte zu ›mental maps‹«, zu »symbolischen und vor allem subjektiven Aufladungen der kartographischen Bezugspunkte« (2006: 299). So setzt etwa Salman Rushdie, um beispielshaft einen der prominentesten »Stadtschreiber« Mumbais/Bombays zu nennen, »sein« Mumbai/Bombay immer wieder in einen direkten, transnationalen Zusammenhang mit anderen »global cities«, greift aber zugleich gezielt mit Bedeutung und Erinnerung aufgeladene Orte in Mumbai/Bombay heraus und zeichnet damit eine neue, emotional geprägte Topographie der Stadt. Auch Vikram Chandra, Altaf Tyrewala, Rohinton Mistry, Jenice de Souza oder Kiran Nagarkar, um einige weitere Autoren der Stadt zu nennen, beschränken sich bewusst auf Einzelschicksale, die nicht vor dem Hintergrund der Urbanität zur Beliebigkeit verschwimmen, sondern durch ihren emotiven und lokalen Bewegungsradius innerhalb der Stadt einen heterotopisch-insularen Raum markieren. Zur Eigenart des Großstadtromans als Untersuchungsgegenstand gehört eine Ebenenvermischung, die seinen konkreten Bezugsort, die Großstadt, den 10 | Dieser Akt ist nach Martina Löw auch als »spacing« lesbar. Aufbauend auf Giddens Konzept der Dualität von Struktur betont die Raumsoziologin den performativen Aspekt von Raum, der einerseits durch eine Handlung produziert wird, zugleich aber selbst strukturierende Kraft hat, und entwickelt daraus eine »Dualität des Raumes«. Demzufolge bezieht sich »spacing« auf den Akt oder Zustand einer räumlichen Platzierung in ihrem Verhältnis zu anderen Positionierungen – eine tatsächliche Raumkonstitution (Raumproduktion) findet aber erst durch eine topologische Verortung und damit Verknüpfung der einzelnen Elemente statt. Löw folgt weitgehend Lefebvre und seiner Auffassung von Raum als Produkt wie Medium, betont aber den Stellenwert der in die Produktion eingebundenen Subjekte (bzw. ausdrücklich Objekte) und den performativen Aspekt von Raum.
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Text selbst als Aufführungsort sowie die im und durch den Text generierte Stadt in eine unmittelbare Beziehung setzt. So wird die Topographie Mumbais/Bombays vor allem durch (erinnerte) Bewegung durch die Stadt entlang deutlich markierter »realer« Orte zur subjektiven Erinnerungslandschaft, erfährt jedoch darüber hinaus stets einen ausdrücklichen »Wirklichkeitsbezug«, was nicht nur in der konkreten Bezugnahme auf offizielle wie inoffizielle »landmarks« deutlich wird, sondern auch in der für ortskundige wie ortsfremde Leser nachvollziehbaren Stadttextkonstitution durch referentielle Markierungen. So erwecken die oftmals metergenauen Verortungen der Protagonisten räumlich wie metaphorisch den Eindruck von Nähe und stehen gleichzeitig für eine augenscheinliche Intention, die Stadt so genau wie möglich abzubilden, während das Element der Bewegung durch den urbanen Raum seine Form in einer textuellen Choreographie nachvollzieht. Der urbane Raum wird nicht nur als »mind map« zur subjektiven Topologie der jeweiligen Protagonisten, sondern durch ein metaphorisches Mapping auch zur Metapher für zentrale Themen der Stadt. Durch seine Verknappung gilt Raum in Mumbai/Bombay als kostbares Gut und wird von den Autoren dazu genutzt, exemplarisch die sozialen Gegensätze der Stadt der Superlative darzustellen. Sorgfältig gewählte räumliche Dichotomien wie innen und außen sowie oben und unten bilden Machtstrukturen ab oder erinnern an das koloniale Erbe der Stadt. In der zeitgenössischen Literatur Mumbais/Bombays wird zweifellos auch klar, dass die Stadt wie die jeweiligen persönlichen Identitäten ihrer Bewohner durch oftmals unvereinbare Differenzen auch innerhalb des »indischen« Kulturkreises geprägt sind. Vor allem in der Diskussion der Namensdoppelung der Stadt wird diese in der Erzähl- wie der Sekundärliteratur wahrgenommene diskursive Fragmentierung deutlich. Die Texte beziehen hier auf unterschiedliche Weise Stellung. Neben expliziter Kritik an den aktuellen politischen Entwicklungen der Stadt markiert vor allem die Betonung religiös motivierter Auseinandersetzungen eine Kritik an hindu-fundamentalistischen Strömungen, die zunehmend den kosmopolitischen Status der Stadt zu unterwandern suchen. Die Bewegung der Figuren wie der Textstruktur allerdings zeichnet, wie bereits erwähnt, nicht nur die realräumlichen Abmessungen nach, sondern generiert eine fiktionale, subjektiv erlebte Stadt im Text, die über die Textebene hinaus wiederum auf den Realraum in seiner urbanen wie globalen Ausdehnung Bezug nimmt und den Text selbst als Bewegungsraum nutzt. In dieser Darstellung wird die Stadt personalisiert und personifiziert, ihre real-topographischen Grenzen verschwimmen zunehmend und fließen in selbst gestalteten Orten zusammen, die wiederum zu eigenen, neuen Städten in der Stadt werden. Somit wird die Frage, ob es Großstadtliteratur als solche überhaupt noch gibt, möglicherweise mit der Frage beantwortet, ob man nicht vielmehr von einer »neuen«, globalen (Großstadt-)Literatur sprechen kann, in der die Stadt-
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darstellung erneut eine Veränderung zu erfahren scheint – die möglicherweise eine Re-Mythologisierung beinhaltet, in der das Erzählen erneut zum Prozess des Mapping wird, sich jedoch deutlich von postmodern geprägten Strukturen abgrenzt und durch Transformation (und damit Transzendierung) des »realen Raums« eine neu verortete Subjektivität des urbanen Raums nach sich zieht.
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Venedig als ein anderes Bouville? Paradoxien eines Bewusstseinsraums Saskia Wiedner
»Le mieux serait d’écrire les événements au jour le jour. Tenir un journal pour y voir clair. Ne pas laisser échapper les nuances, les petits faits, même s’ils n’ont l’air de rien, et surtout les classer. Il faut dire comment je vois cette table, la rue, les gens, mon paquet de tabac, puisque c’est cela qui a changé. Il faut déterminer exactement l’étendue et la nature de ce changement« (Sartre 1981b: 5).
I. K ARTOGR APHIE UND LITER ARISCHE Z EICHEN Die Eröffnung von Sartres erstem Roman La Nausée durch die oben zitierten Zeilen entwirft eine Ordnung durch die Klassifizierung der erlebten Ereignisse und Fakten. Diese Ordnung ist zunächst aufgrund der Wahrnehmung der Kategorie Ereignis in der (systematischen) Ontologie (vgl. Heidegger 1989: 28f.)1 eine rein zeitliche. Dass es sich bei dieser Ordnung zudem um eine narrative handelt, in welcher Erzählzeit erzählte Zeit in ihrem Erlebenscharakter refiguriert, ist u.a. von Paul Ricœur ausführlich dargelegt worden (vgl. Ricœur 1985: 201-221). Indes verweisen die ersten Sätze von La Nausée noch auf einen weiteren Parameter der Ordnung. Indem der Blick des erzählenden Ich die es umgebenden Gegenstände in ihrer Perspektivität, in ihren Abschattungen erfasst, weil gerade diese den Wechsel des Standpunkts durch ihre Veränderung anzeigen, »puisque c’est cela qui a changé« (Sartre 1981b: 5; Herv. i.O.), wird auf die Kategorie des Raumes verwiesen. In ihrer Veränderung zeigen die Dinge die
1 | Martin Heidegger spricht vom Ereignis als einem instantanen Moment, das den Erkenntnisprozess einleitet.
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Bewegung des Erzählers im Raum an; sie erzählen die Ereignisse und Fakten durch ihre Veränderung. Die Aufzeichnung der Dinge im Raum ist eine Praxis, die heute in der Topographieforschung als Kartierung, als Mapping bezeichnet wird. Dass es sich bei der Klassifizierung der Dinge in Sartres Texten La Nausée und den Fragmenten La Reine Albemarle ou le dernier touriste um eine das Mapping erweiternde Form des literarischen Zeichensystems handelt, in dem Sinne wie die Karte nicht dem Territorium zu entsprechen vermag (vgl. Wiedner 2012), wird im Folgenden darzustellen sein.
II. D IE R EISE ALS C HRONOTOPOS DES E XISTENTIALEN Die Fragmente La Reine Albemarle ou le dernier touriste gehören zu den Projekten, die Sartre nicht vollendet, wenn nicht gar aufgegeben hat. Immer wieder verweist die Forschungsliteratur darauf, dass die Politik, die Arbeit an Les Communistes et la Paix, den Schriftsteller wohl dazu bewogen haben, sich den 1951 bis 1952 (vgl. Louette 2010: 1491) zunächst zwanglos begonnenen Fragmenten ab- und dem tagespolitischen Geschäft des Intellektuellen wieder zuzuwenden (vgl. ebd.: 1494).2 Aufgrund seiner unvollendeten Form bleibt deshalb jede Aussage über diesen Text3 letzten Endes spekulativ. Dennoch spielen die Fragmente insofern eine nicht unbedeutende Rolle für das Gesamtwerk Jean-Paul Sartres, als sie eine auf den ersten Blick unsartrianische, nämlich poetische Perspektive auf das ontologische Problem der Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt, dem rapport au monde, skizzieren. Einen thematischen Hintergrund der Fragmente bildet, wie bei mehreren literarischen Produktionen Sartres, die Reise, weshalb diese Texte auch in der Perspektive einer écriture de voyage untersucht werden können. Zu diesen Schriften gehören neben verschollenen Texten4 die Novelle Dépaysement (Sartre 1981c: 1537-1558; vgl. Louette 2010: 1502) und die Fragmente La Reine Albemar2 | Während Sartre an den Fragmenten arbeitet, erfährt er von der Verhaftung Jacques Duclos’, des Generalsekretärs des Parti communiste français. 3 | Es handelt sich bei den Fragmenten La Reine Albemarle um mehrere Texte, die zu Lebzeiten Sartres lediglich in Teilen und erst posthum in zwei Publikationen (herausgegeben 1991 von Arlette Elkaïm-Sartre bzw. 2010 von Jean-François Louette) vorliegen. Zur Publikationsgeschichte vgl. Louette (2010: 1491-1494) sowie Elkaïm-Sartre in Sartre (1991: 15). Ich zitiere im Folgenden ausschließlich nach der 2010 bei Gallimard in der Reihe Bibliothèque de la Pléiade erschienenen und von François Louette bestellten Ausgabe. 4 | Michel Rybalka verweist auf eine Erzählung mit dem Titel Soleil de minuit (vgl. Rybalka 1981: 1839), von der Jean-Louis Cornille zu berichten weiß, dass es sich hier
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le ou le dernier touriste. Darüber hinaus sind ihnen weitere Projekte und Texte Sartres zuzurechnen, wie z.B. die tableautins d’Amérique (vgl. de Beauvoir 1963: 111; vgl. Louette 2010: 1495), die als nouvelles atmosphères einen totalisierenden Blick (regard totalisant) auf Amerika werfen sollten. Diese Texte sind allerdings nicht die einzigen, in welchen sich das Thema Reise finden lässt. Im Avertissement zu La Nausée verweist der fiktionale Herausgeber der Tagebuchaufzeichnungen Antoine Roquentins auf dessen Europa-, Orient- und Afrikareisen, die für die Recherchen über den Marquis de Rollebon in Bouville für drei Jahre unterbrochen worden seien.5 Am Ende des Romans wird Roquentin nach Paris weiterziehen, Bouville war lediglich eine – wenn auch metonymisch für die im Roman entwickelte Problematik der Kontingenzerfahrung bezeichnende – Station (Sartre 1981b: 202). Obwohl die erwähnten Texte verschiedenen Schaffensperioden Sartres entstammen und der Topos Reise zu keiner Zeit explizit ein das Werk bestimmendes Sujet geworden ist, ist dieses Motiv sowohl thematisch als auch strukturell für das Erzählwerk insofern bedeutsam, als es die philosophischen Grundannahmen Sartres bezüglich der Existenz in ihrer raum-zeitlichen Dimension als Chronotopos zum Ausdruck bringt. Somit lässt sich für das Sartre’sche œuvre romanesque – wie auch für alle Handlung des existentialistischen Romans6 – die These formulieren, dass sie eine zeitliche und eine räumliche Dimension aufweist, dass es sich bei existentialer Literatur um einen Chronotopos handelt.7 Aus diesem Grund ist neben der literarischen Gestaltung der Zeit ein besonderes Augenmerk auf die literarische Darstellung des Raumes zu legen, die verschiedene hermeneutische Strategien des Erzählers erfordert. Darüber hinaus ist der Raum in Sartres Texten als hodologischer Raum, als Handlungs- und Erlebensraum im Sinne Otto Friedrich Bollnows zu beschreiben (vgl. Bollnow 1971: 191-205). Die chronotopischen Figurationen um eine von einer Norwegenreise inspirierte Erzählung handelt, die allerdings verloren gegangen ist (vgl. Cornille 2007: 54). 5 | »Ces cahiers ont été trouvés parmi les papiers d’Antoine Roquentin. Nous les publions sans y rien changer. La première page n’est pas datée, mais nous avons de bonnes raisons pour penser qu’elle est antérieure de quelques semaines au début du journal proprement dit. Elle aurait donc été écrite, au plus tard, vers le commencement de janvier 1932. À cette époque, Antoine Roquentin, après avoir voyagé en Europe centrale, en Afrique du Nord et en Extrême-Orient, s’était fixé depuis trois ans à Bouville, pour y achever ses recherches historiques sur le marquis de Rollebon« (Sartre 1981b: 3). 6 | Auch in den Texten Simone de Beauvoirs, Albert Camus’, Arthur Koestlers und André Malraux’ werden Chronotopoi an zentralen Stellen der Erzählung zu wichtigen Hinweisen auf die hinter den Texten stehenden existentialen Positionen der Schriftsteller. 7 | Diese These wäre zu erweitern durch die bereits von Bachtin formulierte Beobachtung, dass der Roman »selbst in seiner Funktion als Gattungsspeicher chronotopisch ist, dass er Raum einnimmt und sich in der Zeit erstreckt« (Sasse 2010: 301).
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des Textes erlauben es wiederum, auch seine Gattungszugehörigkeit zu bestimmen. Bereits Michael Bachtin hat auf das gattungsdefinierende Potential des Chronotopos in Zusammenhang mit dem biographischen Roman hingewiesen (vgl. Bachtin 2008: 8). Der Zugewinn an (Selbst-)Erkenntnis durch das Erleben des Raumes und das Erleben im Raum gehört auch zu den konstitutiven Merkmalen des autobiographischen Schreibens (vgl. Dünne 2003: 365-374). Dabei ist es gerade das von Bollnow so unmissverständlich kritisierte Heidegger’sche In-die-Welt-geworfen-Sein der Protagonisten von Jean-Paul Sartres Romanen (vgl. Bollnow 1971: 309f.), ihr intellektueller Solipsismus, der durch das auf den Körper fokussierte Raumerleben in den Fragmenten La Reine Albemarle ou le dernier touriste in Frage gestellt wird.
III. L ITER ARISCHE R AUMDARSTELLUNG IN L A N AUSÉE UND IN DEN F R AGMENTEN L A R EINE A LBEMARLE OU LE DERNIER TOURISTE
Simone de Beauvoir hat darauf hingewiesen, dass eine Verbindung zwischen La Nausée und den Fragmenten La Reine Albemarle hergestellt werden kann (vgl. Louette 2010: 1497), und damit eine Spur gelegt, der die Forschung gern gefolgt ist. Die Fragmente La Reine Albemarle ou le dernier touriste sind nicht zuletzt deshalb als »La Nausée de son [Sartre] âge mur« bekannt (vgl. ebd.: 1494; Jenny 2005: 4f.).8 Darüber hinaus verweist die aktuelle Forschung auf sie zu Recht als einen Teil der autobiographischen Schriften Sartres.9 1968 formuliert Herbert Marcuse, was die Literatur des Existentialismus besonders beschäftigt, nämlich, dass »konkrete menschliche Existenz […] mit den Begriffen der Philosophie nicht verstanden werden« kann (Marcuse 1968: 80). Sie ist also darum bemüht, das gelebte Leben in seiner Unmittelbarkeit und situativen Einzigartigkeit in narrativen Dispositiven zum Ausdruck zu bringen. So kommt es, dass noch vor den systematischen Darlegungen Sartres zu einer ontologischen Phänomenologie (L’Être et le néant, 1943) der (philosophische) Roman La Nausée (1938) entsteht. Sartre hat zeitlebens den Versuch nicht aufge-
8 | »La reine Albemarle, et en particulier Venise de ma fenêtre, reprend La Nausée, c’est plutôt sur un mode palinodique« (Jenny 2005: 4f.). Jean-Louis Cornille verweist allerdings zu Recht darauf, dass es sich bei den Fragmenten nicht um eine Widerlegung des Romans La Nausée handeln kann (vgl. Cornille 2007: 72). 9 | Jean-François Louette nimmt die Fragmente La Reine Albemarle in seinem 2010 publizierten Band Les Mots et autres écrits autobiographiques auf und unterstreicht damit die autobiographische Lesart des Textes.
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geben, konkrete menschliche Existenz nicht nur in narrativen Texten,10 sondern auch im Drama darzustellen. Aus diesem Grunde ist es möglich, einen Kanon existentialer Topoi Sartre’scher Narrative – die immer auch als écriture de soi zu bezeichnen sind – aufzustellen, welche vor allem im Hinblick auf Aspekte ihrer »localisation«, ihrer literarischen Verräumlichung zu untersuchen sind. Es ist offensichtlich, dass die Fragmente zentrale Themen des Romans La Nausée weiterführen. Neben der die Stadträume Italiens modellierenden Erzählperspektive des »intellectuel solitaire« (vgl. Contat 1997: 17) greifen sie die Kontingenzerfahrung des erzählenden Ich auf. Der erlebte Raum wird dadurch einerseits zum heuristischen Instrumentarium von (Selbst-)Erkenntnis,11 andererseits bietet er dem schreibenden Ich die Möglichkeit der Überschreitung (Transzendenz) von Existenz durch die literarische Gestaltung des Raumes. Sowohl der Wille zur (Selbst-)Erkenntnis – der in La Nausée zunächst von den Arbeiten Roquentins über den Marquis de Rollebon verdeckt wird – als auch das Streben nach einem Rechtfertigen von (absurder) Existenz in der und durch die Literatur, sind anthropologische Grundkonstanten literarischer Produktion, die zugleich als Funktionsparameter autobiographischer Texte ausgemacht werden können. So endet La Nausée mit dem Umkehrschluss von Marcuses Diktum der philosophischen Nichtdarstellbarkeit, nämlich im Erkennen der Notwendigkeit einer die Existenz transzendierenden Literatur, deren hinter den Worten liegender Sinn auf eine intelligible Welt verweist. Es geht also nicht mehr nur darum, konkrete Existenz, d.h. Kontingenzerfahrung, in ein Narrativ zu gießen, sondern es geht zugleich immer um die Transzendierung konkreter Existenz durch die Literatur. So konstatiert Roquentin am Ende des Romans: »Mon erreur, c’était de vouloir ressusciter M. de Rollebon. Une autre espèce de livre. Je ne sais pas très bien laquelle – mais il faudrait qu’on devine, derrière les mots imprimés, derrière les pages, quelque chose qui n’existerait pas, qui serait au-dessus de l’existence. Une histoire, par exemple, comme il ne peut pas arriver, une aventure. Il faudrait qu’elle soit belle et dure comme de l’acier et qu’elle fasse honte aux gens de leur existence« (Sartre 1981b: 210). 10 | Siehe dazu auch den Sartre’schen Romanzyklus Les Chemins de la liberté (bestehend aus L’Âge de raison und Le Sursis, beide von 1945; La Mort dans l’âme und dem Fragment Drôle d’amitié, beide 1949), alle in Sartre 1981a. 11 | »Neuzeitliche Modelle der Selbsterkenntnis bis hin zu Kant übernehmen in säkularisierter und z.T. problematisierter Form das Aufstiegsschema, das nicht mehr an transsubjektive Ideenschau, sondern an die Kenntnis der Prinzipien menschlichen Denkens und somit an die Frage nach dem Subjekt geknüpft ist. Auch modernes starkes Subjektdenken folgt also, mit Foucault gesprochen, noch bis zu einem gewissen Grad dem vormodernen Schema der ›localisation‹, d.h. der ›Hierarchisierung des Raums‹« (Dünne 2003: 367f.).
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La Nausée liegt eine säkularisierte Raumordnung zugrunde, die in der vertikalen Opposition von oben und unten nicht allein eine moralische Ordnung spiegelt, sondern auch auf die Möglichkeit von Erkenntnis durch Reflexion verweist. Roquentins kartographischer Blick auf Bouville versinnbildlicht nicht nur durch die topographische Position die Überlegenheit des Reflektierenden gegenüber dem im Dasein Befangenen. Der Blick auf die Stadt verweist auch auf die soziale Distanz Roquentins gegenüber dem bürgerlichen Bouville:12 »Je regarde, à mes pieds, les scintillements gris de Bouville. On dirait, sous le soleil, des monceaux de coquilles, d’écailles, d’esquilles d’os, de graviers. Perdu entre ces débris, de minuscules éclats de verre ou de mica jettent par intermittence des feux légers. Les rigoles, les tranchées, les minces sillons qui courent entre les coquilles, dans une heure ce seront des rues, je marcherai dans ces rues, entre des murs. Ces petits bonhommes noirs que je distingue dans la rue Boulibet, dans une heure je serai l’un d’eux. Comme je me sens loin d’eux, du haut de cette colline. Il me semble que j’appartiens à une autre espèce. Ils sortent des bureaux, après leur journée de travail, ils regardent les maisons et les squares d’un air satisfait, ils pensent que c’est leur ville, une ›belle cité bourgeoise‹. Ils n’ont pas peur, ils se sentent chez eux« (Sartre 1981b: 186).
Das Streben nach Erkenntnis durch permanente Reflexion führt Roquentin aus der Gemeinschaft der Bürger von Bouville – im wahrsten Sinne des Wortes – hinaus. Er wird der Bürgerschaft zum Fremden, während im Gegenzug Roquentin der Stadt und ihren Bewohnern den Status des Anderen zuschreibt. Diese Dichotomie findet ihre semantische Markierung sowohl in der Lokalisierung (»je regarde, à mes pieds, les scintillements de Bouville«, »comme je me sens loin d’eux«) als auch in der Wahrnehmung, einer scheinbar anderen biologischen Spezies zu entstammen (»Il me semble que j’appartiens à une autre espèce«).13 Das Gefühl fehlender Zugehörigkeit manifestiert sich in der Auflösung 12 | Im Hinblick auf Roquentin und den Erzähler-Touristen der Fragmente La Reine Albemarle verweist diese Distanz auf die Einsamkeit des Nachdenkenden, der deshalb auch als solitaire zu bezeichnen ist. Diese Bezeichnung verwendet auch Paul Nizan in seiner Rezension des Romans La Nausée aus dem Jahr 1938, in welcher er Sartres Erstling als »Roman der absoluten Einsamkeit« bezeichnet, der von den »geistigen Folgen der Einsamkeit« handelt (vgl. Nizan 1991: 6). Camus greift das Problem des »einsamen Intellektuellen« auf und macht es zum zentralen Thema seiner Novelle Jonas (vgl. Camus 1957: 101-139). Auf den Intellektuellen als »homme seul« verweist auch Vincent de Coorebyter in seiner Studie Sartre avant la phénoménologie. Autour de »La nausée« et de la »Légende de la vérité« (vgl. de Coorebyter 2000: 252-266). 13 | Diese Zeilen sind letzten Endes vor dem Hintergrund der Sartre’schen NietzscheRezeption zu lesen. Sowohl die topographische Position als auch der Hinweis, sich einer anderen Art als derjenigen der Bürger zugehörig zu fühlen, spiegeln Sartres Aufge-
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des Verhältnisses zu den Dingen, die stumm werden und den Verlust eines unproblematischen être-au-milieu-du-monde anzeigen. Das Verstummen der Welt ist als die Differenz zwischen dem Welt reflektierenden Bewusstsein und einem ihm nicht mehr erreichbaren Sein der Dinge zu verstehen. So stellt Roquentin, während er sich in Bouville bewegt, fest: »Aujourd’hui les maisons sont là, mais elles ont déjà perdu leur aspect rural: ce sont des immeubles et voilà tout. Au jardin public, j’ai eu, tout à l’heure, une impression du même genre: les plantes, les pelouses, la fontaine d’Olivier Masqueret avaient l’air obstiné à force d’être inexpressives. Je comprends: la ville m’abandonne la première: Je n’ai pas quitté Bouville et déjà je n’y suis plus. Bouville se tait […] Je me sens plus oublié que jamais« (Sartre 1981b: 237f.).
Das Verstummen der Stadt als Indikator für den Rückzug aus der Welt der Realia verweist auf die Einsamkeit des Reflektierenden insofern, als in seinem Horizont alles Materielle und Lebendige zum Ding, zum être-pour-autrui/objet wird. Roquentin vollzieht die Volte zu einer – wie Geneviève Idt schreibt – conscience pure (Idt 1971: 59), die ihre Umgebung nicht mehr spontan affektiv in einer expérience vécue erfahren kann, sondern die sich auf einen intellektuellen Zugang zur Welt beschränken will. Indem sich Roquentin als reines Bewusstsein und unendliche Transzendenz setzt, erfasst ihn die Erfahrung der Kontingenz und Materialität ausschließlich im Gefühl des Ekels (vgl. Menninghaus 1999: 506). In der Folge verlieren die durchreisten Räume, die bereisten Städte ihre charakteristischen und spezifischen Merkmale.14 Sie spiegeln nicht mehr die Empfindungen des erlebenden Ich, sie sind keine »gestimmten Räume«, wie Ludwig Binswanger in Anlehnung an Heidegger formuliert, keine Orte, die von einer expérience vécue geprägt wurden und als erlebte Räume selbst Medium schlossenheit gegenüber Nietzsches Konzept des Über-Menschen. Nicht zuletzt beginnt auch Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra mit dem Abstieg des von Geist und Weisheit Gesättigten: »Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, bedarf ich der Hände, die sich ausstrecken./Ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind./Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn!/Ich muss gleich dir untergehen, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. […] Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden« (Nietzsche 1988 [1967-77]: 11f.). Zur motivlichen Verwandtschaft von Roquentin und Zarathustra, vgl. de Coorebyter 2000: 253-261. 14 | »Et puis tout se ressemble: Shanhgaï, Moscou, Alger, au bout d’une quinzaine, c’est tout pareil« (Sartre 1981b: 49f.).
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der (leibhaftigen) Verwirklichung des Erlebenden werden (vgl. Dürckheim 1932: 383-480). La Nausée ist der Versuch der Konzentration des Raumes auf einen Bewusstseinsraum, ein espace imaginaire et esthétique, der nicht mehr vom physischen Erleben bestimmt und deshalb widersprüchlich und flüchtig ist.15 Die Paradoxie des von Roquentin konstruierten Raumes besteht in der Unmöglichkeit einer vollkommenen Negation seiner Leiblichkeit, die sich einerseits als (Körper-)Objekt in die Lebenswelt einfügt, deren Bewusstsein sich andererseits von der eigenen Körperlichkeit wie auch von den Realia der sie umgebenden Lebenswelt distanzieren will (vgl. Waldenfels 2007: 75; vgl. Idt 1971: 59). Erstaunt muss Roquentin feststellen, dass, obwohl das Schweigen der Stadt seine Existenz in Frage stellt, er dennoch existiert: »Pourtant je sais bien que j’existe, que je suis ici« (Sartre 1981b: 200; Herv. i.O.). Die Verortung des »je« mit der Angabe »ici«, die zugleich eine kartographische Standortbestimmung ist, verweist auf den Körper, der als Objekt des Bewusstseins zugleich Objekt der Welt ist. Das Ende des Romans strebt die Apotheose dieses Bewusstseins und die endgültige Überwindung des Kontingenten in der und durch die Literatur an, womit der transzendentale Charakter des moi in der Ablehnung des moi du corps und durch die Verabsolutierung des moi de la pensée postuliert wird. Der Ekel als psychophysiologische Reaktion Roquentins auf alles Organische kehrt in den Fragmenten La Reine Albemarle wieder. Sartre nimmt damit die Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein, Zeit und Materie auf, die er nicht nur in La Nausée, sondern auch in L’Être et le Néant bearbeitet hatte, und führt sie gespeist von seinen Reiseerinnerungen an Italien weiter. Der ErzählerTourist der Fragmente ist kein unbekannter Reisender, sondern ein gealterter Roquentin, der aus der Erinnerung seine Reise durch Italiens Städte zu Papier bringt, um dabei erneut dem »[…] rapport de la conscience au temps, à l’espace et à la matière, c’est-à-dire au rapport de la conscience subjective et du monde« (Louette 2010: 1509) auf die Spur zu kommen. Obwohl es sich bei den in den Fragmenten bereisten Städten um realgeographisch lokalisierbare Metropolen handelt, können deren Beschreibungen nicht den Anspruch auf Objektivität erheben. Dass es sich um subjektiv gebrochene Raumwahrnehmungen handelt, ist unschwer durch die Perspektive des Ich-Erzählers erkennbar, der sich allerdings über lange Passagen hinweg in der Rolle des Augenzeugen und des Beobachters gefällt. So wird der Aussage »La vraie Venise, où que vous soyez, vous la trouverez toujours ailleurs« ihre vermeintliche Objektivität genommen, wenn der Erzähler bekennt: »Pour moi, du moins, c’est ainsi« (Sartre 2010: 691).
15 | »Il y a conscience de ce corps qui marche lentement dans une rue sombre. Il marche, mais il ne s’éloigne pas. La rue sombre ne s’achève pas, elle se perd dans le néant. Elle n’est pas entre les murs, elle n’est nulle part« (Sartre 1981b: 201).
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Indes steigt der Grad der Subjektivität – und damit auch der Grad an autobiographischem Gehalt – mit der poetischen Sprache,16 in der die Fragmente abgefasst sind. Besonders deutlich wird dieser Duktus des Erzählens in den Passagen über die Stadt Venedig. Die literarische Neuschöpfung des Raumes in La Reine Albemarle ist stärker als in allen anderen Texten Sartres an eine langue poétique gebunden, die Josette Pacaly als »admirable poème en prose« bezeichnet (Pacaly 1980: 284; vgl. Louette 2010:1510) und die als Ausdruck von Subjektivität17 das Verhältnis des Subjekts zu dem ihn umgebenden Raum modelliert. In einer Wechselwirkung bestimmt ihn das erzählende Subjekt und wird von ihm be- bzw. gestimmt. Marielle Macé hat in ihren Arbeiten darauf hingewiesen, dass das Ich der Venedigschriften einen phänomenologischen Wert zeigt, wie er in L’Être et le néant zu finden ist (vgl. Macé 2006: 186f.). Eine genauere Konturierung des phänomenologischen Zugangs setzt demnach die Untersuchung des ErzählerTouristen in den ontologischen und phänomenologischen Kategorien von L’Être et le néant voraus. Das Ergebnis einer solchen Analyse ist eine Darstellung der Erzählung als récit de touriste (vgl. Wiedner 2012), der zwischen regard esthétique und réflexion hin und her pendelt und der sich letztlich selbst zerstört. Sartre macht dies in seinen Gesprächen mit Simone de Beauvoir deutlich: »Simone de Beauvoir: ›L’idée, c’était de prendre l’Italie au piège des mots; mais c’était un récit de voyage qui se détruisait lui-même.‹ Jean-Paul Sartre: ›Qui se détruisait en tant que récit de touriste‹« (de Beauvoir 1981: 260f.) Die Reflexion der eigenen Wahrnehmung entlarven die »rêveries passéistes« (Louette 2010: XXXV), welche stets die Vergangenheit in der Gegenwart zu entdecken suchen und sich dabei indifferent gegen jedes aktuelle Leben zeigen: »Il [le touriste] ne sent pas les Vénitiens qu’il coudoie, il ne les voit pas. Ou alors il n’établit pas de rapport entre eux et Venise, sauf à trouver peut-être le profil de quelque doge à un mendiant« (Sartre 2010: 765). Der récit de touriste verweist auf eine selektive Perspektive,
16 | Diese verstehe ich in Übereinstimmung mit der von Sartre in Qu’est-ce que la littérature? dargelegten Charakterisierung. Die langue poétique/die poésie besitzt keinen referentiellen Charakter, d.h. sie verweist nicht auf eine außerfiktionale Wirklichkeit (wie die Prosa). Sie versteht sich analog zu Farben, Formen und Klängen als chose, als mot-objet: »En fait, le poète s’est retiré d’un seul coup du langage-instrument; il a choisi une fois pour toutes l’attitude poétique qui considère les mots comme des choses et non comme des signes […] ce sont des choses naturelles qui croissent naturellement sur la terre comme l’herbe et les arbres« (Sartre, 1999: 62). 17 | Sandra Teroni spricht im Zusammenhang mit den Fragmenten von einer »tentation de la subjectivité« (Teroni 1990: 762), die dieses Werk charakterisiere, und verweist damit auf einen besonderen Status, den die Fragmente als Teil einer écriture de soi im Gesamtwerk Jean-Paul Sartres einnehmen.
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eine Festschreibung des Stadtraumes auf die idées reçues der Reiseführer, die, indem sie dem Erzähler-Touristen bewusst ist, dekonstruiert wird.
IV. L A R EINE A LBEMARLE ALS P R A XIS
EINER PSYCHOLOGIE PHÉNOMÉNOLOGIQUE
L’Être et le néant ist nicht das einzige Werk, das für eine Untersuchung der Fragmente herangezogen werden muss. Mit Blick auf die verschiedenen Stadtporträts bemerkt François Louette, dass es sich bei den Texten um unterschiedliche Schwerpunktsetzungen handelt: »Naples est abordé d’un point de vue politique et social, Capri d’un point de vue littéraire et physique, Rome d’un point de vue architectural et religieux, Venise d’un point de vue phénoménal« (Louette 2010: 1496). Die Passagen über Venedig beleuchten demnach nicht die Stadt Venedig selbst als ein der Welt zugehöriges Objekt. Sie befassen sich mit dem Phänomen Venedig. In seinem 1940 publizierten Essay zur phänomenologischen Psychologie der Vorstellung L’Imaginaire untersucht Sartre das Verhältnis von vorstellendem Bewusstsein und Welt und beleuchtet zugleich die Kunst als Welt negierende Schöpfung. Diese Eigenschaft von Kunst wird in den Fragmenten besonders im Hinblick auf die literarische Darstellung Venedigs deutlich. Da Bewusstsein bei Sartre im Sinne von Edmund Husserl immer intentional, immer Bewusstsein von etwas ist, gibt das wahrgenommene Venedig über den Charakter des Bewusstseins Aufschluss. Zugleich negiert das ins Wort gehobene, subjektive Venedig-Erleben Venedig als weltzugehöriges Objekt. Im Gegensatz zu den Schriften über Rom, Capri und Neapel entwickelt der Text über Venedig in seinen Metamorphosen und Paradoxien die Vision einer Stadt, die nicht auf einen realen Stadtraum, sondern auf den subjektiven Ereignisgehalt,18 die imagination verweist.19 Diese ist unendlich ephemer und
18 | Das Ereignis im Kontext der Texte Sartres schließt eng an die Kategorie der aventure an, wie sie in La Nausée geschildert wird: »Je [l’autodidacte] voudrais préciser certaines connaissances, dit-il [l’autodidacte] avec onction, et j’aimerais aussi qu’il m’arrivât de l’inattendu, du nouveau, des aventures pour tout dire.« Il a baissé la voix et pris l’air coquin. »Quelle espèce d’aventures? lui dis-je étonné. – Mais toutes les espèces, monsieur. On se trompe de train. On descend dans une ville inconnue. On perd sont portefeuille, on est arrêté par erreur, on passe la nuit en prison. Monsieur, j’ai cru qu’on pouvait définir l’aventure: un événement qui sort de l’ordinaire, sans être forcément extraordinaire. On parle de la magie des aventures« (Sartre 2010: 44f.). 19 | »[L’écrivain] se perd dans un foisonnement d’images qui relèvent beaucoup plus du fantasme que du descriptif« (Teroni 1990: 765).
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flüchtig, sie ist ein Phantasma.20 Der Venedig-récit verweist einerseits auf die Differenz zwischen dem imaginären, dem wahrgenommenen und dem realen Venedig, andererseits verhüllt der récit diese Differenz, indem sich poetische Sprache als Realität ausgibt und den ihr als (langue de la) prose innewohnenden referentiellen Charakter aufgibt.21 Die langue poétique indes verweist auf sich selbst, sie ist Gegenentwurf zur Lebenswelt und negiert diese als Ergebnis eines »[…] acte intentionnel d’une conscience imageante« (Sartre 1940: 239). Insofern beschreibt sie einen rapport esthétique zum realen Objekt, der allerdings durch die Reflexionen des Erzählers unterbrochen und als eine attitude dégagée entlarvt wird (vgl. Wiedner 2012).
V. D AS W ASSER ALS S YMBOL DER CONSCIENCE IMAGEANTE Deutlich wird die Differenz in der Beschreibung des Wassers der Lagunenstadt. Vom Erzähler imaginiert als subtiles und bedrohliches Lebendiges, muss er feststellen, dass das Wasser auf seiner Haut vielmehr schimmernden Diamanten gleicht als einen skrofulösen Ausschlag hervorzurufen: »Un gosse, une fois, m’avait crié ›Balle s’iou plait‹ comme dans un jardin. La balle flottait près de moi, déjà petit cadavre, le ventre en l’air; j’ai plongé la main dans l’eau pour la retirer et je m’étonnais en l’en ressortant qu’elle ne soit pas couverte de pustules verdâtres« (Sartre 2010: 777).
Es ist das Wasser, das die kulturelle Ordnung außer Kraft setzt, indem es die Grenzen zwischen Nah- und Fernraum, oben und unten auflöst und als das Kontingente22 schlechthin der Reflexion keinen Raum lässt: »La lagune: l’horrible monotonie d’un désert. L’eau meurt. Il y en a trop. La monotonie du 20 | Teroni betont in ihrem Beitrag u.a. die Genderaspekte des (Stadt-)Raumes Venedig, indem sie diesen als Regressionsraum beschreibt. Sie verpasst es aber, auf den Raum als einen imaginierten hinzuweisen, dessen poetische (Re-)Konstruktion nicht zuletzt Wolfgang Isers Kategorien des Fiktiven, des Imaginären und des Fingierten antizipiert und damit eine anthropologische Dimension des Raumes postuliert. 21 | Zum Verlust des Zeichencharakters der poetischen Sprache in den Fragmenten La Reine Albemarle vgl. Wiedner 2012. 22 | »L’eau c’est le trop […] elle est de trop, elle est en trop, il y en a trop, toujours trop« (Sartre 2010: 784). Die Übereinstimmung des Wortlauts »de trop« mit den entsprechenden Passagen in La Nausée ist unverkennbar: »De trop, le marronnier, là en face de moi un peu sur la gauche. De trop, la Velléda… Et moi – veule, alangui, obscène, digérant, ballottant de mornes pensées – moi aussi j’étais de trop« (Sartre 1981b: 152; Herv. i.O.). Sartre geht in den Fragmenten so weit, mit der Formulierung zu spielen, indem er
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trop, plus de ligne droite, plus de notion précise et arrêtée, l’interpénétration de tout, la mort par excès de chaque chose. L’eau est fourrée à elle-même, ses idées s’empâtent« (ebd.: 783). Die Verflechtungen des Wassers dehnen sich auf den ganzen Stadtraum aus und lösen seine Geometrie in einen diffusen Raum aus Nebel und Farbe auf: »Ce ciel est de trop par rapport à l’eau, l’eau par rapport au ciel. Tout s’éparpille, se défait. C’est un énorme vide distendu qui vous attire, vous donne l’impression angoissante d’un devenir absurde, monotone et sans repos. Il n’y a rien nulle part, plus rien, il n’y a pas à aller quelque part. Le haut et le bas sont confondus. Et puis, cette vacance de l’être il y a quelques taches pâlies, presque transparentes de rose et de gris, c’est Venise, si légère qu’elle voltige entre ciel et mer. […] Un vieux bouquet flottant dans cette eau croupie, c’est Venise« (ebd.: 786).
Der Stadtraum verliert in diesem Spiel von Farbe und Masse jede orientierungsgebende Kontur, er führt den euklidischen Raum ad absurdum und löst jede »Perspektivierung der Erfahrung« (Waldenfels 2007: 74) und damit die Husserl’sche Erdorientierung auf, so dass ein kosmologischer, schwereloser (Gegen-)Raum entsteht, der dem reflektierenden Subjekt keinen festen Platz bieten kann. Die Auflösung der existentialen Seinsordnung, die sich in der extremen Poetisierung der Sprache manifestiert, führt letztlich zu einer Auflösung der rationalen Reflexion und der Möglichkeit des Erkenntnisgewinns. Raum-, Sprachund Denkordnung zeigen sich in diesen Passagen als interdependent. Die Ästhetisierung des Raumes nimmt das Bewusstsein quasi gefangen und lässt in der Anschauung seiner Inhalte die Kluft zwischen dem imaginierenden Bewusstsein (conscience imageante) und der auf die physische Erfahrung der Realität gerichtete conscience réalisante immer größer werden. Die die ästhetische Kontemplation durchbrechende conscience réalisante manifestiert sich auf der psychosomatischen Ebene im Ekelgefühl. Es wird ausgelöst durch die Betrachtung und Berührung von Materie, deren Konsistenz durch das Wässrige, Weich-Klebrige und Lauwarm-Trübe charakterisiert ist und die als Brutstätte von Bewusst(seins-)los-Lebendigem evoziert wird. Letztlich ist die Kontingenzerfahrung des Erzählers die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit, eine paradoxe Selbstreferentialität, die genüsslich sich ekelnd ihre Immanenz auskostet. In diesem Erfahrungshorizont mutiert Venedig einerseits in eine das (männlichtranszendente) Bewusstsein des Erzähler-Touristen verschlingende, weiß-rosafarbene, weiblich-immanente Masse.23 verschiedene lexikalische Einheiten bildet, was den Eindruck der Last unterstreicht, die das Kontingente für das Bewusstsein des Erzählers darstellt. 23 | Die Zuweisung geschlechtsspezifischer Merkmale geschieht vor der Folie grundlegender kulturspezifischer Konnotationen, die den einzelnen Geschlechtern verschie-
V ENEDIG ALS EIN ANDERES B OUVILLE ? »Mais à Venise quel père détester? La sournoise puissance féminine de l’élite a châtré les doges; la rose araignée de l’Adriatique a dévoré son mâle. Nulle part vous ne trouverez de ces constructions sévères, tour et donjon, palais du gouvernement, police, prison, qui rappellent les rigueurs paternelles et réveillent en nous les surmoi sommeillants. […] Orphelin de père, le touriste s’égare dans des muqueuses maternelles; il retrouve des souvenirs sombres et doux des grottes féeriques: la ville me cache; j’ai perdu ma visibilité, cette inquiétude qui me tenait droit sous les feux croisés des regards: ces ruelles m’enveloppent, ce clair-obscur m’efface; et qui me verrait[…] Que reste-t-il d’un homme, quand il n’est pas vu? […] Touristes, nous revenons à la petite enfance d’avant le sevrage, à cette enfance muette, sans carapaces ni corsets où nous vivions avec nos mères dans une confusion charnelle, un peu moite, où nous n’étions objets pour personne« (Sartre 2010: 803).
Andererseits fordert die Lagunenstadt die conscience réalisante des Erzählers permanent durch das Element des Wassers heraus, das für Venedig konstitutiv ist. Seine Wandelbarkeit und seine Fähigkeit, verschiedene Aggregatzustände anzunehmen, sowie seine Eigenschaft, als einziges Element aus sich selbst heraus Leben zu schaffen, lassen Venedig zu einem paradoxen Organismus und zu einem Symbol der conscience imageante werden. Um Venedig in seiner Totalität erfassen zu können, entwickelt der Erzähler eine Doppelstrategie: das imaginierende Bewusstsein (conscience imageante) kommt im reflektierenden Bewusstsein (conscience réalisante) zu sich selbst, indem es sich seines Transzendenzvermögens als seines konstitutiven Strukturelements versichert.
dene – zumeist in Opposition stehende – Eigenschaften zuweisen. Das wahrnehmende (subjektiv-aktive) Bewusstsein setzt sich selbst als Transzendenzvermögen und lagert damit alle Eigenschaften, die dieses Vermögen behindern, auf den anderen aus. Die latente Bedrohung des (männlichen) Bewusstseins durch den weiblich konnotierten Raum zeigt sich besonders in L’Âge de raison. Hier ist es das Zimmer Marcelles, das mit Attributen des Weiblichen beschrieben wird: »Une buée rose et qui sentait l’iris fusa hors de sa [Marcelle] chambre et se répandit dans l’escalier. Elle avait mis sa chemise verte. Mathieu vit en transparence la courbe tendre et grasse de ses hanches. Il entra; il lui semblait toujours qu’il entrait dans un coquillage« (Sartre 1945: 12).
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VI. D IE PROSE POÉTIQUE ALS A NALOGON DES R AUMES Dieser Charakter des Bewusstseins wird in L’Imaginaire am Beispiel der Kunst genauer beschrieben. L’Imagnaire liefert eine Theorie des Kunstwerks, die vor dem Hintergrund des vorstellenden und zugleich intentionalen Bewusstseins Kunst als ein Irreales versteht, das stets in seiner Konkretion situiert ist und sich materiell manifestieren muss. Das zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort durch den Künstler unter Zuhilfenahme verschiedener Materialien geschaffene Kunstwerk bezeichnet Sartre als Analogon: »Il va de soi que le romancier, le poète, le dramaturgue constituent à travers des analoga verbaux un objet irréel« (Sartre 1940: 242).24 Am Beispiel der Musik macht er deutlich, wie das am Ursprung der Kunst liegende Vorgestellte (oder subjektiv Wahrgenommene) durch das Analogon verstanden werden muss: »Ne voit-on pas clairement que l’exécution de la VII e Symphonie est son analogon? Celle-ci ne peut se manifester que par des analoga qui sont datés et qui se déroulent dans notre temps. Mais pour la saisir sur ces analoga il faut opérer la réduction imageante, c’est-à-dire appréhender précisément les sons réels comme analoga. Elle se donne donc comme un perpétuel ailleurs, une perpétuelle absence« (ebd.: 244f.).
In dieser Ausführung wird deutlich, dass es sich bei Kunst immer um ein in Raum und Zeit zu Verortendes, also um einen Chronotopos handelt. Derselbe Gegenstand kann aufgrund einer je anderen Aktualisierung durch ein subjektives Bewusstsein anders und immer neu dargestellt werden. Die hinter dem objet irréel/objet esthétique stehende conscience imageante wird in den Fragmenten in ihrem differenten, Realität negierenden aber zugleich das Sein überschreitenden Charakter durch die Metapher des Wassers sinnfällig gemacht. Wie das Wasser ist das Bewusstsein temps (Zeit), reflet (Schein), vie (Leben), désordre (Chaos) (vgl. Sartre 2010: 787). Als »notion négative« (ebd.: 791) verneint das Wasser – wie auch die conscience imageante – die scheinbare Unveränderbarkeit alles Materiellen. Diese Erkenntnis bestätigt den Charakter der conscience imageante und des pour-soi (vgl. Sartre 1943: 40-46) als Negationskraft. Das mit dem Ende des journals Roquentins in Aussicht gestellte Projekt einer »histoire […] belle et dure comme de l’acier« (Sartre 1981b: 210) verweist auf das 24 | Am Beispiel des porträtierenden Künstlers erläutert Sartre den Begriff des Analogon. Dieses richtet sich aus am objet réel, das er anhand seiner image mentale nachgebildet hat. Wird das Porträt betrachtet, so ist das nicht der Verweis auf eine Realität, sondern auf die image mentale des Künstlers: »En fait le peintre n’a point réalisé son image mentale: il a simplement constitué un analogon matériel tel que chacun puisse saisir cette image si seulement on considère l’analogon. Mais l’image ainsi pourvue d’un analogon extérieur demeure image« (Sartre 1940: 240).
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Paradox der Kunst als einer Manifestation der conscience imageante: Indem sich Kunst – Literatur – transparent zur Lebenswirklichkeit verhält, indem sie einerseits dicht, andererseits unendlich wandelbar diesen Bezug zum objet réel und damit ihren Zeichencharakter nicht aufgibt, kann sie das Paradox des être-dansle-monde, sowohl expérience vécue als auch Reflexion zu sein, überschreiten. Das Verhältnis von Realität und Vorstellung, von Seinsbegehren und Reflexion wird in den Fragmenten nahezu surreal inszeniert und in seinem dialektischen Verhältnis in Frage gestellt: »Fasciné, je contemple une pensée presque humaine à mes pieds, une pensée d’eau toujours empêtrée dans son contraire, une volonté qui se nie pour s’affirmer, je veux, je ne veux pas, je veux, JE VEUX, je ne veux pas, je veux être n’être pas rose, ROSE, un voile vert recouvre tout de sa vague, je veux, tout est à recommencer, je veux, je ne veux pas, je veux être, je ne veux pas, un trou blanc, JE VEUX ÊTRE ROSE, ROSE, ROSE, lent cheminement d’une pensée qui n’est pas la nôtre et qui ne distingue pas le oui du non, le possible du réel; si, je sais: c’est la pensée de nos rêves, embarrassée en elle-même, perpétuellement en agitation vaine et qui est ce qu’elle pense« (Sartre 2010: 790f.; Herv. i.O.).
Der poetische Umgang mit den Kategorien der Existentialphilosophie gleicht in dieser Passage dem barocken Spiel von Allegorien und eröffnet einen Kontrapunkt Sartre’scher écriture, der im Hinblick auf das Gesamtwerk noch nicht vollständig untersucht ist.25 Indem Sartre an dieser Stelle in poetischer Sprache die Dialektik von Sein und Nichts zum Ausdruck bringt, bedient er sich eines sprachlichen Mittels, das ohne Referenzbezug zum Realen, sich in seinem subjektiven Charakter als objektiv und damit als absolut setzt. Trotz ihrer Entlarvung durch die Reflexion täuscht die prose poétique der Fragmente permanent ein Sein vor, das die realen Zeit- und Raumgefüge außer Kraft setzt und ihre Darstellung in einen nahezu karnevalistischen Chronotopos verkehrt.26 25 | In der Forschungsliteratur wurde häufig darauf verwiesen, dass sich diese Schreibweise Sartres durch seine Studien über Mallarmé und Genet erklären lasse: »Cette dialectique de l’objectif et du subjectif, Sartre venait justement de réfléchir, lorsque au début de 1952 il écrivait les dernières pages du Saint Genet et réfléchissait à la façon dont l’art dévoile ›le subjectif se manifestant dans et par l’objectif, par la destruction de l’objectivité‹« (Louette 2010: 1497 und 1509). Inwiefern eine poetische Darstellung existentialer Philosophie die vom Autor in Qu’est-ce que la littérature? erhobenen Grundsätze einer für die littérature engagée adäquaten (Prosa-)Sprache in Frage stellt und ob hier Ansätze zu einer paradoxen Gattung, einer poésie existentielle, vorliegen, ist noch zu klären. 26 | Michael Bachtin expliziert den karnevalistischen Chronotopos an Rabelais’ Romanen. Hier entdeckt er eine »realistische Phantastik«, die alle gewohnten Zusammenhänge, sowohl sprachlicher als auch logischer Art, zerstört (Bachtin 2008: 97).
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Der Stadtraum Venedig wird zur Metapher für das Bewusstsein des Autors, das Bewusstsein des Erzähler-Touristen, das sowohl conscience imageante als auch conscience réflexive ist. Und in einem weiteren ontologischen Sinne ist es das Bild des menschlichen Bewusstseins schlechthin, das über den Stadtraum inszeniert aber auch hinterfragt wird. Auf der Begriffsebene suggeriert der Name der Stadt die Vorstellung eines Ganzen, eine Entität, deren verborgene Essenz magisch durch ihren Namen beschworen wird. In der gelebten Erfahrung stellt sich die Stadt als widersprüchliches, rational nicht fassbares Gebilde dar, das mit seinem Begriff nicht mehr vereinbar ist. Die Auflösung der Begriffsebene setzt sich in ihrer diachronen Auffächerung fort; die Stadt weist verschiedene Schichten auf, die einen archivarischen Charakter haben und die sowohl einen musealen Raum als auch eine aktuelle, gelebte Wirklichkeit bilden. Eine totalisierende Perspektive der Stadt muss daher alle ihre Aspekte wiedergeben, sowohl ihre rational erfassbare Dimension als auch – und dies ist für die Literatur die wohl anspruchsvollere Aufgabe – ihre Erfahr- und Erlebbarkeit. Insofern kommt die literarische Auseinandersetzung mit der Stadt einem Eintauchen in dieselbe gleich, in der der Erzähler die intellektuelle Position des homme seul aufgibt und er bewusst in ein »vorreflexives« Stadium zurückkehrt, um in der paradoxen Symbiose eines reflektierend-erlebenden Bewusstseins die Stadt zu erfassen, denn: »le seul moyen de posséder un peu une ville [c’est d’] y avoir traîné ses ennuis personnels« (Sartre 2010: 766). Der Raum in den Fragmenten La Reine Albemarle ist also einerseits »gestimmter Raum« im Sinne Ludwig Binswangers (vgl. Binswanger 1955: 174-225), andererseits ist er geprägt von der Differenz von Individuum und Umwelt, die im Analogon zum Ausdruck kommt. Die Kategorie Raum weist in den Fragmenten somit immer beide, sich widersprechende, Qualitäten konkreter menschlicher Existenz auf: Erleben und Reflexion. Der paradoxe Zustand des Erzählerbewusstseins zwischen Imagination und Reflexion verdeutlicht sich in einem weiteren Bild, dem Bild des Schwammes: »Venise est en pierre et elle est entourée d’eau, voilà qui est sain. Mais elle est hantée par un élément fantôme: le spongieux. On croit sentir le sol s’enfoncer sous les pieds. On devine l’argile au fond du canal. Je me sens spongieux moi-même« (Sartre 2010: 864).
Die Überlegungen aus L’Imaginaire zeigen, dass es sich in den Fragmenten nicht um die Wahrnehmung, sondern um das Analogon Venedig handelt, ein analogon verbal, das durch den Erzähler-Touristen evoziert wird.27 Als Analogon
27 | »Du même coup l’objet, se donnant comme derrière lui-même, devient intouchable, il est hors de notre portée« (Sartre 1940: 246; Herv. i.O.).
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ist die Stadt für den Erzähler-Touristen nicht erreichbar, sie ist ein perpétuel ailleurs: »La vraie Venise, où que vous soyez, vous la trouvez toujours ailleurs. […] À l’ordinaire, je me contente plutôt de ce que j’ai; mais à Venise, je suis la proie d’une espèce de folie jalouse; si je ne me retenais pas, je serais tout le temps sur les ponts ou sur les gondoles, cherchant éperdument la Venise secrète de l’autre bord« (ebd.: 691).
Der Mensch als »homme de ressentiment« und »Roi de la Notion négative« (Teroni 1990: 766) ist – wie der Erzähler-Tourist – auf der Suche nach Bekanntem, nach Vergangenem, das Welt in Typologien festzuschreiben sucht. Das Aufgehen des Bewusstseins in seinen Vorstellungsinhalten einerseits,28 das »Verkleben« mit der Vergangenheit in Form ihrer materiellen Manifestation andererseits stellen Grenzerfahrungen des Denkens dar, die sich in den Fragmenten durch das Raumerleben manifestieren. Die literarische Evokation des Raum-Erlebens dient dabei als hermeneutische Strategie für den Erkenntnisgewinn über die konkrete Existenz, das être-dans-le-monde.
L ITER ATUR Bachtin, Michael M. (2008): Chronotopos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beauvoir, Simone de (1981): La Cérémonie des adieux suivi des Entretiens avec Jean-Paul Sartre. Août-septembre 1974, Paris: Gallimard. — (1963): La Force des choses, Bd. 1, Paris: Gallimard. Binswanger, Ludwig (1955): Das Raumproblem in der Psychopathologie, in: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, Bern: Francke. Bollnow, Otto Friedrich (1971): Mensch und Raum, Stuttgart u.a.: Kohlhammer (zuerst 1963). Camus, Albert (1957): »Jonas«, in: ders., L’Exil et le royaume, Paris: Gallimard, S. 101-139. Contat, Michel (1997): Pourquoi et comment Sartre a écrit Les Mots. Genèse d’une autobiographie, Paris: Presses Universitaires de France. Coorebyter, Vincent de (2000): Sartre avant la phénoménologie. Autour de »La nausée« et de la »Légende de la vérité«, Brüssel: Ousia. Cornille, Jean-Louis (2007): Nauséographie de Sartre, Paris: L’Harmattan. 28 | Teroni stellt hier lediglich eine Auflösung der Topographie durch die poetisch (-paradoxe) Sprache fest, die die Orientierungslosigkeit des Erzählers und zugleich eine Krise seiner Identität zur Folge hat. Worin diese Identitätskrise besteht, dass es sich um ein »Verkleben« des Erzählerbewusstseins mit der conscience imageante handelt, wird nicht ausgeführt.
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Wenn der SS-Mann Lindenblütentee trinkt Oder: Über die Anstrengungen topographischen Arbeitens Christian Luckscheiter
Nicht nur in den Kulturwissenschaften oder den kulturwissenschaftlich ausgerichteten Philologien ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine topographische Wende zu verzeichnen, insbesondere seitdem im Jahr 2002 von Sigrid Weigel der »topographical turn« ausformuliert worden ist (vgl. Weigel 2002). Auch in der Literatur und generell in den Künsten der Gegenwart haben topographische Schreibweisen und Arbeiten Konjunktur, ist der Raum wieder wichtig geworden, spielen Orte eine zentrale Rolle, stößt man wiederholt auf Pläne und Karten – zuletzt an prominentem Ort, dem neuen Roman von Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Das fulminante Comeback Houellebecqs, 2010 im französischen Original unter dem Titel La carte et le territoire erschienen, hat nun aber eher wenig mit dem Titel zu tun – zumindest wenn man »Karte« nicht als Metapher für »Buch« oder »Text« liest. Der Titel entpuppt sich als MarketingStrategie, die gezielt auf die Topographie-Konjunktur aufspringt und anspielt. Die einzige Szene, in der eine Karte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, kann dabei geradezu als Persiflage auf die Karten- und Kartierungsbesessenheit in den (Kultur-)Wissenschaften gelesen werden: Jed Martin, Protagonist des Romans und im Lauf der Handlung zu einem der bestbezahlten Künstler auf der ganzen Welt werdend, kauft in einer französischen Autobahnraststätte eine Straßenkarte von den Departements Creuse und Haute-Vienne aus der Reihe »Departementalkarten« von Michelin. »Und als er dort […] seine Karte auseinanderfaltete, wurde ihm seine zweite große ästhetische Offenbarung zuteil. Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern. Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und Haute-Vienne im Maßstab 1:150000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von
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C HRISTIAN L UCKSCHEITER Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen« (Houellebecq 2011: 50).
Umgehauen von so viel papierner Erhabenheit und Herrlichkeit, holt sich der epiphanisierte Martin, kaum in Paris zurück, sofort alle Michelin-Karten, derer er habhaft werden kann – »es waren mehr als einhundertfünfzig« (ebd.: 58) –, und zieht sich mit ihnen ein halbes Jahr lang in sein Atelier zurück. Bei einer Sammelausstellung, auf der er eines seiner über achthundert Kunstphotos von Regionalkarten zeigt – auf dem Photo ist ein Kartenausschnitt abgelichtet, in dem das Dorf seiner Großmutter verzeichnet ist –, lernt er »zweifellos die schönste Frau, die er je gesehen hatte« (ebd.: 60) kennen, eine Mitarbeiterin in der Public-Relations-Abteilung von Michelin France. Als ihr Liebhaber kommt Martin in Kontakt mit der Pariser Kulturschickeria und wird dort bekannt als der Künstler, »der Michelin-Karten zum Gegenstand seiner Werke macht« (ebd.: 65). Seine erste Einzelausstellung in Räumen von Michelin trägt den Titel »DIE KARTE IST INTERESSANTER ALS DAS GEBIET« (ebd.: 78 [Herv. i.O.]); die Ausstellung ist gleichzeitig das Ende von Jed Martins künstlerischer Arbeit mit Karten. Das mag daran liegen, dass ihm als Künstler das Herzklopfen und die Rufe von Menschen, die Karten bei zitternd-begeisterter, identifikatorischer Lektüre erahnen lassen, letztlich doch wichtiger sind als Repräsentationen und Aufschreibesysteme, dass ihm also das Gebiet womöglich doch interessanter scheint als die Karte – zum Jammer so mancher Philologen und Geographen. Auch bei einem anderen gegenwärtig hochgehandelten Schriftsteller begegnen dem Leser Karten als Kunstwerk. Willy Schürholz, geboren 1956 in der chilenischen Colonia Renacer, gestorben im Jahr 2029 in Kampala, Uganda, ist einer der dreißig fiktiven süd- und nordamerikanischen Nazi-Schriftsteller, die Roberto Bolaño für sein Buch »Die Naziliteratur in Amerika« (im Original 1996 erschienen) portraitiert. Die Siedler der Kolonie, in der Schürholz aufwächst, sind ausnahmslos Deutsche, die alle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Chile geflohen sind, unter ihnen Eichmann und Mengele. Schürholz wird experimenteller Dichter, seine frühesten Gedichte sind »eine Mischung aus losen Sätzen und topographischen Plänen der Kolonie Renacer« (Bolaño 2010: 98). Die zweite Serie von Gedichten sind dann riesige Lagepläne; ein Professor für Italienistik interpretiert sie als Lagepläne der Konzentrationslager Theresienstadt, Mauthausen, Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau. Ehemalige Avantgardefreunde von Schürholz sind davon überzeugt, dass sich hinter den Gedichten der Versuch verberge, »die verschwundenen Konzentrationslager in Chile wiederauferstehen zu lassen« (ebd.: 99). 1980 erscheint Schürholz’ erstes Buch, »Geometrie«, in dem unzählige Varianten eines Stacheldrahtzauns abgebildet sind, die alle einen leeren Raum eingrenzen, der von kaum sichtbaren Versen bedeckt ist. Seine folgenden Bücher, »Geometrie II«
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und »Geometrie III«, zeigen »Lagepläne von Konzentrationslagern, mit denen entweder die Pläne der Kolonie Renacer oder bestimmter Städte überlegt werden (Stutthof und Valparaíso, Majdanek und Concepción) oder die als Installationen einen bukolischen und leeren Raum füllen« (ebd.: 100). 1985 kann Schürholz dank der Unterstützung einer Gruppe chilenischer und nordamerikanischer Industrieller mit Bulldozern den Plan für ein ideales Konzentrationslager in die Atacama-Wüste pflügen: »Ein schuppenförmig angeordnetes Netz, das, aus der Bodenperspektive gesehen, eine unheilverkündende Abfolge schnurgerader Linien bildet, verwandelt sich, vom Hubschrauber oder vom Flugzeug aus betrachtet, in ein graziles Spiel gewellter Linien. Der literarische Part bleibt den fünf Vokalen vorbehalten, die der Dichter höchstselbst mit Spitzhacke und Preßlufthammer in die schorfige Oberfläche des Terrains meißelt. Das Ereignis ist die kulturelle Sensation der chilenischen Sommersaison. Mit einigen bezeichnenden Varianten wird das Experiment in der Wüste von Arizona und auf einem Weizenfeld in Colorado wiederholt« (ebd.).
Auch für Schürholz scheint das Gebiet letztlich interessanter als die Karte zu sein. Allerdings wird mit seinen Werken im Gegensatz zu denjenigen Martins, die die verortenden Karten ästhetisieren und ihnen das Verortete durch Verfremdung wieder aufprägen, das Verortete also gleichsam auf dem Verortnenden verorten, das Problem und die Gefahr der Topographie deutlich: ihre Verbindung mit der NS-Zeit und ihre Ermöglichung totaler Verortung (vgl. Stockhammer 2005b: 320). Während in Karte und Gebiet die Karte u.a. dazu eingesetzt wird, periphere Orte der Herkunft – etwa das Dorf der Großmutter – im Rahmen der Kunst zu zentrieren, macht Die Naziliteratur in Amerika schon mit dem Titel eine andere Herkunft sicht- und erinnerbar: die Herkunft der gegenwärtigen Raumkonjunktur aus älteren Theorie-Konjunkturen, und zwar der deutschen Geopolitik (vgl. Köster 2005: 25). Bei Bolaño wird nicht nur sie wieder gesellschaftsfähig, von süd- und nordamerikanischen Großkapitalisten unterstützt, sondern auch ihr rassistischer und antisemitischer Boden. Topographie und Geopolitik, Karte und Genozid sind hier nicht voneinander zu trennen: Zach Sodenstern, ein weiterer Nazischriftsteller aus Bolaños Universum, genießt Kultstatus als Science-Fiction-Autor, dessen Romane verfilmt werden. Er ist Erfinder der Sage vom Vierten Reich, die der Roman »Die Beherrschung der Landkarten« einleitet und ein Manifest gegen Schwarze, Juden und Hispanics abschließt (vgl. Bolaño 2010: 110). In Houellebecqs Roman verweist der Umgang mit Karten auf das topographische Konzept, Orte »in einen Schauplatz des Gedächtnisses [zu] verwandeln« (Weigel 2001: 15). Die Photos von Martin sind in gewissem Sinn Erinnerungstopographien. Die Naziliteratur in Amerika verweist hingegen auf die Geschichte des Topographie-Diskurses: die geopolitischen Auswüchse der NS-
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Zeit und die Anknüpfung an diese in den gegenwärtigen Topographie-Debatten (vgl. Stockhammer 2005a: 15). Beide Implikationen von Topographie zitieren Sergej Anufriew und Pawel Pepperstein in ihrem 1998 erschienenen Roman Binokel und Monokel an. Gleich zu Beginn des Texts fliegt Jürgen von Kranach, ein junger SS-Offizier und Protagonist des ersten Teils des dreiteiligen Buchs, mit seiner Maschine über Russland. »Tief unten, unter dem Flügel seines Flugzeugs, breiteten sich weite Räume aus, die neuen, erst kürzlich dem Reich einverleibten Gebiete. Felder, Wälder. Die neue Welt. Das europäische Amerika. Die geheimnisvolle Ostmark« (Anufriew/Pepperstein 1998: 7). An seinem Bestimmungsort, Mogiljow, einer Stadt, in deren Namen das russische Wort für »Grab« steckt, arbeitet Kranach für die SS-Sonderabteilung zur Bekämpfung von Partisanengruppen. Kranach sitzt jeden Abend »[…] über der Karte und markierte die Orte, wo diese oder jene Partisanenaktionen sowie große und kleine Sabotageakte stattgefunden hatten. Frischgespitzte Buntstifte lagen vor ihm: Er verband Punkte auf der Karte mit verschiedenfarbigen Linien und errechnete die mutmaßlichen Marschwege der Banditen, ihre Standorte und Schlupfwinkel im Wald sowie die Dörfer, die sie ›verpflegten‹. Er arbeitete angespannt und effektiv. Im Laufe von zwei Wochen schickte er drei Berichte nach Berlin, die ausführliche Berechnungen über mehrere Partisanengruppen enthielten« (ebd.: 13).
Die Karte und das Topographieren werden hier also eingesetzt, um Partisanen aufzuspüren und dem Henker auszuliefern. Die Aufspürstrategien Kranachs werden dabei fast von einem Getränk durchkreuzt: von Lindenblütentee. Gerade in dem Moment, wo ihm in Witebsk ein gefangener Partisan endlich erzählt, »was Kranach doch so brennend gern hören wollte – er erzählte von Klarbins Partisanentrupp« (ebd.: 29), hört Kranach nicht zu, weil er in Erinnerungen verfangen ist. Ein Schluck Lindenblütentee, den er, am Fenster des Verhörraums stehend, zu sich nimmt, entführt ihn zurück in Kindheitstage, zu seiner alten, todkranken Tante, die ihm etwas über den Duft der Linden, den Gesang der Meeresmuscheln und »die Perle, die man in die Backe stecken soll, damit man immer gesund bleibt und ewig lebt« sagt (ebd.: 28). Mit dem Lindenblütentee oder vielmehr seinem Geschmack, der Erinnerungen aus der Kindheit in sich trägt und in Witebsk die (Ver-)Ortung der Partisanen behindert, ist man bei Marcel Prousts »mémoire involontaire«; der Raum des Verhörs wird gleichsam zum Schauplatz des unwillkürlichen Gedächtnisses. Dieses Gedächtnis hat bei Proust nun bekanntlich eine ganz besondere Funktion. Bevor der Geschmack von Tee und dickem ovalem Sandtörtchen in alte Zeiten und den Kindheitsort Combray zurückführt, ist die Erinnerung des Erzählers auf das beschränkt, »was ein Gedächtnis ihm in Bereitschaft gehalten« hat, »das dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig« ist. Dieses Gedächtnis
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ist das willkürliche, eins, das der »freien Entschließung«, dem Willen gehorcht (Benjamin 1991c: 610). Mit ihm ist von der Vergangenheit wenig bis gar nichts zu erhalten; die »mémoire volontaire« zeigt von dem Ort Combray »nur einen von tiefer Dunkelheit umlagerten Ausschnitt« (Proust 1976: 61). Das bewusste, »intellektuelle[] Erinnern« erfasst, so Proust, »das Wesen« der Vergangenheit nicht, wodurch sie »in Wirklichkeit tot« bleibt (ebd.: 62). Viele Jahre lang existiert für den Erzähler von Combray nichts »außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war« (ebd.: 63), da er es nur bewusst erinnern kann – bis seine Mutter ihm eines Tages Tee und das »unvergessliche Gebäck« (Anufriew/Pepperstein 1998: 28), die Madeleine bringt. Der Geschmack von Tee und Gebäck rufen ein ungekanntes Glücksgefühl hervor – zufällig hat die »mémoire involontaire« zugeschlagen. Was sie mit sich führt, der unbekannte Zustand, ist allerdings äußerst schwer zu fassen: »Ich will versuchen, [den unbekannten Zustand] von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt. Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn, ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume. Sicherlich muß das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden […], sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag. Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiß es nicht. Jetzt fühle ich nichts mehr, er ist zum Stillstand gekommen, vielleicht in die Tiefe geglitten; wer weiß, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von
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C HRISTIAN L UCKSCHEITER jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche von morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann. Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray […] meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. […] Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte […], trat das graue Haus mit seiner Straßenfront […] wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzu, der für meine Eltern nach hintenheraus angebaut worden war (also zu jenem verstümmelten Teilbild, das ich bislang allein vor mir gesehen hatte) und mit dem Haus die Stadt, der Platz […], die Straßen […], die Wege […]« (Proust 1976: 64-67).
Aus der Tasse Tee steigen »[…] alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf« (ebd.: 67).
Das Bild, das die »mémoire involontaire« aufblitzen ließ und an dieser Stelle nur mit äußerster Schwierigkeit und Anstrengung aus der Tiefe des Unbewussten an die Oberfläche, ins Bewusstsein gehoben werden kann, ist die umfassende Topographie einer Stadt, Combrays, zu Zeiten der Kindheit. Das Gedächtnismodell von Proust, das die Szene ausführt, ist dabei zeitgenössischen topographischen Gedächtniskonzepten wie denjenigen Sigmund Freuds oder Walter Benjamins ähnlich. Doch im Unterschied zu Benjamin und Freud sind die Bilder, »die aus allen früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Trümmer oder Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen« (Benjamin 1991b: 486), bei Proust nicht entstellt; sie können zwar nur mit einiger Anstrengung ins Bewusstsein und von dort zur Schrift gebracht werden, die willkürliche Suche nach dem verlorenen Ort, seine Ortung kommt jedoch sowohl ohne psychoanalytische Schulung und Dechiffrierkunst von Dauerspuren als auch ohne ein »Jetzt der Erkennbarkeit« aus: »ganz« Combray ist »deutlich und greifbar«, das aufblitzende Bild, das zittern macht wie eine Straßenkarte, ist vollständig rekonstruier- und fixierbar. Aus den tiefsten Schichten der Erinnerung erscheint eine ganze Stadt. Eine Stadt spielt bekanntlich auch in Freuds topographischem Gedächtnismodell eine Rolle: in Das Unbehagen in der Kultur wird für den berühmten (und letztlich scheiternden) Versuch, den Inhalt der Annahme verständlich zu machen, »daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen
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kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann«, auf die Topographie Roms als Beispiel zurückgegriffen (Freud 1974: 201-204). Und bei Benjamin wird die Topographie von Paris »als Gedächtnisraum des Kollektivs betrachtet« (Weigel 1997: 31). Hier berühren sich die »äußere Topographie« einer Stadt und »die topographische Darstellungsweise des Gedächtnisses in der Psychoanalyse« (ebd.). Subjektgeschichtliches Erinnerungsbild wie kollektivgeschichtliche Vergangenheit müssen ausgegraben und psychoanalytisch entziffert werden; Erinnerung und Geschichtsschreibung werden als »strukturanaloge Tätigkeiten« (ebd.: 27) gefasst. Die ohnehin bereits anstrengende und schwierige topographische Arbeit am Gedächtnis, die Proust aufschreibt, erfährt noch einmal eine Komplexitätssteigerung – womit wir wieder am Anfang des Texts wären: beim »topographical turn« in den Kulturwissenschaften. Denn insoweit dieser in seiner »kontinentaleuropäischen« Ausprägung an Walter Benjamins theoretische Schreibweise anknüpft, ist er eng an dessen topographische Geschichtstheorie gebunden. Fragt man im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Topographieforschung zum Beispiel nach der Bedeutung von Topographien für einzelne Schriftsteller, nach der Bedeutung von Orten in der Literatur, geht es dabei nicht nur um ihre spezifischen Ortsbeschreibungen, sondern auch, da der »topographical turn« vor allem eine graphische Wende ist, um die Zusammenhänge von Schrift und Ort, um Ortsschriften, d.h. Schriften bzw. Zeichen, Spuren, die an Orte gebunden sind. Bei Benjamin korrelieren in der Verbindung von »topos« und »graphé« historischer Schauplatz und Schauplatz der Schrift, wobei der Schauplatz der Schrift auch als Konzeption des Gedächtnisses zu verstehen ist. Indem Benjamin das barocke Trauerspiel als Ausdruck einer historischen Haltung, in der die Geschichte zum Trauerspiel wird, liest, beschreibt er ein Szenario, »in dem Geschichte, anstatt in zeitlicher Dimension, als Schauplatz sich darstellt« (ebd.: 209). Das Bild des Schauplatzes wird »Schlüssel des historischen Verstehns«, der zeitliche Bewegungsvorgang »in einem Raumbild eingefangen und analysiert« (Benjamin 1991f: 271). An dieser Stelle prägt Benjamin auch den Satz, der für Topographien von entscheidender Bedeutung ist: »Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein« (ebd.). Topographie bedeutet nicht nur die Beschreibung eines Ortes oder die Schrift über einen Ort, sondern immer auch die (schon vorhandene) Schrift an einem Ort; Topographien sind (Schrift-)Spuren, die die Geschichte an einem Ort hinterlassen hat – Benjamin verdeutlicht dieses Verständnis von Topographie an einem Bild, das er von Julius Tittmann zitiert: »›An einem Ort, wo eine denkwürdige Begebenheit sich ereignet haben soll, lässt der Schäfer Verse zur Erinnerung in einem Felsen, Stein oder Baum zurück‹« (ebd.). Diese Spuren können u.a. eine »erstaunliche Resonanz« (Benjamin 1991e: 524) für denjenigen entwickeln, der von ihnen weiß. So kann beispielsweise das Studium von Paris-Büchern auf nachmittägliche Spaziergän-
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ge eines Pariser Flaneurs bzw. philosophischen Spaziergängers ortsvertiefende Auswirkungen haben: »Mußte er [der Flaneur] dann nicht wirklich den steileren Anstieg hinter der Kirche Notre Dame de Lorette eindringlicher unter den Sohlen fühlen, wenn er wusste: hier wurde einmal, als Paris seine ersten Omnibusse bekam, das cheval de renfort als drittes vor den Wagen gespannt« (ebd.: 525f.). Ein Ort wird auf diese Weise zu mehreren Orten, eine Stadt zu mehreren Städten gleichzeitig; jeder Platz kann zu einer Vielzahl von Plätzen werden, und die Vergangenheit taucht wie ein Bild »mitten in einer Ansicht auf, in der wir gerade gefangen sind. So vervielfältigt sich die Sicht, so verkompliziert sich die Stadt, erwachen Geschichten«, wie Dragan Velikić es formuliert (Velikić 2000: 113). Die kulturwissenschaftliche Topographieforschung versucht also, Orte als Schauplätze des Gedächtnisses zu lesen, als Schauplätze, in die die Geschichte hineingewandert ist. Sie hält mithin an Verortbarkeit fest. Das Festhalten an einem verortbaren Raumkonzept ist im kulturwissenschaftlichen TopographieAnsatz allerdings nicht als Insistenz auf territorialer Räumlichkeit zu verstehen, sondern als notwendig für die Möglichkeit der Erforschung der Codiertheit und Geschichtlichkeit von Orten: zum einen benötigt Gedächtnis und Erinnerung von Geschichte gegen das Vergessen Orte bzw. Schauplätze, auf denen Geschichte sich zeigte bzw. deren Spur wieder zu zeigen und zu entziffern, wieder lesbar zu machen ist. Zum anderen ist es aufgrund der Geopolitik der NS-Zeit und den Anschlüssen an diese in der aktuellen Debatte notwendig, Räume und das Wissen über sie zu historisieren (vgl. Stockhammer 2005a: 15). Topographie meint mit Walter Benjamin immer auch, »das historisch und begrifflich Verschwindende und das Verschwinden darzustellen, ihm in der Schrift und ihren Denkfiguren einen Ort einzuräumen« (Weigel 1997: 15). Das historisch und begrifflich Verschwindende oder bereits Verschwundene, auch dasjenige, das sich einmal durchgesetzt hat und dabei anderes wiederum zu verdrängen und zu vergessen wusste (vgl. Müller 1991: 19), hat seinen Ort, der auszumachen, zu orten und zugänglich zu machen ist – vor allem, um zu verhindern, dass Geschichte vergessen wird. Verdeutlicht an einem Eintrag in Benjamins Passagen-Werk: »Pausanias schrieb seine Topographie von Griechenland 200 n. Chr., als die Kultstätten und viele der anderen Monumente zu verfallen begannen« (Benjamin 1991e: 133). Topographien versuchen aber nicht nur, das Vergehen der Geschichte zu bannen, sondern sie versuchen ebenso, unterschwellig wirkende Diskursmächte aufzudecken. Die »Ordnungsgeflechte« der Topographie sind »[e]ingestanzt und eingelagert ins Massiv der Realitäten, unter deren Oberfläche verborgen, doch gründlich wirksam als verdeckte Regulatoren« (Müller 1991, 12). Ein Ortsverständnis, das vor allem auf die poiesis, also das Machen von Orten abhebt, droht zu übersehen, dass Orte auch immer schon gemacht worden und kulturell kodiert sind und folglich eine Geschichte haben, die nicht einfach zu
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übergehen oder -streichen ist. Demgegenüber ist das Entziffern eines Ortes, einer Stadt beispielsweise in den Texten Walter Benjamins ein anderes, und wenn man so will: tieferes, tiefer grabendes.1 Verdeutlichen lässt sich dieser Unterschied an einem Vergleich, den Benjamin für die Pariser Passagen findet und der gleichzeitig sein Verständnis von Topographie und Ortslektüre versinnbildlicht: »Wie Gesteine des Miozän oder Eozän stellenweise den Abdruck von Ungeheuern aus diesen Erdperioden tragen, so liegen die Passagen heute in den großen Städten wie Höhlen mit den Fossilien eines verschollenen Untiers: der Konsumenten aus der vorimperialen Epoche des Kapitalismus, des letzten Dinosauriers Europas« (Benjamin 1991e: 670). Die archäologische Arbeit an der Interpretation der Fossilien eines einzigen ausgesuchten Ortes, der Pariser Passagen, begleitete Benjamin 13 Jahre, von 1927 an bis zu seinem unfreiwilligen Selbstmord 1940; ihr Ergebnis lässt sich an einem Fragment von über 1000 Seiten, dem »Passagen-Werk«, studieren. Eine für kulturwissenschaftliche Topographie-Forschungen ideale »Arbeit am Ort« ist also äußerst komplex, benötigt umfassende Studien, immenses Wissen und viel Zeit. Die Anstrengungen dieser Arbeit, die kollektivgeschichtliche Vergangenheit in Paris zu entziffern, können dabei durchaus mit denjenigen jener Arbeit, die subjektgeschichtliche Vergangenheit in Combray zu entziffern, verglichen werden. Es ist bekannt, welcher Voraussetzungen es bedurfte, dass Proust von der eigenen Kindheit Bericht geben konnte.2 Benjamin nannte es »Penelopearbeit des Eingedenkens« (Benjamin 1991g: 311). Eine solche Arbeit dürfte auch heutzutage nicht ganz unwichtig sein: Immerhin geht Marc Augé in seinen »Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit« davon aus, dass in der Gegenwart sogenannte Nicht-Orte hervorgebracht werden, von denen er behauptet, dass sie »das Maß unserer Zeit« sind und erst »jetzt«, in der »realgeschichtlichen Gegenwart«, in Erscheinung treten und sich wuchernd vermehren, deren zunehmende Häufigkeit Folge und Ausdruck eines beschleunigten Wandlungsprozesses des Raumes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei (Augé 1994: 94). Nicht-Orte definiert Augé als Orte, die keine Identität besitzen und »sich weder als relational noch als historisch bezeichnen« lassen. »Der Nicht-Ort gibt der Geschichte keinen Raum« (ebd.: 121). Er ist ein geschichts- und gesichtsloser Ort des Transits, der Passage, an dem alle Menschen ihrer gewohnten Bestimmungen entkleidet werden. An ihm ist niemand »zu Hause«, hat niemand eine Geschichte. Nicht-Orte autorisieren lediglich für die kurze Zeit, in der man sich in oder an ihnen aufhält, »die Koexistenz unterschiedlicher, vergleichbarer und gegeneinander gleichgültiger 1 | »Grabung« ist hierbei eine von verschiedenen Darstellungsallegorien, die Benjamin im Rahmen der Frage, wie Erinnerungsbilder und -spuren dargestellt werden könnten, erprobt (vgl. Weigel 1997: 30). Vgl. dazu auch Benjamin 1991a. 2 | Vgl. auch den Hinweis bei Benjamin (1991c: 611).
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Individualitäten« (ebd.: 129), deren Geschichte, Traditionen und Wissen an Orten ohne Geschichte keine Orientierung mehr bietet. Global auftretend, sind die Nicht-Orte in ihrer Austauschbarkeit ebenso wenig zu lokalisieren, wie sich die Menschen, die sich in oder an ihnen aufhalten, lokalisieren können. Angesichts dieser zumindest behaupteten, zunehmenden Enthistorisierung von Orten in der Gegenwart könnte es umso dringlicher notwendig werden, das historisch und begrifflich Verschwundene und Verschwindende in die Schrift zu »retten«. Insofern wäre die topographische Metapher trotz ihrer eigenen schon längeren Geschichte und ihrer Etabliertheit in den Kulturwissenschaften nach wie vor keine Metapher wie alle anderen, sondern weiterhin ein zentrales Paradigma kulturwissenschaftlicher Forschung. Die Enthistorisierung von Orten ist allerdings immer schon ein Thema der Literatur gewesen. Vor allem nach 1945 war sie mit einer ungleich radikaleren Geschichtslosigkeit konfrontiert: der Geschichtsauslöschung ganzer Regionen in Folge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Das Problem des Ortsbezugs nicht nur angesichts dieser Lage hat insbesondere Paul Celan in seiner Literatur verhandelt. Zum einen gab es viele Orte, auf die er Bezug nahm, schlicht nicht mehr – nur noch in der Sprache konnte es sie geben. Zum anderen ging es ihm darum, »die Referenz- und Präsenzsuggestion, die mit jedem niedergeschriebenen oder ausgesprochenen Wort ins Spiel kommen, immer wieder zu unterbrechen« (Zanetti 2010: 120), um der Unaufhebbarkeit des Verlusts eingedenk bleiben zu können. Dabei weist dieses Unterbrechen aber auch auf das ohnehin problematische Verhältnis zwischen Sprache und Raum, das generelle Problem der Bezugnahme von Sprache (nicht nur) auf Orte hin. Die Nennung eines Ortes in der Literatur ist nicht der konkrete Ort, sondern ein literarischer Ort und als solcher nicht ohne weiteres auf die außerliterarische Welt oder als Punkt auf eine Karte zu übertragen. Eine solche Interpretation würde die Literatur an den Klartext verraten. Sie wäre mit Derrida als Unfall zu beschreiben, als eine Fehl-Interpretation, eine zu starke Veränderung eines literarischen Textes durch einen kommentierenden, interpretierenden, der das Sich-Sperren der Literatur gegen die Übertragung ihrer Buchstaben in andere allzu gewaltsam durchbricht (vgl. Derrida 1990: 8; 10) Das Herausschneiden einzelner Stellen aus ihren Kontext ist mit dem Abschneiden der historischen Indexe von Orten vergleichbar. Und was dann beim poiein passieren kann, zeigt unter anderem Goethe in Die Wahlverwandtschaften: um den Kirchhof zu verschönern, rückt Charlotte die Grabsteine von ihrer Stelle und reiht sie den Jahren nach an der Mauer auf (vgl. Goethe 1981: 254). Einige Gemeindemitglieder missbilligen das, da dadurch das Andenken an die Vorfahren »gleichsam ausgelöscht« sei; »denn die wohlerhaltenen Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei, aber nicht, wo er begraben sei, und auf das
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Wo komme es eigentlich an« (ebd.: 361). Charlottens Arbeit am Ort kommentiert Walter Benjamin wie folgt: »Ohne Bedenken, ja ohne Rücksicht werden die Grabsteine an der Kirchenmauer aufgereiht und der geebnete Grund, den ein Fußpfad durchzieht, bleibt zur Kleesaat dem Geistlichen überlassen. Keine bündigere Lösung vom Herkommen ist denkbar, als die von den Gräbern der Ahnen vollzogene, die im Sinne nicht nur des Mythos sondern der Religion den Boden unter den Füßen der Lebenden gründen« (Benjamin 1991d: 132).
An diese brutale Loslösung eines Ortes von seiner Geschichte knüpft Benjamin eine Frage: »Wohin führt ihre Freiheit die Handelnden?« (ebd.). Sie führt unter anderem dazu, dass SS-Männer Lindenblütentee trinken oder in einem einzigen kurzen Text Anufriew, Augé, Benjamin, Bolaño, Celan, Derrida, Freud, Goethe, Houellebecq, Proust und Weigel miteinander verwurstet werden. »Man komme mir nicht mit ›poiein‹«.3
L ITER ATUR Anufriew, Sergej/Pepperstein, Pawel (1998): Binokel und Monokel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Fischer. Benjamin, Walter (1991a): »Ausgraben und erinnern«, in: ders., Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen (= Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 400-401. — (1991b): »Berliner Chronik«, in: ders., Fragmente. Autobiographische Schriften (= Gesammelte Schriften, Bd. VI), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 465-518. — (1991c): »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. 2. Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Abhandlungen (= Gesammelte Schriften, Bd. I, 2), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 605-653. — (1991d): »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: ders., Abhandlungen. (= Gesammelte Schriften, Bd. I, 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 123-201. — (1991e): Das Passagen-Werk (= Gesammelte Schriften, Bd. V), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1991f): »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Abhandlungen. (= Gesammelte Schriften, Bd. I, 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 203-430. — (1991g): »Zum Bilde Prousts«, in: ders., Aufsätze. Essays. Vorträge (= Gesammelte Schriften, Bd. II, 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 310-324. 3 | Paul Celan in einem Brief an Hans Bender vom 18.5.1960, zit.n. Zanetti (2010: 129).
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Der Literatur in die Karten schauen Überlegungen zu Kartographie und Literatur am Beispiel von W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn Mandana Covindassamy in Zusammenarbeit mit Géraldine Djament-Tran Faire la ligne, et pas le point (Deleuze/Parnet 1996: 34). Es auf die Linie bringen, und nicht auf den Punkt.
Ob in schriftlicher oder in mündlicher Form, die Literatur entspinnt sich entlang des linearen Fadens der Sprache. Sie folgt einer wesentlich zeitlichen Anordnung und reiht dabei Töne aneinander, als Glieder einer Kette, die Bedeutung annimmt und ästhetisches Potential enthält. Ab dem Moment, in dem die Literatur niedergeschrieben wurde, hat die graphische Dimension allerdings der der Sprache eigenen Zeitlichkeit eine gewisse Räumlichkeit eröffnet. Die Wörter haben sich auf dem Blatt als einem Karte und Text gemeinsamen Raum angeordnet. Im Gegensatz zu dem seinem Wesen nach diachronen Text ist die Karte ein Bild-Zeichen, dessen Sinn synchron erfasst wird. Trotz (oder wegen) dieses grundlegenden Unterschieds fand die Kartographie schon sehr früh Verwendung für die Untersuchung literarischer Werke. Lange handelte es sich in erster Linie darum, eine graphische Darstellung der Fährnisse literarischer Figuren zur Verfügung zu stellen. So kann man schon 1705 die Irrfahrten des Aeneas auf einer Karte von Peyrounin verfolgen (vgl. Piatti 2008: 38). Welchen Wert haben solche Karten für den Leser? Sie bieten ihm eine graphische und synthetische Anschauung des durchquerten Raums und erlauben es daher, die durchmessene Strecke auf eine vereinheitlichte Darstellung des Raums zu übertragen. Infolgedessen wird die diskontinuierlich voranschreitende Erzählung geglättet. Das kartographische Verfahren erlaubt es somit, die im Text verstreuten räumlichen Hinweise linear darzustellen. Es reduziert die Brüche der Erzählung. Seit etwa zwanzig Jahren trägt das Aufkommen eines räumlichen Paradigmas in den Kulturwissenschaften zur Verbreitung der Kartographie der Literatur bei. Jean-Marc Besse erinnert daran, dass »die Literaturtheorie und die
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Literaturgeschichtsschreibung begonnen haben, die räumlichen Dimensionen der Literaturproduktion zu berücksichtigen«, und zwar auf drei Ebenen (Besse 2010: 211-212). Die erste – nicht eigentlich literarische – beschäftigt sich mit der Untersuchung der »konkreten geographischen Bedingungen der Produktion literarischer Formen«. Die verwendete Methode ist also nicht literaturspezifisch; sie ist vielmehr für jede geographische Untersuchung jeder Aktivität anwendbar. Die zweite Verwendungsweise der Kartographie in der Literatur ist Teil der Analyse der »imaginären« Geographien, die in den Werken selbst entwickelt werden, beispielsweise in der Art, in der Franco Moretti »Jane Austens England« oder »Balzacs Paris« präsentiert (vgl. Moretti 1999 und 2009). Hierbei handelt es sich darum, ausgehend von der Untersuchung des Werks die Merkmale der geographischen Welt eines Autors herauszuarbeiten. Eine dritte Verwendungsweise der literarischen Kartographie besteht schließlich darin, die realen und imaginären Räume der Literatur zu kartieren. »In diesem Fall […] erlaubt es die Kartographie, die Ortswechsel dieser Figuren zu verfolgen, und sie trägt allgemeiner gesprochen dazu bei, eine Form der Wahrnehmung und des Verständnisses literarischer Aktivitäten und Vorstellungswelten bereitzustellen« (Besse 2010: 212). Zu dieser Verwendung gehört die oben angesprochene Karte Peyrounins. Solche auf die Literatur angewendeten kartographischen Darstellungen erleichtern die soziologische Untersuchung von Autoren, die Lektüre eines einem Schriftsteller eigenen Vorstellungsraums oder die synthetische Wahrnehmung der Handlung. In den beiden letztgenannten Fällen findet die Untersuchung auf der Ebene der Textbedeutung statt. Es bleibt jedoch eine Frage: ermöglicht diese kulturelle Geographie einen wirklichen Beitrag für die Untersuchung eines literarischen Werks als aus Sprache geformten ästhetischen Objekts? Dies scheint nicht ihr Ziel zu sein. Daraus ergibt sich wiederum folgende Frage: inwiefern ist die kartographische Darstellung von Literarizität möglich, und was kann ihr Beitrag zur Literaturtheorie sein? Mit dieser weiteren Frage will sich die vorliegende Untersuchung beschäftigen und sich dabei auf eine Fallstudie stützen. Wie kann die Kartographie der Herausforderung begegnen, nicht einen Raum, sondern vielmehr dessen Versprachlichung darzustellen? Die Frage stellt sich für diejenigen Werke, bei denen die topographische Dimension von grundlegender Bedeutung ist, wie etwa bei den 1995 erschienenen Ringen des Saturn von W.G. Sebald. Die Erzählung beruht auf einer astronomischen Metapher. Die Besonderheit der Saturnringe besteht darin, dass ein Beobachter sie je nach Entfernung sehr unterschiedlich wahrnimmt. Von weitem betrachtet handelt es sich um glatte Bänder. Ein leistungsfähigeres Teleskop lässt dort jedoch einen von der Gravitation getragenen Schutthaufen erkennen. In den Worten des Brockhaus: »Die Ringe des Saturn bestehen aus Eiskristallen und vermutlich meteorischen Staubteilchen, die den Planeten in dessen Äquatorebene in kreisförmigen Bahnen umlaufen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Bruchstücke eines früheren Mondes, der, dem
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Sebald zitiert diese Definition als Motto seiner Ringe des Saturn. Von Beginn an wirft das Buch die Frage auf nach dem Verhältnis zwischen sinnlichem Schein und dem geschichtlichen Prozess, dessen Manifestation wir wahrnehmen. Hinter der scheinbaren Kontinuität verbirgt sich das Auseinanderbrechen eines Mondes. Es handelt sich um die Überreste einer Zerstörung. Der von Sebald gewählte Titel erweist sich, betrachtet man die Struktur des Werks, als in vielerlei Hinsicht programmatisch. Dieses scheint letztlich einem klassischen Aufbau zu folgen, da die Erzählung in zehn Kapitel eingeteilt ist. Sie berichtet von der Wanderung eines Erzählers, der zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem Autor aufweist, in der englischen Grafschaft Suffolk. Das erste und das letzte Kapitel etablieren für die Erzählung insgesamt eine rückblickende Perspektive, wobei der Erzähler in diesen Rahmenkapiteln die Umstände seiner Reise darlegt. Ein Inhaltsverzeichnis übernimmt sogar für den Leser die Rolle einer Orientierungstafel. Diese Vorsichtsmaßnahme ist sicher nicht unnötig, wenn man die Vielzahl von Elementen betrachtet, die dem Text seine Dynamik verleihen. Denn hinter der klaren Ordnung des Erzählens verbirgt sich ein ungewöhnlich beziehungsreicher thematischer Überfluss. Nach und nach entdeckt der Leser die Geschichte der Heringsfischerei, die Seidengewinnung in China und deren Export nach Europa, er folgt Borges bis nach Tlön, trifft den Major Le Strange, der das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreite, er taucht ins Herz der Finsternis ein, indem er Conrad in den belgischen Kongo folgt usw. Während die Wanderung selbst einen linearen und chronologischen Verlauf nimmt, tauchen die geschilderten Gegenden und Epochen plötzlich aufgrund von unerwarteten Begegnungen, Ideenverbindungen und Zufällen auf. Hier sind zwei unterschiedliche Logiken am Werk, die nicht in Widerspruch zueinander treten, sondern die Grundlage eines Raums subjektiver Welterfahrung bilden – und eine kartographische Herausforderung darstellen. Bereits bei der ersten Lektüre von Sebalds Werk fällt dessen topographische Dimension auf, schon allein deshalb, weil die Struktur der Erzählung von der Wegstrecke einer Wanderung, deren einzelne Etappen peinlich genau beschrieben werden, vorgegeben wird. Schritt für Schritt vermessen wir ein Territorium. Die Bedeutung des Ortes beschränkt sich jedoch nicht auf seine Funktion als Etappe in der Erzählung. Toponyme spielen vielmehr eine entscheidende Rolle, und zwar sowohl weil sie die Erzählung in der Welt zu verankern vermögen als auch wegen ihres poetischen Potentials. Die kartographische Versuchung ist also stark; dies wird auch von der recht erstaunlichen Tatsache unterstrichen, dass es bereits zwei, auf beiden Seiten des Atlantiks erarbeitete Vorschläge einer kartographischen Darstellung der Ringe des Saturn gibt. Der erste schlägt eine Kartographie vor, der zweite fällt in den Bereich der Geolokalisierung.
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I. E INE K ARTOGR APHIE DER R INGE DES S ATURN Im Jahr 2007 haben wir eine kartographische Darstellung vorgeschlagen, die die Ausführungen einer Dissertation über Sebalds Schreiben unterstützt (vgl. Covindassamy 2007). Die Dissertation zielte auf das Herausarbeiten der Kohärenz der Sebald’schen Schreibverfahren, die als »(sich) verschiebendes Schreiben« (écriture en déplacement) charakterisiert wurde. Sebald verbindet verschiedene Verfahren. Sobald man eines seiner Bücher öffnet, ist man mit sehr verschiedenartigem Material konfrontiert, das aus Photographien, Gemäldereproduktionen, aber auch fremdsprachigen Elementen besteht. In seiner Arbeit verbindet Sebald hier und dort zusammengetragene Materialien. Die Konfiguration kann Lévi-Strauss’ »Bricolage« zugeordnet werden (vgl. Lévi-Strauss 1962): die Elemente werden zu Teilen eines Ganzen, anstatt einander gegenübergestellt oder aneinandergeklebt zu werden. Sebald lässt mehr oder weniger auffällige oder verkürzte Zitate in die deutsche Sprache einfließen und lässt die Figuren ohne den Einsatz von Anführungszeichen sprechen: heimlich wechselt die Stimme den Sprecher. Insgesamt begründet diese Konfiguration eine ständige Verschiebung (déplacement) der Erzählerposition, die sich in der Konstruktion des Werks widerspiegelt. Im Fall der Ringe des Saturn wird die Kapitelstruktur durch Vernetzungs-, Wiederholungs- und Spiegelungseffekte ausgeglichen, die dem Gesamtgerüst Bewegung einhauchen. In diesem Zusammenhang also war die Untersuchung der Ortswechsel im Raum (déplacements spatiaux) sinnvoll. Es konnte gezeigt werden, wie diese Wechsel (déplacements) von einem Ort zum anderen bei weitem nicht alle mit Hilfe von Verkehrsmitteln bewerkstelligt wurden. In Wahrheit beruhen, wie die aufmerksame Lektüre des Textes zeigt, die Übergänge auf Ideenverbindungen und Assoziationen, die zugleich räumliche Übergänge darstellen. Im vierten Kapitel erläutert der Erzähler beispielsweise: »So unbegreiflich mir diese Dinge von jeher gewesen sind, so unmöglich war es mir auch an jenem Abend auf dem Gunhill von Southwold, wirklich zu glauben, daß ich vor genau einem Jahr vom holländischen Strand aus nach England hinübergeschaut hatte. Ich war damals, nach einer bösen, in Baden in der Schweiz verbrachten Nacht über Basel und Amsterdam nach Den Haag gefahren und hatte mich dort in einem der zweifelhaften Hotels am Stationsweg einquartiert« (Sebald 1997: 99).
Das Hier und Jetzt des Erzählens wird unablässig und so gründlich mit der Vergangenheit und mit den verschiedensten Orten verschmolzen, dass es nicht mehr wirklich legitim ist, die Haupterzählung gegenüber den Abschweifungen zu bevorzugen. Die für die Erzählung vorausgesetzte Hierarchie löst sich im Schreiben auf. Indem die räumliche Dimension des Textes genauer in den Blick kam, konnte gezeigt werden, dass Sebalds Schreiben zwar mit räumlichen Brüchen, zugleich aber mit assoziativen, verdichtenden und verschiebenden Übergängen operiert,
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die deren disruptiven Effekt beseitigen und das Gefühl des Schwindels verstärken. Eine der erstaunlichen Schlussfolgerungen der Untersuchung bestand darin, eine Entsprechung in der Handhabung von Syntax und Lexik festzustellen. An einzelnen Stellen werden syntaktische Einheiten buchstäblich verschoben, während das Vokabular auch vor Archaismen und Regionalismen nicht Halt macht, wodurch der Leser überrascht bzw. in seinen Erwartungen enttäuscht wird. Die Perspektive des kartographischen Ansatzes war also eng umrissen. Es ging darum, die graphische Darstellung des Raums und dessen diskursive Konstruktion einander gegenüberzustellen, um die Besonderheit des Sebald’schen Schreibens besser nachvollziehen zu können, und nicht etwa um den Anspruch, Sebalds Erzählung in (karto-)graphischer Form zu transkribieren. Das kartographische Projekt hatte ein heuristisches Ziel und fügte sich ganz klar in den Zusammenhang einer literarischen Theoriebildung ein. Ein ursprünglich von der Geographie entwickeltes und bereits von mehreren Geistesund Sozialwissenschaften wie der Historiographie, der Kunstgeschichte oder der Archäologie als disziplinübergreifendes Darstellungsmittel verwendetes Werkzeug wurde in den Dienst der Untersuchung von Literatur gestellt. Das Zurückgreifen auf die Kartographie war keinesfalls metaphorisch; es handelte sich um eine Zusammenarbeit der Disziplinen, nicht um einen Transfer. Es ergaben sich fünf Schwierigkeiten. Zunächst einmal diejenige der sehr großen Zahl an Toponymen. Einige dienen dazu, den Ort einer Handlung anzugeben, aber sehr viele werden auch scheinbar zufällig genannt, zum Beispiel bei der Angabe der Erscheinungsorte von Büchern oder in Titeln von Gemälden. Musste zwischen durchwanderten Orten und erwähnten Ortsnamen unterschieden werden? Nur die Orte der Handlung zu berücksichtigen, hätte geheißen, die poetische Dimension der Toponyme vollkommen außer Acht zu lassen. Denn indem er nebenbei Basel, Amsterdam oder Den Haag erwähnt, ruft Sebald bei dem einen Leser das Bild von Schokolade, Coffee Shops und Internationalem Strafgerichtshof hervor, bei dem anderen Uhren, Tulpen und das Mauritshuis. Dies gilt auch, wenn der Ort nicht Schauplatz einer Handlung ist, wie es das folgende Beispiel aus dem letzten Kapitel des Buches zeigt: »Die Gründe, die von Maximilien de Béthune, Duc de Sully, seinem Souverain gegenüber ins Feld geführt wurden, finden sich zusammengefaßt im sechzehnten Buch seiner Memoiren, die, seit ich von diesem Werk vor Jahren auf einer Auktion in dem nördlich von Norwich gelegenen Landstädtchen Aylsham eine schöne, 1788 bei F.J. Desoer in Lüttich, à la Croix d’or gedruckte Ausgabe für ein paar Schillinge erstanden habe, zu meiner liebsten Lektüre gehören« (Sebald 1997: 329).
Das Erwähnen von Norwich, wo der Erzähler das Werk gekauft hat, ist gleich wichtig wie dasjenige von Lüttich, wo das Buch veröffentlicht wurde. Für den Leser haben die beiden Toponyme dieselbe evokative Wirkung. Folglich war es,
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um tatsächlich ein Projekt literarischer Kartographie zu verwirklichen, notwendig, alle Toponyme zu berücksichtigen. Die Aufgabe war sehr umfangreich. Die zweite Frage betraf die geographische Lokalisierung der Orte. Insofern der Text sehr unterschiedliche Länder erwähnt, stellte sich ein Problem in Bezug auf den Maßstab. Es war unmöglich, einerseits die Länder und andererseits detailliertere Informationen (Städte, Dörfer, Grafschaften) lesbar aufzunehmen. Wir haben uns deshalb entschieden, die Lokalisierung auf der Ebene der Länder vorzunehmen, wobei wir uns der durch diese Wahl geschaffenen Ungenauigkeit wie auch der Frage der zeitlichen Dimension der Grenzen voll bewusst waren.1 Insofern als das Werk 1995 geschrieben wurde und der aktuelle Leser des Buches immer noch dieselben Grenzen im Kopf hat, erschien es uns jedoch legitim, die aktuellen Grenzen beizubehalten, ohne die genannte Epoche zu berücksichtigen. Parallel dazu haben wir, um die zeitlichen Verschiebungen (déplacements temporels) abzubilden und weil sich unsere Untersuchung ja auf raum-zeitliche Übergänge richtete, ein Schaubild vorgeschlagen, das die genannten Zeitpunkte (von 2700 v. Chr. bis 1995) ins Verhältnis zur Zeit der Erzählung setzt. Die Erzählung selbst enthält zwei räumliche Bezugssysteme: dasjenige des Berichts der Fußwanderung und dasjenige der anderen assoziativ aufgerufenen Orte. Wir haben deshalb Karten in zwei unterschiedlichen Maßstäben präsentiert, einmal eine Karte von Suffolk, die zur Rahmenhandlung gehört, und eine Weltkarte, in der alle im Buch genannten Orte verzeichnet sind. Die Trennung der Bezugssysteme voneinander erlaubte es, die zweite Schwierigkeit teilweise zu lösen, insofern wir so die Orte in Suffolk präzise darstellen konnten. Aber das Argument war noch nicht ausreichend. Wenn wir schließlich zwei Kartentypen verwendeten, so geschah dies mit dem Ziel, die narrative Schichtung der Erzählung graphisch deutlich herauszustellen. Die Trennung der beiden Ebenen hat es im weiteren Fortgang der theoretischen Arbeit erlaubt, die Frage ihrer Verbindung, also der Übergänge zwischen den beiden narrativen – und räumlichen – Bezugssystemen präziser zu stellen. Die Weltkarte, die die assoziativ erwähnten Orte darstellt, warf eine neue Art von Frage auf. Wie konnte die Verkettung der Orte bzw. anders gesagt diejenige der Ortswechsel (déplacements) berücksichtigt werden? Ein System von Pfeilen wäre aufgrund von Überschneidungen vollkommen unlesbar gewesen, wie auch eine Nummerierung der Orte, da einige sehr häufig und an verschiedenen Stellen der Erzählung vorkommen. Außerdem war es unmöglich, eben weil eine große Zahl der Orte wiederholt vorkommt, die Frage nach der Darstel1 | Thierry Joliveau hat uns auf die Möglichkeit hingewiesen, eine auf das Baryzentrum des jeweiligen Landes bezogene Darstellung zu wählen, wodurch es möglich gewesen wäre, die Wichtigkeit eines Ortes je nach der Häufigkeit seines Vorkommens graphisch zu zeigen und dabei den Effekt der Größe des Landes zu vermeiden. Wir möchten ihm hier sehr herzlich für diesen wertvollen Hinweis danken.
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lung der Dichte zu umgehen. Dieser Punkt ist keinesfalls zu vernachlässigen, insofern Wiederholungen die Grundlage für die bereits erwähnten Effekte der textuellen Netzbildung und Resonanz darstellen. Schließlich machte das Verzeichnen aller Orte auf einer einzigen Karte diese praktisch unlesbar. Auch hier bot die Konzentration auf die literarische Komposition eine Lösung. Das Kapitel bildet eine bedeutungstragende Einheit des Buches. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, eine Karte pro Kapitel anzufertigen, was es ermöglichte, die Organisation des literarischen Textes wiederzugeben und zugleich ein lesbares Resultat zu erhalten. Um die Wiederholungseffekte sichtbar zu machen, haben wir die Karte des ersten Kapitels auf Papier und die weiteren auf Folie entworfen. Das Übereinanderlegen erlaubt es dann, die Dichte sichtbar zu machen. Damit stellte sich eine letzte Frage. Musste der Kartengrund gezeigt werden? Die Antwort ging aus dem Ziel hervor, das wir uns gesetzt hatten. Unsere Arbeit bestand nicht darin, Orte auf einem Kartengrund zu platzieren, dessen Bezugssystem die wirkliche Welt ist. Vielmehr ging es in unserer Untersuchung um eine andere Realität: diejenige der Literatur, der Sprache, und also des Signifikanten. Genau diese Unterscheidung zwischen Referent und Signifikant legitimierte bereits das Berücksichtigen aller Toponyme, unabhängig von deren eigentlich räumlicher Rolle im Text. Hier wiederum implizierte sie das Weglassen des Kartengrunds. So konnten wir die Orte nach und nach, Kapitel um Kapitel, auf einem weißen Hintergrund erscheinen lassen, genauso wie sie auf dem weißen Grund der Buchseite erscheinen. Unser kartographisches Unterfangen strebte danach, eine graphische Formalisierung des literarischen Raums der Ringe des Saturn vorzuschlagen, wobei Referent und Signifikant klar voneinander getrennt werden sollten. Die Relevanz der Darstellung auf einer Erdkarte liegt also nicht in der Projektion der Angaben im Text auf ein referentielles Substrat. Ihre Legitimation liegt vielmehr in der mentalen Vorstellung, die wir von der Weltkugel haben: seit frühester Kindheit verorten wir Länder gemäß dieser graphischen Konstruktion. Dank des auf diese Weise entwickelten kartographischen Verfahrens wurde nicht den Orten des Textes ein referentieller Standort zugewiesen, sondern es wurden vielmehr die Konturen des Textes gezeichnet. Die überraschende Feststellung war, dass das Übereinanderlegen der Karten beinahe den gesamten Globus entstehen ließ. Erst hier kam uns die ganze räumliche Ausdehnung des Textes zum Bewusstsein. Dass sie unerwartet war, machte diese Schlussfolgerung umso interessanter. Das Übereinanderlegen der Karten erlaubte die Gegenüberstellung der graphischen Anschauung der räumlichen Schichtung mit dem von der Textlektüre hervorgerufenen Eindruck: die Sebald’sche Kunst des Übergangs besteht darin, dass wir gerade nicht den Eindruck haben, von einem Ende des Planeten zum anderen bewegt zu werden. Dieser Gegensatz zwischen der graphischen Darstellung und der Erzählung hat eine genauere Beobachtung der Sebalds Schreiben eigenen ästhetischen Konfiguration ermöglicht.
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II. E INE G EOLOK ALISIERUNG DER R INGE DES S ATURN Mit großer Überraschung entdeckten wir einige Zeit nach der Verteidigung der Dissertation im Internet eine weitere Karte der Ringe des Saturn.2 Barbara Hui schlägt eine Geolokalisierung der in Sebalds Buch genannten Orte auf Google Map vor. Die Karte ist also interaktiv und beruht auf einem Satellitenbild. Dieses Vorhaben ist Teil der Doktorarbeit der Autorin, die sich mit »narrativen Netzwerken und der Kartographie der Literatur am Anfang des 21. Jahrhunderts« (vgl. Hui 2010a) beschäftigt. Der Titel der Arbeit ist deutlich: zu einem Zeitpunkt, da der spatial turn einen prägenden Einfluss auf die kulturelle Produktion hat, entwickelt Barbara Hui eine kartographische Methode, deren Ziel es ist, auf den gesamten literarischen Bereich anwendbar zu sein. Ihre Kartographie der Ringe des Saturn versteht sich also als Beispiel. Der Text Sebalds hat die Funktion, eine allgemeine Methode zu illustrieren. Ihre Vorgehensweise unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht grundlegend von der unseren. Der erste Vorteil ihrer Arbeit besteht mit Sicherheit in der Verwendung einer Internetkarte. Sie löst damit das angesprochene Problem des Maßstabs, insofern der Leser heranzoomen kann, um ein geographisches Gebiet im Detail zu sehen, oder auf Distanz gehen kann, um den Gesamteindruck zu untersuchen. Der zweite Vorteil, der sich aus dem ersten ergibt, besteht darin, dass diese Darstellung es erlaubt, die Orte präzise zu lokalisieren, und zwar nicht mehr mit Bezug auf ein Land, sondern in Abhängigkeit von den Toponymen. Umgekehrt können aber Länder in ihrer Gesamtheit nicht berücksichtig werden. Die Lesbarkeit der Karte beruht auf einem chromatischen Prinzip, das auf der Unterscheidung zwischen der Wanderung in Suffolk und dem Erwähnen von Orten basiert. Hier findet sich also das narratologische Kriterium wieder, das wir ebenfalls angewandt hatten. Die vom Erzähler 1992 durchwanderten Orte sind 2 | Die Karte der Ringe des Saturn kann auf der Website http://barbarahui.net/litmap/ als Beta-Version angesehen werden (letzter Aufruf am 18.7.2012). Obwohl sein Titel diesen Anschein erweckt, setzt ein von der Autorin publizierter Artikel (vgl. Hui 2010b) sich nicht mit den methodologischen Entscheidungen auseinander, die die Geolokalisierung rechtfertigen. Die Autorin scheint von einer Gleichsetzung von Signifikat und referentieller Realität auszugehen, was sie dazu bringt, auf faktische Irrtümer Sebalds hinzuweisen, wobei sie allerdings zugesteht: »[u]ltimately, Sebald is more interested in composing a cogent work of art […] than he is in exhaustively researching the basis of his descriptions for strict factual accuracy« (ebd.: 284). Dieser Punkt würde eine Begründung der Wahl der Geolokalisierung erfordern. Der Artikel setzt sich mehr mit der Vorstellung des Raums in Sebalds Arbeit auseinander, die sich in einem Spannungsfeld zwischen Postmoderne und dem Renaissance-Denken Thomas Brownes bewege; dies würde eine ausführlichere Diskussion erfordern, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht vorgenommen werden kann.
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rot geschrieben, während die erwähnten Orte blasslila dargestellt sind. Die verwendete Nummerierung entspricht den Etappen der Reise, nicht den Kapiteln des Buches. Dieser kartographische Vorschlag berücksichtigt also das Kriterium der Sinneinheit (Etappe der Reise) und nicht dasjenige der das ästhetische Objekt strukturierenden Einheit (Kapitel). Die Verbindung zwischen Text und Karte, die wir mit Hilfe von Legenden und der Einteilung in Kapitel hergestellt hatten, ist hier geschickt durch ein System interner Links verwirklicht. Auf der rechten Bildschirmseite erscheinen (in englischer Übersetzung) die Zitate, die den lokalisierten Punkten entsprechen. Wenn auf das Zitat geklickt wird, wird die Karte automatisch auf den korrespondierenden Punkt zentriert. Umgekehrt erscheint, wenn man auf einen Punkt klickt, die Nummer und das Zitat kann auf der rechten Seite gefunden werden. Die Konfiguration stellt also eine systematische Entsprechung zwischen Buch und Karte her. Eine doppelte Nummerierung klassifiziert die Zitate: eine erste Nummer verweist auf die Etappe der Wanderung (rote Punkte), während eine zweite den räumlichen Verweis im Textverlauf platziert. Andere Schwierigkeiten sind jedoch nicht gelöst. Eine vergleichende Untersuchung des Textes und der rechten Bildschirmspalte zeigt, dass nicht die Gesamtheit der Toponyme Berücksichtigung gefunden hat. So ist die Angabe des Erscheinungsortes in dem oben genannten Beispiel, Lüttich, nicht lokalisiert, obwohl die Stadt in dem Zitat, das die Lokalisierung Aylshams ergänzt, ebenfalls vorkommt (45.12). Weiterhin besteht eine der Beschränkungen der Arbeit in der Tatsache, dass immer nur eine einzige Referenz auftaucht, wenn man auf einen Punkt klickt. Im Fall der Stadt Nantes erhält man so die Referenz 45.13, die das Edikt von Nantes erwähnt, aber man wird nicht auf die Referenzen 45.16 und 45.21 verwiesen, wo das Edikt ebenfalls angesprochen wird. Man sieht also deutlich, dass das Verzeichnis unvollständig ist, obwohl das Instrument prinzipiell ein vollständiges Verzeichnis ermöglicht hätte. Allerdings hätte dann die Karte weitaus komplexer sein müssen und die Gesamtzahl der zu erwähnenden Zitate wäre deutlich größer gewesen. Im Falle der mehrfach erwähnten Orte gibt es also ein nicht gelöstes Problem. In einem Ansatz, der sich auf den Signifikanten konzentriert, müsste jedes Vorkommen jedes Elements genannt werden. Bei einem referentiellen Vorgehen kann tatsächlich mit Zusammenfassungen gearbeitet werden, was allerdings keine Rechtfertigung dafür liefert, bestimmte Toponyme wegzulassen. Die Frage des Ortswechsels (déplacement) von einem Punkt zum anderen wiederum wird teilweise beantwortet. Die Punkte sind mit weißen oder orangefarbenen Linien verbunden, während die Zitate am rechten Bildrand gemäß dem linearen Verlauf des Textes aufeinander folgen. Während die Abfolge der Zitate es erlaubt, die Kontinuität des Textes in einer nicht graphischen Art und Weise nachzuvollziehen, sind die die Punkte verbindenden Linien ihrerseits weder erhellend noch lesbar: sie schneiden sich und können die Richtung der Textentwicklung nicht deutlich machen. Ohne Legende braucht man eine gewisse Zeit,
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um zu begreifen, warum es orangefarbene Linien gibt. Die Erklärung findet sich zwar in einer auf der Website verfügbaren Darstellung der Autorin, aber ohne dass diese auf der Kartenseite verlinkt würde. Diese Linien repräsentieren die im fünften Kapitel nachgezeichneten Reisen (déplacements) Joseph Conrads, die einen der Umwege der verschlungenen Erzählung Sebalds darstellen. Es ist schwer zu verstehen, warum Barbara Hui gerade diese Strecke hervorhebt. Die Autorin weist zwar darauf hin, dass das Prinzip auf andere Strecken ausgeweitet werden soll, die dann also ausgehend von einem thematischen Prinzip visuell zusammengefasst würden. Die Frage erscheint jedoch berechtigt, ob diese Wahl nicht zu einer Zersplitterung der graphischen Darstellung und zu einer künstlichen Trennung der Lokalisierungsebenen führt, die im Text doch gerade untrennbar verbunden sind. Der Umweg über das Leben von Conrad wird selbst durch die Erwähnung der Erinnerungen des Erzählers während eines Aufenthalts in Brüssel unterbrochen, wo Conrad Jahre früher gewesen war. Wodurch sollte es gerechtfertigt sein, diese Ebenen voneinander zu trennen? So sehr die Unterscheidung zwischen der Ebene der Wanderung und den assoziativen Erwähnungen auf der narrativen Konfiguration selbst beruht, so sehr gehört die vorliegende Einteilung zu einer thematischen Herangehensweise, die nicht mehr eigentlich mit der Literarizität des Werks zusammenhängt. Die diesbezüglich von der Autorin gelieferten Erklärungen zum Begriff des Netzes erlauben keine Beantwortung der Frage. Barbara Hui schreibt: »The network is here is [sic!] conceived of in both concrete and abstract terms. It includes not only physical networks (wired communication networks, transportation networks etc.) but also the colonial, imperial, migratory, and linguistic networks constituted by the movements of people, goods, and ideas across geographical space. Additionally, it includes imaginary networks. […] The kinds of networks illustrated via Litmap are numerous, with each narrative containing one or often multiple networks, each of a unique configuration. Depending on the kind of spatial information given in each narrative, these networks are plotted with varying degrees of geospatial precision. Sometimes it is possible to map a piece of literature almost entirely down to the street level, while at other times the text requires much more subjective and abstract spatial renderings« (http://barbarahui.net/the-litmap-project vom 29.6.2012).
In Wahrheit veranschaulichen die Linien, die in der Geolokalisierung der Ringe des Saturn die Punkte verbinden, keine Netze; sie versuchen vielmehr, die diskursive Linearität des Textes wiederzugeben, indem sie die im Text nacheinander erwähnten Orte zueinander in Beziehung setzen. Netze zu veranschaulichen würde hingegen heißen, die Knotenpunkte zwischen Passagen des Textes herauszustellen, die sich entsprechen, aber eben gerade nicht aufeinanderfolgen. Und in dieser Perspektive wäre es kaum aussagekräftig, die räumlichen Angaben des Textes gegenüber anderen Aspekten hervorzuheben. Solche Verbindungen werden von Sebald sehr subtil hergestellt, etwa durch die Wieder-
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holung eines Adjektivs oder einer Formulierung oder auch durch sich ähnelnde Bilder. Jeder Leser ist hierfür je nach seiner persönlichen Erfahrung oder Sensibilität mehr oder weniger empfänglich (vgl. Covindassamy 2007: 217-267).
III. D IE EPISTEMOLOGISCHE D IMENSION DER K ARTOGR APHISCHEN E NTSCHEIDUNGEN Zusammenfassend kann eine Tabelle (vgl. Abb. 1) den Unterschied zwischen den beiden kartographischen Ansätzen darstellen. Merkmal
Karte von M. Covindassamy und G. Djament
Karte von B. Hui
Kartentyp
Papier, statisch
Computerkarte, interaktiv
Kartengrund
Kein einen referentiellen Raum darstellender Kartengrund
Google Earth
Maßstab
Regional und global
Vom Leser frei wählbar
Organisation der Vielzahl räumlicher Bezüge
Klarsichtfolien
Zoomen
Bezug zum Text
Position des Ortes im Text
Möglichkeit der Gegenüberstellung von Ort und Text (Hyperlinks)
Darstellung der Ortswechsel (déplacements)
Pfeile für physische Ortswechsel, sukzessives Eintragen des Raums bei Erwähnung räumlicher Bezüge
Nummerierung der physischen Ortswechsel, orangefarbene und weiße Striche für die Erwähnung der räumlichen Bezüge
Methodologie
Spezifisch für Sebalds Schreiben entwickelt
Auf alle literarischen Texte anwendbar
Wissenschaftliche Zielsetzung
Verdeutlichung eines »(sich) verschiebenden Schreibens« (écriture en déplacement)
Kulturelle Geographie
Abbildung 1
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Jenseits dieses Detailvergleichs besteht der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Ansätzen in ihrer jeweiligen epistemologischen Reichweite. Wie Barbara Hui selbst einräumt, unterscheidet sich ihr Projekt nur wenig vom Projekt Gutenkarte. In beiden Fällen geht es darum, die geographischen Angaben eines literarischen Textes auf einem referentiellen Bild zu verorten. Grundsätzlich gehört diese Art von Ansatz immer noch zum dritten von Jean-Marc Besse in seinem eingangs zitierten Artikel herausgearbeiteten Modell: es geht darum, Ortswechsel in einem referentiellen Raum zu lokalisieren, um die »literarischen Aktivitäten und Vorstellungswelten« zu verstehen. Barbara Huis erklärtes Ziel besteht also darin zu zeigen, dass Sebald »in den Ringen des Saturn eine verräumlichte Sicht der Geschichte« verwirkliche, »die das Lokale als global definiert« verstehe.3 Es handelt sich also um die Anwendung eines geographischen Ansatzes auf einen literarischen Text des beginnenden 21. Jahrhunderts, um so Schlussfolgerungen hinsichtlich eines Dar- und Vorstellungsraums zu ziehen und letztlich in kulturwissenschaftlicher Perspektive einen Vergleich verschiedener Werke vorzunehmen: »Mapping various texts throws the geographical/ spatial specificities of each into relief. (This will become much clearer when I’ve completed the mapping of the 2nd book, which is in progress. The differences are pretty remarkable)« (http://barbarahui.net/2009/06/02/litmap-presentation-notes vom 29.6.2012). Das verfolgte Ziel besteht also in einem Vergleich der Räumlichkeit in den Werken. An anderer Stelle präzisiert Hui: »Litmap was created with the goal of enabling humanities scholars to read literature spatially – a mode of reading which I believe to be crucial to understanding contemporary literature and textuality at large today. The Litmap application aims to leverage the strengths of the digital computing platform to present literary narratives in a way that opens up spatial readings of those texts« (ebd.).
Hier sind mehrere Bemerkungen notwendig. Zunächst einmal ist leicht festzustellen, dass es in Wahrheit nicht darum geht, die eigentlich literarische bzw. ästhetische Dimension des Werks zu untersuchen, sondern vielmehr darum, dieses einer räumlichen Lektüre zu unterziehen, die Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Offenheit von Texten einer Epoche für Räumlichkeit erlauben soll. Die Literatur wird hier exemplarisch bzw. als Manifestation eines kulturellen Augenblicks zitiert. Der Ansatz ist also Teil der Cultural Studies und insofern vollkommen angemessen. Die Wahl eines Satellitenbilds als Karteninhalt wird so ebenfalls verständlich. Es geht darum, die Orte in einem objektivierten
3 | »[…] in The Rings of Saturn, Sebald illustrates a spatialized view of history that sees the local as globally defined« (http://barbarahui.net/2009/06/02/litmap-presentationnotes vom 29.6.2012).
D ER L ITERATUR IN DIE K ARTEN SCHAUEN
Raum zu platzieren, der für mehrere Texte als gemeinsame Referenz bzw. als Vergleichspunkt dient. Unser Vorschlag ging von ganz anderen Prämissen aus. Wir haben nicht versucht, das Verhältnis des Textes zum Raum zu ermitteln. Das Ziel bestand im Gegenteil darin, das Gebiet zu zeigen, das von dem Text skizziert wird, und zwar nicht im realen Raum, sondern auf dem weißen Blatt. Genau dies zeigt das Erscheinen der erwähnten Orte auf einem weißen Hintergrund bzw. ohne Kartengrund. In einer letztlich von Deleuze inspirierten Perspektive zielte unser Vorhaben darauf, die in den Ringen des Saturn wirksame Territorialisierung graphisch wiederzugeben und zu erklären, worin es der kartographischen Darstellung gerade nicht möglich war, diese vollständig abzubilden. Die graphische Einebnung erlaubte es nicht, die von zahlreichen Umwegen gekennzeichnete, die Fluchtlinien der Erzählung einer Wanderung skizzierende Komposition des Textes aufzuzeigen. Das ad hoc erarbeitete kartographische Dispositiv hat einen Vorzug: es versucht nicht, den Text zu stabilisieren oder ihn auf den Punkt zu bringen. Es versucht vielmehr, eine seiner Linien darzustellen, und zwar die räumliche.4 Insofern hat es dazu beigetragen, die theoretischen Merkmale eines (sich) verschiebenden Schreibens (écriture en déplacement) und nicht eines Schreibens der Verschiebung (écriture du déplacement) zu bestimmen (vgl. Covindassamy 2007: 19-22). Ein Schreiben der Verschiebung zu untersuchen hätte dazu geführt, die im Text konkret genannten Ortswechsel thematisch zu untersuchen und die ihnen entsprechende Vorstellungswelt zu analysieren. Zu zeigen, dass Sebalds Schreiben sich in Verschiebung (en déplacement) befindet, erforderte dagegen, sich Punkt für Punkt mit seinen stilistischen Entscheidungen auseinanderzusetzen, um zu demonstrieren, wie das In-Bewegung-Setzen des Textes mit einer ethisch ausgerichteten Emotion verbunden ist. Die Unzulänglichkeiten der graphischen Formalisierung haben so einen theoretischen Fortschritt der literarischen Konzeptualisierung erlaubt. Genereller gesprochen wirft der Vergleich der beiden kartographischen Versuche die Frage nach dem Verhältnis von Geographie, literarischer Theoriebildung und Kulturwissenschaft auf. In dem einen Fall wird ein von der Geographie erarbeitetes Instrument für die Literaturtheorie nutzbar gemacht und erlaubt ihr, in der Konzeptualisierung eines ästhetischen Objekts Fortschritte zu machen. Im anderen Fall wird die geographische Perspektive (die Geolokalisierung) auf das Buch angewandt, um eine generelle Tendenz auszumachen – die Schlussfolgerungen, die sich auf dieser Grundlage ziehen lassen, gehören da4 | Vgl. Deleuze/Parnet (1996: 34): »Penser, dans les choses, parmi les choses, c’est justement faire rhizome, et pas racine, faire la ligne, et pas le point« (»In den Dingen, inmitten der Dinge denken: genau so bildet sich ein Rhizom und keine Wurzel. Es auf die Linie bringen, und nicht auf den Punkt«). Genau hierin besteht der Prozess der Territorialisierung und der Deterritorialisierung: Fluchtlinien zu skizzieren.
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mit zu einem umfassenderen Bereich, den Kulturwissenschaften. Umgekehrt ziehen sie die Literarizität des Textes kaum noch in Betracht und konzentrieren sich auf dessen Referentialität. Obwohl der Untersuchungsgegenstand derselbe ist, hat sich also gezeigt, dass es in Wahrheit um zwei grundlegend verschiedene epistemologische Bereiche geht, die sich ausgehend davon bilden, was die graphische Darstellung zu zeigen versucht. In dem einen Fall ein kontrastiver Versuch, der darauf zielt, einen aus Sprache bestehenden ästhetischen Gegenstand zu erfassen, im anderen eine Suche nach der topographischen Dimension des Textes als Symptom einer kulturellen Wende – wobei der untersuchte Text zum Bereich der Ästhetik gehören kann oder auch nicht. Aus dem Französischen von Matthias Zach
L ITER ATUR Besse, Jean-Marc (2010): »Approches spatiales dans l’histoire des sciences et des arts«, in: L’Espace géographique 39: 3, S. 211-224. Covindassamy, Mandana (2007): À l’épreuve du dépaysement. W.G. Sebald. Cartographie d’une écriture en déplacement. Unveröffentlichte Dissertation, Paris IV-Sorbonne (eine überarbeitete Version erscheint 2013 bei den Presses Universitaires de Paris Sorbonne). Deleuze, Gilles/Parnet, Claire (1996): Dialogues, Paris: Flammarion (zuerst 1977). Hui, Barbara (2010a): Narrative Networks: Mapping Literature at the Turn of the 21st Century. Unveröffentlichte Dissertation, UCLA. — (2010b): »Mapping Historical Networks in Die Ringe des Saturn«, in: Markus Zisselsberger (Hg.), The Undiscover’d Country. W.G. Sebald and the Poetics of Travel, Rochester, NY: Camden House, S. 277-298. Lévi-Strauss, Claude (1962): La Pensée sauvage, Paris: Plon. Moretti, Franco (2009): Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Übers. Florian Kessler). — (1999): Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln: DuMont (Übers. Daniele dell’ Agli). Piatti, Barbara (2008): Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen: Wallstein. Sebald, W.G. (1997): Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt a.M.: Fischer (zuerst 1995).
II. ... und nicht so neue ...
Tafeln, Maßstäbe, Schachteln, Bäume Zum Gebrauch einiger räumlicher Schemata in der neuzeitlichen Geographie Jean-Marc Besse
I. Seit langem schon dienen Geographie und Kartographie als Bezugsrahmen für die Darstellung und gedankliche Vorstellung des Wissens, seiner Aufteilung und seiner Hierarchien. Wie man weiß, versuchten Leibniz, D’Alembert und Condorcet mehrfach, uns das Universum des Wissens nicht mit Hilfe des Baummodells, sondern der Karte vorzustellen. Diese spielte dabei die Rolle eines gedanklichen und zugleich anschaulichen Schemas, das von seinem »geographischen« Ursprungskontext abgelöst werden konnte, um ein Operator für die Anordnung verschiedenster Informationen zu werden, unerlässlich für die Orientierung des Wissens und innerhalb des Wissens. Diese »Kartierung« des Wissens wurde ebenfalls in spezifischeren Bereichen eingesetzt: Furetière zeichnete eine »Schlachtenkarte der Romane« (1659), Turgot entwarf eine Rede über die Universalgeschichte in Form einer Abfolge von sieben »mappemondes« (ca. 1750) und Strickland legte eine »Karte verwandter Vogelfamilien« (1840) vor, die mit Gewissheit einen Einfluss auf Darwin ausübte, als dieser auf der Suche nach einer geeigneten graphischen Darstellung der Evolutionstheorie war (Bredekamp 2005; Pagetti 2010). In diesen diversen Fällen hatte die Kartographie den Wert eines generellen methodischen und formalen Werkzeugs angenommen. Dieser Exportprozess der Geographie und der Kartographie über ihren primären Anwendungsbereich hinaus, und diese Weise, beide als Formen und Modelle der Erfassung, der Darstellung und des Verständnisses zu nutzen, die auf verschiedene kognitive Situationen anwendbar sind, erfahren heute in verschiedenen Bereichen der Kulturwissenschaften eine Bekräftigung: in der Philosophie, den Sozialwissenschaften, der Wissenschaftsgeschichte, der Äs-
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thetik, oder der Literaturtheorie.1 So wie vormals der »linguistic turn« die in den Sozialwissenschaften gültigen Methoden und Begriffe zutiefst affizierte, da er die strukturierende Präsenz sprachlicher Operationen in der Konstitution von Bereichen von Objektivität hervorhob, hat sich neuerdings in den zuvor erwähnten Disziplinen und im Rahmen einer Reflexion über ihre Methoden und Orientierungen die Idee eines »spatial turn« als ein neues erkenntnistheoretisches Dispositiv durchgesetzt. So ist es unter anderem aufschlussreich, den amerikanischen Theoretiker Fredric Jameson in seinen Analysen zur »kulturellen Logik des Spätkapitalismus« nach einer »kognitiven Kartographie« (»cognitive mapping«) rufen zu sehen, deren Aufgabe es ihm zufolge wäre, Fragen beim Entwurf eines neuen Modells für Kulturpolitik zu klären, ein Modell, das der heutigen Situation entspräche, in der Raumfragen ein »fundamentales Organisationsproblem« geworden seien (vgl. Jameson 1990: 51). Jameson bezieht sich auf das klassische Werk von Kevin Lynch, The Image of the City, und unterstreicht damit, inwiefern die kognitive Karte dazu bestimmt ist, »es dem Individuum zu gestatten, eine Darstellung seiner Situation in dieser riesigen und genau genommen undarstellbaren Totalität, der Gesamtheit aller gesellschaftlichen Strukturen, zu produzieren« (vgl. ebd.). In die gleiche Richtung geht das heute zu beobachtende Wiederaufleben des Interesses an der graphischen Form des Atlas in zahlreichen wissenschaftlichen und kulturellen Bereichen: Wissensgeschichte (Daston/Galison 2007), historische Anthropologie der Formen künstlerischen Ausdrucks, in der sich die Bedeutung des Bezugs auf den Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg erwiesen hat (Didi-Hubermann 2010; Michaud 1998), zeitgenössische künstlerische Praktiken, die auf die Form »Atlas« rekurrieren (u.a. Broodthaers, Richter, Delvoye), territoriale und städtebauliche Untersuchungen und Projekte, die sich als kartographische und photographische Atlanten präsentieren und entfalten (Koolhaas, Boerri, Herzog, de Meuron). In allgemeinerer Hinsicht haben die Problematisierung und die Praxis des Atlas die Hinterfragung der Explosion oder der Erneuerung der visuellen Techniken und Möglichkeiten der kulturellen Moderne begleitet (Castro 2011; Bruno 2002). Unabhängig von den in ihm dargestellten »Inhalten« (insbesondere solche geographischer Art) gibt der Atlas eine äußerst effektive Form der Schrift im weiteren Sinne ab. Als graphische und editoriale Form der Visualisierung, der Organisation, ja sogar der Erzeugung von Wissen, Bildern und Objekten, aber auch als Ort ihrer Bewahrung wird der Atlas letztendlich wie ein sowohl materielles
1 | Betreffend Ideen- und Wissenschaftsgeschichte z.B. das in Stanford unter der Leitung von Paula Findlen verwirklichte Projekt Mapping the Republic of Letters, oder auch das in Oxford beheimatete Cultures of Knowledge. An Intellectual Geography of the Seventeenth-Century Republic of Letters.
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als auch geistiges Dispositiv aufgefasst und verwendet, welches dazu bestimmt ist, die Lesbarkeit der Welt zu ermöglichen und zu organisieren. Auf spezifischere Weise ist die Frage, die sich heute stellt, inmitten dieser generellen Aktivierung des Bezugs auf den Raum und die Analyse seiner Formen in der zeitgenössischen Kultur, diejenige nach der Zentralität und der Potentialität einer im eigentlichen Sinne geographischen und kartographischen Problematisierung der kulturellen Phänomene, in den Bereichen des künstlerischen Schaffens, der philosophischen Reflexion und der Wissenschaftsgeschichte (Besse 2010). Was wäre dann der exakte Status der Geographie und der Kartographie, wenn sie in den Feldern der Kunst- oder der Wissenschaftsgeschichte angewendet werden? Es scheint nicht so, als ob sie lediglich in Hinsicht auf einen »Territorialitätsbezug« der Geschichte, der Kunst und der Wissenschaften gebraucht würden, zumindest wenn man diesen im sozusagen »klassischen« Sinn versteht. In dieser neuen Ausrichtung der historischen Forschung muss die Kartographie generell zu den graphischen Instrumenten aller Art gezählt werden, die es dem menschlichen Geist, der Gesellschaft usw. erlauben, Informationen, Angaben, Erkenntnisse und Ideen in räumlicher Form zu klassifizieren und darzustellen. Die Geographie und die Kartographie sind ebenfalls Analysewerkzeuge und -formen, Klassifikationssysteme und kognitive Praktiken, die unter anderem mit den Mitteln der Lokalisierung und Verräumlichung operieren. Anders gesagt, wie vor kurzem zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Kartographie und zur Anthropologie des Erkennens festgestellt haben: als eine Verschriftung konstruiert die Karte das Objekt, auf das sie sich richtet und das sie darstellt. Sie begnügt sich nicht damit, ein schon vorhandenes Objekt zu beschreiben, sondern ihr eignet in Bezug aufs Objekt eine instituierende, eine objektivierende, ja sogar eine heuristische Kraft. Die Verwendung der Kartographie in der Geschichte und in der Theorie der Künste, der Literatur, der Wissenschaft, weit davon entfernt, Palliativ oder Ornament zu sein, erlaubt somit, wie es scheint, eine konstitutive und bestimmende Dimension dieser Aktivitäten sichtbar zu machen (oder sie zu »entwickeln«, im photographischen Sinne), und zwar unter anderem ihre Lokalisierung, ihre Streuung und ihre räumliche Anordnung, ihre territoriale Einschreibung, ihre Zirkulation, und den Maßstab ihrer Entwicklung. Geographie und Kartographie sind Denkweisen, das Denken und die Erkenntnis (einschließlich geschichtlichen Denkens und geschichtlicher Erkenntnis, einschließlich in der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte) organisierende Schemata: epistemische Kategorien, wie Rogoff schreibt (2000). In der Vorrede zur Encyclopédie (1751) kommt D’Alembert auf die Frage der »enzyklopädischen Ordnung unserer Erkenntnisse« zu sprechen. Das Problem sei, so sagt er, gleichzeitig die Erkenntnisse auf dem kleinsten Raum zu versammeln und eine synoptische und synthetische Anschauung der Totalität dieser Erkenntnisse sowie der sie heimlich zusammenhaltenden Relationen zu ge-
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winnen. Wie soll diese Ordnung gedacht werden? Wie kann sie modelliert, wie gesagt werden? D’Alembert wählt die Kartographie: die Encyclopédie sei »eine Art von Weltkarte, welche die wichtigsten Länder zeigen soll, ihre Lage und ihre wechselseitige Abhängigkeit, den direkten Weg, der von der einen in die andere führt…«. D’Alembert fügt dem hinzu, dass die einzelnen Artikel wie »Sonderkarten« (heute würden wir von »Regionalkarten« sprechen) dieser Länder seien. Er erinnert sich vielleicht daran, Leibniz gelesen zu haben,2 der selber in der Traditionslinie der enzyklopädischen Reflexion der Spätrenaissance steht (Keckermann, Alsted), eine Reflexion, in der die Geographen vollkommen präsent waren (siehe insbesondere Hotson 2000; Hotson 2007; Siegel 2009). Die Tragweite dieser Analogie zwischen Kartographie und Enzyklopädie ist zu unterstreichen, insofern sie zur Umsetzung eines bestimmten Bildes vom Wissen (und von der Kultur) beiträgt. Wenn das Système figuré des connaissances wie eine Weltkarte ist, und sich die Artikel der Encyclopédie dazu wie Regionalkarten verhalten, läuft das darauf hinaus, dass die Enzyklopädie selbst, das heißt die Kultur, oder genauer die Gesamtheit der Möglichkeiten des Denkens ihrer Epoche, wie ein Raum ist (eher ein Raum als eine Oberfläche, da sich in der Folge des Textes von D’Alembert Überlegungen zur Projektion finden, welche belegen, dass er im Volumen denkt und nicht nur in der Fläche). Wenn es legitim ist, die kartographische Analogie in einer Reflexion über die Organisation des Wissens in Anschlag zu bringen, dann deswegen, weil sich die Erkenntnis gemäß einer ihr eigenen Räumlichkeit entfaltet, deren spezielle Züge es anzuerkennen gilt. Genauer: die kartographische Analogie läuft nicht darauf hinaus zu behaupten, dass sich die Erkenntnis im Inneren eines räumlichen Rahmens entfalte, der ihr vorausginge, sondern vielmehr, dass diese Erkenntnisaktivität selbst ihre eigenen Räume, ihre eigenen Territorien erzeugt oder ausbildet, und dass es im Grunde die Aufgabe des Enzyklopädisten und auch des Epistemologen ist, die Karte dieses neuen Universums zu zeichnen. Anders und weiter gefasst: der Philosoph befindet sich vor einer erstaunlichen Aussage. Es gibt Territorien des Denkens (und nicht nur ein Denken von Territorien), es gibt eine Geographie des Denkens und des Wissens, deren kartographische Erfassung in Angriff genommen werden kann. Diese Aussage ist erstaunlich, weil sie nicht ganz der traditionellen Konzeption der Erkenntnis und des Denkens entspricht. Und dies in zwei Punkten. Erstens wird traditionell (mindestens seit Augustinus) das Denken als nichträumlicher Akt präsentiert, als ein Akt, der eben darin besteht, sich den räumlichen Bedingungen zu entziehen. Der Begriff, als geistiger Akt der Synthese, ist das Element dieser Abstraktion, dieses Ausgangs aus dem Raum, und genauer 2 | »Habetur hactenus Atlas Geographicus. Item Atlas Astronomicus sive Cælestis. Mihi autem in mentem venit Encyclopædiam totam Atlante Quodam Universali egregie comprehendi posse« (Leibniz 1903: 222).
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der Distanz. Die Synthese erscheint als eine nicht räumliche. Und zweitens wird die Aktivität des rationalen Denkens, besonders bei der Erzeugung von Wissen, traditionell im Register der Zeit vorgestellt, in einer sich entwickelnden Zeitlichkeit. Die euklidische Geometrie bildet dafür das Modell: das Wissen und die Vernunft entwickeln sich aus einer kleinen Zahl von zu Beginn als wahr gesetzten Prinzipien, und diese Entwicklung ist wie eine Linie, die sich in der Zeit verlängert. Und dabei ist noch das Bild der Linie als irreleitend anzusehen, insofern es das Ziel des Mathematikers sein muss, auf einen einzigen Blick und in einer unmittelbaren Intuition die Gesamtheit eines Gedankengangs zu erfassen, und dabei mit einer unendlichen Geschwindigkeit die geistige Distanz zu überwinden, die die Voraussetzungen und die Schlussfolgerungen voneinander trennt. Vom Denken in räumlichen Begriffen zu sprechen ist für den Philosophen also nicht ungefährlich. Es führt zu einer Darstellung des Denkaktes und der Möglichkeiten des Denkens, die anscheinend eigenartig verschieden sind von denen, an die er gewöhnt ist. Wie können das Denken und der Erkenntnisakt konzipiert werden, wenn man gelten lässt, dass es einen Raum des Denkens (oder mehrere Räume), ein Territorium (oder mehrere Territorien) des Denkens gibt? Wahrscheinlich wären schöne Beschreibungen von diesen Geographien des Geistes zu geben, von diesen nahen und fernen Ländern des Denkens, den Grenzen der Erkenntnis, von diesen Schleichwegen, diesen mentalen Landschaften, diesen Reisen.
II. Über die programmatischen Perspektiven hinaus, die diese Überlegungen eröffnen, hätte man jedoch auch nicht übel Lust, die Untersuchung in einer dazu symmetrischen Richtung voranzutreiben. Dabei sollte es nicht darum gehen, die Modalitäten der Bezugnahmen auf die Geographie oder Kartographie zu befragen, die in den modernen und zeitgenössischen Wissens- und künstlerischen Kulturen in der Breite und der Tiefe des Verständnisses wirksam waren und sind. Sondern vielmehr darum, sich in der dem geographischen und kartographischen Wissen eigenen Geschichtlichkeit einzurichten und zu versuchen, die Funktionsweise von geistigen und metaphorischen Operationen – sozusagen in der Dichte der modernen geographischen Kulturen – zu beschreiben, d.h. Schemata eines Denkens, die gewissermaßen analog sind zu denjenigen Schemata, zu deren Ausdruck und Vehikeln die Geographie und Kartographie werden, wenn sie über ihren gewöhnlichen Bereich hinaus angewendet werden. Die Geschichte der Geographie hat heute immer noch den Anspruch, die multiplen Bedingungen und Modalitäten zu analysieren, nach denen sich Objektivität im geographischen Wissen konstruiert. Aber wie es auch in anderen
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Sektoren der Reflexion über die Wissenschaften der Fall ist, hat sie sich sensibilisiert für diejenigen Aspekte dieser Konstruktion, welche unter diesen Bedingungen und Modalitäten nicht nur zu logischen, modellhaften und theoretischen Verfahren gehören. Man weiß um die durchschlagende Wirkung der sozialwissenschaftlichen Studien zu Wissen und Wissenschaft auf die Epistemologie und die Erneuerung und Vertiefung ihrer Forschungsperspektiven. Wissenschaftliche Aktivität erscheint nunmehr zutiefst verwickelt zu sein in Institutionen, Praktiken, technische Dispositive, Gesten, Sprechweisen, sexuelle Differenzen und Orte (einigen zufolge ist sie sogar schlicht determiniert von ihnen). Jedoch darf man – außer den gerade genannten, diversen konkreten Bedingungen der Determinierung – auch das in Anschlag bringen, was man als »interne« Apriori der Wissensdiskurse und -praktiken bezeichnen kann, die sinnlichen Orientierungssysteme, die gewissermaßen der expliziten Entfaltung des wissenschaftlichen Diskurses vorausgehen. Wir verfügen mittlerweile über eine große Zahl von konvergenten Arbeiten im Gefolge derer Thomas Kuhns, die es erlauben, zwei Dinge zu bekräftigen, welche die Dynamik und die Produktion des Wissens betreffen, genauer sein kreatives, hypothetisches und erfinderisches Moment: einerseits, dass der Forscher gegenüber seinen Gegenständen nicht unmittelbar »neutral« ist (wann wäre er es je?), sondern dass er im Gegenteil von Erwartungen, Darstellungen, Verständnisstrukturen zu ihnen hingezogen wird, innerhalb derer er die Gegenstände bezeichnet, ihnen also eine mutmaßliche Bedeutung, ein Wesen und vielleicht eine sichtbare Form zuschreibt; und andererseits, dass diese Struktur des Vorverständnisses die Erscheinungsform von mentalen oder materiellen Bildern annimmt, welche seine gedanklichen Operationen tragen. Die Analysen von Gerald Holton über die thematischen Vorannahmen der Forscher in der »privaten« (d.h. kreativen) Phase ihrer Arbeit sowie diejenigen von Fernand Hallyn über die im wissenschaftlichen Diskurs wirksame poetische Schematisierung konvergieren hier mit den Überlegungen von Paul Ricœur und Mary Hesse über die konstitutive Rolle der Metapher in der Progression auf Objektivität hin. Sie fördern unter den expliziten Operationen im »Tageslicht« des wissenschaftlichen Denkens die aktive Präsenz eines »nächtlichen« Regimes der Vorstellungskraft zutage, vermittels dessen sich eine erste – sicherlich noch hypothetische und korrigierbare – Form der Aufteilung und Anordnung der Welt einstellen kann. Forschung und Wissensproduktion werden von Schemata, Bildern und unterliegenden Strukturen »orientiert«, die den »Raum« abgeben, innerhalb dessen sie erst eine Bedeutung annehmen. Die Schemata, Bilder und Strukturen bilden ein grundlegendes Interpretationsraster, ein Apriori, das nicht mit dem Begriffssystem zu verwechseln ist, welches die positive wissenschaftliche Arbeit gebraucht. In diesem Sinn unterscheidet Gerald Holton zwischen dem Konzept des Atoms, als Element einer revidierbaren historischen Konstruktion, und der
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»thematischen« Affirmation des diskreten, diskontinuierlichen Charakters der physischen Realität. Um eine wohl bekannte Äußerung Wittgensteins aufzunehmen: um die Welt zu erkennen, also um sie begrifflich zu bestimmen, muss man sie zunächst »so wie dies« oder »so wie das« wahrnehmen und denken können, d.h. sie global in einer Version, einer Erscheinung, einem Sinnhorizont erfassen, welche sie überhaupt erst wahrnehmbar und denkbar werden lassen (vgl. Wittgenstein 2004: 274-320; Teil II, Kap. XI). Die Erkenntnistheorie muss bis zu dieser hermeneutischen und ableitenden Grundlage hinabsteigen, bis zu diesem »so wie«, und ihre Organisation im Einzelnen ausführen. So gesehen ist es nicht unmöglich, sich die Geschichte des geographischen Wissens nicht mehr nur als Widerspiegelung von ausdrücklich von den Geographen vorgenommenen Unterteilungen ihrer Untersuchungsgegenstände vorzustellen, sondern als Ausdruck einer Gesamtheit von grundlegenden Möglichkeiten der Vorstellung, die es den Geographen gestatten, eben diesen Unterteilungen a priori einen Sinn und Stichhaltigkeit zu verleihen. Hierin liegt sicherlich das Element einer »anderen Geschichte«, derjenigen der großen Formen der Kategorisierungen, die bei den Geographen mehr oder weniger implizit mitlaufen, eine Geschichte, die durch eine Abfolge von geographischen Vorstellungswelten und strukturierenden Themen bestimmt ist. In der Tat lässt sich die europäische Geographie der Renaissance und der frühen Moderne nicht auf ein bloßes Registrieren und Beschreiben neuer Welten reduzieren, naher und ferner, von denen Reisende zu Lande und zur See berichteten. Wie andere Wissensgebiete hat die Geographie ihre Objekte konstruiert, indem sie disparates Informationsmaterial gemäß gedanklicher und graphischer Modelle ordnete, und der Versuch, sie nachzuzeichnen, ist berechtigt. Zum Beispiel ist mittlerweile gut belegt, dass die Karte, wie andere figurative Verfahren, dem Geographen ein unerlässliches Werkzeug ist, um seinem Weltwissen, vielleicht auch seiner Reflexion über die Welt eine Form zu geben.3 Allgemeiner haben die Historiker des Buchdrucks und Epistemologen gezeigt, was für eine entscheidende Rolle Schrift- und Bildpraktiken in den Verfahren zur Datenerhebung spielten. Sie sehen in den Einschreibe- und Aufzeichnungstechniken heuristische Operatoren, die eine tatsachenerzeugende Macht besitzen, weil sie Informationen für den Blick anordnen. Einer großen Zahl von Hilfsmitteln und Werkzeugen der wissenschaftlichen Forschung, deren Haupteigenschaft es ist, räumliche Schematisierungen zu sein, ist eine beträchtliche kognitive Tragweite zuerkannt worden: man hat Karten, Diagramme, Listen, Formeln, Archive, Aktenordner, technische Zeichnungen, Wörterbücher und 3 | Die Literatur über diese Frage ist mittlerweile sehr umfangreich. Siehe v.a. die grundlegenden Arbeiten von John Brian Harley (Harley 2001), sowie die von Christian Jacob (2005). Ich erlaube mir, an dieser Stelle auch auf eine meiner Publikationen zu verweisen (Besse 2008).
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Textsammlungen als unterschiedliche Trägermedien identifiziert, an denen sich Tatsachen herausbilden und enthüllen. Aus dieser Perspektive lässt sich zugestehen, dass die Erarbeitung des geographischen Wissens sich vor allem als Unternehmung präsentiert, die nicht nur allein aus Vermessung besteht. Freilich kommt der Vermessung von Distanzen und Positionen, dem Zeichnen von Formen in der Geographie ein großes Gewicht zu. Man kann sie jedoch ebenfalls als die Kunst betrachten, den Dingen einen Platz zu geben, sie anzuordnen, und es lässt sich hoffen, dass auch die diesen anordnenden Operationen zugrundeliegenden Schemata ans Tageslicht zu befördern sind. Die Geographie umfasst die Operationen des Aufzeichnens, der Kodifizierung, der Klassifikation, der Archivierung, des Vergleichs und der Kombination, kurzum, eine Arbeit räumlichen Typs an den Informationen selbst, was aus dem geographischen Wissen nicht nur Forschung macht, sondern auch eine räumliche Form der Verwaltung von Informationen und ihrer Aufzeichnungen. Man bräuchte eine echte Erkenntnistheorie des Aktenordners und des Archivs, die selber wiederum als konstitutive Momente des geographischen Faktums zu verstehen sind. Dieses wird effektiv produziert in der Erhebung, im Sammeln, in der Vereinheitlichung, der Speicherung der Daten, und es ist an ein Verfahren der Verschriftung und der Zeichenverwaltung gebunden – sei es nun eine Karte oder ein beschreibender Text –, an ein synoptisches Verfahren, deren Ergebnis und Ausdruck es ist. Das geographische Faktum präsentiert sich eingebettet in ein Dispositiv, in dem die Begegnung einer »dokumentarischen Häufung« einerseits und einer »Macht der Schrift« andererseits geregelt ist, wobei letztere allgemeiner die Macht ist, auf homogene Weise eine große Vielfalt von Dokumenten darzustellen. Es ist das Produkt und sozusagen die Kristallisation oder die Stabilisierung dieser Begegnung und dieses Dispositivs. Die Einschreibungstechniken der Information auf ihren Trägern sind also nicht lediglich als Instrumente zu betrachten, welche der Förderung von Kommunikationsstrukturen dienen, die auf ein Publikum abzielen, das es zu überzeugen gilt. Es sind darin auch wesentliche Vermittlungen in den Operationen zu sehen, die strenggenommen solche der Konstruktion von Fakten und von Objektivitätsordnungen sind. Das Einschreiben hat dabei eine durchaus instituierende Dimension, die es anzuerkennen gilt, und die der Schlüssel für die grundlegende Analyse der epistemologischen Geschichte der Geographie ist. Die Zirkulation der Informationen und der geographischen Spuren, ihre Häufung und die multiplen Vergleichs-, Kombinations-, Wiederherstellungs- und Selektionsoperationen, denen sie unterworfen sind, müssen als eine Reihe verschiedener Momente in der Konstitution des geographischen Wissens angesehen werden. Das Faktum gibt dabei den stabilen Terminus dieser Serie von Operationen ab. Es ist die Form, die aus dieser synoptischen Operation hervorgegangen ist, welche darin besteht, an einem Ort – und möglichst so, dass es dem Blick zugänglich ist – äußerst unterschiedliche Daten zu versammeln.
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Es würde einem folglich ein guter Teil von dem entgehen, was tatsächlich von den Geographen jener Epoche auf der Ebene der Erkenntnis geleistet wurde, nähme man nicht die Aufeinanderfolge und die Fortschritte ihrer sowohl begrifflichen als auch graphischen Bemühungen wahr, das Bild der irdischen Welt neu zu definieren, und, genauer, den neuen räumlichen Größenordnungen eine Bedeutung und eine Darstellung zu verleihen, Größenordnungen, zu denen sich das geographische Denken nun umorganisiert ins Verhältnis setzen musste. Was die Rezeptionsgeschichte von Ptolemäus in der europäischen Kartographie zeigt – die Geschichte der Wiederaufnahme des beschreibenden Modells Strabos in den Universalkosmographien (vom Typ wie die von Münster in ihren Bezügen auf die ars memoriae, die Rhetorik der Lobreden und die Methode der Topoi), oder auch die ersten Versuche, die Form des Atlas festzuschreiben (Ortelius, Lafreri, Mercator) – was diese Rezeptionsgeschichte zeigt, ist, dass die Geographen des 16. und auch des 17. Jahrhunderts auf eine sehr ausgeklügelte Weise (was nicht immer von den Historikern der Geographie wahrgenommen wurde, die in einem »naturalistischen« Paradigma befangen waren) eine gewisse Anzahl von räumlichen Schemata verwendeten, welche es ihnen erlaubten, ein rationales Bild der Erde zu entwerfen. Nicht nur ihre Größe, sondern auch ihr Wesen und ihre Inhalte hatten sich im wissenschaftlichen Bewusstsein verändert. Die Geographen des 16. und 17. Jahrhunderts entwarfen ihr Bild von der irdischen Welt mit Hilfe mentaler Räume, die Gegenständen, figürlichen Darstellungen oder Diskursen (Tafeln, Karten, Beschreibungen) eingeschrieben waren. Was also zum Vorschein gebracht werden soll, ist das Wesen und die Logik, die diesen sowohl begrifflichen als auch graphischen Räumen zu Eigen sind, Räume, die dazu bestimmt sind, das geographische Wissen zu produzieren und darzustellen, genauer: es sind die Schemata, die diese Räume strukturieren, welche zum Vorschein kommen sollen. Noch präziser soll es darum gehen, die räumliche Schematisierung wahrzunehmen, die von diesen verschiedenen »Gegenständen« entwickelt wird, sowohl auf der Ebene der logischen Formen, die dort wirken, wie auch auf der materiellen Ebene der Einschreibungsarten oder der Typen von Trägermedien. Hier wäre in unmittelbarer Nähe zu den gelehrten Praktiken, den graphischen Techniken und den Denkansätzen zu arbeiten, und die räumlichen Regeln, die sie anleiten und organisieren, wären dabei sichtbar zu machen. So lassen sich im 16. und 17. Jahrhundert mindestens vier räumliche Schemata feststellen, welche die Erarbeitung des geographischen Wissens und seine Präsentation organisieren. Diese Schemata können innerhalb eines einzigen Werks neben- oder übereinandergestellt werden. Aber jedes Mal ist dabei zu berücksichtigen, dass es ein spezifisches Raumdenken ist, welches auf dem Spiel steht.
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Zunächst gibt es das geometrische Schema, das aus Ptolemäus hervorgegangen ist (allerdings einem sehr überarbeiteten und verbesserten Ptolemäus). Wegen der Projektionsmethoden und vor allem der Methode der Koordinaten ist es ein »proportionierter«, »symmetrischer« und »einheitlicher« Raum, der sich dem geographischen Denken als Träger und als Rahmen zur Verfügung stellt – der kartographische Raum, oder genauer: das geistige und graphische Schema, welches es gestattet, den terrestrischen Raum als eine Oberfläche, als eine Koordinatentafel, als ein Gitterraster zu erfassen und darzustellen. Sicherlich sollte die Kartographie ptolemäischer Inspiration aufgrund ihrer paradigmatischen und prospektiven Macht eines der grundlegenden Schemata konstituieren, die es den neuzeitlichen Menschen ermöglichte, den Raum zu denken und ihn zudem darzustellen oder sogar real zu erzeugen. Aber die Geographie der Neuzeit sollte gleichzeitig andere räumliche Schemata ins Werk setzen, die es ihr erlaubten, den Realitäten der Erde, welche sie darstellt, eine Form zu geben. So finden die Geographen bei Ptolemäus auch ein anderes Prinzip vor, wie der terrestrische Raum aufzuteilen und anzuordnen ist, ein Prinzip, das man das Schema der Größenordnungen nennen könnte. Die geographischen Realitäten werden da präsentiert und gedacht in Abhängigkeit vom räumlichen Maßstab, in welchem man sie betrachtet, wobei diese aufeinanderfolgenden Maßstäbe sich übrigens auch ineinander verschachteln können: Kosmographie, Geographie, Chorographie und Topographie umschreiben für den Geographen sowohl einen Bezugsrahmen als auch einen Analysestil für die geographischen Daten. Aber darüber hinaus ist eines der am häufigsten von den Geographen verwendeten räumlichen Schemata das beschreibende, dessen Form sich im 15. und 16. Jahrhundert allmählich herausbildet, und dessen exemplarischer Ausdruck die Cosmographia unversalis von Sebastian Münster ist. Hier befindet man sich in der Nachbarschaft zum Gedanken der Sammlung, der Enzyklopädie – in der allgemeinen Strömung der Epoche, deren Anliegen es ist, die Welt auf Papierbögen und in Kästen gewissermaßen zu verpacken. Die Geographie findet ihre Operationsmodelle für ihre Beschreibungen in der Gedächtniskunst, der Methode der Topoi oder der Rhetorik der Lobrede. In dieser intellektuellen Konfiguration sucht die Geographie ihre Modelle anderweitig (in der Rhetorik) und stellt zudem anderen Arten räumlichen Denkens (der Enzyklopädie) ein Modell zur Verfügung. Am Ende des 16. und vor allem im 17. Jahrhundert entwickelt sich allerdings innerhalb der Geographie ein neues räumliches Schema, das der Methode, d.h. das der aufteilenden Dichotomie in Baumform, die vom Allgemeinen zum Besonderen führt und welche einige protestantische Enzyklopädisten (Keckermann, Alsted) mit dem ptolemäischen Prinzip der Größenordnungen in Einklang zu bringen versuchen. Die Aufteilung in Geographie und Chorographie wird zur Aufteilung zwischen »allgemeiner« und »spezieller« Geographie. Hier
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ist man am Entstehungspunkt dessen angelangt, was mit Bernhard Varenius zur allgemeinen Geographie werden sollte.4 So stellt sich schließlich die Geographie am Beginn der Neuzeit wie eine sehr diversifizierte Gesamtheit von graphischen und diskursiven Aussagen dar, die ich mit den Worten Tafel, Maßstab, Schachtel und Baum zusammenfasste und in denen sich die Komplexität der gedanklichen Erfassung und der Darstellung des terrestrischen Raums ausdrückt. Der Historiker des geographischen Wissens sollte diese Komplexität wie auch die Differenzierung der Denk- und Arbeitsstile der Geographie jener Epoche aufmerksam wiedergeben, eine Differenzierung, die allzu oft unter den Tisch fiel. Den terrestrischen Raum wie eine Tafel oder ein Gitterraster von Koordinaten zu denken und zu »sehen« ist nicht exakt dasselbe wie ihn als eine Folge von ineinander verschachtelten Oberflächen verschiedener Größe und verschiedenen Maßstabs zu denken und zu sehen, oder als eine Schachtel, in der man auf höchst ordentliche Weise geographische Daten verstaut, oder auch wie einen logischen Baum. Jede dieser metaphorischen Richtungen befördert einen spezifischen Typ von Räumlichkeit, und was zu würdigen wäre, ist die ihr eigene kognitive und praktische Tragweite für die neuzeitlichen geographischen Kulturen.
III. Zur Illustration dieser Forschungsperspektive gebe ich als Beispiel die Neudefinition von Konzepten und Methoden, die eingesetzt wurden, um den »allgemeinen Raum«, das »Allgemeine«, in der gelehrten Geographie vom Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu denken. Es ist wirklich in jenem Moment, dass sich allmählich aber unumkehrbar die Perspektive einer Konzeption der Geographie als allgemeiner Geographie eröffnet, eine Konzeption, die, wie schon erwähnt, ihren deutlichsten Ausdruck im 1650 von Bernhard Varenius unter dem Titel Geographia generalis veröffentlichten Werk findet. Genauer wird zu betrachten sein, wie die Begriffe von Allgemeinem und Besonderem im Rahmen der Versuche, die in jener Epoche unternommen wurden, um der Geographie ein neues Gesicht zu verleihen, anders definiert und miteinander artikuliert wurden. Wie denkt man die allgemeinen geographischen Realitäten, wie stellt man sie dar? Wie stellt man sich, symmetrisch dazu, die besonderen geographischen Realitäten vor? Aber vor allem: wie wer4 | Jedenfalls lässt sich für das 17. Jahrhundert die Koexistenz von zwei sehr unterschiedlichen geographischen Ansätzen feststellen, die sich im Übrigen beide jeweils unterschiedlich zur kopernikanischen Neuerung verhalten: einerseits die allgemeine Geographie (Varenius), und andererseits die Universalgeographie, welche die deskriptive Tradition fortführt.
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den die Verhältnisse, sofern vorhanden, zwischen der Ebene der allgemeinen und derjenigen der besonderen Realitäten organisiert? Wie die Hierarchien, die Artikulationen zwischen den verschiedenen Allgemeinheitsebenen – d.h. den Maßstäben – in den geographischen Realitäten gedacht? Seitdem sich der Text der ptolemäischen Geographie ab dem 15. Jahrhundert in Westeuropa verbreitet hatte, verfügten die Geographen der Renaissance in der Tat über einen konzeptuellen Rahmen sowie eine Terminologie, beide ziemlich genau festgelegt, die es ihnen gestatteten, das Allgemeine und das Besondere zu denken und deren Verhältnisse neu zu ordnen (Besse 2003; Lestringant 1993; Broc 1980). Die ptolemäische Terminologie erlaubte es ihnen, sowohl Maßstabsunterscheidungen zwischen den vorgefundenen Gebilden zu treffen als auch die Typen von kognitiven Verfahren zu definieren, die dem Maßstab und dem Wesen dieser Gebilde angemessen waren. Allgemeiner kann man davon ausgehen, dass die ptolemäische Konzeption des kartographischen Raums es den Geographen (und den Gelehrten) der Renaissance nach und nach beigebracht hat, den terrestrischen Raum in seiner Vielgestaltigkeit zu lesen und zu organisieren. Die prinzipielle kategorische Unterscheidung ist – was uns hier betrifft – diejenige, welche Ptolemäus zwischen der Geographie einerseits und der Chorographie andererseits trifft, eine Unterscheidung, welche die die Geographen des 16. Jahrhunderts aufnahmen und weiter entwickelten. Die Geographie nimmt sich des Niveaus der allgemeinen Realitäten an, während die die Chorographie die besonderen Realitäten zum Gegenstand hat. Die Geographie betrifft die Oberfläche der bewohnten Erde, die in ihrer Globalität, ihrer Einheit und ihrer Kontinuität betrachtet wird (orbis terrarum, orbis habitalis, orbis universalis), während die Chorographie sich auf Teile der Erdoberfläche konzentriert, die sie ins Auge fasst, ohne sie untereinander oder mit dem allgemeinen orbis terrarum ins Verhältnis zu setzen. In drei Punkten (ggf. in vieren)5 unterscheiden sich Geographie und Chorographie: 1. Der erste Unterscheidungspunkt betrifft die Größe bzw. Größenordnung ihrer jeweiligen Gegenstände. Der Geograph nimmt die Erdoberfläche sozusagen lang und breit in den Blick. Er entwirft Weltkarten und ab dem Ende des 16. Jahrhunderts auch Atlanten. Im anderen Extrem (ich stütze mich hierbei auf die Definitionen von Antoine du Pinet) »dient die Chorographie dazu, auf lebendigste Weise besondere Orte darzustellen […] und sie beschränkt sich dabei darauf, dem Auge so nah am Lebendigen wie sie nur kann die Form, die Lage & die vom dargestellten Orte abhängigen Ländereien zu zeigen: wie es Festungen, Bollwerke, Tempel, Straßen, Amphitheater, Arenen, Plätze, Kanäle, 5 | Der vierte Punkt wird hier nicht behandelt. Es ist derjenige des öffentlichen – d.h. symbolischen und politischen – Gebrauchs der Geographie und Chorographie.
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Teiche, Häfen, Molen & andere auffällige Gebäude wären, die in einer Stadt liegen könnten, mit ihrem Umland & ihren Verkehrswegen« (Du Pinet 1564: XX). Verweilen wir einen Moment lang bei diesem Vorgehen, die geographischen Gegenstände (die, wie gesagt, Oberflächen oder Ausdehnungen sind) nach ihrer Größe bzw. Größenordnung zu unterscheiden und zuzuordnen. Das Allgemeine oder Universelle (diese beiden Begriffe sind noch nicht unterschieden) ist groß, weitläufig bzw. riesig – die Erdoberfläche in ihrer globalen Gesamtheit. Das Besondere definiert sich ebenfalls über ein Raummaß, nämlich als Ausdehnung, die als umgrenzter Ort als Einheit von anderen Orten getrennt ist. Die allgemeinen geographischen Realitäten sind von beträchtlicher Größe (und man versteht von daher, wie die Kontinente, die Reiche, die großen Länder ins Feld der Geographie treten), während die besonderen geographischen Realitäten gemäß der Unterscheidung vom Ganzen und seinen Teilen von geringer Größe und gewissermaßen leicht zu durchqueren sind. Geographisch ist also strenggenommen das, was in die Kategorie des »Großen« gehört. Aber was bestimmt für einen Geographen die Größe? Halten wir noch einen Moment über dieser Frage inne. Bei Ptolemäus lassen sich für eine Beantwortung Hinweise finden, die es zu vertiefen gilt: er sagt, dass die geographische Darstellung notwendig ist, weil es dem menschlichen Auge unmöglich sei, mit einem einzigen Blick die Gesamtheit seines Gegenstands zu erfassen, d.h. die Erdoberfläche. Die mathematisch bestimmte Zeichnung tritt dabei an die Stelle dieser unmöglichen unmittelbaren Erfahrung. Das Große ist in diesem Fall das, was für das menschliche Auge zu gewaltig ist, und dieses kann jenes so nur mittels einer geometrischen Abstraktion erfassen. Umgekehrt stellt sich die Chorographie als eine Bemühung um das Nahe dar, in einer Bewegung der Annäherung, die gleichzeitig eine Bemühung um eine Begrenzung ist: der Gegenstand der Chorographie (Antoine du Pinet wählt nicht zufällig das Beispiel der Stadt) ist das, was zumindest virtuell durch den Blick erfasst und in einem Bild eingefangen werden kann, ein Bild, das sich zunächst als die Verlängerung dieses Blickes gibt und dann an seine Stelle tritt. In diesem Sinne ist das Kleine gleich dem Nahen. Die »Kleinheit« des geographischen Gebildes ist im Grunde definiert durch die Kapazität des menschlichen Blicks, sie als eine Gesamtheit zu erfassen. Versteht man es richtig, dann beruhen die Unterscheidungen des Maßstabs letztendlich auf optischen Überlegungen. 2. Der zweite Punkt, an dem Geographie und Chorographie sich scheiden, betrifft das Wesen ihrer jeweiligen Gegenstände. Der Gegenstand der Geographie ist quantitativ: der Geograph beschreibt die Positionen (Koordinaten von Länge und Breite), die Formen sowie die relativen Entfernungen zwischen den Positionen. Sein Handwerkszeug findet er dafür in der Astronomie und in der Geometrie. Die Geographie ist allgemein der »mathematischen Tradition« (Kuhn 1990) eingeschrieben. Der Gegenstand der Chorographie präsentiert sich anders, er ist, wie Ptolemäus sagt, eine Qualität, was die Geographen des
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16. Jahrhunderts dahingehend interpretieren, dass es sie auf das deskriptive Inventar aller auffälligen Einzelheiten einer gegebenen Region verpflichtet: die Chorographie »zeigt alle Dinge & ungefähr die geringsten, die an diesen Orten vorkommen, wie es Städte, Meereshäfen, Völker, Länder, Flussläufe, & mehrere andere Dinge sind, wie Gebäude, Häuser, Türme & andere ähnliche Dinge« (Apian/Frisius 1553: 4r). Die Chorographie ist eine Kunst des Details. Der Chorograph muss den Details folgen, welche den Ort auszeichnen (und das aufs Barthaar genau, wie du Pinet schreibt). Sein geistiges Werkzeug oder seine geistigen Bezüge, die geht er sich, manchmal erklärterweise, bei der Dichtung, der Geschichte oder der Rhetorik suchen. Was den Geographen betrifft, so kann er sich damit zufrieden geben, den Ort durch ein kleines Zeichen, ein festgelegtes Symbol zu repräsentieren, das im Weiteren in nichts den Ort als besonderen kennzeichnet und ihn lediglich als einen Punkt auf einen Kartenhintergrund setzt, oder, wie eine von Gemma Frisius in die Kosmographie von Apian eingefügte Illustration es zeigt, als Schnittstelle zweier Linien.
Abbildung 1: Apian/Frisius (1540: Folio XXVIIv). Formel der Ptolemäischen Tafeln.
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3. In der Verlängerung des Gesagten unterscheiden sich Geographie und Chorographie letztendlich im Hinblick auf ihre kognitiven Verfahren. Die Geographie ist eine Disziplin des Maßes, und ihr prinzipielles Ziel ist es, Position und Entfernung festzulegen bzw. allgemeiner die Koordinaten der Breiten und Längen, von denen ausgehend die Karte gezeichnet wird. Die Tätigkeit des Geographen besteht darin, Zahlentafeln zu erstellen – eine metrologische, sich auf die Astronomie stützende Tätigkeit. Umgekehrt, wie Antoine du Pinet sagt, »kann niemand ein guter Chorograph sein, der nicht Maler ist, oder zumindest kein Parterre oder Modena zu machen weiß«. Die Chorographie ist eine Kunst der Ortsschilderung, die nicht auf das geometrische Maß angewiesen ist, sondern deren wesentliche Aufgabe darin besteht, die visuelle Präsenz und die Ähnlichkeit der besonderen geographischen Realität, die beschrieben wird, vor den Augen der Betrachter zu gewährleisten. Der Unterschied lässt sich weiter vertiefen:6 der Geograph stellt Karten her, während der Chorograph Landschaften oder Stadtansichten zeichnet, malt und graviert. Man hat es mit zwei verschiedenen Typen von Bildern und vielleicht auch mit zwei unterschiedlichen Berufsbildern zu tun: der Geograph gehört der Universität an oder hat sich zumindest vorübergehend dort aufgehalten, um Mathematik zu studieren, während der Chorograph sehr oft Mitglied der Lukasgilde ist und nicht nur Ansichten, sondern auch Devotionsbilder, Porträts usw. verfertigt. Die Geographie ist eine Wissenschaft, während die Chorographie dem Bereich der »mechanischen Künste« angehört, wie Ignazio Danti 1587 anmerkt. Was also generell und ziemlich lange Zeit hindurch die neuzeitliche geographische Kultur charakterisiert, ist das Nebeneinander von zwei Orientierungen und zwei Tätigkeiten, eben der Geographie und der Chorographie, ein Nebeneinander, das ebenso gut eines von Gegenständen und Begriffen wie (bis zu einem gewissen Punkt) von Arbeitsmethoden ist. Und vor allem, was die zuerst gestellte Frage betrifft, ein Nebeneinander der Ebene des Allgemeinen (oder Universellen) und der Ebene des Besonderen, bzw., wie hier gezeigt wurde, von Großem und Kleinem. Zumindest innerhalb der gelehrten Geographie ist das Aufkommen eines wirklichen Übergangs zwischen Großem und Kleinem, zwischen dem geographischen und chorographischen Maßstab nicht zu erkennen. Selbst die Auffassungen des Ortes und seiner Darstellung sind sehr deutlich verschieden: für den Geographen ist der Ort ein Punkt, ein Schnittpunkt zweier Linien, welcher durch ein festgelegtes Zeichen innerhalb eines graphischen Raumes (des durch seine Homogenität bestimmten Raumes der 6 | Doch sollte man vorsichtig dabei bleiben. »Geographie« und »Chorographie« müssen in Wirklichkeit als die entgegengesetzten Pole betrachtet werden, zwischen denen in der Praxis alle Abschattungen möglich sind, und vor allem, zwischen denen die Geographen der Renaissance ein Arbeitsfeld eröffnet und verschiedene Formeln des Übergangs oder der Vereinheitlichung ihres Diskurses erprobt haben.
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Karte) symbolisiert wird; für den Chorographen hingegen konstituiert sich der Ort aus der offenen Menge der charakteristischen Elemente, die sein Wesen und seine Eigenarten bestimmen, seien diese Elemente nun naturgegeben oder vom Menschen gemacht. Dennoch waren die europäischen Geographen während des gesamten 16. und 17. Jahrhunderts mit einer kritischen Reflexion über die Neudefinition ihrer Disziplin und vor allem über die Abgrenzung und die Hierarchisierung der sie zusammensetzenden »Sektionen« befasst. Die Geographen haben sich bemüht, ihrer Disziplin allmählich das Aussehen einer Wissenschaft zu verleihen, die nach der inneren Logik ineinander verschachtelter Maßstäbe geordnet ist. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist auf den ersten Seiten des Grand Atlas (Atlas Maior) von Johannes Blaeu (1663) nachzulesen, der die verschiedenen Sektionen der »Geographie« auf folgende Weise ordnet: Kosmographie (Beschreibung des Kosmos), aufgeteilt in Astronomie (»Beschreibung der Himmel und der Himmelskörper«) und Geographie (welche »die Erde allgemein« zum Gegenstand hat), diese wiederum unterteilt in Chorographie (»besondere Beschreibung eines Landes«) und Topographie (»besondere Beschreibung der Teile der Chorographie […] wo man bis auf die kleinsten Dinge alles berücksichtigt«).7 In dieser hierarchischen Aufteilung der verschiedenen Ebenen des Raumes ist das Verhältnis von Geographie und Chorographie sozusagen befriedet: die eine wie auch die andere sind in ein einziges rationales Schema, dem von der Aufspaltung des Ganzen in seine Teile, eingefasst. Geographie und Chorographie werden nicht mehr nach der Art ihrer Verfahren und ihrer Gegenstände unterschieden, sondern situieren sich wie unterschiedliche Grade auf ein und derselben Linie, die alle Größenordnungen umfasst, vom Großen bis zum Kleinen, von der »Welt« bis hin zu den »kleinsten Dingen«. Von diesen in den letzten Jahren des 16. und den ersten des 17. Jahrhunderts erarbeiteten Versuchen, die Verhältnisse zwischen den geographischen Maßstäben neu zu ordnen und zu definieren, werde ich unter anderem zwei Beispiele geben. Was diese beiden Versuche charakterisiert, und was sie gemein haben, ist, dass sie darauf abzielen, die Diskontinuität zwischen den Gegenständen und den Verfahren der Geographie und der Chorographie zum Verschwinden zu bringen, ein Verschwinden, das sich übrigens zugunsten der Geographie auswirkt. 1. Das erste – in sowohl graphischer als auch logischer Hinsicht spektakuläre – Beispiel befindet sich im Werk Tableaux accomplis de tous les arts libéraux… von Christophe de Savigny (Paris 1587).8 Savigny (ca. 1540-1608), der selbst Schüler von Pierre de la Ramée gewesen zu sein scheint, war ein vielseitiger Schriftstel7 | Blaeu (1663) im ersten Kapitel: »Vom Unterschied zwischen der Kosmographie, der Geographie und der Chorographie«. 8 | Eine analoge Bildtafel findet sich in Blome (1678).
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ler, der mehrere Bücher zur Unterweisung des Adels verfasste. Das Folio-Werk setzt sich aus mehr als fünfzehn Tafeln mit erläuterndem Kommentar zusammen, auf denen graphisch die Begriffsgehalte u.a. der Disziplinen Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Optik, Musik, Kosmographie, Astrologie, Geographie, Physik, Medizin, Jurisprudenz, Geschichte und Theologie dargestellt sind. Die allgemeine Form, die zur gedanklichen Erfassung und Darstellung der Enzyklopädie gewählt wurde, ist eine Baumstruktur. Diese Baumstruktur zeichnet sich durch die wiederholte Anwendung desselben graphischen Schemas aus, welches ein homogenes mentales Schema verkörpern soll, charakteristisch für die Auffassung, die die Ramisten dabei von der Methode hatten: ein sich aufspaltendes Schema, das beim Allgemeinsten beginnt und sich durch aufeinander folgende Verästelungen zum Besonderen hin entwickelt. In diesem zugleich graphischen und konzeptuellen Schema ist das Besondere als Ergebnis eines von Anfang an wohlgeordneten logischen Wegs vorgestellt. Das Besondere ist logisch und graphisch abhängig von einem sowohl visuellen als auch mentalen Parcours, von einem Programm, das vom Allgemeinsten ausgeht und sich von ihm aus entwickelt, ein Allgemeines, als Teil dessen das Besondere also betrachtet wird. Das Besondere ist vom Allgemeinen einfach auch deswegen abhängig, weil es eine seiner Arten ist. Eben diese Rationalisierung des Wissens ist es, welche die der Geographie gewidmete Bildtafel anstrebt, bei der man einem Versuch beiwohnt, die Aufteilungen und Maßstäbe der Geographie in den graphischen Termen von Schema und Verästelung neu zu formulieren. Dieses »Logisch-Werden« des geographischen Raumes vermittels der Entfaltung einer homogenen graphischen Formel findet ab dem Ende des 16. Jahrhunderts eine beträchtliche Verbreitung: man findet sie bei Danti, Blaeu und Alsted wieder, und sie wird die berühmten Bildtafeln von Guillaume Sanson hervorbringen. Savigny begleitet und spiegelt dabei lediglich eine breitere Strömung (die sich in Wirklichkeit nicht auf die Geographie beschränkt, sondern alle Wissensbereiche berührt). Anscheinend entspricht diese Überführung des geographischen Wissens in Baumform ziemlich genau der ptolemäischen Auffassung von den Verhältnissen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen: in beiden Fällen hat man es, wie es scheint, mit derselben Sorte von Verschachtelung von Besonderen und Allgemeinem zu tun, gemäß einem Register, welches das der (hier verräumlichten) Verhältnisse vom Ganzen und seinen Teilen ist. Während im oben erwähnten ptolemäischen Schema die Artikulation zwischen den beiden Maßstäben nicht gewährleistet war, bemüht sich die methodische Tafel Savignys um diese Artikulation und diesen Übergang, indem sie zwei Typen von Relationen (bzw. Verschachtelungen) miteinander identifiziert, die jedoch prinzipiell verschieden sind: einerseits die räumliche Relation vom Ganzen und seinen Teilen, und andererseits die begriffliche Relation von der Gattung und den Arten – bei Alsted wird dies noch deutlicher werden (Alsted 1630, Lib. XVIII:
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547-581). Was im Text des Ptolemäus und bei den Geographen des 16. Jahrhunderts – wie zu sehen war, ohne klare Übergangsformeln – als eine Entkopplung des Großen und des Kleinen gedacht wurde, als eine Entkopplung der Größen zwischen den geographischen Gebilden bzw. Oberflächen, fand sich nunmehr in die Begriffe einer graphischen Progression umformuliert, die eine logische Progression der Gattung auf spezifische Differenzen hin verkörpern soll. Der geographische Raum – will man diesen anachronistischen Ausdruck akzeptieren – wird graphisch in die Terme eines logischen Raums umformuliert. Man hat es nicht mehr mit einer Entkopplung von Geographie und Chorographie zu tun, sondern mit der Spezifizierung der Geographie in eine universelle (Savigny) bzw. allgemeine (Alsted) und eine spezielle. Dies jedoch um den Preis einer Verwechslung von räumlichen und begrifflichen Relationen, deren graphische Darstellung im Übrigen zum Scheitern verurteilt ist. An dieser Bildtafel bemerkenswert ist dennoch vor allem der Versuch, drei »Räume« auf die gleiche Ebene zu bringen – den logischen, den graphischen und den geographischen Raum, aber auch die Einebnung desjenigen, was zu den Erkenntnisverfahren gehört, und dessen, was zu den Gegenständen der Erkenntnis gehört. Die graphische Geste der Verästelung und Aufteilung, welche die Rationalisierungsabsicht tragen und verkörpern soll, ist derart machtvoll, dass sie die als »ontologisch« zu bezeichnenden Unterscheidungen zwischen dem erkennenden Subjekt und der erkannten Wirklichkeit, zwischen der Wirklichkeit und ihrer Darstellung hinwegfegt. Somit entdeckt man, wenn man dem das zentrale Bild umschließenden Rahmen folgt, die Abfolge: Erde, Provinzen, Regionen, Länder, Landstriche, Territorien, Felder, Morgen, Viertelmorgen, Zwölfzoll, Fuß, Spanne, Fingerbreite. Auf diesem Weg vom Größten zum Kleinsten liegt ein Sprung, der jedoch von der Kontinuität des Divisionsschemas verdeckt wird, und dieser Sprung befindet sich auf der Ebene des Feldes bzw. des Morgens: hier erscheint eine menschliche Gestalt. Die durchlaufenen geographischen Gebilde haben auf dieser Bildtafel, wie es scheint, vor allem den Stellenwert von Momente oder Etappen innerhalb einer globalen Rationalisierungssequenz. Etwas Ähnliches wäre zu bemerken, wenn man nun die Verästelungen betrachtet, die die zentrale Weltkarte umgeben. Die Baumstruktur ist anscheinend dazu bestimmt, die Begriffsinhalte der Geographie zu erhellen, d.h. sowohl zwischen diesen Begriffen zu unterscheiden als sie auch innerhalb eines geographisch artikulierten Raumes anzuordnen. Aber auch hier werden die in Baumform erfassten Begriffe sozusagen auf dieselbe graphische Ebene reduziert, ungeachtet der ihnen eigenen ontologischen Wertigkeit. So bei der Sequenz Geographie, Universalgeographie, entdeckte (Erdoberfläche), aufgeteilt in, Kontinent, alter, östlich wie Asien, Kleinasien. Oder bei dieser: Geographie, Universalgeographie, Entdeckung, die Art wie Folgendes festzustellen ist, geographische Länge, durch das Astrolabium. Man navigiert in diesen Sequenzen beständig hin und her zwischen disziplinären Unterscheidungen (Universalgeographie), der
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Begrifflichkeit (Kontinent), den geographischen Gebilden im eigentlichen Sinne (Asien), den Instrumenten der Erkenntnis (Astrolabium), zeitlichen Angaben (alter); diese Differenzen werden jedoch von der dem sie erfassenden graphischen Schema eigenen Macht aufgehoben. Auch hier werden ontologische und epistemologische Sprünge von der Macht der aufzeichnenden Schrift maskiert.
Abbildung 2: Savigny, Christophe de (1587): La géographie. Tableaux accomplis de tous les arts libéraux, contenans brièvement et clerement par singulière méthode de doctrine, une générale et sommaire partition des dicts arts, amassez et reduicts en ordre pour le soulagement et profit de la jeunesse, Paris, o.S. 2. Das zweite Beispiel stammt aus etwas späterer Zeit, und es zeugt eher von einer konzeptuellen Neuartikulierung der eigentlichen Inhalte der Geographie als von einer globalen Reflexion, über die enzyklopädische Organisation des menschlichen Wissens oder über die universelle Topik. Diese theoretische Neuformulierung ist die des deutschstämmigen, in Amsterdam ansässigen Geographen Bernhard Varen (oder Varenius). Varenius wurde im Jahre 1622 in der Nähe von Hannover geboren (vgl. Schuchard 2007). Er erhält seine Ausbildung am Gymnasium in Hamburg und darauf an den Universitäten von Königsberg (1643-1645) und Leiden (1645-1649). Nach der Erlangung der Doktorwürde in Medizin 1649 wird er in Amsterdam ansässig, wo er 1650 stirbt. Er interessiert sich eingehend für Naturgeschichte, Mathematik und Geographie und hat mit mehreren Persönlichkeiten Umgang, die der Welt des Handels, der Entdeckungen und der Seefahrt verbunden sind,
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darunter der Kartograph Wilhelm Blaeu (Lukerman 1999). 1649 veröffentlicht er in Amsterdam die Descriptio regni Japoniae sowie einen Tractatus de religione Japoniae (bis 1673 in vier Auflagen erschienen) und vor allem 1650 das Werk, das ihm – eine zugegebenermaßen posthume – Berühmtheit verschaffen sollte: Geographia generalis. Das Werk hat beim gelehrten Publikum der Epoche einen großen Erfolg. Es gibt fünfzehn vollständige Auflagen in fünf europäischen Sprachen. Hier ist nicht der Ort, auf die ziemlich komplexe Frage der Überarbeitungen und Übersetzungen einzugehen, die der Text der Geographia generalis erfahren hat. Die Schrift des Varenius wird bis zu zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ein Standardwerk betrachtet (und auch so ediert), vielleicht weil sie 1672 und 1681 in Cambridge von Newton selbst überarbeitet und neuveröffentlicht wurde; sie diente anscheinend als Grundlage für Newtons eigene Lehrtätigkeit (Warntz 1989). Eine Analyse ihres Inhalts – das Werk umfasst vierzig Kapitel – kann hier auch nicht in Angriff genommen werden. In drei kurzen Bemerkungen werden wir vor allem der Art des Varenius, das geographische Wissen zu definieren, unsere Aufmerksamkeit widmen. a) Varenius definiert die Geographie als eine »gemischte Mathematik«: »Geographie nennt man eine gemischte mathematische Wissenschaft, welche die affectiones der Erde und ihrer Teile untersucht, die abhängig sind von der Quantität, nämlich der Gestalt, der Position, der Größe, der Bewegung, der himmlischen Erscheinungen, wie auch der übrigen Eigenschaften des gleichen Typs«.9 Varenius steht so in der Verlängerung von Keckermann und Vossius, die jeweils beide die gemischte (oder konkrete) Mathematik als denjenigen Teil der Mathematik definieren, der die nicht abstrakten, sondern konkret in physischen Körpern materialisierten Quantitäten behandelt.10 Die Geographie ist Teil derjenigen Disziplinen, die auf die Mathematisierung des Konkreten gerichtet sind, wie die Optik. In dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, wie Varenius die Erde als Gegenstand der Geographie definiert: nämlich als physischer Körper, der durch seine Form, Position, Größe und Bewegung gekennzeichnet ist. Mit mehr oder weniger derselben Definition des Körpers und mehr oder weniger 9 | Varenius 1650: 1 (1. Kapitel, »Definitio«). 10 | »Mathematica Concreta est, que docet de quantitate restricta ad certum aliquod subiectum. Estq. vel Concreta Corporum, vel Concreta Qualitatum. Concreta corporum est, qua versatur circa quantitatem sive mensuram certi alicuius corporis in natura positi. Estque vel Astronomia vel Geographia. Astronomia est, quae versatur circa quantitatem sive mensuram motus et situs in corporis coelestibus. Geographia est, quae versatur circa terrae sive globi terreni, ostendens nimirum in qua mundi plaga quaelibet regio terrae sita sint, et quo intervallo qualibet regio aut urbs ab alia distet« (Keckermann 1617: 48). Was die geographische Lehre Keckermanns betrifft, siehe Büttner 1973: 172f.
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zeitgleich zu Varenius eröffnete Descartes in den Principia philosophiae (1644) seine Physik. Um es geographisch zu sagen: Varenius stellt sich die Erde nicht einfach als Wohnstatt der Menschheit vor, als in bestimmten Teilen bewohnte Erde; sie ist ein Gegenstand, den man zu vermessen und dessen allgemeine Eigenschaften man zu erklären versucht. Varenius greift hier auf einen Terminus aus der ihm zeitgenössischen Philosophie zurück: affectio, den man auch bei Descartes oder Spinoza wiederfindet und der die natürlichen Eigenschaften bezeichnet, die es erlauben, einen jeglichen Körper zu charakterisieren. b) Die allgemeine Geographie trägt eine erläuternde Intention. Varenius unterscheidet zwischen allgemeiner und spezieller Geographie (diese Unterscheidung übernimmt er von Keckermann).11 Die allgemeine Geographie, von welcher Varenius erklärt, sie sei der Gegenstand seines Buches, »betrachtet die Erde im Allgemeinen, und erklärt ihre affectiones« (1650: 2). Die spezielle Geographie »behandelt das, was die einzelnen Regionen der Erde ausmacht«. Die allgemeine Geographie ist in drei Teile unterteilt: eine absolute Geographie (pars absoluta), eine relative Geographie (pars respectiva) und eine vergleichende Geographie (pars comparativa). Die absolute Geographie nimmt die Konstitution der Erde an sich, in ihrer Natur betrachtet, in Augenschein – eine Form von Geophysik. Gegenstand der relativen Geographie sind die Effekte der Verhältnisse der Erde zum Himmel; sie ist so etwas wie eine Klimatologie oder Meteorologie, aber auch eine Kosmographie. Die vergleichende Geographie, die eigentlich unterentwickelt bleibt, beschränkt sich bei Varenius auf Fragen der Bestimmungen der geographischen Länge, der Trigonometrie, und auf praktische Aspekte der Navigation. c) Bedeutend daran ist dennoch die Art, wie Varenius die Beziehungen zwischen der allgemeinen und der speziellen Geographie auffasst, und genauer, wie er die Begriffe von Allgemeinheit und Besonderheit für den Geographen neu bestimmt. Die allgemeine Geographie hat in der Tat die affectiones generales, die allgemeinen Eigenschaften dieses natürlichen Körpers, der die Erde ist, zum Gegenstand. Aber wie definiert man die Allgemeinheit einer Eigenschaft? Was diesen Punkt betrifft, so verweist Varenius auf zwei Texte des Aristoteles, Historia animalium und De partibus animalium (Über die Glieder der Geschöpfe) (jeweils das erste Buch), von denen er auf aufschlussreiche Weise Gebrauch macht. Aristoteles stellt sich in diesen beiden Texten eine methodologische Frage: wenn man bedenkt, dass den meisten Tieren die gleichen grundlegenden Eigenschaften 11 | »Geographia est scientia de mensura et distinctione orbis terrarum. […] Eius partes duae sunt; una Generalis; altera Specialis. […] Generalis seu universalis Geographiae pars est, quae tractat de mensura et distinctione globi terreni, sive quae tractat de toto globo Terrae et omnibus eius partibus simul sumptis. […] Eaq. iterum est vel Absoluta vel Comparata« (Keckermann 1612: 5-6).
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(Atmung, Wachstum, Schlaf) gemeinsam sind, muss man sich dann die Beschreibungen der Arten eine nach der anderen vornehmen, mit dem Risiko, sich zu wiederholen, oder aber mit der Beschreibung der gemeinsamen Eigenschaften beginnen, um daraufhin zu zeigen, wie diese sich bei dieser oder jener Gruppe von Tieren ausprägen?12 Varenius seinerseits bezieht Position: er beginnt mit der Nennung der allgemeinen geographischen Eigenschaften, die er dann auf die einzelnen Regionen anwenden kann.13 Dieser Punkt ist zu unterstreichen: im Fall der allgemeinen Geographie sind die vorrangig betrachteten Gebilde keine Oberflächen, sondern Eigenschaften, deren Art der Verräumlichung variieren kann. Zweierlei also: zunächst gibt es allgemeine geographische Eigenschaften, die allen Regionen der Erde gemeinsam sind, und man kann versuchen, sie in Sätzen eindeutig zu formulieren. Eben dies tut Varenius, gerade wenn er seiner Abhandlung eine demonstrative, nach Lehrsätzen gegliederte Form gibt. Aber dann geht es darum, die Verhältnisse zwischen diesen allgemeinen Eigenschaften und den besonderen Regionen zu bestimmen. Varenius ist in diesem Punkt ziemlich eindeutig: das Besondere ist, worauf man, unter gewissen Modalitäten, die geographischen Eigenschaften anwendet, die zunächst allgemein erläutert wurden. Das Besondere ist ein Beispiel des Allgemeinen. Kommen wir rasch zum Schluss. Die europäische Geographie verfügt zu Beginn des 17. Jahrhunderts über mindestens drei Arten, die Relationen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu betrachten, d.h. die Organisation der räumlichen Maßstäbe (und allgemeiner die Räumlichkeit ihrer Gegenstände) zu denken: ein Schema Ganzes/Teile der Verschachtelung der Oberflächen, in Abhängigkeit von ihrer Größe, ein prinzipiell graphisches und logisches Schema Gattung/Arten der Verästelung und schließlich ein Schema des deduktiven Typs (gemeinsame Eigenschaft/Anwendung aufs Besondere). Im ersten Fall wird der Raum als Oberfläche gedacht, im zweiten als Begriff und im dritten als Gesetz. Diese Schemata kommen nicht zur Deckung und können innerhalb eines einzigen Werkes nebeneinander existieren. Diese Koexistenz sollte die Geographie mit ihrer epistemologischen Ambivalenz durchdringen, und zwar noch auf lange Zeit. Aus dem Französischen von Marion Picker 12 | »Man muß sich also klar geworden sein, wie man die Untersuchung zu führen habe, ob man zuerst allgemein die Gattung und dann erst die Einzelfälle vornehmen soll, oder gleich die besonderen Arten« (Aristoteles 1959: 24, Buch I, Kap. 1, 639b). 13 | »Nos in Generali Geographia, quasdam affectiones generaliter explicavimus, quas in speciali Geographia ad singularum regionum explicationem accommodabimus« (Varenius 1650: 6).
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Mapping als Bildrhetorik Das karto- und abstrakt-graphische Denken der frühneuzeitlichen Publizistik Florent Gabaude und Veronique Maleval
Als »bimediales« Medium für die Massen vereinen die illustrierten Flugblätter der Frühen Neuzeit die gängigen epochalen Text- und Bildgattungen, nicht zuletzt die Kartographie, deren wachsende gesellschaftliche Bedeutung sie reflektieren und auch mitprägen. Die Stecher und Briefmaler sind die massenhaften Bilderproduzenten der Frühen Neuzeit. Sagt das religiöse Bild mit seiner gesamten Symbolik die göttliche Wahrheit aus, so gibt sich die pikturale Repräsentation für die Realität, das Flugblatt mit seiner Abbildung für die säkulare Wahrheit. Zwar kommt im Siegeszug der mimetischen Abbildung von Realität die alte Bildsymbolik des Mittelalters nicht abhanden,1 mit dem massiven Einsatz von Globen und Karten in der neuzeitlichen Bildpublizistik entstehen indes bereits Geo-Visiotypen,2 die in der heutigen Medienwelt weiterexistieren. Karten wollen das Abbild des Geländes sein, wo sie doch eine Abstraktion sind, eine reduzierte, einfachere »zweite Realität« (Luhmann). Wo das Bild für die Realität, die Karte für das Gelände genommen wird, wird übersehen, dass Bild und Karte stets Machtinstrumente sind. So wie es dem Freiburger Germanisten Uwe Pörksen um eine »Kritik der visualisierenden Vernunft« geht – nach Ludger Lütkehaus in seiner Rezension für die Neue Zürcher Zeitung –, so ist dem Geographen aus Bologna, Franco Farinelli, an einer »Kritik der kartographischen Vernunft« gelegen.3 Der gemeine Verstand glaubt an die Isomorphie von Darstellung und Dargestelltem, doch ist die Karte nicht das Territorium, oder sie wird erst performativ zum Territorium, insofern sie realen 1 | Vgl. hierzu Foucault (1968); Lyotard (1971); Warncke (1987). 2 | Pörksen (1997); Döring (2009). Pörksen versteht unter Visiotype »diesen allgemein zu beobachtenden, durch die Entwicklung der Informationstechnik begünstigten Typus sich rasch standardisierender Visualisierung. Es ist eine durchgesetzte Form der Wahrnehmung und Darstellung, des Zugriffs auf ›die Wirklichkeit‹« (Pörksen 1997: 27). 3 | Farinelli (1996; 2009).
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und imaginären Raum produziert: Karten sind Bilder, die Welten schaffen.4 Nicht von ungefähr gehören in der Frühen Neuzeit Stadtansichten, Karten und kartenverwandte Darstellungen wie die Globen zu den bevorzugten metonymischen, metaphorischen oder allegorischen Topoi der Bildrhetorik einer im Dienste des Stadtpatriziats oder der Fürstenhäuser stehenden Flugblattpublizistik. Dass die Karte kein Spiegelbild des Territoriums, keine objektive Darstellung der erfassten Umgebung ist, sondern ein Konstrukt, das mit Konventionen und Symbolen arbeitet, war bereits ein Befund der pragmatischen Semiotik und der Ikonologie. Wie Charles Sanders Peirce unterscheidet Ernst H. Gombrich zwei Modi der ikonischen Analogie: die Ikone als Bild oder Spiegel und die Ikone als Diagramm oder Landkarte.5 Für Victor I. Stoichita befindet sich das Gemälde »in der Mitte zwischen der kartographischen und der spiegelbildlichen Modalität« (Stoichita 1998: 209). Peirce fügt die Metapher als dritte Ähnlichkeitsbeziehung hinzu. Nach dieser dreifachen bzw. vierfachen Kategorisierung wird im Folgenden ein exemplarisches Korpus an Flugblättern untersucht, um den frühneuzeitlichen kartographischen Diskurs für die Vielen besser erfassen zu können und auch dessen Funktion im Dienste der fürstlichen Repräsentationsästhetik zu erörtern. Dabei kommt der stereotype Karteneinsatz sowohl als Requisit als auch als bildfüllende Darstellung vor.
I. B ILDHAF TE I KONIZITÄT Ab der mit der Renaissance einsetzenden Blütezeit der kartographischen Wissenschaft werden Kartenmotive in der Bildpublizistik immer beliebter. Für die Neuzeit ist die ältere Unterscheidung zwischen der den globalen irdischen Raum betreffenden Geographie und der regionalen Chorographie noch höchst relevant. Nach der Cosmographia des Claudius Ptolemäus (1467) oder Peter Apians (1539) ist die Chorographie der Geographie, was das Ohr dem Menschenantlitz ist. Mit der Körpermetaphorik ist die spätere Angleichung des Globusmotivs an den Nar4 | Dass die Karte das Territorium hervorbringt, ist kein Spezifikum der postmodernen Gesellschaft, wie es Jean Baudrillard (1981: 10) behauptet, sondern ist konstitutiv für die geographische Wissenschaft überhaupt. Schon Ernst Bloch (1973: 875) wendet sich gegen eine »reaktionäre« Erkenntnistheorie, die an »die Kartenaufnahme eines angeblich fix Seienden« glaubt. 5 | Peirce (1978: 149); Gombrich (1984). Vgl. dazu ferner Günzel/Nowak (2012). Im Gegensatz zum Maler kehrt der naturferne Kartograph, der mit dem frühmodernen Geographen eins ist, der Landschaft den Rücken: die von Stoichita (1998: 56; 207) angeregte Annäherung der beiden Holzschnitte von Hieronymus Rodler und Paul Pfinzig, die jeweils den Maler und den Kartographen paradigmatisch darstellen, wurde schon vor Stockhammer (2007: 17) von der Geographin Micheline Cosinschi-Meunier (2003: 325) vollzogen.
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renkopf angebahnt. Auf den textierten Kupferstichen haben die der Geographie zugehörigen Mappae mundi und Globen sowie die verschiedensten Darstellungen der regionalen Chorographien, von den Stadtansichten zu den Karten stricto sensu, einen deutenden, erschließenden Wert, soweit sie nicht bloß als Blickfang bzw. Gedächtnisstütze dienen. Jedoch sind die meisten Chorographien weniger metaphorisch, weil sie einen Abbildcharakter beanspruchen. Dabei ist die Grenze zwischen der »eigentlichen Abbildung«, der »Abkontrafeyung«, dem »Abriss« oder gar dem »Portraict«, sprich der mimetischen Nachzeichnung eines begrenzten Gebietes, und dem abstrakteren »Grund-Verzeichnis«, der ggf. skalierten Karte mit Koordinaten und dekorativen zeichnerischen Einsprengseln nicht immer einfach zu ziehen. Vielmehr beobachtet man einen quasi fließenden, durchaus nachvollziehbaren Übergang von der Kavaliersansicht zum Lageplan (z.B. von einer Schlacht) und zum Kartenausschnitt. Am interessantesten sind die zahlreichen Mischformen zwischen den populär gewordenen Landschaftsbildern und den mit dem Verfahren der Triangulation gewonnenen Karten. Zunächst sind die damaligen Karten mit zahlreichen schmückenden Zeichnungen versehen: Wellen im Meer, Segelschiffe, Meerestiere und -wunder, Meerjungfrauen und sonstige Fabelwesen gehören zur üblichen Verzierung leerer Räume im Kartenbild, wie der Ozeane und Wüsten. Weitere Abbildungen wie Allegorien der Winde oder der Kontinente zieren die Randleiste oder die Kartenecken. Die rationalistische Entzauberung der Welt, die Auszehrung des Lebens als Konsequenz der kartesianischen Wissenschaft, die die Natur als toten Körper betrachtet, bekundet sich in der Kartographie der Moderne darin, dass die zunächst an die Kartenränder gebannten geheimnisvollen Wesen und Erscheinungen getilgt werden und dass die Mischformen zwischen Ansicht und Karte allmählich ganz und gar verschwinden und durch rein zenitale Karten abgelöst werden.6 Über die wohl bekannten, den Kosmographien entlehnten Beispiele hinaus tritt oft das Nebeneinander von pikturaler und geometraler Zeichnung in der Form der Tiefenstaffelung auf: das Absetzen eines figurativen Vordergrunds vom Kartenhintergrund. Im Vordergrund befinden sich posierende, zuschauende, kommentierende oder konversierende Menschen, oder aber eine Schlachtenszene; im Hintergrund dagegen, statt eines Panoramabilds oder einer Vogelschaukarte, ein Stadt- oder Lageplan. Die Verflechtung wird noch enger, wenn sich die verschiedenen Formen der Geländedarstellung und mimetischer Abbildung mit dem graphischen Abriss, sprich der Geometrisierung, überlagern.7 Die schiefe Axonometrie der Militär- und Kavalierperspektive ist mit dem ichnographischen Abriss, die Vogelperspektive mit der rein planimetrischen Karte kontaminiert. Landschaftsbild und abstrakter Plan vertragen sich im Prinzip nicht, die Zusam6 | Vgl. hierzu u.a. Stockhammer (2007: 42ff.). Obwohl für Semiotiker Karten per se immer teils analoge, teils digitale Mischprodukte sind, vgl. Goodman (1997: 163 u.ö.). 7 | Vgl. Verdier/Besse (2010).
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mensicht von verschiedenen perspektivischen Darstellungen, die Kombination von Schrägansicht und Senkrechtansicht, von Grund- und Aufriss wirkt mitunter befremdend. Wenn auf einem Plan oder einer Flurkarte sichtbare Symbole wie Einzelbäume oder -häuser, Kirchtürme, Burgen oder gar Menschen eingezeichnet werden, dann sieht das aus wie eine perspektivische Landschaftsminiatur. Vergleichen wir zur Veranschaulichung dieser Gradunterschiede und der weitgehend chronologischen Entwicklung der kartographischen Raumabbildung vier Belagerungspläne, die historische Flugblätter über gewaltsame Stadteinnahmen im 16. und 17. Jahrhundert zieren. Der Bericht von Ir dürchleüchtigkeit Maximilian, erwölter könnig In Bolen 1587 zeigt den Angriff des neu gekrönten Maximilian III. auf Krakau im November 1587 aus der reinen Vogelperspektive. Im Vordergrund sind die Reiterformationen Maximilians aufgestellt, die sich, von reitenden Offizieren geleitet, auf die Festung hin bewegen. Im Mittelgrund wurden die Vororte in Brand gesetzt und am Horizont erblickt man links das österreichische Lager im Kloster Mogila und rechts den Stadtprospekt. Diese Darstellung sieht trotz Vogelschau einer Feldskizze oder einem Schlachtgemälde ähnlicher als einer Karte. Ein weiterer Kupferstich zur Belagerung und Bestürmung Magdeburgs zeigt die besetzte und bereits in Brand gesetzte Stadt mit den umliegenden Ortschaften und der Elbe: Eigentlicher Bericht So wol auch Abcontrafeytung/welcher gestalt die weitberümbte unnd mächtige Hense Stadt Magdenburg von dem Käyserlichen General Herrn Tserclas Grafen von Tylly/[et]c. den 20. Tag Maii dieses jetzt lauffenden 1631. Jahrs mit gewehrter und stürmender Hand erobert worden: Auß unterschiedlichen glaubwürdigen Schrifften zusammen gezogen.8 Auf dem Bild erkennt man sehr deutlich die berittenen Einheiten und die Landsknechte mit ihren langen Piken; die aufgeschlagenen Zelte und die feuernden Geschütze. Aber die beinahe geometrale Perspektive und die Angabe der Ortsnamen sowie die innere Gliederung der Straßen und der Baublöcke entsprechen der zeichnerischen Darstellung eines Stadtplans mit plastischen Gebäuden, wie sie damals üblich war. Auf einem Kupferstich des belagerten Wiens mit dem Titel Wahre eigentliche Grund-Verzeichnis und Situation, Der Kayserl. Haupt= und Residenz=Stadt Wien/ in Oesterreich. Von deren Ursprung/Erbauung/und unterschiedlichen Veränderungen/samt annoch instehender gewaltiger kurzer Verfaß mit beygesetzt. Anno 16839 ist die Stadt intra muros rein geometrisch und ohne jegliche Verzierung gezeichnet. Die Verteidigungsanlagen sowie das umgebende Naturgelände und das umschließende osmanische Truppenlager sind ebenfalls zenital erfasst, aber mit perspektivisch wiedergegebenen topographischen Einzelheiten wie Baumgruppen, Brücken und Zelten. Um die Festung herum sind sogar einige aus der Vogelschau gezeichnete Reiter und kämpfende Fußsoldaten zu erkennen, die mehr als bildhafte Signaturen fungieren und eine narrative Funktion besitzen. 8 | O.O., 1631, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Einbl. YA 6408 gr. 9 | O.O., 1683, http://vd17.bibliothek.uni-halle.de/pict/2001/3:318918T vom 28.6.2012.
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Sonst weisen als symbolische Signaturen ein Pfeil auf der Donau und ein Kompass am Ufer jeweils die Fluss- und die Nordrichtung. Seltsam wirkt dagegen die Darstellung, wenn in einer zenitalen Zeichnung Häuser mit verzerrter Perspektive abgebildet werden, so in dem 1623 entstandenen Abriß und Erklärung/Welcher gestalt die Namhaffte Lipstadt in Westphalen underm Commando Ihrer Excellentz: Graffen Johann HERren zu Oestfrießlandt und Rittberg.10 Der dreieckige Umriss der belagerten Stadt zeigt nur die Stadtmauer mit den in widersprechender projektiver Sicht gezeichneten Stadttoren und umstehenden Kirchen. Aus der Landschaft bzw. Karte ragende Kirchtürme gehören zu den natürlichen Landmarken, auf denen die Triangulation basiert, sind aber auch eine metonymische Erinnerung an die im Prozess der frühneuzeitlichen Erdumrundung zu Gunsten der Nah-Fern-Beziehung schwindende Oben-Unten-Beziehung. Die kartographische flächendeckende Darstellung rührt von der Erkundung der Ozeane her. Peter Sloterdijk sieht darin in Anlehnung an Carl Schmitt eine horizontale »Raumrevolution« und den Vollzug der ersten Globalisierung (Sloterdijk 2006: 134). Paul Virilio bringt diese Neuorientierung mit der Einführung der Perspektive und des Fluchtpunktes während des Quattrocento in Zusammenhang: »Die gesamte Geschichte der Perspektiven während des Quattrocento ist übrigens nichts anderes als ein von hartnäckigen Geometern geführter Kampf, eine Schlacht für das Vergessen der Unterscheidung zwischen ›oben‹ und ›unten‹« (Virilio 1996: 25). Zu Beginn der Neuzeit wie heutzutage ist von Seiten der Gelehrten Kritik an der Globalisierung und am »gekerbten« Raum (Deleuze 1980: 592) der Welteroberer deutlich zu vernehmen. So tadelt schon Sebastian Brant in seinem epochemachenden Werk Das Narrenschiff von 1494 die frühmoderne Vermessenheit der Landvermessung: »Wer uß misßt hymel/erd vnd mer Und dar jnn sücht lust/ freüd/vnd ler Der lüg/das er dem narren wer« (Brant 1986: 165).11 Desgleichen Andreas Gryphius im Prolog seines Trauerspiels Catharina von Georgien: »Setzt Bilder auff! durchlaufft die grosse See! Entdeckt ein wildes Land/setzt Nahmen auff den Schnee. Nennt Vfer/nennet Berg nach der Geschlechter Tittel Ja schreibet Freund vnd euch ans Monden Rand vnd Mittel! Doch glaubt diß auch darbey Daß auch diß was jhr besitzet euch noch recht bekand nicht sey/ Daß jhr/was Ewig ist hier noch nicht habt gefunden/ Daß euch nur Eitelkeit vnd Wahnwitz angebunden« (Gryphius 1991: 127).12 10 | Harms/Kemp (1987: Nr. 154): Belagerung und Einnahme von Lippstadt in Westfalen durch die Spanier vom 6. September bis 2. November 1623, o.O.; o.J. 11 | Kap. 66: »von erfarung aller land«. 12 | Nichtsdestoweniger schrieb Gryphius auch ein Lobsonett auf den Geographen Abraham Ortelius: »Uber Abraham Ortels Parergon«, ist doch das ptolemäische Verbot
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Etwas abweichend vom Vorbild dieser frühneuzeitlichen Paränetiker stellt heute Augustin Berque der abstrakt-geographischen Welterkundung und oberflächlichen Messlandschaft die überlegenere Aneignung der »Ökumene«, d.h. nach seiner Definition des vom Menschen bewohnten und beschrittenen Raumes entgegen. Laut Michel de Certeau ist die mittelalterliche Wegstreckenkarte ebenfalls der Ausdruck eines erlebten Raumes, der in der Frühen Neuzeit allmählich der vermessenen Landschaft weicht. Itineraria in der mittelalterlichen Tradition sind unter den neuzeitlichen Flugblättern noch vereinzelt zu finden (Paas 1985: P-655 bis P-657). De Certeau versteht die auf der Karte eingezeichneten Orte als erstarrten, toten Raum: der Raum wird erst durch die Bewegung des Menschen im Gelände lebendig. Für de Certeau wird »ein Ort immer durch einen reglosen Körper definiert« und nimmt »die Gestalt eines Grabes« an (Certeau 1988: 219). Es ist derselbe Gedanke, den Augustin Berque und Franco Farinelli – oder auch Roland Barthes in Bezug auf die Photographie (Barthes 1980: 30f.) – ausführen, wobei aber die beiden Geographen die beiden Termini »lieu« und »espace« umtauschen und den Raum als das Abstrakte, das Unpersönliche, und den Ort als das lebendige, mit Kultur gesättigte Individuelle betrachten (Berque 2000a: 20 u.ö.; Farinelli 2009: 25; 35 u.ö.). In enkomiastischen, konfessionellen oder satirischen Flugblättern haben »Geogramme« (Berque 2000b: 320ff.) wie empor stechende Kirchtürme, aber auch Küstenstriche, Felsen- oder Moorlandschaften nicht nur abbildende, sondern auch symbolische Funktion. Generell ist die Funktion der Karte in den Flugblättern teils dekorativ, teils informativ, teils persuasiv-rhetorisch und operativ. In den kartengestützten Kriegs- oder Belagerungsblättern untermauert die Visualisierung die historische Authentizität der berichteten Geschehnisse. Karten gehören aber vor allem zur herrschaftlichen Repräsentation.13 Durch graphische und visuelle Codierung werden in den bebilderten Flugblättern Machtansprüche geltend gemacht.14 Zum einen symbolisieren Territorien die Macht: Manche Militär- und Kavalierperspektiven zeichnen einen Prinzen bzw. einen Feldherrn als Standbild vor dem Hintergrund seiner Residenzstadt, seiner Besitztümer oder Eroberungen. Verschwindet der Herrscher aus dem Bild, so bleibt er in einem Medaillon oder in der Überschrift gegenwärtig. Die frühabsolutistische Karte dient der Vergegenwärtigung und Affirmation von Macht, sie markiert eine Topoprosopograder Erdumrundung mit dem »freien Sinn« des Kabinettsgeographen vereinbar, der »alles in sich selbst [findet]« (Gryphius 1963: 54). 13 | Die Landkarte gilt als Emblem der Herrschaft katexochen. Ein Emblem des Alcia tus (1987: 228f.) zeigt auf der pictura einen Kartenausschnitt Oberitaliens, das am Ende des Trecento vom größenwahnsinnigen Herzog von Mailand, Gian Galeazzo Visconti, beherrscht wurde. Die subscriptio verspottet die Eitelkeit seiner territorialen Eroberungen hinsichtlich der Enge seiner letzten Ruhestätte in Pavia. 14 | Vgl. Marin (1971: 267-290; 1980: 47ff.).
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phie (Marin 1981: 228) in praesentia oder in absentia, so wie jede aufgehängte Karte oder Kavaliersansicht überhaupt eine Demonstration von Macht bedeutet, sei es als Wandgemälde in einem Herrscherhaus, auf einem Plakat oder heute in den Büroräumen eines multinationalen Unternehmens. Zum anderen geht die Kartierung der Lebenswelt mit der Ordnungsfreudigkeit und mit der Verhöflichung der Umgangsformen im frühneuzeitlichen Fürstenstaat einher. Die Geometrisierung der gesamten gesellschaftlichen Praxis (Umzüge, Tanz, Theater, Baukunst, Gartenkunst, Kriegskunst usw.) ist eine Erscheinungsform des von Gerhard Oestreich beschriebenen Sozialdisziplinierungsprozesses in der Frühen Neuzeit.
II. D IAGR AMMATISCHE I KONIZITÄT Bildfüllende Karten Die Strukturierung der mittelalterlichen Radkarten wie der Ebstorfer Weltkarte erfolgt nach den Orientierungsmetaphern oben-unten und zentral-peripher sowie nach dem Motto »Gut ist oben, schlecht ist unten« (Lakoff/Johnson 2003). So sind diese Karten nach Osten orientiert, wo das irdische Paradies verortet wurde; Jerusalem bildet die Mitte. Die humanistischen Geographen wechseln den Blickpunkt, ohne an der bewährten Orientierungsmetaphorik zu rütteln. Gesüdete Deutschlandkarten weisen nun vom heimischen Zentrum auf Rom hin. So etwa Erhard Etzlaubs Pilgerkarte aus Nürnberg, die in den 1490er Jahren von Jörg Glockendon gedruckt wurde. Dieser Einblattdruck im Holzschnitt (28,5: 40,5 cm) trägt den Titel: Das ist der Rom-Weg von Meylen zu meylen mit puncten verzeychnet von eyner stat zu der andern durch deutsche lantt. Der Name Nürnberg befindet sich in größeren Lettern in der Mitte der Reisekarte. Der Rom-Weg, erläutert der Geograph Albert Herrmann, »führt in vier Straßenzügen von der Nord- und Ostsee und überschreitet die Alpen in drei Pässen« (Herrmann 1940: 13). Alle Wege führen nach Rom, aber über Nürnberg. Das Modell der mittelalterlichen Radkarte prägt noch viele Darstellungen der Frühen Neuzeit. Sebastian Münster entwarf 1525 eine Deutschlandkarte nach Etzlaubs Vorlage. In der Mitte des Holzschnittes im Hochfolioformat unter dem Titel Instrument der Sonne befindet sich eine kreisrunde Karte, deren Zentrum diesmal bei Coburg liegt.15 Anders als die Buch- oder Wandkarten ist dieser Einblattdruck eine interaktive Karte, welche die Funktion einer Meilenscheibe erfüllt. Der Einsatz einer von der Mitte stramm gezogenen Schnur ermöglicht 15 | Münster, Sebastian (1545): Erklerunge der || Newen Landtaffeln der || gantzen Germaniẽ oder Teutsch lan||des/vnnd außlegung des Jnstru=||ments der Sonnen/ nach allen || seinen Scheiben vnd Cir=||ckeln/Sampt desselbi||gen gebrauch vnnd || nutzbarkeyt, Marburg: Christian Egenolff d.Ä. (VD16 M 6672).
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es dem Benutzer, selbst nicht eingezeichnete Ortsnamen auf dem Kartenhintergrund genau zu orten. Die Städte- und Flussnamen werden auf einer beigefügten Tafel aufgelistet und mit zwei Zahlenangaben versehen: die erste gibt die Entfernung von der Kartenmitte in Meilen an, die zweite die Richtung auf der zirkulären Umrandung mit Tierkreiszeichen. Eingebettet werden somit die deutschen Lande in den größeren Zusammenhang der irdischen Kugelgestalt und der Himmelskarte. In Nachbildung der Münster’schen Globularkarte hat der Wittenberger Gelehrte Tilmann Stoltz 1560 eine noch größere doppelseitige Holzschnitt-Rundkarte erstellt: Die gemeine Landtaffel des Deutschen Landes. Etwan durch Herrn Sebastianum Münsterum geordnet (Herrmann 1940: 17) und die zugehörigen Erläuterungen in einer Einzelschrift herausgegeben.16 Bekannter als diese kartographischen Meilenscheiben sind die diagrammatischen Meilenscheiben. Im Vergleich zum vorigen Typus ermöglichen diese Wegzeiger nicht die Verortung von Städten auf der Karte, sondern die Routenplanung und die Entfernungsermittlung. Der praktische Zweck der Reise triumphiert über die reine curiositas. Diese Meilenscheiben entstanden in den großen süddeutschen Handelsmetropolen Augsburg und Nürnberg und führten für die einheimischen Kaufleute die wichtigsten Fernstraßen zu den Haupthandelsorten des Reiches an. Die älteste Karte aus dem Jahre 1563, mit Augsburg als Mittelpunkt, stammt vom Lehrer und Kupferstecher Hans Rogel. Diese Einblattdrucke erfreuten sich als Reisebegleiter bis in das 17. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit. 1613 druckte Abraham Wagenmann in Nürnberg einen Kurtze[n] Wegzeyger. Der vornembsten Weg/und gebräuchlichsten Strassen in TeutschLandt/verzeichnuß und unterweisung: Insonderheit/wie fern der Städt eine/Von der … Käyserlichen freyen Reichstadt Nürnberg/und widerumb von der Städt einer gen Nürnberg zu raysen hat. Mit sonderm Fleiß in Druck verfertigt/durch Johann Schirmer Hilverhufen (Harms/ Schilling 1997: Nr. 239). An den Ecken sitzen die Allegorien der vier Kontinente. Die Stadtsilhouette von Nürnberg mit der besonders hoch ragenden Burg steht im zentralen Medaillon. Die Umschriften in der Randleiste geben die vier Himmelsrichtungen an. Das Kreisdiagramm wird in zwölf und vierundzwanzig Kreisausschnitte unterteilt. Dadurch bildet die Meilenscheibe eine Analogie zur Uhr und unterwirft damit den Raum dem dominanten Zeitfaktor. In der Zeit der Globen und Meilenscheiben entsteht der globale Kapitalismus, der dank der Weltumrundung eine reale und mit Hilfe der Kartographie eine fingierte Reduzierung des Raumes und, mit Marxens Worten, eine »Vernichtung des Raums durch die Zeit« (Marx 1974: 438) vollzieht. Jeder Kreissektor gibt den Zielort an, zeigt die Etappen und die jeweilige Entfernung zwischen den Stationen. 16 | Stoltz, Tilmann (1560): Kurtzer vnd || klarer Bericht vom || Gebrauch vnd nutz der newen || Landtaffeln/sampt jren zugeor=||denten scheiben oder Circkeln || in etliche capittel verfas=||set dem g[ue]nstigen || Leser zu gut || Durch || Tilemannum Stellam || von Sigen.|| Wittenberg: Johann Krafft d.Ä. (VD16 S 9275).
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Der »Teutsche Schulhalter« Kaspar Augustin schuf noch 1629 eine Meilenscheibe, wiederum mit Augsburg als Ausgangspunkt, die nur die »gebrauchsamsten Wege« auflistet: Accurata descriptio XXIII. Praecipuorum itinerum (Harms/Schilling 1997: Nr. 240). Der Kupferstecher verziert hier nicht nur den Mittelpunkt mit einem Stadtprospekt, sondern auch jeden Zielort am Rande des Kreises. Schließlich soll die Meilenscheibe den Käufer auch ästhetisch anregen, ist sie doch »Allen Raisenden Personen zu sonderm lieb und nutzen« gewidmet. Diese visuellen Formen des Städtelobs, aufbauend auf der Orientierungsmetapher zentral-peripher, konkurrieren in der Bildpublizistik mit dem frühabsolutistischen Herrscherlob in der oben erwähnten Form der Topoprosopographie. Bleiben wir bei dieser Metapher, der die Grundform des Kreises am besten gerecht wird. Hans Sebald Beham erstellte 1529 eine sehr detaillierte Zeichnung der Ersten Wiener Türkenbelagerung, eine 360-Grad-panoramische Ansicht von Der stadt Wien belegerung/wie die auff dem hohen sant Seffans thurn allenthalben gerings um die gantze stadt/zu wasser und landt mit allen dingen anzusehen gswest ist/Da von einem berumpten mäler/der on das auff s. Steffans thurn in der selben belegerung verordent gewest ist/mit gantzem fleiß verzeychnet und abgemacht/gescheen nach Christi geburt. M.ccccc.xxjx und im .xxx. in truck gepracht (Geisberg/ Strauss 1974). Dieses merkwürdige sphärische Panoramabild nimmt die heute mit aufwändigen Kameras, speziellen Objektiven und digitalen Manipulationen erzeugten Formen der Abbildung vorweg und ähnelt den bizarr verzerrten Kugelpanoramen. Der Standpunkt des Beobachters befindet sich in der Mitte: vom Wiener Stephansturm aus kann man einen Rundumausblick auf die Stadt und deren weiträumige Umgebung gewinnen. Aber wie im Falle der bereits besprochenen Belagerungskarten stehen hier die Ereignisse und nicht die Landschaft im Mittelpunkt des Interesses. Von der Gestaltung her ist das Blatt wiederum eine hybride Zeichnung zwischen Landschaftsbild und Karte. Eine Kreisstruktur, diesmal mehr mit zeitlicher als mit spatialer Symbolik, weist auch ein Flugblatt aus dem Jahre 1604 mit dem Titel Imago Flandriae (Harms 1983a: Nr. 36) auf.17 Dieses Blatt knüpft an die damals sehr beliebte publizistische Gattung der vaticina an – mit der Fiktion einer beinahe hundertfünfzig Jahre alten, warnenden Weissagung, die es nun zu entschlüsseln gilt – und bietet gleichzeitig eine Art visuelle Topo-Chronologica, indem es das Schicksal der Grafschaft Flandern von deren Einverleibung in das Habsburger Reich über den Beginn des Unabhängigkeitskrieges bis hin zu der gegenwärtigen Situation umreißt, wo nun der spanische General Ambrosius Spinola und Moritz von Oranien um die Vorherrschaft kämpfen. An der Peripherie des Kreises befinden sich zwölf Glockentürme als Synekdochen für zwölf flandrische Städte, die auch mit ihrem lateinischen Namen genannt werden: St. Baes, Béthune, Bergen, 17 | Kupferstich von Matthias Quadus, o.O., 1604.
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Cassel, Brügge, Arden, Gent, Aalst, Sint-Amands, Douai, Sedelgem, Wendinen. Unberücksichtigt bleiben dabei die Städte Ypern und Rüssel (Brüssel), wie sich der Ausleger der Weissagung wundert, nur weil sie im Mittelfeld angegeben werden, um die zentrale Gestalt einer milchspendenden Nackten herum, einer weiblichen Allegorie für Flandern. Dabei findet auch die organische Metaphorik Verwendung: der Kopf weist auf die Hautpstadt Gent, der rechte und der linke Arm auf Brügge und Ypern, die beiden Füße auf Brüssel und Douai. Eine weitere kartierte, diesmal heraldische und mit der Körpermetaphorik kontaminierte Form der zentral-peripher-Metapher ist ein Kölner Kupferstich aus dem Jahre 1587, betitelt Das H. Romisch Reich mit sampt seiner glider wapen (Harms 1983a: Nr. 64), der den bergenden Schutz der Reichsstände unter den Fittichen des bildfüllenden kaiserlichen Doppeladlers illustriert. In der Mitte befindet sich der Reichsapfel als Sinnbild für das Zentrum der Macht. Auf jeder der vierundzwanzig Federn, worin immer noch die horologische Zahlensymbolik steckt, werden jeweils vier Stände durch Namen und Wappen dargestellt. Die gravierten Bildinschriften und die vier Medaillons an den Ecken beziehen sich auf die offizielle Lehre der translatio imperii, der Übertragung des römischen Reiches durch den Papst an die Habsburger.
Karten als Requisit So wie seit Martin Behaims Erdapfel der Globus zum zierenden Möbelstück der adeligen und bürgerlichen Salons wird, so werden auch die kartographierten Städte und Länder in der frühkapitalistischen Materialisierung der Territorien zum Spielgewinn, etwa bei den ab dem 17. Jahrhundert besonders beliebten allegorischen Gänsespielen.18 Das schon im Mittelalter bekannte Gänsespiel ist seit dem 16. Jahrhundert in Europa sehr verbreitet (vgl. Brednich 2010). Wie immer, vor allem bei den Kartendarstellungen, setzt die Bildpublizistik auf das Wiedererkennungsprinzip und knüpft an Bekanntes an, um alte oder neue Inhalte zu vermitteln. So heißt es im LE IEV DV MONDE betitelten Kupferstich: »Le premier Cercle marque le Monde Polaire; les 14 suivants les pais d’Amerique; les 15 en suitte, depuis 16 jusques a 30 ceux d’Afrique; les 19 autres jusques a 49 ceux d’Asie; et les 18 restants ceux d’Europe. L’assemblage de ces pais se voit aux quatre parties du Monde descrites aux quatre coings du Ieu« (Hill 1978: 6f.). Die in den damaligen ikonographischen Programmen topische Allegorie der vier Erdteile weicht hier einer kartographischen Figuration, in deren Mittelpunkt die vignettenartigen Miniaturen der verschiedenen Länder stehen, die die Kontinente ausmachen. Dem Muster des Gänsespiels entspricht die spiralförmige Abfolge der abgebildeten Länder in Medaillons. Dieser symbolischen Form ist entweder eine zentripetale Bewegung inhärent, wie hier mit dem Schneckenmodell die 18 | Paas (1985: P-686 bis P-703; P-709 bis 713; PA-154).
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Hinführung zum Zentrum der Macht, oder eine zentrifugale, wie etwa im Sonnendiagramm der Meilenscheiben, wo eine Ausstrahlung der Macht nach außen stattfindet. Die kreisende und zielgerichtete Dynamik der linksdrehenden, in die Mitte führenden Spirale drückt eine Bewegung von den Rändern der Welt bis zu deren Mitte, dem Königreich Frankreich aus. Die Radierung ist eine Adaptation des in Europa seit dem Mittelalter bekannten Gänsespiels durch Pierre du Val, »Geographe du Roy«, und sie hat sowohl einen spielerischen als auch einen didaktischen Zweck. Überhaupt sind die Figura serpentina und die Spiralfigur Lieblingsfiguren des Manierismus und des Barock (vgl. Leonhard 2007). Als weitere Beispiele seien zwei enkomiastische deutschsprachige SpiralLaufspiele aus dem Dreißigjährigen Krieg angeführt, deren Mittelpunkt diesmal kein geographischer, sondern ein persönlicher ist: der General Spinola bzw. Gustav Adolf. Bei den Spielen geht es darum, in der Form der vier- bis fünfläufigen Spirale die Fülle der Stadteroberungen visuell zu dokumentieren: der Kupferstich Abbildung der fürnembsten Städt/Schlösser vnd Flecken in Teutschland so sich seiner Ex. Marq Spinola ergeben in Anno 1620 und 21 (Harms/Kemp 1987: Nr. 132) und die Radierung Kurtze Beschreibung/vnd ins Kupffer gebrachte … Städt… welche die Königliche Majestät…eingenommen hat, Nürnberg, 1632 (Harms 1983a: Nr. 88). Die Spirale suggeriert hier die Unendlichkeit der Siege des jeweiligen Feldherrn, des Spaniers Ambrosius Spinola und des Schwedenkönigs Gustav Adolf. Eine ähnliche enkomiastische Funktion erfüllt die Serpentina-Graphik bei der Visualisierung der Leichenprozessionen fürstlicher Persönlichkeiten (vgl. Gabaude 2010). Jede der 67 bzw. 103 chronologisch aneinandergereihten, ovoiden Spielfelder zeigt eine Stadtsilhouette. Die zentrifugale Anordnung der Spielfelder illustriert die dynamische und beinahe eigengesetzliche Kraft, die vom Feldherrn im Mittelfeld ausgeht und eine schier unaufhaltsame Abfolge von Siegen herbeiführt: es entsteht eine Art positiver Domino-Effekt. Allerdings läuft diese unmittelbare Bildlektüre dem normalen Ablauf des Gänsespiels gleich zweimal zuwider: zum einen müssen die Züge der Spieler stets in Richtung der Spielmitte erfolgen und nicht umgekehrt – das Zielfeld ist der Ausgangspunkt! –, und zum anderen ist das eigentliche Spiel so angelegt, dass die Mitspieler dauernd Rückschläge erleiden und jeweils um eine gewisse Anzahl Felder zurücksetzen müssen. In der Tat sind die beiden Flugblätter überhaupt nicht als etwaige Spieltafel gedacht – in der Spirale sind auch keine Hindernisfelder vorhanden –, sondern als reines Enkomion. Erstaunlich ist außerdem im Falle Spinolas, dass das chronologische Entrollen der Vignetten dem Ordnungsprinzip des Uhrzeigersinns widerspricht, also dass der rekonstruierte Geschichtsverlauf chronologisch verkehrt angeordnet ist.
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III. M E TAPHORISCHE I KONIZITÄT Bildfüllende Karten In den allegorischen Figurenkarten wird auf einen Kartengrund eine andere Realität aufgesetzt, etwa eine Blume, ein Tier oder ein weiblicher Körper. Nach der Bildrhethorik der Groupe µ bedeutet diese Form der Bildmetaphorik eine gegenseitige Durchdringung von zwei Signifikanten, eine Überlagerung zweier Realitäten (Groupe µ 1992: 274). Dieser Doppelblick scheint eine anthropologische Konstante der Aneignung kartographischer Projektionen zu sein. In seinem Aufsatz »›Deep play‹: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf« notiert Clifford Geertz zum Selbstbild des Landes und der Einwohner Balis Folgendes: »Sogar die Insel selbst wird in ihrer Form als ein kleiner, stolzer Hahn wahrgenommen, sprungbereit, den Hals gereckt, den Rücken gestrafft, den Schwanz hochgestellt, eine ewige Herausforderung an das massig unförmige, hilflose Java« (Geertz 1983: 210). In der Frühen Neuzeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden allegorische Darstellungen von der Welt bzw. von einzelnen Ländern in Form eines Kleeblatts, einer Rose, eines Adlers (als Weltkarte oder als Aquila Tirolensis), eines Löwen, einer sitzenden Dame, eines Paares oder gar eines Dudelsackspielers immer beliebter. Später haben sich auch die Kriegspropaganda und die Karikatur dieses bildrhetorischen Verfahrens bemächtigt (vgl. Hill 1978). Die Anthropomorphisierung der Karten wirkt der inhärenten Tendenz der Kartographie zur Entpersönlichung oder »Entsozialisierung« (Harley 1988: 303) und »Tötung« (Farinelli 2009: 39) des Territoriums entgegen. Die Metapher lässt sich auch im wissenschaftlichen neuzeitlichen Zeitalter nicht beseitigen und man knüpft wieder an die körperbetonte Darstellung des Mittelalters an. Die Ebstorfer Weltkarte zeichnete die Welt als Christus mit Kopf und Füßen. Heinrich Bunting vollzieht im Itinerarium sacrae scripturae mit seiner Pegasus-Karte den Übergang vom männlichen Körper Christi zur weiblichen Gestalt Europas19 und zur tierischen Gestalt Asiens (vgl. Heijden 2001). Die verschiedenen allegorischen Karten Europas aus dem 16. Jahrhundert, von Johannes Bucius’ Karte aus dem Jahre 1537 über Sebastian Münsters und Heinrich Buntings Nachahmungen ab 1543 bis hin zu Franz Hogenbergs Europa quatuor orbis terrae praestantiss aus dem Jahre 1588 dokumentieren den Vorgang der Remythologisierung der Kartographie – am deutlichsten das letztgenannte Beispiel, das den Stiermythos visuell mit einbezieht. Die »Erste Taffel«, schreibt Heinrich Bunting in der Vorrede seines Werkes, »begreifft die gelegenheit des gantzen Erdbodems/in der gestalt eines Kleeblats« (Bunting 1588: 3). Diese allegorische Darstellung der ganzen Welt 19 | Hier sei nur auf die jüngsten Untersuchungen zur vielbesprochenen Thematik verwiesen: Renger/Ißler (2009); Maleval/Gabaude (2012).
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ist eigentlich wie eine Meilenscheibe angelegt, deren Kern das Heilige Land mit der Stadt Jerusalem in der Mitte ist: »Also kanstu nun die gelegenheit des gantzen Erdreichs/durch diß Kleeberbladt fein lernen/das du wissen kanst/wohin ein jeglich Land oder Stadt von Jerusalem gelegen sey/und merck die Zahl die hin und wider bey die Stedt geschrieben sind/Denn die zeigen an/wie viel meilen ein jegliche Stadt von Jerusalem gelegen sey«, schreibt er an den Leser (ebd.: 6). Die Europakarte Buntings (vgl. Abb. 1 und 2) ist insofern interessant, als sie an der Schwelle zwischen Abbildung und Allegorie steht. Die »wahrheitsgetreue« Abbildung und die metaphorische Karte fließen bei Bunting ineinander. Der Autor zeigt in einer zweiseitigen Tafel »Die eigentliche und warhafftige gestalt der Erden und des Meers«, die er sorgfältig vom Kleeblatt und von der gekrönten Europa absetzt. Die »Erklerung« jener Tafel ist derart metaphorisch, dass sie sich nur graduell von der ins Detail gehenden »Erklerung« der »gemelten Europae« unterscheidet. Hier beide Textstellen im Vergleich: »gegen Nidergang der Sonnen findestu Europam/das erste theil der Welt/welcher sich einer ligenden Jungfrawen vergleichet Das Haupt ist Hispania/die Brust Franckreich/ das Herz Deutschland/der lincke Arm Dennemarck/der rechte Arm Welschland/fornen am Rocke findestu Griechenland/und hinden der nachschweiff am Rocke ist Liffland und Reussen« (ebd.: 7). 20 »Das Heupt/wie du sihest/ist Hispania/und recht oben in der Kronen/ligt Lusitania sonsten Portigal genent. Das rechtere Ohr ist Arragonia/und auff dem lincken Ohr/hat man das Königreich Navarra. Die Brust dieser Europa ist Gallia oder Franckreich/daselbst findet man auch die Königlich Stadt Paris. Die Alpes oder Alpgebirg/und der Reinstrom/sind gleich als Ketten die Europa im Halse hat/und der Behmer Walt/zu sampt dem gantzen Königreich Behem/ist wie ein Güldener Pfenning/oder wie ein rundes gehenge von Kleinoth/so an die Ketten des Reinstroms gehenget ist/durch die Mayn und den Hartzwalt/als durch güldene Glieder oder seidene Schürlein. Das rechte hertze aber in dieser Europa/ist das Edle Deutschland und insonderheit mein hertzliebes Vaterland/das Fürstenthumb Brunschweig. Der rechte Arm ist Italia oder Welschland/darinnen sind gelegen viel herrlicher Sted/ insonderheit aber Rom und Neapolis/des Reichs Apffel ist das Königreich Sicilia. Der lincke Arm an dieser Europa das Königreich Dennemnrck/welches zu unser zeit/ Gott lob/sehr reich und mechtig ist. 20 | Vgl. Pierre de Ronsards poetische Allegorisierung Europas über ihr Gewand: »Sur sa robe furent portrais/Maints ports, maints fleuves, maintes isles,/Et de ses plis sourdoient espais/Les murs d’un million de villes«. Ronsard (1993: 746): »A Monseigneur le Duc d’Alençon«, Le Troisiesme Livre des Odes, V.
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F LORENT G ABAUDE /V ERONIQUE M ALEVAL Fornen am Rocke findet man Peloponnesum und Griechenland/und ist der rechtere Fuß die Stadt Constantinopel/das jtzt der Türckische Keyser sein Hofflager hat. Hinden am Rocke dieser Europae ist gelegen Sarmatia zu sampt den Lendern Preussen/ Lieffland/Reussen und Moschow/und der lincke Fuß insonderheit ist das Land Reussen. Das Gebirge Albani/und das Wasser Danubius/sonsten die Donaw genant/sind gleich als lange Gürtel und Leibketten/die auff den Fuß herab hengen. Siehe also kanstu hiedurch diese gemelte Europae/dir fein einbilden/die gelegenheit der gantzen Europae« (ebd.: 14).
Abbildungen 1 und 2: Heinrich Bunting (1588): »Die eigentliche und warhafftige gestalt der Erden und des Meers« (oben), »EVROPA PRIMA PARS TERRÆ IN FORMA VIRGINIS« (unten), in: ders., Itinerarium Sacrae Scripturae. Das ist, Ein Reisebuch, Uber die gantze heilige Schrifft, Wittenberg: Ambrosius Kirchner d.J., (Staatsbibliothek Bamberg: 22/Geogr.it.f.23).
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Diese Darstellung ist mit dem heutigen Kartogramm verwandt, das eine wirklichkeitsgetreue Hintergrundkarte verzerrt, um die Bedeutung anderer kartierter statistischer Daten herauszustreichen. Es werden nur »natürliche« Züge der topographischen Vorlage akzentuiert, vergrößert bzw. verkleinert. Bunting vergleicht Europa von vornherein schon mit einer Jungfrau. Aus dem »treuen« Abbild des Kontinents macht dann die kartographische Stilisierung mancher Länder eine königliche Frauengestalt, nicht nur aus ästhetischen und mnemonischen Gründen, sondern weil die herrschaftlichen Attribute, die diese Länder hinzugewinnen, deren jeweilige politische Rolle im Reich betonen. Die Darstellung ist insofern keine Verbildlichung und keine translatio, sondern nur eine amplificatio oder diminutio, eine Über- oder Untertreibung mancher Aspekte und eine ikonische Syllepse, die die doppelte Wahrnehmung von verschiedenen ikonischen Zeichen ermöglicht. Wolfgang Kilians Bohemiae Rosa21 entspricht dem Aufbau der bereits im Mittelalter vorkommenden, wiederum kreisförmigen Zonenkarte. Das Besondere ist, dass diese Karte, dem Polyzentrismus des Reichs entsprechend, dank der Pflanzenmetaphorik zwei Zentren aufweist: Prag als geographische Mitte und Österreich bzw. Wien, die als Stammgebiet der kaiserlichen Habsburgermonarchie den Stengel nähren. Das Land besteht aus konzentrisch angelegten Ringen, den Blütenblättern. Ähnliche Doppelzentren weisen die Blätter Buntings auch auf: ist auf dem berühmten Kleeblatt Jerusalem die Weltmitte, so deutet der Autor selbst auf eine versteckte Mitte hin, seine Heimatstadt Hannover, dessen Wappen ein Kleeblatt führt. Auch das Heilige Römische Reich ist nach den Aussagen von Bunting polyzentrisch: das Haupt bildet Spanien, das Herz aber Deutschland; genauso der Nahe Osten: »Das Haupt dieses Pferdes ist das kleinere Asia/darinnen zu unser zeit der Türckische Keyser sehr mechtiglich herrschet und regieret.: Zwo Aderen/das sind die Wasser Euphrates und Tygris. Aber das rechte Hertze an diesem Pegaso und fliegendem Pferde/ist die Stadt Jerusalem/ und das Jüdische Land/forn an der Brust des Pferdes gelegen« (Bunting 1588: 18).
Karten als Requisit Die miniaturisierte Welt als Globus, als Artefakt des Nürnberger Meisters Martin Behaim, ist zum Anfassen nah. Der Landvermesser mit seinem Zirkel22 und der neuzeitliche Bürger bemächtigen sich der Weltkugel, die früher in der 21 | Vetter, Christian/Kilian, Wolfgang (1688): Bohemiae Rosa Omnibus Saeculis cruenta in qua plura quam 80 magna pratia commissa sunt nunc primum hac form excusa, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b55004587d vom 18.7.2012. 22 | Zum sinntragenden Motiv des Zirkels als Emblem der Geographie und der Chorographie, siehe Ripa (1989: 179-181), s.a. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k8505c vom 18.7.2012; den Holzschnitt zum Kap. 66 in Brants Narrenschiff (Brant 1986: 165);
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Hand Gottes lag oder Spielball des Amors war: solche Bildmotive sind noch aus der Emblematik bekannt.23 Mit dem Hinweis auf die verbotene Paradiesfrucht haftet dem Behaim’schen Erdapfel noch ein Hauch des Verruchten an. Peter Sloterdijk versteht die Neuzeit »als Übergang von der meditativen Kugelspekulation zur Praxis der Kugelerfassung« (Sloterdijk 2006: 49).24 In der zweidimensionalen Darstellung der illustrierten Flugblätter kommt die Welt als überdimensionierter Reichsapfel mit darunter- statt aufgesetztem Kreuz vor, in der Art eines Kugelfangspiels. In Andreas Gryphius’ Komödie Horribilicribrifax aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts droht, diesem letzten Bild entsprechend, der Maulheld und Möchtegern-Monarch als kaiserlicher Erdballträger die Weltkugel beim Stephansdom-Turm zu packen und sie gewaltsam umzustülpen.25 Wien gilt hier implizit als Omphalos, als Weltnabel, wo statt eines Marmorkegels eine Kirche errichtet wurde. Andreas Wang erwähnt in einem Aufsatz die Weltkugel als ein »signifikante[s] ikonographische[s] Motiv« der Flugblätter des 17. Jahrhunderts (Wang 1977: 197). Im bildpublizistischen Motiv des aufrechten, schrägstehenden oder umgestülpten Reichsapfels als Weltkugel ist die vorige semiotische und ikonologische Unterscheidung der Ikone als Spiegel von der Ikone als Landkarte wieder zu beobachten. In den Beispielen des ersten Typus wird der Reichsapfel zum Abbild der Welt, deren wirres Treiben sich wie in einer Kristallkugel spiegelt.26 Zwei Flugblätter illustrieren den ersten Typus. Ein von Theodor de Bry gestochenes Flugblatt aus dem Jahre 1570 mit eingraviertem dreisprachigem Text zeigt einen dem Angriff von allegorischen und historischen Gestalten ausgesetzten riesigen Reichsapfel, der sich zur Seite neigt. Auf seiner Oberfläche sind vier Szenen politisch-militärischer Gewalt zu erkennen. Beklagt wird eine desolate Welt, die von Lastern regiert wird, wie es das Incipit klarmacht: »Envie, Ambition, Vooder das Emblem von Johann Mannich (Sacra emblemata, Nürnberg 1624, S. 73), in: Henkel/Schöne (1967: Sp. 45). 23 | Vgl. Covarrubias Orozco, Sebastián de: Emblemas morales, Madrid, 1610, Nr. 97; Rollenhagen, Gabriel: Selectorum Emblematum Centuria secunda, Magdeburg, 1613, Nr. 52, in: Henkel/Schöne (1967: Sp. 10 u. 47). 24 | Vgl. ferner: Sloterdijk (1999), Kap. 8: »Die letzte Kugel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung«. 25 | Gryphius (1969: 59): »Pfui! trit mir aus den Augen/denn ich erzuerne mich zu tode/wo ich mich recht erbittere/Vinto dal ira calda e bollente e dallo sdegno arrabiato, so erwische ich den Stephans-Thurm zu Wien bey der Spitzen/und drueck ihn so hart darnieder/si forte in terra, daß sich die gantze Welt mit demselben umkehret/als eine Kegel-Kaul.« 26 | Vgl. Crispin de Pas (= de Passe): Le monde retourné, 1635, Bibliothèque nationale de France, Cabinet des estampes, collection Hennin, Bd. 29, Nr. 2555.
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lupté, Tyrannie, Poure monde, te font, telle felonnie, Que Verité sommeille, et Justice sendort«. Der Vanitas-Gedanke und der Topos von der verkehrten Welt sind der gemeinsame Nenner all dieser plastischen Darstellungen mit Gewaltszenen, so auch in einem Vanitaes et vanitates betitelter Kupferstich von Crispin de Passe, in dem der Teufel, die Frau Welt und ein Narr auf dem umgestülpten Reichsapfel thronen (Harms et al. 1983b: Nr. 31). In den Beispielen des zweiten Typus wird der Reichsapfel zum stereotypen kartographierten Erdball. Auf einem textlosen Flugblatt – oder mit verschollener subscriptio – aus dem Dreißigjährigen Krieg steht das Reichskleinod mitten auf einem Schlachtfeld und wird von türkischen und kaiserlichen Reitern angegriffen. Auf der Weltkugel erkennt man eine auf Deutschland und Bayern fokussierte Landkarte, den Kriegsschauplatz (Wang 1977: 197). Auf einem Kupferstich von Conrad Goltzius vom Ende des 16. Jahrhunderts, Ey Stuirman du mein frummer knecht, ist ein umgestürzter Reichsapfel als Globus mit den grob skizzierten Konturen der Kontinente zu sehen (Harms/Schilling 1997: Nr. 59). Wieder wird das Motiv der verkehrten Welt mit Narrenmotiven gekoppelt: mit dem Narrenschiff, einem liebesvernarrten Leimstängler, dem Taubenhaus – nach dem Sprichwort: »Jungfrauen Sinn und Gemüt ist wie ein Taubenhaus; ein Narr fliegt ein, der ander aus« – sowie dem auf einem Esel verkehrt herum sitzenden Affen. Mit dem Kupferstich vom Beginn des 17. Jahrhunderts, Nosce te ipsvm, wird die Angleichung der Welt an die Narrheit dadurch noch weiter vollzogen, dass der Globus nun an die Stelle des Narrenkopfes rückt und in die typische Narrenbekleidung mit Kappe und Glöckchen gesteckt wird (Harms 1983a: Nr. 135; Harms 1983b: Nr. 30; Sauret 2004: Abb. 3.4 u. 63-68). Die hier abgebildete Mappa Mundi ist viel detaillierter als in den vorigen Beispielen, gezeichnet ist das Netz der Längen- und Breitenkreise, auch Landschaftsnamen und Ozeane werden eingetragen. Darauf werden alle damals bekannten Kontinente auf einer Ebene dargestellt und leicht verzerrt, um die Illusion einer sphärischen Oberfläche zu erzeugen. Die gläserne Kugel, die den Narrenstab ziert, bildet das Vanitas-Pendant zur Erdkugel und deren homothetische Reduplikation. Wir haben es hier, um es mit den bildrhetorischen Begriffen der Groupe µ auszudrükken (Groupe µ 1992: 270ff. u.ö.), mit einer zweifachen ikonischen Metapher zu tun, einmal in absentia, durch die Vertauschung des Kopfes und des Globusses, dann in praesentia mit dem Nebeneinander der Erd- und der Glaskugel. Mit Hilfe dieser Tropen soll die Wesensgleichheit der zwei ikonischen Figuren des Dummkopfes und der Vanitaskugel bzw. -blase – Leere und Eitelkeit – auf die dritte Figur, die Weltkugel, übertragen werden.27 Das Motiv der Welt als Nar27 | Das Motiv der der Vergänglichkeit ausgelieferten Erdkugel existiert bereits in der Emblematik, vgl. Rollenhagen, Gabriel: Nucleus Emblematum selectissimorum, Nr. 73: HVMANA FVMVS (Henkel/Schöne 1967: Sp. 45).
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renwerk, der Weltkugel im Narrengewand wurde von Johann Theodor de Bry übernommen.28
IV. S CHLUSSBEMERKUNGEN Der Beitrag wollte einen Einblick in die große Vielfalt an Kartenbildern in den illustrierten Flugblättern, dem Massenmedium der Frühen Neuzeit, geben und dabei hervorheben, dass die Semantik der neuzeitlichen Kartographie in den Randbereichen der Kartographie (Stadtansichten, Meilenscheiben, Globen, Herzkarten, anthropomorphe Karten…) über eine ausgeprägte metaphorische Bedeutung verfügt: angefangen von der die Oben-unten-Metapher aktivierenden mittelalterlichen T-Karte über den umgestülpten Erdball als Reichsapfel oder den Globus mit der Narrenkappe bis hin zur raumzeitlichen Semantik der Chorographien und Topoprosopographien, die Machtzentren festlegen und territoriale Machtausdehnung zeigen. Der beschriebene doppelte neuzeitliche Prozess der Kartierung der visuellen Topographien (von den Veduten zu den Lageplänen) und der Entmythologisierung der Kartographie – die Allegorien der Erdteile etwa regredieren zum schmückenden Beiwerk an den Kartenrändern – ist indessen mitnichten linear fortschreitend. Es ließen sich auch Beispiele einer diachronischen Entwicklung von der Vogel- zur Feldperspektive nennen.29 Postmoderne Ausläufer der digitalen dreidimensionalen Kartographie mit satellitengesteuerter Software wie Google Street, eingebauten Navigationsgeräten im Auto oder Handys mit »Navi«-Funktion verlassen wiederum in einem teilweise rückläufigen Prozess – weil das Messverfahren doch präziser wird denn je – die zenitale Perspektive zugunsten der Front- oder Seitenansicht eines Wanderers. Somit kehrt man von der modernen Reiseroute, die von Straßenkarten oder Meilenscheiben etabliert wird, zur mittelalterlichen Wegstreckenkarte zurück. Vor allem ist aber bereits ab dem 16. Jahrhundert der bedeutende Vorgang der Re- bzw. Neumythologisierung der Kartographie zu beobachten. Die metaphorische Kontinuität zwischen der Ebstorfer liturgischen Mantelkarte und der neuzeitlichen königlichen Gewandkarte Europas ist insofern nicht verwunderlich. In den Flugblättern wird der Bildtypus Karte entweder als Requisit oder als bildfüllendes Element eingesetzt. Die rhetorische inventio schöpft aus einem 28 | Bry, Johann Theodor de: Emblemata secularia mira et jucunda … Weltliche, lustige newe Kunststück der jetzigen Weltlauff fürbildende Francofurtum, 1596, http://daten. digitale-sammlungen.de/~db/0002/bsb00024751/image_49 vom 28.6.2012. 29 | So etwa in den Titelbildern der Tableaux von Vigenère, 1614, und der Peintures morales vom P. Le Moyne, 1641, die Marc Fumaroli (1980: 379) in einer Studie zur Gattung der Frontispize vergleicht, die den bebilderten Einblattdrucken nahe kommt.
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Motivreservoir an »Ikonogrammen«,30 d.h. wiederkehrenden ikonischen und plastischen Motiven (wie dem Reichsapfel, dem Kreis für die Rad- und Zonenkarten und der Spirale), auch an Leittopoi mit räumlichem Charakter, die man in Anlehnung an Augustin Berque als »Geogramme« bezeichnen kann: die Stadtvignette, die Burg, der Turm, um welche mitunter eine ganze Landschaft kreist wie in den Kugelpanoramen. Bildfüllend sind außer Veduten und Lageplänen plastische diagrammatische Darstellungen wie die Thesenblätter oder die Meilenscheiben. Wie die Photographie verdinglicht die Karte die wiedergegebene Wirklichkeit und verwandelt sie in ein Museums- oder Sammelobjekt (Barthes 1980: 29). Die Meilenscheiben der reichen süddeutschen Handelsstädte symbolisieren die im Frühkapitalismus einsetzende Verdichtung von Raum und Zeit. Als lose Frühformen der Entfernungstabellen in den heutigen Taschenkalendern nähren sie die hodologischen Fantasien der Geschäftsreisenden und illustrieren den Vorgang der »Eroberung der Welt als Bild« (Heidegger 1950: 92) bzw. als Diagramm. Schließlich sind die allegorischen Landkarten – die gleichzeitig den Prinzipien der Metapher und der Metonymie (Vergrößerung bzw. Weglassen mancher Details bzw. Untertreibung) folgen – eine Art vormoderner Kartogramme: Wie die beliebten phyto-, zoo- oder anthropomorphen Karten der Frühen Neuzeit verzerren die heutigen Kartogramme auch das gewohnte Kartenbild, sie setzen auf den Überraschungseffekt und erzeugen Befremden. Der konstitutiven Ambivalenz der Bildmedien zufolge muss sich das Bild am Erwartungshorizont der »Anseher« orientieren und einen optischen Wiedererkennungseffekt erzielen. Andrerseits werden das Interesse und die Kauflust erst dann geweckt, wenn die Erwartung durch einen Überraschungseffekt, durch die Zusammenstellung von heterogenen Bildelementen (ikonische adynata) teilweise getäuscht wird. Wie der Philosoph Kostas Axelos behauptete, ist das Denkvermögen unfähig, sich von der Macht und der Schwäche der Bilder und Metaphern zu befreien (Axelos 1969: 106; 112).
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Kartographische Kommunikation, räumliche Organisation und ihre Darstellung im vorspanischen Mexiko und in der frühen Kolonialzeit Viola König
Gab es im vorspanischen Mexiko (Mesoamerika) Landkarten? Entsprechen die Dokumente, die in der Literatur als Landkarten bezeichnet werden, tatsächlich Landkarten gemäß europäischer Definition? Welche Definition von Landkarte liegt zugrunde? Gibt es neuere Definitionen, die sich für die physische Beschreibung der mesoamerikanischen und frühkolonialzeitlichen Dokumente und die Interpretation ihrer Funktion besser eignen als traditionelle europäische Definitionen? Die in der Fachwelt allgemein akzeptierte Annahme, dass bereits vor Ankunft der Europäer in Mexiko, bzw. der Spanier in »Neuspanien«, dort autochthone Landkarten in Verwendung waren, beruht auf der Tatsache, dass ein umfangreicher Korpus kartenähnlicher Dokumente aus der frühen Kolonialzeit von indianischer Hand existiert, Bildmanuskripte, die besonders zu Beginn der spanischen Kolonialzeit noch stilistische, ikonographische und auch inhaltliche Bezüge zu den wenigen erhalten gebliebenen vorspanischen Manuskripten aufweisen. Auch mehrdeutige Angaben in den Berichten der spanischen Conquistadores, Missionare, Verwaltungsbeamten und Richter des 16. Jahrhunderts scheinen diese Annahme zu bestätigen. Es handelt sich dabei um die so genannten Lienzos, spanisch »Baumwolltücher«, oder Mapas, spanisch »Landkarten«. Doch das Studium der vorspanischen Faltbücher, bekannt unter der Bezeichnung »Codices«, belegt die Existenz der Kategorie »Landkarte« nicht. In den Codices findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Daten, neben geographischen Eintragungen wie Toponymen auch historische, genealogische, fiskalische, kalendarische, augurische. Während auf den zuweilen überdimensionalen Lienzos und kleineren Mapas der frühen Kolonialzeit eindeutige Anlehnungen an europäische Landkarten und Katasterpläne aus der Kenntnis
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dieses neuen importierten Mediums erkennbar sind, weisen die vorspanischen Faltbücher oder Codices keine Charakteristika auf, wie sie aus europäischen (oder auch asiatischen) Landkarten bekannt sind. Eignet man sich jedoch das Spezialwissen an, um die Darstellungen in den Leporellos der Azteken, Maya und Mixteken zu verstehen, wird man zwar nicht von Landkarten oder kartographischen Dokumenten sprechen wollen, aber man wird die Kunst des Mapping bewundern, mit der die heterogenen Daten auf dem zur Verfügung stehenden Raum der schmalen Datenträger aus Leder, Baumwolle, Rindenfasern, Keramik etc. strukturiert und nach spezifischen Codes aufgezeichnet wurden. Doch sind sie keinesfalls mit den europäischen Karten der frühen Neuzeit vergleichbar. Erst aufgrund der konkreten Nachfrage der spanischen Eroberer nach Landkarten in europäischen Formaten mit möglichst präzisen geographischen Daten wurden die indianischen Bilderhandschriften dieser Forderung entsprechend angepasst. Daraus ergab sich für die indianischen Auftraggeber solcher »kartographisierten«, aber vorspanisch aussehenden Dokumente ein unmittelbarer Vorteil: der Nachweis des rechtmäßigen Besitzes von Land. Uralte Landkonflikte und die Tatsache, dass die spanische Gerichtsbarkeit echte vorspanische bzw. angeblich vorspanische Aufzeichnungen mit topographischen Daten als Beweisdokumente akzeptierte, führten kurzzeitig im 16. Jahrhundert zu einem kleinen Boom solcher Dokumente, die als Mapas, Lienzos oder gar Codice prehispanico die Gerichtsakten und lokalen Dorfarchive füllten. Drohte Zerfall oder mussten sie für gerichtliche Auseinandersetzungen weggegeben werden, wurden neue Dokumente, Kopien oder Varianten angefertigt, auf denen die typisch vorspanischen Elemente zunehmend verschwanden, da die Codes in Vergessenheit geraten waren. So genannte Kopien entsprachen nicht unbedingt ihren Vorlagen, weder physisch noch inhaltlich. Die Eintragungen wurden entweder gezielt manipuliert, um Landansprüche im Nachhinein geltend zu machen, oder ungewollt, weil man aus dem Gedächtnis zeichnen musste, da die Vorlage nicht mehr vorhanden war.
I. D AS S TUDIUM MESOAMERIK ANISCHER C ODICES UND FRÜHKOLONIALER L IENZOS UND M APAS Durch die Änderung unserer eigenen Darstellungs- und Sehgewohnheiten, den Übergang von einer reinen Textkultur in eine gemischte Text-Bildkultur und die Anwendung von Mapping-Verfahren im Alltag sind wir heute besser gerüstet als noch vor 40 Jahren, vorspanische Dokumente aus Mesoamerika zu decodieren und zu verstehen. Wir haben zu unterscheiden zwischen einerseits dem Mapping von Eintragungen auf dem Medium unabhängig von ihrem Inhalt und andererseits der Anordnung und Bedeutung spezifisch topographischer Eintragungen wie
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Ortszeichen, Verbindungslinien, Wasserläufen, Gebirgszügen, Landschaftsmerkmalen etc. Letztere sind auf ihre kartographischen Qualitäten zu prüfen, d.h. die Funktion, die sie erfüllen. Handelt es sich um die Dokumentation topographischer Eintragungen, z.B. um Kenntnisse realer örtlicher Gegebenheiten oder um Erinnerungen an mythische Orte festzuhalten? Sind für den Nutzer Handlungsanweisungen impliziert, um z.B. eine Reiseroute zu skizzieren? Wie ist der Bezug zu den übrigen kartographischen, aber auch nicht-kartographischen Eintragungen? Selbst wenn sich in den letzten 20 Jahren in der Wissenschaft ein erweiterter Kartenbegriff durchgesetzt hat, müssen nicht dennoch die zeitgenössischen Kartenauffassungen des 16.-18. Jahrhunderts, d.h. der Kolonialzeit, berücksichtigt werden? Bevor ein mesoamerikanischer Codex oder Eintragungen darin als »Landkarte« bezeichnet werden, ist zudem zu hinterfragen, ob man ein vergleichbares Dokument aus unserer Kultur denn auch als Landkarte definieren würde? Um ein konkretes Beispiel zu nennen: verwandelt die Darstellung von Fußstapfen, Wasser oder Bergen ein Dokument zwangsläufig in eine Landkarte? Vor einem solchen Prüfungsprozess muss als Grundvoraussetzung definiert werden, womit operiert wird. An erster Stelle ist der Frage nachzugehen: »Was ist denn eine Landkarte?« Die neueste Diskussion, die sich zudem auf die Region Lateinamerika bezieht, findet sich bei Dym und Offen: »At a minimum the essays in this book define a map as a graphic presentation of space (real or imagined, terrestrial or otherwise) that organizes, presents and commmunicates spatial information visually« (Dym/Offen 2011: 6). Die darauf folgende Behauptung der Autoren geht sehr weit: »Maps are simultaneously material and social, real and physical products that reflect the cultural concerns, values, and communication arts and technologies of the society that produced them. Maps also tell stories about the people and places they show. Maps literally and figuratively influence the way we see the world […]. Like all visual arts, maps are communication devices that rely on cultural conventions and assumptions to establish their meaning« (ebd.).
Folgt man dieser Beschreibung, schrumpft der Korpus nicht-kartographischer Manuskripte ganz gleich aus welcher Kultur und Zeit auf ein Minimum. Am prägnantesten brachte das Environmental Systems Research Institute (ESRI) den Sachverhalt im Werbetext seiner GIS Software bereits im Jahre 1997 auf die Formel: »Any kind of information has a relationship to space« und »Geographical Information Systems analyze the spatial dimensions of its data, thus creating a new quality of information«. Dym und Offen kommentieren ausführlich die 1987 von J. Brian Harley und David Woodward im ersten Band ihrer Reihe History of Cartography eingeführte
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knappere Definition von Landkarten als »graphic representations that facilitate a spatial understanding of things, concepts, conditions, processes, or events in the human world« (Harley/Woodward 1987: XVI; zit.n. Dym/Offen 2011: 6). Der Unterschied der beiden Definitionen hat Konsequenzen für Verständnis und Funktion der Karte: »erleichtert« sie räumliches Verständnis (wie bei Harley und Woodward), dann kann es sich um eine vom Autor intendierte Landkarte in ihrer Funktion im traditionellen Sinn handeln, »reflektiert« die Karte dagegen allerlei Inhalte, Sachverhalte und Kontexte in ihren räumlichen Bezügen (wie bei Dym und Offen oder ESRI), dann ist genau genommen jede Abbildung mit irgendeinem Ortsbezug eine Landkarte. Jedes Bilderbuch, das die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten oder die Reise der drei Heiligen aus dem Morgenland illustriert, jede Landschafts- und Stadtansicht wäre eine Landkarte. Dann allerdings wäre jeder mesoamerikanische Codex als Landkarte einzuordnen. Kraak und Ormeling differenzierten daher: »Maps are nowadays regarded as a form of scientific visualization …, and maps indeed existed already before visualization developed into a distinct field. The objective of visualization is to analyse information about relationships graphically, whereas cartography aims at conveying spatial relationships. […] The emphasis in scientific visualization […] is more on its analytical power […] than on its communicative aspects; it is primarily directed at discovery and understanding. In cartography, emphasis can lie equally in analysis and communication« (Kraak/Ormeling 1996: 41).
Wir operieren also mit zwei verschiedenen Kategorien, einerseits der Visualisierung und dem Mapping von graphisch darzustellenden Bezügen und andererseits der Kartographie, die u.a. topographische Daten zueinander in Beziehung setzt, geographische Orientierung ermöglicht. Beide Kategorien helfen bei der Decodierung mesoamerikanischer Bilderhandschriften.
II. L IENZOS UND M APAS Der Lienzo Seler II (Coixtlahuaca II) befindet sich heute im Ethnologischen Museum Berlin im Mesoamerikasaal (vgl. Abb. 1). Es handelt sich um ein frühkolonialzeitliches Baumwolltuch aus dem Coixtlahuacatal von Oaxaca in Mexiko. Der Lienzo ist ein »Übergangsdokument«, d.h. er weist überwiegend Daten im präkolumbischen Stil auf, ergänzt durch europäische Eintragungen, die erst nach der spanischen Eroberung hinzugefügt wurden. Es ist heute nicht mehr feststellbar, ob der Lienzo ein Original oder die Kopie einer vielleicht in Zerstörung begriffenen Vorlage war, ob die Daten aus dem Gedächtnis oder aufgrund mehrerer Vorlagen eingetragen wurden, ob Inhalte und Eintragungen vorspanischer Manuskripte auf das neue europäische Kartenformat übertragen
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wurden und ob der Lienzo kurz vor oder kurz nach der Eroberung angefertigt worden ist.
Abbildung 1: Lienzo Seler II (Coixtlahuaca II), Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum (Aufnahme von Dietrich Graf). Solche Lienzos von überdimensionalem Format – der Lienzo Seler II misst ca. 4,50 x 4,50 m – aus indianischer Hand sind typisch für die frühe Kolonialzeit. Einige sind bereits wie europäische Landkarten strukturiert, auf denen kartographische Daten wie Ortszeichen, Grenzen und Wege relevant sind, auf anderen überwiegen nicht-kartographische Eintragungen wie Ereignisse, Stammbäume der Kaziken, Annalen oder fiskalische Daten. Im Verlauf der Kolonialzeit, ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wandeln sich Lienzos zu typischen Landkarten im europäischen Stil. Die frühen Exemplare aus dem 15. Jahrhundert sind dagegen weniger Landkarten, sondern historisch-mythisch-genealogisch-kartographische Mischdokumente. Der Lienzo Seler II weist eine schwarzweiß gefleckte Grenze auf, die das Tal von Coixtlahuaca bzw. die zu dem Ort Coixtlahuaca gehörigen Ortschaften eingrenzt (vgl. Abb. 2). Die Darstellung der Grenze kann sowohl ein Jaguarfell als Kennzeichen für Macht symbolisieren oder auf eine Steinmauer zurückzuführen sein. Über den Lienzo verteilt finden sich nicht nur weitere Toponyme wie Ortszeichen, vorspanische Pyramiden und Tempel, Wasserläufe, Felder, Fußwege, spanische Kirchen, sondern auch mythisch-historische Aufzeichnungen wie die Neufeuerzeremonie anlässlich der Ortsgründung von Coixtlahuaca oder Säulen mit den Stammbäumen lokaler Kazikenpaare, wie wir sie aus den
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Codices kennen (vgl. Abb. 3). Kriegerische Auseinandersetzungen sind ebenso verzeichnet wie die Hängung von Indianern durch den spanischen Richter.
Abbildungen 2 und 3: Lienzo Seler II (Coixtlahuaca II), Ausschnitte. Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum (Aufnahmen von Dietrich Graf) Nun sind auch aus dem mittelalterlichen Europa Landkarten mit nichtkartographischen Illustrationen bekannt, beispielsweise die Kategorie der berühmten Mappae Mundi, z.B. die Ebstorfer Landkarte aus Lüneburg. Doch die Ikonographie und Bedeutung der Eintragungen bzw. Bildzeichen u.a. auf dem Lienzo Seler II oder den Mapas de Cuauhinchan (vgl. Abb. 4 und 5) sind aus den vorspanischen Codices bekannt.
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Abbildung 4: Mapa de Cauhtinchan 1, Ausschnitt. Benson Latin American Collection, General Libraries, University of Texas at Austin. Vgl. http://instructional1.calstatela.edu/bevans/Art446-11ToltecTula vom 5.7.2012.
Abbildung 5: Mapa de Cauhtinchan 2, Ausschnitt. Ángeles Espinosa Yglesias. www.quecholac.com/historiaq.html vom 5.7.2012. Im Gegensatz zum Lienzo Seler II legte der Autor des Lienzo de Ihuitlan (vgl. Abb. 6), der ebenfalls aus dem Tal von Coixtlahuaca stammt, den Schwerpunkt nicht auf die Darstellung kartographischer Daten, sondern auf die Auflistung der Kaziken-Stammbäume.
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Abbildung 6: Lienzo de Ihuitlan, Brooklyn Museum. www.brooklyn museum.org/opencollection/objects/53789/Lienzo_of_Ihuitlan vom 5.7.2012. Struktur und Anordnung der Ortszeichen auf den Mapas de Cuauhtinchan I weisen zumindest teilweise direkt auf die vorspanischen Faltbücher als Vorlage.
III. D IE VORSPANISCHEN C ODICES Die Vorläufer der Lienzos sind die präkolumbischen Codices, Leporellos (Faltbücher) auf langen Streifen aus Hirschleder, Baumrinde oder Magueyfasern. Die wenigen präkolumbischen Codices des Alten Mexiko (oder Mesoamerika, wie die kulturhistorische Bezeichnung ist), die den spanischen Massenverbrennungen entkamen, behandeln Mythen, lokale Geschichte und Stammbäume der Elite; Tributeinnahmen; Rituale bzw. Handlungsanweisungen für die Durchführung von Zeremonien, Gebeten, Opfern und Festen; Kalenderzyklen, Annalen und Prognosen.
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Codex Egerton 2895, eine genealogische Handschrift, die den »Stammbaum« eines mixtekischen Kazikengeschlechtes darstellt, ist ein relativ einfach zu verstehendes Dokument.
Abbildung 7: Codex Egerton, S. 29, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz. Vgl. www.famsi.org/spanish/research/graz/egerton/ img_page29.html vom 5.7.2012. Zu sehen sind Paarreihen, die den Ortszeichen der Herkunftsorte der jeweils einheiratenden Ehepartner zugeordnet sind. Die abgebildeten Ortszeichen konnten identifiziert und lokalisiert werden (König 1979; Jansen 1994). Der Vergleich beider Dokumenttypen, Codices und Lienzos, zeigt, dass die Gruppe der historischen, mythischen und genealogischen Codices dieselben Themen behandelt wie die »kartographischen« Lienzos. Beide beantworten Fragen nach dem »Wer«, »Wo« und »Was«. Erst gegen Ende der Kolonialzeit überwiegen auf den Lienzos topographische Eintragungen. Die Kette von Ortszeichen am Rand der Mapa de Cuauhtinchan I präsentiert sich wie eine alternative Darstellung einer Ortszeichenkette, die sich in den vorspanischen Leporellos wie dem Codex Egerton über mehr als 30 Einzelseiten zieht. Die »gemappte« Struktur einzelner Sektionen ist für die Decodierung von allen vorspanischen Codices, auch von denen mit rituellem und augurischem Inhalt, wichtig. Sie ist eine Art »gemappter Grammatik«. Ein beeindruckendes Beispiel ist der Codex Borgia, der auf 76 Seiten die Variationsbreite gemappter Grammatik spiegelt. So wird auf den Seiten 49-52 ein Kosmogramm der Kardinalrichtungen in vertikaler Folge gezeigt.
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Abbildung 8: Codex Borgia, Seitenübersicht. Akademische Druckund Verlagsanstalt, Graz. Vgl. www.famsi.org/research/graz/borgia/ thumbs_3.html vom 5.7.2012.
In den Codices der mythisch-genalogisch-historischen Gruppe werden alle Eintragungen, auch die nicht-kartographischen, gemappt. Rote Leitlinien führen den Leser sicher durch das Labyrinth der einzelnen Sektionen.
IV. W O SIND DIE VORSPANISCHEN L ANDK ARTEN ? Die meisten Spezialisten gehen davon aus, dass die kolonialzeitlichen Lienzos und Mapas direkte vorspanische Vorläufer haben müssten. Allerdings ist bis heute kein einziges vorspanisches Manuskript dieser Kategorie aufgetaucht. Hat es tatsächlich in vorspanischer Zeit kartographische Lienzos vergleichbar den oben diskutierten gegeben, obgleich kein einziges Exemplar erhalten blieb? Das Format der in vorspanischer Zeit verwendeten Medien wie Rindenbast, Agavefasern, Hirschleder sowie Baumwollstoff in der begrenzten Breite des Hüftwebstuhls oder der Wände von Tongefäßen zwang zur räumlichen Strukturierung der Inhalte, d.h. man musste sich das zur Verfügung stehende Streifenformat optimal zunutze
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machen und die Eintragungen »mappen«. Es gibt keinen Hinweis auf die Beschriftung großformatiger Baumwolltücher in vorspanischer Zeit. Anstelle nach einem »missing link« in Form eines noch nicht aufgetauchten Lienzo-ähnlichen »Landkartentypus« aus vorspanischer Zeit zu fahnden, ist es Erfolg versprechender, die Antwort auf die Frage nach der Existenz der gesuchten Vorform direkt in den gefalteten Codices zu suchen. Diese These wird durch die Aussage des frühen spanischen Chronisten Fray Toribio Motolinía aus dem 16. Jahrhundert gestützt, der alle vorspanischen indigenen Buch- bzw. Dokumenttypen beschrieb: »Diese Eingeborenen hatten 5 Buchtypen in denen sie in Bildern und Symbolen schrieben. Der 1. Buchtyp befasst sich mit Jahren und Zeitberechnung; der 2. mit den Tagen und Festen, die die Indianer während eines Jahres durchführten; der 3. mit Träumen, Illusionen, Aberglauben, und Vorzeichen (Omen), an die die Indianer glaubten; der 4. mit Taufe und Namen, die man den Kindern verlieh; der 5. mit den Ritualen, Zeremonien und Omen der Indianer die mit Hochzeiten zu tun hatten. Von all diesen Büchern kann man nur einem Vertrauen schenken, dem erstgenannten, weil es die Wahrheit berichtet. Wenngleich sie Barbaren und Illiteraten sind, die Indianer hielten es sehr genau mit der Zeitberechnung – Tage, Wochen, Monate und Jahre, und auch der Feste, wie später beschrieben. Desgleichen zeichneten sie errungene Siege auf und Kriegsführung; die Thronfolge der obersten Fürsten, Wetterbedingungen und bemerkenswerte Himmelszeichen; und allgemeine Epidemien; wann und unter welchem Fürsten diese Dinge geschahen; und all die Fürsten die bei der Unterwerfung von Neuspanien eine Rolle spielten bis die Spanier kamen. Von alldem berichtet das erstgenannte Buch in Zeichen und Abbildungen, die den Bericht verständlich machen. Sie nennen es Buch der Jahreszählung« (Motolinía 1951: 74f., ins Deutsche übersetzt von Verf.).
Motolinía erwähnt also keinen kartographischen Buch- oder Dokumententyp, der einer Landkarte auch nur annähernd entspricht. Was aber führte zur Aufgabe der Codexformate und zur Herstellung großformatiger Lienzos? Unmittelbar nach der Eroberung berichteten Spanier und alphabetisierte Angehörige des indianischen Adels sowohl über die jüngsten Ereignisse, als auch über die Zeiten vor der Ankunft der Europäer. Die Indianer hielten die Ereignisse nach wie vor in bildlicher Form fest, in den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung noch unverkennbar in der vorspanischen Ikonographie, doch in weniger als einem Jahrhundert musste diese dem europäischen Stil vollends weichen. Die Umwandlung der Formate, insbesondere der Leporellos, in das europäische Buchund Kartenformat fand dagegen umgehend statt. Zum Vergleich stehen uns heute leider nur noch 14 vorspanische Codices zur Verfügung. In der Forschung gibt es seit langem eine Diskussion darüber, wie man die Codices decodiert, ob man sie als Schriftquellen zu behandeln hat oder als gezeichnete Bildcodes bzw. piktographische Dokumente, also »Bilderhandschriften«. Ich bevorzuge daher den Begriff »Graphische Kommunikationssysteme«.
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V. D IE C ODE XFORSCHUNG Nach Alexander von Humboldt hat sich der deutsche Wissenschaftler Eduard Seler als erster seit Ende des 19. Jahrhunderts der Erforschung der mesoamerikanischen Bilderhandschriften systematisch gewidmet. Ihm folgte eine internationale Forschergemeinde, die heute überwiegend auf Englisch und Spanisch publiziert, darunter der französische Wissenschaftler Serge Gruzinski. Er kommentierte die Lesart der Codices wie folgt: »Page layout, the scale of symbols, the position they occupy in relation to one another and the way they are grouped together are all elements that determine both the direction in which the codex is to be read and its ultimate meaning. In addition, the colours filling the spaces delineated by the thick, regular strokes of the tlacuilos constituted chromatic variations that influenced meaning. This explains how the authors of codices could associate and combine two activities – painting and writing – which European culture considers radically distant. This is also why such ›painting‹ must inevitably be read and deciphered on several levels« (Gruzinski 1992: 15).
Die Frage der kartographischen Qualität der Codices beschreibt Gruzinski wie folgt: »Topographic information appears inextricably linked with religious, historical, social and even economic details. Not surprisingly it is extremely difficult for non-natives to rediscover the eye’s path across these colourful surfaces, to apprehend the dialectic of overall comprehension versus fragmentary analysis. It is therefore impossible to speak of writing in the usual sense of the term« (ebd.).
Ob Schrift mit Illustrationen wie in den Maya-Codices oder Piktographie wie in den übrigen mesoamerikanischen Codices, Tatsache ist, dass auf einer einzigen Codexseite »konkrete und abstrakte Ideen« in der Form von Zeichenkomplexen dargestellt wurden, die, so Gruzinski, nur verstanden werden können, wenn man sie als unterschiedliche Bedeutungsebenen interpretiert. »Pre-Hispanic canons of selection and arrangement were designed to help grasp and extract the essential. An image rendered ›visible‹ the very essence of things because it was an extension of that essence« (ebd.). Gruzinski beschreibt hier etwas umständlich ein »Mapping-Verfahren«, mittels dessen die Autoren der Codices ihre Aufzeichnungen strukturierten.
VI. M APPING UND K ARTE Das Mapping-Verfahren ist nicht neu. Bereits 1976, d.h. lange bevor wir auf Windows- oder Apple-Plattformen unsere visuelle Kommunikation zu organi-
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sieren begannen, schrieben Robinson und Petchenik: »Mapping is based on systems of assumptions, on logic, on human needs, and on human cognitive characteristics« (Robinson/Petchenik 1976: X) und weiter: »The apparent simplicity of an ordinary sketch map is deceptive; in fact, even the simplest map is a remarkably complicated instrument. It is quite reasonable to suppose that the map, as a communicative device, has been around as long as written language has: like writing, a map is a way of graphically expressing mental concepts and images« (ebd.: 1).
Robinson und Petchenik definieren die Karte, wie auch zehn Jahre später der amerikanische Kunsthistoriker W.J.T. Mitchell, als »Medium der Kommunikation«: »A map is a value-loaden image which is used for communication« (Mitchell 1986: 9-14). Mit einer gewissen Leichtigkeit nähert sich Christian Jacob der Definition: »La définition. Qu’est-ce qu’une carte? La question, dans sa simplicité même, invite à la tautologie. […] L’œil ne voit pas, il construit, il imagine l’espace. La carte n’est pas un objet, mais une fonction. Médiation, interface, elle est un reste occulté« (Jacob 1992: 29), und weiter: »La carte, enfin, est depuis longtemps une métaphore pour décrire les relations humaines, les rapports de pouvoir, les partages hiérarchiques dans un groupe social: un espace abstrait et opératoire, réduit à des lignes de force et de mouvement, traversé de frontières et de passages, jalonné de points nodaux« (ebd.: 32), und schließlich: »Récapitulons. La carte ne se définit pas par ce qu’elle représente: trop divers sont les espaces cartographiés, par leur échelle comme par leur nature. Elle ne se définit pas non plus par une configuration visuelle fixe. Si la carte se situe dans la catégorie de l’image, elle ne présente pas de traits structurels stables et récurrents comme le portrait ou la peinture paysagère. La carte ne se définit pas non plus par une fonction unique. Et encore moins par la géographie, champ de savoir dont elle ne constituerait que l’illustration fidèle comme l’instrument privilégié« (ebd.: 36f.).
Jacob führt aus, was die Karte alles nicht ist und bietet offene Definitionen, z.B. die Karte als Metapher, um Beziehungsgeflechte zu beschreiben, aber auch als abstrakten, operativen Raum, und kommt damit nah an die heute übliche Anwendung, wie Kraak und Ormeling sie verzeichnen: »The term ›map‹ is used in many areas of science as a synonym for a model of what it represents, a model which enables one to perceive the structure of the phenomenon represented. Thus mapping is more than just rendering, it is also getting to know the phenomenon that is to be mapped. By ›cartographic method‹ one understands the method of representing a phenomenon or an area in such a way that its spatial structure will be visualized and this will usually take some experimenting. When representing
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V IOL A K ÖNIG spatial information in map form one has to limit oneself, on account of the available space, to the essentials, and amongst which is the information’s structure« (Kraak/ Ormeling 1996: 40).
Knapp zusammengefasst: »Maps are nowadays regarded as a form of scientific visualization« (ebd.: 42). Für das Verständnis der Strukturen oder Muster in den vorspanischen Codices und frühkolonialzeitlichen Lienzos ist die Weiterentwicklung dieses Ansatzes aus der digitalen Anwendung hilfreich: »In a digital environment the differentiation between topographic maps and thematic maps is less relevant, as both map types consist of a number of layers« (ebd.: 1996: 44). Auch in den vorspanischen Codices scheint die Unterscheidung von topographischen und thematischen Karten nicht von Bedeutung zu sein, zu beachten sind hingegen die von Serge Gruzinski beschriebenen Bedeutungsschichten oder Bedeutungsebenen (s.o.). Christian Jacobs Definition der Karte als Metapher, um soziale Beziehungsgeflechte zu beschreiben, wird in der Charakterisierung mixtekischer Codices der beiden Spezialisten Bruce Byland and John Pohl bestätigt: »The portrayal of historical activities on the part of ruling lineages with extremely detailed locational references is an outstanding characteristic of the Mixtec codices. […] Like the lineage structure, the division of the land is also defined and justified by the mythical and historical events involving the historical ancestors. […] Even the elites for whom the codices were painted apparently considered the pictorials not the indication of rulership but rather the expression in kinship terms of the relationships between themselves and their respective political units, the territories controlled and symbolically represented. Locational symbolism is of immense importance to studies of ancient social and political organization. […] Place signs and emblem glyphs represent more than geographical markers in Mesoamerican writing systems. They also incorporate some sense of lineal affiliation and often to the mytho-historical foundation of localities on the part of deified ancestors. Thus, Mixtec place signs tell as much about the nature of elite precepts of political control – the binding of the royal line to the foundation and maintenance of territorial units« (Byland/Pohl 1994: 44f.).
Ein mixtekischer Autor, der solche komplexen Inhalte auf dem schmalen Band eines Codex aus Hirschleder oder Rinde darstellen will, muss strukturiert vorgehen, er muss »mappen« können. Auch ohne die Möglichkeit der digitalen Umsetzung zu kennen, praktizierten Maya, Mixteken, Azteken und Nachbarn GIS-ähnliche Anwendungen: Daten und Fakten aus unterschiedlichen Themenbereichen wurden auf dem knappen zur Verfügung stehenden Raum einer Codexseite so strukturiert platziert und in verschiedenen Ebenen gemappt, dass Kenner die Muster und ihre Inhalte in vollem Umfang erfassen und deuten konnten. Weniger gelehrte Le-
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ser konnten Teilebenen erfassen, wichtig z.B. für Wahrsager, die ihre Prognosen den Kunden glaubhaft unterbreiten wollten. Für die Elite war es dagegen wichtig, den Bezug von Orts- und Personennamen aufzuzeichnen. Ein besonders perfektes Mapping gelang dem Autor des Kosmogramms auf der Titelseite des Codex Fejérváry-Mayer (vgl. Abb. 9 und 10). Er nutzte nicht nur den zur Verfügung stehenden zweidimensionalen Raum einer kleinformatigen Seite optimal, er integrierte darauf nicht nur Raum und Zeit zugleich, sondern es gelang ihm darüber hinaus, eine dreidimensionale Struktur darzustellen.
Abbildung 9: Codex Fejérváry-Mayer, S. 1, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz. Vgl. www.famsi.org/research/graz/fejervary_ mayer/img_page01.html vom 5.7.2012.
Abbildung 10: Umzeichnung des Titelbildes des Codex FejérváryMayer, nach Karl Anton Nowotny (1961), zit.n. Anders/Jansen (1988: 40).
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Alle Daten, wie die fünf Kardinalpunkte, die ihnen zugeordneten Farben, der 260-tägige Kalender, die vier Jahresträger »Kaninchen«, »Haus«, »Messer« und »Rohr«, vier Bäume und vier Vögel für die Jahreszeiten, neun Herren der Nacht, vier Blutströme, Sonne und Mond gruppieren sich auf acht Flügeln rund um die Plattform einer Pyramide. Die 260 Kreise des Kalenders umschreiben die Kontur des Kalenderzeichens »Bewegung«. Diese Struktur entspricht darüber hinaus einer auf eine Ebene projizierten Pyramide. Die wesentlichen Aspekte der Titelseite des Codex Fejérváry-Mayer fasst Elizabeth Boone zusammen: »The physicality of the cosmos inscribes time with manting meaning while the ribbon of time describes the cosmos as a physical and geographical entity. This single diagram, interpreted as a temporal and spatial map of the cosmos, shows how inextricably time is linked to space in the ancient Mexican mind« (Boone 2007: 116). Der Autor dieses Codex entschied sich für eine andere Variante desselben Themas als der Autor des Codex Borgia, der die Darstellungen über vier Seiten (49-52) verteilte (s.o.). Die »gemappte Grammatik« ließ den Autoren also durchaus einen Spielraum innerhalb vorgegebener Normen zu. Geographische Karten, wie wir sie aus Europa kennen, dürfte es in Mesoamerika nicht gegeben haben. Obgleich nur 14 Codices noch erhalten geblieben sind, entsprechen sie alle den bei Motolinía aufgezählten fünf Buchtypen. Topographische Daten überwiegen in keiner Kategorie. Doch jede Seite wurde »gemappt«. Ohne diese Technik wäre die Darstellung komplexer Inhalte auf kleinem Format nicht möglich gewesen.
L ITER ATUR Anders, Ferdinand/Jansen, Maarten (1988): Schrift und Buch im Alten Mexiko, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt. Boone, Elizabeth Hill (2007): Cycles of Time and Meaning in the Mexican Books of Fate, Austin: University of Texas Press. Byland, Bruce E./Pohl, John (1994): In the Realm of 8-Deer. The Archaeology of Mixtec Codices, Norman: University of Oklahoma Press. Dym, Jordana/Offen, Karl (2011): Mapping Latin America. A Cartographic Reader, Chicago: University of Chicago Press. Gruzinski, Serge (1992): Painting the conquest. The Mexican Indians and the European Renaissance, Paris: Flammarion. Harley, James Brian/Woodward, David (1987): The History of Cartography, Bd. 1, Chicago: Chicago University Press. Jacob, Christian (1992): L’empire des cartes, Paris: Albin Michel. Jansen, Maarten (1994): Codice Egerton-Becker II. La gran familia de los reyes mixtecos, Mexico: Fondo de Cultura Económica.
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König, Viola (1979): Inhaltliche Analyse und Interpretation von Codex Egerton, Hamburg: Hamburgisches Museum für Völkerkunde. Kraak, Menno-Jan/Ormeling, Ferjan (1996): Cartography. Visualization of Geospatial Data, Harlow (Essex): Longman. Mitchell, William J. Thomas (1986): Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago: University of Chicago Press. Motolinía (Toribio de Benavente) (1951): History of the Indians of New Spain, Washington (DC): Academy of American Franciscan History. Nowotny, Karl Anton (1961): Tlacuilolli: Die mexikanischen Bilderhandschriften, Berlin: Mann. Robinson, Arthur Howard/Petchenik, Barbara B. (1976): The Nature of Maps, Chicago: University of Chicago Press.
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Raum und Grenze: Vergleichende Überlegungen zur Entwicklung im mittelalterlichen Reich 1 Jens Schneider
Die Wahrnehmung von Raum sowie Vorstellungen der Begrenzung von Räumen sind seit dem Ende des 20. Jahrhunderts deutlich ins Zentrum des Forschungsinteresses der Kulturwissenschaften gerückt. Sich in einem internationalen Kontext über die Bedeutung von Raum, seine Wahrnehmung durch die Zeitgenossen oder auch über die Interdependenz von Raum und Gesellschaft zu äußern, bleibt für einen deutschen Historiker nach Friedrich Ratzel und Otto Brunner eine zwiespältige Aufgabe. In Frankreich etwa wirkt der Grundsatz Fernand Braudels, wonach naturräumliche Gegebenheiten eine Gesellschaft bestimmen, bis heute nach (Braudel 1979: 520). Der Ansatz ist aber in der französischen Geschichtswissenschaft vergleichsweise unaufgeregt und ohne die ideologischen Implikationen, die das Thema in Deutschland hat und haben muss, korrigiert worden. In der deutschen Geschichtswissenschaft hat die historische Kulturraumforschung, wie sie seit den 1920er Jahren in Bonn entwickelt wurde, in ähnlicher Weise versucht, die Ausprägung von »Kulturprovinzen« aus sprachlichen und naturräumlichen Bedingungen zu erklären (Nikolay-Panter 2008). Auch wenn die Dynamik dieser räumlichen Einheiten nicht geleugnet wurde, sie mithin also nicht als unveränderbar oder tausendjährig begriffen wurden, hat sich die Methode durch die Rechtfertigung deutscher Herrschaftsansprüche in Polen oder Belgien selbst disqualifiziert. Der Titel von Hermann Aubins Schrift Von Raum und Grenzen des deutschen Volkes spricht für sich (Aubin 1938). Die heutige Regionalgeschichte grenzt sich daher auch in terminologischer Modernisierung von Traditionen des Faches ab (Göttmann 1995; 2009).
1 | Für kritische Lektüre und Anregungen bin ich Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner, Kassel, sehr zu Dank verbunden.
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In gleichem Maße wie die Frage nach dem Einfluss geographischer und klimatischer Bedingungen auf die Entwicklung von Gesellschaften muss auch die Analyse der Aneignung von Raum, also der Institutionen, die geschaffen wurden, um Raum zu kontrollieren, epistemologisch hinterfragt werden. Seit Otto Brunners Überlegungen zu Land und Herrschaft (1939) sind Institutionen wie ducatus, missaticum, regnum als räumliche Einheiten oder personal definierte Herrschaftsräume untersucht und begriffen worden. Wie die Ausbildung mittelalterlicher Herrschaftsräume sozial- oder verfassungsgeschichtlich zu fassen ist, versucht aktuell ein deutsch-französisches Projekt eben vor dem Hintergrund der verschiedenen historiographischen Traditionen zu erkunden (www. univ-mlv.fr/territorium; Bührer-Thierry 2012). Im vorliegenden Beitrag soll in vergleichender Perspektive die Frage nach der Verankerung von Gesellschaften im Raum angesprochen werden. Es geht also weniger um die Wahrnehmung als um die Organisation von Raum, und zwar nicht durch die Einrichtung personaler Hierarchien, die mit Herrschaftsoder Rechtsprechungsbefugnissen ausgestattet werden, sondern durch die Abgrenzung im Raum zu anderen Gesellschaften. Dafür ist es notwendig, sich die methodischen Ansätze und Probleme zu vergegenwärtigen, die unser Bild von räumlichen Einheiten bestimmt haben, weshalb zuerst einige hier als wichtig erachtete Forschungslinien knapp präsentiert werden. In einem zweiten Schritt soll resümiert werden, was zu den mittelalterlichen Techniken der Raumorganisation gesagt werden kann: wie funktionierten die zeitgenössischen Wissensspeicher und welchen Zweck mussten sie erfüllen? Dabei gilt das Interesse gleichermaßen kartographischen wie Textquellen. Schließlich wird zu fragen sein, ob der Vergleich mit außereuropäischen Gründungstraditionen für das Verständnis mittelalterlicher Strategien der Begrenzung weiterführend ist. Das Augenmerk gilt dabei insbesondere südamerikanischen Beispielen. Dem werden im vierten Abschnitt zwei Beispiele aus dem mittelalterlichen Reich (9. und 13. Jahrhundert) gegenübergestellt. Auf dieser Grundlage werden die Entwicklung von Grenzen und zeitgenössische Praktiken der Raumorganisation zu diskutieren sein. Im Unterschied etwa zu Hermann Aubin, der versuchte, einen irgendwie deutsch geprägten Raum wissenschaftlich zu bestimmen, erscheinen Grenzen dabei eher als »interfaces« denn als Abgrenzung. Räumliche Information ist zudem, ganz wie die GPS-Dokumentation im 21. Jahrhundert, ständiger Aktualisierung unterworfen.
I. Z UGÄNGE ZUR R AUMGLIEDERUNG Mit Selbstverständlichkeit ging man für die frühmittelalterliche Gesellschaft lange Zeit von unseren Raumkategorien der Moderne aus. Die ersten Darstellungen, die die räumliche Gliederung berücksichtigten oder gar zum Gegen-
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stand machten, waren von den strukturellen Gegebenheiten der Neuzeit geprägt. Die aufwändigen Kartenwerke des 19. Jahrhunderts zeigen überdeutlich Grenzen zwischen als politisch oder kirchlich verstandenen Einheiten. Dass mit der kartographischen Visualisierung von Raumvorstellungen Politik gemacht wurde, dass mithin jede Karte freiwillig oder unfreiwillig eine Aussage transportiert, gilt heute als Gemeinplatz (Dünne 2011; Graham 1998; Stercken 2010; Stockhammer 2007; Weigel 2002).2 Rückblickend erscheinen die großartigen Synthesen eines Auguste Longnon (1884), Karl von Spruner (Spruner/Menke 1880) oder Gustav Droysen (1886) hilflos in ihrer apodiktischen Linienführung der frühmittelalterlichen Gebietsgrenzen. Dass die in erster Linie aus der urkundlichen Überlieferung abgeleiteten Strukturen weltlicher Machtbezirke nicht statisch, sondern dynamisch zu begreifen sind, hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten in der Forschung durchgesetzt. Karl Ferdinand Werner hat gezeigt, dass etwa im Frankenreich des 8. bis 10. Jahrhunderts mehrere Ebenen eines regnum bestehen konnten, dass also verschiedene regna Teil eines größeren regnums sein konnten und dass zu einem regnum nicht zwingend ein rex gehört (Werner 1998: 146-167). Für die Grafschaften, die mit Hans K. Schulze (1973) als wohlgeordnetes System delegierter Amtsgewalt des karolingischen Königs verstanden wurden, gilt das Gleiche wie für die Gaue: von der Vorstellung einer hierarchisierten Struktur nach der Art neuzeitlicher Länder, Provinzen, Kreisen und Kommunen ist Abstand zu nehmen. Dies hat als letzter Thomas Bauer herausgestellt (Bauer 2000). Dessen Grundaussage, dass nämlich ein in frühmittelalterlichen Texten genannter pagus nicht umgehend zu einer historisch-geographischen Einheit umgedeutet werden darf, hat im Wesentlichen Andrea Stieldorf für die frühmittelalterlichen Marken bestätigt (Stieldorf 2012). Das administrative Verständnis und der institutionelle Zuschnitt dieser Einheiten, mit denen die Mediävistik lange operiert hat, können je nach Region sehr unterschiedlich sein und vor allem innerhalb einer Generation wechseln. Da diese Begriffe in den Quellen in der Regel unmittelbar kontextgebunden auftauchen, ist es naheliegend, sie als Orientierungshilfen zu verstehen: in Teilungsverträgen wie etwa dem so häufig bemühten Vertrag von Verdun 843 oder dem besser in den Quellen belegten Vertrag von Meersen 870, aber auch in den Tauschverträgen auf lokaler Ebene, wie sie zu Hunderten aus der klösterlichen Überlieferung erhalten sind, wird Besitz aufgelistet. Dabei dient die ständig wiederkehrende Formel in pago xy oder in comitatu xy der räumlichen Zuordnung. Es ist nicht zwingend, damit eine präzise Information zur flächigen Ausdehnung und ihrer Begrenzung zu verbinden. 2 | Vgl. die seit 2010 im Rahmen des International Medieval Congress in Leeds von Felicitas Schmieder angebotenen Mappings-Sektionen (www.leeds.ac.uk/ims/imc vom 19.7.2012).
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Neuere Arbeiten zu Raumverständnis und Raumpraktiken machen wahrscheinlich, dass eine solche auch gar nicht notwendig war (Weigel 2002; Wenzel 2004; Dünne 2004; Jaspert 2007; Bührer-Thierry 2011; Stieldorf 2012). Die Angabe nach comitatus, pagus oder marca rief bei den Zeitgenossen die entsprechende geographische Zuordnung ab, ohne dass echte Gebietsgrenzen impliziert gewesen wären. Das erklärt auch die häufig demotivierende Kargheit oder mitunter Widersprüchlichkeit der räumlichen Information in Zusammenhang mit den einzelnen Gauen. Diese für den Dokumentationsbedarf des Historikers unbefriedigende Feststellung muss nach jüngsten Erkenntnissen auch auf die kirchlichen Raumstrukturen ausgedehnt werden. Die lange als vergleichsweise zuverlässig geltenden Grenzen der Bistümer sind wohl als kartographische Rückprojektionen anzusehen, die die gut belegte Verteilung der Diözesen und Kirchenprovinzen im 15. Jahrhundert wiedergeben (Jaspert 2007; Mazel 2008). Dem steht nicht entgegen, dass die Angaben auf lokaler Ebene umso präziser werden können, je dichter und länger eine Region besiedelt ist (Boyer 2006, 2009). Dies wird anschaulich am Beispiel der kleinteiligen Diözesanstruktur der ehemaligen römischen Provinzen entlang der Mittelmeerküste.
II. D IE O RGANISATION DER W ISSENSSPEICHER Fragt man nach den Traditionen geographischer Dokumentation im Mittelalter, dann stößt man in erster Linie auf Listen, weniger auf Karten. Die im Römerreich angefertigten Wegekarten wie die berühmte Peutinger-Karte sind als »eine Kombination von Karte und Tabelle« (Hahn-Wörnle 1993: 23) anzusehen. Die spätantiken und frühmittelalterlichen Wissensspeicher (zum Begriff: Ernst 2003) eines Julius Honorius, Orosius oder Isidor von Sevilla, die Vorgänger der im Aufwand wohl vergleichbaren Großunternehmen von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert oder Joseph Meyer, überliefern keine exakten Gebietsdefinitionen, ja sie zeigen kein Interesse an der Dokumentation von Grenzverläufen: »Au point de vue des représentations géographiques […] la région est première: ses bords apparaissent comme relativement secondaires« (Gautier Dalché 1992: 20-21). Anders als in der arabischen Welt werden im europäischen christlichen Mittelalter Karten lange Zeit als graphische Speicher von Wissen oder Weltbildern angelegt und nicht mit Anspruch auf die Wiedergabe geographischer Verhältnisse (Hahn-Wörnle 1993; Englisch 2002a; Kugler 2007). Auch Pilgerkarten und Pilgerführer sind nicht als Reiseführer avant la lettre zu verstehen (Herbers 1986; Dünne 2004). Dies ändert sich erst im späteren Mittelalter. Regionalkarten und Itinerarskizzen bieten in einem bestimmten Kontext konkrete Orientierungshilfe (Baumgärtner 2006: 103) und die Romwegkarte des Erhard Etzlaub aus dem Jahr 1500 etwa wurde als »älteste Straßenkarte Europas« bezeichnet
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(Heimann 2003: 36-38; Kugler 2007). Daneben sind seit etwa 1200 mit den sogenannten Portulankarten Vorgänger der modernen Seekarten überliefert, die die Grenzen von Wasser und Erde nicht konzeptualisieren, sondern abbilden wollen. Die realitätsnahe Darstellung der Küstenverläufe wie auch die Transportfähigkeit darf hier als innovativ gelten (Baumgärtner 2006: 91; Englisch 2002b: 35-36). Geographisches Wissen wird also durchaus gesammelt, die graphische Visualisierung in Gestalt einer Karte erfolgte aber im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte. Zahlreiche Arbeiten zu den mappae mundi haben gezeigt, dass es darum geht, die notwendig auf Jerusalem ausgerichteten geographischen Informationen der Bibel umzusetzen, zu stützen oder systemkonform zu ergänzen. Dies ist gut nachvollziehbar am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte, dem »Inbegriff einer mittelalterlichen mappa mundi« (Baumgärtner 2011: 193). Neue politische Einheiten oder Regionen werden begrifflich in bestehende Modelle übernommen, wie das Beispiel der navigatio sancti Brendani zeigt, nach deren Bericht neue, erst zu erforschende Inseln ohne weiteres in zahlreiche Darstellungen aufgenommen wurden (Englisch 2002b: 31-34). Erkenntnisziel ist nicht die Abbildung der Welt, sondern ihre Konzeptualisierung, die unüberschaubare Fernen (er-)fassbar machen soll (Gautier Dalché 1992: 29). Neu an diesem über Jahrhunderte stabil gebliebenen Raumverständnis wird erst die Entwicklung der Grenze im Verlauf des Mittelalters. Dieses vielleicht vektoriell zu nennende Verständnis gilt für das nähere Umland wie auch, in stärker werdendem Maße, für entferntere Landstriche; es orientiert sich in gleicher Weise an alltäglichen Wegstrecken wie an Fernrouten. Es sind zwei Funktionsweisen zu unterscheiden: die Verbindung von A und B in Form einer Reiseroute (Wegekarte) sowie die konzentrische oder doch auf einen symbolgeladenen Ort orientierte Organisation der räumlichen Information, wie sie die auf Jerusalem ausgerichteten mappae mundi zeigen (Higounet 1989; Baumgärtner 2006). Das Prinzip der Ausrichtung auf einen zentralen Ort wird auch an den Itineraren deutlich, die aus den Urkundenbüchern der Klöster Prüm und Weißenburg erschlossen wurden. Die Anordnung der abgeschriebenen Urkunden, die ja als Besitznachweise dienen, lässt sich als spiralförmige Reiseroute zum Besuch der Besitzungen des Klosters lesen (Metz 1965: 468; Devroey 1984). Der klösterliche Wissensspeicher organisiert also den Besitz konzentrisch um das Kloster herum. Die Wahrnehmung, so darf man resümieren, hängt von dem zu bewältigenden Raum ab. Sie orientiert sich aber jenseits eines unmittelbaren Raumhorizonts von ein bis zwei Tagesreisen (Wenzel 2004; Dünne 2004; Göttmann 2009) verstärkt oder ausschließlich an linearen Entfernungsdaten. Die mit der sozialen Position (Abt, Bischof, Graf, Herzog, König) korrelierende Erfassung und Beherrschung von Raum geschieht mit ansteigender Ausdehnung durch
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Vektoren, die das mobile Machtzentrum mit seinen Partnern im Raum verbindet. Darauf aufbauend wäre die frühmittelalterliche Konzeption und Ausübung von Herrschaft weniger mit der Vorstellung eines – eben flächigen – Netzwerks zu verbinden, sondern eher als wanderndes Kräftezentrum zu denken, an dem die Vektoren ansetzen. Die Bewältigung und Verwaltung von Raum mittels eines Netzes von Orientierungspunkten ist womöglich ein modernes, allzu naheliegendes Modell. Das Sichern von Wissen über Raum wiederum darf man sich in Form von Stichwörtern vorstellen, die gespeicherte Information im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen (Halbwachs 1997) mobilisieren konnten, sei es als »Gedächtnisstütze« im graphischen Speicher der Karten (Baumgärtner 2011: 197; 223), sei es als räumliche Zuordnung zu einem pagus im Kontext der urkundlichen Festschreibung. Es sei daran erinnert, dass eine Urkunde im Frühmittelalter nicht das Rechtsgeschäft selbst darstellt, sondern nur seine schriftliche Fixierung, ihrerseits also eine Art beglaubigte Gedächtnisstütze ist. Erst nach der Jahrtausendwende verlagert sich die Rechtsgültigkeit vom Gestus, der durch die Beteiligten performiert wird, auf die Urkunde, die von einem Dritten geschrieben sein kann (Zimmermann 2004). Im Bereich »Reisewissen« ist mündlich weitergegebene Information auch am Ausgang des Mittelalters noch verbindlich (Baumgärtner 2006: 117).
III. R AUM UND G RENZEN IM V ERGLEICH »On ne fonde jamais une ville, toujours un lieu-saint« (Detienne 1990: 12). Die Aussage, dass einer Stadtgründung immer eine sakrale Motivation innewohnt, dass der sakrale Ort den profanen Siedlungsvorgang initiiert, erscheint wie auf das spätantik-frühmittelalterliche Frankenreich bezogen zu sein. Ohne eine Diskussion um Siedlungsprozesse beginnen zu wollen, denkt man an Bischofsstädte sowie Siedlungen um Klöster oder die Grablege eines Heiligen. Es ist aber kein Mediävist, sondern ein Altertumswissenschaftler, der den zitierten Satz mit Bezug auf das archaische China formulierte. Der Vergleich von Gründungsmodellen öffnet einen anderen Zugang zur Wahrnehmung und zum Umgang einer Gesellschaft mit Raum. Jenseits unserer Kenntnisse über die mittelalterlichen Raumvorstellungen kann es neue Einsichten vermitteln, auf einer grundsätzlicheren Ebene zu fragen: Was ist ein Ort? Was ist ein Raum, eine Region, eine Landschaft, ein Territorium? (Detienne 2000: 47). Vom traditionellen Konzept der Geschichtslandschaft über die oben erwähnte interdisziplinäre Kulturraumforschung bis zur von der UNESCO definierten Kulturlandschaft ist die Beliebtheit des Landschaftsbegriffs in den Raumdiskursen in Beliebigkeit umgeschlagen. Dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedliche Traditionen in der Darstellung wie in der Verwaltung
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von Landschaft generieren, wird zur Kenntnis genommen und anhand von Quellen aus Literatur, Malerei, Zeichnung, Kartographie oder Texten pragmatischer Schriftlichkeit wie Urkunden dokumentiert; seltener wird der Versuch einer epistemischen Annäherung an den Begriff unternommen, um zu klären, wovon man spricht (Torre 2008). Im Bemühen um Begriffsklärung wurde vor einigen Jahren eine Reihe von Workshops zum Thema Klosterlandschaften veranstaltet, die sich als »Probebohrung« verstehen (Heimann/Schneider 2008). Die vergleichende Lektüre anthropologischer Bestandsaufnahmen kann andere Begriffe von Raum und räumlichen Praktiken aufzeigen. Im abendländischen Denken ist ein Ort oder Gebiet statisch, begrenzt und nachvollziehbar gegründet worden. Die 17 von M. Detienne herausgegebenen »tracés de fondation« (Detienne 1990) skizzieren Gesellschaften mit einem dynamischen Orts- oder Raumverständnis, dessen fluide Grenzen dem Körper folgen, dem individuellen oder dem Körper der Gruppe oder Gesellschaft. Verschiedene Gründungsmodelle werden erkennbar, von der »fondation dure«, die sich durch eine Gründerperson, Gesten und Rituale konstituiert und im kollektiven Gedächtnis gespeichert wird, bis zu Gesellschaften des »non-commencement«, die ohne eine Gründungslegende oder einen Mythos der Vorväter leben (ebd.: 4-12). Dies lässt sich am Beispiel der vorbuddhistischen Tradition (shintō) in Japan beobachten, die sich unmittelbar an die Erschaffung der Erde rückbindet (Caillet/Beillevaire 1990). Unmittelbar meint in diesem Kontext, dass eine geschichtliche oder mythische Zäsur nicht vorkommt, die von der Kosmogonie zur historischen Vergangenheit übergeleitet hätte. Da die Gesellschaft der Gegenwart, das Kaiserhaus und die Verwalter der Religion direkt an die Anfänge der Welt rückgebunden sind, ist ein Gründungsmythos gar nicht erforderlich. Im Gegenzug ist auch kein Einfluss des Mythos auf die Gestaltung der Gegenwart erkennbar wie etwa in heilsgeschichtlichen Strukturen des christlichen Mittelalters. Die Shinto-Riten gewährleisten dafür eine ständige Regeneration der Gesellschaft und des Einzelnen, die infolge fremder Einflüsse und der Alltagsroutine notwendig ist, um die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. In ähnlicher Weise verhält es sich bei den Maya-Völkern der klassischen Periode (4.-10. Jahrhundert), die ebenfalls auf keine Initialgründung zurückschauen, sondern sich permanent neugründen (Baudaz 1990). Die Untersuchung der majestätischen, heute überwachsenen Anlagen in Guatemala und Mexiko (Yucatan) hat das Bild rivalisierender Stadtstaaten erbracht, die abhängige Städte kontrollierten. Die sogenannte klassische Periode weist zwar auch militärische Auseinandersetzungen auf, aber keinen Expansionismus. Auf gleichbleibendem Raum sind aufeinander folgende Gründungen zu erkennen: »Faute de fonder des villes dans de nouveaux territoires, les Mayas remodelaient des espaces déjà existants« (ebd.: 262). Die Definition von Grenzen scheint dabei keine Rolle gespielt zu haben.
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Die Mediävistik hat die Gründungsmodelle der früh- und hochmittelalterlichen Gesellschaft recht gut erarbeitet. Für eine frühe Phase, die gerne als Übergang der Völkerwanderungszeit ins Mittelalter bezeichnet und mit dem Projektbegriff »The Transformation of the Roman World« der European Science Foundation gefasst wurde, liegt mit der Analyse der identitätsstiftenden Herkunftsmythen (origines gentium), etwa dem Trojamythos der Franken (Ewig 1998; Anton 2000), eine überzeugende Erklärung der Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit vor. Ab dem 11. Jahrhundert sind dann Bemühungen der Geschichtsschreiber zu erkennen, die seit dem 10. Jahrhundert sich konstituierenden neuen geographischen und politischen Einheiten wie Flandern, die Normandie, Sachsen oder Alemannien mit einer legitimierenden Tradition auszustatten (Bauduin 2001, Becher 2000, Zotz 2000). Für andere regna kam es dazu nicht mehr, etwa weil wie im Falle Lotharingiens nach der Mitte des 10. Jahrhunderts kein Anlass und kein Auftraggeber für ein legitimatorisches Werk bestand (Schneider 2010: 454-458). Für eine vergleichende Betrachtung aufschlussreich sind zwei Beispiele einer »inscription territoriale« bei den Indianern des südamerikanischen Urwalds. Hélène Clastres hat den Umgang mit räumlichen Strukturen bei den Guayaki in Paraguay und den Yanomami in Venezuela ausgewertet. Gerade über letztere ist viel und auch sehr kritisch gegenüber der wissenschaftlichen Methodik geschrieben worden, hier kann es mangels eigener Kompetenz aber nur um die Beobachtungen zu räumlichen Praktiken gehen. Die Originalität dieser Völker besteht darin, dass sie hohe Mobilität mit der Besetzung von Raum verbinden (Clastres 1990: 251). Ihre Riten scheinen eine Verwurzelung zu verhindern, in ihren Mythen stellen sie sich dennoch als Eingeborene dar, was einen rechtmäßigen Anspruch auf ihren Lebensraum einschließt. Die Guayaki gliedern sich in vier Stämme, die ihr jeweiliges Gebiet terminologisch als etoa (Wald) bezeichnen, damit ihren Lebensraum beschreiben, ihn aber nicht mittels Grenzen definieren (ebd.: 252-255). Sie ziehen als Jäger und Sammler von einem Ort zum anderen und die Abteilungen oder Familien, in die ein Stamm wieder zerfällt, wissen, dass das Gebiet der anderen nicht ihr eigenes ist. Darüber hinaus, sollte man meinen, muss es weitere Markierungen geben, die den territorialen Rahmen, in dem sie sich bewegen, abstecken. Von Abstecken im Sinne von Grenzpunkten kann nicht die Rede sein, Andeutungen geben aber die Nahrungssuche und der Totenkult. Die Jagd ist essentiell, findet aber nur im eigenen Gebiet statt. Daneben sammeln die Guayaki Larven, die sie von eigens präparierten Stümpfen von Palmen ablesen. Ein Jäger stellt fest, dass er das Gebiet seiner Familie verlassen hat, wenn er auf präparierte Baumstümpfe anderer Familien trifft. Deutlichere, übergeordnete Markierungen setzt der Totenkult. Die Guayaki hinterlassen, was Clastres als außergewöhnlich bezeichnet, offene Begräbnisstätten, die von anderen Stämmen erkannt und gemieden werden. Allerdings
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kehrt auch der eigene Stamm nicht mehr dahin zurück, wenn das Begräbnisritual einmal abgeschlossen ist. Das wird mit der Angst vor bösen Geistern (ianvé) erklärt, die das gesamte Ritual kennzeichnet: die Toten werden in offenen Gruben hinterlassen, zu denen man Monate später zurückkehrt, um den Schädel zu zertrümmern und zu verbrennen; bei anderen Stämmen wird der Tote erst gegessen und dann gleich der Schädel zerstört. Die offenen Gräber beziehungsweise Feuerstätten kennzeichnen so das Gebiet eines Stammes und dienen möglicherweise auch als Warnung gegenüber den iröiangi (Fremden), die keinem Stamm der Guayaki angehören. Auf diese Weise markieren und respektieren die Guayaki ihren jeweiligen Gebietsanspruch, ohne Grenzen des etoa zu definieren. Die Einheit des Verbands wird durch ein jährliches Treffen gewährleistet. Im Vergleich dazu unterhalten die Yanomami ein Habitat von relativer Dauer, an dem sie Ackerbau treiben und für den sie einen Namen vergeben. Dieser Name bezeichnet zugleich den Ort wie die Gemeinschaft selbst (ebd.: 256-260). Wenn der Ort verlassen wird, kehrt die Gemeinschaft nicht mehr dahin zurück und verwendet auch den Namen nicht mehr, der somit auch als Bezeichnung eines vergangenen Zeitabschnitts dienen kann. Wie bei den Guayaki, die das Eigentum und die Erinnerung an die Toten vernichten, findet hier auch eine strenge Abgrenzung zur unmittelbaren Vergangenheit statt. Ein Gebietsanspruch wird weder von den Guayaki noch den Yanomami in der Art eines Territoriums definiert; trotz der unterschiedlichen Mobilität der beiden Völker, die ihren Lebensraum permanent verschieben, findet dennoch eine funktionierende Markierung der aktuell genutzten Gebiete statt. »Que des espaces aux frontières indéfinies et mobiles, dépourvu de sites durables, de lieux transmissibles, puissent pourtant être constitués en territoires, c’est ce dont les Indiens forestiers d’Amérique du Sud sont la preuve« (ebd.: 251). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass unser europäisches Selbstverständnis der Moderne durch eine anthropologische Perspektive relativiert wird: Raum, sei es als städtische Siedlungsform, sei es als Lebensraum im Urwald, kann von einer Gesellschaft besetzt werden, ohne dass er exakt abgegrenzt würde, wie die vorgestellten Beispiele zeigen. Stabile Gesellschaftsformen sind möglich ohne das einende und normierende Moment einer räumlichen oder institutionellen Gründung im kollektiven Bewusstsein, wenn eine immerwährende Regeneration der Lebensform beziehungsweise des Lebensraums stattfindet. Schließlich haben die südamerikanischen Beispiele gezeigt, dass Gesellschaften ihren Lebensraum und -mittelpunkt stetig verschieben und dennoch als ihr angestammtes Gebiet untereinander und gegenüber Fremden markieren und behaupten können. Die Verbindung von Mobilität mit dem Bewusstsein eines rechtmäßigen Gebietsanspruchs ist als typisch amerikanische Form des Habitats bezeichnet worden (ebd.: 251). Die indianischen Strategien und Techniken zur Besetzung
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und Abgrenzung von Raum sollen abschließend mit der Entwicklung im mittelalterlichen Europa kontrastiert werden.
IV. I NTERFACES IM MIT TEL ALTERLICHEN R EICH Das in der französischen Sprache fortlebende lateinische Wort terminus bezeichnet in altrömischen Traditionen eine Gottheit, die Grenzmarkierungen schützt und dort verehrt wird. In der Tat deutet die lateinische Terminologie darauf hin, dass bei den Begriffen confinium, terminus oder limes, die in den frühmittelalterlichen Quellen begegnen, an das Ende eines Raums gedacht wird: die confines schließen ein Gebiet ab. Nach Ausweis der Wörterbücher verstanden Cicero und Jordanes unter finis und terminus die Grenze oder ganz konkret den Grenzstein, der unter göttlichem Schutz stand. Entsprechend verweigert sich der Gott Terminus jedem Ortswechsel (Detienne 1990: 10). Diese sakral motivierte Verehrung oder zumindest Respektierung von Grenzmarkierungen scheint nicht bis ins Frankenreich fortgedauert zu haben. Frühmittelalterliche Autoren wie Orosius und Isidor zeigen wenig Interesse dafür (Gautier Dalché 1992). Eine hervorstechende Konstante der Geschichte des Frankenreichs seit Chlodwig sind die stetigen Reichsteilungen, die bekanntlich nicht nur durch kriegerische Auseinandersetzungen sondern in erster Linie durch den fränkischen Teilungsbrauch unter die Söhne des verstorbenen Königs zu erklären sind. Das gekachelte vierte Kartenblatt in Auguste Longnons epochemachendem Atlas zeigt Gallien und seine Nachbarvölker in einer Abfolge von neun Karten von 587 bis 771 (Longnon 1884, Tafel 4: »Gaule et pays voisins de […] à […]«). Die ästhetisch ansprechende, kanonisch gewordene Darstellung der von den einzelnen Völkern besetzten Gebiete lässt sich allerdings nicht zufriedenstellend aus zeitgenössischen Quellen begründen. Im Jahr 771 war es Karl »dem Großen« gelungen, sich seines Bruders zu entledigen, mit der Konsequenz, dass er über das ganze Frankenreich von der spanischen Mark bis zu den slawischen Grenzgebieten herrschte. Bis zu seinem Tod, nahezu ein halbes Jahrhundert lang, war er König, ab 800 Kaiser und wurde nach seinem Tod zum Idealtypus des rex Francorum stilisiert: Einhards Vita Karoli Magni und die volkssprachigen Großdichtungen des Hochmittelalters künden davon. Dieser Ausnahmezustand setzte sich ein gutes Vierteljahrhundert lang unter seinem Sohn Ludwig »dem Frommen« fort, der wegen des Ablebens seiner nachfolgeberechtigten Brüder als alleiniger Thronerbe übrig blieb. Nach seinem Tod 840 begannen heftige Nachfolgekonflikte und für den Rest des 9. Jahrhunderts setzte sich die Geschichte der zügig aufeinander folgenden Reichsteilungen fort. Die Teilungspläne sind genau genommen schon deutlich früher erkennbar: sowohl Ludwig wie vor ihm sein Vater Karl haben zu verschiedenen Zeitpunkten Rahmendaten fixiert, wie die Herrschaft über das
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Frankenreich unter die erbberechtigten Söhne aufzuteilen wäre (Classen 1963; Kaschke 2006). Eine besondere Rolle spielte dabei die sogenannte ordinatio imperii des Jahres 817, die bekanntlich nach Geburt eines weiteren Sohnes aus zweiter Ehe geändert wurde. Diese Tatsache und allgemein der Regierungsstil Ludwigs, der seine Vorstellungen eines christlichen Kaiserreichs mit Reformen durchzusetzen suchte, ohne dabei den Konsens mit den Großen des Reichs herzustellen, führte zu einer Krise, die in der zeitweiligen Absetzung 833 gipfelte (de Jong 2009).3 Aus der schwer überschaubaren Abfolge der geplanten und umgesetzten Teilungen zwischen Ludwigs Söhnen und ihren Nachkommen sei das Beispiel Lotharingiens herausgegriffen, also jenes später als regnum Hlotharii (Urkunden Ludwigs des Kindes 1960: nr. 20, a. 903) umschriebenen Mittelreichs Lothars II. Der älteste Sohn Ludwigs »des Frommen«, Lothar I., hatte bei der in Verdun festgelegten Reichsteilung die Francia Media mit wichtigen Städten wie Rom, Trier, Metz und Aachen erhalten (Gaillard/Margue/Dierkens 2011). Dieses Gefüge teilte er kurz vor seinem Tod 855 wiederum unter seine drei Söhne auf, wobei der zweite Sohn Lothar (II.) den nordalpinen Teil mit einer schmalen Fortsetzung entlang des Jura und der Rhône bis zum Mittelmeer erhielt. Auch diese Teilung wurde durch verschiedene Folgevereinbarungen modifiziert. Ein in anderem Zusammenhang unternommener Versuch, die Grenzen dieses Mittelreichs nachzuziehen, hat gezeigt, wie ungenau die erhaltenen Informationen sind (Schneider 2010: 70-109). Der zeitgenössische Quellenbericht zu 855 vermerkt schlicht, dass der sterbende Kaiser Lothar an Karl die Provence und an Lothar den Teil der Francia vergab, der seinen Namen trug (Annales de Saint-Bertin 1964: 71). Die konkrete Zugehörigkeit der Gebiete zu den Reichsteilen muss also aus den verschiedenen Nennungen in anderem Kontext erschlossen werden. Diese mühevolle Arbeit ist für Lotharingien in erster Linie von Robert Parisot geleistet worden (Parisot 1898), was die Westgrenze betrifft, auch in der posthum veröffentlichten Dissertation von Hermann Henze aus dem Jahre 1920 (Henze 1939) sowie in einem wichtigen Aufsatz von Michel Parisse (Parisse 1990). Will man im vorliegenden Kontext von den diversen Detailstudien absehen, geht es darum, die Grenzverläufe aus den besser überlieferten Teilungen von 843 und 870 zu erschließen. Im Jahr 843 kamen in Verdun die monatelangen Verhandlungen über den Zuschnitt der Teilreiche Lothars I., Ludwigs »des Deutschen« und Karls »des Kahlen« zum Abschluss. Zur Veranschaulichung sei hier der Bericht des Bischofs von Troyes, der die Annalen führte, übersetzt:
3 | Vgl. demnächst die aus dem Forschungsprojekt H LUDOWICUS hervorgehenden Bände in der Reihe Relectio, Ostfildern: Thorbecke.
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Es wird deutlich, dass die Zuordnung der fraglichen Gebiete sich grob am Verlauf der Flüsse orientiert und durch die Aufzählung der pagus-Einheiten konkretisiert wird. Es wird also nicht versucht, präzise Grenzen zu definieren, sondern durch die Nennung der Städte und Gaue werden die Stichworte gegeben, die eine den Zeitgenossen als hinreichend bekannt vorausgesetzte räumliche Einheit subsumierten. Vereinfacht gesprochen ist durch den Vertrag von Verdun die Lage des Mittelreiches zwischen Ost und West vorgegeben. Nach Norden wurde es unverändert durch die Nordsee begrenzt, wobei strittig ist, welche Teile Frieslands noch zu Lothar und welche zu Ludwig gehörten. Die Abgrenzung nach Süden ist deutlich komplizierter, da sie nach 855 mehrfach geändert wurde, aber auch weil die politischen Zugehörigkeiten im Bereich des Elsass, des südlich Basel gelegenen alemannischen Raumes und des kirchlich Besançon zugehörigen Juragebiets unklar sind (Schneider 2010: 102-109). Diese Gebiete wurden nach 888 vom König des neuen regnums Hochburgund beansprucht und die Tatsache, dass die Ausdehnung seines Machtbereichs gegenüber dem des letzten Königs von Lotharingien Zwentibold bislang nicht zu klären war, deutet darauf hin, dass sie auch den Zeitgenossen unklar blieben, wenn die engen Bergpfade (artissima itinera) und Felsennester (rupium loci) nicht überhaupt als vernachlässigbar erachtet wurden (Regino 1890: 130). Diese Grobskizzierung des Lotharreiches nach 855 kann noch auf einem anderen Weg ergänzt und überprüft werden. Nach dem Tod Lothars II. 869 wurde sein Teilreich im August 870 von seinen Onkeln Karl und Ludwig von Norden nach Süden zweigeteilt. Die Teilungsvereinbarung ist genauer überliefert und gibt in Form von 133 Ortsnamen Auskunft, welche Gebiete jeweils den regna im Osten und Westen zugeschlagen wurden. Rückblickend kann daraus zumindest erschlossen werden, was zum Zeitpunkt seines Todes zum Reich Lothars II. gehört haben muss. Der Text beginnt so: »Est haec divisio, quam sibi Hludowicus accepit. Coloniam, Treveris, Utrech, Stratsburch, Basulam, abbatiam Suestre, Berch, Niu-monasterium, Castellum, Indam, Sancti Maximini, Ephterniacum, […]« (Capitularia 1897: 193-195). Auf einen einleitenden Satz folgen also umstandslos die Namen der Bistümer und großen Abteien,
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die zum Reich Ludwigs »des Deutschen« gehören sollten: Köln, Trier, Utrecht, Straßburg, Basel, Süsteren, Odilienberg (Diöz. Lüttich), Chèvremont (Kievermunt, Diöz. Lüttich), Neumünster (Diöz. Metz), Inden (Kornelimünster), Sankt Maximin vor Trier, Echternach … Nach dem gleichen Prinzip werden im Anschluss die Namen der Karl zugedachten Orte aufgeführt: Lyon, Besançon, Vienne, Tongern, Toul, Verdun, Cambrai, Viviers, Uzès, Montfaucon (Diöz. Reims) usw.: »Et haec est divisio, quam Karolus de eodem regno sibi accepit. Lugdunum, Vesontium, Viennam, Tungris, Tullum, Viridunum, Cameracum, Vivarias, Uceciam, Montemfalconis, […]« (ebd.). Der ausschnitthafte Blick auf Teilungsvorgänge im 9. Jahrhundert am Beispiel Lotharingiens macht den eingangs erwähnten listenhaften Charakter von geographischen Angaben im frühen Mittelalter deutlich. Die Annalisten, die die Reichsteilungen dokumentieren, arbeiten mit Stichwörtern. Der schlichte Ortsname genügt, um die zugehörige Information im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen abzurufen. Daraus folgt, dass keine Notwendigkeit bestand, Grenzverläufe zu fixieren, sei es, weil sie als bekannt vorausgesetzt wurden, sei es, weil eine präzise definierte Grenze zwischen zwei Gebieten als Kategorie keine Bedeutung hatte. Dabei waren etwa Flussverläufe als Anhaltspunkte für Gebietszuweisungen unzuverlässig, wie am Beispiel des Rheins gezeigt werden kann. Das im Gegensatz zu heute unkontrollierte Flussbett verschob sich, so dass etwa Breisach mal rechts, mal links des Rheins zu liegen kam (Kammerer 1990) oder die Abtei Groß-St. Martin, heute Teil der Kölner Altstadt, im 9. Jahrhundert auf einer Rheininsel lag (Engels 2006: 52). Ebenso wenig ist im Osten die Elbe als präzise Abgrenzung anzusprechen, sondern vielmehr als Achse, um die herum die Grenzbildung im 10. Jahrhundert stattfindet: als Interface zwischen Frankenreich und den östlichen Nachbarvölkern (Bührer-Thierry 2011: 75). In dem Zusammenhang ist an das Phänomen der limitrophen Orte zu erinnern, die gerade als Kontaktpunkte in sensiblen Grenzzonen existieren (Dion 1979: 24-26). Die Abwesenheit genauer Grenzbeschreibungen in den frühmittelalterlichen Quellen ist vor diesem Hintergrund umso aussagekräftiger. Ein Ausblick ins 13. Jahrhundert zeigt, dass sich das Bewusstsein für die Notwendigkeit von linearen Grenzen änderte. Der deutsche König Rudolf von Habsburg entsandte eine Untersuchungskommission in die Argonnen, um den genauen Grenzverlauf zwischen dem Reich und Frankreich bestimmen zu lassen (Havet 1881). Er reagierte damit auf einen Konflikt zwischen dem Grafen von Bar-le-Duc und Philipp »dem Schönen«, König von Frankreich. Der Abt von Beaulieu-en-Argonne (Vaslogium) hatte im Zuge von Streitigkeiten mit dem Grafen von Bar, Theobald II., 1286 den französischen König um Hilfe angerufen. Das grenznah links der Maas gelegene Kloster Beaulieu gehörte zur Diözese Verdun und war somit im 9. Jahrhundert Teil des Königreichs Lotharingien, im 10. Jahrhundert des Deutschen Reichs und im 11. Jahrhundert des ober-lotha-
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ringischen Herzogtums. Folgt man dieser territorialen Logik, gehörte es im 13. Jahrhundert mit der Grafschaft Bar-le-Duc zum Deutschen Reich. Theobald II. protestierte daher gegen die Einmischung Frankreichs, da Beaulieu, dessen Besitz er mit seinen Truppen besetzt hatte, der Jurisdiktion des deutschen und nicht des französischen Königs unterstanden hätte. In der Folge fand eine erste Untersuchung im Auftrag Philipps »des Schönen« statt, die 1287 in einen Erlass des Pariser Parlaments mündete, dass Beaulieu zum Königreich Frankreich gehöre. Theobald wendete sich nun an Rudolf von Habsburg, der seinerseits 1288 drei commissaires brieflich beauftragte, um Aussagen zum Grenzverlauf vor Ort zu erheben. Der Brief ist in einem Vidimus vom 21.3.1295 erhalten (Havet 1881: 5-6). Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende; für den vorliegenden Kontext genügt aber die Feststellung, dass die politische und territoriale Zugehörigkeit des Klosters Beaulieu umstritten war, dass dies im Gefolge lokaler Streitigkeiten zur Intervention des Königs und seiner Verwaltung führen konnte und dass zur Klärung verschiedene Kommissionen gebildet wurden, die vor Ort die Lage untersuchen sollten, indem sie die dort ansässigen Herren befragten. Der durch Julien Havet edierte Bericht der französischen Kommission dokumentiert recht anschaulich, welche Auskünfte die als örtliche Zeugen befragten Adeligen zu Protokoll gaben (ebd.: 25-48). Im Vergleich wird deutlich, dass die spätantiken und frühmittelalterlichen Quellen keine präzisen Angaben zu confines machen, dass also das Ende oder das Aneinanderstoßen von Siedlungsgebieten oder Machtbereichen offenbar nicht als wesentliche Information betrachtet wurde, die festgehalten zu werden verdiente. Am Ende des 13. Jahrhunderts dagegen ist sehr wohl ein Bedürfnis nach exakter und offiziell verbindlicher Grenzbestimmung erkennbar. Das hier nur skizzierte Beispiel belegt diese Entwicklung zudem für die gleiche Region: den westlichen Ausläufer der Diözese Verdun, der 843 und 855 annäherungsweise als dem Mittelreich zugehörig bestimmt wurde, im 10. Jahrhundert leichte Modifikationen erfuhr und später als Teil der Grafschaft Bar-le-Duc, ab Mitte des 14. Jahrhunderts des gleichnamigen Herzogtums eine sensible Stellung zwischen Frankreich und dem Reich einnahm. Dass dieses Beispiel aussagekräftig ist und keinen Einzelfall darstellt, zeigen etwa die im Vatikanischen Archiv erhaltenen Akten zum Grenzfeststellungsprozess des Jahres 1272 im italischen Fürstentum Benevent.4 Auch hier wurden zahlreiche Zeugen durch einen Richter befragt, um aus den Erinnerungen der Befragten die vollständige Grenze des Fürstentums zu ermitteln.
4 | Freundliche Mitteilung von Dr. Daniel Siegmund, Leipzig.
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V. Z USAMMENFASSUNG Die Rede vom Raum bei Geographen und Historikern hat vom sogenannten Lebensraum und natürlichen Grenzen bis zum Spatial turn innerhalb von anderthalb Jahrhunderten reichlich Paradigmenwechsel erfahren. Das Verständnis von Raum und Grenzen als durch menschliches Handeln generierte Kategorien ermöglicht neue Erkenntnisse zum Raumbewusstsein und räumlichen Praktiken vergangener Gesellschaften. Für den Historiker kann dieser Ansatz auch als Vergewisserung dienen, wieweit er Denkbildern und den implizierten ideologischen Mustern voriger Generationen folgt. Hier stand die Frage im Mittelpunkt, wie eine Gruppe, ein Volk oder eine Gesellschaft einen angeeigneten Raum gegenüber anderen markiert und wie dies dokumentiert wird. Im vergleichenden Blick auf Beispiele Europas und Südamerikas wurden verschiedene Vorgehen deutlich, denen aber gemeinsam war, dass nicht eine unmissverständliche Grenze zwischen zwei Herrschaftsbereichen definiert, sondern vielmehr der Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet markiert wird. Diese Unterscheidung scheint nur eine Nuance auszumachen. Entscheidend für die Frage nach dem Raumverständnis der Zeitgenossen ist aber doch, dass Probleme der territorialen Abgrenzung nicht erkennbar sind: markiert oder schriftlich artikuliert wird ein beanspruchter Raum, nicht das Aneinanderstoßen von Räumen. Präzisere Maßnahmen sind bei den südamerikanischen Yanomami wie im Frankenreichs des 9. Jahrhunderts offenbar (noch) nicht notwendig. Die beobachteten Strategien der Besetzung oder Markierung eines Gebiets durch spezifische Handlungen oder durch sakral legitimierte Gründungen scheinen im Wesentlichen funktioniert zu haben, und dies auch bei Verschiebung der beanspruchten Gebiete wie am Beispiel der Guayaki, aber auch an den stetig erneuerten Reichsteilungen im Frankenreich oder den dynamischen Prozessen der Ausbildung von Herrschaftsgebieten im 10. Jahrhundert an Maas und Elbe erkennbar wird. Das Phänomen der mobilen Gesellschaften und fluktuierenden Grenzen wird verständlicher, wenn man akzeptiert, dass mittelalterliche Raumeinheiten wie civitas, pagus oder regnum keine statischen Größen waren, sondern sich in ähnlicher Weise veränderten, wie die zwei indianischen Beispiele veranschaulichen. In einer diachronen Perspektive sind diese Prozesse freilich nicht unendlich: mit steigender Bevölkerungsdichte und wachsendem wirtschaftlich motivierten Interesse an Land und Rohstoffen werden präzise Zuschreibungen wichtig, wie hier im Vergleich der Dokumentation der Teilungsverträge des 9. und der Grenzfeststellung im 13. Jahrhundert skizziert werden konnte. Dieser Wandel führt zu einem veränderten räumlichen Bewusstsein. War zuvor die reine Auflistung von Orten oder Völkern ausreichend, ändert sich nun auch die Formatierung der Wissensspeicher: Geschichtsschreibung, Kartographie oder die pragmatische Schriftlichkeit der Urkunden, Briefe, Berichte und
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Vertragstexte zeugen von einem neuen Bedürfnis nach Präzision im späteren Mittelalter. Die erhaltenen Texte überliefern genauere und häufigere räumliche Angaben. Zeitgenössische Kartenwerke bieten neben der symbolischen Organisation räumlicher Information nun auch die Abbildung der geographischen Verhältnisse. Für die vorausgehenden Jahrhunderte der Spätantike und des früheren Mittelalters bleiben die Umstände der Abgrenzung weiterhin unscharf. Der römische limes oder die vermeintlichen Flussgrenzen an Maas, Rhein und Elbe stellen Kontaktzonen dar, in denen verschiedene Völker oder Reiche aufeinander treffen. Betrachtet man sie als Interface, also als Räume der Kommunikation, Mediation und des Austauschs, die sich zudem verschieben konnten, wird man die Unschärfe der uns verfügbaren Informationen über Herrschaftsgebiete nicht dem Mangel an zeitgenössischer Dokumentation zuschreiben, sondern einem anders ausgerichteten Raumbewusstsein. Was die Analyse der Grenzdokumentation des 9. Jahrhunderts gezeigt hat, scheint durch den oberflächlichen Blick auf Geschichtsschreibung, Urkunden und Kartenwerke vor der Jahrtausendwende bestätigt zu werden. Räumliche Information wird ohne Anspruch auf Präzision mittels eines Stichwortes fixiert, das als Gedächtnisstütze fungieren und das zugehörige Kontextwissen bei den Zeitgenossen abrufen kann. Neue Daten zu fluktuierenden Grenzen wird man sich als Updates im kollektiven Gedächtnis vorstellen dürfen, die die schriftliche Überlieferung nicht zuverlässig dokumentieren kann.
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Kritik der Karte Mapping als literaturwissenschaftliches Verfahren1 Maximilian Benz
»Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. […] In einem Buch gibt’s nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. […] Macht Karten, keine Fotos oder Zeichnungen! Seid der rosarote Panther, und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian!« (Deleuze/Guattari 1977: 40f.).
1587 oder 1588 hielt der junge Galileo Galilei vor der Accademia Fiorentina zwei Vorträge über »la figura, sito e grandezza dell’ Inferno di Dante«.2 Diese Vermessung von Dantes Hölle hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine über hundertjährige Vorgeschichte: Antonio Manetti hatte als erster angefangen, Dantes Inferno mathematisch exakt zu rekonstruieren, und damit die Grundlage für Künstler geschaffen, die in der Folgezeit die Hölle Dantes konkret räumlich imaginierten. Ein prominentes Beispiel ist Sandro Botticellis Höllenkrater – eine, wie Horst Bredekamp (2007: 63) urteilt, »grandiose Pergamentzeichnung«. Manettis Berechnungen blieben aber nicht unwidersprochen; sie wurden vor allem von Alessandro Vellutello 1544 revidiert, woraufhin ein erbitterter Streit über die Maße entbrannte. Diese Diskussionen verschärften sich ab den 1570er Jahren, als Dantes ästhetische Qualität in Zweifel gezogen wurde.3 Galileis Vorträge stehen in diesem Kontext und stellen einen Teil der Gegenreaktion der Florentiner Dante-Apologetik dar: Galilei versuchte die Position Manettis durch eigene Berechnungen zu stützen. Galileis Ziel war »der Nachweis, daß Dante auch 1 | Der systematisch argumentierende Teil der folgenden Ausführungen wurde im Rahmen eines interdisziplinären Werkstattgesprächs, das von Susanna Fischer (München) und mir im Rahmen des Exzellenzclusters Topoi veranstaltet wurde, am 28. Januar 2011 in Berlin diskutiert. Für eine kritische Lektüre meines Papiers danke ich Katrin Dennerlein und Timm Reimers. 2 | Vgl. Caesar 1999: 301; Kleiner 1994; Brunner 1999: 123f. Das Folgende entwickle ich nach Bredekamp 2007: 63ff. Zum weiteren frühneuzeitlichen Kontext vgl. Kiening 2007. 3 | Vgl. Brunner 1999: 75-87 zu Entwicklung und Verlauf der Dante-Debatte.
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in den Imaginationen dessen, worüber noch kein Augenzeuge hätte berichten können, präzisen Vorstellungen folgte« (Bredekamp 2007: 65). Dabei setzte Galilei darauf, dass die Höllenvorstellung Dantes erst durch ein Zusammenspiel von poetischem Text und mathematisch-geometrisch informierter Zeichnung adäquat verstanden werden könne.4 Wie nicht anders zu erwarten, kam Galilei mit diesen Ausführungen vor dem Florentiner Publikum bestens an. Mehr als 400 Jahre später hat ein Rezipient Galileis, der weniger ein uomo universale als vielmehr ein Dichter im emphatisch-modernen Sinne des Wortes ist, Zweifel daran gehabt, dass sich poetische Imaginationskraft und mathematische Genauigkeit so trefflich fügen. Schon der Titel des Essays Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen macht kein Geheimnis daraus, dass Durs Grünbein der Meinung ist, Galilei habe Dante mit seinen Berechnungen einen Bärendienst erwiesen. Galileis Dante-Deutung zeige ihre Inadäquatheit schon sprachlich an. Denn für Grünbein ist es die Sprache »der Virtuosi, der Handwerker, Architekten, Militärexperten«, die mit »Dantes polyphone[m] Zungenreden« (Grünbein 1996: 95) natürlich nicht mithalten kann. Dementsprechend charakterisiert Grünbein Galileis Methode als reduktionistisch: »Schnell hat er die mythologischen Beträge, den theologischen Überschuß aus den Gleichungen herausgekürzt, nur noch von Trichtern, Kegeln und Zylindern ist die Rede. Ohne weiteres werden Maße ins Feld geführt. Die einzelnen Höllenkreise, unterteilt in Gräben, werden konzentrisch von der Vorhölle nahe der Erdoberfläche bis hinunter zu den vier Eiskreisen der Verräter nachgezeichnet: Akribie, die ins Komische mündet, in eine andere Komik als die der posthumen Lebensschau. Jetzt erst wird nachprüfbar, ob Dantes Vorstellung einer realen Topographie entspricht, ob seine Fiktion geometrisch fundiert ist« (Grünbein 1996: 95f.).
Neben dem unfreiwillig Komischen hat dieses grobe Missverstehen Dantes für Grünbein auch etwas eminent Tragisches. Denn Galilei, »ganz Landvermesser und Ingenieur« (Grünbein 1996: 94), wird zum Vorboten einer neuen Zeit der »two cultures« (vgl. Hölter 2002: 292), in der »die Wege der Naturwissenschaften und der Künste beschleunigt auseinander[laufen], geradlinig gleichförmig die einen, Haken schlagend und in Spiralen und Ellipsen die andren« (Grünbein 1996: 91). Google Earth und Weltliteratur sind die großen Antagonisten in dieser neuen Zeit, in der kein Weg von der kartographisch-exakten Vermessung zur poetisch-imaginären Erzählung führt und umgekehrt. Tech-
4 | Galilei bediente sich zur Veranschaulichung seiner Thesen zeichnerischer Darstellungen. Es kann allerdings nicht mehr rekonstruiert werden, »ob es sich dabei um Arbeiten auf Papier (Druckgraphik?) handelte, oder ob Galilei Skizzen auf einer Schautafel (denkbar wäre eine mit Wachs überzogene Schreibtafel) vorbereitet hatte« (Brunner 1999: 129).
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nik versus Kunst, Statik versus Dynamik, Quantifizierbarkeit versus Qualität: Die Oppositionspaare ließen sich fortsetzen. Grünbeins Statement fügt sich nicht schlecht in eine Zeit, in der die postmodern wiederentdeckte Lust an der Karte zunehmend kritisch hinterfragt wird. Im Folgenden soll es aber nicht normativ, also in der Pose »schöngeistiger Empörung«, wie Stockhammer (2007: 67) in Bezug auf Grünbein befindet, sondern möglichst deskriptiv um die Frage gehen, inwiefern erzählte Topographien adäquat kartiert werden können. Um Bedingungen und Begrenzungen der Kartierung als literaturwissenschaftlichem Verfahren der Textanalyse besonders deutlich herausarbeiten zu können, werde ich diese Frage nach einer systematischen Problemskizze anhand von erzählten Jenseitstopographien diskutieren, da dort kein realer, kartographisch erfassbarer Georaum Grundlage der Modellierung sein kann. Es geht mir dabei nicht um Kartographien eines Jenseitsraums an sich und die damit verbundenen Probleme,5 sondern um solche Kartographien, die in wissenschaftlichen Kontexten angefertigt werden und der Analyse eines Erzähltextes dienen sollen.
I. Was ist, jenseits einer Position, die die Inkommensurabilität des Literarischen empfiehlt, das Problem, wenn erzählte Topographien kartiert werden? Denn auch wenn jeder sofort zugestehen wird, dass Karten, die erzählerisch Dargebotenes abzubilden versuchen, nicht nur illustrativen Charakters, sondern von ganz eigener Qualität sind, ist damit keine Aussage darüber getroffen, ob die kartographische Darstellung der Erzählung adäquat ist. Die Adäquatheitsfrage hängt vielmehr erstens davon ab, ob ein Text überhaupt kartierbar ist. Zweitens kommt es aber darüber hinaus darauf an, was genau geschieht, wenn raumbezogene Informationen aus ihrem narrativ organisierten Kontext genommen und als Daten einer (karto-)graphisch organisierten Darstellung verwandt werden. Die Frage, ob ein Text kartierbar ist, ist nicht einfach zu entscheiden, da die Kartierbarkeit erzählter Welten davon abhängt, ob in der Erzählung eine entsprechende Dichte von Informationen zu konkreten räumlichen Gegebenheiten vorliegt, die standpunktunabhängig referenziert werden.6 Im Idealfall besteht der Text zu einem großen Teil aus nicht-situationsbezogenen Raumbeschreibungen unter Nutzung standortunabhängiger Referenzsysteme. Bei einem solchen raumbeschreibenden Text läge die Priorität auf dem gleichsam objektiv beschriebenen Raum selbst, so dass die dadurch bedingte Exaktheit 5 | Vgl. Scafi (2006: 160): »Mapping the Garden of Eden presented the ultimate cartographical paradox: how to map a place that was on earth but not of earth« (Herv. i.O.). 6 | Die Terminologie im Folgenden weitestgehend nach Dennerlein 2009.
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möglicherweise als »Kartizität«7 des Textes wahrgenommen werden kann. Ein besonders prägnantes Beispiel einer derartigen Erzählweise findet man im Alten Testament im Buch Hesekiel, wo die Vision des zukünftigen Tempels in einer Raumbeschreibung versprachlicht wird: »Und siehe, eine Mauer [umgab] von außen den Tempel[bezirk] ringsherum; und in der Hand des Mannes war eine Messrute von sechs Ellen, [die Elle] als eine [gewöhnliche] Elle und eine Handbreit [gerechnet]. Und er maß die Breite des Baues: eine Rute; und die Höhe: eine Rute. Und er ging in das Tor hinein, dessen Vorderseite in östliche Richtung [weist], und stieg dessen Stufen hinauf. Und er maß die Schwelle des Tores: eine Rute tief, und zwar die erste Schwelle: eine Rute tief; und das Dienstzimmer: eine Rute lang und eine Rute tief; und [den Raum] zwischen den Dienstzimmern: fünf Ellen; und die Schwelle des Tores zur Vorhalle des Tores auf der Innenseite: eine Rute« (Hes 40,5ff.). 8
Es handelt sich um »eine der detailliertesten Architekturbeschreibungen des alten Orients« (Konkel 2002: 154), nach der sich selbstverständlich einigermaßen problemlos eine zudem recht genaue Karte zeichnen lässt.9 Dennoch geht auch hier die Bedeutung des Textes über eine bloße Raumbeschreibung hinaus, denn die Tempelbeschreibung ist »weniger die erzählerische Umsetzung eines Grundrissplans als vielmehr die konsequente erzählerische Umsetzung eines theologischen Programms« (Konkel 2002: 161). Auch wenn sich ein Text durch eine entsprechende Dichte an standortunabhängig referenzierten Informationen zu konkret räumlichen Gegebenheiten auszeichnet, kann man demnach mit einigem Recht bezweifeln, dass die Kartierung dieser Informationen zu einem adäquaten Textverständnis führt. Umso mehr gilt dieser Befund für solche literarischen Texte, in denen Raum überwiegend nicht beschrieben, sondern situationsbezogen unter Nutzung eines standortabhängigen Referenzsystems verhandelt wird. Wenn die Rauminformationen situationsbezogen im Rahmen einer Handlung dargeboten werden, werden sie nicht um ihrer selbst willen erzählt: Es geht eigentlich um anderes als den Raum oder zumindest nicht ausschließlich um den Raum, der eine spezifische Funktion erfüllt und dessen Beschreibung nicht notwendig auf Exaktheit hin ausgerichtet ist. Vielmehr ist je einzeln zu untersuchen, welche Funktionen die räumlichen Informationen im Zusammenhang mit der zeitlichen, figuren- und ereignisbezogenen Komponente (vgl. Dennerlein 7 | Zu Kartizität und Kartierbarkeit vgl. Stockhammer 2007: 67-71. 8 | Texte des Alten und Neuen Testaments werden nach der Elberfelder Studienbibel 2010 zitiert. 9 | Vgl. die anhand der Beschreibung erstellte Karte des Tempelbezirks bei Konkel 2002: 178.
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2009: 117f.) der jeweiligen Situation aufweisen. Derartige literarische Texte zu kartieren, heißt also die komplexen Situationen in Hinsicht auf ihre räumlichen Informationen zu reduzieren. Von dieser Kritik des Mapping ist die Nutzung von Karten im Sinne einer Kontextmodellierung zu unterscheiden. Erzähltexte können durch ihre Art der Raumreferenz topographisches Wissen über Georäume voraussetzen. Zwar können Räume erzählter Welten nie problemlos durch Verweise auf das Weltwissen der Leser »herzitiert« werden, sondern müssen immer narrativ erzeugt werden (vgl. ebd.: 92f.); dennoch können in fiktionaler Literatur Rauminformationen an »Unbestimmtheitsstellen«10 durch logische Überlegungen oder Rückgriffe auf das Wissen des Lesers erschlossen werden (vgl. ebd.: 98). Sofern dieses Wissen beim Leser durch seine räumliche oder zeitliche Entfernung vom Schauplatz der erzählten Geschichte nicht vorhanden ist, kann dieses Wissen möglicherweise – besonders im Fall expliziter Referenzen auf Georäume nachgerade durch Toponyme – unter Rekurs auf kartographische Darstellungen modelliert werden. So kann es etwa für die Lektüre von Fontanes Romanen durchaus hilfreich sein, einen historischen Stadtplan Berlins zu nutzen (vgl. Seiler 2010). Wie lassen sich nun aber die erkenntnisgenerierenden Effekte der Kartierung als Heuristik von den erkenntnistheoretisch problematischen Implikationen trennen? Eine solche Kritik der Karte muss von dem Medienwechsel vom Text zur Karte ausgehen, der im Akt der Kartierung vollzogen wird. Denn im Zuge des Medienwechsels geschieht immer auch eine Transformation, in der Neues generiert wird. Dieser Transformationsprozess ist ambivalent. Ein Bewusstsein für diese Ambivalenz muss dabei der Ausgangspunkt sein, um einen nicht bestreitbaren heuristischen Wert des Kartierens von einer in epistemologischer Hinsicht problematischen Operation zu unterscheiden. 1. So kann der Versuch des Kartierens einerseits auf Unbestimmtheitsstellen der Erzählung hinweisen, also auf Stellen, an denen die Information zu einer räumlichen Gegebenheit nicht expliziert wird, aber logisch respektive durch Rückgriff auf Wissen erschlossen werden kann. Somit kann die Kartierung dazu beitragen, diese Unbestimmtheitsstelle zu identifizieren und zu ergänzen; andererseits aber kann durch eine kartographische Darstellung auch eine Leerstelle, also eine absolut fehlende, nicht erschließbare Information zu einer räumlichen Gegebenheit, entweder über Gebühr fokussiert oder, was bei fiktionalen Texten nicht sinnvoll ist, gefüllt werden. 2. Aus der Notwendigkeit, eindeutige Daten für die Erstellung einer Karte zu gewinnen, kann einerseits eine genaue Lektüre motiviert werden. So kann entdeckt werden, wo in der Erzählung eine Lokalisierung ambivalent bleibt 10 | Dies unterscheidet Unbestimmtheitsstellen von Leerstellen, deren Füllung bloße Spekulation ist; vgl. Dennerlein 2009: 94-96.
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oder erzählte Räume changieren. Dies kann ein Weiterdenken über alteritäre Raumkonzepte und ihre Kodierung im literarisch-imaginären Medium anregen. Andererseits verführt das Ziel, eine Karte zu erstellen, dazu, ambivalente Angaben zu vereindeutigen beziehungsweise in dem Willen, Eindeutigkeit herzustellen, ahistorische Kontexte an den Text heranzutragen. 3. Kartographische Darstellungen können einerseits Zusammenhänge sichtbar machen oder zur Identifizierung von Strukturmustern beitragen, die bei der Lektüre einer Erzählung nicht auffallen. Die Synchronie der Karte kann helfen, die Erzählung unter bestimmten systematischen Gesichtspunkten zu analysieren. Andererseits können in der kartographischen Darstellung Zusammenhänge gesehen werden, die in der Welt der Erzählung nicht mit Notwendigkeit bestehen müssen. Um es zusammenzufassen: Raumbezogene Informationen eines Textes in einer Karte darzustellen, kann helfen, neue Zugänge zum Erzähltext zu gewinnen. Dabei ist die Karte dann allerdings Hilfsmittel und nicht Ergebnis der Analyse. Andererseits kann es zu normativen Überlagerungen kommen, wo ein Text nicht oder nicht primär kartographisch erfassbaren Raummodellen folgt; zudem wird durch den Wechsel des Mediums ein neues Artefakt generiert. Die Karte ist nicht rein abbildend, sondern fordert Vollständigkeit und duldet nur Synchronie; literarischer Text und Karte entsprechen einander nicht. Die kartographische Darstellung folgt einer Eigenlogik: Gerade die Evidenzsuggestion der Karte ist angesichts dieser Differenz problematisch. Sofern man sich dieser Problematik bewusst ist und die Karte als Heuristik begreift, kann die Karte als Analyseinstrumentarium fungieren. Die Konjunktur des Mapping, die sich nicht nur für den angloamerikanischen Raum konstatieren lässt, hat allerdings dazu verführt, die Generierung von Karten als Ziel der Analyse zu betrachten (vgl. Piatti 2009).11 In einem ers11 | Aus Piattis Dissertation ist das Projekt Ein literarischer Atlas Europas hervorgegangen, an dem das Institut für Kartographie der ETH Zürich, die Georg-August-Universität Göttingen und die Karls-Universität Prag beteiligt sind. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Programmskizze des Projekts umfassend zu diskutieren; ich möchte aber darauf hinweisen, inwiefern meine Ausführungen zur Kritik der Karte auch Piattis Ansatz berühren. Anders als Piatti sehe ich den neuralgischen Punkt ihres Projekts nämlich nicht vorwiegend im Problem der Referenz (vgl. Piatti 2009: 23-32), auch wenn Piattis komplexe Überlegungen zu den Referenzgraden zwischen Geo- und Handlungsräumen (vgl. ebd.: 131ff.) in ihren Karten kaum eine Entsprechung finden – im Grunde bräuchte man andere, komplexere Karten, um das Projekt einer Literaturgeographie gegenstandsadäquat umsetzen zu können (vgl. ebd.: 356f.); aber dessen ist sich Piatti bewusst. Gegenüber der Frage nach der Referenz scheint vor dem Hintergrund meiner Ausführungen vielmehr die Reduzierung fiktionaler Welten auf die georaumbezogenen Informationen problema-
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ten Fallbeispiel möchte ich einen solchen Gebrauch der Karte kritisieren, der komplexe, diskursiv entfaltete, interpretative Rekonstruktionsversuche in einer zweidimensionalen Abbildung gleichsam zu bannen versucht. Daraufhin werde ich an einem zweiten Fallbeispiel zeigen, dass auch ein eher metaphorischer Gebrauch des Terminus »Mapping« nicht die erkenntnistheoretisch problematischen Implikationen dieses Verfahrens aufhebt. In beiden Fällen geht es um Analysen von Texten, die in besonderer Weise den Raum thematisieren, was ihre Kartierung sicherlich in auffälligem Maße stimuliert hat.
II. Von Henochs Reise an die Enden der Welt 12 wird im sogenannten Buch der Wächter erzählt, das aus der äthiopisch überlieferten Sammlung des ersten Henochbuchs stammt. Das Buch der Wächter, dessen älteste Teile aus vormakkabäischer Zeit stammen, 13 enthält eine mehrschichtige Ätiologie des Bösen, in der die Wächterengel, ihre illegitime Vereinigung mit den Menschen und ihr Fall von zentraler Bedeutung sind. Nach der Verurteilung der Engel sieht Henoch auf einer ersten von zwei Reisen an die Enden der Welt (1 Hen [äth] 17-19) in einem spatial, nicht temporal kodierten Jenseits neben meteoro- und kosmologischen Geheimnissen auch den Ort, an dem die gefallenen Wächterengel und die Sterne gebunden sind. Die erzählte Raumwahrnehmung Henochs tisch. Gerade diese Reduzierung aber verspricht bei Piatti den Erkenntnisgewinn, weil die isolierten georaumbezogenen Informationen quantifizierbar sind. Sie ermöglichen die Analyse eines großen Textcorpus auf der Grundlage einheitlicher Parameter und somit eine strikt datenbasierte Gattungs- und Literaturgeschichtsschreibung (vgl. etwa ebd.: 322ff.). Es wäre deshalb lohnenswert, diese Stoßrichtung von Piattis Entwurf gemeinsam mit den Ansätzen zu einer Empirisierung der Literaturwissenschaft und im Kontext der Möglichkeiten und Grenzen der »Digital Humanities« zu besprechen. Darüber hinaus lässt sich Piattis Forschung als Beitrag zur Etablierung eines »spatial turns« in den Literaturwissenschaften verstehen, der die Dichotomie von realem und imaginärem Raum zu überwinden versucht (vgl. Winkler/Seifert/Detering 2012: 265f.). Aber auch hier wäre zu fragen, ob die Dichotomie tatsächlich überwunden wird oder ob nicht doch Aspekte des imaginären Raums in Hinsicht auf die Struktur des realen Raums reduziert werden. 12 | Eine sehr übersichtliche Zusammenfassung der Forschung sowie eine knappe Skizze des Inhalts dieser Passage bietet Bachmann 2009: 78ff. 13 | Durch die Funde in Qumran lassen sich die ältesten Teile des Buchs der Wächter in vormakkabäische Zeit datieren (vgl. Uhlig 1984: 494: zwischen dem Ende des 3. und der Mitte des 2. Jhs. v. Chr). Das Buch der Wächter respektive einzelne Abschnitte desselben sind in Aramäisch, Griechisch, Syrisch, Koptisch und vor allem Äthiopisch überliefert (für ein Stemma vgl. ebd.: 491).
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liefert zwar eine Raumbeschreibung, die aber wegen des zugrunde liegenden deiktischen Referenzsystems, das an die Origo der Wahrnehmungsinstanz Henoch gebunden ist, kaum standortunabhängige Informationen enthält. Am Ende der ersten Reise betont der Text darüber hinaus, dass sich der Wahrnehmungsbereich unseren Kategorien der Welterfassung entzieht: »Und ein loderndes Feuer sah ich, das [hinter] diesen Bergen ist. Und ich sah dort einen Ort jenseits des großen Landes, dort werden die Himmel zusammengeführt (oder: vollendet). Und ich sah einen tiefen Abgrund mit Säulen des himmlischen Feuers, und ich sah unter ihnen Feuersäulen, die man weder in der Höhe noch in der Tiefe messen konnte. Und jenseits jenes Abgrundes sah ich einen Ort, der weder das Firmament des Himmels über sich noch das Fundament der Erde unter sich (hatte), und es waren kein Wasser darauf und keine Vögel, sondern es war ein wüster und schrecklicher Ort. Ich sah dort sieben Sterne wie große brennende Berge« (1 Hen [äth] 18,9ff.).14
Letzterer Ort ist ein buchstäblicher »Ou-Topos«, der jenseits der Enden der Welt und außerhalb der kosmischen Ordnung steht, als Chaos zu begreifen ist und somit hinsichtlich seiner Beschaffenheit nur »ex negativo« beschrieben werden kann. Die einzige positive Aussage über den Jenseitsort von Sternen und Wächterengeln besteht in den Adjektiven »wüst« und »schrecklich«, die die emotionale Wirkung der Raumwahrnehmung charakterisieren. Bei der Erzählung dieses absoluten Jenseits geht es weniger um eine exakte Lokalisierung als vielmehr um die Erzeugung eines Gefühlsraums.15 Denn wo es nur einen »Ou-Topos« gibt, lässt sich nichts verorten und sich das der Narration zugrunde liegende Konzept des Jenseitsraums nicht kartographisch wiedergeben: Die sinnlich nachvollziehbaren Qualitäten, die Stimmung und die Atmosphäre des Jenseitsraums sind kartographisch nicht einholbar. So lässt sich nichts Genaueres über diesen chaotischen Ort angeben, als dass er, der jenseits immanenter räumlicher Ordnungen steht, eben nicht gedacht und nicht konkret räumlich imaginiert werden kann, sondern in seiner Ungeheuerlichkeit gefühlt werden muss. Zum vorläufigen Abschluss der Erzählung vom Weg des Bösen in die Welt kommt es genau darauf an: »Das ist der Ort, wo Himmel und Erde zu Ende sind; ein Gefängnis wird er für Sterne und das Heer des Himmels sein« (1 Hen [äth] 18,14). Der absolute »Ou-Topos« noch jenseits der feurigen Säulen und des Abgrundes ist der Strafort der Sterne und der Wächterengel.16 14 | Die Übersetzung stammt von Uhlig 1984, der »den hypothetisch erschlossenen Archetypus zu übertragen« (ebd.: 490) versucht. 15 | Vgl. hierzu die Studie von Böhme 2000, der die Kategorie des Gefühlsraums von einem christlich-mediävalen Textcorpus ausgehend einführt. 16 | Damit argumentiere ich gegen Nickelsburg 2001: 287, der 1 Hen 19,1f. zwischen 1 Hen 18,11 und 18,12 stellte, um die feurigen Säulen als Strafort der Wächterengel
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Bereits diese kurze Passage verdeutlicht, welch besondere Raumkonstruktion im Buch der Wächter vorliegt. Da diese Passage aber einen buchstäblichen Extremfall darstellt und es sich ansonsten um die Enden der Welt handelt, ja im Text sogar häufig Toponyme, Richtungsangaben und Georaumreferenzen vorkommen, ist es nicht notwendig inadäquat, dass in den vergangenen sechzig Jahren mehrere Karten zu Henochs Reisen angefertigt worden sind. 17 Kelley Coblentz Bautch hat Henochs erster Reise eine komplette Monographie gewidmet und sich in ihrer Analyse auch der gerade analysierten Stelle zugewendet. Wie zu sehen ist (vgl. Abb. 1), verortet sie dabei auch diesen »ou-topischen« Jenseitsraum auf ihrer Karte (»Chasm with fiery pillars«; »Seven stars bound«). Im Folgenden geht es mir nur um die Verortung dieses einen Raumes.
Abbildung 1: Karte von 1 Hen 17-19 (Bautch 2003: 185) Um diesen Raum lokalisieren zu können, geht sie von einer Reihe von Hypothesen aus, die ich kurz nachzeichne. Zu Beginn ihrer Rekonstruktion betont sie, dass der überlieferte Text keine eindeutigen Hinweise gebe, wie der von vom »Ou-Topos« als dem Strafort der Sterne abzugrenzen. Die Differenzierung zweier Straforte wird allerdings damit erkauft, dass nun nicht mehr die Wächterengel, von deren Übertritt doch das Buch der Wächter handelt, sondern die Sterne am Ende der ersten Reise am schlimmsten Ort gestraft werden. 17 | Vgl. Grelot 1958: 46, Milik 1976: 40, Stock-Hesketh 2000: 30. Die einzelnen Karten werden bei Bautch (2003: 162ff.) diskutiert.
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Henoch zurückgelegte Weg und damit das Verhältnis der einzelnen Orte zueinander zu bestimmen sei: »It is unclear if one should view the sites described in 1 Enoch 18:9 in conjunction with those of 1 Enoch 18:6-8 or of 1 Enoch 18:10« (Bautch 2003: 127). Dann greift sie aus verschiedenen Gründen in den Text ein und teilt den ersten oben zitierten Satz; anstelle des Relativsatzes »das [hinter] diesen Bergen ist« versteht Bautch: »und hinter diesen Bergen«, wodurch sie das Feuer den sieben Bergen zuordnen kann, die vor der zitierten Stelle beschrieben wurden. Mitten in dem ersten von mir zitierten Satz liege also ein Ortswechsel vor. Der neue Ort werde lokalisiert durch die Angabe »jenseits des großen Landes«; diese Angabe versteht sie (in Anlehnung an den griechisch überlieferten Text) als »andere Seite der großen Erde«. Da Henoch von Süden her komme und seine Reiseroute gegen den Urzeigersinn gehe, lägen solange alle Orte im Osten, bis der nächste Ortswechsel beschrieben werde. Man mag diese Rekonstruktion für hochspekulativ halten; angesichts der textkritischen Unklarheiten, die Spielraum für Interpretation lassen, ist die Deutung von Kelley Coblentz Bautch aber durchaus innerhalb des Denkbaren. Immerhin gelingt es Bautch, zu zeigen, dass die Anordnung der Orte in der frühesten rekonstruierbaren Fassung einer bestimmten Logik folgte, die im überlieferten Text selbst nicht deutlich wird, da sie im Lauf des Tradierungsprozesses entstellt wurde. Hinter ihrer Rekonstruktionsbemühung steht das Ziel, zu zeigen, inwiefern die erzählte Topographie Sinn ergebe;18 eben dieser Sinn wird für Bautch evident, wenn sie die »mental map« rekonstruieren kann, die die Imagination des Verfassers des Buchs der Wächter leitete und insofern die Logik des Textes bestimmt. Meines Erachtens ist es, was den oben analysierten »Ou-Topos« betrifft, bei weitem sinnvoller, auf eine Lokalisierung zu verzichten. Denn die Erzählung selbst spricht dafür, diesen finalen und ins absolut Jenseitige gesteigerten Ort eben nicht der Logik der Karte zu unterwerfen, auch wenn sich die übrigen Orte von Henochs Reise durchaus lokalisieren lassen. Dass Bautch mit heiligem Ernst nach Indizien für die Lokalisierung auch dieses äußersten Ortes fahndet, muss insofern umso mehr überraschen, als sie den chaotischen Ort zunächst durchaus zutreffend als einen charakterisiert, der nicht nur außerhalb der »Oikumene«, sondern auch außerhalb des Kosmos liege; Henoch sei jenseits der Erdscheibe, der Atmosphäre, der Himmel und der Wasser. Schließlich vermerkt sie sogar (und ihre Verwunderung lässt aufhorchen), dass im Vers keine Angabe enthalten sei, wie dieser wüste Ort präziser hinter dem Abgrund zu verorten sei. 19 »Natürlich nicht!«, möchte 18 | Bautch möchte zeigen, »what the geographical descriptions of 1 Enoch 17-19 mean. Most pertinent is the matter of how one is to make sense of the geography, the sites described and the journey of the seer itself« (Bautch 2003: 159). 19 | Vgl. Bautch 2003: 141f.: »1 Enoch 18:12 indicates that Enoch has traveled to a place that lies outside not only the inhabited world, but also the bounds of the cos-
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man einwenden. Es ist nur die Karte, die die Notwendigkeit der exakten Verortung des ortlosen Raums fordert und somit zur Einebnung eines durchaus differenzierten Jenseitsraumerzählens führt. Die Argumentation von Bautch ist normativ überlagert und an dieser Stelle inadäquat: Eben weil das absolute Jenseits auch die Darstellungsmöglichkeiten der Karte transzendiert, muss es durch eine komplexe Hypothesenbildung gezähmt und damit überhaupt erst kartographisch darstellbar gemacht werden. Das Vorgehen von Bautch ist allerdings nicht nur ein Beispiel für die Inadäquatheit der Kartierung, sondern auch eines für die Evidenzsuggestion einer Karte. Denn an einer späteren Stelle ihrer Argumentation, und zwar bei der Erläuterung ihrer Karte, spricht sie unumwunden davon, dass Henoch an der fraglichen Stelle nach Osten jenseits der »Oikumene« reise (vgl. Bautch 2003: 186). Auch wenn sie noch darauf hinweist, dass es an diesem Ort weder Himmelsfirmament noch Erdboden gebe, fehlen an dieser Stelle all die Hinweise auf das, was nach dem Text des Buchs der Wächter »unclear« ist. Im Gegensatz zu ihrem oben dargelegten (Re-)Konstruktionsversuch, dessen diskursive Struktur die Komplexität und Problematik der Lokalisierung des »Ou-Topos« doch durchaus noch abbildet (so auch Bautch 2010: 42-45), kennt die Eindeutigkeit der Karte keine Abstufungen: Damit hat der Ort des Gefängnisses der ungehorsamen Sterne und Engel erheblich gegenüber seinem narrativ evozierten Status als schrecklichem »Ou-Topos« verloren: Schließlich ist er in der Synchronie der Karte nicht mehr der finale, ins absolut Jenseitige gesteigerte Ort, sondern eine Station unter vielen.
III. Mapping ist natürlich mehr als bloßes Kartieren; als Verfahren der wissenschaftlichen Analyse lässt es sich eigentlich nicht diskutieren, wenn nur konventionelle zweidimensionale Kartographien zur Grundlage genommen werden. Denn diese bleiben hinter avancierten Modellen zurück, die bereits vor zwanzig Jahren und gerade auch im Zusammenhang des Mapping einer apokalyptischen Welt formuliert wurden: »We need to find a different mode of mapping a world. Different dimensions cannot be traced as separate provinces on flat paper. Laminations and overlays offer a more adequate model for mapping: each overlay then fills in more fully aspects of the seer’s mos. Enoch is beyond the terrestrial disk, the atmosphere and the heavens. Enoch has eclipsed even the waters that surround the earth disk or make up the firmament. […] As with 1 Enoch 18:11, there is not a great deal in the verse to help us place more precisely the wasteland beyond the chasm«.
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M AXIMILIAN B ENZ world, but no one lamination can claim priority over or determination of the others. There is no essential context (e.g., social-historical or psychological) prior to and occasion for other dimensions. Like the surface of a sphere, the dimensions have neither center nor peripheral edge, and like a hologram, the whole is replicated in every part« (Thompson 1991: 125f.).
Wenn ich im Folgenden einen Versuch diskutiere, der einen ähnlich komplexen Begriff des Mapping voraussetzt, ja der sogar aufgrund des zunehmend metaphorischen Gebrauchs fast nichts mehr mit der zweidimensionalen Karte zu tun hat, möchte ich zeigen, dass trotz allen Postulaten auch in avancierten Entwürfen die epistemologisch problematischen Implikationen der klassischen Karte durchschlagen. Kirsti Barrett Copeland versucht in ihrer Princetoner Dissertation mit dem Titel Mapping the Apocalypse of Paul ausgehend von der apokalyptischen »Geographie« der Paulus-Apokalypse20 deren Kontexte historisch adäquat zu modellieren: »The study of the geography of this late antique apocalypse helps to illuminate a number of wider issues, such as the place of Apocalypse of Paul in the history of apocalyptic literature, the development of interpretations concerning the millennial earth, the growing idealization of late antique monastery, and the debates surrounding the role of different segments of the Egyptian church« (Copeland 2001: 9).
Die Paulus-Apokalypse, die um 400 n. Chr. in griechischer Sprache verfasst wurde,21 aber am besten in den lateinischen, koptischen und syrischen Fassungen überliefert ist, erzählt wie das Buch der Wächter von einer Jenseitsreise. Im Anschluss an die Stelle des 2. Korintherbriefs, in der Paulus von seiner Entrückung in den Dritten Himmel berichtet, wird in der Paulus-Apokalype imaginiert, wie sich Paulus durch die Himmel (insbesondere den Dritten Himmel mit dem Paradies), das Land der Verheißung, die Stadt Christi und die Hölle bewegt. Texte, die Räume erzählen, sind für ein Mapping prädestiniert. Dass dabei aber in der Paulus-Apokalypse (anders als im Buch der Wächter) nicht nur von den Enden der Erde, sondern auch von Himmelsräumen erzählt wird, übersteigt natürlich die Möglichkeiten der Karte. Doch damit hält sich Copeland nicht lange 20 | Mit diesem Versuch, das Mapping auf den Text der Paulus-Apokalypse anzuwenden, steht Copeland nicht alleine. Vgl. Aitken 2003, die die Darstellung der PaulusApokalypse im Kontext römischer Landschaftsmalerei und Landschaftsbeschreibungen auf ihre imaginativen Effekte hin untersucht: »in the depiction of the rivers there is a cartographic dimension, whereby practical knowledge is organized in relation to a map of landscape features« (ebd.: 163). 21 | Das ist der Stand der Forschung. Vgl. Bremmer 2009: 304ff., Himmelfarb 2010: 100f.
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auf. Sie beschränkt sich, was den Jenseitsraum der Paulus-Apokalypse betrifft, in ihrer Analyse auf die irdisch-jenseitigen Räume. Dies begründet sie folgendermaßen: Anders als zahlreiche andere apokalyptische Texte des Frühjudentums und Frühchristentums, die Über- und/oder Unterirdisches fokussieren, zeichne die Paulus-Apokalypse auch und gerade ein Interesse an der mythischen Geographie aus; diese Abweichung von der Tradition lasse, so Copelands Annahme, die Besonderheit des Textes besonders deutlich hervortreten.22 Doch diese Abgrenzung eines Jenseits, das auf der Erde und doch aus der Welt ist, beispielsweise vom Jenseits des Himmels entspricht nicht dem Text der Paulus-Apokalypse. Durch ein komplexes Verweissystem sind die verschiedenen Jenseitsbereiche aneinandergebunden und mit dem Diesseits vermittelt, so dass es keinen Sinn ergibt, eine plane »Map of the Earth« zu erstellen (vgl. Abb. 2). Ich will dies am Beispiel der paradiesischen Räume illustrieren.
Abbildung 2: »Map of the Earth in the Apocalypse of Paul« (Copeland 2001: 183) Die drei paradiesischen Orte, der Dritte Himmel, die Stadt Christi, die mit Jerusalem identifiziert wird, und der Paradiesesraum der Schlusskapitel affizieren einander, so dass bestimmte diesseitige Annahmen über Räume nicht gelten: Das Land der Verheißung, die Stadt Christi und das Paradies des Dritten Himmels werden in den Schlusskapiteln 45-51 ineinander integriert.23 Die 22 | Vgl. Copeland 2001: 2: »the Apocalypse of Paul’s unusual concentration on mythical geography provides an ideal focus for a wider inquiry into the text«. 23 | Zwischen der Stadt Christi und dem Siebten Himmel, in dem sich Gott befindet, besteht ebenfalls eine Transparenz. Vgl. ApkPl [lat] 29, wo Paulus und der Engel in der
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fusionierten Räume werden mit Bildelementen des eschatologisch interpretierten Gartens Eden der Genesis überblendet.24 Der durch diese Integration und Überblendung entstandene Raum entzieht sich jeder Lokalisierung (vgl. Rosenstiehl 1990: 205f.) und stellt, der Schlussstellung folgend, eine »Summa« der Heilsräume dar: Als solcher ist er überdeterminiert.25 Durch ihn fließen nicht nur die vier Paradiesesströme, die auch durch und um die Stadt Christi fließen, sondern in ihm liegt auch ihre Quelle – und zwar unter einem Baum, auf dem der Geist Gottes ruht. Neben diesen jenseitstopographischen Elementen bildet sich die Verschmelzung der verschiedenen Räume auch in der Jenseitspopulation ab: Es scheint sich bei diesem Raum analog zum Land der Verheißung und der Stadt Christi auch um den Aufenthaltsort der Gerechten zu handeln.26 Dem entsprechend begegnet Paulus auch den Propheten, Patriarchen und anderen Gerechten wie Lot und Hiob, die er bereits in der Stadt Christi sah. Darüber hinaus aber trifft er auch auf Maria, Mose, Noah, Elischa, von denen zuvor nicht die Rede war, sowie Elias (und wohl auch Henoch),27 denen er im Dritten Himmel begegnet war. Irdisches und himmlisches Paradies28 sind am Ende der Paulus-Apokalypse zu einem finalen Raum des Heils verdichtet worden, der selbst das Kosmosmodell mit seinen Differenzierungen sprengt. Den Raum zeichnet – durch Toponyme, topographische Elemente und Figuren – eine besondere Dichte an Informationen aus, die eine Stadt Christi stehen: »Und [Paulus] sagte: Herr, wieso macht allein David vor den übrigen Heiligen den Anfang des Psalmodierens? Und antwortend sagte der Engel zu mir: Weil (?) Christus, der Sohn Gottes, sitzt zur Rechten seines Vaters, wird auch dieser David vor ihm psalmodieren im siebenten Himmel, und wie es im Himmel geschieht, so gleicherweise auch unterhalb, weil es nicht erlaubt ist, ohne David Gott ein Opfer darzubringen, sondern es ist nötig, daß David psalmodiere in der Stunde der Darbringung des Leibes und Blutes Christi; wie es im Himmel ausgerichtet wird, so auch auf der Erde«. Die Übersetzung stammt von Duensing/Otero 1989. 24 | Vgl. Gen 2f. und ApkPl [lat] 45: »Dies ist das Paradies, in welchem Adam irrte und sein Weib«. 25 | Aufgrund der Überdeterminierung ist es nicht gerechtfertigt, den Raum als jenseitig-irdisch zu charakterisieren, wie dies Claude Carozzi (1994: 40-46) getan hat, oder ihn im Himmel zu verorten (vgl. Hilhorst 1999: 138f.; so auch Copeland 2001: 6). Beides verengt die Bedeutungsbreite dieses heterogenen Raumarrangements. 26 | Dort befindet sich nicht nur das auch in der Paulus-Apokalypse hervorgehobene biblische Personal, sondern auch all die Gerechten, die auf Erden der Weisung des Apostels Paulus folgten (vgl. ApkPl [lat] 46). 27 | So setzt zumindest die koptische Fassung die Textstelle fort, an der der Rest der Überlieferung unvermittelt endet, vgl. Duensing/Otero 1989: 672 (bes. Anm. 168). 28 | Seit Augustinus sind das himmlische und das irdische Paradies die zentralen Begriffe der Paradiesesauslegung; vgl. Grimm 1977: 20.
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konkret-räumliche Vorstellung stimulieren und dabei bereits an früherer Stelle der Paulus-Apokalypse evozierte Jenseitsimaginationen aufnehmen und integrieren. So werden denn auch konsequenterweise der Dritte Himmel und der Garten Eden unterschiedslos als »Paradies« (ApkPl [lat] 20; 45) bezeichnet. Dabei erscheint auch Jerusalem selbst, wiewohl jenseitig, irdisch und himmlisch zugleich. Dieses Changieren zeigt sich auch in der handschriftlichen Überlieferung. Wird Jerusalem im Pariser Codex 29 eher als jenseitig-irdisch aufgefasst, ist es in der Handschrift aus Arnhem30 als »celestis« (himmlisch) attribuiert (ApkPl [lat] 29). Vor dem Hintergrund dieses intrikaten Verhältnisses von Himmel und Erde scheint die Generierung einer »Map of the Earth« inadäquat. Aber auch eine kartographische oder diagrammatische Darstellung eines ganzen Kosmosmodells wäre problematisch, da die den Text bestimmenden Vorstellungen nicht schematisch dargestellt werden können; sie beruhen auf eher weichen Konzepten. Himmel und Erde sind zwar räumlich geschieden, bleiben aber wechselseitig aufeinander bezogen, berühren einander und überlappen sich. Das Jenseits selbst kann verschiedene räumliche Aggregatzustände annehmen. Um zu dem Ergebnis zu kommen, dass sich das Jenseits, wie es in Texten erzählt wird, nicht unumwunden kartieren lässt und dass sich, wo es um Diesseits und Jenseits geht, Geographie und Uranographie nicht einfach voneinander scheiden lassen, hätte freilich ein Blick in den Text selbst genügt. Zentrale Voraussetzung für Kartierbarkeit ist der Maßstab. In der Paulus-Apokalypse wird der Aspekt des Maßstabs aufgegriffen, um die Jenseitigkeit der Räume zu thematisieren. Ich möchte dies kurz abschließend an einem Raum des Heils und einem der Verdammnis entwickeln. Über die Stadt Christi wird Folgendes gesagt: »sie war ganz golden, und zwölf Mauern umgaben sie, und zwölf Türme darin, und die einzelnen Mauern hatten unter sich je ein Stadium im Umkreis [syrisch: und zwischen ihnen jeder war ein Stadium; koptisch: Der Umkreis jeder war 100 Stadien]. Und ich sagte zu dem Engel: Herr, wieviel ist ein Stadium? Es antwortete der Engel und sagte zu mir: Es ist soviel wie zwischen dem Herrn Gott und den Menschen, die auf Erden sind« (ApkPl 23).
29 | Bibliothèque Nationale de France Paris, Nouv. acq. lat. 1631, Bl. 2 vb -25 vb, hier Bl. 14 ra -15 ra. Für eine detailliertere Analyse ist der Blick in die handschriftliche Überlieferung unumgänglich; zugänglich sind die einzelnen lateinischen Fassungen über die synoptische Edition von Silverstein/Hilhorst 2007. 30 | Stichting Arnhemse Openbare en Gelderse Wetenschappelijke Bibliotheek, Arnhem, Cod. 6, Bl. 104 r-114v, hier Bl. 110 r-110 v.
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Wie man sich die Abstände der einzelnen Mauern der Stadt Christi genau vorzustellen hat, wird aus dieser Stelle angesichts der desperaten Textverfassung nicht ersichtlich. Einiges deutet darauf hin, dass die ursprünglich sicher sinnvolle Beschreibung des Verhältnisses der einzelnen Mauern nicht verstanden wurde. Worauf es aber ankommt, ist der Transzendenzmarker, also der Hinweis auf den Abstand zwischen Gott und den Menschen, der sich in der Stadt Christi zwölf Mal wiederholt. Noch knapper heißt es von einer Grube, in der unzählig viele Sünderseelen ineinander geschmolzen sind: »Der Abyssus hat kein Maß« (ApkPl [lat] 32). Vielleicht ist es deshalb doch einfach nur konsequent, wenn Copeland am Schluss ihres Versuchs, die Paulus-Apokalypse zu mappen, eine Karte der Stadt Christi abbildet (vgl. Abb. 3), die ihre eigene Unmöglichkeit ostentativ ausstellt. Somit wird, ganz losgelöst vom Text der Paulus-Apokalypse, die Karte selbst zum Medium ihrer Kritik.
Abbildung 3: Karte der Stadt Christi (Copeland 2001: 184)
IV. Die analysierten Karten Copelands befinden sich im Anhang ihrer Arbeit; anders als Bautch geht es Copeland auch nicht um die Generierung von Karten. Doch die Tatsache, dass Copeland von Mapping und nicht von einer konventionellen Gattungs- und Kontextanalyse spricht,31 forciert problematische Ent31 | Vgl. zum Zusammenhang auch Copeland (2001: 181): »I do not follow him as he leaves the earth, and with it apocalyptic geography. Following Paul’s earthly tour has
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scheidungen, wie etwa die Abgrenzung einer Geo- von einer Uranographie. Denn trotz eines ambitionierten Mapping-Konzepts geht ihre Analyse letztlich doch von konventionellen zweidimensionalen Kartographien aus, wie die appendizierten Karten zeigen. In ihnen realisiert sich der Überschuss des Terminus »Mapping«, der doch mehr als eine Metapher ist, selbst wenn er vordergründig eher metaphorisch gebraucht wird. Bei aller Kritik bleibt selbstverständlich der heuristische Wert von Karten. Da es ein wesentliches Ziel der Wissenschaften ist, Komplexität zu reduzieren und nicht nur abzubilden, können Kartographien tatsächlich als probates Mittel erscheinen, einen schwer übersehbaren Erzähltext zugänglich zu machen. Bei der Verwendung von Karten im Rahmen wissenschaftlicher Analysen ist allerdings dem Rechnung zu tragen, dass ein neues Medium mit seinen eigenen Voraussetzungen und Implikationen in die Untersuchung eingeführt wird. Angesichts der Komplexität, die literarische Texte und kartographische Darstellungen auszeichnet, ist mit in epistemologischer Hinsicht mindestens ambivalenten Interferenzen zu rechnen, wo Text und Karte miteinander verbunden werden. Selbst dort, wo der Fokus der Erzählung auf Rauminformationen liegt, kann nicht zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass die Nutzung von Karten oder Kartographien gegenstandsadäquat ist. Dass Karten gerade in ihrer Evidenzsuggestion problematisch sind und über eine kritisch zu beurteilende Macht verfügen, wurde in der Kulturkritik bereits deutlich erkannt. Meine Kritik an der Karte berührt diesen Punkt nicht und soll keineswegs einem Tod der Karte das Wort reden oder zu einer kritischen Kartographie aufrufen,32 sondern als Plädoyer für eine Scheidekunst begriffen werden. Denn die textauslegenden Disziplinen verfügen über ausdifferenzierte Terminologien, die zwar – weiß Gott! – weder frei von Ideologie, noch der Weisheit letzter Schluss sind, die aber im Prozess ihrer langjährigen Genese und in der kritischen Reflexion das, was sie an Faszinationskraft vielleicht verloren haben mögen, an Präzision gewonnen haben.
proven fruitful, not only for evoking the images which the author has chosen so carefully, but because each space itself has suggested a unique contribution to the study of the Apocalypse of Paul in terms of genre, intellectual history, and social history«. 32 | Vgl. Wood (2010: S. 111ff.) zu »Counter-Mapping and the Death of Cartography«.
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III. ... epistemologische Krisen der Kartographie
Die Unheimlichkeit des Mapping Jörg Dünne
»Mapping« ist ein Begriff, der nicht zu Unrecht Anspruch darauf erheben kann, als ein privilegierter Metabegriff kulturwissenschaftlicher Theoriebildung zu fungieren: »mappen« kann man vieles, wenn nicht alles – der Begriff suggeriert kartographische Genauigkeit im Hinblick auf das dabei angewendete Verfahren und bleibt zugleich – bewusst oder unbewusst – unscharf hinsichtlich möglicher Gegenstände des Mapping. Eine kritische Untersuchung der kulturwissenschaftlichen Verwendung des Konzepts, wie sie der vorliegende Band anstrebt,1 kann nicht nur die inter- und transdisziplinären Perspektiven des Mapping zeigen, sondern möchte auch ein gewisses Unbehagen an der undifferenzierten Verwendung dieses Konzepts ergründen. Der folgende Beitrag versucht, genau dieses produktive Unbehagen näher zu in den Blick zu nehmen, jedoch nicht einfach in Form eines Theorieüberblicks, sondern im Rückgriff auf eine spezifische Konstellation, die das, was ich die konstitutive Unheimlichkeit des Mapping nennen möchte, in der exemplarischen Verknüpfung eines theoretischen Ansatzes mit der Lektüre eines klassischen Textes der modernen phantastischen Literatur aufsucht.
I. Zur Einführung in die Thematik des Mapping möchte ich mich zunächst auf einen knappen, aber sehr aufschlussreichen Überblick des Geographen Denis Cosgrove aus dem Jahr 2005 beziehen. Cosgrove leitet darin die Entwicklung des modernen Mapping aus der Geschichte der Kartographie her, und zwar insbesondere von der Unterscheidung zwischen physischer und thematischer Geographie, wie sie sich vor allem im Deutschland des 19. Jahrhunderts ent-
1 | Vgl. dazu insbesondere den einleitenden Beitrag von Marion Picker.
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wickelt hat (vgl. Cosgrove 2005: 28).2 Daneben sieht Cosgrove aber eine »much richer and more complex role of mapping/cartography in cultural geography« (ebd.: 28), die sich in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten entwickelt habe. Als Ausgangspunkt dieses neuen Verständnisses von Mapping versteht Cosgrove dabei Peter Jacksons Maps of Meaning (Jackson 1989). Diese Studie vollzieht den für ihn entscheidenden Schritt, mit der die Bedeutung des Begriffes »mapping« metaphorisch ausgedehnt werde, »to include all graphic representations of knowledge« (Cosgrove 2005: 28). Von hier aus führt der Weg zur »Critical Cartography« der neunziger Jahre, aus der u.a. das immer noch andauernde Großprojekt einer neuen, umfassenden History of Cartography hervorgegangen ist (Harley/Woodward 1987ff.). Der inzwischen verstorbene Herausgeber James Brian Harley definiert dabei in seinem Vorwort zum ersten Band der History of Cartography Karten als »graphic representations that facilitate a spatial understanding of things, concepts, conditions, processes, or events in the human world« (Harley 1987: XVI). Die besondere Bedeutung dieser Erweiterung der Karten-Definition liegt vor allem darin, dass die Kulturtechnik des Kartierens somit nicht nur literaten, d.h. alphabetschriftgestützten, sondern auch anderen Kulturen zuerkannt wird, was seinen unmittelbaren Niederschlag in der nicht-eurozentrischen Anlage der History of Cartography findet; damit wird die Lösung des Mapping aus der Geschichte der Operation des Kartierens als einer vor allem kolonial-territorial geprägten Macht-Technik angestrebt (vgl. zu dieser Technik u.a. Siegert 2005). Auch wird in der Geschichte der Kartographie diese nicht nur als Domäne der Geschichtswissenschaft oder der Kunstgeschichte verstanden, sondern es hat sich ein breiter interdisziplinärer Zugang zu Karten entfaltet, durch den nicht zuletzt auch die Literaturwissenschaft in den letzten Jahren wichtige Impulse bekommen hat.3 Allerdings ist die metaphorische Verwendung des Mapping in diesem weiten Verständnis des Begriffs nicht ganz unproblematisch. Das Problem besteht dabei nicht so sehr in der Metaphorizität an sich, sondern es entsteht dann, wenn man davon ausgeht, dass das Mapping eine Tätigkeit ist, die komplett abzulösen sei von der Geschichte der Kartographie im engeren Sinn. Oft wird Mapping vor allem im angelsächsischen Raum so verstanden, als sei es zurück2 | Cosgrove geht dabei jedoch nicht näher auf die durchaus problematische Unterscheidung zwischen einer »grundlegenden«, d.h. physischen, und einer darauf aufbauenden thematischen Kartographie ein. Zur grundsätzlichen Problematik der Grenzziehung zwischen physischer und thematischer Kartographie vgl. Stockhammer (2007): 44f. 3 | Die wichtigsten jüngeren Studien im Ausgang von der frühneuzeitlichen Kartographie sind Conley 1996, Padrón 2004, Stockhammer 2007, Glauser/Kiening 2007; vgl. auch den Überblick bei Dünne 2011: 44-59.
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führbar auf eine Visualisierung abstrakter topologischer Relationen ohne topographische Basis (vgl. exemplarisch Bronfen 2002). Dies mag u.a. damit zu tun haben, dass der Ausdruck »mapping« im Englischen als eine mehr oder weniger lexikalisierte Metapher gelten kann, die sehr viel weniger deutlich als im Deutschen (»Kartieren/Kartographieren«) auf ihren historischen Ursprung zurück zu verweisen scheint. Mit diesem Verständnis von Mapping wird sich mein Beitrag auseinanderzusetzen versuchen. Ich vermute, so die Arbeitshypothese für das Folgende, dass jegliches Kartieren heimliche – bzw., wie näher ausgeführt werden soll, eigentlich eher unheimliche – Implikationen einer topographischen Lokalisierungsgeste mit sich führt. Man könnte auf dieser Grundlage wohl eine umfassende Kritik eines bestimmten Mapping-Diskurses in den Cultural Studies zu formulieren versuchen, der auf Karten rekurriert, ohne der Geschichte ihrer Verwendung und der Wirkungen ihrer Operationalität eingedenk zu sein. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist aber ein anderes, geradezu entgegengesetztes: ich möchte mich an einer Art »Faszinationsgeschichte«4 der Operation des Mapping versuchen. Diese Faszination liegt, so möchte ich argumentieren, darin, dass ein imaginierter topographischer Aspekt, der Referentialisierbarkeit verspricht, selbst bei der Kartierung von etwas, das sich an sich nicht als Territorium verstehen lässt, immer mit im Spiel ist: Daraus entsteht der Eindruck einer Unheimlichkeit, die ich als eine spezifische Art und Weise verstehen möchte, die Faszination an der besonderen Leistung von Karten hinsichtlich ihres Vor-Augen-Stellens von an sich Unsichtbarem auszudrücken. Um dies näher zu erläutern, möchte ich mich nicht auf eine allgemeine theoretische Einführung in das Mapping in den Kulturwissenschaften beschränken, sondern mich mit einem Text auseinandersetzen, der wohl zu den interessantesten und komplexesten kulturwissenschaftlichen Studien über das Mapping gehört, gerade weil er die Metapher produktiv nutzt und sich gleichzeitig ihrem unreflektierten Gebrauch verweigert: Ich meine Michel Serres’ Essai Atlas (Serres 1996). Zum einen habe ich vor, in einer Lektürebewegung, die man dekonstruktiv nennen könnte, Serres’ scharfsinnigen Lektüren zu folgen, um mich aber von diesem Nachvollzug aus in einem zweiten Schritt an bestimmten Punkten von seinen Thesen abgrenzen zu können.
II. Michel Serres definiert Mapping im Rahmen seiner 1994 erschienenen Studie mit dem Titel Atlas selbst metaphorisch, d.h. die Karten, von denen er durchgängig spricht, sind keine Karten im engeren, topographischen Sinn, sondern 4 | Den Ausdruck »Faszinationsgeschichte« übernehme ich von Gumbrecht (1979).
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benutzen die Metapher des Mapping vielmehr, um über die Lokalisierung an einem bestimmten Ort hinauszuführen und eine Dynamik von Raum-Relationen zu beschreiben. Serres schreibt dies in den neunziger Jahren vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung weltweiter Kommunikationsnetzwerke – es wäre aber verkürzend, seine Studie ganz darauf zu reduzieren. Die besondere Pointe von Serres’ Karten-Metaphorik in der Textpassage, die ich im Folgenden untersuchen möchte, besteht vielmehr darin, dass es sich, um mit dem Literaturwissenschaftler Gérard Genette zu sprechen, zumindest teilweise um eine »metonymische Metaphorik« handelt (vgl. Genette 1972). Serres benutzt nämlich ein selbst unzählige Male kartiertes Territorium inmitten der Stadt Paris, um die Operation des Kartierens, wie er sie versteht, metaphorisch zu beschreiben. Kartieren heißt für Michel Serres nämlich zunächst einmal nichts Anderes als »Orte anzureichern«, was er an einer Pariser Straße erläutert, die zumindest Karten-Experten bestens bekannt sein dürfte, nämlich die Pariser rue de Richelieu (vgl. Serres 1996: 142-154). Unter Absehung vom Namensgeber, dem Kardinal Richelieu, und stattdessen mit der semantischen Bedeutung des Namens als »reicher/reichhaltiger/angereicherter Ort« spielend, sieht Serres diese Straße als Verbindungspunkt zwischen drei unterschiedlichen Sphären sozialer Praxis: der Börse, an der Geldströme zirkulieren (am nördlichen Ende der Straße), dem Museum des Louvre, in dem Gemälde und andere Kunstschätze aufbewahrt werden (am südlichen Ende) und der Nationalbibliothek, in der Bücher beherbergt werden (auf halbem Weg zwischen den beiden anderen Orten) – 1994, als Serres’ Essai erstmals publiziert wurde, war die rue de Richelieu noch der Hauptsitz der Bibliothèque Nationale; heute ist noch die Kartenabteilung der Nationalbibliothek an diesem Ort verbleiben, während die meisten anderen Bücher bekanntlich an einen anderen Standort, nach Tolbiac, umgezogen sind. Was ist nun für Serres das Exemplarische an diesem Ort, der rue de Richelieu? In ihr kommen, so könnte man sagen, in exemplarischer Form die Kulturtechniken Bild: der Louvre, Schrift: die Bibliothek und Zahl: die Börse zueinander.5 Doch um präziser beschreiben zu können, wie dieses »Zusammenkommen« zu verstehen ist, gilt es Serres’ Gedanken weiter zu folgen: Paris wird bereits von den großen realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts als Raum beschrieben, in dem es eine Geographie der Macht gibt, die die diversen Zentren der Finanz, des literarischen Lebens usw. in topographisch eng benachbarten Sphären ansiedelt – in verschiedenen Erzählungen und Romanen Honoré de Balzacs ließe sich etwa sehr schön die Bedeutung der rue de Richelieu bzw. des Viertels um die Börse von Paris für derartige Nachbarschaftsbeziehungen untersuchen,6 wobei hier zunächst einmal die Frage ausgeklammert bleiben 5 | Zur Trias der Kulturtechniken Bild, Schrift und Zahl vgl. grundlegend Krämer/Bredekamp (2003). 6 | Vgl. z.B. Balzacs Erzählung »La Bourse« (Balzac 2003).
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soll, dass es sich dabei um fiktionale Modellierungen solcher Zentren handelt und nicht um tatsächliche Praktiken. Im Gegensatz zu solchen auf geographischer Nachbarschaft beruhenden Zentren des 19. Jahrhunderts, an denen sich bestimmte Kultur- und Herrschaftstechniken akkumulieren, sieht Serres, wie sich in der Gegenwart die »riches lieux« zu einem einzigen medialen Ort »zusammenziehen«, in dem nun alle diese Ströme des Kapitals, von Texten und Bildern fließen, die Serres in einer Pariser Straße in geographischer Nähe zueinander, aber dennoch an verschiedenen Orten dingfest gemacht hat. Hier differenziert Serres also den Erklärungswert der Metapher »rue de Richelieu« für sein Konzept von Mapping: topographische Zentren, in denen sich wichtige Institutionen einer Stadt konzentrieren, die aber dennoch eine minimale »reale« Entfernung voneinander aufweisen, überlagern sich durch das Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien an einem einzigen Ort: »Pourquoi donc une rue longue, quand il suffit d’une place unique? À la rigueur, il n’existe plus, en effet, qu’un riche lieu, ponctuel si l’on veut, muni des mêmes outils universels, propres à traiter l’information en général, et quels que soient ses supports« (Serres 1996: 147).7
Hier gilt es noch einmal auf den Entstehungszeitpunkt des Buches zu verweisen, d.h. die erste Hälfte der neunziger Jahre, die, auch bei Serres, von einem bemerkenswerten Glauben an die weltverändernde Macht der neuen Kommunikationstechnologien und v.a. des Internet beseelt war. Dieser Glaube war sicherlich insofern berechtigt, als sich all die genannten Ströme im Netz tatsächlich finden lassen; in diesem Sinn versucht Serres, mit seiner Beschreibung eines physischen Pariser Ortes den medialen »spaces of flows« (vgl. dazu Castells 1991) die Wahrnehmbarkeit zu verschaffen, die ihnen an sich gerade abgeht: Mapping wäre in diesem Sinn also der Versuch, etwas mit den Mitteln traditioneller Kulturtechniken zu beschreiben, das an sich nicht mehr in einem geographischen Raum operiert, sondern in einem Raum ohne Ausdehnung. Doch gegen den in der ersten Netz-Euphorie vorherrschenden Glauben an eine rein immaterielle Verdichtung von Datenströmen im Netz hat die neuere Mediengeographie (vgl. Döring/Thielmann 2009) gezeigt, dass natürlich auch in Netzkulturen technische Infrastrukturen weiterhin eine Rolle spielen; vor allem hat sie aber deutlich gemacht, dass Mediengeographie mitnichten auf Geo-Lokalisierung verzichtet, sondern Netzwerke schafft, die ihre Wirksamkeit gerade aus der Kombination von De- und Reterritorialisierung, von scheinbar 7 | Dt. Übersetzung: »Wozu also eine lange Straße, wenn doch ein einziger Platz genügt? Streng genommen gibt es tatsächlich nur noch einen reichen, wenn man so will punktförmigen Ort, der über dieselben weltweiten Mittel verfügt, mit denen man beliebige Informationen unabhängig von ihrem Träger verarbeiten kann« (Serres 2005: 136).
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ortsungebundenem Agieren in mobiler Kommunikation und den vielfältigen Effekten ortsspezifischer Konzentration von Handlungsmacht beziehen. In der Folge möchte ich Serres’ Atlas nicht so sehr im Sinn eines metaphorischen Verständnisses von Mapping lesen und die These vertreten, dass an die Stelle einer physischen Geographie im Zeitalter der Internetkommunikation »ent-geographisierte« Räume bzw. rein virtuelle Geographien treten würden. Serres unterstützt eine solche Auffassung zwar durchaus, indem er die Karten seines Atlasses aus einer abstrakten Topologie hervorgehen sieht, die möglicherweise von jeder Topographie abstrahieren könne. Ich möchte meine Aufmerksamkeit vielmehr auf die Passagen des, wie alle Texte von Serres, höchst vielschichtigen und assoziationsreichen Atlas-Buches richten, in denen er, ohne dies explizit zu machen und ohne dies eigentlich zu beabsichtigen, die abstrakte Topologie, die mit einem nicht-geographischen Mapping verbunden wäre, auf die Frage ihres unlösbaren Bezugs zu einer Topographie als den referentialisierbaren Raum »da draußen« öffnet. Als Literaturwissenschaftler, der pro domo spricht, wage ich zu behaupten, dass Serres dort am interessantesten und am komplexesten ist, wo er sich in enorm akribischen Detaillektüren mit literarischen Texten auseinandersetzt – aus diesem Grund möchte ich mich in der Folge vor allem seiner Interpretation der bekannten phantastischen Erzählung von Guy de Maupassant mit dem Titel »Le Horla« (vgl. Serres 1996: 61-85) widmen. Die Pointe von Serres’ Interpretation dieser Erzählung, die dem deutschen Leser vielleicht leichter entgeht als dem französischen, sei an diese Stelle gleich vorweggenommen: sie beruht auf einem Spiel mit dem Titel der Erzählung, »Le Horla«, den Serres in zwei semantisch bedeutsame Teile zerlegt: hors und là – hors steht für ihn für die Präposition »außerhalb« und là für die Bezeichnung eines Ortes (»da«). Darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. Zunächst aber kurz zur Erzählung selbst, die erstmals 1886 veröffentlicht und 1887 überarbeitet wurde8 und die zu den klassischen Texten der phantastischen Literatur in Frankreich gehört,9 nicht zuletzt weil man aus ihr auch einen autobiographischen Bezug zum Autor Guy de Maupassant selbst herauslesen zu können glaubte, der 1892 nervenkrank in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde (vgl. dazu u.a. Maynial 1907). Mit dieser biographischen Interpretation hat das Folgende nichts zu tun, auch nicht unmittelbar mit der klassischen literaturwissenschaftlichen Einordnung der Erzählung in die Gattung der Phantastik. 8 | Die verwendete Ausgabe (Maupassant 1989) stützt sich auf die überarbeitete Fassung der Erzählung von 1887. 9 | Vgl. exemplarisch die differenzierte Interpretation von Christian Wehr, die v.a. den szientifischen, vom Naturalismus und der Evolutionstheorie geprägten Charakter der Erzählung als epistemologische Problematisierung der Aporien des humanwissenschaftlichen Wissens des 19. Jahrhunderts versteht (vgl. Wehr 1997: 186-207).
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Vielmehr möchte ich ausgehend von Serres die in dieser Erzählung modellierten Räume im Hinblick auf das Verhältnis von Topologien und Topographien untersuchen. Die Geschichte des »Horla« wird in Form des Tagebuchs eines Ich-Erzählers präsentiert, der in der Nähe von Rouen in der Normandie an der Seine wohnt und glaubt festzustellen, dass er in seinem Haus von einem unsichtbaren Wesen begleitet wird, das mit ihm »mitwohnt«. Er bemerkt dieses Wesen zum ersten Mal dadurch, dass es nachts unbemerkt seine Wasserkaraffe leert und, wie es heißt, einem Vampir gleich dem Erzähler sowie einigen seiner Bediensteten und Nachbarn die Lebensenergie raubt. In den vier Monaten, die der Eindruck der Verfolgung durch einen unsichtbaren Doppelgänger andauert, dem er den Namen »Le Horla« gibt, versucht, die Gewohnheiten des unsichtbaren Wesens zu erforschen und findet heraus, dass es bspw. nicht nur sein Wasser trinkt, sondern auch seine Bücher (mit-)liest – der Erzähler fühlt sich von seinem Doppelgänger aus seinem eigenen Leben gedrängt und geht so weit, den Horla zum ersten Vertreter einer neuen Spezies zu erklären, die die Herrschaft des Menschen über die Erde beenden würde. Er versucht schließlich, den Horla in seinem Haus einzusperren, das er in Brand steckt, wobei unter anderem seine eigenen Hausbediensteten umkommen. Doch noch angesichts des brennenden Hauses kommen dem Erzähler Zweifel, ob es ihm wirklich gelungen ist, den Horla zu töten oder ob das fremde Wesen überlebt haben könnte – so beschließt er, sich selbst umzubringen und mit diesem Entschluss endet die Erzählung. Das – so könnte man sagen – Befreiende von Michel Serres’ Interpretation gegenüber dem Mainstream der Maupassant-Analysen liegt darin, dass er zunächst einmal jegliche literaturwissenschaftliche Einordnung des Textes in die phantastische Literatur mit ihrem Interesse an Charcot’scher Psychopathologie, an unheimlichen Doppelgängerfiguren usw. ausblendet und die bei aller Wirkung, die von dem Text immer noch ausgeht, manchmal doch recht offensichtliche Effekthascherei (weder der Mesmerismus noch das Gespür eines Mönchs auf dem Mont St-Michel für Übersinnliches dürfen hier fehlen) nicht weiter beachtet. Statt auf Psychologie konzentriert er sich auf die Frage der Raumdarstellung bei Maupassant und behauptet kühn, die affichierte Vorliebe des Textes für psychische Pathologien verdecke, dass er der wissenschaftlichen Normalität einer neuen Wahrnehmung von Raum den Boden bereite: Maupassant setzt sich, so Serres, sowohl von dem statischen Modell der topographischen Raumbeschreibung in der realistischen Literatur als von den positivistischen Wissenschaften seiner Zeit ab, um ein dynamisches topologisches Verständnis von Räumen zu eröffnen, auf dem die eigentliche Wirkung des Textes beruhe. Wie bereits in zahlreichen seiner anderen literaturwissenschaftlichen Analysen macht Serres damit die Literatur zum Paradigma eines neuen Wissens, das die wissenschaftliche Doxa – mit Thomas Kuhn könnte man sagen: die
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»normale Wissenschaft« (vgl. Kuhn 2008: 23-35) – zu einem gegebenen Zeitpunkt noch nicht akzeptiert hat, das sich aber in literarischen Texten längst abzeichnet. Dies geschieht nach Serres allerdings nicht dort, wo literarische Texte selbst ihre eigene Wissenschaftlichkeit behaupten, sondern gleichsam unterschwellig, nebenbei: So beschreibt Serres anderswo die Logik des parasitären »Rauschens« in der Informationstheorie etwa anhand von Jean-Jacques Rousseau (vgl. Serres 1980), die Thermodynamik des 19. Jahrhunderts anhand von Émile Zola (Serres 1975) und eben die Topologie, die im 20. Jahrhundert von Henri Bergson und der Phänomenologie wieder aufgenommen werden wird, anhand von Guy de Maupassant. Serres sieht den »Horla« als Erzählung an, die in exemplarischer Weise eine Topologie entwerfe, die ganz auf der Relation von Nähe und Ferne beruhe – in »Schichten« entfaltet sich, wie er überzeugend nachweist (vgl. Serres 1996: v.a. 66f.), im »Horla« ein Relationsraum, der von der Nähe des Hauses ausgehe und von dort aus in die Ferne und sogar bis in den extraterrestrischen kosmischen Raum hinein reiche. In der Beschreibung des Hauses sieht Serres, ohne den Namen explizit zu nennen, eine proto-Bachelard’sche Phänomenologie des Nah-Raums angelegt (vgl. Bachelard 1957), doch es geht ihm nicht um die Privilegierung einer poetischen Phänomenologie des Innenraums, sondern vielmehr um die Relation zwischen einem häuslichen Innen und einem ausgedehnten Außenraum, die sich topologisch, als analysis situs nach Leibniz entfaltet. Der topologische Raum Maupassants ist, so Serres, ein Raum der Präpositionen. In diesem Zusammenhang hier ein längeres Zitat aus Atlas: »Une paresse relative aux mathématiques induit à penser que l’espace, en géométrie, se lie à une métrique ou même à la mesure en général. Bergson et Heidegger répètent à loisir la même bévue et y entraînent leurs obligés, sans observer qu’autour d’eux les topologues, et, comme d’habitude, avant les savants, des artistes comme Maupassant, surent peindre le voisinage et ses proximités sans nul besoin de la distance ni de quantité pour la mesurer. […] La topologie épouse l’espace, autrement, et mieux. Pour ce faire, elle use du fermé (dans), de l’ouvert (hors), des intervalles (entre), de l’orientation et de la direction (vers, devant, derrière), du voisinage et de l’adhérence (près, sur, contre, suivant, touchant), du plongement (parmi), de la dimension… et ainsi de suite, toutes réalités sans mesure et avec relations. Jadis nommée par Leibniz analysis situs, la topologie décrit les positions et s’exprime, au mieux, par les prépositions« (Serres 1996: 71).10 10 | Dt. Übersetzung: »Ein durch Faulheit geprägtes Verhältnis zur Mathematik führt zu der Ansicht, in der Geometrie sei der Raum stets mit einer Metrik oder gar einem Maß verbunden. Bergson und Heidegger wiederholen diesen Fehler ohne Unterlass und drängen ihre Anhänger, es ihnen gleich zu tun, ohne zu erkennen, dass um sie herum die
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Maupassant ist für Serres einer der ersten, der erkannt hat, dass die Gegenwart keinem metrischen Raum gehört, der nach einer stabilen »Verortung« des Subjekts in einem geographisch bestimmten Milieu fragt, sondern einem »Raum der Ströme und Flüsse«: »Par brumes et adhérences, la topologie des fluides dissout le dire fantastique et en résout ses problèmes« (ebd.: 73).11 Serres geht sogar so weit zu behaupten, dass das Doppelgängertum des »Horla« paradigmatisch für eine Epoche sei, in der die leibzentrierte Lokalisierung um ein »Heim« der virtuellen Lokalisierung in einem Netzwerk gewichen sei: »[L]a métaphysique de la substance et celle du sujet se réfèrent à un espace préréglé, présupposé par ces positions, exactement par la substitution. Il faut douter du préjugé fondamental d’un tel espace: voilà, en précision, le travail du Horla. Assis dans mon fauteil, à ma place, le double lit mon livre. Il a substitué sa présence à la mienne« (ebd.: 82).12
An die Stelle eines geometrischen Orts von Subjektivität tritt Subjektivität als topologische Relation zu einem imaginierten Doppelgänger, der mit dem Subjekt, das ihm zu Grunde liegt, über ein Netzwerk, eine topologische Relation verbunden ist. Der Brand des Hauses, der diese Relation zu einem (zumindest vorläufigen) katastrophischen Ende führt, bündelt für Serres die Bahnen der Netzwerke, die sich zwischen dem »moi« und seinem Doppelgänger entsponnen haben, zeigt den kosmischen Umfang der »spaces of flows«.
Topologen und wie so oft noch vor den Wissenschaftlern Künstler wie Maupassant die Umgebung und ihre Nachbarschaft längst zu zeichnen verstanden, ohne auf Entfernungen oder Größen zu deren Messung angewiesen zu sein. […] Die Topologie erfasst den Raum anders und besser. Dazu benutzt sie Geschlossenes (in), Offenes (außerhalb), Zwischenräume (zwischen), Richtung und Ausrichtung (zu, vor, hinter), Nachbarschaft und Angrenzendes (bei, auf, an, unter, über), Eintauchen (inmitten), Dimension usw., sämtlich Realitäten ohne Maß, aber mit Relationen. Die Topologie, die Leibniz einst als analysis situs bezeichnete, beschreibt die Lage und benutzt dazu bestenfalls Präpositionen (Serres 2005: 67). 11 | Dt. Übersetzung: »Durch Nebel und Nachbarschaften löst die Topologie der Fluida das Fantastische auf und löst dessen Probleme« (Serres 2005: 69). 12 | Dt. Übersetzung: »[D]ie Metaphysiken der Substanz wie auch des Subjekts [beziehen sich] auf einen vorregulierten, durch diese Positionen präsupponierten Raum genau durch Substitution. Das fundamentale Vorurteil hinsichtlich solch eines Raumes ist jedoch anzuzweifeln, und genau das ist die Aufgabe, die der Horla erfüllt. In meinem Sessel, auf meinem Platz sitzend, liest der Doppelgänger mein Buch. Er hat meine Präsenz durch die seinige substituiert« (Serres 2005: 78).
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In der Tat stellt Maupassant einen bemerkenswerten Bezug zwischen dem brennenden Haus und dem globalen Raum her, in dem sich die Relation zu dem »Horla« einschreibt: »La maison, maintenant, n’était plus qu’un bûcher horrible et magnifique, un bûcher monstrueux, éclairant toute la terre, un bûcher où brûlaient des hommes, et où il brûlait aussi, Lui, Lui, mon prisonnier, l’Être nouveau, le nouveau maître, le Horla!« (Maupassant 1989: 141).13
Serres’ Interpretation ist ebenso klar wie bestechend, und dennoch möchte ich ihr nicht bis zum Schluss folgen, sondern aus ihren Ansätzen heraus eine etwas andere Konsequenz ziehen. In meinem Versuch einer Gegenlektüre möchte ich ebenfalls von der Interpretation des Namens »Horla« ausgehen. Serres sieht die beiden Bestandteile des Namens, die für ihn homophon zu hors und là sind, seinem topologischen Modell entsprechend, in einer Oppositionsbeziehung stehen: »Hors« stünde als Präposition für die schichtenartige aufgebaute Welt »außerhalb« (bzw. als Ortsadverb für das »Draußen« selbst), wohingegen »là«, das er mit dem Heidegger’schen »être-là«, dem Dasein, in Verbindung bringt, Serres zufolge für die ortsgebundene Lokalisierung in einem Haus und im Wohnen steht: »On n’entre point dans sa demeure comme dans une forêt, sous son toit comme sous un bois, entre les murs de son corridor comme entre les arbres d’une avenue de chasse… les lieux ont changé de voisinage et les limites de proximité; le corps ne perçoit pas les mêmes approches du loin et du près. Fréquemment usité, le verbe approcher connecte ou déconnecte, pour le pire et le meilleur, le dehors et l’intime, le hors et le là« (Serres 1996: 73).14
13 | Dt. Übersetzung: »Jetzt war das ganze Haus nichts mehr als ein fürchterlicher, prachtvoller Scheiterhaufen, ein Riesenscheiterhaufen, der die ganze Erde beleuchtete, ein Scheiterhaufen, auf dem Menschen verbrannten und auf dem auch er verbrannte, Er, Er, mein Gefangener, das neue Wesen, der neue Herr, der Horla!« (Übersetzung hier und im Folgenden durch den Verf., in Anlehnung an die Übersetzung von Ernst Sander in Maupassant 1998). 14 | Dt. Übersetzung: »Man tritt nicht auf dieselbe Weise in sein Haus wie in den Wald, unter das Dach seines Hauses wie unter ein Blätterdach, zwischen die Wände seines Flurs wie zwischen die Bäume einer Schneise… Die Orte haben ihre Umgebung und die Grenzen der Nähe verändert. Der Körper nimmt nicht dieselbe Annäherung ans Nahe oder Entfernte wahr. Das oft benutzte Verb ›annähern‹ verbindet oder trennt, zum Guten oder zum Schlechten, das Äußere vom Intimen, das Draußen vom Hier (›Da‹)« (Serres 2005: 69).
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Im Unterschied dazu möchte ich das Verhältnis von hors und là nicht als Opposition verstehen, die erst sekundär durch Bewegung ›kurzgeschlossen‹ würde, sondern als Relation, die von vornherein eine syntagmatische Verknüpfung beinhaltet: »hors là« verstehe ich als là dehors, als »dort draußen«. Das scheint zunächst eine weitgehend unbedeutende Verschiebung zu sein, ihre Konsequenzen sind jedoch dann weitreichend, wenn man das »là« nicht im Heidegger’schen Sinn als Da-sein versteht, sondern als Zeigewort. Mit dem »là« wird somit nicht ein »Hier« der phänomenologischen Nähe, sondern ein »Dort« der Ferne anzeigt. Versteht man »là« nämlich als Deiktikum im Sinn Karl Bühlers (vgl. Bühler 1982: 102-120), so ist die topologische Relation von einem Innen zu einem Außen nicht einfach der geometrischen Verortung an einem bestimmten Punkt, gegen die sich Serres wendet, entgegengesetzt, sondern Topologie und Geometrie, Topologie und Topographie verschränken sich im »hors là«, im »Dort Draußen« unauflöslich miteinander. Was bedeutet das für die Räume im »Horla«? Serres geht, wie gesehen, von einer eindeutigen Dominanz des Topologischen über das Topographische aus: »La topologie fonde la topographie des cartes et des plans« (Serres 1996: 71).15 Für ihn entfaltet Maupassant zunächst einmal einen rein topologischen Relationsraum, dem gegenüber die Topographie sekundär wäre. Wenn Serres in seiner Interpretation, wie auch anderswo in Atlas, immer wieder von einer »cartographie« des Horla spricht, dann handelt es sich dabei um ein Mapping im weitesten Sinn des Begriffs – ein Mapping, das auf topographische Verortungen zugunsten eines »spatial understanding of processes, or events in the human world« (so die bereits zitierte Kartendefinition von Harley) verzichtet. Demgegenüber möchte ich versuchen zu zeigen, dass die Topographie im »Horla« durchaus nicht zu vernachlässigen ist, allerdings wäre es verfehlt, die Relation einfach umzudrehen und zu behaupten, dass die Topographie das eigentlich fundierende Element wäre, aus dem die Erzählung hervorginge. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass der »Horla«, ebenso wenig wie das Mapping generell, auf einen topographischen Verortungseffekt verzichten kann. Allerdings ist dieser Verortungseffekt nicht auf eine reale Deixis, sondern auf eine »Deixis am Phantasma« (vgl. dazu Bühler 1982: 121-140) gegründet. Bei den Topographien des »Horla« geht es nicht um eine reale, sondern um eine imaginierte Verortung in einer Topographie – genau in dieser Art der Verortung liegt meines Erachtens ganz allgemein die Unheimlichkeit des Kartierens beschlossen. Inwiefern werden aber im »Horla« Räume entworfen, in denen sich eine topologische Relation (die Präposition »hors« bzw. das Ortsadverb »dehors«) und eine bestimmte Art topographischer Verortung (das deiktische Ortsadverb 15 | Dt. Übersetzung: »Die Topologie bildet die Grundlage für die Topographie der Karten und Pläne« (Serres 2005: 67).
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»là«) miteinander verknüpfen? Und sind diese Räume vielleicht sogar mit einer historischen Praxis des Kartierens verknüpft? Hier gilt es näher auf die mögliche Herkunft der Erscheinung des »Horla« einzugehen, wie sie in der Erzählung ausführlich thematisiert wird. Im ersten Tagebucheintrag wird als scheinbar funktionsloses Detail ein schmucker Dreimaster mit brasilianischer Flagge erwähnt, dem der Erzähler mit Freude zusieht und sogar zuwinkt. Erst später stellt er fest, dass das Erscheinen des Horla, der sich kurz darauf zum ersten Mal bemerkbar macht, mit diesem Schiff zu tun haben könnte, dass das Schiff also den Horla wie einen Krankheitserreger aus Südamerika mitgebracht haben könnte. Am 19. August liest der Erzähler in der Revue du monde scientifique: »Une nouvelle assez curieuse nous arrive de Rio de Janeiro. Une folie, une épidémie de folie, comparable aux démences contagieuses qui atteignirent les peuples d’Europe au Moyen Age, sévit en ce moment dans la province de San Paulo. Les habitants éperdus quittent leurs maisons, désertent leurs villages, abandonnent leurs cultures, se di sant poursuivis, possédés, gouvernés comme un bétail humain par des êtres invisibles bien que tangibles, des sortes de vampires qui se nourrissent de leur vie pendant leur sommeil, et qui boivent en outre de l’eau et du lait sans paraître toucher à aucun autre aliment« (Maupassant 1989: 135).16
Der Titel der (fiktiven) Zeitschrift: Revue du monde scientifique scheint in diesem Zusammenhang durchaus signifikant, die wissenschaftliche Erklärung für die Ausbreitung der »folie« erfolgt nämlich in einem globalen Zusammenhang, die allerdings, anders als der im Text suggerierte Vergleich mit mittelalterlichen Wahnsinnsattacken de facto einer durchaus modernen wissenschaftlichen Logik folgt, nämlich der immunologischen Logik der Ansteckung (vgl. dazu Koppenfels 2005). In diesem Zusammenhang kann auch ein anderes, von Serres nicht angesprochenes, aber ebenso evidentes Wortspiel mit dem Titel »Le Horla« angeführt werden, der sich, wenn man den bestimmten Artikel »le« mit einbezieht, als fast vollständiges Anagramm der Krankheit »[C]holera« zu erkennen
16 | Dt. Übersetzung: »Aus Rio de Janeiro kommt eine recht sonderbare Nachricht. In diesem Augenblick wütet in der Provinz San Paolo eine Verrücktheit, eine Epidemie von Verrücktheit, die man mit den ansteckenden Krankheiten vergleichen muss, von denen im Mittelalter die Völker Europas heimgesucht wurden. Die Einwohner verlassen verstört ihre Häuser, geben ihre Dörfer auf, lassen ihre Äcker im Stich, weil sie sich für verfolgt halten, besessen, beherrscht, wie Tiere in Menschengestalt, durch Wesen, die unsichtbar sind, obgleich man sie berühren kann, durch vampirartige Wesen, die sich von ihrem Leben nähren, während sie schlafen, und die außerdem Wasser und Milch trinken, ohne dass sie, wie es scheint, andere Nahrung berühren«.
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gibt.17 Die Entdeckung der Ausbreitungslogik der Cholera wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts in so genannten »disease maps« festgehalten – als Beispiel kann hier die sog. »Cholera Map of the British Isles« des deutschen Kartographen August Petermann aus dem Jahr 1848 dienen (vgl. Abb. 1) – die Karte, die eine Verbreitung der Krankheit über Wasserstraßen in Großbritannien nahe legt, entstand sechs Jahre, bevor der Arzt John Snow durch seine Kartierung der Choleraerkrankungen in London der tatsächlichen Quelle der Infektion, einer Wasserpumpe, auf die Spur kam (vgl. dazu Koch 2011: v.a. 118-163).
Abbildung 1: August Petermann, Karte der Cholera-Verbreitung in Großbritannien (Koch 2011: 137) Analog zu den von Petermann erstmals benutzten dunklen Farben bzw. Schattierungen, die auf Krankheitskarten für Zonen der Infektion verwendet werden, ist die Ausbreitung des »Horla« möglicherweise auf dieser Grundlage als fortschreitende Profanation des strahlenden Weiß des Dreimasters zu verstehen, der als »Überträger« des aus der Ferne kommenden Erregers fungiert. In jedem Fall stellt aber der weltumspannende Bezug zwischen der Seine-Mündung in 17 | Vgl. zu den möglichen anagrammatischen Bezügen mit dem Namen »Horla« Bonnefis (1981: 133-141).
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Frankreich und der Bucht von Rio de Janeiro bzw. der Provinz von São Paulo in Brasilien eine geographische Relation her, die nicht nur mit der topologischen Opposition hier vs. dort arbeitet, sondern die darüber hinaus auf einen bestimmten geo-lokalisierbaren Referenzpunkt »da draußen«, nämlich in Brasilien verweist – auch weltweite Krankheitskarten sind im Übrigen seit dem Physikalischen Atlas von Heinrich Berghaus aus dem Jahr 1848 durchaus bekannt und üblich, der einen »Planiglob zur Übersicht der geographischen Verbreitung der vornehmsten Krankheiten« enthält. Eine Detailkarte in dieser Karte geht sogar explizit auf die »Marschroute der Cholera, der verheerendsten Krankheit des 19. Jahrhunderts« ein (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Verbreitungswege der Cholera, Ausschnitt aus Berghaus (2004: 138-139).
Es soll hiermit jedoch nicht behauptet werden, dass auf diese Weise die Herkunft des Horla eindeutig geographisch zu erklären wäre, dass also diese Erscheinung in einer »realen« referentiellen Geographie zu fundieren wäre. Es taucht nämlich außer der geographischen Lokalisierung der Herkunft des Horla in der Erzählung noch eine zweite, konkurrierende Szene des Kartierens auf, die nun allerdings nicht mehr eine »äußere«, d.h. geographische, sondern eine »innere«, kognitive Kartierung darstellt. Dabei geht der Erzähler in einem Moment ausgesprochen distanzierter Selbstanalyse den Ursachen seiner eigenen, möglicherweise pathologischen Störung der Gehirnfunktion nach, die er folgendermaßen begründet: »Je ne serais donc, en somme, qu’un halluciné raisonnant. Un trouble inconnu se serait produit dans mon cerveau, un de ces troubles qu’essaient de noter et de préciser
D IE U NHEIMLICHKEIT DES M APPING aujourd’hui les physiologistes. […] Ne se peut-il pas qu’une des imperceptibles touches du clavier cérébral se trouve paralysée chez moi? Des hommes, à la suite d’accidents, perdent la mémoire des noms propres ou des verbes ou des chiffres, ou seulement des dates. Les localisations de toutes les parcelles de la pensée sont aujourd’hui prouvées. Or, quoi d’étonnant à ce que ma faculté de contrôler l’irréalité de certaines hallucinations, se trouve engourdie chez moi en ce moment?« (Maupassant 1989: 131)18
Die Möglichkeit, dass er ein »halluciné raisonnant« sein könnte, führt im Gehirn des Erzählers scheinbar das eng, was das cartesianische cogito ausschließt, nämlich zu denken und gleichzeitig verrückt zu sein – vorstellbar wird diese Annahme auf der Grundlage der zeitgenössischen Lokalisationstheorie der Gehirnfunktionen, deren Grundlagen in Frankreich vor allem von Pierre Paul Broca ausgehend von einem Fall von Aphasie erforscht wurden, der auf die Schädigung einer bestimmten Gehirnregion zurückzuführen ist (vgl. Abb. 3, die das von Broca untersuchte Gehirn des so genannten »Monsieur Tan« zeigt. Die betroffene Gehirnregion erhielt in Anschluss an seine Forschungen die Bezeichnung »Broca-Areal«).19 Auslöser für die Lokalisationstheorie im 19. Jahrhundert war somit nicht das normale Funktionieren, sondern waren vielmehr pathologische Störungen des Gehirns, auf die sich der Erzähler hier bezieht, wenn er meint, bei ihm sei ein rationales Kontrollzentrum gestört, das den Halluzinationen seiner Einbildungskraft freien Lauf lasse. De facto vermischt der Erzähler hier die neuere Lokalisationstheorie mit einer älteren, bis in die Antike zurückreichenden Theorie der Verortung kognitiver Kapazitäten, die von Ventrikeln oder Hirnkammern als Sitz der verschiedenen kognitiven Vermögen ausgeht (vgl. Abb. 4, die eine Darstellung von Gehirnventrikeln durch Hieronymus Brunschwig auf dem Jahr 1497 zeigt) – er vermutet möglicherweise in Anlehnung an ältere, fakultätenpsychologische Annahmen zur Lokalisierung von kognitiven Fähigkeiten, dass sein Verstand bzw. sein Urteilsvermögen in der zweiten Hirnkammer von einer Läsion betroffen seien, die eine wirksame Kontrolle des Vermögens der Einbildungskraft in der ersten Kammer verhindere. 18 | Dt. Übersetzung: »Ich kann also nur ein Vernünftiger sein, der unter Wahngebilden leidet. In meinem Gehirn muss sich irgendeine Störung befinden, eine jener Störungen, denen heute die Physiologen auf den Grund zu kommen suchen. Könnte nicht irgendeine jener Nerventasten des Gehirnes bei mir gelähmt sein? Es kommt vor, dass Menschen nach irgendeinem Unglücksfall das Gedächtnis für Eigennamen, bestimmte Worte und Ziffern oder auch nur für Jahreszahlen verlieren. Es ist heute vollkommen bewiesen, dass alle Parzellen des menschlichen Denkens an bestimmten Stellen unseres Gehirns lokalisiert sind. Es wäre also weiter nicht erstaunlich, wenn die Fähigkeit, etwa die Unwirklichkeit einzelner Erscheinungen festzustellen, gerade jetzt bei mir eingeschlafen wäre«. 19 | Zur Geschichte der Hirnforschung vgl. den Überblick bei Finger 1994.
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Abbildungen 3 und 4: oben das Gehirn des »Monsieur Tan«, unten Verortung kognitiver Kapazitäten nach Hieronymus Brunschwig (Finger 1994: 38 bzw. 21). In jedem Fall nimmt der Erzähler hier eine zweite Form topographischer Lokalisierung einer möglichen Ursache seiner Wahrnehmung des fremden Wesens namens Horla vor, allerdings nicht mehr im geographischen Raum, sondern im Körper-Raum des Gehirns. Michel Serres polemisiert ganz zu Recht gegen die Tendenz der Phantastik bzw. der literaturwissenschaftlichen Phantastik-For-
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schung, das »Innen« des Menschen zur geheimnisvollen Zone unzugänglicher psychischer Tiefe zu machen – doch Maupassants Umgang mit der Lokalisationsthese zeigt, dass es ihm gerade nicht darum geht, dieses Innen im Status einer geheimnisvollen black box zu belassen, sondern der Erzähler des »Horla« beruft sich – in welcher Mischung von aktueller und längst obsoleter Wissenschaft auch immer – auf die Möglichkeit der Lokalisierung und somit der kartographischen bzw. kartenähnlichen Visualisierung der Funktionen des Gehirns sowie ihrer Störungen. Damit wird letztlich auch das »Innen« des Menschen, sofern direkt seine Hirnfunktionen adressiert werden, zu einem »Da«, das sich erst über einen Verweis auf eine mediale Zeigefläche konstituiert – insofern erscheint auch das geheime Innere des Gehirns in gewisser Weise als ein durch medizinische Verfahren der Bildgebung konstituiertes »Da draußen«.20 Man kann also in Guy de Maupassants Erzählung »Le Horla« durchaus eines der von Serres vielleicht etwas vorschnell als unwesentlich abgetanen zentralen Charakteristika der phantastischen Erzählung nach Tzvetan Todorov (vgl. Todorov 1970: 165-184) wiedererkennen, das in einer unentschiedenen Konkurrenz von Erklärungsmustern angesichts einer rätselhaften Erscheinung besteht. Es geht im Rahmen der vorliegenden Überlegungen dabei jedoch nicht darum, dass man sich zwischen zwei Erklärungen entscheiden müsste, von denen die geographische aus Sicht des Erzählers die tatsächliche Realität des Horla und die gehirnphysiologische dagegen seine eigene pathologische Störung erklären würde. Entscheidend ist vielmehr, dass beide Erklärungen auf Grundlage einer vom Erzähler vorgestellten Topographie erfolgen, die es ihm ermöglicht, den Horla durch eine medial exteriorisierte Zeigefläche in Form einer Karte oder einer kartenähnlichen Darstellung so zu verorten, dass man deiktisch darauf zeigen und die eigentlich unsichtbare Erscheinung gleichsam »dingfest machen« kann. Ich breche meine Textlektüre an dieser Stelle ab und komme abschließend zu einer kurzen Zusammenfassung meiner Ergebnisse.
III. Die Erzählung »Le Horla« schließt zwei topographische Raumvorstellungen, d.h. eine zerebrale und eine geographische Lokalisierung, miteinander kurz und legt sie im Nahraum des Erzählers übereinander; als diesen Nahraum verstehe ich jedoch, anders als Serres, weniger einen Heidegger’schen Raum des Wohnens als vielmehr den deiktisch-medialen Raum des Zeigens, der Dinge vor Augen stellt, die an sich unsichtbar sind. Das »Hor(s)-là«, das »Da Drau20 | Zur Geschichte der bildgebenden Verfahren, die das unsichtbare Innere des Körpers medial vor Augen stellen, vgl. Buschhaus (2005).
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ßen« bezieht sich meiner Meinung nach auf den medialen Ort, an dem dies geschieht, nämlich die Karte, d.h. die zweidimensionale Fläche, auf die verwiesen wird, wenn gezeigt wird. Diese mediale Fläche lässt die geographische Entfernung zwischen Rouen und Brasilien ebenso in die Reichweite einer Zeigegeste rücken wie sie auch das optisch an sich unbeobachtbare Innere des eigenen Gehirns des Erzählers vor Augen stellt und damit ebenfalls zu einem »Da draußen« werden lässt. Dass die so erfolgende Verortung höchst prekärer Natur ist, zeigt sich daran, dass im »Horla« mindestens zwei konkurrierende Lokalisierungen eines an sich unerklärbaren Phänomens vorgenommen werden, die nicht in einer gemeinsamen Karte zur Deckung gebracht werden können. Statt eines rein topologisch bestimmten »riche lieu« erzeugt die virtuelle Kartographie des »Horla« einen Zeige-Raum, der ständig zwischen zerebraler und geographischer Lokalisierung hin- und herspringt und in dem sich verschiedene Verortungen nicht zu einem einzigen, mit Daten verschiedenster Provenienz angereicherten Geo-Informationssystem ergänzen, sondern miteinander in Konkurrenz treten. Möglicherweise weist Maupassants Erzählung aber gerade dadurch auf eine spezifische Wirkung des Mediums Karte hin, die allzu häufig als »natürlich« hingenommen wird, die es aber in Wirklichkeit keineswegs ist: Die Karte repräsentiert nicht einfach eine bestehende Realität, sondern visualisiert immer schon etwas an sich Unsichtbares, indem sie eine topographische Ordnung vor Augen stellt, die sich als transparenten Verweis auf eine referentielle Wirklichkeit »da draußen« ausgibt. Was diese Ordnung in »Wirklichkeit« ist und ob in ihr die Antwort auf die Fragen zu finden sind, derentwegen Karten gemacht werden, ist eine ganz andere Frage – es ist letztlich höchst zweifelhaft, ob mit der Lokalisierung des »Seuchenherds« in Brasilien oder in dem Nachweis einer bestimmten lokal gestörten Hirnfunktion des Erzählers tatsächlich etwas erklärt wäre. Ganz offensichtlich arbeiten aber Karten aller Art genau mit dieser Suggestion, dass etwas verständlich würde, sobald man es »da draußen« in einer Sphäre dingfest gemacht hätte, die zunächst einmal nur die Exteriorität einer medialen Zeigefläche ist. Dies gilt im Übrigen nicht nur für kognitive Kartierungen oder so genannte mind maps, sondern auch für die physische wie auch die thematische Kartographie im traditionellen Sinn: in beiden Fällen macht das Medium Karte etwas sichtbar, das man zumindest so nirgendwo anders sehen kann als auf der Karte selbst. Insofern stellt Maupassant in seiner Erzählung »Le Horla« nicht nur die Topologie einer sich globalisierenden modernen Welt dar, der das »Da-Heim« abhanden gekommen ist, sondern auch und vor allem die Unheimlichkeit, die es bedeutet, die an sich unsichtbare Welt »da draußen« in ein auf einen Blick erfassbares mediales Format bannen zu wollen.
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Die Transgression der Karten Augustin Berque The map is not the territory. Alfred Korzybski ୌ༳ኣኣ༳ୌ1 Nishida Kitarō
I. Ü BERTR AGUNG , M E TAPHER UND K ARTOGR APHIE Übertragungen und Metaphern spielen mit dem Sinn und dem Ort der Dinge. Sie »tragen« (pherein, ferre) sie »über« (meta, trans) gewisse Grenzen hinaus, die sie überschreiten; aber welche Grenzen eigentlich? Legen wir zum Beispiel den Sinn »dumm« dem Wort »Esel« bei, welches innerhalb der Grenzen seiner primären Identität jedoch nichts mit Dummheit zu tun hat – wo das Wort ein höchst intelligentes Tier zu bezeichnen scheint, oder zumindest eines, das nicht dümmer als andere Tiere ist. Will man diese Idee kartographieren, wäre es das Einfachste, einen Esel zu zeichnen, und das tun im Prinzip Piktogramme. Bei ihnen sind die Grenzen, innerhalb derer der Sinn des Wortes »Esel« seine primäre Identität bewahrt, nichts anderes als die Konturen der Zeichnung. Dieses Piktogramm repräsentiert jedoch gerade nicht das Wort »Esel«, sondern das Wesen oder das Ding »Esel«. Was auf dem Papier das Wort »Esel« repräsentiert, sind eher phonetische Zeichen, zum Beispiel die des lateinischen Alphabets. Was die Übertragung oder die Metapher betrifft, bleibt das Problem allerdings dasselbe; ob nämlich Piktogramm oder Alphabet, die Repräsentation eines Esels muss dabei die Grenzen seiner Identität überschreiten, um sich auf etwas anderes hin zu öffnen. Sie muss zugleich A und nicht-A, Esel und nichtEsel sein; zum Beispiel »Dummheit«. Kommen wir also zur Frage: ist solcherlei kartographierbar? Eine Frage, aus der sich drei weitere ergeben, zunächst: kann 1 | Ichi soku ta, ta soku ichi (Das Eine ist/ist nicht das Viele, das Viele ist/ist nicht das Eine).
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man Dummheit kartographieren? Ferner, sind Karten nicht eigentlich selber dumm, mit ihrem Anspruch, das Territorium zu sein, wo doch jeder weiß, dass sie es nicht sind? Schließlich: hat dieser dumme Anspruch nicht gerade Teil an dem, was die Realität des Territoriums ausmacht? Ich werde diesen Fragen und einigen mit ihnen verbundenen nachgehen und mich dabei bemühen, so konkret wie möglich zu bleiben, d.h. nah an der Karte wie auch am Territorium.
II. S IND I DEEN K ARTOGR APHIERBAR ? Für Menschen, die alphabetisiert sind wie wir, ist es schwer vorstellbar, dass man ein Konzept kartographieren oder auch nur sehen kann. Antisthenes (ca. 444-365 v. Chr.) hielt Platon spöttisch entgegen: ich sehe zwar Pferde, aber Pferdheit kann ich nicht erblicken. Dennoch lassen wir es zu, dass es in unserer Sprache ein Wort wie Ideogramm gibt, das sehr wohl »eine Idee graphisch erfassen, sie kartographieren« bedeutet, und wir gestehen nicht minder bereitwillig diese Art von Fähigkeit dem Schriftsystem Chinas zu. Versuchen wir also, einen Schritt weiter als Antisthenes zu gehen und zu akzeptieren, dass wir, sofern wir Esel sehen, nicht nur auch Dummheit sehen, sondern sie ebenso gut auf einer Karte verzeichnen könnten. Um keine offenen Türen einzurennen, sollten wir uns zunächst näher ansehen, wie man damit in China umgeht, in dem Land, wo Esel mit dem Pinsel als 㦧 (lü2)2 und das Konzept der Dummheit als ⽺ᛮ (chun3xing4) verschriftet werden. Man sieht sofort, dass besagtes Konzept sich nicht vom Tier »Esel« ableitet, im Chinesischen genauso wenig wie im Französischen oder im Deutschen. Das französische Wort stupide kommt vom lateinischen stupere, »mit Dummheit geschlagen sein«, ein Wort, das wiederum aus der indoeuropäischen Wurzel (s)teu- hervorgegangen ist, »schubsen, drücken, schlagen«. Diese Wurzel hat ihrerseits übrigens Wörter wie estocade, obtus, contusion, stupre3 ergeben – die Bildlichkeit ist deutlich. Es ist nicht dieselbe, die das deutsche dumm hervorgebracht hat, das von der indoeuropäischen Wurzel dheu- abstammt, die so viel bedeutet wie »Dampf, Rauch, Staub«. Das Chinesische seinerseits bildet die Graphie ⽺ᛮ aus zwei Elementen. Das zweite davon, ᛮ (xing4), dient dazu, allgemeine Konzepte zu signalisieren; es entspricht dem französischen -ité (wie in »stupidité«), dem deutschen -heit (wie in »Dummheit«) usw. Wir wollen nun nicht näher auf seine Geschichte eingehen und sagen stattdessen einfach, dass 2 | Die hochgestellte Ziffer »2« bedeutet, dass lü auf dem zweiten Ton des Mandarins gesprochen wird. 3 | Anm. d. Übers.: Die vier französischen Wörter bedeuten der Reihe nach: Todesstoß (bei der Corrida), stumpf, Prellung, Ausschweifung/Vergewaltigung.
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im gewählten Beispiel ᛮ (xing4) nur als Endung dient, als eine Art von graphischem Zeichen für Konzeptualität, das im Prinzip auf jegliches Thema angewendet werden kann und dabei an sich nichts über dieses Thema sagt. Im gegebenen Fall ist das Thema repräsentiert durch ⽺ (chun3). Wenn es allein steht, hat das Wort ⽺ (chun3) zwei Hauptbedeutungen. Die erste ist die Idee des SichWindens, wie es Würmer, Insekten oder Reptilien tun; von ihr leitet sich die übertragene Bedeutung der Gehorsamsverweigerung oder Revolte ab. Zweitens bedeutet dieses Wort »dumm«, »unwissend«. Wie haben diese beiden Ideen sich im gleichen Schriftzeichen ⽺ vereinen können? Dieses kombiniert mehrere graphische Elemente, von denen eines, (hui3, später chong2 gelesen, als Abkürzung von chong2 ⽕, gleicher Sinn), hier der Schlüssel oder der semantische Stamm ist, die es gestattet, dem Zeichen ⽺ eine Stelle in den Wörterbüchern zuzuweisen. Es ist der Schlüssel 142, der die Bedeutung »Insekt, Wurm, Schlange« oder allgemein »kleines Tier« hat. Die ältesten Formen dieses Zeichens lösen die Vorstellung einer Schlange mit mächtigem Kopf aus, vielleicht haben sie ursprünglich eine Kobra repräsentiert. Hier ist es zu verdoppelt und mit dem Zeichen ᫋ verbunden, das, wenn es für sich allein steht, »Frühling« bedeutet. Dieses Zeichen hat hier eine im Wesentlichen phonetische Rolle: der Frühling spricht sich chun1, nicht weit entfernt von chun3. Dennoch bewahrt ᫋ hier den Rest einer gewissen Bedeutung, nämlich die Idee eines Hauches, der die kleinen, sich windenden Tiere belebt, wenn sie im Frühling nach ihrer Überwinterung aus der Erde hervorkriechen.4 Eine andere Etymologie5 zieht eher die Idee in Betracht, dass das fragliche Tier sich verängstigt windet, um zu entkommen, wobei das Verhältnis zu ᫋ also rein phonetisch ist, jedoch ein Zeichen ähnlichen Klanges evoziert, ㏹, das sich qun1 oder jun4 ausspricht und bedeutet, dass man sich aus Verwirrung oder Demut zurückzieht, was, wie man sieht, wieder zum Bild des am Boden kriechenden kleinen Tiers zurückkehrt (französisch humilité, Demut, kommt vom lateinischen humus, Boden, Erde). Eine dritte Etymologie,6 der ersten benachbart, will, dass der Lebenshauch »sich ins Innere zurückzieht« (naka ni komoru), daher das Sich-Winden. Etc.… Was die große Abweichung zwischen diesen verschiedenen Etymologien und die Vorstellung der Dummheit uns enthüllen, ist im Grunde die Unmöglichkeit, ein Konzept an eine visuelle Form zu binden, und mit den Lautformen, d.h. den Wörtern der natürlichen Sprachen, ist es ebenso. Dies einfach deswegen, weil die sinnlichen Formen (die sichtbaren, die Lautformen usf.) nicht abstrakt sind, wie hingegen die Konzepte. Die Verbindung zwischen ihnen ist weder logisch noch notwendig, sie kann überhaupt nur historisch und kontingent sein. Dies gilt sogar für geometrische Figuren, deren Benennung einer anderen 4 | Diese Etymologie verzeichnet das Kanwa jiten (1982) 5 | Diejenige des Daijigen (1992). 6 | Die im Gakken-Kanjigen (1988) vorgestellte Etymologie.
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Bildungsregel untersteht als ihre sichtbare Form. Welches logische Verhältnis unterhalten denn schon ein angle obtus, ein stumpfer Winkel, und die stupidité? Dieser Befund hat jedoch nicht zur Folge, dass alle Wörter bloß beliebig sind, also dass man eines Tages beschlossen hätte, dass die eine Sache so und eine andere anders heißen solle. In einer solchen Beliebigkeit, die eines der Dogmen unserer Humanwissenschaften und insbesondere der Linguistik darstellt, wirkt sich lediglich der grundlegende Dualismus der westlichen Moderne aus. Für ihn ist angesichts der Verbindung, die zwischen den Dingen besteht, nur eine Alternative denkbar: dass diese Verbindung entweder objektiv ist (und daher notwendig, oder ansonsten zufällig, was jedoch gerade keine Verbindung ausmacht) oder aber subjektiv (und daher beliebig). Gerade darin liegt die radikale Abstraktion von der Konkretheit, oder vielmehr, genauer, von der Konkreszenz – dem Zusammen-Wachsen –, welche die gemeinsame Realität der Dinge, der Wesen und der Zeichen in der Geschichte der Menschheit wie auch der Naturgeschichte stiftet; und es ist effektiv diese ahistorische und nicht-zeitliche Abstraktion, die aus Dingen voller Sinn angeblich sinnleere Objekte gemacht hat, welche der moderne Dualismus dann mit dem Blick vermisst. Wie das Thermostat von Bateson, das nur anspringt, wenn es sich abschaltet, was es dann tut, wenn es anspringt usw., zieht dieses Verharren auf dem Objekt eine Reihe von Aporien nach sich, die zu überwinden sind, wenn wir verstehen wollen, warum die Wörter den Sinn der Dinge haben und uns aus diesem Grund anrühren, obwohl sie nicht das sind, was sie darstellen, ebenso wenig wie die Karte das Territorium ist.
III. W AS IST DIE S UBSTANZ EINES S UBSTANTIVS ? Dass es keine logische Verbindung zwischen zwei Dingen gibt (hier: zwischen einer visuellen Form und einem Konzept), bedeutet zunächst, ganz streng genommen, nicht mehr als Folgendes: dass der Logos in seiner nicht-zeitlichen Abstraktion unfähig ist, die konkreten Verbindungen zu erfassen, die die Geschichte hergestellt hat und die sie zwischen den Dingen leben lässt. Der Logos beschränkt sich nämlich auf die Tatsache, dass das Objekt A nicht das Objekt nicht-A ist, also in diesem Fall: dass das Zeichen nicht das ist, was es repräsentiert. Die Karte ist nicht das Territorium, das Wort »Hund« bellt nicht, da es nicht das Tier »Hund« ist usw. Wie Wittgenstein im Satz 3.221 des Tractatus logico-philosophicus schreibt: »Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. Ein Satz kann nur sagen wie ein Ding ist, nicht was es ist« (Wittgenstein 1975: 22). Man wird bemerken, dass Wittgenstein das Wort »Gegenstand« und das Wort »Ding« undifferenziert verwendet, um das zu bezeichnen, worum es geht, d.h. ein Subjekt im logischen Wortsinn. Er reduziert das Ding auf ein Objekt,
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was typisch ist für den modernen Dualismus, der des gleichen Logos Kind ist wie der Tractatus logico-philosophicus. Von einem logischen Subjekt (also von einem Ding, einem Wesen oder einem Gegenstand) wird etwas durch Zeichen Ausgedrücktes prädiziert, und zwar zuallererst durch das oder die Zeichen, die dieses Subjekt als Zeichen und nicht in seiner eigenen Substanz repräsentieren. Diese erste Prädikation ist es, die implizit behauptet: »Dieses Subjekt (Gegenstand) ist dieses Zeichen«, zum Beispiel »Dieses Tier dort heißt ›Esel‹, es ist ein Esel«. Die Äußerung Wittgensteins lässt uns also gleichsam die radikale Unmöglichkeit spüren, dass das Subjekt (das substantielle Wesen »Esel«) das Prädikat ist (das Substantiv »Esel«). Für den modernen Dualismus kann nämlich eine Substanz A nicht nicht-A sein (ein Wort). In einem Verhältnis wie dem der Bezeichnung von etwas kann das Wort, das dieses Etwas repräsentiert, also nicht substantiell sein. Das Prädikat ist ein nicht-Seiendes. Es kann nicht existieren. Und dennoch existieren die Worte, und sie können ihrerseits das Subjekt von irgendeinem anderen Prädikat werden, von dem irgendetwas anderes gesagt wird. Zum Beispiel: »der Esel ist ein sehr intelligentes Tier«. Diese Art von Phänomen ist, was man eine Hypostase nennt (eine Substantialisation). In diesem letzten Beispiel ist das Wort »Esel« mit der Substantialität des Tieres, das es repräsentiert, belehnt, und in dieser Hinsicht ist es Substantiv. Verfallen wir also in die von Wittgenstein angeprangerte Aporie, weil dieses Substantiv nicht schreit? Aber genug der Buchstabenspiele. Diese Aporie ist trügerisch. In Wirklichkeit ist alles sehr klar, weil, seit die Welt besteht, die Esel und die Zeichen, die sie repräsentieren (»Esel«, »âne«, »lü2« usw.) niemals aufgehört haben, konkret zusammen zu wachsen, zusammenzuwachsen. Nur in der Abstraktion des Dualismus der Moderne, der diese Konkreszenz durch sein Verharren auf dem Objekt durchschnitten hat, ist die Welt zerfallen in Gegenstände einerseits und Zeichen andererseits, um sich dann von neuem zu dichotomisieren in Signifikanten einerseits, Signifikate andererseits usw. In Wirklichkeit sind beide konsubstantiell, sie haben an der gleichen Sache teil, und diese Sache ist es, die Sinn hat – die sinnvoll ist. Um uns diese Konkreszenz spüren zu lassen, kann man zeigen, wie Heidegger es 1950 im Vortrag »Das Ding« getan hat, dass die Etymologie von Worten wie »Ding« oder dem lateinischen »res« ursprünglich die Vorstellung einer Versammlung enthält, welche eine alle angehende Angelegenheit betrifft (Heidegger 1954: 157-175). Das ist möglich, aber diese Herleitung findet sich nicht in anderen Sprachen, und es ist doch die Konkretheit der Wirklichkeit selbst, die wir hier befragen, egal in welcher Sprache. Das Zusammen-Wachsen der Menschen und der Dinge jenseits der Worte ist es, was wir begreifen müssen, und dazu sollte man sich zunächst fragen, was ein menschliches Milieu ist, auf dieser Erde.
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IV. W AS IST EIN MENSCHLICHES M ILIEU ? Diese Frage wird gemeinhin von den Geographen gestellt. In der französischen Schule der Geographie zum Beispiel, die von Paul Vidal de la Blache (1845-1918) begründet wurde, hatte das Wort milieu eine große Bedeutung. Dennoch wurde es im Wesentlichen im Sinne des physischen Milieus verstanden, d.h. als eine Gesamtheit von objektiven Daten wie Relief, Klima, Böden etc. Sein Verhältnis zur menschlichen Existenz betraf mitnichten die Ontologie, und die Realität, die das Milieu begründete, wurde als solche nicht hinterfragt. Ebenso wenig hat das Wort milieu irgendein anderes Konzept hervorgebracht. Niemandem kam es in den Sinn zu fragen, was eine »Milieuhaftigkeit« der Dinge sein könnte. Unter diesen Bedingungen blieb das Kartographieren eines derartigen Objekts eine einfache technische Frage, die der Erhebung und Sammlung der Daten und ferner ihrer graphischen Wiedergabe. Das Territorium ebenso wie die Karte waren messbare Objekte, deren Beziehung aufeinander, Maßstab genannt, rein quantitativ und vollkommen abstrakt war. Man hätte sich nicht vorstellen können, dass diese Beziehung etwas mit der Strukturierung der menschlichen Existenz oder der Begründung der Dinge in der Wirklichkeit zu tun haben sollte. Diese Art von Fragestellung ist erst allmählich, im Kielwasser der Phänomenologie, aufgetaucht. Der Heideggerschen Ontologie ist dabei einiges zu verdanken. Früher oder später war es notwendig, sich zu fragen, was konkret auf der Erde und in der Geschichte das »Außer-sich-sein« des Daseins ist. Der erste Geograph, der dies systematisch versuchte, war Éric Dardel (1899-1967) in seinen Werken L’Histoire, science du concret (1946) und L’Homme et la terre, nature de la réalité géographique (1952). Obwohl stark von Heidegger beeinflusst, war Dardel dennoch kein Philosoph, und sein zentrales Konzept, die ursprüngliche »Geographizität«, die ihm zufolge den Menschen prägt, sagt nichts über die ontologische Struktur dieser Beziehung aus: es bleibt bei der »Erde als Ort, Grundlage und Mittel der Verwirklichung des Menschen«7 (Dardel 1990: 42). Alles andere geht auf den japanischen Philosophen Watsuji Tetsurō (1889-1960) zurück.8 Sein Essay Fūdo (1935) ist ausdrücklich eine um das Konzept fūdosei 㢴 ᅰᛮ herum organisierte Ontologie der menschlichen Milieus,9 welches Konzept ich als médiance übersetze und das Watsuji als »den strukturellen Moment 7 | Anm. d. Übers: Meine Übertragung ins Deutsche. 8 | Dem japanischen Brauch entsprechend steht hier der Familienname zuerst, wie weiter unten auch bei Nishida Kitarō, Imanishi Kinji und Yamanouchi Tokuryū. 9 | Die französische Übersetzung Fûdo. Le milieu humain erschien 2011 bei den Éditions du CNRS in Paris. Die Übersetzung ins Deutsche, Fudo. Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur (Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994), ist gut, aber gibt nicht das zentrale Konzept fūdosei wieder. Was die spanische Übersetzung betrifft (Antropología del paisaje. Climas, culturas y religiones, Salaman-
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der menschlichen Existenz« definiert.10 Es handelt sich um die dynamische Relation (den »Moment«, keiki ዉᶭ), die sich zwischen den zwei Aspekten des Menschlichen, ningen ெ㛣, einstellt, seiner individuellen Seite (hitoெ) und seiner relationalen Seite (aida 㛣). Diese relationale Seite, ohne die das Individuum nichts als eine Abstraktion ist, kann man als eigentliches menschliches Milieu, fūdo 㢴ᅰ, betrachten. Zwischen diesem Begriff und dem von kankyō ⎌ ሾ(Umgebung) vertritt Watsuji einen Unterschied, der demjenigen entspricht, den Jacob von Uexküll (1864-1944) zwischen Umwelt (dem Lebensmilieu einer jeden Art) und Umgebung (dem objektiv Gegebenen) sah. Dieser Unterschied liegt auf ontologischer Ebene: Uexküll spricht vom Lebendigen (der Biosphäre), Watsuji vom Menschlichen (der Ökumene).11 Tatsächlich ist in beiden Fällen das Problem grundsätzlich dasselbe: nämlich dass für den Menschen im Besonderen wie für das Lebendige im Allgemeinen die Wirklichkeit nicht dieses universelle Gegenständliche ist, welches der moderne Dualismus in den Blick nimmt; in der Menschheits- wie in der Naturgeschichte (der Evolution) richtet sie sich zufällig ein: durch eine konkrete und dynamische Relation – die Watsuji fūdosei nennt – zwischen jedem Sein (Individuum, Gesellschaft oder Art) und seiner Umgebung. Im Milieu wie in der Umwelt gibt es konkrete Dinge, und nicht Objekte in der Abstraktion des Universums (der Umgebung). Uexküll schreibt ausdrücklich: »Da kein Tier jemals als Beobachter auftritt, darf man behaupten, dass kein Tier jemals zu einem ›Gegenstand‹ in Beziehung tritt. Durch die Beziehung allein verwandelt sich der Gegenstand in den Träger einer Bedeutung, die ihm von einem Subjekt aufgeprägt wird« (Uexküll 1956: 106). Anders gesagt, was für ein Tier existiert, sind die Dinge, welche seine eigene Existenz bedingen. Diese Wechselseitigkeit erzeugt die Wirklichkeit für alle Lebewesen einschließlich der Menschen. Der japanische Biologe und Primatenforscher Imanishi Kinji (1902-1992) sagt es auf seine Weise, wenn er von »der Subjektivierung des Milieus, der Medialisierung des Subjekts« spricht,12 und Merleau-Ponty tut es ihm gleich, wenn er festhält, dass durch den Effekt unserer Körperlichkeit (d.h. auf einem vorsprachlichen Niveau oder in einem solchen Stadium) das Wirkliche »mit anthropologischen Prädikaten versehen« sei ca, Sigueme 2006), so gibt sie es zwar als durch ambientalidad wieder, aber sie ist weniger genau. Die (schlechte) englische Übersetzung ist zu vermeiden. 10 | »Ningen sonzai no kōzō keiki ெ㛣Ꮛᅹࡡᵋ㏸ዉᶭ« (Watsuji 1979: 3). 11 | Zzu diesen Fragen vgl. Berque 2009. Die Fragestellungen zur Ökumene werden verlängert in Berque 2010b. Die Ökumene ist die Gesamtheit der menschlichen Milieus, d.h. die Beziehung der Menschheit zur Erde. 12 | »Kankyō no shutaika, shutai no kankyōka ⎌ሾࡡమࠉమࡡ⎌ሾ«, eine in seinem gesamten Werk häufige Formel, die im Manifest Seibutsu no sekai ⏍∸ࡡୠ ⏲1941 vorgestellt wurde (Imanishi 2002).
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(1966: 370). All dies übersteigt den Dualismus, insbesondere seinen Ausdruck in den verketteten Dichotomien Objekt/Zeichen, Bezeichnendes/Bezeichnetes, Territorium/Karte usw.; aber wie geht dies vonstatten?
V. D IE TR A JEK TION DER R E ALITÄT Auch wenn Merleau-Ponty, wie wir gesehen haben, von »anthropologischen Prädikaten« spricht, deren Wirklichkeit mit unserem Fleische versehen ist, so entwickelt er die dem zugrunde liegende Logik nicht weiter. Ebenso wenig Lakoff und Johnson, wenn sie zeigen, dass der fleischliche Körper (die sensorisch-motorische Dimension) mit dem Sinn, den er den Figurationen des Bewusstseins (der subjektiven Erfahrung) verleiht, gleichfalls in der »Position des Prädikats« steht, zum Beispiel in der Prädikation »Zuwendung ist Wärme«, die als vorsprachliche durch das Fleisch und nicht durch das Bewusstsein vollzogen wird – was die Autoren eine »primäre Metapher« nennen, d.h. das, was den Sinn selbst unserer ausgeklügeltsten Begriffsbildungen begründet (Lakoff/ Johnson 1999: 50ff.). In beiden Fällen tritt eindeutig hervor, dass es unser körperliches Leben ist, welches auf sehr grundlegende Weise den uns umgebenden Dingen, wie auch denen, die wir im Sinn haben, einen Sinn verleiht, woraus man schließen kann, dass das eigentlich körperliche Leben die Milieus beseelt und sie dadurch von der einfachen Umgebung abhebt. In der menschlichen wie der tierischen Welt ist dies das Prinzip der Wirklichkeit. Darstellen lässt sich dieses durch die Formel r = S/P, die zu lesen ist als »die Wirklichkeit ist S (das logische Subjekt) als P (das Prädikat)«. Um ein Beispiel zu nennen: Erdöl (S) ist ein Rohstoff (P). Aber was ist die in dieser »Prädikation« wirksame Logik? Der Pfad zu einer Beantwortung dieser Frage ist von der Geographie vorgezeichnet, insofern diese zeigt, dass die Ökumene nicht aus gleichgültigen Gegenständen besteht (aus bloßen »An-Sich«), sondern aus »Zugängen« (prises), d.h. solchen Rohstoffen, Zwängen, Risiken oder Annehmlichkeiten, die notwendigerweise die Dinge unseres Milieus für uns sind (Berque 2009: Kap. VI).13 Eben als solche »Zugänge« existieren die Dinge für uns. Genauso wenig wie die Zecke von Uexküll steht der Mensch also nicht mit Gegenständen in Beziehung, sondern mit Dingen, welche uns diese »Zugänge« anbieten. Das Erdöl existiert für uns als Brennstoff (usw.), als Rohstoff, der voraussetzt, dass Verbrennungsmotoren existieren, und andersherum. Diese Wechselseitigkeit ist jedoch nicht von der gleichen Art wie diejenige, die Uexküll zufolge die Umwelt belebt, da es hier nicht direkt um unseren Körper geht, 13 | Man wird hier freilich auch an den »Angebotscharakter« (affordance) der Wahrnehmungsökologie Gibsons denken.
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sondern um ein technisches System, das diesen verlängert, anders gesagt, um das, was Leroi-Gourhan den »sozialen Körper« nennt – kurz, um jenes Beziehungszusammenspiel, welches unser Milieu ist. Dieses Milieu ist unser medialer Körper, die Chora. Sie überschreitet den Topos der Gegenstände der Umgebung, um daraus eine Umwelt zu schaffen, die von den »Zugängen« zu uns und zu den Dingen belebt wird.14 Was ist die Logik jener »Räumung«, um es mit Heidegger zu sagen, vermittels derer das Sein eines Dings die Grenzen und folglich die Identität eines Gegenstands überschreitet? Dies ist offensichtlich nicht die aristotelische Identitätslogik des Subjekts, die sich an den Topos der Substanzen hält und also davon ausgeht, dass die Prädikate nicht wirklich existieren (Blanché/Dubucs 1996: 35). Wäre dies aber umgekehrt, was Nishida Kitarō die »Logik des Prädikats« (jutsugo no ronri ㏑ㄊࡡㄵ⌦) oder die »Logik des Ortes« (basho no ronri ሔ ᡜࡡㄵ⌦) nannte (vgl. Berque 2009; Berque 2000)? Aber diese Logik ist lediglich die spiegelbildliche Umkehrung des modernen Dualismus: statt das Objekt zu verabsolutieren, d.h. das logische Subjekt (S), verabsolutiert sie das Prädikat (P) und verfällt somit in einen Spiritualismus, der sich zum modernen Materialismus exakt symmetrisch verhält – wohingegen die Realität der menschlichen Milieus gerade in der Beziehung S/P liegt: sie ist weder nur Materie, noch nur Geist; weder nur bedeutend, noch nur bedeutet; weder nur objektiv noch nur subjektiv – sie ist trajektiv. Anders gesagt, sie entspringt der Bewegung selbst (der Tajektion)15 der vergeistigenden Aufnahme des Subjekts in das Prädikat (SP) und umgekehrt der Hypostase – der Verdinglichung – des Prädikats im Subjekt (SP). Was heißt das? Die Aufnahme von S in P beginnt, wie wir gesehen haben, mit der primären Prädikation, die aus einem Existierenden ein Wort machen kann, zum Beispiel »[dieses Tier, das ich wahrnehme (S)] ist ein Esel (P)«. Die eckigen Klammern deuten ein vorsprachliches Stadium an; P hingegen ist sprachlich: »Esel« ist ein Wort. In der Folge wird dieses Wort eine Verkettung von anderen Prädikationen auslösen, die vollständig sprachlich sind, so wie »ein Esel ist ein Säugetier«, »ein Säugetier ist ein Tier« usw., bis hin zu den abstraktesten Konzeptualisierungen. In diesen Beispielen ist das logische Subjekt ein ehemaliges Prädikat, aber es ist auch ein Substantiv, das mit der Substantialität seines vorsprachlichen Ursprungs belehnt ist. Diese verkettete Substantialisierung des Prädikats durch das Subjekt lässt sich auf folgende Weise darstellen: r = (((S/P)/P’)/P’’)/P’’’… usw.; eine Formel, die es wirklich erlaubt zu sehen, dass die Wirklichkeit S/P 14 | Zur Unterscheidung zwischen dem aristotelischen Topos, dem Ort, der die physische Identität eines Gegenstandes bestimmt, und der Chora Platons, dem existentiellen Milieu des relativen Seins, vgl. Berque (2009), insbesondere Kap. I. 15 | Diese Begrifflichkeit wurde in Berque (1989) zum ersten Mal vorgestellt und in Berque (2009) systematisiert.
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sich im Verhältnis zu den aufeinander folgenden Prädikaten P’, P’’, P’’’ usw. uneingeschränkt in der Subjektposition befindet. Anders gesagt, was in der anfänglichen Realität S/P war, wird zu S’ (im Verhältnis zu P’), S’’ (im Verhältnis zu P’’) etc. Diese Verschiebung des P von S/P zu S’ (usw.) ist eine Hypostase (eine Substantialisierung).16 Diese Hypostase ist nichts anderes als die Wirkung der technischen und symbolischen Systeme – hier der Sprache –, die unseren medialen Körper konstituieren (gemeinsam mit unseren Ökosystemen), Systeme, welche es uns gestatten, die Gegenwart der Dinge in den Zeichen zu spüren, welche sie darstellen. Zwar schreit das Wort »Esel« (P) nicht wie das Tier (S), das es heißt, aber unser eigener Körper fühlt dennoch, dass es ein Esel ist, weil die Realität (S/P) seit Zeiten, die lange vor der menschlichen Sprache liegen, niemals aufgehört hat, Zeichen und Substanzen konkret zusammenzuführen, um daraus Dinge zu machen. Wie nämlich die Biosemiotik zeigt, übermitteln die Zeichen einen Sinn, seit es Leben gibt, und die Biosphäre ist seit ihrem Anbeginn ebenso gut eine Semiosphäre: »Die Semiosphäre ist eine Sphäre wie die Atmosphäre, die Hydrosphäre und die Biosphäre. Sie durchdringt die anderen Sphären bis in den letzten Winkel und nimmt dabei alle Formen der Kommunikation an: Geräusche, Gerüche, Bewegungen, Farben, Formen, elektrische Felder, Wärmestrahlen, Strahlen jeglicher Art, chemische Signale, Berührung etc. Kurzum, Lebenszeichen« (Hoffmeyer 1996: VII).
Was die Biosemiotik also auf der Grundlage der Naturwissenschaften zeigt, ist, dass wir in einem vollständig bedeutsamen Milieu leben. In einem Milieu voller Sinn, das der Objektwelt antipodisch entgegengesetzt ist, von welcher der Dualismus seinen Ausgang nimmt und in der Sinnstiftung nur als arbiträre und ausschließlich durch das menschliche Subjekt stattfinden soll, welches seine eigenen Vorstellungen auf den Gegenstand projiziert, angefangen bei der Wertigkeit der sprachlichen Zeichen.
16 | Es versteht sich von selbst, dass sich dies auf die Bildlichkeit bezieht, die mit der Etymologie der griechischen Wörter Hypokeimenon (Subjekt) und Hypostasis (Basis, Fundament, zugrunde Liegendes, Ablagerung, Substanz) einhergeht wie auch mit den sie buchstäblich übersetzenden lateinischen Wörtern (subjectum, substantia), nämlich die Bildlichkeit von etwas »darunter Liegendem«, das die Prädikate oder Akzidenzien »trägt«. Dieser anscheinende Ursprung von Substanz und Subjekt, das Verhältnis Substanz/Akzidenz in der Metaphysik, entspricht dem Verhältnis Subjekt/Prädikat in der Logik.
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VI. D IE P OE TIK DER E RDE Dieser Dualismus kulminierte im letzten Jahrhundert im Kurzschluss des semiologischen Zirkels mit sich selbst, nämlich durch die Theorie Derridas vom flottierenden Signifikanten. Wir haben es hierbei mit einem radikalen Metabasismus zu tun, der den Sinn der Zeichen von jeglicher Begründung in der Natur abkoppelt. In Bezug auf das, was uns jetzt beschäftigt, läuft diese Theorie darauf hinaus, dass die Karte das Territorium nicht voraussetzt. Dieser absolute Konstruktivismus fand kurioserweise im Abstand von einem halben Jahrhundert und in einer entgegengesetzten Parteiung (der des Dualismus) die Lehre Nishidas vom Grundlosen (mukitei ↋ᇱᗇ) wieder, welche ihrerseits aus der buddhistischen und taoistischen Schule der Leere (kū ✭) und des Nichts (mu ↋) hervorgegangen war – das entgegengesetzte Extrem zur Lehrmeinung des Parmenides zum Sein, dem weit zurückliegenden Ursprung des modernen Dualismus. Für Nishida ist die Welt nicht substantiell, sie ist prädikativ; und dadurch, dass sie sich selbst verabsolutiert, ist sie ohne Grund: sie »verschlingt« (botsunyū suru Ἀථࡌࡾ) ihr eigenes Subjekt. Eine solche Lehrmeinung läuft ebenfalls darauf hinaus zu sagen, dass die Karte kein Territorium braucht. Sie braucht es um so weniger, als eine der von Nishida geschätzten Formeln, ichi soku ta, ta soku ichiୌ༳ኣኣ༳ୌ, die er aus dem Zen-Buddhismus hat, das Prinzip des Maßstabs verspottet, genauer: das verspottet, was das metrische Verhältnis der Karte zum Territorium festlegt. Diese Formel bedeutet nämlich »Das Eine ist/ist nicht das Viele, das Viele ist/ist nicht das Eine«. Wenn man sie ernst nimmt, hat so etwas wie »eine Karte im Maßstab 1:25000« kaum noch einen Sinn, zumindest keinen geographischen. Dieses seltsame »ist/ist nicht« (soku ༳) läuft der aristotelischen Lehre von der Identität des Subjekts radikal entgegen. Es verkörpert eine ganz andere Logik, die des Tetralemmas17 bei Nagarjuna, einem indischen Philosophen des 2.-3. Jahrhunderts, der den Buddhismus des »großen Fahrzeugs« (Mahayana) entscheidend prägte. Aber wenn die Logik des Tetralemmas auch schwierig zu verstehen ist, eignet es sich doch sehr gut, um die Trajektivität der Dinge in der 17 | Das Tetralemma erschließt die vier Möglichkeiten einer logischen Figur: Bejahung; Verneinung; Bejahung und Verneinung; weder Bejahung noch Verneinung. Bei Nagarjuna (1995: 241) zum Beispiel heißt es: »Nach dem Jenseits der Schmerzen/ist weder die Existenz des transzendenten Siegers/noch seine Inexistenz, weder beide/noch keine von beiden zu denken« (Anm. der Übers.: nach der französischen Vorlage übersetzt) – d.h. im Nirwana gibt es weder Existenz, noch Inexistenz, noch beide, noch keine von beiden. Wir sind hier so weit von unserer traditionellen Logik entfernt, die aus dem Primat des Logos und dem Seinspostulat des Parmenides hervorging, dass man wohl anstatt von einer »Logik« eher von einer »Lemmik« sprechen sollte, wie sie Yamanouchi Tokuryū (1974) in Rogosu to renma ࣞࢥࢪ࡛࣏ࣝࣤ(»Logos und Lemma«) vorschlug.
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Ökumene zu erfassen, einschließlich der Karten und Territorien und sogar dieses mysteriösen »dritten Geschlechts« (triton allo genos), das Platon im Timaios (48e, 3) der Chora zuschreibt, d.h. dem existentiellen Milieu des relativen Seins (die genesis). In der Ökumene – anders gesagt, in jedem menschlichen Milieu – hält sich das Sein eines Dings nämlich nicht an den Topos, der wesentlich der seine ist (die Identität des Dings mit sich selbst). Das Ding überschreitet in seiner Beziehung auf andere Wesen beständig den Topos und setzt ihn dabei doch immer voraus. Und das wechselseitig: das Andere setzt das Gleiche voraus. So ist das Existierende ohne Sein und doch seiend… In der trajektiven Logik dieser Konkreszens, wo die Aufnahme des Subjekts ins Prädikat und die Hypostase des Prädikats ins Subjekt unendlich Realität gebären,18 gehen die Zeichen aus den Dingen hervor, und die Dinge aus den Zeichen. Derselben Logik zufolge geht das Erdöl als Brennstoff aus dem Verbrennungsmotor hervor, wie andersherum der Verbrennungsmotor aus diesem So-Sein des Erdöls als Brennstoff hervorgeht. Anders gesagt: die Karte entsteht aus dem Territorium, aber das Territorium auch aus der Karte. Aus genau diesem Grund haben sich die Staaten der Moderne so darum bemüht, Generalstabskarten zu erstellen – nämlich um ihre Territorialität zu bekräftigen, oder hat einst, zwar mit anderen Mitteln doch mit demselben Ziel, Kangxi das Reich in den Gärten von Chengde nachgebaut, wie vor ihm Hadrian das seine in den Anlagen von Tibur (heute Tivoli), oder haben die Jäger des Magdalénien ihre Beute auf die Höhlenwände von Lascaux trajiziert.19 Diese Konkreszens des Territoriums und der Karte bleibt unverständlich im Rahmen der aristotelischen Logik, in dem es nur eine maßstäbliche Projektion des Topos eines Territoriums in dasjenige einer Karte geben kann, insbesondere jene willkürliche Projektion (ex nihilo und ex abrupto)20 des Zeichenwertes auf reine Gegenstände, was, wie unsere Linguistik annimmt, den Sinn der Worte 18 | Griechisch genesis bedeutet »Geburt«. 19 | Dieses Verb – auf Französisch trajecter – wird noch von Montaigne in den Essais (Buch I, Kap. XL) verwendet, und zwar in der Bedeutung »überführen, transportieren, bringen«: »Les roys de Castille ayants banni de leurs terres les juifs, le roy Jehan de Portugal […] promettoit leur fournir de vaisseaux à les trajecter en Afrique« (Montaigne 1838: 130-131). 20 | Vgl. das folgende strukturalistische Credo aus der Feder von Claude Lévi-Strauss (1950: XLVII): »[…] le langage n’a pu naître que tout d’un coup. Les choses n’ont pas pu se mettre à signifier progressivement. […] un passage s’est effectué d’un stade où rien n’avait de sens à un autre où tout en possédait« [Anm. d. Übers.: »Die Sprache hat nur plötzlich entstehen können. Die Dinge haben wohl kaum allmählich begonnen, signifikant zu werden […]. Es gab einen Übergang zwischen einem Stadium, da nichts Sinn hatte, und einem anderen, da alles welchen hatte«]. Noch ein halbes Jahrhundert später wurde diese Passage vollkommen kritiklos von Sylvain Auroux (1996: 45) zitiert.
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hervorbringen soll. In Wirklichkeit entsteht der Sinn weder ex nihilo noch ex abrupto, er entsteht ex historia rerum, in der Konkreszens der Substanzen und der Zeichen, d.h. in der Trajektion der Subjekte und der Prädikate: (((S/P)/P’)/ P’’)/P’’’… usw., seit die Welt so ist, wie sie ist, d.h. zumindest seit es Leben gibt. Dass die Karte und das Territorium sich allerdings gegenseitig hervorbringen, könnte das Prinzip der »bedingten Koproduktion«21 illustrieren, ein zentrales Konzept des Mahayana-Buddhismus, das viel mit dem Tetralemma gemein hat. In einer solchen Korrelation überschreiten sowohl die Karte als auch das Territorium ihre eigenen Grenzen: die Karte wird zur Bedingung für das Territorium, welches jene wiederum bedingt, und so bilden sie also zusammen eine bestimmte Realität, die ihre jeweilige Substanz übersteigt. In dieser Realität kann das Territorium als Karte existieren wie auch die Karte als Territorium. Der Hinweis, dass dies nicht viel mit dem metrischen Maßstab zu tun hat, erübrigt sich. Aber verlieren wir dennoch nicht den Sinn für den Größenmaßstab der Phänomene, im Raum wie in der Zeit. Wenn es Territorien und Karten gibt, dann doch zuerst, weil es den Planeten Erde gibt, sodann die Biosphäre, die zugleich Semiosphäre ist, und schließlich die Ökumene, das Verhältnis der Menschheit zu jener ersten Matrix der Erde und der Naturgeschichte. Ebenso wie es im Universum eine gerichtete Zeit gibt, so ist diese Geschichte nicht umkehrbar. Das heißt, dass das Verhältnis S/P nicht symmetrisch ist: physisch und ontologisch geht das Subjekt dem Prädikat voraus und begründet es, wie auch das Territorium der Karte vorausgeht und sie begründet. Die Hypostase von P in S kann nicht die Aufnahme von S in P rückgängig machen; denn wegen der Subjektivität des Lebendigen im Verhältnis zur Materie, und erst recht aufgrund der menschlichen Subjektivität bleibt P immer kontingent im Verhältnis zu S, welches P nicht bestimmen, sondern lediglich bedingen22 kann; es kann somit niemals mechanisch zum anfänglichen S wiederkehren, sondern lediglich schöpferisch zu S’, S’’ usw. werden. Das Leben ist schließlich im Unterschied zur Mechanik eines Kolbenmotors keine simple Wiederkehr des Gleichen; es 21 | Pratîtya samutpâda auf Sanskrit, was das Chinesische als yuanqi ⦍㉫ übersetzt (und das Japanische engi ausspricht). Die Idee der wechselseitigen Hervorrufung würde dieses yuanqi besser treffen als die übliche Übersetzung durch »bedingte Koproduktion«. Ich ziehe es trotzdem vor, von Konkreszens zu sprechen, was weder die mystische Lehre des Leeren oder des Nichts noch freilich die Seinslehre voraussetzt, sondern lediglich die Feststellung einer historischen Kontingenz im Verhältnis S/P. Eine gute Darstellung der pratîtya samutpâda findet sich bei Roger-Pol Droit (2010: 44ff.). 22 | Dieses »Bedingen« bedeutet, dass im Gegensatz zur modernen Doxa das Prädikat im Verhältnis zu seinem Subjekt (zum Beispiel ein Wort im Verhältnis zu einem Ding) nicht einfach arbiträr sein kann. Es setzt notwendig ein Milieu und eine Geschichte voraus. Anders gesagt: es ist kontingent, nicht aleatorisch.
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entwickelt sich hin zum anderen. S ist nicht P, es existiert – ex-sistit – außerhalb der Hülle seiner Identität als P. Dies also ist die Geburt (genesis) der Realität. Diese Trajektion geht also in eine bestimmte Richtung, hin auf die Poetik – die Schöpfung – der Biosphäre durch die Erde, und darauf die der Ökumene durch die Biosphäre. Jenseits davon, aber nach demselben Prinzip, setzt sich die Naturgeschichte (d.h. die Evolution) in der Menschheitsgeschichte fort und entfaltet sich in ihr. Anders gesagt, die Trajektion der Realität strebt unablässig vom Territorium hin zur Karte, und nicht andersherum; von der Materie zum Leben, und vom Leben zum Geist, und wohl kaum andersherum. Dies ist jedoch nichts anderes als ein Prinzip, das schon vor langer Zeit Zong Bing (375-443) aufstellte, der Autor der ersten Abhandlung über die Landschaft in der Geschichte der Menschheit: »Was die Landschaft betrifft, so hat sie wohl Substanz, aber sie strebt (qù ㉻) hin zum Geist«.23 Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Grundlosen Nishidas wie auch zum Metabasismus Derridas. Hiermit sind der Prädikatslogik Grenzen gezogen. Allerdings bringt unsere eigene Existenz es mit sich, dass wir niemals das Subjekt an sich erfassen: dies wird immer nur durch die Vermittlung eines menschlichen Prädikats geschehen. Womit wiederum der Subjektlogik Grenzen gezogen sind. Überlassen wir es den Gläubigen, die eine oder die andere Logik zu verabsolutieren! Was aber für uns zu tun bleibt, ein wenig wie Candide in seinem Garten, ist es, Rücksicht auf diese Erde zu nehmen, deren Naturgeschichte uns hervorgebracht hat, uns Menschen mit unseren Prädikaten, unseren Karten und unseren Träumen – uns, die wir sie, die Erde, bestimmt nicht hervorgebracht haben. Um es mit dem Sprachgestus Wittgensteins zu sagen: Zwar nennen wir die Erde, mit unseren Zeichen, aber sie ist es, die uns ausspricht.24 Palaiseau, den 24. November 2010. Aus dem Französischen von Marion Picker
23 | Zhi yu shanshui, zhi you er qu ling ⮫᪂ᒜỀࠉ㈹᭯⪃㉻㟃. Was dieses »Prinzip von Zong Bing« angeht, vgl. Berque 2008 oder das diesbezüglich systematischere Berque 2010a. 24 | Diese Realität könnte auf klassischere Weise auch wie bei Rimbaud formuliert werden: »Ich ist ein anderer«.
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Im Anfang war die Karte Franco Farinelli
Um die Welt zu bilden, müssen sich die Tatsachen im »logischen Raum« befinden (Wittgenstein 1975: 11; Satz 1.13). Wenn die Philosophen die Geographen läsen und umgekehrt, dann hätte man seit langem verstanden, dass solche Aussagen das Äquivalent der kartographischen Repräsentation, der Karte sind. Dann hätte man verstanden, dass der Tractatus das bis heute einzig wahrhaftige Handbuch der kartographischen Logik ist, der schlüssigste jemals unternommene Versuch, die Welt auf geographische Weise zu verstehen, also auf der Grundlage ihrer Reduktion auf eine geographische Karte. Kinder, man hat uns nichts beigebracht. Oder, besser, man hat uns beigebracht, Dinge zu tun, ohne ein Gedächtnis für ihre Bedeutung zu haben. Niemand hat uns je erklärt, dass die Stifte, diese kleinen geradlinigen und höchst künstlichen Holzsegmente, anhand derer man uns in das Mysterium der Schrift einweihte, nichts anderes sind als Lanzen für den kriegerischen Gebrauch. Niemand hat uns erklärt, dass jedes Mal, wenn wir mit Lineal und Zirkel ein Gitternetz auf ein Blatt zeichnen, die Welt wieder in einen Raum zurückverwandeln, wie Odysseus, als er Polyphem blendete. Polyphem, das »Ungeheuer des unlogischen Denkens«, stellt uns die Welt dar, wie sie vor der Vernunft war: Macht auf der Grundlage der reinen physischen Gewalt. Und diese Welt fällt mit dem Globus zusammen, mit der schweren und ungeheuren Masse, die den Höhlenausgang versperrt und die Griechen daran hindert, in die Freiheit zu entkommen. Als sie es schließlich schaffen, wieder ans Licht zu gelangen, ist nichts mehr wie zuvor. Zwischen ihnen und der Welt gibt es fortan etwas, das sich vorher nicht dort befand: die Erde – d.h. der Raum, die Karte. Der Angriff auf Polyphem findet erst statt, nachdem der von Wein und Menschenfleisch berauschte Riese sich auf dem Boden ausgestreckt hat, nachdem sich seine aufgerichtete und vertikale Masse in eine horizontale Ausdehnung verwandelt hat. So kommen zwei Achsen oder Linien miteinander in Kontakt: diejenige des auf der Erde hingestreckten Körpers mit derjenigen des Pfahls, der von fünf schlotternden Menschenwesen angehoben wird. In regelmäßigen Abständen an der Lanze entlang gestaffelt, bilden sie einen echten lebendigen
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Maßstab, den Archetypen und die Matrix des metrischen oder graphischen Modells, das auch heute noch eine kartographische Darstellung von einer einfachen Zeichnung unterscheidet. Heute noch stellen die Teilungspunkte auf der Linie, die genau dem abgesägten geraden Stamm entspricht, Odysseus und seine Gefährten in der exakten Angriffsformation dar, mit dem Anführer an der Spitze, dem dann in regelmäßigen Abständen seine Männer folgen. Gemeinsam bilden der Körper und der Pfahl zwei Halbdiagonalen, die auf den Kollisionspunkt an jeweils einem ihrer äußersten Enden zentriert sind: ein gewisser Winkel ist nötig, um den Pfahl am besten ins Auge zu rammen. Vers 382 des IX. Buches der Odyssee besagt, dass der Pfahl hochgestemmt wird. Man kann also davon ausgehen, dass der Winkel knapp 90 Grad beträgt. Und einzig weil das Auge als Zentrum dienen muss, nur deswegen ist Polyphem ein Zyklop, ein Wesen mit einem kreisförmigen Auge oder Gesicht. Dieser Umriss scheint schon vorherbestimmt zu sein, seine Funktion zu erfüllen; er ist wie gemacht dafür, den traumatischen Stoß zu erfahren, der die Geburt der Zentralität bedeutet. Der glühende Pfahl »zischte« im Auge, das »unter der Flamme kochend« ausläuft, wie der Text weiter berichtet. So wird die Tiefe vollständig vernichtet. Von dem, was den Augapfel bildete, bleibt nichts als eine gallertige Ausdehnung. Derart grausam getroffen und ausgelöscht, brennt das Zentrum weiter: in der ersten kreisförmigen Versammlung, die ebenso gut die erste politische Aktivität wie das erste Profil der Stadt abgrenzt, wird kein Krieger über sehr lange Zeit hinweg seine Position halten können, er wird sie rasch einem anderen überlassen müssen. Das Ergebnis eines solchen beständigen Kommens und Gehens besteht in dem, was wir »Demokratie« nennen (Vernant 1965: 95-181). Was aber ist die Länge des Stammes aus Olivenholz? Odysseus befiehlt, ihn auf zwei Armlängen zurechtzuschneiden. Der Stamm wird also zu einer Art Prothese des eigenen Körpers. Man kann dabei an seine eigenen ausgestreckten Arme denken, entlang einer Achse, die von der Schulter bis zu den Fingerspitzen verläuft, so gerade und so steif wie möglich und somit die geradlinige Syntax (das Gegenteil der kugelförmigen Syntax) vorwegnehmend, die wahrhaftig Rettung bringen wird. Wie dem auch sei, eine solche Maßnahme ist entscheidend, denn sie erlaubt es letztendlich, das Gefüge aus Riesenkörper und Pfahl aus zwei Diagonalen zu entwickeln, welche genau diejenigen sind, die man zuerst zeichnet, wenn man in Blatt mit einem Gitternetz überzieht. Sie erlaubt außerdem ein wahrhaftiges Verständnis davon, was ein Zirkel ist. Einen Pfahl von zwei Armlängen zurechtzuschneiden bedeutet vor allem die Öffnung der Arme und die automatische Anwendung der Symmetrie zwischen der rechten und der linken Körperhälfte, die dem menschlichen Körper zu Eigen ist. Genau diese Symmetrie bestimmt die Verlängerung der zwei anfänglichen Halbdiagonalen zu richtigen Diagonalen: das Zentrum bleibt, aber es befindet sich nunmehr dort, wo die vier Segmente zusammentreffen, wobei die beiden letzten das Spiegelbild der beiden ersten sind und die andere Hälfte des Blattes ausfüllen, das
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damit vollständig von den Linien durchzogen ist. Daraufhin legt der Zeichnende das Lineal und den Stift nieder, welche sich als zwei verschiedene Versionen des Pfahls aus Olivenholz erweisen, und öffnet den Zirkel, die Arme des Odysseus. Von den beiden Armen ist jeder mit einer der beiden Funktionen des spitzen und verkohlten Pfahls ausgestattet, Schreiben und Stechen. Die Welt kann zu guter Letzt sein Modell werden – und die Kartographie beginnt: mit der Zeichnung von geraden Linien, welche die Tafel (das Blatt) in eine Karte verwandeln. Weder im Altertum (man denke nur an Cicero und Seneca) noch im Mittelalter glaubte man, dass die Erde flach sei. Man war sich vollkommen darüber im Klaren, dass sie kugelförmig war, im Gegensatz zu dem, was zu Beginn des 19. Jahrhunderts über jene vermeintlich »dunklen« Epochen gesagt worden war (Russell 1991). Aber darum geht es nicht, und ebenso wenig darum, sich damit aufzuhalten, dass für einen Denker wie Ludwig Wittgenstein Philosophie genau darin besteht, die Welt zu »zerstückeln«. Strabo (2007: 11; Buch I, 1.1.) ist in dieser Hinsicht von den ersten Worten seines Werkes an sehr deutlich: beginnend mit Homer und im Prinzip bis hin zu Aristoteles waren alle Autoren Geographen, insbesondere diejenigen, die wir Vorsokratiker nennen und die von Giorgio Colli (1977-1980) als »griechische Gelehrte« bezeichnet wurden. Anders gesagt ist die Philosophie eine Entwicklung der Geographie, aus der sie hervorgegangen ist und von der sie, als der ursprünglichen Form des abendländischen Wissens, alle ihre Modelle und Denkfiguren bezieht. Aber wie der Mythos es lehrt, beginnt im Gegenteil alles damit, dass Dionysos, der Gott des ununterbrochenen und grenzenlosen Lebens, des intensiven Lebens, des Lebens als unendlichem und unterscheidungslosem Prozess – also ohne Trennung und Teilung (Kerényi 1998), dass dieser Gott im Spiegel den Schleier von weißer Erde erblickt, der sein Gesicht bedeckt und es vor seinen eigenen Augen verbirgt: dieses Spiegelbild ist nämlich dasjenige eines in eine helle Oberfläche verwandelten Gesichts, eine helle Oberfläche, die zum ersten Mal gesehen und verortet werden kann, so wie nie zuvor. Allein kraft einer solchen Transformation bzw. Substitution können die Schwerter und Messer der Titanen in Aktion treten und den gesamtheitlichen Lebensprozess zerteilen – sie nutzen den Augenblick der Verblüffung, der Ohnmacht des Gottes aus. Und nur aufgrund solcher Klingen ist es möglich, die Konturen, die Grenzen, die Linien zu gewinnen, welche die Dinge voneinander abtrennen und definieren, sie zerteilen und zergliedern, und die unser Leben ermöglichen, das wegen solcher Beschränkungen anders ist als das der Götter. Dionysos, der schwankende und sich wiegende Gott, ist also der Globus, die Welt. Der Gips ist der auf seine Oberfläche reduzierte Erdball (von lateinisch gypsum, welches auf dieselbe Wurzel zurückgeht, Gē) und die Klingen sind unsere mehr oder weniger geschärften Begriffe. Aber wenn man derart die Elemente des Opfers auflistet, aus dem das abendländische Wissen hervorgegangen ist, dann fehlt immer noch eines, das wichtigste und zugleich das am schwersten zu fassende, denn es ist das allgemeinste dieser Elemente. Keine Version des
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Mythos beharrt übrigens auf diesem Punkt. Es wird nur berichtet, dass Dionysos ins Leben zurückkehrt, weil sein Bruder Apollo, der Gott des Maßes, auf Anweisung des Zeus seinen Körper wiederherstellt. Es ist allerdings unmöglich, die Körperglieder zusammenzutragen, ohne sie auf einer Oberfläche abzulegen, die damit zum ersten Altar wird: eine Tafel, die wie jede kartographische Darstellung nur zwei Dimensionen aufweist, Länge und Breite – allein deswegen, weil sie so flach wie möglich ist. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, dass die Tafel nur dazu dient, passiv das zu versammeln, was vom Globus übrig geblieben ist. Vielmehr verwandelt sie diesen auf entscheidende Weise, wie sie auch die Weise verändert, wie wir uns in Beziehung zu ihm zu setzen. Auf der Tafel bleiben die Einzelteile als solche erhalten, sie bilden jedoch gleichzeitig eine Einheit. Dies wird durch die Linien ermöglicht, die sie voneinander abgrenzen und sie zugleich miteinander verbinden, die jedoch nur auf der Tafel erscheinen und daher als ihr Produkt angesehen werden müssen: die Tafel erzeugt sie in gewisser Weise erst jenseits der Schnittspuren, welche die Klingen hinterlassen haben. Die Wiederzusammensetzung besteht darin, die Fetzen gemäß der Vorgabe des Originals aneinander zu reihen, sie nebeneinander zu legen. So werden Wesen und Funktion des Globus, selbst wenn er als solcher nicht erscheint, radikal verändert. Der Mythos berichtet, dass Dionysos mit Ariane ein Kind zeugte, und dass Dionysos selbst es war, der aus dieser Verbindung hervorging. Im vedischen Indien zum Beispiel ist der Berggrat des im Himalaya gelegenen Meru die Achse, auf der die gesamte Welt aufruht. Letztlich sind im Mythos die Dinge ineinander gestaffelt, wie bei Matrjoschka-Puppen oder den aufeinander folgenden Schichten einer Zwiebel. Aus diesem Grund ist es für uns schwierig, sie auseinander zu halten. Die daraus sich ableitende Physik will uns ebenso lächerlich erscheinen wie die Behauptung des Barons von Münchhausen, dass er sich selbst aus seinem Stuhl heben könne, wenn er nur seine Haare ergriffe und kräftig an ihnen zöge. In der Sprache der Kybernetik jedoch ist die Bewegung, welche die Dinge veranlasst, sich eins in das andere zu schmiegen, sehr wichtig: sie nennt sich dort Rekursivität, »recursion« (Hofstadter 1979: 137-147). Wie im Mythos, so sind auch auf dem Globus die Dinge nach rekursiven Verhältnissen angeordnet, und bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gehorchte in gewisser Weise auch die geographische Beschreibung dieser Logik. Heute sind wir es gewohnt, den Globus in Kontinente zu unterteilen, die großen wohldefinierten und ununterbrochenen Erdmassen entsprechen und im Idealfall durch Ozeane voneinander getrennt sind. Die angelsächsische Tradition kennt sieben nach ihrer Größe geordnete Kontinente, wie es auch bei den Körperteilen des Dionysos der Fall ist. Der Begriff des Kontinents selbst bezeichnet etwas, das etwas anderes in sich enthält, aber dieser Bedeutung zum Trotz verweist er nicht auf eine rekursive Konzeption. Aufgrund der wachsenden Verbreitung von Atlanten beginnt er sich zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert allmählich einzubürgern und setzt sich definitiv im 19. Jahrhundert durch (Lewis/Wigen
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1997: 28-31). Das erste Sammelwerk von geographischen Karten, dessen Frontispiz mit der Figur des globustragenden Atlas verziert war, wurde 1570 in Rom von Antonio Lafreri gedruckt. Vor dem Atlas gab es lediglich Isolarii: aus Kartenwerk und Beschreibungen zusammengestellte Bücher, in denen die Gesamtheit des Globus ausgehend vom Mittelmeer nach Inseln aufgeteilt war. Ehe sie noch selbst irgendetwas enthielten, waren diese Inseln also per definitionem in etwas anderem enthalten, nämlich dem Meer. Die Inseln bezeichneten die Gesamtheit der aus dem Meer ragenden Landmassen, von den kleinsten bis hin zu den größten, die im westlichen Ozean entdeckt worden waren (das »Land vom Heiligen Kreuz«, wie man Amerika im Isolario von Benedetto Bordone von 1528 nannte). Es gibt nur einen einzigen Unterschied zwischen Atlas und Isolario: im ersten ist der Globus in einen Raum verwandelt, im zweiten hingegen hat eine solche Transformation nicht stattgefunden und die aus dem Meer ragenden Landmassen werden noch als Orte betrachtet. Raum. Spatium. Zu präzisieren ist hier, dass es sich um ein aus dem griechischen stadion abgeleitetes Wort handelt. Für die Griechen der Antike war das Stadion ein Längenmaß und bedeutete daher buchstäblich: lineares metrisches Standardintervall. Folglich sind im Innern des Raumes alle Teile untereinander gleichwertig in dem Sinn, dass sie alle derselben abstrakten Regel gehorchen, die nicht im geringsten auf ihre Wesensunterschiede Rücksicht nimmt. Diese Regel wird vom Maßstab repräsentiert, der seit dem 16. Jahrhundert beginnt, systematisch auf allen Karten zu erscheinen (Harvey 1985) und das Verhältnis zwischen den linearen Entfernungen der Zeichnung und den in der Realität existierenden anzugeben. Ort. Im Gegensatz dazu handelt es sich beim Ort um einen Teil der Erdoberfläche, dem kein anderer gleich ist, der nicht mit einem anderen vertauscht werden kann, ohne dass sich gleich alles ändert. Umgekehrt ist im Raum jeder Teil austauschbar, ohne dass sich dadurch etwas veränderte, genau wie wenn man zwei Gegenstände von identischem Gewicht auf den Schalen einer Waage gegeneinander austauscht: das Gleichgewicht wird dadurch nicht gestört. Gleichwertig bzw. äquivalent entspricht dem griechischen »parallel«, und die Erfindung des Raums ist genau der Einführung dessen in die Beschreibung der Erde zu verdanken, was man das »geographische Netz« nennt, das Überkreuz von Meridianen und Parallelkreisen, mit dessen Hilfe man versucht, die Krümmung der Erdoberfläche auf einer Karte abzubilden. Solch ein Restitutionsprozess heißt in neuzeitlicher Terminologie »Projektion«. Dieses Wort stammt aus der Alchemie (Eco 1990:76) und bezieht sich auf die unerhörteste Verwandlung, die es gibt: die eines gewöhnlichen Metalls in Gold, die sich eben genau durch Projektionspulver vollziehen soll. Die kartographische Projektion beruht auf einer mathematischen Regel, die es erlaubt, jedem durch die Schnittmenge eines Längen- und eines Breitengrades definierten Punkt des Globus einen einzigen Punkt in der Kartenfläche zuzuordnen (Fiorini 1881; Snyder 1993). Zeitgemäßer ausgedrückt: sie entspricht einem ungeheuren Gestaltwan-
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del, der darin besteht, auf kohärente Weise ein dreidimensionales Objekt in ein zweidimensionales zu verwandeln, der Erde also eine Dimension zu entziehen. Ein solcher Entzug wird nötig durch den Umstand, dass die Kugel und die Fläche nicht anders aufeinander zu reduzieren sind, denn ihre Oberflächen haben nicht dieselben Eigenschaften: die der ersteren ist gekrümmt und endlich; die der zweiten dagegen offen – ihre Linien laufen nicht ineinander zurück (Reichenbach 1957: 59). Folglich erlaubt nur die zweite, d.h. der flache Plan als Träger der kartographischen Darstellung, den unendlichen Prozess und die ununterbrochene Ausdehnung, die gemeinsam in jeder Hinsicht vor allem die Neuzeit und die abendländische Kultur charakterisieren. Der erste, der sich dem Problem der kartographischen Projektion stellte, scheint, im 3. Jahrhundert v. Chr., Eratosthenes gewesen zu sein (Prontera 1997). Aber es war schließlich die im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf Griechisch verfasste Geographie des Ägypters Ptolemäus, die der Neuzeit die Methode an die Hand gab, wie die Erde in einen Raum und die Kugel in eine Fläche zu verwandeln sei. Schon für Ptolemäus, Geograph im römischen Reich zur Zeit seiner größten Ausdehnung, war die Erde ein Kopf; er stellte die Methode bereit, mit der man ihn mit Hilfe von Projektionssystemen auf eine Fläche abbilden konnte – Projektionssysteme, die wesentlich subtiler und genauer waren als alle vorherigen. Beim Untergang des Reiches verschwand sein Werk fast gänzlich aus der abendländischen Kultur, um erst tausend Jahre später dank byzantinischer Vermittlung wieder aufzutauchen. Kunsthistoriker (Edgerton 1975; Veltmann 1980) sind davon überzeugt, dass die Erfindung der modernen Perspektive (Florentinische Linearperspektive) eine direkte Konsequenz dieser Wiederentdeckung ist, die eben genau im Florenz des frühen Quattrocento stattfindet. Die ptolemäische Projektion und die Linearperspektive sind nämlich ein und dasselbe. Beide setzen die Existenz eines festen und unbeweglichen sujets voraus; sie reduzieren beide das Wissen aufs Sehen, d.h. auf eine ausschließlich dem Auge anvertraute und daher augenblickliche Angelegenheit; und sie nehmen die Ordnung der Dinge so wahr, dass alles von der einfachen Entfernung zwischen diesen Dingen abhängt. Bei der modernen Perspektive hängt auch die Dimension der Objekte von der Entfernung ab, im Unterschied zum Altertum, als die Objektdimension von der Weite des Sehwinkels abhing, was bedeutend korrekter war (Panofsky 1991: 32-33; 43). Aber Perspektive und Projektion haben eine weitere Eigenschaft gemein, welche die Grundlage der modernen Territorialität bildet. Beide stellen dar, was sich innerhalb eines Milieus sehen lässt, das genau diejenigen Eigenheiten aufweist, welche die traditionelle euklidische Geometrie normalerweise der Ausdehnung zuschreibt: Kontinuität, d.h. Abwesenheit von Unterbrechungen; Homogenität, d.h. die innere Identität der Materie, aus der sie beschaffen ist; Isotropie, d.h. das Gleichmaß der Teile in Bezug auf die Richtung. Ganz offensichtlich sind dies konkret die Eigenschaften der Tafel oder der Karte, den materiellen Trä-
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gern der kartographischen Darstellung (Farinelli 1997: 43-59). In Verbindung mit dem Aspekt der Messbarkeit wiederholen sie präzis und erschöpfend die Charakteristiken der Altartafel, auf der Apollo den Körper des Dionysos wieder zusammenfügt. Von da an, während der fünf Jahrhunderte, die Eratosthenes von Ptolemäus trennen, dehnen sie sich ebenfalls auf das Bild der Teile der Welt aus, auf die kartographische Darstellung selbst. Letztlich ist es Apollo, der das erste Exemplar dessen herstellt, was wir heute eine Karte nennen, wobei ihm sein Bruder unfreiwillig das Rohmaterial dazu liefert, und der Altartisch die Regeln und die Eigenschaften. Gerade der Altartisch definiert das Raummodell, das der Ausdehnung im Sinne der euklidischen Geometrie entspricht. Bis hin zu Ptolemäus betrifft die geographische Darstellung – also die Reduktion der Welt auf eine Tafel – nur die sichtbaren Dinge. Mit der neuzeitlichen Perspektive beginnt sie, auch das zu aufzunehmen und zu kolonisieren, was unsichtbar ist, das Intervall und die gähnende Leere zwischen dem die Welt betrachtenden Subjekt und dem betrachteten Objekt. Der Blick, der eine solche Entfernung durchmisst, kann auf seinem Lauf nicht mehr innehalten, sondern hat im Gegenteil alles zu erfassen und zwar in einem Nu, so sehr ist er zum Fluchtpunkt hingezogen, hinter dem sich der leere unendliche Raum verbirgt. Und vor ihm erstreckt sich nunmehr die mathematische Ordnung des vollen und endlichen Raums, des »von irdischen Dingen erfüllten Raumes«, wie die deutschen Geographen des frühen 19. Jahrhunderts es ausdrückten. In ihm ist alles verwandelt in Maß, Kontinuität, Homogenität und Isotropie. Aber zunächst wurde das Subjekt auf das Auge reduziert, das – wie Leon Battisti Alberti erläutert – zum ersten unter den Sinnen aufsteigt, zum einzigen Organ, das befugt ist zu erkennen. Alberti wählte sich konsequenterweise ein geflügeltes Auge zum Emblem (Smith 1994). Der Rest des Körpers wird gleichsam in ein Flügelpaar verwandelt, und eine solche Metamorphose gibt besser als jede andere die Intention wieder, welche die Verwandlung der Erdoberfläche in einen Raum leitet: die Verringerung der Reisezeit bei gleichzeitiger Erhöhung der Geschwindigkeit von Menschen und Waren beim Transport von einem Punkt des Globus an einen anderen. Dies stellt keine Neuheit im Hinblick auf die Logik des römischen Reiches, der celeritas des Julius Cäsar, dar (Rambaud 1974). Cäsars berühmter Devise veni, vidi, vici kommt exakt diese Bedeutung zu: ich habe gesiegt (vici), weil ich die Erkenntnis auf den Gesichtssinn reduziert habe (vidi) und allen anderen zuvorgekommen bin (veni). Alle großen Reiche der Vergangenheit, vom chinesischen Reich bis zu dem der Inkas, vom Empire Napoleons bis zum Empire der Engländer, haben in ausgedehnten Straßensystemen mit einer Tendenz zur Geradlinigkeit und dem Ziel einer höheren Geschwindigkeit ihren Ausdruck gefunden. Den geraden Straßen aber, die der Stolz und die Stärke des römischen Imperiums waren, widerfuhr dasselbe Schicksal wie der Geographie des Ptolemäus: sie kamen außer Gebrauch und wurden vergessen. Dennoch sollte selbst die Syntax des neuzeit-
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lichen Territoriums im Prinzip von der geraden Linie bestimmt werden. Und gerade die Perspektive, also die Projektion, funktioniert wie ein Mittel, das geradlinige Weltmodell wieder einzuführen, und zwar über die Verbreitung und die Verallgemeinerung dessen, was das imperiale Modell der Vergangenheit ausgemacht hatte. Es ist nicht nur so, dass ein immaterielles und nicht greifbares Modell sich materialisiert und so das vorherige Modell verdrängt, dem die Krümmung zu Grunde lag. Es handelt sich zudem um ein höchst vereinnahmendes Modell: in seiner Einheitlichkeit dient es dazu, das Antlitz der Erde sowohl wahrzunehmen und darzustellen als auch zu gestalten – in solch einem Ausmaß, dass diese Einheitlichkeit sämtliche Formen unseres Verhältnisses zur Erde kolonisiert (Farinelli 1986). So merkwürdig es auch erscheinen mag: während des beinahe gesamten 17. Jahrhunderts gab es nicht viele Karten, die den Verlauf von Überlandrouten verzeichneten (Dainville 1964: 261-263). Die Form der Routen war an die der Wasserläufe angebildet, und so stellte der Kartograph, der nicht alles wiedergeben konnte, die Wasserläufe statt der Landwege dar, welche zumeist weniger bedeutend waren. Aber ab dem 18. Jahrhundert unterschieden sich die Routen, gerade weil sie nunmehr geradlinig verliefen, vom Netz der Wasserwege und begannen somit auf den Karten aufzutauchen, denn sie waren nicht mehr mit den gewundenen Flussläufen zu vereinheitlichen. Es dürfte schwerlich ein unmittelbareres und konkreteres Beispiel für den Unterschied zwischen der vormodernen und der modernen Epoche geben. Am Ursprung eines solchen Unterschieds befindet sich die völlige Umkehrung des Verhältnisses von Kartenbild und Realität. Im Mittelalter waren kartographische Darstellungen eine Kopie der Welt; sie reflektierten die Beziehungen, aus denen sich die Welt zusammensetzte und wurden aus diesem Grund, über die Tatsache der abbildenden Zeichnung hinaus, zu einer ihrer religiösen und philosophischen Interpretationen (Edson 1997). Kartographische Darstellungen waren das Porträt, aber auch das bewusste Selbstporträt einer Kultur (Barber 2001). Für Heidegger (1950), den viele für den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts halten, ist die Moderne hingegen die »Zeit des Weltbilds«: die erste moderne Verschiebung besteht darin, die Welt auf ein Bild zu reduzieren – also, was uns betrifft, auf eine geographische Karte. Dies läuft darauf hinaus, dass in der neuzeitlichen Epoche, eben im Gegensatz zum Mittelalter, die Karte nicht die Kopie der Welt ist, sondern die Welt die Kopie der Karte. Und auf diese Weise wird die Welt wahrhaftig zum Angesicht der Erde (Farinelli 1989). Im Vorwort zum sechsten Buch seines der Architektur gewidmeten Werks erzählt Vitruv, der berühmteste Architekt des antiken Rom, die Geschichte des vorsokratischen Philosophen Aristippos von Kyrene. Nachdem er auf der einsamen Insel Rhodos Schiffbruch erlitten hatte, jedoch nicht wusste, wo er sich befand, erkannte er, dass der Ort von zivilisierten Menschen bewohnt sein musste, denn er entdeckte in den Sand gezeichnete geometrische Figuren. Ohne Tafel oder eine ihr ähnliche Oberfläche würde die Geometrie, die für die Antike gleichbe-
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deutend mit Zivilisation war, nicht existieren. Die gesamte neuzeitliche Wissenschaft ist der Überzeugung des Galileo (1965: 38) gefolgt, dass das Buch der Natur »in einer mathematischen Sprache geschrieben ist, deren Buchstaben Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren sind«. Für Michel Serres (1993: 315) bedeutet »Geometrie«, dass die Erde das Meter (also das Maß) ist. Im diesem Sinne bedeutet Geographie fast immer, dass die Erde (geometrische) Schrift ist. Aus diesem Grund gab Carl Ritter zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Geographie einen anderen Namen: Erdkunde, was so viel besagt wie »historisch-kritische Erkenntnis der Erde«. Er war in keiner Weise einverstanden mit der Vorstellung, dass die Erde auf das Bild der todbringenden Tafel zurückgeführt werden sollte, welche die geographische Karte nun einmal ist: Spiegel und Altar zugleich. Er protestierte energisch gegen das, was er gegenüber der geographischen Beschreibung »die kartographische Diktatur« nannte (Ritter 1852: 33). Die geometrische Schrift der Erde ist in der Tat nichts anderes als ihre kartographische Darstellung. Das Maß wird zur Erde und umgekehrt wird, mit dem Meridian von Paris, die Erde zum Maß. 1791 wendet sich die französische Nationalversammlung an die Académie des Sciences, um eine Lösung zu finden für die konfuse Situation, die dadurch entstand, dass jede Region oder Gegend des Landes nach einem anderen Gewichts- und Maßsystem funktionierte. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte hatte schon gleich nach dem Sturm auf die Bastille verkündet, dass den Vorgängen in der Nationalversammlung ein universeller Wert zukäme, insofern sie die gesamte Menschheit und nicht bloß Frankreich beträfen. Er ging also darum, eine stabile und unveränderliche Maßeinheit zu finden, mit der weiteren Absicht, dass sie auf dem ganzen Globus Geltung beanspruchen könnte. Aber nicht nur das. Da die Menschheit das umfassendste Subjekt ist, das man sich vorstellen kann, und da sie sich aus allen Personen zusammensetzt, die jemals gelebt haben, die jetzt leben und die einmal leben werden, würde eine solche Einheit auch für die Zukunft gelten. So entwickelte man den Meter, wie wir ihn heute kennen. Er entspricht dem vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs, berechnet nach dem ersten Meridian – eben dem Längengrad, der durch Paris verläuft. Da dieser Vorgang sie vorwegnimmt, illustriert er besser als jeder andere die historische Bestimmung der französischen Revolution und der republikanischen Ideale, die sie verteidigt. Diese letzteren sollten sich ebenfalls in den folgenden Jahrhunderten im planetarischen Maßstab verbreiten, genau wie die Berechnungen, die das Metermaß hervorgebracht hatten und die darin bestehen, auf der Erdoberfläche lokale Werte zu ihren allgemeinen Werten zu verlängern. Alles beginnt mit dem französischen Segment, diesem ersten großen Meridian, der zugleich konkret ist. Aber dieser, der die Achse der ersten modernen Karte, der Karte von Frankreich ist, deren Erhebung gerade erst am Vorabend der Revolution abgeschlossen war (Gallois 1909), dieser Meridian hat wiederum seine Festlegung dem Triangulationsverfahren zu verdanken, dem einzigen, das die geometrische (d.h. kartographische) Exaktheit und Deutlich-
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keit der zeichnerischen Darstellung der Erde sicherstellen kann. Einer der letzten Erfinder von nicht-euklidischen Geometrien, Benoît Mandelbrot (1977: 41), hat vor einiger Zeit das mangelnde Gedächtnisvermögen der Mathematiker und die daraus entstehende paradoxe Situation hervorgehoben. Sie sind so sehr in die Modelle vernarrt, die sie sich zu Eigen machen, dass sie vergessen, dass es sich eben um bloß Modelle handelt, und sie als Realitäten auffassen. So kommt es, dass man beharrlich die Kontinuität der Objekte der euklidischen Geometrie als apriorische Gegebenheit versteht, so wie man zum Beispiel in der Infinitesimalrechnung von der Kontinuität der Kurven ausgeht. Man muss hinzufügen, dass dem so ist, weil die euklidischen Modelle nicht nur einfach dazu gedient haben, die Welt zu beschreiben, sondern auch dazu, sie buchstäblich zu konstruieren, zu konfigurieren; sie sind folglich selbst zu konkreten Wirklichkeiten geworden. Alles in allem dient die Geographie zu nichts anderem, als das Unsichtbare in etwas Sichtbares, die software in hardware, die Zeichnung in etwas Fühlbares zu verwandeln, auch wenn man normalerweise glaubt, dass es umgekehrt ist. Nach Kant wissen wir beispielsweise, dass das Dreieck nicht nur das Modell einer Form ist, sondern das Modell eines produktiven Prozesses – genau wie das Wesen der Triangulation es vorführt. Obwohl die Triangulation ein sehr altes Verfahren ist, das schon die Ägypter und die Griechen der Antike kannten, war nach landläufiger Auffassung Leon Battista Alberti der erste, der sich dieses Verfahrens bediente – wahrscheinlich, weil er davon die erste moderne Beschreibung gibt, und zwar in den um 1445 verfassten Ludi matematici (Vagnetti 1980). Wirklich leistet er jedoch mehr, denn sein geflügeltes Auge, vom Körper abstrahiert und auf Erkundungsflug ausgesandt, äußert klar und unmittelbar die Voraussetzungen, die der Funktionsweise zugrunde liegen. Die Triangulation beruht auf einem der Grundgesetze der ebenen Trigonometrie, demzufolge man, sofern eine Seite und zwei Winkel eines Dreiecks bekannt sind, einfach auf den dritten Winkel und die Länge der zwei übrigen Seiten schließen kann. Es reicht, sorgfältig die Länge eines Segments zu bestimmen, einen äußeren Punkt festzulegen, der es erlaubt, die Winkel an den Enden des fraglichen Segments zu messen, und so kann man mühelos mittels einer simplen Berechnung – also abstrakt – auf alle anderen Werte schließen. Die Gesamtheit des Körpers wird lediglich in Bewegung gesetzt bei der Vermessung des Schritt für Schritt und mit dem Meterband in der Hand abgelaufenen Segments, für welche man die Treppen der Wacht- und Glockentürme hinauf- und hinabsteigen muss, eben derjenigen erhöhten Punkte, mit deren Hilfe man die indirekte Vermessung vornehmen kann, und die materiell mit den drei Ecken des Dreiecks zusammenfallen. Die restliche Arbeit wird gänzlich mit dem Goniometer, dem Kompass, dem Stift und dem Blatt Papier geleistet, die ein und derselben Beobachter handhabt. Dieser jedoch bleibt unbeweglich und sein Auge, das zum Stellvertreter des Körpers wird, ist das einzige Organ, das an den Seiten des Dreiecks entlangläuft, die der direkt ver-
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messenen Basis gegenüberliegen. Der Vorteil dieser Operation liegt nicht nur in der Zeitersparnis und der Präzision der gewonnenen Ergebnisse, sondern ermöglicht ebenfalls die Berechnung der Winkel und der Entfernungen, die anders nicht vermessen werden können (d.h. nicht konkret vermessen werden können). Dank der benachbarten Dreiecke, die eins nach dem anderen gebildet werden, ist eine einzige Basis hinreichend, um ein Netzwerk zu konstruieren, das eine ganze Region abdeckt. Die Grenze einer solchen Reduktion der Welt auf eine Reihe von Dreiecken bestand darin, dass jedes dieser Netze autoreferentiell war, also dass es das Prinzip, das seine Präzision und Kohärenz gewährleistete, in sich trug. So waren zwei unterschiedliche Netzwerke niemals vollkommen benachbart, weil jedes von ihnen in eine andere Richtung orientiert war, auf ein anderes Bezugssystem hin. Jedes von ihnen war auf eine andere Kontinuität gegründet, auf eine unähnliche Homogenität, eine andere Isotropie. Wenn man zwei solcher Netze, die sich auf benachbarte Gebiete bezogen, nebeneinander auf einer Karte eintrug, dann führte dies zwangsläufig zur Entdeckung ihrer wechselseitigen Irreduzibilität. Zur Unterschiedlichkeit der Basen kam im Allgemeinen noch die Abweichung der Ausrichtung hinzu, die häufig die magnetische Deklination unberücksichtigt ließ. Erst im 17. Jahrhundert (Pouls 1980) begann man, eine andere Methode zur Berechnung der Entfernungen auf der Erdoberfläche zu verwenden, nämlich indem man, statt die Beobachtung von den höchsten Punkten einer einzigen Region aus durchzuführen, sich auf die Winkelentfernungen zwischen den Sternen und Planeten bezog. Als Bezugssystem übernahm man also das der Himmelskörper, welches, weil es außerhalb der Erde lag, eine größere Genauigkeit gewährleistete und den Vorteil hatte, einer ganzen Hemisphäre gemeinsam zu sein. So konnte man sich an die Konstruktion der kartographischen Darstellung von wesentlich größeren Regionen begeben, während neue Territorialstaaten entstanden, die im Verhältnis zu den vorhergehenden politischen Gebilden als zentralisierte zu betrachten sind. Wie die Geschichte des französischen Meridians beweist, war es möglich, definitiv eine Ordnung zu projizieren, die naturhaft identisch mit derjenigen war, die von der Wahrnehmung der Himmelskörper definiert wurde. Genau diese Projektion verwandelt die Erde in ein modernes Territorium. Das französische Beispiel war das erste einer Triangulation im staatlichen Maßstab, und aufgrund seines Erfolges wurde es im 19. Jahrhundert in ganz Europa und für einige Kolonialländer übernommen. Aber die Bedeutung der Triangulation beschränkt sich nicht auf die Konstruktion des Kartenbildes vom Territorium, und folglich nicht auf die Konstruktion des Territoriums selbst. Als Konstruktionsprozess stellte die Triangulation ebenfalls, ganz wie die Perspektive, aus der sie hervorgegangen war, ein überaus mächtiges und wirkungsvolles Erkenntnisinstrument dar, dessen Auswirkungen das 20. Jahrhundert beherrschten und auch heute noch unser Verhältnis zur Welt kontrollieren. Die
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Triangulation funktioniert nämlich über die Ersetzung des Schrittes durch den Blick, und eine solche Substitution steht am Ursprung der modernen Form, die den Übergang vom Symbol zum Zeichen markiert. Für die alten Griechen war das Symbol ein entzweigebrochener Gegenstand, den zwei verschiedene Personen besaßen, die, wenn sie sich wiedertrafen und die beiden Teile zusammenfügten, sich so wechselseitig ihrer jeweiligen Identität versicherten. Es handelte sich also zumindest ursprünglich um ein System der Wiedererkennung und nicht um ein bloßes Zeichen, da jedes Element ein konkretes Bekanntschafts- oder Freundschaftsverhältnis darstellte. Der Nachkomme einer Familie beispielsweise, die jemandem Gastfreundschaft gewährt hatte, konnte, wenn er einige Jahre später in das Land des Gastes reiste, das Bruchstück mitnehmen, das die vergangenen Bande bezeugte und nun wiederum ihm die Gastfreundschaft der Nachkommen des fraglichen Gastes garantierte. In solchen Fällen konnte der Anblick des Symbols nicht an die Stelle der Schritte des Reisenden treten, sondern war vielmehr das Ergebnis und der Endpunkt der Schritte, die zusammen seinen Weg ausmachten – sowie den des Vorfahren, der mit seiner ursprünglichen Reise das Verhältnis gestiftet hatte. Der Anblick des Symbols war folglich etwas, das den Platz der Gesamtheit aller Schritte einnahm, von Anfang an, und nur weil das Symbol sie repräsentierte (es vergegenwärtigte sie also erneut), konnte es sie berechtigt ersetzen. Das Zeichen ist ebenfalls etwas, das etwas anderes vertritt, es verweist auf etwas (oder jemand) Abwesendes, es setzt also ebenfalls eine Entfernung voraus. Aber wie Hegel (1970: 394) erläuterte, ist beim Zeichen die Verbindung zwischen Ausdruck und Bedeutetem vollkommen willkürlich, insofern sie äußerlich und formell bleibt. Dies läuft darauf hinaus – um bei unserem Beispiel zu bleiben –, dass zwischen der Ansicht des Zeichens und den Schritten jeder Bezug fehlen würde, und dass das Zeichen die Schritte ersetzt, ohne sie weiterhin zu repräsentieren. Das Zeichen ist nicht mehr das Ergebnis der Reise, sondern im Gegenteil eine Art Erlassung des Fußwegs: es macht ihn überflüssig. Exakt so verhält es sich mit der Triangulation, also mit dem kartographischen Zeichen. Für die Semiologen setzt sich die Welt aus einem unendlichen Universum von Zeichen zusammen. Es ist also kein Zufall, wenn sie gewöhnlich auf eine Dreieckszeichnung zurückgreifen, um ihr kognitives Modell synthetisch darzustellen. Die ersten, die sich dieses Modells bedienten (Eco 1989: X), waren Charles Kay Ogden und Ivor Armstrong Richards 1923 in ihrem Band The Meaning of Meaning. Die obere Ecke des Dreiecks entspricht generell einem beliebigen Bedeuteten; die unteren beiden Ecken teilen sich das Bedeutende auf der einen Seite, wobei das Wort das Bedeutete in einer bestimmten Sprache ausdrückt, »Fahrrad« zum Beispiel, und den Referenten auf der anderen Seite, nämlich das Objekt Fahrrad, das vor mir steht, oder alle Fahrräder, die existieren, existierten oder einmal existieren werden. Ogden und Richards (1989: 11) sprechen, in dieser Reihenfolge, von »thought or reference« (»Gedanke oder Bezug«), von »Symbol« und von »Refe-
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rent« und definieren dabei das Symbol als Wort und den Referenten als Ding. Fast jeder Semiologe verwendet andere Begriffe, um diese Ideen zu bezeichnen (Eco 1973: 24-28). Alle sind sich jedoch darüber einig, dass das Verhältnis von Bedeutendem und Referenten ein indirektes ist, während dasjenige zwischen diesen beiden Ecken und der dritten, die dem Bedeuteten entspricht, direkt ist. Deshalb ist die Basis des Dreiecks gestrichelt gezeichnet, die anderen Seiten sind jedoch durchgängige Linien. Anders gesagt: das semiotische Dreieck ist gemäß einem Schema eingerichtet, das exakt dem der kartographischen Triangulation entspricht, weil auch dieses Schema sich auf die wesenhafte Opposition stützt, die zwischen der Beziehung zwischen den beiden Endpunkten der Basislinie und der Beziehung von jeder dieser beiden mit der oberen Ecke besteht. Zugleich ist diesbezüglich eine Umkehrung festzustellen, die besonders deutlich die Wirksamkeit und Macht des kartographischen Zeichens vor allen anderen Zeichen herausstellt und die Natur der Modernität erhellt. Bei der Triangulation wurde die Basis geduldig abgeschritten, die Beziehung zwischen ihren beiden Endpunkten war also konkret und direkt, im Gegensatz zu dem, was sich für das semiotische Dreieck ergibt. Dies bedeutet jedoch lediglich, dass in den fünf Jahrhunderten, die zwischen der ersten Triangulation von Alberti und dem semiotischen Dreieck liegen, das sichtbare Verhältnis, also der kartographische Blick, zum Prototypen des direkten Verhältnisses geworden ist, zu Lasten des Verhältnisses, das den Einsatz des gesamten Körpers erfordert. Quid tum – »Und was nun«? So lautet die Devise, die Alberti unter sein geflügeltes Auge setzen ließ. Das semiotische Dreieck gibt Antwort darauf. Letztlich zielte die Analyse von Ogden und Richards auf ein unmöglich zu erreichendes Ziel ab: die Ambiguität des Bezugs, der sich zwischen dem Wort und dem Ding ergibt, aus der natürlichen Sprache, die wir gewöhnlich verwenden, zu beseitigen. Dieses Verfahren läuft auf die Reduktion eines solchen Bezugs auf ein wechselseitig eindeutiges Verhältnis hinaus, das nur in der kartographischen Darstellung existiert, wo alle Namen Eigennamen sind, die folglich direkt und eindeutig das Objekt meinen, auf das sie sich beziehen. Aus diesem Grund haben die Autoren mehr oder weniger bewusst die Triangulation als Modell gewählt, d.h. das Verfahren zur Hervorbringung des modernen Kartenbildes. Die Triangulation nämlich legt fest, dass jedes Ding einem Punkt, einer Ecke entspricht, und sie ordnet jeder Ecke einen einzigen Namen zu, genauso wie wenn man ein Dreieck auf ein Blatt zeichnet, bei dem jede Ecke einem einzigen Buchstaben entspricht. Der alleinige Unterschied besteht darin, dass beim geometrischen Dreieck eine solche Entsprechung völlig willkürlich vereinbart ist, während hingegen beim kartographischen Dreieck jeder Ecke konkrete Elemente der Erdoberfläche entsprechen. Für Gottlob Frege (1892: 26-27), den Begründer der modernen analytischen Philosophie, haben die Eigennamen (und auch »Behauptungssätze«) nicht nur eine Bedeutung, sondern auch einen Sinn. Und wiederum obliegt es dem kar-
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tographischen Dreieck, den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen zu illustrieren. Frege erklärt: wenn a, b, c die Geraden sind, die durch die Eckpunkte eines Dreiecks und die Mitte der gegenüberliegenden Seiten laufen, dann ist der Schnittpunkt von a und b derselbe wie der Schnittpunkt von b und c. Die Bedeutung, die dem fraglichen Punkt zukommt, ist somit eine einzige. Aber sein Sinn ist nicht einzig, denn dabei kommt es darauf an, wie dieser Punkt gegeben ist, auf welche Weise er sich darstellt. Der Sinn ist ein zweifacher, eben weil zwei Bezeichnungen möglich sind: »Schnittpunkt von a und b« und »Schnittpunkt von b und c« (Frege 1892: 27). Für Frege waren es gerade die Einzigkeit der Bedeutung und die Pluralität des Sinns, welche den kognitiven Gehalt einer Aussage garantierten. Aber das Wesentliche, so muss hier betont werden, liegt anderswo: wenn Frege den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung illustriert, gibt er uns nichts anderes als eine Beschreibung des ersten Aktes der kartographischen Operation, die zumindest seit dem 18. Jahrhundert mit dem Ausdruck »die Dreiecke füllen« bezeichnet wird. Sie besteht darin, die größte mögliche Anzahl von weiteren, kleineren Dreiecken – und damit von Punkten – im Innern des Ausgangsdreiecks zu konstruieren, auf dass die skeletthafte Einrichtung des Ursprungs sich in ein regelrechtes topographisches Bild verwandele. Dass dies, mehr oder weniger bewusst, das fragliche Modell gewesen sein könnte, wird uns auch durch die Analogie suggeriert, auf die Frege zurückgreift, um das Verhältnis von Bedeutung, Sinn und Vorstellung zu erläutern. Nehmen wir an – so schreibt er –, dass ein Astronom den Mond durch ein Teleskop beobachtet. Der Mond, Gegenstand der Beobachtung, ist der Bedeutung vergleichbar. Das optische Bild, das von der Linse im Innern des Teleskops projiziert wird, entspricht dem Sinn: es ist ein Teilbild, d.h. es hat nur eine Seite und ist darüber hinaus vom Beobachterstandpunkt abhängig, aber es ist objektiv, da es identisch bleibt, auch wenn ein anderer es beobachtet. Das Bild, das sich in einem solchen Fall verändert, und das demnach subjektiv ist, kann nur das letzte Bild sein, das auf der Netzhaut, welches jeweilig und spezifisch ist, d.h. unterschiedlich je nach betrachtendem Auge. Es genügt, den Mond durch die Erde und das Teleskop durch ein Fernglas zu ersetzen, um den Astronomen in einen Kartographen zu verwandeln und somit in Freges Analogie einen Wesenszug des Denkens von Anaximander von Milet wiederzuerkennen, von demjenigen, der es sechs oder sieben Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung als erster wagte, die bewohnte Erde auf einer Tafel darzustellen (Farinelli 1998). Bei Anaximander wie bei Frege ist das, was wir sehen, zweifach von der Realität entfernt. Für Anaximander gibt es die Dinge und die seienden Dinge. Die ersteren können wir nicht wirklich erkennen, und in Freges Ausdrucksweise sind sie gleichwertig mit dem Bedeuteten. Nur die letzteren können wir erkennen, den Sinn in der Welt, auch wenn das, was wir sehen, nicht die Erscheinung der Dinge ist (eben der Sinn in der Welt), sondern die Erscheinung ihrer Erscheinung, die Erscheinung der seienden
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Dinge. Mindestens bis zum 20. Jahrhundert bleibt die gesamte abendländische Philosophie vor der Grenze stehen, die Anaximander bezeichnet hat, durch die Unmöglichkeit, das zu erkennen, was Kant das »Ding an sich« nannte. Und ausgerechnet Frege liefert die Erklärung des Phänomens: nur weil der Sinn öffentlich und allen gemeinsam ist, können die Gedanken von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Wie Anaximander war auch Kant zunächst Geograph und nicht nur Philosoph. Was von Anaximander auf Kant und Frege überliefert wird, ist die kartographische Natur des Sinns in der Welt, d.h. die Reduktion der Erkenntnis auf die Beschreibung der kartographischen Darstellung, oder, wenn man so will, auf die Karte. Was für Frege dem Sinn entspricht, das optische Bild des Teleskops, ist die Idealform der Karte. Beide sind zweidimensional und durch einen Gesichtspunkt determiniert. Aber keine Karte kann an die Präzision der auf der Linse reflektierten Figur herankommen, auch wenn sie sich dank der stetigen Vervollkommnung der Vermessungsinstrumente allmählich an sie annähert. Erst während der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gelingt es der Karte, die sich in eine Photographie verwandelt, sich vermittels Luft- und Satellitenaufnahmen ihrem Modell fast bis zur Verschmelzung anzugleichen. An die Stelle der topographischen Karten treten die sich verbreitenden photographischen Karten. Sie gehen aus Luftaufnahmen hervor, auf denen zusätzliche Höhenlinien eingetragen sind: imaginäre Linien, die alle Punkte miteinander verbinden, die den gleichen Höhenabstand zum Meeresspiegel haben. Aber am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, bevor ihr die Photographie den Rang ablief, brachte die Triangulation noch ein Schema von den inneren Verhältnissen der Darstellung eines Gegenstandes vermittels eines Zeichens hervor – das differenzierteste Schema, über das wir verfügen. Charles Peirce (Hartshorne/ Weiss 1978: 156-173), ein an der kartographischen Technik geschulter Philosoph und wohl einer der subtilsten Denker der Vereinigten Staaten (Brent 1993: 54), unterscheidet drei Typen von Verweisen: Ikon, Index und Symbol. Dieses Ensemble ist hierarchisch gegliedert, insofern die Ebene, die jedem Element entspricht, die Funktionen der vorhergehenden voraussetzt. Für Peirce entsprechen die Vorstellungsbilder der ikonischen Ebene, bei der die Zeichen-Objekt-Beziehung auf Ähnlichkeit gegründet ist. Aber die Ähnlichkeit erzeugt die ikonische Beziehung nicht. Im Gegenteil: erst wenn man eine ikonische Beziehung wahrgenommen hat, darf man hoffen zu erkennen, was zwei Dinge oder Dingkomplexe miteinander verbindet. Im kartographischen Prozess ist die ikonische Beziehung die Etappe, die der Haltung desjenigen entspricht, der sich anschickt, die Dreiecke auszufüllen: der mitnichten wissenschaftliche Prolog, auf dem alle anderen Formen der kartographischen Darstellung aufbauen. Als solcher ist er eine wahrhaftige Voraussetzung, eine vorausliegende Deutungsmöglichkeit, wie Ritter gesagt hätte.
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Wenn auf der ikonischen Ebene die Vermittlung zwischen Zeichen und Objekt durch die Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit gewährleistet ist, dann ist sie es auf der Ebene des Index durch ein Verhältnis von Aneinandergrenzen bzw. Entsprechung. Diese letztere Ebene geht folglich aus dem Zusammenspiel von mehreren ikonischen Relationen und der daraus resultierenden körperlichen oder zeitlichen Verbindung hervor. Wenn man sagt, dass etwas ein Indiz für etwas anderes ist (zum Beispiel Rauch für Feuer), dann versteht man darunter, dass eins kausal mit dem anderen verbunden oder aber dass es ihm in der Zeit oder im Raum assoziiert ist. Dies ist der Fall beim Thermometer, das die Lufttemperatur anzeigt, oder beim Goniometer, das bei der Triangulation die Winkel vermisst. Für Peirce fällt die dritte Interpretationsebene mit dem Symbolischen zusammen. Darin ist das Verhältnis von Zeichen und Gegenstand einer Konvention überlassen, die hinsichtlich der physischen Eigenschaften sowohl des fraglichen Gegenstandes als auch des Zeichens vollkommen abstrakt bleibt. Freges Unterscheidung von Bedeutung und Sinn baute auf der Tatsache auf, dass Wörter sich auf Gegenstände beziehen (wodurch wir die Bedeutung erhalten) oder auf andere Wörter (wodurch wir den Sinn erhalten). Für Peirce hingegen ist das Symbol das Produkt einer logischen oder kategorischen Verallgemeinerung, die sich aus dem Erkennen einer ikonischen Beziehung zwischen zwei Systemen von Indizes ergibt. Anders formuliert: die symbolische Ebene ist nichts anderes als die Anwesenheit eines kleineren Dreiecks im vorgängigen kartographischen Ausgangsdreieck, oder die Konstruktion eines weiteren Dreiecks, das diesem letzteren benachbart ist. Eigentlich ist sie das Endprodukt der kartographischen Arbeit, welches nur durch die Annahme aller Voraussetzungen möglich wurde. Aber woher stammt diese Dreiecks-Obsession, d.h. die kartographische Obsession, auf der das gesamte abendländische Wissen errichtet ist und von der Peirce zum Scheitern und zur Verzweiflung gebracht wurde? Der Tradition zufolge war es Thales, der Lehrer von Anaximander, der als erster die Höhe einer Pyramide maß. Es ist offensichtlich, dass das Problem gar nicht gegeben wäre, wenn Thales nicht zunächst die Pyramide auf ein Dreieck reduziert hätte. Bedenkt man es richtig, hat die Pyramide nämlich eigentlich gar keine Höhe; dies ist eine Dimension, die ihr völlig fremd ist in dem Sinne, dass man sie erstens nicht sieht und zweitens auch nicht auf direkte Weise berechnen kann. Zwar ist es durchaus möglich, auf eine Pyramide zu steigen und die Entfernung zu messen, welche ihre Spitze vom Boden trennt; diese Entfernung jedoch entspricht überhaupt nicht ihrer Höhe, sondern der Höhe ihrer Seiten. Andernfalls würde es sich nicht um eine Pyramide, sondern um einen Turm handeln. Sich über das Problem der Höhe der Pyramide Fragen zu stellen bedeutet folglich, ein Verhältnis auf ikonischer Ebene genau in dem eben erläuterten Sinne vorauszusetzen, und zwar zwischen der Pyramide und dem Dreieck, der ebenen Figur, der sie am meisten ähnelt und für welche die Höhe direkt und unmittelbar zu berechnen ist. Ein solches Verhältnis bedeutet die Überführung
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eines dreidimensionalen Gegenstandes in ein zweidimensionales Schema: wie bei jeder beliebigen anderen Projektion handelt es sich um den Vorgang, der zumindest seit Ptolemäus den ursprünglichen Akt der Geographie darstellt. Diogenes Laertios berichtet, dass Thales die Höhe der Pyramide auf der Grundlage ihres Schattens maß, nachdem er beobachtet hatte, wann genau der Schatten des menschlichen Körpers seiner Höhe gleichkam. Die Version des Plutarch lautet ein wenig anders: an der Stelle des menschlichen Körpers befindet sich ein Stab, der Gnomon, der, wie Heron erklärte, »alles einander ähnlich werden lässt« (Zellini 1999: 32-33). Der Schattenwurf bleibt unveränderlich, ob es sich um den von der Pyramide auf die Erde geworfenen Schatten oder um denjenigen eines Gegenstandes handelt, dessen Höhe man schon kennt. Die Längen der beiden im gleichen Moment vermessenen Schatten erlauben es, mittelbar auf die Höhe der Pyramide zu schließen, in Form der Unbekannten einer Verhältnisgleichung, in der die drei anderen Werte bekannt sind (die Höhe der Pyramide verhält sich zu ihrem Schatten wie die Höhe des Stockes zu seinem). In der Realität sind die Dinge ein wenig komplizierter (Casati 2000: 98-101). Aber allein die Tatsache, dass uns die Überlieferung diese und nicht eine andere Erzählung bewahrt hat, legt nahe, dass ihre Bedeutung nicht von rein technischer Art ist. Die Geschichte der Geometrie hat Thales nicht vergessen, weil er die Ähnlichkeit von Dreiecken bewies, deren Winkel jeweils gleich waren und deren Seitenlängen sich proportional zueinander verhielten. Ohne Thales wäre gewissermaßen die Triangulation nicht möglich. Und seine Legende ist die Beschreibung des kartographischen Akts als Ursprung der abendländischen Erkenntnis. Das Dreieck bringt die Erkenntnis hervor, weil der geworfene Schatten – welcher das zu messen erlaubt, was nicht zu sehen ist und der Dimension, die anders verborgen oder gar abwesend wäre, einen Wert zuordnet – von Dreiecksgestalt ist: die erste Seite entspricht dem Körper oder dem Stab, die zweite dem Schatten, die dritte schließlich der vorgestellten Linie zwischen dem Ende des einen und der Spitze des anderen. Und so wie die Beziehung zwischen Schatten und Erdoberfläche (das Ergebnis der Projektion) auf der ikonischen Ebene zu sehen ist, so ist das Verhältnis, bei dem man schließlich anlangt und welches die Berechnung erlaubt, vollständig auf der Ebene anzusiedeln, welche Peirce die symbolische nannte. Heidegger (1950: 112) schrieb, dass man normalerweise den Schatten als Abwesenheit von Licht betrachte, wenn nicht als seine Negation, aber in Wirklichkeit sei er »die offenbare, jedoch undurchdringliche Bezeugung des verborgenen Leuchtens«, was »der Vorstellung entzogen, doch im Seienden offenkundig ist und das verborgene Sein anzeigt«. Keine Sorge: ohne es zu wissen, beschreibt Heidegger die Maßnahme von Thales in seiner eigenen Ausdrucksweise, in der das Sein (die Pyramide) dem Ding des Anaximander gleichkommt und das Seiende (der Schatten) dem seienden Ding. Aber warum sollte das, was für Pyramide und Schatten gilt, auch für den Stab und seinen Schatten gelten?
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Warum sollte das gleiche Verhältnis im ersten wie auch im zweiten Fall Gültigkeit haben? Die Antwort stützt sich auf die Nähe zwischen den zwei Quellen des Schattens, auf ihre Nachbarschaft. Sie ist abhängig von der Vereinigung von zwei Orten an einem einzigen, demjenigen, an dem sich die Pyramide und demjenigen, wo sich der Gnomon befindet: innerhalb eines einzigen Raums (Serres 1993: 156-183). Aber wir haben gerade erst gesehen, dass es ohne Raum kein Verhältnis vom Typ des Index geben kann. Mit seiner Vereinigungsbewegung illustriert Thales also das erste indexikalische Verhältnis, vermittels dessen alle anderen funktionieren können. Für Peirce war das Denken nicht auf ein Diagramm zu reduzieren und Komplexität zu denken kam einem unendlichen Triangulationsprozess gleich, nicht nur auf einer Ebene, sondern auf dreien. Die Wörter, mit denen er die komplexeste Ebene beschreibt, welche den Ereignissen ihre Bedeutung verleihen kann, haben sämtlich – ob als einzelne oder insgesamt betrachtet – den Wert von Synonymen des kartographischen Bildes und seiner Funktion: »Vermittlung«, »Absicht«, »Allgemeinheit«, »Ordnung«, »Deutung«, »Darstellung«, »Hypothese« (Brent 1993: 331-332). Aber heutzutage gehorcht die Wirklichkeit nicht mehr der Kartenlogik, die auf einer geradlinigen Syntax und dem Prinzip eines einzigen Zentrums beruht. Die Vermittlung, die Absicht, die Allgemeinheit, die Ordnung, die Deutung, die Darstellung, die Hypothese, welche von der Kartographie gebildet werden (in einem Wort: Raum) entsprechen nicht der Funktionsweise der Welt. Nehmen wir das Beispiel der Produktion von Computern: die Entfernung zwischen den Orten, an denen die verschiedenen Fertigungsetappen des Produkts stattfinden, hat nur in einem lächerlichen Maß Anteil an der Kalkulation seines Preises (Castells 2002: 446-453). Was wir heute Globalisierung nennen, ist nichts anderes als die Gesamtheit der Prozesse, deren Ablauf weder geregelt wird noch interpretierbar ist durch die Raum- und Zeitkategorien, die während der gesamten Epoche der Moderne das Verständnis des Geschehenden bedingten. Wenn in der Folge die Gleichwertigkeit zwischen der Welt und dem kartographischen Bild der Welt heute verschwunden ist, wenn die Welt nicht mehr auf eine Karte zu reduzieren und der kognitive Prozess nicht mehr der uns vertrauten Triangulation gleichzusetzen ist, dann befinden wir uns erneut am Fuß der Pyramide. An ihre obere Spitze setzen wir ein »W« für »Welt«. Unten, an den Spitzen, die den unteren Ecken des uns zugewandten Dreiecks entsprechen, schreiben wir rechts »O« für »Ort« und links »R« für »Raum«. Zudem schreiben wir »T« für »Territorium«, immer noch unten, an die letzte und entfernteste Spitze, die noch zu benennen ist, diejenige des seitlichen Dreiecks, das eine gemeinsame Seite mit dem ersten Dreieck besitzt, welche aus diesem Grund zwischen »W« und »R« liegt. Es ist wichtig, dass der Leser diese Figur eigenhändig zeichnet, denn, wie Husserl bemerkte (1996: 53), impliziert jede geometrische Konstruktion ein Kausalsystem, eine Hierarchie zwischen Gründen und Wir-
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kungen. Deshalb ist selbst zu zeichnen das einzige Mittel, nicht bloß widrige Wirkungen zu erleiden, sondern sie im Gegenteil zu kontrollieren. Aus demselben Grund zeigt die hier vorliegende Schrift, so wie auch die Texte von kritischen Geographen wie Humboldt oder Ritter, keine einzige Karte (es handelt sich hierbei nicht um einen Vergleich, sondern um einen Verweis auf Autoritäten). Zu lange hat man geglaubt, die Geographie sei ein Wissen über den Ort, an dem sich die Dinge befinden, ohne sich dessen bewusst zu werden, dass die Geographie in Wirklichkeit, indem sie den Ort angab, vor allem über das Wesen der Dinge entschied. Und sie entschied darüber wie eine Kartographie, wie ein Dispositiv, d.h. implizit und stillschweigend, in welchem sie sich eben genau auf die absolute Macht der Karte berief, die weder Kritik noch Korrekturen zulässt. Es wurde eine Definition der Welt, des Ortes und des Raumes gegeben. Das Territorium ist dort, wo Macht ausgeübt wird; seine Etymologie vermischt und vermengt sich mit den Worten terra und Terror. Der Ort verweist auf ein Verhältnis ikonischen Typs im allgemeinsten und elementarsten Sinn und entspricht dem Subjekt des kognitiven Prozesses. Der Raum verweist auf ein Verhältnis vom Typ des Index und entspricht der Entfernung und ihrer Messung. Das Territorium verweist auf ein Verhältnis des symbolischen Typs und entspricht dem Objekt. Das muss man wissen (oder vielmehr: daran muss man sich erinnern), weil nur eine komplexe Erkenntnistheorie in der Lage ist, bei der geographischen Beschreibung die kartographischen Modelle durch andere zu ersetzen, nun, da die Karten nicht mehr die Welt darstellen. Aus dem Französischen von Marion Picker
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Autorinnen und Autoren
Maximilian Benz studierte Germanistik, Latinistik und Erziehungswissenschaften an der LMU München und der HU Berlin. Gefördert durch das Berliner Exzellenzcluster 264 Topoi und den Sonderforschungsbereich 644 Transformationen der Antike, wurde er 2012 mit einer Arbeit zum Thema Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Texten der Antike und des Mittelalters an der HU Berlin promoviert. Nach der Vertretung einer Assistenzstelle an der LMU München arbeitet er seit Oktober 2012 als Wissenschaftlicher Assistent von Prof. Dr. Christian Kiening am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Weitere Veröffentlichung: Benz, Maximilian/Weitbrecht, Julia (2011): »Die Formierung des Jenseits als Bewegungsraum in Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (Paulus-Apokalypse, Visio Pauli, Visio Tnugdali)«, in: Mittellateinisches Jahrbuch 46, S. 229-243. Der Geograph, Orientalist und Philosoph Augustin Berque, geb. 1942, ist Directeur d’études an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris. Er ist Mitglied der Académie européenne und erhielt 2009 als erster Vertreter der westlichen Welt den Großen Preis von Fukuoka für asiatische Kulturen. Kontakt: [email protected]. Neuere Veröffentlichungen: Écoumène. Introduction à l’étude des milieux humains, Paris: Belin, 2000; gemeinsam mit Maurice Sauzet: Le sens de l’espace au Japon. Vivre, penser, bâtir, Paris: Arguments, 2004; Histoire de l’habitat idéal, de l’Orient vers l’Occident, Paris: Le Félin, 2010. Der Philosoph und Historiker Jean-Marc Besse ist Directeur de recherche am CNRS (Forschungseinheit Géographie-cités) in Paris. Er unterrichtet an der Universität Paris I und an der École Nationale Supérieure du Paysage in Versailles. Publikationen u.a.: Les Grandeurs de la terre. Aspects du savoir géographique à la Renaissance, Lyon: ENS Éditions, 2003; Face au monde. Atlas, Jardins, Géoramas, Paris: Desclée de Brouwer, 2003; Le Goût du monde. Exercices de paysage, Arles: Actes Sud, 2009; Naissances de la géographie moderne (1760-1860). Lieux, pratiques et formation des savoirs de l’espace, Lyon: ENS Éditions, 2010 (Hg. mit
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Hélène Blais und Isabelle Surun). Jean-Marc Besse ist zudem Herausgeber der Zeitschrift Les Carnets du paysage. Mandana Covindassamy ist Maître de conférences an der École normale supérieure (Paris). Studium an der École Normale Supérieure und an den Universitäten Paris X und Paris-Sorbonne. Promotion über W.G. Sebalds Erzählwerk: À l’épreuve du dépaysement. W.G. Sebald. Cartographie d’une écriture en déplacement (erscheint 2012 bei den Presses Universitaires de Paris Sorbonne). Publikationen u.a. zum Verhältnis von Text und Bild (W.G. Sebald; Alexander Kluge), über Kartographie und Literatur und über Goethes West-östlichen Divan. Géraldine Djament-Tran ist Maître de conférences an der Universität Straßburg. Studium an der École Normale Supérieure und an der Universität Paris VII. Promotion 2005 an der Universität Paris VII mit dem Buch Rome éternelle. Les métamorphoses de la capitale, Paris: Belin, 2011. Publikationen u.a. über die Entwicklungsdynamik der Metropole und die Mobilisierung der städtischen Vergangenheit in interdisziplinärer Perspektive. Jörg Dünne ist seit 2009 Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt; Studium der Romanistik, Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie in München, Paris und Kiel; 2000 Promotion in Kiel, 2008 Habilitation in München. Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Raumforschung, Kartographie und Literatur, écriture de soi und Subjektkonstitution, Katastrophismus und Spektakularität in der Moderne. Publikationen (Auswahl): Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne (2003); Raumtheorie (Mhg., 2006); Automedialität (Mhg., 2008); Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit (2011); Weltnetzwerke – Weltspiele (Buch und Brettspiel zu Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt, Mhg., i.V.); Aufsätze u.a. zur spanischsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit, zur französischen Literatur der Moderne sowie zur lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur. Franco Farinelli hat am Institute for Urban and Regional Planning (NORDPLAN) in Stockholm unterrichtet wie auch an den Universitäten Genf, Los Angeles (UCLA), Berkeley, an der der Sorbonne und der École Normale Supérieure in Paris. Jetzt ist er Direktor des Instituts für Philosophie und Kommunikation an der Universität Bologna und Präsident der Vereinigung der italienischen Geographen (A.Ge.I). Eine Auswahl seiner Buchpublikationen: Pour une théorie génerale de la géographie, Genf: Université de Genève, 1988; I segni del mondo. Discorso geografico e rappresentazione cartografica in età moderna, Florenz: La Nuova Italia, 1992; L’invenzione della Terra, Palermo: Sellerio, 2007; De la raison cartographique, Paris: CTHS, 2007; La crisi della ragione cartografica, Turin: Einaudi, 2009.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Florent Gabaude promovierte1997 unter der Leitung von Prof. Dr. Pierre Béhar an der Université Tours (Centre de la Renaissance) über Les comédies d’Andreas Gryphius et la notion de grotesque, Bern u.a.: Lang, 2004. Nach langjähriger Tätigkeit in der Lehrerausbildung an der PH Limoges ist er seit 2001 Maître de conférences für Deutsche Philologie an der Universität Limoges. Seine Arbeitsund Forschungsschwerpunkte sind die historische Semantik, die Literatur- und Kulturgeschichte der Früh- und der Spätmoderne und insbesondere das deutsche Drama der Renaissance und des Barock (Hans Sachs, Heinrich Julius von Braunschweig, Ayrer, Gryphius, Lohenstein). Zu den neuesten Publikationen gehört neben mehreren Aufsätzen in französischer und deutscher Sprache zur Flugblattpublizistik der Frühen Neuzeit die Mitherausgeberschaft des Bandes Grotesque et spatialité dans les arts du spectacle et de l’image en Europe – XVIe-XXIe siècles, Bern u.a.: Lang, 2012. Prof. Dr. Viola König ist Direktorin des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, sowie Honorarprofessorin an der Universität Bremen (Kulturwissenschaften) und an der Freien Universität Berlin (Lateinamerika-Institut). Sie lehrt zudem an der Universität Hamburg (Institut für Völkerkunde und Archäologisches Institut/Altamerikanische Sprachen und Kulturen). Ihre regionalen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Mesoamerika (Altamerikanistik), Mexiko und Peru (Kolonialzeit), Nordwestküste (Alaska, Kanada); Veröffentlichungen ebenfalls zu Schriftsystemen, zur Kartographie und räumlichen Darstellung, zu indigener Ikonographie. Umfangreiche Feldforschung in Mexiko und Alaska. Christian Luckscheiter, von 2006 bis 2010 Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, 2010 Promotion (Ortsschriften Peter Handkes, erscheint in Kürze bei Kadmos), momentan Lektor im Reclam Verlag. Letzte Veröffentlichungen: »Ein Elsässer auf einer Rheinbrücke – eine Urszene Europas«; in: REAL. Revista de Estudos Alemães 3 (2012), S. 141-151; und: »›SternenFreundschaft‹? Der Archipel als mögliches Denk- und Handlungs-Korrektiv der Europäischen Union«; in: Anna E. Wilkens/Patrick Ramponi/Helge Wendt (Hg.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung, Bielefeld: Transcript, 2011, S. 283-301. Als Umweltgeographin, die sich auf die Geomorphologie von Seen spezialisiert hat, erforscht Véronique Maleval die Oberflächengestalt hinsichtlich der Erosion (Geschwindigkeit des Uferwandlung) und der Sedimentation (Geschwindigkeit der Tiefensedimentation, Verteilung, Textur), sowohl in Frankreich als auch weltweit – ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen jedenfalls fernab der Literatur. Da die Geomorphologin die Körpergestalt aus geographischer Perspektive wahrnimmt, erscheint es ihr jedoch nur natürlich, neuerdings auch
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über Oberflächengestalten zu arbeiten, die aus der Geodynamik des Körpers in Zeit und Raum entstehen, und somit eine Verbindung zwischen Geographie und Zeichnung, zwischen Geomorphologie und weiblichen Körpern herzustellen. Dieses Projekt ermöglicht eine originelle Einbeziehung des Menschen in die poetische Geographie, nach dem Vorbild von Schriftstellern und Malern wie Zola, Flaubert, Gautier, Dalí, die ihre Landschaften oder Objekte feminisieren. Sara-Duana Meyer ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Kuratorin und Kulturmanagerin. Sie hat an der Universität Osnabrück, der SNDT Women’s University in Mumbai, Indien und der LMU München gelehrt. Darüber hinaus ist sie in verschiedenen Kunst- und Kulturprojekten international tätig. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören Großstadtliteratur, Raumtheorie, Visual Culture, Globalisierung, Postcolonial Studies und Neue Englische Literaturen. In letzter Zeit befasst sie sich vor allem mit dem Thema öffentlicher Raum und Kunst sowie Kunst und Protest in der arabischen Welt. Sie arbeitet bevorzugt interdisziplinär und hat ein besonderes Interesse daran, verschiedenste Künste und Disziplinen zusammenzubringen. Sara-Duana Meyer lebt und arbeitet zur Zeit in München und Kairo. Marion Picker studierte Medienwissenschaften, Anglistik, Germanistik und Philosophie in Köln, London, Paris und Rochester und promovierte 2003 in Baltimore und Straßburg. Sie war von 2002-2008 Assistant Professor of German an der Northwestern University und am Dickinson College und ist nun an der Université d’Aix-Marseille tätig. Publikationen u.a.: Der konservative Charakter. Walter Benjamin und die Politik der Dichter, Bielefeld: Transcript, 2004; Herausgabe von Walter Benjamin. Les vicissitudes du mythe (= Les Cahiers philosophiques de Strasbourg, 27), 2010; Marseille aux XIXe et XXe siècles (Mhg., i.V.). Artikel zur kartographischen Metapher und zum Kino der Weimarer Republik, Kracauer, Rosenzweig, Celan, Fassbinder; des Weiteren Übersetzungen sowie Beiträge in literarischen Zeitschriften. Jens Schneider hat an den Universitäten Bonn, Leipzig und Caen Geschichte und Germanistik studiert. Er hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Paderborn und Limoges gearbeitet und ist nun an der Universität Paris-Est Marne-la-Vallée tätig. Seine Forschungen bewegen sich im Bereich Raum – Identität – Herrschaft im frühen und hohen Mittelalter. Aktuelle Veröffentlichungen: Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert (= Publications du CLUDEM, 30), Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2010; »Monastères et scriptoria en Lotharingie (IXe – Xe s.)«, in: Bulletin de la Commission royale d’Histoire 176 (2010), S. 21-39; »L’ethnogenèse des Frisons«, in: Revue du Nord 93 (2011), S. 749-759.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Hedwig Wagner, seit Oktober 2010 Juniorprofessorin für Europäische Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar. Monographien: Die Prostituierte im Film. Zum Verhältnis von Gender und Medium, Bielefeld: Transcript, 2007; sowie Theoretische Verkörperungen. Judith Butlers feministische Subversion der Theorie, Frankfurt a.M. u.a.: Lang, 1998. Forschungsschwerpunkt: Schnittstelle von Gender Studies und Medienwissenschaft, aktuelles Forschungsprojekt zur Visualisierung und Inszenierung von territorialen Grenzen. Saskia Wiedner, Studium und Promotion an der Universität Augsburg im Fach Romanistik. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft der Universität Augsburg, derzeit am Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: französischer Existentialismus, französischer Roman im XX. Jahrhundert, jüdische Literatur und Kultur im Frankreich des 20. Jahrhunderts, Autobiographie und Theorie der Autobiographie, Kulturtheorie, politische Theologie und Strategien der Herrschaftslegitimation in der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts, Rhetorik und Ikonographie der Französischen Revolution(en), kulturelle Transferprozesse und Übersetzung im 18./19. Jahrhundert (Italien, Frankreich, Deutschland), Literatur und Kultur des Siglo de Oro. Veröffentlichungen: Die Konzeption der »situation« in den Romanen Simone de Beauvoirs 1943-1954, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009; Contacts: Le désir du canon. L’esthétique de la citation dans le roman français/francophone post-soixante-huitard/Dossier der Zeitschrift Lendemains, 32 – 126/127 Tübingen: Narr, 2007 (Hg. mit Till R. Kuhnle); Orient lointain – proche orient. La présence d’Israël dans la littérature francophone, Tübingen: Narr (édition Lendemains), 2011 (Hg. mit Till R. Kuhnle/Carmen Oszi); Aufsätze zur französischsprachigen, italienischen und spanischen Literatur; Artikel in literatur- und kulturwissenschaftlichen Lexika. Bettina Wind (Freie Künstlerin, Berlin) studierte Dramaturgie und Komparatistik in München und entwickelt seit 2006 im Duo mit Alexandra Ferreira kontextbezogene Kunstprojekte u.a. für das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt a.M., das VanAbbe Museum in Eindhoven und den Palais de Tokyo in Paris. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstanden Eigenpublikationen wie die Zeitung No Past Today (Helsinki) und das Heft Objects in the Mirror (Cork) sowie Textbeiträge für das Onlinemagazin Maarav (Tel Aviv) und The Autonomy Project (Eindhoven). Derzeit promoviert sie am Art Department in Goldsmiths, University of London, zum Thema Kritik und Affekt in zeitgenössischer Kunstund Schreibpraxis. In eigenen Zeichnungen, Workshops und Performances erkundet sie das Feld und die Grenzen künstlerischer Kartographie. Aktuelle Informationen: http://windferreira.blogspot.com
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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Januar 2013, 168 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung März 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
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Kultur- und Medientheorie Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft März 2013, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0
Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung April 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2127-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.) Im Netz der Eindeutigkeiten Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität März 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2196-9
Vittoria Borsò, Michele Cometa (Hg.) Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik Februar 2013, ca. 342 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1756-6
Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik April 2013, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Dezember 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann (Hg.) Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft
Sabine Fabo, Melanie Kurz (Hg.) Vielen Dank für Ihren Einkauf Konsumkultur aus Sicht von Design, Kunst und Medien November 2012, 188 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2170-9
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information April 2013, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1983-6
Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften März 2013, ca. 278 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2
Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs März 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Juli 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
März 2013, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1888-4
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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