Die Zeit der letzten Dinge: Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.] 9783737010979, 9783847110972


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Die Zeit der letzten Dinge: Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit [1 ed.]
 9783737010979, 9783847110972

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Encomia Deutsch

Band 6

Herausgegeben von Andreas Bihrer und Timo Felber im Auftrag des Vorstands der Deutschen Sektion der ICLS

Julia Weitbrecht / Andreas Bihrer / Timo Felber (Hg.)

Die Zeit der letzten Dinge Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit

Mit 7 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ars moriendi, Blockbuch, um 1475, Gutenberg-Museum Mainz Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5499 ISBN 978-3-7370-1097-9

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Zeit und Ewigkeit Hans-Werner Goetz Der Mensch zwischen Zeit und Ewigkeit. Zeitvorstellungen und Umgang mit den letzten Dingen im frühen und hohen Mittelalter . . . . . . . . .

17

Romedio Schmitz-Esser Aufbahren, Verwesen, Auferstehen. Zeitkonzepte beim Umgang mit dem Leichnam im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Christian Kiening Zeit des Aufschubs oder : Jedermanns Ende . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

II. Textpraxis als Umgang mit Vergänglichkeit Henrike Manuwald Die ›letzten Dinge‹ im tätigen Leben. Eine Relektüre von Cgm 717 unter dem Aspekt einer vita mixta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Julia Frick Reflexionen des Untergangs. Erzählen vom Ende in den Fassungen der ›Nibelungenklage‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Aleksandra Prica Limes-Gestalten. Über Zeit und Form in der Troja-Literatur

. . . . . . . 143

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Inhalt

III. Praktiken der Textaneignung Stefan Abel Memorare novissima tua. Vom Umgang mit der Zeit in Gerards van Vliederhoven ›Cordiale de quatuor novissimis‹ aus dem Umkreis der Devotio moderna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Christian Schmidt Geistliche Uhren. Technologie, Heilsgeschichte und Letzte Dinge in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen ›Horologium‹-Tradition . . . 195 Patrick Nehr Gnade und Gerechtigkeit, Hoffnung und Verzweiflung. Zeitsemantiken von Diesseits und Jenseits im ›Münchner Weltgerichtsspiel‹ und im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ (1510) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

IV. Vermittlung und Indienstnahme zwischen Diesseits und Jenseits Marcel Bubert Politische Visionen. Anderweltreisen, Zeitsemantiken und Legitimationsstrategien im frühmittelalterlichen Irland . . . . . . . . . . 251 Rike Szill Herrschaftszeiten! Zum Diskurs über die Endlichkeit von Herrschaft am Beispiel der Einnahme Konstantinopels 1453 in den Geschichtswerken des Dukas und des Kritobulos von Imbros . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Katja Weidner Am Ende der Welt. Gottfrieds von Viterbo ›De Enoch et Helia ubi et quomodo uiuunt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Lisa-Marie Richter Pluralität, Konkurrenz & Invektivität: Über das Rechtfertigungsverständnis als Ausdruck der Reflexion von Zeitlichkeit und Ewigkeit in ausgewählten lutherischen Sterbeschriften der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Einleitung

Die Endlichkeit menschlicher Existenz ist anthropologisch konstant, doch sind die Formen ihrer Wahrnehmung, Darstellung und Bewältigung dagegen historisch und kulturell höchst variabel. Die Erfahrung von Unentrinnbarkeit und Irreversibilität des Todes bringt vielfältige, individuelle wie kollektive, Sinnhorizonte und soziale Praktiken hervor, welche Vergänglichkeit durch unterschiedliche Transzendierungsideen und -rituale überwindbar zu machen versuchen. Um sich solchen Phänomenen historisch adäquat anzunähern, ist daher nach den jeweils wirksamen Deutungsmustern und Erzählformen zu fragen, über die weniger der Tod selbst als vielmehr der jeweilige Umgang mit Vergänglichkeit historisch beobachtbar wird, gerade wenn man Sterben als Prozessierung, Schwelle und Übergangsphänomen begreift. Das Thema Tod und Sterben wurde für das Mittelalter bereits verschiedentlich bearbeitet, wobei es meist anhand globaler Thesen wie derjenigen vom im Kollektiv aufgehobenen, ›gezähmten‹ Tod im Mittelalter1 analysiert, auf einzelne Bereiche wie die höfische2 oder die spätmittelalterliche Ars moriendi-Literatur3 1 Philippe AriHs: Essais sur l’histoire de la mort en Occident du Moyen / nos jours, Paris 1976 (dt. Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, übers. von Hans-Horst Henschen, München 1976), dort S. 19–30, und breiter Philippe AriHs: Geschichte des Todes, München 11 2005, zudem Michel Vovelle: Die Einstellungen zum Tode. Methodenprobleme, Ansätze, unterschiedliche Interpretationen, in: Biologie des Menschen in der Geschichte. Beiträge zur Sozialgeschichte der Neuzeit aus Frankreich und Skandinavien, hg. von Arthur E. Imhof, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 174–197; einen Überblick über diese Forschungen der ›nouvelle histoire‹ gibt Kuno Böse: Das Thema ›Tod‹ in der neueren französischen Geschichtsschreibung. Ein Überblick, in: Studien zur Thematik des Todes im 16. Jahrhundert, hg. von Paul Richard Blum, Wolfenbüttel 1983 (Wolfenbütteler Forschungen), S. 1–20. Vgl. auch Death in the Middle Ages and Early Modern Time. The Material and Spiritual Conditions of the Culture of Death, hg. von Albrecht Classen, Berlin 2016 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 16). 2 Manfred Kern: Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12. bis 15. Jahrhunderts, Berlin/New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 54); Udo Friedrich: Erzählen vom Tod im ›Parzival‹. Zum Verhältnis von epischem und romanhaftem Erinnern im Mittelalter, in: Historische Narratologie. Mediä-

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Einleitung

bezogen oder mit Fokus auf ausgewählte Aspekte wie Bestattungsriten oder die Totenmemoria4 untersucht wurde. Demgegenüber strebt der vorliegende Band eine differenzierte Beschreibung unterschiedlicher Phänomene des Umgangs mit Vergänglichkeit an, indem die vielfältigen Bewältigungsstrategien im Umgang mit fundamental ›letzten Dingen‹5, seien es individueller Tod, kollektiver Untergang, Jüngstes Gericht oder apokalyptisches Weltende, in den Blick genommen werden und nach mit existentiellen Erfahrungen von Endlichkeit einhergehenden Formen der Reflexion von Zeitlichkeit gefragt wird. Solche Bewältigungsstrategien können sich in ganz unterschiedlicher Weise – diskursiv oder narrativ, in Riten und Praktiken – äußern, doch bildet den Ausgangspunkt für diesen Sammelband die Beobachtung, dass die verschiedenen Umgangsweisen mit Vergänglichkeit jeweils mit einer impliziten oder expliziten Reflexion von Zeitlichkeit verbunden sind und auf Heterochronie im Sinne divergenter Zeiterfahrungen reagieren. Differierende Temporalitäten werden in verschiedenen Gattungen ganz unterschiedlich kombiniert und miteinander verschränkt: Sie entstehen etwa in der populären Jenseitsreiseliteratur aus der Ausgangssituation heraus, dass die Protagonisten – aus ihrer eigenen Lebenszeit herausgerissen – reisend mit den Sünden ihrer Vergangenheit, mit Heilserwartung und Ewigkeit konfrontiert

vistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland/Matthias Meyer, Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 385–414; Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters, hg. von Susanne Knaeble [u. a.], Berlin 2011 (bayreuther forum transit 10); Timo Felber/Svenja Fahr : Konzeptualisierungen des Todes. Deutungsmuster der Vergänglichkeit in den volkssprachigen Troiana-Romana-Erzählungen des 12 Jahrhunderts, in: Euphorion 112 (2018), S. 297–322. 3 Mark Chinca: Out of this World: Metaphor and the Art of Dying Well in Laurent d’Orleans, in: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, hg. von Ursula Peters/Rainer Warning, München 2009, S. 433–450. Ders.: Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen. Zur Ars moriendi im 15. Jahrhundert, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters, hg. von Burkhard Hasebrink [u. a.], Tübingen 2008, S. 355–381. Genreübergreifend untersucht Alois Haas Bilder des Todes im Mittelalter : Alois M. Haas: Todesbilder im Mittelalter. Fakten und Hinweise in der deutschen Literatur, Darmstadt 1989, mit einem Ausblick auf die »Todesdrastik im Spätmittelalter«, S. 174–179; umfassende Studien zum Übergang zur Frühen Neuzeit bieten Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, sowie Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 90). 4 Zu beiden Aspekten vgl. den Forschungsüberblick bei Romedio Schmitz-Esser : Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers, Ostfildern 2014 (Mittelalter-Forschungen 48), S. 14–17. 5 Das christliche Verständnis der vier letzten Dinge (quattuor novissima), also Tod, Gericht, Himmel und Hölle, wird hier somit erweitert und auf existentielle Erfahrungen von Endlichkeit und Vergänglichkeit übertragen.

Einleitung

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werden.6 In ihrer Disruption werden Lebenszeit und Weltzeit somit zugleich auch reflexiv miteinander verknüpft und schließlich in eine übergeordnete Heilszeit überführt.7 Ähnliches gilt für die Hagiographie, die in der Inszenierung des triumphalen Martyriums, das zugleich den dies natalis des Heiligen bildet, Konzepte transtemporaler Identität entwirft, in denen die Zäsur des irdischen Todes durch überzeitliche Heilsordnungen überblendet wird.8 Anders gelagerte Konzepte der Reflexion von Zeitlichkeit bieten heroische Narrative, in denen die überzeitliche memoria den Tod des Einzelnen überdauert,9 oder übergeordnete Geschichtsmodelle, mithilfe derer in der Chronistik und Prognostik der kollektive Untergang zu dokumentieren oder auch in der Kontinuitätsstiftung genealogischer Fortführung aufzufangen gesucht wird.10 Als Formen der Bewältigung von Endlichkeit verstehen wir im Kontext des vorliegenden Bandes neben Narrativen, Bildern und Symbolen auch die vielfältigen konkreten Praktiken und Rituale in der Sterbevorbereitung, -begleitung und der Sepulkralkultur. Diese gehen ebenfalls mit divergenten Zeithorizonten um, denn in der Konfrontation der eigenen Sterblichkeit mit Konzepten von Ewigkeit und Auferstehung werden für das mittelalterliche Denken grundlegende Aspekte von Zeitlichkeit reflektiert. 6 Vgl. hierzu zukünftig Andreas Bihrer : Journeys to the Otherworld, in: Prophecy and Prognostication in Medieval European and Mediterranean Societies, hg. von Klaus Herbers, Berlin/New York 2020, und die Ergebnisse des von Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht geleiteten DFG-Projekts ›Ewigkeit und Endlichkeit. Konfrontationen und Verschränkungen unterschiedlicher Zeitsemantiken in mittelalterlichen Jenseitsreisen‹. 7 Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986. 8 Vgl. dazu Elke Koch: Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen, in: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin, Göttingen 2009 (Historische Semantik 13), S. 110–130. Dies.: Optionen des Erzählens von Märtyrerheiligen in: Julia Weitbrecht, Maximilian Benz, Andreas Hammer, Elke Koch, Nina Nowakowski, Stephanie Seidl, Johannes Traulsen: Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter, Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 273), S. 89–113. 9 Vgl. Otto Gerhard Oexle: Memoria in der Gesellschaft und Kultur des Mittelalters, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1994, S. 297–323. Zur Bedeutung der Totenerinnerung für die Genese von Kultur Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt a. M. 2000. Zum heroischen Sterben und der memoria in volkssprachigen Erzähltexten des Mittelalters vgl. Friedrich [Anm. 2] sowie John M. Hill: Heroic Poetry. Achievement and Heroic Death in Old English Literature, in: Death in the Middle Ages and Early Modern Time. The Material and Spiritual Conditions of the Culture of Death, hg. von Albrecht Classen, Berlin/Boston 2016 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 16), S. 59–74. 10 Timo Reuvekamp-Felber : Kollektivtod, Gemeinschaftsbildung und Genealogie. Bewältigungsstrategien menschlicher Endlichkeit im Erzählzusammenhang der Nibelungenüberlieferung, in: Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft, hg. von Andreas Bihrer [u. a.], Bielefeld 2016, S. 75–97. Grundlegend dazu Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004.

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Die Fragestellung nach der Verhandlung heterochroner Zeitsemantiken steht im Kontext einer Fülle an aktuellen geisteswissenschaftlichen Projekten zu Zeit und Zeitlichkeit.11 Unser Fokus auf Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit gibt dabei einen medienhistorischen, praxeologisch orientierten Ansatz vor, die Grundlage bilden also weniger die theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen mit Zeit im Mittelalter12 oder geschichtswissenschaftliche Studien, die sich mit übergeordneten mittelalterlichen Geschichtsvorstellungen13, Prognostik14 oder der Apokalyptik15 befassen. Im Zentrum stehen Texte und Medien, die mit divergenten Zeitlichkeiten umgehen und diese für Sinnbildungs- und Bewältigungsprozesse im Spannungsfeld von Ewigkeit und Endlichkeit produktiv zu machen suchen. Neue Perspektiven für einen solchen Ansatz bieten etwa geschichtswissenschaftliche Studien zur »Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung«16, welche Interaktionen unterschiedlicher Zeitebenen und -ordnungen untersuchen. Die Medialität von Zeit und Zeitdarstellung bildet auch seit langem den Gegenstand des Zürcher Nationalen Forschungsschwerpunktes »Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen«, der zentrale Verschiebungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zeit eingeleitet und beschrieben hat, »from time in the

11 Etwa das Berliner Einstein-Center »Chronoi« und das Exzellenzcluster »Temporal Communities – Doing Literature in a Global Perspective« an der Freien Universität Berlin. 12 Etwa in der Augustinus-Forschung, vgl. Ernst A. Schmidt: Zeit und Geschichte bei Augustin, Heidelberg 1985 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1985,3). Vgl. dazu auch Aleksandra Prica: Heilsgeschichten. Untersuchungen zur mittelalterlichen Bibelauslegung zwischen Poetik und Exegese, Zürich 2010 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 8). 13 Hans-Werner Goetz: Vergangenheit und Gegenwart. Mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie, in: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter, hg. von Hartmut Bleumer [u. a.], Köln [usw.] 2010, S. 157–202, oder ders.: Zeit/ Geschichte. Mittelalter, in: Europäische Mentalitätsgeschichte, hg. von Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1993, S. 640–649. Fabian Schwarzbauer : Geschichtszeit: Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising, Berlin 2005 (Orbis mediaevalis 6). Stefan Burkhardt: Tempus fugit? Zeit und Zeitlichkeit im Mittelalter, in: Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung, hg. von Katja Patzel-Mattern/Albrecht Franz, Stuttgart 2015, S. 55–76. 14 Beispielsweise im Rahmen des Käte Hamburger Kollegs ›Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa‹ an der Universität Erlangen. 15 Johannes Fried: Dies Irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs, München 2016; Mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes = Forming the Future Facing the End of the World in the Middle Ages, hg. von Felicitas Schmieder, Köln [usw.] 2015. 16 Miriam Czock/Anja Rathmann-Lutz: ZeitenWelten – auf der Suche nach den Vorstellungen von Zeit im Mittelalter. Eine Einleitung, in: ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1350, hg. von dens., Köln [usw.] 2016, S. 9.

Einleitung

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singular to temporalities in the plural, from mental concepts to cultural practices, from techniques to mediality, and from macro- to microhistory«17. Die solcherart untersuchten temporalen Modellierungen und Reflexionen über Vergänglichkeit tragen einen historischen Index und werden im späten Mittelalter am Übergang zur Neuzeit offenbar besonders virulent.18 Universale heilszeitliche Strukturen werden hier stärker als zuvor an konkrete Praktiken im Umgang mit individueller Vergänglichkeit gebunden, die Berndt Hamm als Konzept ›naher Gnade‹ beschrieben hat.19 Fassbar wird hier ein praktisch orientierter Umgang mit Sterben und Vergänglichkeit, der im Kontext der durch elaborierte Vermittlungssysteme intensivierten Frömmigkeitspraxis der Zeit steht. Unter dem Einfluss der Devotio moderna entstehen Formen individueller religiöser Praxis (der Meditation, Andacht und Buße), die mit Zeitlichkeit umgehen in dem Sinne, dass sie sie aufmerksam betrachten, die verbleibende Lebenszeit bemessen und bewerten, takten und einteilen, so dass die gesamte Lebenspraxis auf die letzten Dinge hin ausgerichtet wird. Divergente Zeitwahrnehmung bedeutet im Kontext der Letzten Dinge auch, dass sich mediale Praktiken ausbilden, die zu ganz spezifischen Zeitpunkten wirksam werden und gleichsam Zeitregimes ausbilden, welche die Lebensführung, die Vorbereitung auf den ›guten Tod‹, einen möglichen Aufschub in der Sterbestunde und schließlich das posthume ›Heilsmanagement‹ betreffen. Dabei wird meist im Blick auf die postmortale Existenz eine Verbesserung des Heilstatus, s o l a n g e n o c h Zeit ist, angestrebt, doch werden auch Konzepte fassbar, die um eine Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits bemüht sind und im Horizont der Endlichkeit von Zeit Welthaltigkeit zu konzeptualisieren suchen. Der Blick auf die zunehmende meditative Besinnung auf Vergänglichkeit und die letzten Dinge eröffnet somit auch ein besseres historisches Verständnis für die vielfältigen Austauschphänomene zwischen Diesseits und Jenseits und die Integration divergenter Zeithorizonte in die mittelalterliche Lebenspraxis. Dieser gleichermaßen medialitäts- wie medienhistorische Zusammenhang manifestiert sich in der großen Vielfalt an Genres und Textsorten, die im späten Mittelalter mit der Endlichkeit der Zeit befasst ist und im Rahmen dieses Bandes 17 Christian Kiening/Martina Stercken: Introduction, in: Temporality and Mediality in Late Medieval and Early Modern Culture, hg. von dens., Turnhout 2018 (Cursor mundi 32), S. 1–14, hier S. 1; Christian Kiening/Aleksandra Prica/Benno Wirz: Wiederkehr und Verheißung: Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit, Zürich 2011 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 16). 18 Hierzu siehe Christian Kiening: Hybride Zeiten. Temporale Dynamiken 1400–1600, in: PBB 140 (2018), S. 194–231. 19 Vgl. Berndt Hamm: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Religiosität im späten Mittelalter, hg. von Reinhold Friedrich/Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), S. 244–298 [Erstveröffentlichung 2002]; ders.: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität, in: ebd., S. 513–543.

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nur exemplarisch untersucht werden kann: Visions- und Jenseitsreiseliteratur, Chronistik und Historiographie, Hagiographik, Predigt, Gebetsliteratur, Ars moriendi, geistliche Spiele u. v. m.20 Angesichts dieser Quellenvielfalt sind Formen der Reflexion von Zeitlichkeit nicht immer bzw. nicht immer vollständig über die Untersuchung von Textstrukturen zu erfassen. Dennoch sind aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Fragen nach der Darstellung und Narrativierung von Zeit in vormodernen Texten von großem methodischem Interesse.21 Ein differenziertes Instrumentarium zur Beschreibung der intrikaten Zeitsemantiken in religiösen Kommunikationszusammenhängen, ihren gleichsam ›religiösen Eigenzeiten‹22 und dem hier je spezifisch wirksamen Verhältnis von »Synchronie, Heterochronie und Achronie, von Zeit und Imagination«23 ist allerdings noch zu ermitteln und bildet eine spezifische Problemstellung innerhalb einer allgemeinen mediävistischen Narratologie.24 Die in den folgenden Beiträgen untersuchten Phänomene divergenter Zeitlichkeiten erfordern, anders als die narrativen Zeitordnungen der Erzählliteratur, eine Differenzierung von immanenten und transzendenten Zeitlichkeiten, für die eine angemessene Beschreibungssprache zu erarbeiten ist, um Simultaneität und Sukzession,25 Prozessualität und Saltatorik in der Zeitdarstellung sowie die Modellierung unterschiedlicher Zeithorizonte, von Lebenszeit, Weltzeit und Heilszeit, adäquat zu erfassen.26 20 Allgemein zur Literaturgeschichte s. Regina D. Schiewer/Werner Williams-Krapp: Das geistliche Schrifttum des Spätmittelalters, in: Deutsches Literatur-Lexikon: Das Mittelalter, hg. von Wolfgang Achnitz. Bd. 2: Das geistliche Schrifttum des Spätmittelalters, hg. von dens., Berlin/Boston 2011, S. V–XX; Nigel F. Palmer : Die letzten Dinge in Versdichtung und Prosa des späten Mittelalters, in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, hg. von Wolfgang Harms/L. Peter Johnson, Berlin 1975, S. 225–239. 21 Vgl. die beiden jüngeren Sammelbände Gleichzeitigkeit: Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Susanne Köbele/ Coralie Rippl, Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 14); Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. von Udo Friedrich [u. a.], Berlin 2014 (Literatur, Theorie, Geschichte: Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 3). 22 In Anlehnung an den Titel des DFG-Schwerpunktprogramms 1688 ›Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne‹. 23 Köbele/Rippl [Anm. 21], S. 15. 24 Ebd., S. 18. 25 Anregungen hierzu finden sich bei Gerhard Regn: Zeitsemantiken des Jenseits in Dantes Commedia, in: Köbele/Rippl [Anm. 21], S. 101–120, der bei Dante Konzepte von Simultaneität und Sukzession unterscheidet sowie die Bedeutung eines (mit der eigenen Sterblichkeit verbundenen) temporalen Bewusstseins des Reisenden für die Erfahrung unterschiedlicher Zeitsemantiken, gerade auch in der Zeitlosigkeit des Jenseits, betont. 26 Vgl. zum Problem einer adäquaten Beschreibungssprache für Temporalität auch Maximilian Benz/Christian Kiening: Die Zeit des Ichs. Experimentelle Temporalität bei Oswald von Wolkenstein, in: Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens, hg. von Sonja Glauch/Katharina Philipowski, Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik 26), S. 99–129.

Einleitung

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Die hier erfassten Phänomene von Zeitlichkeiten sind zudem nicht auf einzelne Texte oder Narrationen beschränkt, sondern ergeben sich aus der Zusammenschau unterschiedlicher Konzepte (Hans-Werner Goetz über den Mensch zwischen Zeit und Ewigkeit) und Praktiken (Romedio Schmitz-Esser zum Umgang mit dem Leichnam im Mittelalter) oder der Reflexion von Zeitlichkeit in unterschiedlichen Sprech- und Schreibweisen vom Ende (Christian Kiening am Beispiel der ›Jedermann‹-Tradition). Sie sind insbesondere auch Ergebnis einer Fülle an Textpraxen, denn divergente Zeiterfahrungen werden auch in den Rekonstellierungen in Überlieferungszusammenhängen (Henrike Manuwald mit einer Relektüre von Cgm 717) und textuellen Transformationen wie kürzender Bearbeitung (Julia Frick zum Erzählen vom Ende in den Fassungen der ›Nibelungenklage‹) oder Übersetzung (Aleksandra Prica über Zeit und Form in der Troja-Literatur) fassbar. Zeitlichkeiten stehen zudem nicht nur in Produktions-, sondern auch in Rezeptionshinsicht mit Praktiken der Textaneignung in Verbindung, etwa in Bezug auf meditative oder performative Teilhabe und Rezeption im Rahmen der Vermittlung von relevantem Heilswissen (Stefan Abel zum Umgang mit der Zeit in Gerards van Vliederhoven ›Cordiale de quatuor novissimis‹; Christian Schmidt zur ›Horologium‹-Tradition; Patrick Nehr zu Zeitsemantiken in Weltgerichtsspielen). Dass die Zeitregimes im Umfeld der Letzten Dinge nicht selbstverständlich, sondern vielmehr äußerst umkämpft sind, wird insbesondere auch dort deutlich, wo sie politische Interessen bedienen (Marcel Bubert zu Zeitsemantiken und Legitimationsstrategien im frühmittelalterlichen Irland; Rike Szill zu Endlichkeitsdiskursen im Kontext der Einnahme Konstantinopels 1453) oder der Geltungsanspruch über die letzten Dinge die dies- und jenseitigen Räume ebenso bestimmt (Katja Weidner zu Gottfrieds von Viterbo ›De Enoch et Helia ubi et quomodo uiuunt‹) wie die diesseitigen kirchenpolitischen Ordnungen im interkonfessionellen Spannungsfeld des 16. Jahrhunderts (Lisa-Marie Richter zur Reflexion von Zeitlichkeit und Ewigkeit in lutherischen Sterbeschriften). Das Augenmerk gilt in den Beiträgen des vorliegenden Bandes daher stets auch den Irritationen und Brüchen in der Darstellung von Zeit, die auf prekäre Erfahrungen von Heterochronie verweisen und Schwellenphänomene indizieren, die für die Analyse von Formen der Bewältigung und Sinnstiftung im Zusammenhang mit Vergänglichkeit von Bedeutung sind. Unser Ansatz soll so auch den Blick öffnen für alternative Zeithorizonte und Sinnbildungsinstanzen jenseits wie auch innerhalb des Rahmens der christlichen Heilslehre. Denn die für das Mittelalter zentralen raumzeitlichen Dichotomien von Endlichkeit/Ewigkeit und Diesseits/Jenseits, so wird in den vorliegenden Beiträgen deutlich, evozieren eine imaginative Vielfalt an Schwellen, Zwischenräumen, Grenzüberschreitungen und Bedeutungsübertragungen, die sich nur in vergleichender Betrachtung

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Einleitung

der verschiedensten Artikulationsformen im Hinblick auf Endlichkeit und Vergänglichkeit ausloten lässt. Dieser Band geht auf eine Tagung der Deutschen Sektion der ›International Courtly Literature Society‹ zurück, die vom 28. bis 30. Juni 2018 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattfand. Wir danken allen Mitarbeiter*innen am Germanistischen Seminar, Abteilung für Ältere Deutsche Literatur, und am Historischen Seminar, Abteilung für die Geschichte des frühen und hohen Mittelalters sowie für Historische Grundwissenschaften, die uns bei dieser Konferenz und bei der Drucklegung des Bandes unterstützt haben: Gabriele Langmaack und Gabriela Wulff-Döbber, außerdem Dr. Stephan Bruhn, Dr. Margit Dahm-Kruse und Rike Szill, M. Ed., haben dankenswerterweise die reibungslose Durchführung der Tagung gewährleistet. Ein besonderer Dank gilt den studentischen Hilfskräften der beiden Abteilungen, die sich um die Organisation der Tagung und die Redaktion des Sammelbandes verdient gemacht haben: Judith Böhm, Julia Böhrk, Mara Dwornik, Philipp Frey, Emma Göttle, Bärbel Grothkopf, Markus Kranz, Catharina Müller-Liedtke, Maline Kotetzki, Sarah-Christin Schröder, Liv Steinebach, Wiebke Witt und Julia Zabrocki. Unseren Dank möchten wir auch den Moderatoren zweier Tagungssektionen, PD Dr. Maximilian Benz (Zürich) und PD Dr. Andreas Hammer (Köln), aussprechen. Zudem sei Marcus Bernhard Martin, M.A., für die Abfassung des Tagungsberichts gedankt. Die zügige Drucklegung verdanken wir Carla Schmidt vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Kiel, im Juli 2019

Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer und Timo Felber

I. Zeit und Ewigkeit

Hans-Werner Goetz

Der Mensch zwischen Zeit und Ewigkeit. Zeitvorstellungen und Umgang mit den letzten Dingen im frühen und hohen Mittelalter

Der Mensch ist animal temporale, ein »zeitliches (und endliches) Wesen«: Er wird geboren und stirbt. Alles andere ist Glaube. Ob den Menschen eine Ewigkeit erwartet, kann man glauben, mehr nicht. »Glaube«, fides, so schreibt der Apostel Paulus (und Hunderte von mittelalterlichen Denkern haben das aufgegriffen und kommentiert), »ist die Substanz (substantia, oder auch: die Existenz, das Wesen, der Inbegriff) des Erhofften und das Argument (oder der Beweis) des nicht Sichtbaren«.1 Glaubend hält man für gewiss, was man gar nicht wissen kann, und das bezieht sich – dem Thema des Sammelbandes gemäß – bezeichnenderweise vor allem auf Künftiges und Jenseitiges. Aber genau auf solchen Glauben kommt es an. Ob es eine Ewigkeit gibt, ist (allzeit) ungewiss. Tatsache ist aber, dass man im Mittelalter fest daran geglaubt hat: Der Mensch ist von Gott für die Ewigkeit erschaffen worden und wäre dort unmittelbar gelandet, wenn Gott nicht diesen leidigen Apfelbaum mitten ins Paradies gepflanzt hätte und es folglich nicht den leidigen Sündenfall gegeben hätte. So aber ist der Umweg durch die Zeit und in der Welt – saeculum ist sozusagen beides: die »Welt-Zeit« – ebenso notwendig wie die göttliche Erlösung durch einen göttlichen Christus, bis das Ende der Zeiten mit dem Jüngsten Gericht naht und die Menschen die ewigen Jagdgründe endgültig erreichen, ob nun im paradiesischen Himmel oder in der höllischen Hölle. Vorstellungen über Zeit, Ewigkeit, Zeitablauf und Ende der Zeiten gehören folglich zu den Kernthemen, aber auch zu den Kernproblemen mittelalterlichen Glaubensdenkens. Das Problematische liegt nicht in der Ungewissheit des Phänomens, sondern im mangelnden Wissen darüber. Der folgende, auf dem Kieler Abendvortrag beruhende Beitrag über explizite mittelalterliche Zeitlichkeitsvorstellungen soll im Rahmen des Konzepts des Sammelbandes einen Überblick über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits, ›letzten Dingen‹ und den Vorbereitungen darauf bieten, um auf diese Weise den Z u s a m m e n h a n g und die Verknüpfungen der (im 1 Hebr 11,1 (in der zumeist zitierten Version): Fides est sperandarum substantia rerum, argumentum non apparentium.

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Hans-Werner Goetz

Einzelnen hinreichend bekannten) Einzelaspekte im vorstellungsgeschichtlichen Gesamtkontext deutlich werden zu lassen.2 Der Überblickscharakter hat zugleich zur Folge, dass die einzelnen Sachverhalte jeweils nur exemplarisch mit wenigen Beispielen untermauert werden können, die sämtlich aus dem frühen und hohen Mittelalter stammen und auch die Frage möglicher Entwicklungen weitgehend zurückstellen. Das Thema wird in fünf Schritten abgehandelt, nämlich als Fragen formuliert: 1. Was ist Zeit im mittelalterlichen Verständnis? 2. Was ist (im Unterschied dazu) Ewigkeit? 3. Welche Verbindungslinien bestehen zwischen Zeit und Ewigkeit? 4. Ist eschatologisches Denken Endzeiterwartung? 5. Was ›geschieht‹ zwischen dem Tod und dem Jüngsten Gericht und welche Auswirkungen haben die eschatologischen Vorstellungen von den letzten Dingen und die Erwartung einer ewigen Zukunft auf das menschliche Verhalten im Diesseits?

I.

Zeit im mittelalterlichen Verständnis3

Im Hinblick auf die Zeit geht es nicht um die Frage des Kirchenvaters Augustin: »Was ist Zeit?«,4 sondern lediglich darum, was man im Mittelalter darunter 2 Um nicht näher ins Detail gehen oder längst Behandeltes noch einmal ausführlicher aufgreifen zu müssen, erlaube ich mir, an entsprechenden Stellen jeweils auf eigene, ältere Arbeiten zu verweisen. 3 Zu mittelalterlichen Zeitvorstellungen vgl. u. a. Werner Sulzgruber: Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert, Hamburg 1995 (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters 4); Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Trude Ehlert, Paderborn [usw.] 1997; Hans-Werner Goetz: Zeitbewußtsein und Zeitkonzeptionen in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: ebd., S. 12–32; Sentimento del tempo e periodizzazione della storia nel medioevo. Atti del XXXI Convegno storico internazionale, Todi 10–12 ottobre 1999, Spoleto 2000 (Atti dei convegni del Centro italiano di studi sul basso medioevo – Accademia Tudertina e del Centro di studi sulla spiritualit/ medievale. Nuova serie 13); Volkhard Huth: Zeit ist mit dem Himmel entstanden. Auf den Spuren archaischer Zeitauffassung, Konstanz 2003 (Konstanzer Universitätsreden 213); ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung, 750–1350, hg. von Miriam Czock/Anja Rathmann-Lutz, Köln [usw.] 2016. Interkulturell: Zeit – Zeitenwechsel – Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen, hg. von Ulrich G. Leinsle/Jochen Mecke, Regensburg 2000 (Schriftenreihe der Universität Regensburg 26). 4 Augustinus: Confessiones 11,14, hg. von Lucas Verheijen, Turnhout 1981 (CCL 27), S. 202: Quid autem familarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? […] quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio. Auch nach langer Diskussion muss Augustin am Ende des elften Buchs der ›Confessiones‹ (Confessiones 11,25, S. 210) bekennen, dass er immer noch nicht weiß, was Zeit ist: et confiteor tibi, domine, ignorare me adhuc, quid sit tempus, et rursus confiteor tibi, domine, scire me in tempore ista

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verstanden hat. Dennoch: »Für Christen ist die Zeit ein Problem«, meint der Theologe Alois Haas5 (das gilt allerdings nicht nur für Christen). Manches ist strittig, aber dass man der Zeit im frühen Mittelalter, als man von den periodischen Zeiteinflüssen weit abhängiger war als heute, weitgehend gleichgültig gegenüberstand, wie Werner Sulzgruber schreibt6 (und sich selbst anhand seiner Behandlung der Zeitmessung in mittelalterlichen Klöstern widerlegt), lässt sich kaum halten. Dass die Zeit mit Sonnen- und Mondjahr und den davon abhängigen Jahresund Tageszeiten nicht ausschließlich ein physikalisches, von den Naturgegebenheiten bestimmtes, sondern auch ein soziales Phänomen ist, ist seit langem bekannt.7 Minuten, Wochen, das Kirchenjahr mit den Festtagen, aber auch die Festlegung von Markttagen oder die Berechnung nach Weltären sind künstliche Zeiteinteilungen, die gesellschaftlichen und religiösen Ansprüchen nachkommen. Der Unterschied zwischen physikalisch-natürlicher und historisch-sozialer Zeit war bereits im Mittelalter bewusst. Beda Venerabilis unterschied zwischen natürlichen, gewohnheitsmäßigen und autoritativ festgelegten Zeitrechnungen (computum temporis).8 Dass Zeit für jeden Betrachter perspektivisch

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dicere et diu me iam loqui de tempore atque ipsum diu non esse diu nisi mora temporis. Zu Augustins Zeitverständnis und dessen Hintergründen aus philosophischer Perspektive vgl. ausführlich Dorothea Günther : Schöpfung und Geist. Studien zum Zeitverständnis Augustins im XI. Buch der Confessiones, Amsterdam/Atlanta 1993 (Elementa. Studien zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 58); Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historische-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 32016 (11993); zu den antiken Grundlagen des augustinischen Zeitverständnisses ebd., S. 109–159; David van Dusen: The Space of Time. A Sensualist Interpretation of Time in Augustine, ›Confessions‹ X to XII, Leiden/Boston 2014 (Supplements to the Study of Time 6); zur textlich-diskursiven Darstellung von Zeitphänomenen: Richard Corradini: Zeit und Text. Studien zum tempus-Begriff des Augustinus, Wien/München 1997 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 33). Alois M. Haas: Mystische Eschatologie. Ein Durchblick, in: Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen/Martin Pickav8, Berlin/New York 2002 (Miscellanea Mediaevalia 29), S. 95–114, hier S. 98. Sulzgruber [Anm. 3], S. 186. Zum soziologischen Zeitverständnis vgl. etwa Norbert Elias: Über die Zeit, hg. von Michael Schröter, Frankfurt a. M. 41992; Zerstörung und Wiederaneignung der Zeit, hg. von Rainer Zoll, Frankfurt a. M. 1988; Was ist Zeit? Zeit und Verantwortung in Wissenschaft, Technik und Religion, hg. von Kurt Weis, München 1995 (dtv 30525); Bernhard Schäfers: Zeit in soziologischer Perspektive, in: Ehlert [Anm. 3], S. 141–154; Kurt Weis: Zeit der Menschen und Menschen ihrer Zeit – Zeit als soziales Konstrukt, in: ebd., S. 155–178. Von geschichtswissenschaftlicher Seite: Ferndinand Seibt: Die Zeit als Kategorie der Geschichte und als Kondition des historischen Sinns, in: Die Zeit (1983), S. 145–188; Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990; Czock/Rathmann-Lutz [Anm. 3]. Zur Rückwirkung auf die mittelalterliche Gesellschaft vgl. Sulzgruber [Anm. 3], S. 74–79. Beda Venerabilis: De temporibus, hg. von Charles W. Jones, Turnhout 1977 (CCL 123B), S. 274: aut enim natura aut consuetudine aut certe auctoritate decurrit. Vgl. dazu Anna-Dorothee von den Brincken: Hodie tot anni sunt – Große Zeiträume im Geschichtsdenken der frühen und

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anders abläuft, wissen wir hingegen erst seit Albert Einstein. Dass eine »Zeit der Kirche« und eine »Zeit der Händler« das Mittelalter zweiteilte, ist seit Jacques Le Goff ebenso bekannt wie strittig.9 Es erscheint mir wenig wahrscheinlich, dass erst die Erfindung der mechanischen Uhren dem Spätmittelalter ein neues Zeitempfinden verleihen konnte,10 sie dürfte vielmehr erst Folge eines entsprechenden Bedürfnisses gewesen sein. Die ›soziale Funktion‹ der Zeit liegt über Berechnungen und Einteilungen des Zeitablaufs hinaus bereits im Verständnis von und im Umgang mit der Zeit. Im mittelalterlichen Verständnis ist Zeit nicht einfach da, sondern mit der Schöpfung geschaffen: »Gott, der selbst keine Geschichte hat, ist deren Urheber und Ziel.«11 Deshalb bezeichnet Notker der Stammler Gott gleich zu Beginn seiner ›Gesta Karoli‹ als »Ordner und Einrichter der Reiche und Zeiten« (rerum dispositor ordinatorque regnorum et temporum).12 Zeit ist demnach ein Phänomen der Schöpfung. Es gibt keine Zeit ohne Kreatur, schreibt Augustin.13 Zeit hat folglich einen Anfang (in der Schöpfung) und ein Ende (mit dem Ende der Welt): »Sie beginnt mit der Welt und endet mit der Welt«, lehrt Honorius Augustodunensis im 12. Jahrhundert.14 Das ist bereits ein wesentlicher Unterschied zum modernen Denken. Zeit bestimmt (ausschließlich und unabänderlich) das i rd i s c h e Geschehen, die Spanne zwischen Schöpfung (bzw. Sündenfall) und Auferstehung bzw. Jüngstem Gericht. Gott selbst unterliegt der Zeit nicht. Auf

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hohen Scholastik, in: Mensura. Maß, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter, Bd. 1, hg. von Albert Zimmermann, Berlin/New York 1983 (Miscellanea Mediaevalia 16), S. 192–211, hier S. 192. Jacques Le Goff: Au Moyen ffge. Temps de l’Pglise et temps du marchand, in: Pour un autre Moyen ffge, Temps, travail et culture en Occident. 18 essais, hg. von dems., Paris 1978, S. 46–65; korrigierend Gerhard Dohrn-Van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München/Wien 1992; Sulzgruber [Anm. 3], S. 44–73 (»Zeit der Kirche«). Der Einfluss des Glockenschlags sei außerhalb der Klöster gering gewesen, meint Sulzgruber ; die Landbevölkerung sei, anders als in der Stadt, ohne die Zeit der Kirche ausgekommen (ebd., S. 76–79). So Sulzgruber [Anm. 3], S. 108. So Wendelin Knoch: Geschichte als Heilsgeschichte, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. von Hans-Werner Goetz, Berlin 1998, S. 19–29, hier S. 21. Notker Balbulus: Gesta Karoli Magni imperatoris 1,1, hg. von Hans F. Haefele, München 2 1980 (MGH SSrG n.s. 12), S. 1. Augustinus: De civitate Dei 12,16, hg. von Bernhard Dombart/Alfons Kalb, Turnhout 1955 (CCL 48), S. 537 (nach der Ausgabe der Bibliotheca Teubneriana, Leipzig 1928): ubi enim nulla creatura est, cuius mutabilibus motibus tempora peragantur, tempora omnino esse non possunt. Honorius Augustodunensis: Imago mundi 2,3, hg. von Valerie I. J. Flint, in: Archives d’histoire doctrinale et litt8raire du Moyen ffge 57 (1982), S. 92: Hoc [tempus] cum mundo incipit et cum mundo desinet. Zur Verschränkung von Zeit und Welt vgl. Czock/RathmannLutz [Anm. 3].

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Erden ist sie hingegen nicht wegzudenken: »Wir lesen, dass alle Zeiten Zeit haben«, schreibt Thietmar von Merseburg.15 Den Beginn von Zeit und Geschichte, die Schöpfung, glaubte man, in Kombination biblischer und profaner Zeitangaben jahr- (und sogar tag-)genau berechnen zu können (wenngleich mit manchen Varianten),16 das Ende war unbestimmt. Vor diesem Hintergrund erhält die Zeit zum einen eine heilsgeschichtliche Funktion (und eine entsprechende Bedeutung für die mittelalterlichen Menschen). In der Zeit verläuft das menschliche Leben ebenso wie das Leben der Menschheit, wie Honorius betont: »Durch die Zeit erstrecken sich die Jahrhunderte; in ihr läuft alles auf dieser Welt ab. Sie bemisst das Leben jedes Menschen.«17 Zum andern ist Zeit begrenzt: durch Anfang und Ende wie auch als durch das Maß der Zeit abgegrenzte Bewegung, innerhalb derer sich das Geschehen abspielt, wie Johannes Scotus Eriugena betont: Zeit ist Prozess und Veränderung.18 Sie impliziert Wandel oder, wie bei Otto von Freising, sogar dauernde Wandelbarkeit (mutabilitas)19 oder, wie bei Honorius, eine Wechselhaftigkeit der Dinge (vicissitudo rerum)20 als Wesenszug alles Irdischen. Das besagt zugleich, dass es sich dabei keineswegs um eine geradlinige Entwicklung handelt. Die frühere Ansicht, dass die Antike ein eher zyklisches, das Mittelalter ein lineares Zeitverständnis gehabt habe, ist seit langem widerlegt:21 In ihrer (linearen) Entwicklung auf das Ende hin ist der Zeitablauf durchweg von Zyklen bestimmt: dem natürlichen Tages- und Jahresablauf, Mondphasen und Sonnenjahr ebenso wie dem künstlichen, sich jährlich wiederholenden Kirchenjahr oder dem (natürlichen) lunisolaren Zyklus von 532 Jahren, der den römischen Mönch Dionysius Exiguus, der danach den Osterzyklus berechnet hat, ›unsterblich‹ gemacht hat: Der Mond kehrt nach 19, die Sonne nach 28 15 Thietmar von Merseburg: Chronicon 1,25, hg. von Robert Holtzmann, Berlin 1935 (MGH SSrG n.s. 9), S. 24: Legimus, quod omnia tempora tempus habent. 16 Der Zeitpunkt der Schöpfung wurde keineswegs einheitlich festgelegt, weil die griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, und die lateinische des Hieronymus, die sogenannte Vulgata, sich in den Zahlen oft erheblich unterscheiden, und schwankt zwischen dem 29. August 5493 vor Christus nach der alexandrinischen Ära und dem 7. Oktober 3761 vor Christus nach der jüdischen Ära. 17 Honorius Augustodunensis [Anm. 14], S. 92f.: per hunc [tempus] extenduntur saecula, sub hoc universa in hoc mundo currunt posita. Hoc uniusquisque vita mensuratur. 18 Vgl. dazu Eva-Maria Engelen: Zeit als Prozeß und Abbild. Der Zeitbegriff bei Johannes Scottus Eriugena, in: Archiv für Kulturgeschichte 76 (1994), S. 35–49. 19 Vgl. Hans-Werner Goetz: Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts, Köln/Wien 1984 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 19), S. 86–98. 20 Honorius Augustodunensis [Anm. 14], S. 93: Tempus autem a temperamento dicitur et nichil aliud quam vicissitudo rerum intelligitur. Vgl. Beda Venerabilis: De temporibus liber 8, hg. von Theodor Mommsen/Charles W. Jones, Turnhout 1980 (CCL 123C), S. 591: Tempora sunt vices mutationum, quibus sol accedendo vel recedendo anni temperat orbem. 21 Vgl. jetzt Czock/Rathmann-Lutz [Anm. 3].

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Jahren, beide gemeinsam nach 19 mal 28 = 532 Jahren zum jeweiligen Ausgangspunkt im Tierkreis zurück. Sigebert von Gembloux korrigiert das Jahr der Schöpfung auf (umgerechnet) 4059 vor Christus, weil die Schöpfung seiner Ansicht nach natürlich nur im Jahr 1 dieses lunisolaren Zyklus erfolgt sein konnte:22 Der natürliche Zeitablauf muss kongruent mit der Schöpfung sein, eben weil die Zeit ein Teil der Schöpfung ist. Was aber ist das Charakteristische der Zeit im mittelalterlichen Verständnis? Schon Augustin hatte betont, dass Zeit stets ein Vorher und Nachher impliziert.23 Nichts i s t (existiert) schon von Beginn, schreibt, das weiterführend, Hugo von St. Viktor im 12. Jahrhundert in seinem Kommentar zum ›Prediger‹ (Ecclesiastes) 3,1 (»Alles hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel vergeht in seiner Dauer«):24 »Es gibt nichts, das für immer und ewig bleibt; vielmehr wird alles, was ist, etwas Anderem folgen, so dass es nicht schon von Beginn an gewesen ist, oder es geht anderem voraus, so dass es nicht bis zum Ende währt. Denn alles hat seine sicher festgelegte Zeit, wann es beginnt und wann es endet.«25

In solchem Verständnis sind nicht nur Zeit und irdisches Dasein, sondern auch Zeit und Geschichte untrennbar miteinander verbunden, wird Zeit nach Hugo von St. Viktor (neben Raum/Ort, Mensch/Person und Geschehen) zu einer der vier konstituierenden Faktoren der ›Geschichte‹ als Kenntnis der Ereignisse:26 22 Sigebert von Gembloux: Chronicon a. 829, hg. von Ludwig Conrad Bethmann, Hannover 1844 (MGH SS 6), S. 338. Zu diesem Jahr vermerkt Sigebert (ebd., S. 338) nämlich, dass der lunisolare Zyklus seit der Schöpfung vor 4888 Jahren nun neunmal vollendet sei (– er hat sich dabei allerdings um 100 Jahre verrechnet). Zu Sigeberts sonstigen Korrekturen (vor allem auch der Geburt Christi und damit dem Beginn der Inkarnationsära) vgl. Hans-Werner Goetz: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin 1999 (22008) (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1), S. 157f. und 204f. Gregor von Tours: Historiae 1,23, hg. von Bruno Krusch/Wilhelm Levison, Hannover 1951 (MGH SS rer. Merov. 1/1), S. 18, betont, dass Christi Auferstehung nur am ersten Wochentag (dem Sonntag) stattgefunden haben kann, weil er dem ersten Schöpfungstag entspricht (und zuerst das Licht sah). 23 Augustinus [Anm. 13], S. 469: quod enim fit in tempore, et post aliquod fit et ante aliquod tempus; post id quod praeteritum est, ante id quod futurum est; nullum autem posset esse praeteritum, quia nulla erat creatura, cuius mutabilibus motibus ageretur. 24 Eccle 3,1: omnia tempus habent et suis spatiis transeunt universa sub caelo. 25 Hugo von St. Viktor : In Ecclesiasten hom. 13 (Migne PL 175), Sp. 206: ›Omnia tempus habent, et suis spatiis transeunt universa sub coelo‹. Omnia tempus habent, ut nihil perpetuum semperque permanens inveniatur : sed omne quod est aut aliud subsequatur, ut non ab initio veniat, aut praecurrat aliud, ut usque ad finem se non extendat. Tempus etiam habent omnia certum et determinatum, quando incipiant et quando finiantur. 26 Ders.: De tribus maximis circumstantiis gestorum (Chronik, prol.), hg. von William M. Green, in: Speculum 18 (1943), S. 491: Tria igitur sunt, in quibus praecipue cognitia pendet rerum gestarum, id est personae, a quibus res gestae sunt, loca, in quibus gestae sunt, et tempora, quando gestae sunt. Ders.: Didascalicon 6,3, hg. von Thilo Offergeld, Freiburg i. Br.

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keine Geschichte ohne Zeit, keine Zeit ohne Handlung, aber alles in planvoller Ordnung: »In der Ereignisfolge findet man die Ordnung der Zeit«, schreibt Hugo.27 Das erste Buch seiner Chronik, so resümiert Regino von Prüm im Rückblick, hat summatim aufzeigen wollen, in welcher Zeit, an welchem Ort und unter welchem Herrscher etwas geschehen ist:28 Das sind zu Beginn des 10. Jahrhunderts also tatsächlich schon die vier Bedingungsfaktoren der Geschichte Hugos von St. Viktor. Geschichtsschreibung, historia, ist daher series rerum gestarum29 ebenso wie series temporum,30 die Ereignisse sind gesta temporum.31 Schon Gregor von Tours betont, dass er seinen Geschichtsbericht strikt nach dem ordo temporum (der Chronologie) ausrichten wolle,32 Ado von Vienne nennt seine von der Schöpfung bis zu den Söhnen Ludwigs des Frommen reichende Chronik geradezu summa temporum33 und ordnet sie nach Reichen und Zeiten.34 Mit solchen Wendungen wird die Verknüpfung von Zeit und Geschehen terminologisch verarbeitet. Ereignisse finden ständig in der Zeit (oder zu be-

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[usw.] 1997 (Fontes Christiani 27), S. 360, fügt dem als vierten Faktor negotium hinzu (, der im vorigen Beispiel aber in den dort zugrunde gelegten res gestae steckt). Ders.: De arca Noe (morali) 4,9, hg. von Patrice Sicard, Turnhout 2001 (CCM 176), S. 113: In serie rerum gestarum ordo temporis invenitur; Otto von Freising: Chronica, Widmungsbrief, hg. von Adolf Hofmeister, Hannover/Leipzig 1912 (MGH SSrG 45), S. 2f. Regino von Prüm: Chronicon 1, hg. von Friedrich Kurze, Hannover 1890 (MGH SS rer. Germ. 50), S. 40: quia sequens libellus […] per eiusdem incarnationis dominicae annos tempora principum et gesta declarat, iste nihilominus, quo tempore, quo in loco vel quid sub unoquoque principe actum sit, summatim demonstret, triumphos quoque sanctorum martyrum et confessorum, quibus in locis vel sub quibus regibus coronam gloriae perceperunt, nominatim aperiat. Vgl. Hugo von St. Viktor [Anm. 27]. Zum Zusammenhang von gesta und tempus vgl. auch Hugo von St. Viktor : De vanitate mundi 2, hg. von Karl Müller, Bonn 1913 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 123), S. 44: Longitudo igitur arcae in tempore est. […] Sive etiam longitudo considerari potest in gestis, hoc est historia. So etwa Hugo von Fleury : Liber qui modernorum regum Francorum continent actus, hg. von Georg Waitz, Hannover 1851 (MGH SS 9), S. 395: Unde liber iste minus quam debet continere videtur. Hinc tamen sciri potest series tenporum et alia plura scitu dignissima. So übersetzt Fredegar : Chronicon 4 prol., hg. von Bruno Krusch, Hannover 1888 (MGH SS rer. Merov. 2), S. 123, den griechischen Begriff chronica ins Lateinische. Gregor von Tours [Anm. 22], S. 36: prosequentes ordinem temporum, mixte confusequae tam virtutes sanctorum quam strages gentium memoramus. Ado von Vienne: Chronicon 1 (Migne PL 123), Sp. 23 A: Horum nos temporum summam ab exordio mundi usque ad imperatoris Lotharii ac Ludovici fratris eius, ac Ludovici et Caroli regnum principatum, quanta potuimus brevitate notavimus, addicentes e latere descendendem lineam temporum, cuius indicio summa praeteriti saeculi cognoscatur. Offenbar hat Ado am Rand eine Zeitschiene angebracht. Ebd.: Breves temporum per generationes et regna […] ediderunt historiam, regnis simul ac temporibus digestam.

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stimmter Zeit) statt: in id tempus, zu dieser Zeit, und sie dauern ad tempus, eine Zeit lang, multa tempora, lange Zeit, oder omni tempore, allzeit.35 Geschichtsschreibung ist folglich reflektierter Umgang mit der Zeit und verlangt nach einer Einordnung des Faktums in den Zeitablauf. In der mittelalterlichen Geschichtsschreibung spielt der Zeitfaktor daher eine ganz besondere Rolle. Der Zeitbezug zeigt sich in der chronologischen Darstellung und in der möglichst exakten chronologischen Zuordnung der Ereignisse, in Zeittabellen sowie in der Abfolge von Epochen. Die ›Annales regni Francorum‹ beenden jeden Jahresbericht stereotyp mit den Worten: Et (in)mutavit se numerus annorum in (und dann folgt die neue Jahreszahl). Charakteristisch sind vor allem Zeitberechnungen: Zeit, so Beda und danach Honorius, leite sich von temperamentum ab.36 Zeit ist Zeitmaß und verlangt geradezu nach Zeitmessung und Zeitberechnung.37 (Nach Aristoteles ist Zeit das Maß der Bewegung von einem Vorher zu einem Nachher.38) Wenngleich man in der Praxis nicht einmal die Stunden genau messen konnte, unterteilte man sie in der Theorie bis zu ihren kleinsten Teilen, den Atomen, als einem 22560stel einer Stunde (gut einem Sechstel einer Sekunde).39 Zur zeitlichen Zuordnung der Fakten als einem zentralen Anliegen der Chronistik40 schuf man Datierungssysteme (Weltären, später durchgängig Inkarnationsjahre, aber auch Regierungsjahre), berechnete die abgelaufene Zeit und korrigierte die Zeitsysteme.41 Als Beispiel für die Berechnung der abgelaufenen Zeit mag exemplarisch Gregor von Tours dienen, der (an

35 Zum Frühmittelalter : Hans-Werner Goetz: Historiographisches Zeitbewusstsein im frühen Mittelalter. Zum Umgang mit der Zeit in der karolingischen Geschichtsschreibung, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. von Anton Scharer/Georg Scheibelreiter, Wien/ München 1994 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), S. 158–178. 36 Beda Venerabilis: De temporum ratione 2, hg. von Charles W. Jones, Turnhout 1977 (CCL 123B), S. 274: Tempora igitur a ›temperamento‹ nomen accipiunt, siue quod unumquodque illorum spatium separatim temperatum sit, seu quod momentis, horis, diebus, mensibus, annis saeculisque et aetatibus omnia mortalis uitae curricula temperentur. Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,3 [Anm. 14], S. 93. 37 Zur mittelalterlichen Zeitmessung: Borst [Anm. 7]; Sulzgruber [Anm. 3], S. 31–44. 38 Aristoteles: Physik 4,11, in: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur, Bd. 1, hg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987 (Philosophische Bibliothek 380), S. 208–216 (zusammenfassend S. 216). Vgl. dazu Ursula Coope: Time for Aristotle. Physics IV,10–14, Oxford 2008 (12005) (Oxford Aristotle Studies), S. 47–109. 39 Vgl. Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,4–10 [Anm. 14], S. 93f. 40 Zu hochmittelalterlichen Weltchroniken vgl. Fabian Schwarzbauer : Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising, Berlin 2005 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6). Zu Formen der Jahreszählung und Unterteilung vgl. von den Brincken [Anm. 8]. 41 Vgl. dazu Goetz [Anm. 3], S. 22–24; ders. [Anm. 22], S. 156–159.

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mehreren Stellen) die Dauer der Weltalter aufführt (dafür hatte er Vorbilder und Vorlagen),42 das seit Christi Geburt dann aber selbstständig weiterführt: Adam @ Noah Noah @ Abraham Abraham @ Exodus Exodus – Tempelbau Tempelbau – Babylon.Gefangenschaft Babylon. Gefangenschaft @ Christi Geburt

10 Generationen 10 Generationen 14 Generationen 14 Generationen

2242 Jahre 942 Jahre 462 Jahre 480 Jahre 390 Jahre 668 Jahre

Passion Christi @ Tod Martins Tod Martins @ Tod Chlodwigs Tod Chlodwigs @ Tod Theudeberts Tod Theudeberts @ Tod Sigiberts

412 Jahre 112 Jahre 37 Jahre 29 Jahre

Summe bis zum Ende der Chronik (a. 591)

5774 Jahre43 5792 Jahre44

Abb. 1: Übersicht über Art und Dauer der wichtigsten mittelalterlichen Epochengliederungen

42 Gregor zählt, der Chronik des Hieronymus folgend, die Zeit jeweils im ersten Buch in den entsprechenden Kapiteln und dann noch mehrmals; vgl. Gregor von Tours, Historiae 4,51 [Anm. 32], S. 189f.; 10,31, S. 537, mit unterschiedlichen Grenzen, aber jeweils kongruenten Zahlenangaben. 43 So ebd., 4,51, S. 190. 44 So ebd., 10,31, S. 537, im 21. Jahr seines eigenen Pontifikats, im 19. Jahr Childeberts II.

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Der Zeitablauf wurde dadurch zugleich strukturiert mittels einer (ganz unterschiedlichen) Perioden- und Epochenbildung (Abb. 1):45 Hugo von St. Viktor unterscheidet grundsätzlich das opus conditionis (das Schöpfungswerk) vom opus restaurationis (der irdischen Wiederherstellung) und unterteilt letzteres (wie auch andere) »in drei Zeiten« (tria tempora) des Naturgesetzes (der Patriarchen), des Schriftgesetzes (seit Moses: Propheten) und der Gnade (seit Christus: Apostel).46 Gut bekannt sind die Weltalterlehre mit sechs aetates47 (wie bei Gregor, aber schon seit Augustinus mit Vorläufern)48 oder die Weltreichslehre der vier Weltreiche (nach Daniels Deutung des Traumes Nebukadnezars von der vierteiligen Statue aus verschiedenen, immer wertloser werdenden Metallen); nach Hieronymus sind das in der Regel Assyrer, Meder/Perser, Griechen (Makedonier) und Römer.49 Da das Himmelreich noch auf sich warten lässt, so Rupert von Deutz, herrschten zwischenzeitlich die Weltreiche.50 Die christliche Zeit (die sechste aetas) ließ sich noch einmal in die Epochen der Kirchengeschichte untergliedern: Christus und die Apostel, Tyrannen/Märtyrer, Häretiker/Bekenner, Heuchler/Fromme.51 Wichtig in unserem Zusammenhang ist es nun, dass alle Systeme am Ende der Zeiten zur Ewigkeit überleiten: Das vierte, römische Reich wird das letzte irdi45 Vgl. u. a. Ovidio Capitani: Storiografia e periodizzazione nel medioevo, in: Sentimento del tempo [Anm. 3], S. 1–17; Hans-Werner Goetz: Gottes Geschichtshandeln in der früh- und hochmittelalterlichen Vorstellungswelt, in: Gott in der Geschichte. Zum Ringen um das Verständnis von Heil und Unheil in der Geschichte des Christentums, hg. von Mariano Delgado/Volker Leppin, Fribourg/Stuttgart 2013 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 18), S. 131–157, hier S. 146–156. 46 Vgl. Hugo von St. Viktor : De sacramentis Christianae fidei 1,8,11, hg. von Rainer Berndt, Münster 2008 (Corpus Victorinum. Textus historici 1), S. 203f. (= Migne PL 176, Sp. 313); Honorius Augustodunensis: Sacramentarium 1 (Migne PL 172), Sp. 739 BC; ebd., 37, Sp. 771 C. 47 Roderich Schmidt: Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1955/56), S. 288–317. 48 Vgl. dazu Karl-Heinz Schwarte: Die Vorgeschichte der augustinischen Weltalterlehre, Bonn 1966 (Antiquitas Reihe 1,12); Reinhard Häussler : Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs, in: Hermes 92 (1964), S. 313–341. 49 Eine andere, weniger aufgegriffene Deutung bietet Orosius: Assyrer, Griechen, Karthago, Römer. 50 Rupert von Deutz: De victoria verbi Dei 6,11, hg. von Rhaban Haacke, Weimar 1970 (MGH QGG 5), S. 194: Quantam enim putas illos habuisse mestitiam et cordis lassitudinem quam suspiriosam, cum uiderent tardare regnum Dei et interea regna mundi caputque regnorum regnum Babylonis quasi sub sole matutino paratis residere in soliis et subsilire in curribus et in equis? 51 Vgl. etwa Anselm von Havelberg: Dialogi 1,1–13 (Migne PL 188), Sp. 1141–1159. Vgl. Wolfgang Beinert: Die Kirche – Gottes Heil in der Welt. Die Lehre von der Kirche nach den Schriften des Rupert von Deutz, Honorius Augustodunensis und Gerhoch von Reichersberg. Ein Beitrag zur Ekklesiologie des 12. Jahrhunderts, Münster 1973 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N. F. 13), S. 321–350.

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sche Reich sein (dem das himmlische folgt); der sechsten aetas folgt in manchen Schemata konsequent eine siebte, die Endzeit, und ebenso werden die Epochen der Kirchengeschichte ausgedeutet, an deren Ende, etwa bei Anselm von Havelberg, Ruhe, Antichrist, Ewigkeit stehen. Der Zeitablauf ist keine willkürliche, sondern eine gezielt teleologische Entwicklung: etwa von den Weltreichen zu Rom, zum christlichen Rom, zum abendländischen Kaisertum und schließlich zur Endzeit. Solche Periodisierungen spiegeln in sich zugleich ein Bewusstsein des Wandels in der Geschichte wider, der sich jedoch in einer erkennbaren Ordnung vollzieht.52 Ein letzter, wichtiger Aspekt der Zeit ist schließlich deren Dreiteilung in Ve r g a n g e n h e i t , G e g e nw a r t u n d Z u k u n f t . Nur die Gegenwart, so schon Augustin, sei existent; die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft noch nicht.53 Tatsächlich ist fast nichts gegenwärtig, betont auch Alkuin; beim Sprechen eines zweisilbigen Wortes ist die zweite Silbe noch künftig, wenn man die erste ausspricht, und die erste bereits vergangen, wenn man die zweite ausspricht.54 In so engen Grenzen kann Geschichtsschreibung nicht operieren. In der Chronistik gibt es tatsächlich keine klare Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Gegenwart:55 Die Vergangenheit kann weit zurückliegen, sich aber auch auf das vergangene Jahr (anno praeterito) oder sogar den gestrigen Tag (praeterito die) beziehen, die Gegenwart umgekehrt weit in die Vergangenheit zurückreichen. Für Notker ist bereits die Zeit Karls des Großen vergangen.56 52 Guy Lobrichon: L’ordre de ce temps et les d8sordres de la fin. Apocalypse et soci8te8 du IXe / la fin du XIe siHcle, in: The Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages, hg. von Werner Verbeke [u. a.], Leuven 1988 (Mediaevalia Lovaniensia ser. I, studia 15), S. 221–241, spricht von »der Ordnung der Zeit und der Unordnung ihres Endes«. 53 Augustinus, Confessiones 11,15 [Anm. 4], S. 203f.: praeteritum enim iam non est et futurum nondum est; 11,28, S. 213f. 54 Alkuin: ep. 163, hg. von Ernst Dümmler, Berlin 1895 (MGH Epp. 4), S. 265: Legimus enim tria tempora esse, id est praeteritum, praesens, vel futurum; sed pene nihil nobis praesens sit, sed omnia praeterita et futura. Verbum enim cum dico, priorem dum dixi syllabam, posterior futura fuit: et dum posteriorem dico, praeteriit prior. 55 Zu den Begriffen und ihrem Gebrauch Hans-Werner Goetz: Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte, Vergangenheitswahrnehmung in früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsdarstellungen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. von Christina Jostkleigrewe [u. a.], Köln [usw.] 2005 (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), S. 171–202, hier S. 178–187; ders.: Vergangenheit und Gegenwart. Mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der frühund hochmittelalterlichen Historiographie, in: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter, hg. von Hartmut Bleumer [u. a.], Köln [usw.] 2010, S. 157–202. Zur Häufigkeit verschiedener Zeitbegriffe ebd., S. 167 Anm. 38. Unbestimmte Zeitbegriffe überwiegen bei weitem. 56 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni imperatoris 1,10 [Anm. 12], S. 12, bietet eine Erzählung aus Karls Zeiten, die nostri temporis hominibus kaum mehr glaubhaft erscheint (nämlich über den großen Unterschied zwischen römischem und fränkischem Gesang, den Karl vereinheitlicht hat).

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Notkers eigenwillige Interpretation des Daniel-Gleichnisses57 lässt mit Karl dem Großen das römische Weltreich quasi beendet sein und sieht mit dem goldenen Haupt einer zweiten Statue im Westen eine neue Epoche beginnen, die doch zugleich die frühere fortsetzt. Für Regino von Prüm ist die ganze christliche Geschichte (seit Christi Geburt) nostrum tempus, und er hebt sie schon im Prolog von den »Tagen« (res in diebus suis gestas) der Hebräer, Griechen und Römer ab, denen er eine Chronik der eigenen Zeit und der Zeit der Vorfahren (de nostris et antecessorum nostrorum temporibus) entgegensetzen will.58 Die Zeit seit Christi Geburt ist ihm, der eine dezidiert christliche Chronik schreiben will, also identifizierend »unsere Geschichte«, deren älterer Teil offenbar »die Zeit unserer Väter«. Davon hebt er wenig später noch einmal presentia tempora als Lebenszeit seiner Zeitgenossen ab (da will er sich im Stil mäßigen, um niemanden zu beleidigen).59 Regino hat demnach zwei (oder sogar drei) Gegenwartsbegriffe: einerseits die ganze christliche Zeit (das schließt die Väter ein), andererseits die davon abgehobene, jüngste Gegenwart, die sich wiederum eingliedert in die eigene nachrömisch-fränkische Geschichte. Historiographisch gesehen hat die Vergangenheit kein klares Ende, die Gegenwart keinen eindeutigen Beginn. Vergangenheit, das ist irgendwann vor der Gegenwart,60 je nach Perspektive vor langer oder recht kurzer Zeit.61 Beide stehen relativ zueinander, greifen ineinander über und sind nicht einfach durch zeitliche Fixierung, sondern durch politischen Wandel (neue Reiche) unterschieden.62 Entscheidender ist deshalb die ständige Verknüpfung und Parallelisierung von Vergangenheit und Gegenwart mit typologischen Vergleichen (neuer Konstantin, neuer Herodes etc.): Otto Gerhard Oexles »Gegenwart der Toten«63 gilt

57 Ebd., 1,1, S. 1–3; vgl. dazu Hans-Werner Goetz: Strukturen der spätkarolingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpretation der ›Gesta Karoli‹ Notkers von St. Gallen, Bonn 1981, S. 69–85. 58 Regino von Prüm, Chronicon prol. [Anm. 28], S. 1: Indignum etenim mihi visum est, ut, cum Hebreorum, Grecorum et Romanorum aliarumque gentium historiographi res in diebus suis gestas scriptis usque ad nostram notitiam transmiserint, de nostris quamquam longe inferioribus temporibus ita perpetuum silentium sit, ut quasi in diebus nostris aut hominum actio cessaverit aut fortassis nil dignum, quod memoriae fuerit commendandum, egerint aut, si res dignae memoratu gestae sunt, nullus ad haec litteris mandanda idoneus inventus fuerit, notariis per incuriam otio torpentibus. Hac itaque de causa non passus sum tempora patrum nostrorum et nostra per omnia intacta preterire. 59 Ebd. Er werde ausführlicher, schreibt Regino noch einmal zum Jahr 813, sobald er ad nostra tempora gelange (ebd., a. 813, S. 72). 60 Vgl. Goetz, Vergangenheit und Gegenwart [Anm. 55], S. 170. 61 Ebd., S. 174. 62 Vgl. ebd., S. 176–183. 63 Otto Gerhard Oexle: Die Gegenwart der Toten, in: Death in the Middle Ages, hg. von Herman Braet/Werner Verbeke, Leuven 1983 (Mediaevalia Lovaniensia I,9), S. 19–77.

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nicht nur für die Totenmemoria, sie ist ein wesentlicher Faktor mittelalterlichen Geschichtsbewusstseins.64 Ähnliches gilt auch für die Z u k u n f t . Schließlich denkt und handelt der Mensch eigentlich immer auch für die Zukunft. Während Vergangenheit wie auch Gegenwart zentrale Faktoren der Geschichtsschreibung sind, spielt die (irdische) Zukunft hier allerdings nur eine geringe Rolle und bleibt in der Regel ausgeblendet (oder, weit häufiger, beschränkt sich in der Rückschau auf eine ›vollendete Zukunft‹). Das gilt auch für die Forschung:65 Nur Prophetien und Vorsorge spielen hier eine gewisse Rolle.66 Vor kurzem ist nun Hans Christian Lehner der Frage nach »Vorhersagbarkeit von Zukünftigem in der hochmittelalterlichen Historiografie« nachgegangen67 und hat hier zwar mancherlei Vorhersagen und Prophetien, auch aktuelle Anwendungen biblischer Prophetien, Vorzeichen, Orakeldeutungen – bei Helmold und anderen sind das allerdings heidnische Bräuche –, Visionen und Träume, Erscheinungen, Weissagungen, Naturphänomene (Himmelsphänomene, Wetter, Hungersnöte, Erdbeben, Seuchen etc.) und Wunder ausfindig gemacht68 (und auch begrifflich unterschieden)69 und im Ergebnis eine »hohe Dichte an Berichten, die das Zukünftige und dessen Vorhersagbarkeit betreffen«, festgestellt.70 In der Chronistik sind das allerdings ausnahmslos Ereignisse, die zur Abfassungszeit längst eingetroffen waren und daher leicht eine entsprechende Deutung erlaubten: Der Chronist selbst musste kein Prophet mehr sein. Zukunftsprognosen71 sind hier gewis64 Vgl. dazu Hans-Werner Goetz: Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 255 (1992), S. 61–97 (abgedruckt in ders.: Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. von Anna Aurast [u. a.], Bochum 2007, S. 453–476). 65 Vgl. ders. [Anm. 22], S. 238–242. In dieser Monographie über die hochmittelalterliche Geschichtsschreibung ist das »zukunftsorientierte Geschichtsbewusstsein« am kürzesten dargestellt. 66 Vgl. Medieval Futures. Attitudes to the Future in the Middle Ages, hg. von J. A. Burrow/Ian P. Wei, Woodbridge 2000 (die genannten Schlagwörter entsprechen hier den Sektionsüberschriften). 67 Hans Christian Lehner : Prophetie zwischen Eschatologie und Politik. Zur Rolle der Vorhersagbarkeit von Zukünftigem in der hochmittelalterlichen Historiografie, Stuttgart 2015 (Historische Forschungen 29). Zu Prophetien und Zukunftsdeutungen bei Matthaeus Paris im 13. Jahrhundert vgl. Björn Weiler : History, Prophecy and the Apocalypse in the Chronicles of Matthew Paris, in: English Historical Review 133 (Heft 561) (2018), S. 253–283, der zugleich aber feststellt, dass Matthäus eher zurückhaltend bei der Deutung solcher Prognostiken war. Zur Einbeziehung der Zukunft in die Gegenwart als Offenbarung vgl. Miriam Czock: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Konstruktionen von Zeit zwischen Heilsgeschichte und Offenbarung, in: Czock/Rathmann-Lutz [Anm. 3], S. 113–133. 68 Vgl. zusammenfassend Lehner [Anm. 67], S. 196–209. 69 Zusammenfassend ebd., S. 229f. 70 So ebd., S. 195. 71 Zu (nicht-eschatologischen) frühmittelalterlichen Zukunftsprognosen (am Beispiel von Dhuoda, Atto von Vercelli und Thietmar von Merseburg) vgl. Barbara Schlieben: Zum Zu-

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sermaßen Zukunftsretrognosen. Nirgends wird auch die Vergangenheitskenntnis zur Kenntnis der säkularen Zukunft angewandt. Zukunft ist im Wesentlichen Eschatologie.72 Ein regelrechter Ausblick auf die Endzeit wie im achten Buch der Chronik Ottos von Freising (als exegetische Ausdeutung des Wissens darüber) bleibt dennoch eine historiographische Ausnahme. Bevor das Endzeitproblem näher betrachtet wird, ist zunächst noch nach den Vorstellungen von der Ewigkeit, dem Gegenpol der Zeit, zu fragen.

II.

Ewigkeit im mittelalterlichen Verständnis

Zeit und Ewigkeit bilden zunächst einmal absolute Gegensätze. Volkhard Huth hat das geradezu als »das Grundcharakteristikum der abendländischen Metaphysik« bezeichnet.73 So setzt Hugo von St. Viktor seine Bemerkungen über die Zeit im Predigerkommentar74 folgendermaßen fort: »Die Ewigkeit aber ist außerhalb der Zeit, sie kennt keine Veränderung, in ihr gibt es kein Damals wie bei der Zeit, sondern was sein wird, wird so sein, dass es nicht zeitweilig anders und wieder anders sein kann, sondern sein wird, wie es immer sein wird. […] In der Zeit aber kann es keine Ewigkeit geben, weil die Ewigkeit erst einst nach den Zeiten kommt. […] Zeit eignet dem an, das Anfang und Ende hat, die Ewigkeit aber dem, das weder Anfang noch Ende hat.«75

Hugos ambivalenter ›Versprecher‹ bzw. Widerspruch ist bezeichnend: Ewigkeit ist immer da, kommt aber erst nach den Zeiten. Eines ist göttliche, das andere menschliche Erfahrung. »Ewig, das heißt immerwährend; keinen Anfang und kein Ende haben«, schreibt auch Richard von St. Viktor,76 und Hildegard von Bingen bestätigt:

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sammenhang von Gegenwartsbetrachtung und Prognose im Frühmittelalter, in: Mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes. Forming the Future, Facing the End of the World in the Middle Ages, hg. von Felicitas Schmieder, Köln [usw.] 2015 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 77), S. 33–52. Vgl. zur Historiographie zusammenfassend Lehner [Anm. 67], S. 214–216. Ein konkreter Termin wird bezeichnenderweise nie benannt. Die Voraussagen betreffen politische Ereignisse, Bedrängnisse der Kirche(n) oder Einzelschicksale (zusammenfassend ebd., S. 217– 219). Huth [Anm. 3], S. 13. Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten hom. 13 [Anm. 25], Sp. 206. Ebd., Sp. 207f.: Extra tempora enim aeternitas erit, et mutabilitas non erit: et non erit ibi tunc, omnia tempus habent; sed omne quod erit, sic erit, ut pro tempore aliud et aliud esse non possit, sed quod erit semper erit. […] Non enim potest in tempore aeternitatem invenire, quia post tempora tunc demum venit aeternitas. […] quod tempus est illi, quod principium habet et finem; et ipsum aeternitas illi, quod nec principium habet nec finem. Richard von St. Viktor : De trinitate 2,2, hg. von Jean Ribaillier, Paris 1958 (Textes philosophiques du Moyen ffge 6), S. 109: Nam hoc est sempiternum esse, carere initio et fine.

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»Und wie die Ewigkeit Gottes vor dem Anfang der Welt keinen Anfang hatte, so wird sie auch nach deren Ende durch kein Ende abgeschlossen; vielmehr werden Anfang und Ende der Welt wie in einem umfassenden Kreis zusammengeschlossen.«77

Das irdische Dasein selbst wird hier zu einem einzigen zeitlichen Zyklus im Rahmen des ewigen Seins (aber ohne irdischen Neubeginn). Ewigkeit ist zunächst eine Eigenschaft Gottes, der Engel, des Himmels, des Jenseits sowie der Menschen nach dem Jüngsten Gericht. Da Engel und Menschen aber geschaffen wurden, also einen Anfang haben, unterscheiden manche Autoren (wie Hugo von St. Viktor78 oder Honorius Augustodunensis79) zwei Ewigkeitsbegriffe: die göttliche Ewigkeit ohne Anfang und Ende (aeternitas bei Hugo, evum bei Honorius) und die Dauerhaftigkeit der Engel und Menschen mit einem Anfang, aber ohne Ende (perpetuus bei Hugo, tempora aeterna bei Honorius) und heben davon die Zeitlichkeit mit Anfang und Ende (auf Erden) ab. ›Ewig‹ ist eines der üblichen Attribute Gottes, sine tempore aeternus, schreibt Ermenrich von Ellwangen (wie Gott auch sine qualitate bonus, sine quantitate magnus oder sine loco ubique totus ist);80 Ewiges ist entsprechend unveränderlich (incommutabilis).81 Im Ewigen vergeht nichts. Zeit und Ewigkeit sind gar nicht vergleichbar, schreibt Augustin: Zeit, das sind viele, kleine Zeitspannen. »Im Ewigen aber geht nichts voraus, dort ist das Ganze gegenwärtig, während keine Zeit ganz gegenwärtig ist.«82 Die Ewigkeit kennt folglich auch nicht drei Zeiten; in ihr fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Ewigkeit ist gewissermaßen dauernde Gegenwart.83 »Nichts ist ihm [Gott] zukünftig, als würde es noch geschehen; noch ist es vergangen, als wüsste er, dass es geschehen 77 Hildegard von Bingen: Liber divinorum operum 3,5,2, hg. von Albert Derolez/Peter Dronke, Turnhout 1996 (CCM 92), S. 407: quoniam sicut eternitas ante principium mundi inicio caret, sic etiam finito mundo finem non habet, sed principium et terminus mundi quasi uno circulo comprehensionis concluduntur. 78 Hugo von St. Viktor : Didascalicon 1,6, hg. von Thilo Offergeld, Freiburg i. Br. [usw.] 1997 (Fontes Christiani 27), S. 130. 79 Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,1–3 [Anm. 14], S. 92. 80 Ermenrich von Ellwangen: Epistola ad Grimaldum abbatem (ep. 31), hg. von Ernst Dümmler, Berlin 1899 (MGH Epp. 5), S. 570f. 81 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,10 [Anm. 13], S. 330. 82 Ders., Confessiones 11,13 [Anm. 4]: non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens; nullum vero tempus totum esse praesens. 83 Ebd.: et uideat omne praeteritum propelli ex futuro et omne futurum ex praeterito consequi et omne praeteritum ac futurum ab eo, quod semper est praesens, creari et excurrere? Vgl. ders., De civitate Dei 11,21 [Anm. 13], S. 489 (BT): Non enim more nostro ille vel quod futurum est prospicit vel quod praesens est aspicit vel quod praeteritum est respicit. […] Ille quippe non ex hoc in illud cogitatione mutata, sed omnino incommutabiliter uidet; ita ut illa quidem, quae temporaliter fiunt, et futura nondum sint et praesentia iam sint et praeterita iam non sint, ipse uero haec omnia stabili ac sempiterna praesentia conprehendat; […] quoniam non sicut nostra, ita eius quoque scientia trium temporum, praesentis uidelicet et praeteriti uel futuri, uarietate mutatur, apud quem non est inmutatio nec momenti obumbratio.

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ist, sondern alles Künftige und Vergangene sieht er in unveränderlicher Sicht als gegenwärtig«, schreibt Honorius,84 »er sieht das Vergangene, das Gegenwärtige, das Künftige gewissermaßen gleichzeitig vor sich«.85 Für den Menschen sind das Vergangenheit und Zukunft, tatsächlich sind sie dauerhaft existent. Man kann Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit zusammenfassend also als eine einzige Zusammenstellung von Gegensätzen beschreiben: Diesseits Zeit Anfang und Ende Wandelbarkeit Raumgebundenheit Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Geschichtlichkeit

Jenseits Ewigkeit ohne Anfang, ohne Ende Unwandelbarkeit Unbegrenztheit ewige Gegenwart Geschichtslosigkeit

Man kann ergänzen (und erfasst damit ein mittelalterliches Grundproblem): Letztlich ist es unmöglich, das Ewige zu beschreiben. Die Abgrenzung der Ewigkeit von der Zeit ist in der Negation missverständlich: Das Ewige ist sozusagen ›negative Chronologie‹ parallel zu ›negativer Theologie‹. Da man Gott nicht fassen kann, beschreibt man ihn aus irdischen Erfahrungen danach, was er n i c ht ist (nämlich in Abhebung vom Irdischen); da man ›Ewigkeit‹ nicht fassen kann, beschreibt man sie nach irdischen Erfahrungen danach, was sie n i c ht ist, also was sie von der Zeit unterscheidet. So heißt es in der Vita des Bischofs Benno II. von Osnabrück: »Dort könne kein Seufzer des Herzens, kein leiblicher Schmerz, keine Furcht vor dem Tod die Liebe derer trüben, die einander sehen. Das Erdenleben sei, auch wenn Christi Menschlichkeit versöhnt und durch göttlichen Befehl geheiligt sei, dennoch übervoll von Schmerzen und voller Wehmut wegen des gegenwärtigen Leidens geliebter Menschen, mehr aber noch voller Angst und Schrecken wegen den Gedankens an den eigenen Tod.«86

84 Honorius Augustodunensis: Inevitabile (Migne PL 172), Sp. 1204 C: Deus omnia praescivit; et hoc aeternitati eius congruit, qui nihil futurum quasi fiendum nec aliquid praeteritum quasi transactum novit; sed omnis fienda et transacta immutabili intuitu praesentia inspicit. Vgl. auch Alkuin, ep. 113 [Anm. 54], S. 163: Bei Gott ist alles Künftige bereits geschehen (licet dispensationis Dei ignari, apud quem omnia futura iam facta sunt). 85 So Honorius Augustodunensis: Elucidarium 1,13/15, hg. von Yves LefHvre, Paris 1954 (BibliothHque des Pcoles FranÅaises d’AthHnes et de Rome 180), S. 363: omnia praeterita praesentia et futura quasi coram posita prospiciat. 86 Vita Bennonis archiepiscopi Osnabrugensis 38, hg. von Roger Wilmans, Hannover 1856 (MGH SS 12), S. 81: ubi nullus gemitus cordis aut corporis dolor et mortis formido videntium sese posset turbare amorem; hanc etsi conciliaret humanitas et dominico esset sancita praecepto, plenissimam tamen esse doloribus, nec tam praesenti charorum cruciatu moestissimam, quam de propriae quoque mortis quandoque recordatione horridissimam.

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Für den Menschen bedeutet Ewigkeit (im Jenseits) den vollendeten Zustand (perfectio), sie ist »ewiger Friede«, »ewige Seligkeit«, »ewiger Ruhm« und anderes mehr. Sie ist nicht zuletzt Gottesschau (visio Dei),87 Gemeinschaft der Seligen mit Gott: Die Erlösten sehen, was man zuvor nur glauben konnte88 (gemäß dem eingangs erwähnten mittelalterlichen Glaubensbegriff nach Paulus).89 Schön (augustinisch) zusammengefasst sind die Gegensätze in einem Brief Alkuins von 799 an Karl den Großen.90 Karl hatte den Gelehrten gefragt: Welcher Unterschied besteht zwischen ewig (aeternus), immerwährend (sempiternus), dauernd (perpetuus) und unsterblich (immortalis), zwischen Weltzeit (saeculum), Ewigkeit (aevum) und Zeit (tempus)?91 Aevum, so Alkuins Antwort, ist der Ewigkeit, saeculum der Zeit zuzuordnen.92 Dabei verweist Alkuin auf grammatische und inhaltliche Unterschiede, Mehrdeutigkeiten und Überschneidungen der Begriffe: Ewig und unsterblich ist nicht das Gleiche – alles Ewige ist unsterblich, aber nicht alles Unsterbliche ist rechtmäßig auch als ewig und unwandelbar zu bezeichnen. Die Seele des Menschen etwa ist unsterblich, kann sich aber vom Schlechteren zum Besseren oder vom Besseren zum Schlechteren oder vom Schlechteren zum noch Schlechteren oder vom Besseren zum noch Besseren wandeln.93 Wahrhaft unveränderlich und ewig im eigentlichen Sinn ist nur

87 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2,18,16 [Anm. 46], S. 596–598 (= Migne PL Sp. 613f.); Honorius Augustodunensis, Elucidarium 3,76 [Anm. 85], S. 462; Otto von Freising, Chronica 8,33 [Anm. 27], S. 451–454. 88 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2,18,17 [Anm. 46], S. 598f. (= Migne PL Sp. 614–616), zum Unterschied von Glauben und Wissen. 89 Vgl. Hebr 11,1 [Anm. 1]. 90 Alkuin, ep. 163 [Anm. 54], S. 263–265. Kurz zu Alkuins Zeitvorstellungen auch Udo Reinhold Jeck: Zeitkonzeptionen im frühen Mittelalter – Von der lateinischen Spätantike bis zur karolingischen Renaissance, hg. von Ehlert [Anm. 3], S. 179–202, hier S. 191–198. Konkrete Hinweise, dass Alkuin die ›Confessiones‹ Augustins bekannt waren, gibt es allerdings nicht. 91 Alkuin, ep. 163 [Anm. 54], S. 263: Haec ergo est interrogatio, quae nobis ab eodem adlata est; scilicet: quid sit inter aeternum et sempiternum; et perpetuum et inmortale; et saeculum, et aevum, et tempus? Alkuin gibt zunächst eine grammatisch-etymologische Erklärung: sempiternus ist zwar gleichbedeutend mit aeternus, begrifflich aber zusammengesetzt aus semper und aeternus; perpetuus kommt von perpes und meint ständig, durch nichts unterbrochen, etwas, das immer noch in der gleichen Weise fortbesteht, in der es existiert. 92 Ebd.: Inter aevum et saeculum ita discerni potest, quod aevum quiddam aeternum potest intellegi, saeculum vero temporale aliquid. 93 Ebd.: Ideo omne aeternum potest dici et sempiternum; et converso ordine omne sempiternum et aeternum. […] Inter aeternum autem et inmortale hoc distare videtur, quod omne aeternum inmortale; non tamen omne inmortale aeternum recte dicitur. […] Sed modo videamus horum distantiam nominum. Inmortalis enim illa dicitur natura, quae mori non potest, non tamen semper inmutabilis, id est quae inmutari non possit, sicut anima humana, quae inmortalis creata est, sed inmutabilis procul dubio non est, quia de peiore in melius vel de meliore in peius vel de peiore in peius vel de meliore in melius mutari potest.

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Gott, der einzig immer ist, was er ist,94 der weder Vergangenheit noch Zukunft kennt,95 für den nichts vergangen, sondern alles gegenwärtig ist.96 Was hingegen veränderlich ist, stirbt als das, was es ist, während es gleichzeitig beginnt, etwas anderes zu sein, als es war.97 Saeculum und tempus haben gemeinsam begonnen und sind dauernder Veränderung unterworfen, saeculum ist aber auch die Ordnung, nach der alles abläuft und in der sich die Zeit auf ihrem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft entwickelt,98 während saeculum saeculorum wiederum geradezu Gottes Ewigkeit vor, in und nach allen Zeiten bezeichnet.99 Nun steht in der Bibel aber auch: »Vor allen Zeiten ewig« (Rom 16,25; 1. Tim 1,9). Wie das?, fragt Alkuin. Zeit ist doch nur in Geschöpfen und veränderlich.100 Tatsächlich gebe es in der Bibel dreierlei modi, von ›ewig‹ zu sprechen: 1. was wahrhaft und eigentlich ewig ist und keinerlei Veränderung kennt (und das ist nur Gott), 2. was nicht in sich ewig ist, aber Ewiges bezeichnet (wie: Land zu ewigem Besitz), 3. etwas, dessen Ende nicht festliegt.101

94 Ebd.: Solus Deus vere inmortalis et inmutabilis, quia solus vere et proprie aeternus, et semper quod est. 95 Ebd., S. 264: aeternum enim, cum proprie dicitur, neque quicquam praeteritum habet, nec futurum; sed quicquid est, semper est, quod solus est Deus; et ideo solus Deus aeternus est secundum proprietatem aeternitatis. 96 Ebd., S. 265: Deo vero nihil praeteritum vel futurum, sed omnia praesentia sunt. 97 Ebd., S. 263: quia quod mutabile est, quodammodo moritur eo, quod est, dum aliud aliquid incipit esse, quod non erat. 98 Ebd.: Saeculum vero dicitur post creatas rerum species, et in diversas temporum mutabilitates distinctae; videturque saeculum et tempora simul coepisse. […] Saeculum est enim mundi ordo decurrens, qui ad futura tendens praeterita deserit, et ideo saecula dicta esse putantur, quia in se iugiter revolvuntur tempora. 99 Ebd., S. 264: In saeculum vero saeculi futurum est saeculum, quod post hoc erit saeculum, quod et in saecula saeculorum dicitur. Nam quibusdam in locis in saeculum saeculi aeternitatem Domini absolute significat; quoniam ille et ante saeculum, et in saeculo, et post istum saeculum misericors esse monstratur. 100 Ebd.: Sed quid est, quod apostolus dicit: ›Ante tempora aeterna‹? Si enim tempora, quomodo aeterna; dum tempora non sunt, nisi in creaturis? nisi forte ante omnia tempora intellegi voluit. Aeterna autem maluit dicere, quam omnia; fortasse ideo, quia tempus non coepit ex tempore; aeterna enim tempora aevum significant. Inter aevum autem et tempus hoc distat, quod illud stabile est, tempus autem mutabile. 101 Ebd.: Sed sciendum est, quod aeternum tribus modis in sancta scriptura legi solet. Primo, quod vere et proprie aeternum dicitur, omni mutabilitate carens, sicut solus Deus est. Alter vero modus est, cum ea res aeterna dicitur, quae ipsa quidem per se aeterna non est, sed quod significat, aeternum est […]. Tertius modus est, quando ea res aeterna appellatur, cui finis non constituitur, aut ita fit, ut deinceps non sit facienda, quantum ad curam vel ad potestatem facientis aut dicentis pertinet.

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Die Worte sind nämlich nur Zeichen für Dinge, die wir uns geistig vorstellen.102 Wenn aber etwas Zeitliches und Veränderliches als ewig bezeichnet wird, dann ist das missbräuchlich (auch was immer lebt, ist nicht ewig, wenn es sich verändern kann).103 Alkuins Brief zeigt nicht nur schön die Gegensätze auf, sondern deutet auch an, dass es gleichwohl (sprachliche und ideelle) Überschneidungen und Zusammenhänge gibt, und leitet somit zu einem weiteren Aspekt über, dessetwegen die Begriffsbestimmungen samt ihren Gegensätzen hier überhaupt voranzustellen waren. Denn erst die Verbindungslinien zwischen Zeit und Ewigkeit decken die Zusammenhänge von Diesseits und Jenseits auf.

III.

Zeit und Ewigkeit: Zusammenhänge und Verbindungslinien

Trotz des diametralen Gegensatzes von Zeit und Ewigkeit sind beide in mehrfacher Hinsicht eng miteinander verbunden und aufeinander bezogen.104 Eine erste Verbindungslinie zeigt sich symbolhaft bereits im Zeitverständnis selbst mit der Verknüpfung der drei Zeiten. Dass man der Vergangenheit größte Beachtung schenkte, ist kaum zu bezweifeln. Ich selbst habe von einem »vergangenheitsorientierten Geschichtsbewusstsein« gesprochen.105 Mittelalterliche Chroniken sind in aller Regel Vergangenheitsgeschichten (im Sinne Franz-Josef Schmales), die mit Vorliebe auf die Ursprünge blicken und diese gern in mythische Vergangenheiten zurückverlegen.106 Unübertrefflicher Höhepunkt solchen Denkens sind die mit der Schöpfung beginnenden Weltchroniken. 102 Ebd., S. 265: Verba enim, quibus loquimur, nihil aliud sunt, nisi signa rerum earum, quas mente concepimus, et [quibus] ad cognitionem aliorum venire volumus. 103 Ebd., S. 263: Sed abusive saepe aeternum legitur dictum, quod tempori vel mutabilitati obnoxium est, nec semper eiusdem modi est; ideo aeternum non recte dicitur. Quod enim mutatur, non manet, idque, ut supra diximus, inter inmortale et aeternum est, quod omne aeternum inmortale est; non omne inmortale satis subtiliter et aeternum dicitur : quia etsi semper aliquid vivat, tamen si mutabilitatem patitur, non proprie aeternum appellatur ; quia non semper eiusmodi est: quamvis inmortale, quia semper vivit, recte dici possit. 104 Vgl. Hans-Werner Goetz: Endzeiterwartung und Endzeitvorstellung im Rahmen des Geschichtsbildes des früheren 12. Jahrhunderts, in: Verbeke [u. a.] [Anm. 52], S. 306–332, hier S. 321–326 (abgedruckt in ders.: Vorstellungsgeschichte [Anm. 64], S. 433–452). 105 Vgl. ders.: Geschichtsschreibung [Anm. 22], S. 216–227. 106 So wird Caesar beispielsweise zum Städtegründer auch in Germanien (vgl. Heinz Thomas: Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Die Salier und das Reich. Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. von Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 245–278); Cluny knüpft an Benedikt von Nursia an (vgl. dazu Dominique Iogna-Prat: La geste des origines dans l’historiographie clunisienne des XIe–XIIe siHcles, in: Revue B8n8dictine 102 [1992], S. 135–191), die Frankensagen Fredegars gar an Troja (zu den verschiedenen Origines gentis des Mittelalters ausführlich zuletzt

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Die Vergangenheit ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern auf die Gegenwart ausgerichtet. Die Vergangenheitsorientierung fließt deshalb gleichzeitig in ein »gegenwartsorientiertes Vergangenheitsbewusstsein«,107 eine »Gegenwart der Vergangenheit«, ein.108 Geschichtsschreibung ist Vergangenheits g e b r au c h : mit historischen exempla als Leitbildern, zur Rechtfertigung politischer oder rechtlicher Zustände und Ansprüche (hohes Alter legitimiert), zur Identitätsstiftung nach innen und Propagierung nach außen, zur Rechtfertigung konkreter Ansprüche und zur Parteinahme (und anderem mehr).109 Mittelalterliche Geschichtsschreibung ist keine »Vergangenheitsbewältigung«, sondern »Gegenwartsbewältigung mittels der Vergangenheit«.110 Die Vergangenheit dient als Maßstab und bleibt entsprechend ›aktuell‹:111 Gegenwärtiges wird problemlos mit Vergangenem parallelisiert, Vergangenes umgekehrt aus der Gegenwart heraus gedeutet. Die Ausrichtung der Menschen auf die eschatologische Zukunft, wie sie besonders deutlich bei Otto von Freising betont wird, verdeckt wiederum keineswegs den Blick auf Vergangenheit und Gegenwart, sondern macht ihn notwendig. »Wer nicht auf die Anfänge zurückblickt, wird das Ende nicht voraussehen«, hatte schon Augustin geschrieben.112 Mehr noch: Das mittelalterliche Geschichtsbewusstsein mit den ständigen Vergleichen von Vergangenheit und Gegenwart, die u n s anachronistisch anmuten, zeugen tatsächlich von der Vorstellung einer gewissen ›Zeitlosigkeit‹, weil dem genau verfolgten zeitlichen Fortschreiten zwar ein politischer, aber kein struktureller Wandel entspricht: Eine Anders a r t i g ke i t der Epochen, einen Sinn für »alternative Vergangenheiten«,113 für »the pastness of the past«,114 kennt

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Alheydis Plassmann: Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, Berlin 2006 [Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 7]); die Ursprünge Triers werden gar auf Trebetas, den Sohn des ersten Assyrerherrschers Ninus, zurückgeführt. Die Vergangenheit ist Vorbild und sogar Rechtsgrundlage. Alt ist allerdings nicht grundsätzlich gut, sondern nur das gute Alte, nicht die Vergangenheit, sondern der zitierte Einzelfall. Vgl. die Belege zur Kennzeichnung und Wertung des Vergangenen bei Goetz, Vergangenheit und Gegenwart [Anm. 55], S. 176–189. Vgl. ders.: Geschichtsschreibung [Anm. 22], S. 227–237. Ders., Gegenwart der Vergangenheit [Anm. 64], S. 66–78. Vgl. ebd., S. 83–91. Solche Auffassungen sind keineswegs immer historisch berechtigt; vgl. dazu ders.: Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 31–69. So Goetz: Geschichtsschreibung [Anm. 22], S. 422; ders., Gegenwart der Vergangenheit [Anm. 64], S. 95. Vgl. ders., Vergangenheitsbegriff [Anm. 55], S. 200f. Ausführlich zur Aktualität mittelalterlicher Geschichtsschreibung ders.: Geschichtsschreibung [Anm. 22], S. 243–409. Augustinus, De civitate Dei 7,7 [Anm. 13], S. 283: In omni enim motu actionis suae qui non respicit initium non prospicit finem. So Patrick J. Geary : Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the First Millennium, Princeton, N. J. 1994, S. 132.

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Abb. 2: Kaiserdarstellungen in der Jenaer Handschrift Ottos von Freising (Jena, Universitätsbibliothek, Bose q. 6, fol. 38b, 67b, 78b): Augustus (links), Karl der Große (oben), Otto der Große (unten)

das Mittelalter nicht. Die sorgsam in den Zeitablauf eingeordneten Ereignisse werden dadurch wieder ›entzeitlicht‹.115 Ganz deutlich zeigt sich beides an den Kaiserfiguren in der Chronik Ottos von Freising (Abb. 2): Augustus, Karl und Otto gehören nicht nur verschiedenen Zeiten an, sondern symbolisieren auch jeweils einen entscheidenden Wandel, nämlich eine translatio imperii (und sind jeweils genau an diesen Stellen in die Chronik eingefügt), aber sie weisen sämtlich die gleiche Ausstattung und die gleichen Insignien auf. Welcher Kaiser dargestellt ist, ergibt sich nicht aus dem Bild, sondern einzig aus dem Titulus. Aus dem gleichen Grund können gegenwärtige Zustände im Wortlaut mit alten

114 So Janet Coleman: Ancient and Medieval Memories. Studies in the Reconstruction of the Past, Cambridge 1992, S. 294. 115 Zur Sache vgl. Hans-Werner Goetz: The Concept of Time in the Historiography of the Eleventh and Twelfth Centuries, in: Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, hg. von Gerd Althoff [u. a.], Washington/Cambridge 2002 (Publications of the German Historical Institute), S. 139–165. Zur Aufhebung der Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch Typologien vgl. auch Gabrielle Spiegel: Structure of Time in Medieval Historiography, in: The Medieval History Journal 19 (2016), S. 21–33. Ob man mittelalterliches Geschichtsdenken deshalb aber gleich mit postmodernem Denken in Verbindung bringen kann, sei dahingestellt.

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Quellen beschrieben werden. Für uns ist das Anachronismus, für das Mittelalter zeigt sich darin der Sinn der Geschichte. ›Zeitlosigkeit‹ aber ist ein Phänomen der Ewigkeit, das auf diese Weise schon einmal auf die irdische Geschichte zurückwirkt und Ewigkeitsv o r s t e l l u n g e n möglich macht. Bei der Frage nach Zusammenhängen zwischen Diesseits und Jenseits muss man sich vorab also diesen spezifisch mittelalterlichen Charakter des Geschichtsbewusstseins mit einem ganz anderen Wirklichkeitsbegriff vor Augen führen.116 Das macht im Übrigen auch die mittelalterliche Epik, die ja enorm viel Geschichtsstoff verarbeitet, verständlicher. Literaturwissenschaftler, aber auch Historiker haben manchmal Probleme mit meinem Begriff des ›Geschichtsbewusstseins‹, weil sie den Begriff modern verstehen und deshalb die Diskrepanzen der aus dieser Sicht völlig unhistorischen Darstellung in Geschichtsepen betonen. Doch zeugt die Masse der historischen Stoffe erstens von einem großen Interesse an der Geschichte für die Gegenwart (dadurch rücken Historiographie und Geschichtsepen enger zusammen), zweitens bleibt die Geschichtlichkeit (oder Vergangenheitlichkeit) durchaus gewahrt (jedem Hörer war klar, dass der Alexander der Alexanderlieder eine ›historische Gestalt‹ war), aber drittens ist der historische Stoff anwendbar und unmittelbar auf die Gegenwart übertragbar. Das macht ihn in mittelalterlicher Sicht zu einer ›zeitlosen Wirklichkeit‹. Ebenfalls Teil mittelalterlichen Geschichtsdenkens ist eine zweite, historischteleologische Verbindungslinie: Zeit und Geschichte laufen (nicht zwingend geradlinig, doch insgesamt stets vorwärts gerichtet) zielstrebig ihrem Ende, nämlich ihrer Auflösung in der Ewigkeit entgegen.117 Honorius vergleicht sie mit einem ausgespannten Seil, das sich mit jedem Tag ein Stückchen zusammenrollt, bis es schließlich ganz aufgebraucht ist.118 Weil die Zeit endlich ist, wächst die Vergangenheit dabei immer mehr an, die Zukunft schmilzt im gleichen Maß zusammen. »Und wie die Zahl zu ihrer Vollkommenheit anwächst, so geht auch die menschliche Fortpflanzung bis zur Erfüllung der Erwählten vonstatten.«119 (Das Ende ist hier nicht zeitlich festgelegt; es ist da, wenn die nur Gott bekannte Zahl der Erlösten erreicht ist.) Manche Autoren beziehen das sogar bereits in ihre Geschichtsgliederungen ein, als dritten der drei ›Status‹ post resurrectionem (das ist nicht mehr ›Zeit‹) oder als siebte aetas der Weltalterlehre.120 116 Vgl. die Beiträge in Goetz [Anm. 11]. 117 Vgl. Goetz, Endzeiterwartung [Anm. 104], S. 312–317. 118 Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,3 [Anm. 14], S. 92: Veluti si funis ab oriente in occidentem extenderetur, qui quotidie plicando collectus, tandem totus absumatur. 119 Ders. [Anm. 84], Sp. 1212 A: Et sicut numerus crescit ad perfectionem, ita propago humana successit usque ad electorum completionem. 120 Vgl. etwa Honorius: Liber VIII quaestionum 2 (Migne PL 172), Sp. 1188 A; Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1,6,10 [Anm. 46], S. 144f. (= Migne PL Sp. 269f.).

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Noch deutlicher ist die dritte, uns ständig begegnende Verbindungslinie von Diesseits und Jenseits mittels der allseits bekannten Typologie und Figuralität mittelalterlichen Denkens. Die mittelalterliche Bibelexegese verweist vielfach auf den anagogischen, auf Jenseits und Ewigkeit zu beziehenden Sinn der Bibelverse. Als konkretes Beispiel sei hier nur auf den bekannten Zusammenhang von irdischem und himmlischem Jerusalem121 oder auf die augustinische ›doppelsphärige‹ Civitas-Lehre verwiesen, die einen Zusammenhang zwischen der unvollkommenen civitas peregrinans auf Erden (den irdischen Repräsentanten des Gottesstaates) und deren vollkommener Verwirklichung in der Ewigkeit herstellt. Erneut ist das kein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander, die civitas Dei der Engel (und Heiligen) existiert auch zu ›Zeiten‹ des pilgernden Staates, während dieser irgendwann nicht mehr existieren wird. Die Gottesbürgerschaft auf Erden ist irdisch-zeitlich manifestiert, aber als civitas Dei auf das ewige Heil bezogen; sie ist Voraussetzung für das Heil in der Ewigkeit, aber keine Garantie. Solche Deutungen sind Analogien zur Ewigkeit. Aus mittelalterlicher Sicht versteht sich solche Figuralität jedoch umgekehrt zum heutigen Verständnis: ›Wirklich‹ wirklich (real) ist nicht das Irdische, sondern das Ewige. Das Irdische ist nur Figur des Ewigen, »die Zeit der Welt ist ein Schatten der Ewigkeit«, wie Honorius es ausdrückt.122 Mit den figuralen Bezügen zwischen Diesseits und Jenseits und der zitierten Deutung des Honorius aber sind zwei weitere Zusammenhänge impliziert. Zum einen (als vierte Verbindungslinie und als Hintergrund solchen Denkens) die (neo-)platonische Ontologie: Das irdisch-unvollkommene partizipiert am ewigvollkommenen, das zeitliche am ewigen Sein. Das exegetisch-symbolisch-figurale Denken geht daher über eine bloße Schriftauslegung hinaus; es erschließt die eigentliche Wirklichkeit aus deren Abbild aufgrund von dessen Partizipation daran. Das trifft, wie das Zitat des Honorius zeigt, aber auch auf Zeit und Ewigkeit zu. Zum andern gibt es – fünftens – einen scholastisch-vernunftgemäßen und einen kontemplativ-mystischen Zusammenhang (und ich bringe hier bewusst zusammen, was die Forschung so gern auseinanderdefiniert): Rationale Über121 Vgl. dazu Christoph Auffarth: Mittelalterliche Eschatologie. Religionswissenschaftliche Untersuchungen, Diss. Groningen 1996, S. 25–66; Robert Konrad: Das himmlische und das irdische Jerusalem im mittelalterlichen Denken. Mystische Vorstellung und geschichtliche Wirkung, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung. Festschrift Johannes Spörl, hg. von Clemens Bauer [u. a.], Freiburg i. Br./München 1965, S. 523–540; Peter Kurmann: Zur Vorstellung des Himmlischen Jerusalem in der Kunst, in: Aertsen/Pickav8 [Anm. 5], S. 292–300. 122 Honorius, Imago mundi 2,3 [Anm. 14], S. 92: Tempus autem mundi est umbra e˛vi. Hoc cum mundo incipit et cum mundo desinet. Es wäre eine interessante Frage, auch die heiligen Zeiten auf diesen Aspekt hin zu untersuchen. Vgl. Giorgio Picasso: Il sentimento del tempo nella tradizione monastica, in: Sentimento del tempo [Anm. 3], S. 199–212.

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legungen, symbolisches Verständnis (bildliche Vorstellung) und Analogieschlüsse eröffnen zusammen die Sicht auf und ein Wissen über das Unsichtbare (invisibilia), das letztlich aber, wie neben anderen Richard von St. Viktor betont, supra rationem et praeter rationem, jenseits des menschlichen Verständnisses, verortet ist.123 Deshalb bleiben viele Fragen ungelöst oder widersprüchlich. So fragt Otto von Freising unter anderem: Wie kann es in der Hölle dunkel sein, wenn doch lauter Feuer brennen (sie brennen, so die Antwort, leuchten aber nicht).124 Mystisches Erleben und Visionen wiederum (die als göttliche Offenbarungen verstanden werden) gelten als sichere Informationsquellen (und zeigen auch der heutigen Wissenschaft sehr schön, wie man sich das Jenseits im Traum vorgestellt hat). Visionäre heben die Kluft zwischen Zeit und Ewigkeit temporär auf, so dass man sie als »Grenzgänger zwischen Diesseits und Jenseits« in einer »liminalen Zone, eine[r] Übergangszone zwischen Leben und Tod« bezeichnet hat.125 »Heiligen- und Nonnenviten [führen] exemplarisch vor, wie eine temporäre Teilhabe an der Gegenwart Gottes bereits im Diesseits zu erreichen ist«.126 Sechstens zeigt sich die Parallelität von Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits in Gottes Wirken: Gott selbst ist ›geschichtslos‹ – und greift doch andauernd in die Geschichte ein):127 schon in der Schöpfung mit Paradiesverweisung und Sintflut und fortan mit strafenden Gottesurteilen ebenso wie mit gnädiger Hilfeleistung in Zwangslagen. »Wer lenkt wohl geordneter als der, der geschaffen hat und (das Geschaffene) liebt?«, hatte schon Orosius gefragt.128 Nichts geschieht, was Gott nicht geschehen lassen will, schreibt Petrus Damiani (die Frage, ob er etwas ungeschehen machen könnte, sei daher letztlich unsinnig,

123 Richard von St. Viktor : Beniamin minor 74, hg. von Jean Ch.tillon/Monique DuchetSuchaux (introduction, notes et index par Jean LongHre), Paris 1997 (Sources chr8tiennes 419), S. 304/306. 124 Otto von Freising, Chronica 8,25 [Anm. 27], S. 430f. 125 So (zum Geschichtsbewusstsein der Vision Gottschalks) Hedwig Röckelein: Geschichtsbewußtsein in hochmittelalterlichen Jenseitsvisionen, in: Goetz: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein [Anm. 11], S. 143–160, hier S. 154. Röckelein betont, wie sehr der Weg ins Jenseits von der irdischen (in Gottschalks Fall norddeutschen) Topographie geprägt ist. 126 So Trude Ehlert: Lebenszeit und Heil. Zwei Beispiele für Zeiterfahrung in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in: dies. [Anm. 3], S. 256–273, hier S. 273. 127 Vgl. Hans-Werner Goetz: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters, Bd. 1: Das Gottesbild, Berlin 2011 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 13/1), S. 77–152; ders.: Gottes Geschichtshandeln [Anm. 45]. 128 Orosius: Historiae adversus paganos 2,1,2, hg. von Carl Zangemeister, Wien 1882 (CSEL 5), S. 8 (= Marie-Pierre Arnaud-Lindet, Bd. 1, Paris 1990 [Collection des universit8s de France], S. 84b): quis autem ordinatius regit, quam is qui et fecit et diligit?

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weil Gott es dann gar nicht erst hätte geschehen lassen).129 Gottes Wirken (und Existenz) werden an der Geschichte (und nicht zuletzt an seinem Geschichtsplan,130 einer ordinata dispositio131) ›ablesbar‹. Aus dieser Sicht ist das Jüngste Gericht nur das letzte, endgültige von vielen vorangehenden. Gleichwohl täuscht dieses Ineinander von Zeit und Ewigkeit, denn letztlich sind das zwei verschiedene Perspektiven: die menschliche und die göttliche. Ewigkeit ist für den Menschen kaum anders denn historisch-künftig zu erfassen. Nur aus menschlicher Perspektive kann Gott ›handeln‹. Honorius unterscheidet entsprechend sogar eine zweifache Schöpfung: die eine simplex, invariabilis et aeterna […] in divina mente, die andere multiplex, variabilis, transitoria […] in seipsa.132 Das heißt aber : Die Ewigkeit ist schon jetzt existent (weil sie immer existent ist): Nicht nur die Engel – Engelerscheinungen sind gewissermaßen ein zeitlich transformierter Besuch aus dem Jenseits und aus der Ewigkeit –, sondern auch die durch göttliche Offenbarung entrückten Menschen (in den Jenseitsvisionen) erfassten schon einmal einen flüchtigen Eindruck der für den Menschen am Ende der Zeiten zu erwartenden Ewigkeit und der Eschatologie, deren Rückwirkung auf das Irdische nun ebenfalls genauer zu betrachten ist.133

IV.

Eschatologisches Bewusstsein und Endzeiterwartung

»Wenn wir über den Übergang in das Reich Gottes, wenn wir von ›Weltuntergang‹ sprechen, sprechen wir vom Übergang von Zeit in Ewigkeit«, schreibt der Theologe Joachim Valentin.134 Das klingt plausibel, ist vor dem vorhin Gesagten jedoch auch irreführend: Zeit kann nicht oder nur im übertragenen Sinn in Ewigkeit ›übergehen‹. Zeit und Geschichte werden vielmehr ein Ende haben, das gleichzeitig Furcht und Hoffnung auslöst: Die mittelalterliche Christenheit lebt in der Erwartung der Endzeit und der Rückkehr in die Ewigkeit. Die Endzeit

129 Petrus Damiani: Epistolae, ep. 119, Bd. 3, hg. von Kurt Reindel, München 1989 (MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit 4), S. 343f., 346–348, 379. Vgl. Goetz, Gottesbild [Anm. 127], S. 166f. 130 Vgl. Goetz [Anm. 45], S. 146–155. 131 So Honorius Augustodunensis [Anm. 84], Sp. 1211 C. 132 Ders.: Liber XII quaestionum 1 (Migne PL 172), Sp. 1179 A. 133 Zur Vision als Blick in die Zukunft zwischen Diesseits und Jenseits vgl. Uta Kleine: Zukunft zwischen Diesseits und Jenseits. Zeitlichkeit und ihre Visualisierung in der karolingischen Visionsliteratur, in: Czock/Rathmann-Lutz [Anm. 3], S. 135–168. 134 Joachim Valentin: Eschatologie, Paderborn [u. a.] 2013 (Gegenwärtig Glauben Denken. Systematische Theologie 11), S. 44 (aber systematisch, nicht auf das Mittelalter bezogen).

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bildet gewissermaßen den Zeitabschnitt, nach dem es keine Zeit mehr geben wird.135 Die Vorstellung von einem Weltuntergang ist ein im Wesentlichen christliches Lehrgebäude.136 Über den Ablauf137 ist man durch die Bibel, vor allem das Bibelbuch der Apokalypse, und die Bibelexegese informiert. Der Lösung Satans folgen eine dreieinhalbjährige Herrschaft des Antichrist (als letzte Christenverfolgung)138 – der Antichrist wird in mittelalterlichen Schriften so genau (mit zunehmender Vermenschlichung) beschrieben, dass Bernard McGinn danach geradezu ein Porträt seiner Physiognomie entworfen hat –,139 der Einfall der Völker Gog und Magog und die Wiederkehr des Elias und Enoch, bis die novissima tuba zur Auferstehung (des Fleisches) ruft und Christus im Jüngsten Gericht die endgültige Scheidung der Erwählten und Verworfenen vornimmt,140 135 Eine ausführliche, zeitgenössische Zusammenstellung der Endzeit- und Jenseitsvorstellungen findet sich bei Honorius Augustodunensis im dritten Buch seines ›Elucidarium‹ sowie im achten Buch der Chronik Ottos von Freising. Zu hochmittelalterlichen Vorstellungen vgl. Goetz, Endzeiterwartung [Anm. 104]. 136 Vgl. Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs, München 2016, S. 10– 40. 137 Vgl. etwa Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2,16–18 [Anm. 46], S. 548–602 (= Migne PL Sp. 579–618); Honorius Augustodunensis, Elucidarium 3,33–37 [Anm. 85], S. 452–454; Otto von Freising, Chronica 8 [Anm. 27], S. 390–457. Zu den Quellen mittelalterlichen eschatologischen Wissens vgl. Auffarth [Anm. 121], S. 130–134. 138 Vgl. dazu Horst Dieter Rauh: Das Bild des Antichrist im Mittelalter. Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus, Münster 1973 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N. F. 9); Bernard McGinn: Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil, San Francisco 1994 (in breitem Überblick von den Anfängen bis heute, aber auch in symbolischer Ausdeutung: Der Antichrist als das Böse); Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern, hg. von Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, Berlin 2010 (zu polemisch-politischen Aktualisierungen im westlichen und östlichen Christentum, Islam und Judentum); die einzelnen Kreuzzugschroniken machen davon einen höchst unterschiedlichen Gebrauch, Endzeitanspielungen sind eher selten, am deutlichsten noch bei Robert von Reims und Guibert (vgl. Kristin Skottki: Der Antichrist im Heiligen Land. Apokalyptische Feindidentifizierungen in den Chroniken des Ersten Kreuzzugs, in: ebd., S. 69–98); zu eschatologischen Völkern (und damit zu Endzeit-, nicht aber zu Jenseitsvorstellungen) in interkultureller Perspektive: Peoples of the Apocalypse. Eschatological Beliefs and Political Scenarios, hg. von Wolfram Brandes [u. a.], Berlin/Boston 2016 (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 63). Quellentexte zu Endzeit und Antichrist mit italienischen Übersetzungen von der Frühpatristik bis zu Ende des Mittelalters bieten: L’Anticristo. Bd. 1: Il nemico dei tempi finali. Testi dal II al IV secolo, hg. von Gian Luca Potest//Marco Rizzi, Mailand 2005 (Fondazione Lorenzo Valla); Bd. 2: Il figlio della perdizione. Testi dal IV al XII secolo, Mailand 2012 (Fondazione Lorenzo Valla); Bd. 3 (Il trionfo dell’Anticristo. Testi dal XIII al XV secolo) ist noch nicht erschienen. 139 Bernard McGinn: Portraying Antichrist in the Middle Ages, in: Verbeke [u. a.] [Anm. 52], S. 1–48. 140 Ausführlich zu den hochmittelalterlichen Äußerungen zum Jüngsten Gericht (als letztem in einer langen Folge von Gottesgerichten): Coloman Viola: Jugement de Dieu et juge-

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die ins Jenseits beziehungsweise in die Hölle einziehen. Das alles läuft noch in der Zeit ab:141 Der Antichrist ist noch eine ›historische Persönlichkeit‹ und somit Teil der Geschichte, ultimum tempus, wie Otto von Freising betont,142 und auch das Jüngste Gericht findet noch auf der Erde statt.143 Der Eintritt ins Jenseits ist allerdings nicht ohne einen grundlegenden Wandel möglich: Die Welt, so jedenfalls Otto von Freising und andere Frühscholastiker, geht nicht unter, sondern wird von Grund auf transformiert und erneuert (innovatio mundi): Wie einst das Wasser der Sintflut, so wird jetzt das Feuer die Welt reinigen.144 Durch Reinigung der Elemente entstehen eine neue Erde und ein neuer Himmel.145 Die Schöpfung behält ihr Sein (esse), doch ist es, wie Otto von Freising betont, ein gewandeltes Sein durch einen Übergang (transitus) nicht de non esse ad esse, auch nicht de esse ad non esse oder de esse ad aliud esse, sondern de hoc statu ad aliter esse.146 Nicht die Substanz vergeht, sondern die Form wird verändert (non abolita substantia, sed mutata figura): Der Wandel schließt also zugleich jene Kontinuität ein, die sich in den Bezügen zwischen Zeit und Ewigkeit gezeigt hat.147 Ähnlich auch der Mensch: Um mit seinem schweren Körper in den Himmel auffliegen zu können – denn an der Wiedervereinigung von Seele und Körper wird strikt festgehalten –, muss auch er – gegen alle naturwissenschaftlichen Einwände der mittelalterlichen Elementenlehre, dass irdisch-erdige Körper sich in dem aus Feuer und Luft bestehenden Himmel wegen ihres Gewichts nicht

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ment dernier. Saint Augustin et la scolastique naissante (Fin XIe–milieu XIIIe siHcles), in: Verbeke [u. a.] [Anm. 52], S. 244–298; zu den (ganz überwiegend spätmittelalterlichen) Vorstellungen vgl. The Last Judgment in Medieval Preaching, hg. von Thomas Mertens [u. a.], Turnhout 2013 (Sermo. Studies on Patristic, Medieval and Reformation Sermons and Preaching 3). Zu den romanischen Gerichtsportalen an Kirchen vgl. Bruno Boerner : Eschatologische Motive in mittelalterlichen Portalprogrammen, in : Aertsen/Pickav8 [Anm. 5], S. 301–320. Zur Frage nach der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit vgl. Goetz, Endzeiterwartung [Anm. 104], S. 317–319. Otto von Freising, Chronica 8,7 [Anm. 27], S. 400. Vgl. etwa Honorius Augustodunensis, Elucidarium 3,52 [Anm. 85], S. 457; Otto von Freising, Chronica 8,18 [Anm. 27], S. 416f. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2,18,1 [Anm. 46], S. 590 (= Migne PL Sp. 609 B); Honorius Augustodunensis: Clavis physicae 140, hg. von Paolo Lucentini, Rom 1974 (Temi et Testi 21), S. 108; ders., Elucidarium 3,77 [Anm. 85], S. 462; Otto von Freising, Chronica 8,8 [Anm. 27], S. 402. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2,17,28 [Anm. 46], S. 589 (= Migne PL Sp. 609 A); Honorius Augustodunensis, Elucidarium 3,78 [Anm. 85], S. 462f.; Otto von Freising, Chronica 8,8f. [Anm. 27], S. 401–404. Das löst zugleich zwei widersprüchliche Bibelprophetien, nämlich dass Himmel und Erde einerseits vergehen werden (Mt 24,35), andererseits aber ewig sind (Eccl 1,4). So Otto von Freising, Chronica 8,9 [Anm. 27], S. 402–404. So ebd., S. 404.

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halten können – zuvor im letzten Feuer gereinigt werden.148 Hugo von St. Viktor erklärt das Problem wieder aus der Andersartigkeit der gereinigten, aber doch noch vergleichbaren Körper (wie es schon jetzt Feuer auf der Erde gebe);149 nach Honorius verliert der Körper durch den Geist seine Schwerkraft.150 Da die Zeit aber ein ontologischer Schatten der Ewigkeit ist, gibt es in diesem materiellen Wandel wiederum strukturelle Kontinuitäten:151 Nicht nur die Menschen bevölkern das Jenseits (jetzt zusammen mit den Engeln), sondern sie bewohnen auch verschiedene Wohnungen,152 in denen die Seligen die gleiche Freude, aber nicht die gleiche Seligkeit genießen.153 Das himmlische Jerusalem stellt man sich – je nach Perspektive – als eine befestigte Stadtanlage,154 das Jenseits als ein Kloster mit Gott als Abt und den Engeln als Konvent,155 eine Hausgemeinschaft mit den Gerechten als familia Dei,156 eine »Himmelspfalz« (coeleste palatium),157 einen Hof (curia) mit verschiedenen Wohngemeinschaften (contubernia),158 eine hierarchisch gestufte res publica mit allen Organen vor : den Patriarchen, Propheten und Aposteln als rectores, den Prälaten als Senatoren, den Märtyrern als Soldaten und den Gläubigen und Gerechten als Bürgern (cives).159 Der Visionär Gottschalk betont die Andersartigkeit des Jenseits, beschreibt sie aber als irdische Architektur : Der Palas gleicht einer Königshalle, die aula regia einem Kloster, die Kirche ist eine Kreuzbasilika.160 Das Jenseits ist nur mit irdischen Begriffen vorstellbar, wird aber auch mit irdischen Begriffen 148 Vgl. Honorius Augustodunensis, Elucidarium 3,78 [Anm. 85], S. 462f.; Otto von Freising, Chronica 8,18 [Anm. 27], S. 401f.; Robertus Pullus: Sententiae 8,15 (Migne PL 186), Sp. 982–984, und 8,21, Sp. 994f. 149 Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 2,17,21 [Anm. 46], S. 585f. (= Migne PL Sp. 606f.); nach Augustinus, De civitate Dei 22,11. 150 Honorius Augustodunensis, Clavis physicae 72 [Anm. 144], S. 51. 151 Zum Sachverhalt vgl. Peter Dinzelbacher: Klassen und Hierarchien im Jenseits, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, hg. von Albert Zimmermann, Bd. 1, Berlin/New York 1979 (Miscellanea Mediaevali 12/1), S. 20–40; ders.: Reflexionen irdischer Sozialstrukturen in mittelalterlichen Jenseitsschilderungen, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 16–34. 152 So etwa Honorius Augustodunensis, Elucidarium 3,28 [Anm. 85], S. 451. 153 So Petrus Lombardus: Sententiae 4, dist. 49, quaest. 2, Bd. 2, hg. von Ignatius Brady, Grottaferrata 1982 (Spicilegium Bonaventuranum 4–5), S. 548f., aber auch Otto von Freising, Chronica 8,29 [Anm. 27], S. 440. 154 Vgl. Konrad; Kurmann [beide Anm. 121]. 155 So Hugo von Folieto: De claustro animae 4,20 (Migne PL 176), Sp. 1159. 156 So Hildebert von Le Mans: Sermo 83 (Migne PL 171), Sp. 733f.; Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1,8,11 [Anm. 46], S. 202–204 (Migne PL Sp. 312). 157 So Honorius Augustodunensis [Anm. 84], Sp. 1221 B. 158 So Otto von Freising, Chronica 8,26 [Anm. 27], S. 435. 159 So Honorius Augustodunensis: Speculum ecclesiae (Migne PL 172), Sp. 1093 D und 1095f. 160 Vgl. dazu Röckelein [Anm. 125], S. 55, zu ›Visio Godeschalci‹ S. 30, 34f. Godeschalcus und Visio Godeschalci, hg. von Erwin Assmann, Neumünster 1979 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 74), S. 106/108 und 112.

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vorgestellt. Verständlich wird das erneut vor dem Hintergrund des neoplatonischen, ontologischen Denkens, in dem das irdische Sein Abbild des himmlischen ist, an dem es (bereits jetzt, aber noch gänzlich unvollkommen) partizipiert. Im Kontext dieses Bandes geht es jedoch weniger um eine Darlegung der mittelalterlichen eschatologischen Vorstellungen vom Weltende und vom Jenseits selbst,161 sondern um deren Rückwirkungen auf das Diesseits, die sich vor allem in einem eschatologischen Bewusstsein widerspiegeln. Man wird ohne jede Übertreibung sagen können, dass die Menschen im Mittelalter gemäß der christlichen Vorgaben in einem dauernden Bewusstsein von dem zu erwartenden Ende der Welt lebten (oder zumindest von Seiten der Kirche ständig daran erinnert wurden),162 ohne hingegen den genauen Zeitpunkt zu kennen, wie sich das schon in den Geschichtsgliederungen niederschlägt: Der sechsten und letzten aetas und dem vierten und letzten Römischen Weltreich kann unmittelbar eine siebte aetas der ewigen Ruhe folgen. »Endzeit war die fundamentale Deutungskategorie aller Menschen, des Glaubens, der Wissenschaften, des Handelns, auch wenn es nicht immer und von jedermann bei jedem Tun expli-

161 Vgl. dazu etwa Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. von Peter Jezler, Zürich 1994; Jeffrey Burton Russell: A History of Heaven. The Singing Silence, Princeton 1997; Bernhard Lang: Himmel und Hölle. Jenseitsglaube von der Antike bis heute, München 2003 (bsr 2303); Peter Riedel: »Himmel, Hölle, Fegefeuer«. Jenseitsvorstellungen im Mittelalter, in: Weltbilder des mittelalterlichen Menschen, hg. von Heinz Dieter Heimann [u. a.], Berlin 2007 (Studium Litterarum 12), S. 135–146; Jenseits. Eine mittelalterliche und mediävistische Imagination. Interdisziplinäre Ansätze zur Analyse des Unerklärlichen, hg. von Christa Agnes Tuczay, Frankfurt a. M. [u. a.] 2016 (Beihefte zur Mediaevistik 21). Zum Spektrum der Jenseitsvorstellungen: Peter Dinzelbacher: Formen des Jenseitsglaubens und ihre Funktion im Diesseits, in: ebd., S. 13–40. 162 Zum eschatologischen Bewusstsein vgl. Bernard McGinn: Apocalypticism in the Western Tradition, Aldershot/Brookfield 1994 (Variorum CS 430); Last Things. Death and the Apocalypse in the Middle Ages, hg. von Caroline Walker Bynum/Paul Freedman, Philadelphia 2000 (The Middle Ages Series); Claude Carozzi/Huguette Taviani-Carozzi: La fin des temps. Terreurs et proph8ties au Moyen ffge, Paris 21999 (erweitert; 11982); Aertsen/ Pickav8 [Anm. 5] (fast durchweg philosophisch-spätmittelalterlich); zu Otto von Freising: Goetz [Anm. 19], S. 264–275; vgl. auch L’attesa della fine dei tempi nel Medioevo, hg. von Ovidio Capitani/Jürgen Miethke, Bologna 1990 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderno 28). Mit Ausnahme des Beitrags zur Jahrtausendwende von Johannes Fried: L’attesa della fine dei tempi alla svolta del millennio, in: ebd., S. 37–86, sind alle übrigen Beiträge dem Spätmittelalter gewidmet und weit zurückhaltender in der Deutung. Zu eschatologischen Vorstellungen in den verschiedenen Religionen vgl. Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Religionen, hg. von Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, Berlin/New York 2008 (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 16). Von theologischer Seite: Valentin [Anm. 134], zum Mittelalter S. 236–254, zur Patristik S. 255–271. Zu modernen Vorstellungen der Endzeit des 18. bis 21. Jahrhunderts und Zeitvorstellungen der Spätantike und des Mittelalters: Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit, hg. von Veronika Wieser [u. a.], Berlin 2013 (Kulturgeschichte der Apokalypse 1).

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ziert wurde«, schreibt Johannes Fried163 und möchte sogar die Entstehung modernen naturwissenschaftlichen Denkens aus der Auseinandersetzung mit der Eschatologie erklären.164 Es ist folglich gut vorstellbar, dass Krisenzeiten (welcher Art auch immer) Endzeitängste hervorrufen konnten. Dabei ist jedoch vor allem eines zu beachten: Ein eschatologisches Bewusstsein im Sinn eines Wissens um ein Ende der Welt sollte nicht mit dessen akuter Erwartung in unmittelbarer zeitlicher Nähe verwechselt werden.165 Wenn die Chronik von St. Andreas in Cambrai von einer völlig ungewöhnlichen und prodiguösen Sonnenfinsternis, nämlich bei Neumond, berichtet, dann mag das bei einigen apokalyptische Ängste geschürt haben,166 denen der Autor jedoch entgegenhält, dass das Weltende jeder menschlichen Berechnung unzugänglich ist.167 In der Forschung wird beides leider oft gleichgesetzt, werden Belege für eschatologisches Denken als Beweis für akute Naherwartungen gedeutet, für deren Vorhandensein vor allem Richard Landes168 und Johannes Fried169 vehement plädiert haben. Auch Peter Darby glaubt, schon bei Beda Venerabilis seit der Krise von 716 eine zunehmende Erwartung des Weltendes feststellen zu 163 Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001, S. 37. Die Bedeutung der Eschatologie im mittelalterlichen Denken betont Bernard McGinn: The Apocalyptic Imagination in the Middle Ages, in: Aertsen/Pickav8 [Anm. 5], S. 79–94. 164 Diese These bleibt trotz der Vielfalt der Überlegungen und Quellenbelege allerdings eine Hypothese, solange das wissenschaftliche Denken nicht zu all seinen anderen Wurzeln in Beziehung gesetzt wird. 165 Richard Landes: The Fear of an Apocalyptic Year 1000: Augustinian Historiography, Medieval and Modern, in: Speculum 75 (2000), S. 97–145, hier S. 101, unterscheidet zu Recht, wenngleich begrifflich missverständlich – das bleibt eine Definitionsfrage – zwischen »eschatology« (ewige Freuden und Leiden), »apocalypticism« (akute Naherwartung des Endes) und »chiliasm« (Erwartung nach 1000 bzw. 6000 Jahren). 166 Chronicon s. Andreae castri Cameracensii 3,41f., hg. von Ludwig Conrad Bethmann, Hannover 1846 (MGH SS 7), S. 550. Vgl. dazu Goetz: Geschichtsschreibung [Anm. 22], S. 241. 167 Chronicon s. Andreae castri Cameracensii 3,42 [Anm. 166], S. 550: Residuum seculi tempus humanae investigatione incertum est. Die chronologischen Berechnungen der Vergangenheit dienten nicht der Feststellung des Weltendes, sondern einer rein zeitquantitativen Ordnung des Geschichtsablaufs; vgl. Schwarzbauer [Anm. 40], S. 266. 168 Vgl. Richard Landes: Lest the millennium be Fulfilled. Apocalyptic Expectations and the Pattern of Western Chronography 100–800 CE, in: Verbeke [u. a.] [Anm. 52], S. 137–211; Landes [Anm. 165]; ders.: Millenarismus absconditus. L’historiographie augustinienne et le mill8narisme du haut Moyen ffge jusqu’/ l’An Mil, in: Le Moyen ffge 98 (1992), S. 355–377; ders.: Sur les traces du Millennium. La »Via Negativa«, in: ebd., 99 (1993), S. 5–26 (Fortsetzung); ders.: Heaven on Earth. The Varieties of the Millennial Experience, Oxford 2011. 169 Vgl. Johannes Fried: Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv 45 (1989), S. 381–473; ders.: Aufstieg [Anm. 163]; ders., Dies irae [Anm. 136]; ders.: Die Endzeit fest im Griff des Positivismus? Zur Auseinandersetzung mit Sylvain Gouguenheim, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 281–322.

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können.170 Dem Jahr 6000 nach der – allerdings ganz unterschiedlich berechneten – Schöpfungsära soll hier eine besonders große Bedeutung zugekommen sein. Richard Landes betont, dass eine dieser Ären sich genau im Jahr der Kaiserkrönung Karls des Großen erfüllt hat.171 Immer wieder hervorgehoben wird auch ein Zusammenhang zwischen den Eroberungszügen des Islam und apokalyptischen Erwartungen der Christen.172 Und ganz besonders hat man sich mit der angeblich sehr verstärkten Endzeiterwartung im Jahr 1000 wie auch 1033 (tausend Jahre nach Christi Tod) befasst.173 170 Peter Darby : Bede and the End of Time, Farnham/Burlington 2012 (Studies in Early Medieval Britain). In der Weltalterlehre in ›De temporibus‹ habe Beda vielleicht schon den von Richard Landes herausgestellten Sachverhalt im Auge gehabt, dass das Jahr 6000 nach einer Weltära mit dem Jahr 800 zusammenfalle, und gleichzeitig verfasste Beda einen Apokalypsenkommentar (ebd., S. 17–34); in der ›Historia ecclesiastica‹ betont Beda die großen Vorzeichen der Endzeit (ebd., S. 97–104) und schildert deren Verlauf (ebd., S. 105–123), ebenso in ›De temporum ratione‹ (ebd., S. 125–143, zu Jüngstem Gericht und ewigem Leben). Mit der Krise von 716 (ebd., S. 165–174), dem Tod Cuthberts, der Ermordung Osreds und verschiedenen Umbrüchen, verstärken sich in Bedas Samuelkommentar eschatologische Erwägungen (ebd., S. 175–183); das Ende rückt bei Beda immer näher heran (ebd., 187–211). Die eschatologische Perspektive der mittleren Zeit Bedas wird in der Spätzeit beibehalten (ebd., S. 215–220). Hingegen stellt James T. Palmer : The Ordering of Time, in: Wieser [u. a.] [Anm. 162], S. 605–618, solche Äußerungen eher in die Tendenz einer Strukturierung der Zeiten. Zurückhaltender in der eschatologischen Deutung zumindest bei dem frühen Beda aber auch Peter Darby : Bede’s Time Shift of 703 in Context, in: ebd., S. 619–640, selbst. 171 Vgl. dazu und zu den verschiedenen Berechnungen ausführlich: Landes, Lest the millennium [Anm. 168]; zu den verschiedenen Umrechnungen der Weltären ders. [Anm. 165], S. 110–118; ders., Heaven on Earth [Anm. 168], S. 69–98. Vgl. dazu Sylvain Gouguenheim: Les fausses terreurs de l’an mil. Attente de la fin des temps ou approfondissement de la foi? Paris 1999, S. 103–105. Zu den hochmittelalterlichen Berechnungen vgl. Schwarzbauer [Anm. 40], Tabelle 8, S. 122: Für Honorius dauerten die ersten fünf Weltalter gemäß seiner ›Imago mundi‹ 5228 Jahre nach der Septuaginta, hingegen nur 4763 oder 4863 Jahre nach der Vulgata (das Jahr 6000 der Schöpfung würde dann in das Inkarnationsjahr 1137 bzw. 1237 fallen). Ganz andere Zahlen gibt Honorius aber in der ›Summa totius‹, nämlich 5195 bzw. 3942 Jahre (Schwarzbauer, ebd., Tab. 8, S. 125). Keine der vielfach berechneten Weltären hat im Übrigen genau 1000 Jahre gedauert. Man wird den Einfluss solcher Berechnungen zudem vielleicht nicht überschätzen dürfen; vgl. James T. Palmer : The Apocalypse in the Early Middle Ages, Cambridge 2014, S. 229. 172 Vgl. dazu ausführlich Jean Flori: L’Islam et la Fin des temps. L’interpr8tation proph8tiques des invasions musulmanes dans la chr8tient8 m8di8vale, Paris 2007, der auch die Kreuzzüge in diese Tradition stellt (damit allerdings nicht erklären kann, weshalb die Überzeugungen nicht schon früher zu christlicher Rückeroberung geführt haben). Eine positive Umwertung bei Pseudo-Methodius (als Abwendung der Apokalypse durch einen Sieg über die Muslime) sieht Felix Gantner : Hoffnung in der Apokalypse? Die Ismaeliten in den älteren lateinischen Fassungen der ›Revelationes‹ des Pseudo-Methodius, in: Wieser [u. a.] [Anm. 162], S. 521– 548. 173 Vgl. vor allem Fried, Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende [Anm. 169]; Landes [Anm. 165]: apokalyptische Erwartungen starben über dem augustinischen Verdikt keineswegs aus; ferner den um den Abdruck älterer Beiträge erweiterten Tagungsband The Apocalyptic Year 1000. Religious Expectation and Social Change, 950–1050, hg. von Richard

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Als Gegenargument reicht es sicher nicht aus, sich einfach auf Augustin zu berufen, der jede Berechnung untersagt hat und dem unzählige Autoren gefolgt sind.174 Gerade mittelalterliche Gegenargumente mögen Reaktionen auf solche Erwartungen sein und deren Existenz damit belegen.175 Landes weist sie vornehmlich dem ungebildeten Volk zu,176 während Fried sie auch bei den Gelehrten finden will. Eindeutige Belege sind allerdings rar und indirekt, und die Forschung ist in dieser Frage gespalten – Johannes Fried spricht von einem »Schlachtfeld für Historiker«.177 Richard Landes sucht entsprechend nach Gründen, weshalb wir nicht deutlicher von solchen Erwartungen erfahren (und findet sie vor allem im Verschweigen: in der kirchlichen Unterdrückung genauer Berechnungen).178 Die sorgsam zusammengetragenen Textstellen belegen tatsächlich durchweg ein eschatologisches Bewusstsein, den Glauben an ein Weltende, attestieren aber nur in wenigen Ausnahmefällen ein solches in nächster Zukunft. Wenn Fried, um nur ein Beispiel herauszugreifen, als Beleg auf das Kolophon einer Beatushandschrift verweist,179 dann ist dort tatsächlich nur davon die Rede, dass die Wissenden sich vor dem kommenden Gericht am Ende der Zeiten fürchten sollen (iudicii futuri adventui peracturi saeculi). Dass diese Zeiten gekommen sind, besagt diese Stelle nicht, und Ähnliches gilt für die meisten anderen Belege. »Some recorded eschatological writings did not necessarily mean that he expected the end of days to be nigh.«180 Auch für einen

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Landes [u. a.], Oxford 2003; nicht ausschließlich zur Eschatologie: The Year 1000. Religious and Social Response to the Turning of the First Millennium, hg. von Michael Frassetto, New York/Basingstoke 2002. Einen großen Schub im Prozess innerer Verchristlichung stellt auch Josef Semmler : Die Angst vor dem Jahre 1000, in: Endzeitvorstellungen, hg. von Barbara Haupt, Düsseldorf 2001 (Studia humaniora 33), S. 133–145, fest. Zur Kritik an solchen Vorstellungen und methodischen Schwächen vgl. vor allem Hans-Henning Kortüm: Millenniumsängste – Mythos oder Realität? Die moderne Mediävistik und das Jahr Eintausend, in: Leinsle/Mecke [Anm. 3], S. 171–189. Strikt gegen eine Endzeitfurcht um die Jahrtausendwende (die vielmehr eine frühneuzeitliche Erfindung sei): Gouguenheim [Anm. 171], unmittelbar zum Jahr 1000 ebd., S. 130–152. Fried, Endzeit [Anm. 169], S. 299–310, geht zur Widerlegung Gouguenheims noch einmal ausführlich auf Augustins – angeblich offene – Position ein, deutet Augustins symbolische Angaben aber als ein mögliches wörtliches Verständnis und zeigt mit den angeführten Belegen entgegen seiner Absicht letztlich selbst auf, dass Augustin jede zeitliche Festlegung ablehnt. Vgl. Landes, Sur les traces [Anm. 168], S. 19–26, zu Abbo von Fleury. Vorsichtiger Palmer [Anm. 171], S. 229: »the evidence is not always overwhelming, but there is enough unambiguous evidence that we must conclude that some people did believe in the cosmic significance of the millennial anniversaries, even if some people did not.« Landes, Millenarismus absconditus [Anm. 168], S. 325, 363. Fried, Endzeiterwartung [Anm. 169], S. 281. Landes, Millenarismus absconditus [Anm. 168]; ders., Sur les traces [Anm. 168]. Fried, Endzeit [Anm. 169], S. 319f. So Weiler [Anm. 67], S. 283, in Bezug auf Matthäus Paris. Dass die häufigen Bezüge auf die Apokalypse bei diesem Chronisten nicht zwingend entsprechend zu deuten sind, wird ebd.,

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Glauben an ein neues Reich Christi auf Erden vor dem Ende gibt es zwischen dem 4. Jahrhundert und Joachim von Fiore keine Belege.181 Bei seiner Untersuchung der Apokalypse im frühen Mittelalter kommt James Palmer daher zu dem Ergebnis: »For the early Middle Ages, this all meant that apocalypse was at the heart of the development of Christendom. It gave people identity, purpose and direction. […] But in its many forms and expressions, apocalypse helped to give vision to the religious and political communities which grew out of the crises of the fifth century, and in every incarnation thereafter. It did not matter that the End never actually came, because people had prepared just in case.«182

Auch die ganze Hysterie um das Jahr 1000 modifiziert sich schon durch den längeren Zeitraum, den man anlegen muss, um hinreichend Quellen zu finden,183 von denen wieder nur ganz wenige Äußerungen deutlich eine immanente Endzeitfurcht belegen; Gouguenheim nennt die ganze These daher ein »Phantom«.184 Das Zusammentreffen verschiedener Vorgänge um die Jahr-

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S. 281f., betont. Ähnlich spricht auch Hans Christian Lehner : Die Zeit, die bleibt. Historiografische Notizen zu Endzeit und eschatologischem Aufschub, in: Schmieder [Anm. 71], S. 77–94, von einer Zurückhaltung gegenüber konkreten Prophezeiungen der Endzeit (ebd., S. 81), die insgesamt nicht den Eindruck einer als unmittelbar empfundenen Bedrohung erweckt (ebd., S. 92). Vgl. Palmer [Anm. 171], S. 233: »The belief in a literal thousand-year-long reign of Christ and his saints on earth is virtually unattested after the fourth century.« Ebd., S. 235. Vgl. ebd., S. 229: »Fried’s extended chronological window for anxiety, based on these calculations, may be a false friend: it looks like it explains the chronological spread of the evidence, but the work of the chronologers had very little influence outside of the most limited intellectual circles.« Gegen apokalyptische Strömungen um die Jahrtausendwende auch Auffarth, Mittelalterliche Eschatologie [Anm. 121], S. 34–45. Hauptziel seiner Arbeit ist es allerdings, an diesem Thema die Rolle der Religionswissenschaft zu stärken. Differenziert zeigt Hannes Möhring: Die renovatio imperii Kaiser Ottos III. und die AntichristErwartung der Zeitgenossen an der Jahrtausendwende von 1000/1001, in: Archiv für Kulturgeschichte 93 (2011), S. 333–350, entgegen entsprechenden Deutungen auf, dass Otto III. mit dem Fortbestand des Römischen Reiches die bevorstehende Ankunft des Antichrist gerade bestritt (und sich selbst daher nicht als den Endkaiser begriff), glaubt aber auch, dass er damit existente Deutungen der Zeitgenossen dämpfen wollte. Auch sonst sind mehrfach Widerlegungen eines akuten Weltendes bezeugt, die sich zumindest aber gegen entsprechende existente Deutungen gerichtet haben. Claude Carozzi: De l’ann8e mille / l’an un, in: Ann8e mille An Mil, hg. von dems./Huguette Taviani-Carozzi, Aix-en-Provence 2002 (Le temps de l’histoire), S. 105–122, betont, dass es im Jahr 1000 keinen chronologischen Neuanfang gab. Gouguenheim, Fausses terreurs [Anm. 171], S. 202 (Schlusssatz). Gouguenheim hält eine mittelalterliche Endzeiterwartung für eine moderne Konstruktion und die Quellenaussagen für ein Indiz der hochmittelalterlichen Glaubensvertiefung (zusammenfassend ebd., S. 199–202). Polemisch dagegen: Fried, Endzeit [Anm. 169], der die – so aber gar nicht gegebene – Dichte der Belege um 1000 und die »impliziten Inhalte« der Quellenbelege verteidigt. Wie Gouguenheim die Belege nach Fried in seiner Voreingenommenheit miss-

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tausendwende, wie sie Richard Landes noch einmal zusammenstellt (Gottesfriede, Volkshäresien, Zwangstaufen von Juden, Volksbewegungen, Kirchenreform, soziale Umbrüche)185 ist gewiss auffällig, und sie drängen sämtlich zur Reform, werden jedoch nicht explizit mit eschatologischen Erwartungen in Verbindung gebracht und sind auch nur zum Teil auf diese Zeit beschränkt. Apokalypsenkommentare wurden tatsächlich in allen Jahrhunderten des frühen und hohen Mittelalters geschrieben und abgeschrieben, wie, mit zahlreichen Handschriften vom Ende des 9. (Silos) bis ins 13. Jahrhundert hinein, der einflussreiche Kommentar des Beatus von Li8bana mit seinen berühmten Abbildungen,186 ohne dass man das jedes Mal auf die Erwartung des nahen Weltendes zurückführen darf. Auch Vorzeichen wurden zu allen Zeiten genauestens vermerkt.187 Als Otto von Freising aber angesichts der Spaltung der Kirche durch Kaiser und Papst mehrfach die Endzeit beschwört188 (»Wir aber leben am Ende der Zeiten«189), war das Jahrtausend bereits eineinhalb Jahrhunderte vorüber (und mit dem Investiturstreit als Auslöser hat er selbst einen langen Zeitraum im Blick). Zu allen Zeiten hat es für Otto jedoch eine Gegenmacht gegeben: die Märtyrer zur Zeit der Christenverfolgungen oder die Verdienste der Heiligen;190 zu Ottos Zeit sind es die Orden der ›Religiosen‹, das reformierte Mönchtum und die Kanoniker, die allein noch der Sündhaftigkeit der Welt entgegenarbeiten191 und das Ende aufhalten.192 Dass eine akute End-

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versteht (und Gegenteiliges unterschlägt), so missversteht auch Fried die dort unterschlagenen Belege, weil er sie einseitig als akute Endzeiterwartung deutet. Eine solche Deutung ist nicht ausgeschlossen, aber durch die große Mehrzahl angeführter Beispiele doch in keiner Weise bewiesen. »Gouguenheim beweist, was er voraussetzt« (so Fried, ebd., S. 321). Gleiches macht Fried. Vgl. Landes, Fear [Anm. 165], S. 141–145. Zu den Beatushandschriften vgl., mit Auflistung der Handschriften, John Williams: Visions of the End in Medieval Spain. Catalogue of Illustrated Beatus Commentaries on the Apocalypse and Study of the Geneva Beatus, hg. von TherHse Martin, Amsterdam 2017 (Late Antique and Early Medieval Iberia). Allgemein: Richard K. Emmerson/Bernard McGinn: The Apocalypse in the Middle Ages, Ithaca/London 1992. Vgl. die Aufstellungen bei Gouguenheim, Fausses terreurs [Anm. 171], S. 117–122. Otto von Freising, Chronica 1 prol. [Anm. 27], S. 7; 5 prol., S. 226f. (die Gegenwart sieht das verheißene Ende bereits am eigenen Niedergang); 7,9, S. 320; vgl. dazu Goetz, Geschichtsbild [Anm. 19], S. 264–275. Otto von Freising, Chronica 2 prol. [Anm. 27], S. 7: Nos autem, tanquam in fine temporum consituti […]; ex ipsis nostri temporis experimentis eas in nobis invenimus; ebd., 2,13. S. 82: Nos enim circa finem eius positi id, quod de ipso predictum est, experimur futurumque in proximo quod restat timendo expectamus. Ebd., 3,27, S. 167. Ebd., 7,34, S. 369. Ebd., 7,35, S. 369. Ähnlich werden auch die eschatologischen Beschwörungen Gerhohs von Reichersberg: De investigatione Antichristi 1,18, hg. von Ernst Sackur, Hannover 1897 (MGH Libelli de lite 3), S. 328 (Entfesselung der Völker Gog und Magog durch die Auseinandersetzungen zwischen Regnum und Sacerdotium) durch seine typologische Anti-

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zeiterwartung zu bestimmten Zeiten (um 800, um 1000/1033) akuter gewesen sein soll und viel mehr Zeugnisse hervorgebracht habe, liegt nicht zuletzt daran, dass man nur in diesen Zeiten umfassend nach Belegen gesucht hat; bei entsprechender Anstrengung würde man mühelos weitere Zeugnisse zu anderen Zeiten finden, wie auch James Palmer feststellt : »If signs were as commonly reported between 950 and 1050 as they were between 850 and 950 – and they were! – then it proves that signs are always interesting, not that people attached importance to one date in the middle.«193 Die Antichristtypologie ist primär und in der Regel symbolisch und nicht eschatologisch im Sinne einer Naherwartung zu verstehen,194 auch wenn Katastrophen und Vorzeichen die Angst, jetzt könnte es soweit sein, durchaus geschürt haben mögen, wie Richard Landes warnt: »We modern historians too often overlook or trivialize the fact that those ›medieval men‹ were living not in the Middle ages, in their own mids at least, but at the very end of the Last one.«195 Die Endzeit, die beständig auch künstlerisch dargestellt wurde,196 ist Teil der mittelalterlichen Kultur197 ebenso wie des Geschichtsdenkens.198 Ein Wissen um die Endlichkeit der Zeit war durchweg vorhanden, eine akute Endzeiterwartung mag bei verschiedenen Katastrophen durchaus denkbar sein,199 war aber nie vorherrschend und wurde vielfach auch bestritten: Schon Gregor von Tours zählte die abgelaufene Zeit, um diejenigen, die an einem herannahenden Weltende verzweifeln, daran zu erinnern und gleichzeitig zu beruhigen.200 Bernhard von Clairvaux lehnt ein nahendes Weltende ab, wenn er gleichzeitig berichtet,

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christdeutung relativiert. Gerade für Gerhoh hat es typi des Antichristen zu allen Zeiten gegeben. Palmer, Apocalypse [Anm. 171], S. 194. Das betont zu Recht Horst-Dieter Rauh: Eschatologie und Geschichte im 12. Jahrhundert. Antichrist-Typologie als Medium der Gegenwartskritik, in: Verbeke [u. a.] [Anm. 52], S. 333–358, bes. S. 340–451. »›Naherwartung‹ im christozentrischen Sinn ist im Mittelalter selten« (ebd., S. 342). Landes, Lest the Millennium [Anm. 168], S. 204f. Vgl. dazu die Beiträge von Peter K. Klein, Dale Kinney, John Williams, Yves Christie, Suzanne Lewis und Michel Camille, in: Emmerson/McGinn [Anm. 186], S. 159–289. Vgl. Richard K. Emmerson: Introduction 3: The Apocalypse in Medieval Culture, in: ebd., S. 293–332 (literarisches Genre; Bildlichkeit: Jerusalem – Babylon). Vgl. Karl F. Morrison: The Exercise of Thoughtful Minds: The Apocalypse in Some German Historical Writings, in: ebd., S. 352–373 (zu Otto von Freising, Rupert von Deutz und Anselm von Canterbury). Von einer Historisierung der Apokalypse spricht Elisabeth M8gier : Die Historisierung der Apokalypse oder von der globalen zur geschichtlichen Zeit der Kirche in lateinischen Apokalypsenkommentaren, von Tyconius bis Rupert von Deutz, in: Wieser [u. a.] [Anm. 162], S. 579–604. Dazu über alle Zeiten hinweg: Landes, Heaven on Earth [Anm. 168], zum Mittelalter S. 62– 88. Gregor von Tours, Historiae 1 prol. [Anm. 22], S. 3: Illud etiam placuit propter eos, qui adpropinquantem finem mundi disperant, ut collectam per chronicas vel historias anteriorum annorum summam, explanitur aperte, quanti ab exordio mundi sint anni.

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Norbert von Xanten habe eine Kirchenverfolgung und das Ende der Welt noch in seiner Generation erwartet, findet seine Gründe jedoch wenig überzeugend (doch offensichtlich glaubte Norbert daran);201 wenn Bernhard selbst angesichts der Krise des Papstschismas von 1130 auf den Antichrist anspielt und von aut Antichristi aut Antichristus spricht,202 dann wird die Deutung (Symbol oder Realität?) bewusst offen gelassen. Das Ende der Welt war zeitlich nicht prognostizierbar, konnte aber jederzeit eintreffen. Das sollte die Menschen jedoch nicht zur Hysterie treiben, sondern zur Reform, und darum geht es in den meisten Belegen: das Leben verchristlichen, um bereit zu sein für das Jüngste Gericht, aber auch, um Gott barmherzig zu machen und das Ende weiter hinauszuzögern. Forderungen nach Reinigung der Kirche wollten das Ende nicht lediglich vorbereiten, wie Bernhard Töpfer meinte,203 sondern zugleich aufhalten, nicht chiliastische Hoffnungen auf ein Friedensreich wecken (Töpfer), sondern »auf die Wiederherstellung von Frieden und Eintracht in Reiche und Kirche« drängen und damit hoffen, dass die Geschichte noch nicht an ihrem Ende angelangt war.204 Bezeichnend ist, wie Felicitas Schmieder betont, nicht ein Fatalismus vor dem Ende, sondern im Gegenteil der Aufruf zu frommen Handlungen, um einen »eschatologischen Aufschub« zu erreichen.205 Das führt zu einem letzten, meines Erachtens sehr wichtigen Aspekt, der ein spezifisch mittelalterliches Denken über die Verbindung von Zeit und Ewigkeit und den Übergang des Menschen vom Diesseits zum Jenseits vielleicht deutlicher veranschaulicht als alles andere, nämlich zu dem Zustand zwischen Tod und Jüngstem Gericht.

201 Bernhard von Clairvaux: Epistulae, ep. 57, hg. von Jean Leclercq und Henri M. Rochais, Sancti Bernardi Opera, Bd. 7, Rom 1974, S. 149. Vgl. dazu Hans-Werner Goetz: Eschatologische Vorstellungen und Reformziele bei Bernhard von Clairvaux und Norbert von Xanten, in: Zisterziensische Spiritualität. Theologische Grundlagen, funktionale Voraussetzungen und bildhafte Ausprägungen im Mittelalter, hg. von Clemens Kaspar OCist/Klaus Schreiner, St. Ottilien 1994 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige. Ergänzungsband 34), S. 153–169, hier S. 155f. (wiederabgedr. in: ders., Vorstellungsgeschichte [Anm. 64], S. 75–88). 202 Bernhard von Clairvaux, ep. 124,1 [Anm. 201], S. 305. 203 So Bernhard Töpfer: Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, Berlin 1964 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 11), S. 28–33 zu Gerhoh. 204 So Goetz, Endzeiterwartung [Anm. 104], S. 331. 205 Felicitas Schmieder : Zukunftswissen im mittelalterlichen Lateineuropa. Determinanten sozialen und politischen Handelns, wenn die Zeit gemessen ist, in: Representing the Future. Zur kulturellen Logik der Zukunft, hg. von Andreas Hartmann/Oliwia Murawska, Bielefeld 2015 (Edition Kulturwissenschaft 66), S. 197–216, mit dem Schlusssatz: »Das Ende war gewiss – den richtigen Weg dorthin zu finden, war den Menschen überlassen, und sie setzten dieses Wissen über die Zukunft um.«

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V.

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Der Zustand zwischen Zeit und Ewigkeit als ambivalente Zwischenphase

Was ›geschieht‹, was machen die Seelen in diesem zweisphärigen Denken mit ständiger Erwartung der Endzeit eigentlich in diesem Zwischenstadium ›zwischen Zeit und Ewigkeit‹? Auch das findet manchmal schon früh Eingang in die Geschichtsgliederungen: In der Weltalterlehre etwa wird den sechs aetates nicht nur, wie schon gesagt, noch eine weitere, ewige ›aetas‹ angeschlossen,206 sondern dieser (dann achten) von manchen Autoren, wie schon bei Beda,207 noch eine siebte vorgeschaltet: als ›Sabbath‹, als Wartezeit der Seelen auf das Jüngste Gericht. Bei der Verknüpfung von Diesseits und Jenseits spielt der Tod für das Individuum tatsächlich eine entscheidende Rolle: Er bedeutet zwar nicht das Ende der Welt, wohl aber das Ende seines diesseitigen Lebens, das in eine Art Vakuum führt: Der Körper ist tot, aber die Seele lebt weiter, noch nicht im Jenseits, das – außer bei Heiligen – ja erst nach dem Jüngsten Gericht erlangt wird, und doch zugleich jenseits der Zeit in der Ewigkeit. Wie hat man sich das vorzustellen? Dogmatisch ist das im frühen und hohen Mittelalter noch nicht geregelt. Interessant sind aber die Vorstellungen Thietmars von Merseburg im frühen 11. Jahrhundert: Die Seelen der Toten bleiben, wie er selbst beobachtet haben will, quasi bei ihren toten Körpern auf dem Friedhof und vertreiben sich gewissermaßen die ›Zeit‹ (der sie nicht mehr unterworfen sind), indem sie sich hier jede Nacht versammeln, um Messen abzuhalten; dabei wollen sie nicht gestört werden und werden sogar handgreiflich gegenüber einem Priester, der auf Anweisung seines Bischofs ihr Treiben in der Kirche beobachten sollte, zerren ihn mitsamt seinem Bett vor den Altar, um ihn dort zu verbrennen.208 Die (nachts aktiven) Seelen sind zwar eigentlich weder mehr zeitlich noch räumlich gebunden, tatsächlich aber immer noch auf der Erde (und noch nicht im Himmel) und mit Vorliebe bei ihren Körpern in den Gräbern. Die Seelen der Toten, die, wie Thietmar erklärt, im Gegensatz zu den ewigen Geistern einen Anfang, aber, im Gegensatz zu den Geistern von Tieren, kein Ende haben,209 sind folglich da und sie erscheinen den Toten (und zwar vorzugsweise 206 Vgl. etwa Honorius: Liber VIII quaestionum 2 (Migne PL 172), Sp. 1188 A; Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1,6,10 [Anm. 46], S. 144f. (= Migne PL Sp. 269f.). 207 Vgl. Darby, Bede [Anm. 170], S. 66. Danach hat Beda eine Deutung Augustins in ›De civitate Dei‹ 22,30 verabsolutiert (ebd., S. 69–74) und fand damit seither große Verbreitung (ebd., S. 74–86). 208 Thietmar, Chronicon [Anm. 15], 1,11f., S. 16, 18. 209 Ebd., 1,14, S. 20: Tres namque sunt animae, non equaliter incipientes nec simul finientes. Prima angelorum incorporeorum, quae cum eis est sine inicio et termino; IIa hominum, quae cum eis sumit exordium, sed in fine non habens participium, namque inmortalis est, et ut

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wiederum nachts im Traum). Als Thietmar zu spät bei einem Sterbenden eintraf, beschwerte sich dieser prompt wegen solcher Unterlassung und erschien ihm in der folgenden Nacht im Traum. Thietmar hingegen nutzte die gute Gelegenheit seinerseits zu Erkundigungen, wie es denn seinen Eltern im Jenseits gehe (und wachte stöhnend auf, als seine Mutter ihm verkünden ließ, dass er an einem Montag oder Donnerstag sterben werde).210 Offensichtlich setzte Thietmar ein entsprechendes Wissen (und eine Kommunikation) der Totengeister voraus. Als ihn (vielleicht noch unbewusste) Gewissensbisse plagten, weil er in seinem Familienstift Walbeck leichtfertig die Gebeine seines Vorgängers entfernt hatte, um Platz für seine verstorbene Schwägerin zu schaffen, erschien ihm der Propst im Traum: »Ich bin es, Willigis; durch deine Schuld muß ich ruhelos umherirren.«211 Thietmar hat gewissermaßen eine Seele ›ermordet‹, die nun ohne richtige (oder geeignete) Grabstätte in der Kirche bis zum Jüngsten Gericht keine Ruhe findet. Oexles »Gegenwart der Toten«212 zeigt sich (jenseits des Gebetsgedenkens) in solchen Erscheinungen noch einmal in einer ganz anderen Weise. Deshalb wurde auch der Begräbnisplatz mit Bedacht erwählt: Der Fuldaer Abt Eigil ließ sich vom Krankenbett aus auf den Friedhof geleiten, um selbst seine Grabstätte zu bezeichnen, indem er etwas Erde aushob.213 Bernward von Hildesheim hatte sich seine Grabstätte (in der Krypta der Michaelskirche) selbst im Voraus gerichtet.214 Bischof Eid von Meißen, so berichtet Thietmar, wollte aus Angst vor Verwüstungen nicht an seinem umkämpften Bischofssitz Meißen, sondern bei den Magnusreliquien in Colditz begraben werden:215 Ganz offensichtlich – und gegen die dogmatischen Lehren – sollten der tote Körper und die unsterbliche Seele nicht getrennt, der Leichnam nicht zerstört werden, obwohl das für die Erlösung irrelevant war. Der Zustand zwischen Tod und Jüngstem Gericht ist aber nicht nur das Reich der Totengeister, sondern vor allem die Möglichkeit der Abbüßung verdienter Strafen. Tatsächlich ist diese Phase bereits im frühen Mittelalter ein ›Purgatorium‹, das keineswegs (nicht einmal vom Begriff her) eine Erfindung des

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quidam gentiles opinantur, in futuro non habens hoc offitium, quod in hoc seculo; tercia species est animae paecudum ac volatilium, quae cum corpore parem inicii finisque sortitur equalitatem. Ebd., 7,33, S. 438. Ebd., 6,45, S. 330: Quadam autem nocte audiens clamorem inmensum, quid hoc esset, percontatus sum, et ›Hic ego sum‹, inquid, ›Willigisus, qui culpa tui errans vagor.‹ Expergefactus mox obstipui et usque huc et, quamdiu vivo, culpabilis hoc ingemisco. Oexle, Gegenwart der Toten [Anm. 63]. Bruun Candidus: Vita Eigilis 25, hg. von Georg Waitz, Hannover 1887 (MGH SS 15,1), S. 233. Thangmar : Vita Bernwardi 55, hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1841 (MGH SS 4), S. 781. Thietmar von Merseburg, Chronik 6,64f. [Anm. 15], S. 354, 356.

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12. Jahrhunderts ist, wie Jacques Le Goff meinte,216 sondern längst vorher bekannt ist, wie uns Visionsberichte zeigen:217 als eine Phase (und Möglichkeit), die Sünden noch vor dem Jüngsten Gericht abzubüßen, damit die Seele tatsächlich Ruhe findet. Nicht einmal Heilige kamen ohne Buße aus. Interessant sind wieder Thietmars Vorstellungen: Bald nach dem Tod des Erzbischofs Walthard von Magdeburg erschien ihm dieser im Traum: »Nun kannte ich den Toten gut; ich fragte ihn also gleich, wie es ihm gehe. Und er erwiderte: ›Ich habe meine Strafe erlitten, wie ich es verdiente, habe sie aber jetzt schon ganz hinter mir.‹ Da wurde ich sehr froh und sagte: ›Darf ich die Glocken läuten und das Volk zum Lobe Gottes aufrufen?‹ Und er entgegnete: ›Freilich. Es ist ja wahr.‹«218

Der Traum gibt deutlich nicht nur die Vorstellung wieder, dass die Seelen der Toten weiterlebten und den Menschen erscheinen konnten, sondern in der Zwischenzeit auch für ihre Sünden bestraft wurden. Im Falle Walthards lief das offenbar schnell und glimpflich ab: Thietmars Traum zeigte ihm bereits die Seligkeit des Erzbischofs an. Bei dieser Buße der toten Seelen aber sollten nicht zuletzt die Gebete der Lebenden helfen, ja deren Gebetshilfe war unverzichtbar. Nach dem Bericht der Fuldaer Annalen erschien Ludwig der Fromme seinem gleichnamigen Sohn in der Fastenzeit im Traum und flehte ihn auf Latein an: »Ich beschwöre Dich bei unserem Herrn Jesus Christus und der dreieinigen Majestät, dass Du mich aus diesen Qualen reißest, in welchen ich festgehalten werde, damit ich endlich das ewige Leben haben kann.«219 216 Jacques Le Goff: La naissance du Purgatoire, Paris 1981. Dagegen zu Recht u. a.: Adriaan H. Bredero: Le Moyen ffge et le Purgatoire, in: Revue d’histoire eccl8siastique 78 (1983), S. 429–452; Christoph Auffarth, Mittelalterliche Eschatologie [Anm. 121], S. 91–108; Peter Dinzelbacher: Das Fegefeuer in der schriftlichen und bildlichen Katechese des Mittelalters, in: Studi medievali III,38 (1997), S. 1–66 (abgedr. in: ders.: Von der Welt durch die Hölle zum Paradies. Das mittelalterliche Jenseits, Paderborn [usw.] 2007, S. 99–163). Nicht explizit gegen Le Goffs Thesen gerichtet (zumal es sich um einen Vortrag an der Pcole des Hautes Ptudes handelt) hat Peter Brown: Vers la naissance du purgatoire. Amnistie et p8nitence dans le christianisme occidental de l’Antiquit8 tardive au Haut Moyen ffge, in: Annales. Histoire, Science Sociales 52 (1997), S. 1247–1261, sehr deutlich spätantik-frühmittelalterliche Zeugnisse für Purgatoriumsvorstellungen zusammengestellt. 217 Vom ignis purgatorius ist etwa bereits in einer Vision Ansgars bei Rimbert: Vita Anskarii 3, hg. von Georg Waitz, Hannover 1884 (MGH SS rer. Germ. 55), S. 22, die Rede. 218 Thietmar von Merseburg, Chronik 6,79 [Anm. 15], S. 368: et cum hunc mortuum bene cognoscerem, quomodo se res eius haberent, protinus interrogabam. Et ille: ›In poenis‹, inquid, ›pro qualitate meriti fueram, quas omnes prorsus iam superabam.‹ Et ego mox admodum gavisus: ›Licet mihi‹, inquam, ›campanas sonare et populos ad laudem Dei accendere?‹ Et ille respondit: ›Bene, quia verum est.‹ Walthard selbst waren Erzbischofswürde ebenso wie sein baldiger Tod nur gut sieben Wochen später ebenfalls im Traum vorhergesagt worden (ebd., 6,77, S. 364/366). 219 Annales Fuldenses a. 874, hg. von Friedrich Kurze, Hannover 1891 (MGH SS rer. Germ. 7), S. 82: ›Adiuro te per dominum nostrum Iesum Christum et per trinam maiestatem, ut me

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Selbst nach dem Tod unfähig, noch etwas zu bewirken, konnten andere einspringen und beistehen, konnte, wie man glaubte, Fürbitte bei Gott und den Heiligen noch manches bewirken. Erst von hier aus erklärt sich das ganze viel behandelte Gebetsgedenken, die Memoria des Mittelalters, die sich nicht nur in Gedenkbüchern und Nekrologien, sondern auch in vielen Chroniken und anderen Quellen niederschlägt: Die Mönche in Aadorf, um ein Beispiel konkreter Bestimmungen herauszugreifen, hatten, so bestimmte es der Gründer Graf Udalrich vom Linzgau, täglich drei Messen und wöchentlich drei Psalter für die verstorbenen und eine Messe für die lebenden Familienmitglieder zu singen;220 Dhuoda ermahnte ihren Sohn Wilhelm, für alle verstorbenen Verwandten zu beten.221 Das Gebetsgedenken lag in den Händen der Familie, wurde aber zunehmend an Berufenere delegiert: Kleriker und Mönche erhielten hier eine wahrhaft große gesellschaftliche Funktion und Bedeutung (und das erklärt zugleich, weshalb sich das arme Mittelalter so viele Klöster leistete). Erst von hier aus verstehen sich aber auch die vielen Stiftungen als Vorsorge, um für das Jenseits gerüstet zu sein, die Grablegen nahe oder gar in der Kirche, die ordnungsgemäße Bestattung, die Gebetsbruderschaften, die Hoffnung auf einen guten Tod, der noch Zeit für die letzte Beichte bot. Oft verbanden sich Stiftungen mit Anweisungen für das Totengedenken: »Da es einem jeden Menschen unbekannt und unbewusst ist, was die Zukunft bringt oder wann der künftige Tag naht, sollen wir im Herrn wachen und aus den uns anvertrauten Talenten den Ertrag vergrößern, damit, wenn er selbst oder sein Tag nahen wird, wir nicht wegen Ungehorsams oder Muße verdammt werden«,

so beginnt das Testament der Äbtissin Theophanu von Essen aus dem Jahr 1054 und gibt im Folgenden genaue Gebetsbestimmungen: an welchen Tagen die Priester nach ihrem Tod wie viele Messen lesen sollten und was sie dafür erhielten, während die daraus finanzierte Armenfürsorge gute Werke gewissermaßen noch nach dem Tod fortsetzte.222 Thietmars Mitbruder und Freund eripias ab his tormentis, in quibus detineor, ut tandem aliquando vitam possim habere aeternam‹. 220 Urkundenbuch der Abtei St. Gallen, hg. von Hermann Wartmann, Nr. 691, Bd. 2, Zürich 1866, S. 292. Eine Neuedition durch Peter Erhard und anderen im Rahmen der Reihe ›Chartularium Sangallense‹ (Bd. 2) ist im Druck. 221 Dhuoda: Liber manualis (Manuel pour mon fils 8,16), hg. von Pierre Rich8, Paris 21991 (Sources chr8tiennes 225bis), S. 322. 222 Urkundenbuch zur Geschichte des Niederrheins, hg. von Theodor Joseph Lacomblet, Bd. 1 (779–1200), Nr. 190, Düsseldorf 1840 (ND Aalen 1966), S. 122. 30 Priester sollten für Theophanus Seele Fürbitte leisten. Bis zum 30. Tag nach ihrem Tod erhielten die Priester 12 Schillinge, die Armen am ersten und dritten Tag fünf, bis zum Ende der ersten Woche zwei Schillinge, danach wurden alle sieben Tage 30 Denare (zweieinhalb Schillinge) und am 30. Tag noch einmal fünf Schillinge verteilt. Ab dem 30. Tag spendete die Äbtissin jeweils am 30. Tag 12 Denare für 12 Messen und 18 Denare zur Armenfürsorge und dann jeweils am

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Berner stiftete wenige Wochen vor seinem Tod eine Kirche, die Thietmar weihen sollte, und übergab diesem bei dieser Gelegenheit eine lange Liste aller seiner Sünden mit der Bitte um Absolution. Damit nicht genug, legte Thietmar diese Schrift zusätzlich – und, wie er betont, in neuer Weise – auf ein Reliquiengefäß und bat damit die Heiligen um Beihilfe.223 Und immer und immer wieder bat Thietmar seinen Nachfolger, für ihn selbst Fürbitte zu leisten. Solche Vorgänge zeigen, wie sehr man an die Hilfe anderer im Gebetsgedenken noch nach dem Tod glaubte und darauf vertraute. Das alles betrifft zunächst den individuellen Tod und nicht das Weltende, doch erneut ist beides auch miteinander verbunden: »Wenn nämlich jeder einzelne diese Welt verlässt, dann ist das für ihn das Ende der Welt«, schreibt der Chronist von St. Andreas in Cambrai.224 Das Ende der Welt wird hier individualisiert. Es bedeutet aber auch: Es muss schon vor dem – biblisch prophezeiten – Jüngsten Gericht nach der Auferstehung der Toten die Vorstellung von einem Einzelgericht unmittelbar nach dem Tod gegeben haben, für das es kein biblisches Zeugnis gibt und das aus anderen Traditionen stammt; Peter Dinzelbacher nennt es Persönliches Gericht, Individual- oder Partikulargericht.225 »Eschatologie«, schreibt der Religionswissenschaftler Christoph Auffarth, »als die volle, unbestrittene Herrschaft Gottes wird als schon weitgehend realisiert angesehen. […] Das Weltende kann diese Realität nur bestätigen, nicht umkehren.« Daher spricht er von »präsentischer Eschatologie«.226 Möglicherweise sind auch viele

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Jahrestag 30 Denare für 30 Messen und fünf Schillinge für die Armen. Das dafür erforderliche Geld legte sie in einer Truhe bereit. Ausführlich beschreibt auch Thietmar von Merseburg, Chronicon 6,63 [Anm. 15], S. 352, die – in dieser oder ähnlicher Form aus vielen Zeugnissen bekannten – hier zusätzlich zahlensymbolisch begründeten Gedenkbestimmungen für den Erzbischof Tagino von Magdeburg: Am dritten Tag nach seinem Tod sang man die Totenmesse und das sollte regelgemäß am 7. und 30. Tag wiederholt werden, »weil es in sich das Geheimnis unseres Glaubens an die Trinität und die sieben Gaben des Heiligen Geistes birgt« (das Zitat: quae cum septima atque tricesima in uniuscuiusque fidelis exitu est memoriter ob misterium in se continens celebranda, id est ob fidem sanctae trinitatis et septiformem spiritum). Thietmar von Merseburg, Chronicon 8,10 [Anm. 15], S. 504/506. Ein schönes Beispiel, wie wichtig Thietmar ein Sündenbekenntnis vor dem Tod ist, liefert auch Herzog Ernst I. von Schwaben, der, da kein Priester zugegen war, seine Sünden seinen Rittern beichtete (ebd., 7,14, S. 414). Chronicon s. Andreae castri Cameracensii 3,42 [Anm. 166], S. 550: Quando enim unusquisque de saeculo migrat, tunc illi consummatio saeculi est. Vgl. dazu Peter Dinzelbacher : Persönliches Gericht und Weltgericht, in: Haupt, Endzeitvorstellungen [Anm. 173], S. 95–131 (abgedr. in: Peter Dinzelbacher: Von der Welt durch die Hölle zum Paradies. Das mittelalterliche Jenseits, Paderborn 2007, S. 67–97); vgl. auch Michael Mecklenburg/Thomas Mertens, Introduction: in: Mertens [u. a.], The Last Judgement [Anm. 140], S. IX–XXXIV, hier S. XIV–XXV. Trotz verschiedener spätmittelalterlicher Klärungsversuche ist man von diesen Vorstellungen nicht mehr abgewichen. Auffarth, Mittelalterliche Eschatologie [Anm. 121], S. 66.

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Gerichtsvisionen, in denen Engel und Teufel um die Seele des Verstorbenen streiten, bereits hier und nicht erst im Jüngsten Gericht anzusiedeln.

VI.

Fazit und Folgerungen

Die einzelnen, in sich schon überblicksartig behandelten Aspekte des Verständnisses und des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit sollen hier nicht noch einmal zusammengefasst, sondern rück- und ausblickend auf Folgerungen bezüglich der Fragen des Konzepts des Sammelbandes betrachtet werden. In diesem Beitrag ging es darum, das Thema aus m i t t e l a lt e r l i c h e r Sicht, von den Vorstellungen der damaligen Menschen her zu betrachten (und nicht von außen zu bewerten), denn es sind deren Vorstellungen, die ihr Leben und Handeln bestimmen. Dabei sollte (mit dem Tagungskonzept) nicht nur die »imaginative Vielfalt an Zwischenräumen, Grenzüberschreitungen, Bedeutungsübertragungen und Bewältigungsstrategien«, sondern mit den letzten Bemerkungen auch verdeutlicht werden, wie konkret Endzeitvorstellungen (im »Umgang mit den letzten Dingen«) mittelalterliches Denken u n d Handeln im Sinne einer (mit dem Titel eines von Felicitas Schmieder herausgegebenen Bandes) »Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes«227 beeinflusst haben. Viele durch intensive Forschungen längst bekannte Phänomene (wie Heiligenkult oder Gebetsgedenken) werden erst auf diese Weise wirklich verständlich. Mit dem Konzept des Sammelbandes ging es nämlich auch darum, über die »Dichotomien« von Endlichkeit/Ewigkeit, Diesseits/Jenseits, hinaus die zahlreichen Verbindungslinien zwischen beiden Phänomenen und ihr ständiges Neben- und Ineinander – man kann nicht eigentlich sagen: ihre ›Gleichzeitigkeit‹ – herauszustellen. Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits sind Gegensätze, die aus unterschiedlichen Perspektiven desselben Sachverhalts, der menschlich-irdischen und der göttlich-himmlischen, resultieren. Aus menschlicher Sicht ›laufen‹ sie quasi ›nebeneinander her‹, greifen ineinander ein und gehen ineinander über. Aus göttlicher Sicht ist alles ›Zeitliche‹ omnipräsent. Die ›letzten Dinge‹ betreffen zwar das Ende der Zeit, gehen aber auf in etwas, das immer schon unwandelbar und zeitlos vorhanden ist und auf das sich auch die Zeitvorstellungen mit dem Geschichtsablauf ausrichten: Am Ende des der Zeit unterworfenen Geschichtsablaufs steht die Rückkehr in die Ewigkeit, aus der heraus alles begann. Das christlich-mittelalterliche Geschichtsbewusstsein schließt das Ende der Zeit wie auch die Aussicht auf Ewigkeit ein: Die »Endlichkeit menschlicher Existenz« wird aufgefangen in der Hoffnung auf ein Aufgehen in der vorhandenen Ewigkeit. Die Frage des Konzepts des Sammelbandes 227 Vgl. Schmieder [Anm. 71].

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nach existentieller Erfahrung von Vergangenheit als Endlichkeit ist von daher differenziert zu beantworten: Vergangenheit ›vergeht‹ mit der Zeit und bleibt in ihrer Bedeutung für die Gegenwart doch aktuell und verweist (als Teil des Zeitablaufs) zugleich auf die Zukunft. Die ständige Erfahrung mit der Vergänglichkeit des Irdischen, wie sie sich geradezu paradigmatisch in der Geschichtsschreibung niederschlägt, erscheint einerseits abgemildert durch eine gewisse Zeitlosigkeit historisch-irdischer Phänomene und soll andererseits, wie es am deutlichsten Otto von Freising ausdrückt, den Wunsch nach stabilitas, wie er sich nu r in der Ewigkeit erfüllen lässt, erst fördernd bewusst machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Zeitzählung der Chronistik ausschließlich der Frage dient: »Wo stehen wir jetzt und wie lange haben wir noch?« Sie kann nur aufzeigen, wieviel Zeit bereits vergangen ist. Der Blick (aus menschlicher Sicht) nach vorn und nach oben, die geistige Konzentration auf das zu erwartende Ewige aber ist aus christlich-mittelalterlicher Sicht gleichsam d a s Mittel einer Bewältigung von Endlichkeit, zumal wenn er von entsprechenden Handlungen (wie Lebensführung, Mönchsleben, Kontemplation, Vorsorge, Gebetsgedenken, ›Heiligkeit‹) unterstützt wird.228 ›Heilig‹ sind nicht nur die im Kult verehrten Heiligen (im ›technischen‹ Sinn), sondern alle, die in die Ewigkeit eingehen werden. Solche Bemühungen sind aber nicht universal, sondern individuell und institutionell. Man kämpft um den Leichnam, die Reliquien, der (eigenen) Heiligen, wie es Gregor von Tours schon nach dem Tod Martins zwischen Tours und Poitiers229 oder die Vita Bennos II. von Osnabrück nach dem Tod des Bischofs zwischen dem Bistum und dem Kloster Iburg berichten.230 Dennoch sind etwa Vorsorge und Gebetsgedenken Gemeinschaftsaufgaben (und erklären die gesellschaftliche Rolle der Klöster). Den Gegensatz von Zeit und Ewigkeit zu überwinden, hilft schließlich auch – und das ist wahrlich ein »Schwellenphänomen« im Sinne des Konzepts des Sammelbandes – die Vorstellung von einem Zwischenzustand zwischen dem individuellen Tod einerseits und dem Jüngsten Gericht mit der Ewigkeit andererseits, in dem die Seelen zwar die Ewigkeit bereits erreicht, aber das Irdische noch längst nicht überwunden haben. Vielleicht darf ich hier mit der Hypothese enden, deren Überprüfung an den Quellen sich wohl lohnen dürfte: Ist die 228 Zur Zukunft als Ort der moralischen Läuterung vgl. Anke Holdenried: Implicit Future in the Old Testament. Hugh of St Victor and Peter the Chanter on the Prophecies of Isaiah, in: Schmieder [Anm. 71], S. 53–76. 229 Gregor von Tours, Historiae 1,48 [Anm. 22], S. 32f. 230 Norbert von Iburg, Vita Bennonis episcopi Osnabruckensis 39–41 [Anm. 86], S. 81–83: Während die Mönche von Iburg alles zur Bestattung vorbereiteten und den Leichnam wuschen, »suchten die anderen [aus der Bischofsstadt Osnabrück] das Ihre und nicht, was Christi ist. Sie stürzten sich raubend und stehlend auf seine Sachen und ließen sich in ihrer Raffgier schließlich so weit hinreißen, dass sie sogar den entseelten Leib selber nach Osnabrück davontragen und dort bestatten wollten«.

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immer wieder betonte Diskrepanz zwischen dem Jüngsten Gericht am Ende der Zeiten und einem individuellen Gericht nach dem Tod tatsächlich ein Widerspruch? Oder resultiert nicht auch sie vielmehr erneut lediglich aus dem Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Perspektive und ist damit Ausfluss der fundamentalen Gegensätze ebenso wie gleichzeitig der Verbindungen und des Ineinandergreifens von Zeit und Ewigkeit?

Romedio Schmitz-Esser

Aufbahren, Verwesen, Auferstehen. Zeitkonzepte beim Umgang mit dem Leichnam im Mittelalter

Dieser Beitrag nimmt die Zeitperioden in den Blick, die im Umgang mit den Toten im Mittelalter eine Rolle spielten. Er greift damit das Konzept des Sammelbandes auf, demzufolge unterschiedliche kulturelle Konstruktionen der Zeitabläufe im Kontext von Tod und Sterben in ihrer möglichen Überlappung miteinander verglichen werden sollen. Dabei strukturieren Zahlen in Form der seit dem Tod verstrichenen Tage den Aufsatz. Da es um Semantiken geht, wird dabei erklärt, woher diese Tage in einer christlichen Sicht während des europäischen Mittelalters ihre kulturelle Signifikanz erhielten und bezogen. Zwei Zeitebenen, die physische Veränderung des Leichnams nach dem Tod und die rituelle Überformung dieses Prozesses, lassen sich in den Quellen des Mittelalters einzeln und in ihrer wechselseitigen Beeinflussung gut greifen. Beide durchaus heterochronen Aspekte werden hier erstmals in ein gemeinsames Bild gebracht. Dabei zeigt sich, dass die Idee einer schrittweisen Ablösung von Seele und Körper, die sich in diesen Fristen spiegele, durchaus nicht zwingend aus dem mittelalterlichen Quellenmaterial hervorgeht, wie dies vielleicht auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Der hier vordergründig ausgelebte ›Ordnungsfimmel‹ rückt deshalb auch zwangsläufig zugleich die Uneinheitlichkeit der mittelalterlichen Überlegungen zum Tod in den Fokus.

I.

»Heute noch wirst Du mit mir im Paradies sein!«1 – Todestag und Todesstunde

Dass Heterochronie zu den leitenden Aspekten mittelalterlichen Jenseitsglaubens gehörte, zeigt sich schon beim Sterbetag selbst. Wie konnte der gute Schächer noch heute mit Christus im Paradies sein, wenn dieser erst nach drei Tagen auferstand? Nicht immer ließ sich die biblische Vorgabe in ein konse-

1 Lk 23,43.

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quentes theologisches Bild der Jenseitswelt einfügen. Wenn Christus dem guten Schächer voraussagte, er sei noch heute mit ihm im Paradies, stellte dies für mittelalterliche Autoren schon deshalb eine Schwierigkeit dar, weil der Zugang dorthin in zweifacher Weise nicht wörtlich am selben Tage erfolgen konnte: Das Paradies war erst für eine Zeit nach dem Jüngsten Gericht verheißen – und selbst wenn man der Seele der Heiligen nach Augustinus eine Nähe zu Gott im Paradies schon während des Interims vor dem Jüngsten Gericht zutrauen konnte, blieb das Problem, dass Jesus selbst ja erst nach drei Tagen auferstand. Wie sollte er also zugleich gemeinsam mit dem Schächer noch heute im Paradies sein? Auch Henoch und Elias stellten alttestamentliche Sonderfälle ähnlicher Art dar ; eine Lösung bestand nun darin, die Berichte insofern zu harmonisieren, als dass Christus nach drei Tagen und absolvierter Höllenfahrt den Schächer und die zwei Propheten bereits im Paradies vorfand.2 So detailgenau und anschaulich die Jenseitsvorstellungen des Mittelalters auch waren, sie fügten sich nicht in ein folgerichtiges Glaubenssystem ein, sondern eröffneten eine Vielzahl an Interpretationen.3 Bereits das Gespräch zwischen Christus und den zwei Schächern am Kreuz belegte zudem die Bedeutung, die dem unmittelbaren Moment des Sterbens und der dabei eingenommenen inneren Haltung zukam. Der Moment des Todes stellte den ersten Schritt in der Trennung von Leib und Seele dar. Den Heiligen ist das auch bewusst, wie es etwa die Vita des Heiligen Ulrich hervorhebt: »Ganz sicher wusste er, dass die Trennung seines Leibes von der Seele bevorstand«.4 Dass dieser Moment der Trennung zugleich einen heiklen Zeitpunkt darstellte, zeigen die detaillierten Berichte über die auf die Seele lauernden Dämonen. So berichten zeitlich so weit auseinanderliegende Beschreibungen über den Tod wie jene von Ludwig dem Frommen oder der Heiligen Elisabeth auf ganz ähnliche Weise, wie diese mit ihren letzten Worten die bereits wartenden Dämonen durch ein doppeltes hutz, hutz! oder ein dreifaches fuge, fuge, fuge! zu vertreiben versuchten.5 Elisabeth von Schönau konnte nach einer Vision über die wie Geier 2 Vgl. Peter Jezler : Jenseitsmodelle und Jenseitsfürsorge – eine Einführung, in: Himmel. Hölle. Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. von dems., München 21994, S. 13–26, hier S. 16f. 3 Das lag auch – aber nicht ausschließlich – an der Uneinheitlichkeit der biblischen Vorlage und lässt sich beispielsweise an der Ikonographie des Jenseits in der mittelalterlichen Bauplastik illustrieren. Vgl. Jezler [Anm. 2] und Marcello Angheben: D’un jugement / l’autre. La repr8sentation du jugement imm8diat dans les Jugements derniers franc¸ ais: 1100–1250, Turnhout 2013 (Culture et soci8t8 m8di8vales 25). 4 certissime sciret, in proximo manere sequestrationem corporis animae suae; Gerhard von Augsburg: Vita Sancti Uodalrici. Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich, hg. von Walter Berschin/Angelika Häse, Heidelberg 1993 (Editiones Heidelbergenses 34), S. 266. 5 Astronomus: Vita Hludowici imperatoris, in: MGH SS. rer. Germ. 64, hg. von Ernst Tremp, Hannover 1995, S. 279–555, hier S. 380. Caesarius von Heisterbach: Vita Sancte Elysabeth, in: Das Leben der Heiligen Elisabeth, hg. und übers. von Ewald Könsgen, Marburg 2007

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und Hunde auf die Seele einer sterbenden Mitschwester wartenden Dämonen berichten, die nur zwei Engel am Bett von der Sterbenden fernhielten.6 In den ›Cantigas de Santa Maria‹ wird ein Minorit von Maria gegen die ihn in der Todesstunde bedrohenden Geister beschützt.7 Diese Gefahr betraf jedoch die gesamte Phase des Sterbens; der Todeszeitpunkt wurde im Mittelalter eher als ausgedehnter Prozess verstanden, dessen Anfang und Ende wenig klar definiert waren, was übrigens den Stand der medizinischen Erfassung des Todeszeitpunkts spiegelte.8 Wiederkehrende Tote erscheinen so nicht selten unmittelbar nach dem Tod, wie etwa der Bericht des Caesarius von Heisterbach über die Gespielin eines Priesters zeigt, die um eine Bestattung mit Schuhen bat, damit sie dem Teufel entkommen könne; noch in derselben Nacht erschien sie und bewies die Notwendigkeit der Vorsichtsmaßnahme.9 Auch ein Mann, von dem William von Newburgh berichtet, dass er zu seiner Frau zurückkehrte, nachdem er verstorben war, bietet ein solches Beispiel: Er begann mit der Tyrannisierung der Frau in der Nacht nach seinem Ableben. Erst ein Absolutionsbrief des Bischofs von Lincoln, den man dem Leichnam auf die Brust legte, beendete sein Bedürfnis, zu den Lebenden zurückzukehren. Das physische Schicksal des Toten beendete also dessen Rückkehr, und das nicht nur in diesem Fall.10 Der Leichnam spielt also in den ersten Tagen nach dem Tod weiterhin eine zentrale Rolle. Einigen mittelalterlichen Theologen zufolge vermochten die Dämonen sich für ihre Übeltaten der Leichname zu bedienen, um diese scheinbar wiederzubeleben; dabei musste es sich jedoch um frische Körper handeln.11 Das stellt aber

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(Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 67, Kleine Texte mit Übersetzungen 2), S. 7–91, hier S. 84–86. Elisabeth von Schönau: Werke, hg. von Peter Dinzelbacher, Paderborn [usw.] 2006, S. 38. Vgl. hierzu ausführlicher : Jean-Claude Schmitt: Les revenants. Les vivants et les morts dans la soci8t8 m8di8vale, Paris 1994 (BibliothHque des histoires), S. 239f. Vgl. auch den Sammelband Storia della definizione di morte, hg. von Francesco Paolo de Ceglia, Mailand 2014, mit freilich rezenterem Fokus. Caesarius von Heisterbach: Dialogus Miraculorum. Dialog über die Wunder, Bd. 5, hg. von Nikolaus Nösges, übers. von Horst Schneider, Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86/5), S. 2218–2220 (XII,30). William von Newburgh: Historia rerum Anglicarum, Bd. 2, hg. von Hans C. Hamilton, London 1856 (Rolls Series 82), S. 182–184 (V,22). Vgl. Romedio Schmitz-Esser : The Revenge of the Dead. Feud, Law Enforcement and the Untameable, in: Acta Histriae 25 (2017), S. 121–130. Ders.: Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers, Ostfildern 2014 (Mittelalter-Forschungen 48), S. 454–459. Thomas Schürmann: Nachzehrerglauben in Mitteleuropa, Marburg 1990 (Schriftenreihe der Kommission für ostdeutsche Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. 51). So argumentiert etwa der Theologe Raoul Ardent im 12. Jahrhundert, vgl. Maaike van der Lugt: La personne manqu8e. D8mons, cadavres et opera vitae du d8but du XIIe siHcle a saint Thomas, in: Il cadavere. The Corpse, hg. von Catherine ChHne [u. a.], Florenz 1999 (Micrologus 7), S. 205–221, hier S. 205.

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sogleich auch die These einer noch nicht erfolgten Trennung von Seele und Körper in Frage: Die Dämonen werden wohl erst nach einer Lockerung dieser Einheit vom Leichnam Besitz ergreifen; umgekehrt braucht es aber die Lebensenergie des noch nicht verwesten Leichnams, damit er wirksam ›besessen‹ werden kann.

II.

»Aber nach drei Tagen wird er auferstehen«12 – drei Tage

Christus spricht mehrfach über sein Leiden und seine Auferstehung, und stets sind es drei Tage, welche die Frist dafür bilden.13 Auf dieser Basis würde man erwarten, dass die Symbolik der im Mittelalter gut belegten Dreitagesfrist für die Trauer eine eindeutige Interpretation vorgab. Doch erneut stellt sich die Sache bei genauer Betrachtung als weit ambivalenter heraus. Zwar bemerken hochmittelalterliche Liturgiehandbücher die Frist von drei Tagen, wobei sich diese Frist – wie übrigens die meisten der folgenden Fristen auch – auf eine dreitägige Dauer der Trauer ebenso wie ein besonderes Gedenken am dritten Tag beziehen könne. Interessanterweise sind Johannes Beleth und Wilhelm Durandus aber nicht eindeutig in Bezug auf die Symbolik: Diese könne sich ebenso durch die Auferstehung Christi wie die Dreifaltigkeit erklären; sogar die Bitte um die Vergebung der durch Denken, Worte und Taten erfolgten Sünden könne bei der Wahl dieses Totengedenkens möglich sein.14 Die Auferstehung Christi ist also nicht eindeutig mit dieser Frist verbunden gewesen und insofern ist sie nicht zwingend auf die Trennung von Seele und Leib zu beziehen; ein neuerlicher Hinweis, dass die Idee der ritualisierten Abstände nach dem Tod als Spiegel einer Auflösung der psychosomatischen Einheit des Menschen nicht ausreicht, um das Phänomen der mittelalterlichen Trauerfristen 12 Mk 10,34. Diesem Zitat aus dem Markusevangelium lassen sich mehrere parallele Stellen beigesellen: Mk 8,31 und Mk 9,31. 13 Paulus greift die drei Tage auf: »Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift.« 1 Kor 15,3f. Er koppelt den Hinweis zugleich mit der grundlegenden Bedeutung dieser Botschaft für die Christen, denn sie verheiße die Auferstehung auch für die Toten: »Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos und ihr seid immer noch in euren Sünden; und auch die in Christus Entschlafenen sind dann verloren.« 1 Kor 15,16–18. Auch die alttestamentliche Vorlage machte den dritten Tag zu einer wichtigen Wegmarke in der rituellen Reinigung nach Berührung eines Leichnams, vgl. Num 19,12 und 19,19. Für den Hinweis auf die ergänzenden Passagen in ›Numeri‹ danke ich Anna Lidor-Osprian. 14 Wilhelm Durandus: Rationale divinorum officiorum, Bd. 3, hg. von Anselme Davril/Timothy M. Thibodeau, Turnhout 2000 (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 140), S. 87f. (VII,35,5). Johannes Beleth: Summa de ecclesiasticis officiis, hg. von Herbert Douteil, Turnhout 1976 (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 41A), S. 312.

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zu beschreiben. Dazu passt, dass die drei Tage im Umfeld von Erzählungen über den Tod und die Toten immer wieder auftauchen, ohne dass eine eindeutige Beziehung zum Leichnam oder zur Seele hergestellt wird.15 Konkret greift diese Verbindung William von Malmesbury im 12. Jahrhundert in der Erzählung von der bösen Frau aus Berkeley auf, die ihre Seele dem Teufel verschrieben hatte. Auf dem Totenbett bereuend bat sie darum, neben eingehendem Gebet auch physische Vorsichtsmaßnahmen gegen die Dämonen zu treffen: In eine Hirschhaut eingenäht, wollte sie in einem mit Metalllaschen verschlossenen, in der Kirche aufgestellten Steinsarkophag eingeschlossen werden, um den Dämonen zu entgehen. »Wenn ich in dieser Weise für drei Nächte sicher gelegen habe, dann bestattet mich am vierten Tag, obwohl ich aufgrund der Schwere meiner Sünden fürchte, dass mich die Erde selbst nicht aufnehmen wird in ihren wärmenden Schoß.«16 Diese Sorgen waren nicht unbegründet, denn in der dritten Nacht holte sie ein großer Dämon zum Schrecken der Betenden aus dieser nur scheinbar sicheren Position heraus. Offenbar schwand also nach mittelalterlichem Verständnis die Gefahr einer Bedrohung durch die Dämonen nach drei Tagen, da die Seele dann bereits weiter vom Leichnam getrennt war. Genauer definiert wird diese Lösung jedoch an keiner Stelle; deutlich wird lediglich, dass der Verwesungsprozess bis hierher keine wichtige Rolle spielt. Der biblischen Dreizahl folgt jedoch damit bereits die Vierzahl. Ein Effekt wird sichtbar, der immer wieder auftritt: Legte man eine Frist fest, so war deren Erhöhung um eins als symbolische Überwindung der Grenze als semantisches Modell bereits angelegt.

III.

»Als Jesus ankam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grab liegen«17 – vier Tage

Der Zeitrahmen von vier Tagen, die Lazarus vor der Erweckung im Grab lag, zeichnet das Wunder eben deshalb besonders aus, weil die Nahefrist von Seele und Körper von drei Tagen damit schon verstrichen war.18 Folgt man dieser 15 Ein Beispiel: Der Priester, dem bei Ordericus Vitalis die ›Wilde Jagd‹ erscheint, wird von seinem toten Bruder, der ihm darin begegnet, aufgefordert, drei Tage lang nicht über sein Treffen mit den Toten zu sprechen; Ordericus Vitalis: Historia Ecclesiastica. The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, Bd. 3, hg. von Marjorie Chibnall, Oxford 1972 (Oxford Medieval Texts), S. 236–251. Vgl. Claude Lecouteux: Das Reich der Nachtdämonen. Angst und Aberglaube im Mittelalter, Düsseldorf/Zürich 2001, S. 129. Die Frist hat hier also nur sehr indirekt mit der Hoffnung auf Auferstehung zu tun. 16 William von Malmesbury : De gestis regum Anglorum libri quinque, Bd. 1, hg. von William Stubbs, London 1887 (Rolls Series 90), S. 253–256. 17 Joh 11,17. 18 Nach antiker Vorstellung verblieb die Seele noch für drei Tage in der Nähe des Körpers, wie Paul Binski herausstellte. Paul Binski: Medieval Death. Ritual and Representation, Ithaca,

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Logik, so müssten Darstellungen von Totenerweckungen durch Heilige einen interessanten Vergleich abgeben: Konnten sie nur innerhalb von drei Tagen die Toten wiederbeleben und waren vier Tage dem Herren vorbehalten? Oder gab es wirkmächtige, in ihren Fähigkeiten christusgleiche Heilige? Der Befund ist erstaunlich, aber leider in einer anderen Hinsicht als zunächst gedacht. In der gesamten ›Legenda Aurea‹ findet sich kein Hinweis auf jene Stellen in den Evangelien, in denen die Dreitagesfrist von Christi Auferstehung und die Auferweckung des Lazarus nach vier Tagen behandelt würde.19 Blickt man hingegen auf konkrete Wiederbelebungen von Toten in den einzelnen Heiligenviten, so stellt man fest, dass der Zeitpunkt nach dem Tod, zu dem eine Wiederbelebung stattfand, hier kaum präzise angegeben wird. Ein Beispiel bietet der Heilige Franziskus: Drei Totenerweckungen schließen seine Vita in der ›Legenda Aurea‹ ab. Davon erfolgte eine in der Nacht nach dem Todesfall; ein Kind wurde unmittelbar nach dem tödlichen Sturz wiederbelebt; und die Mutter eines Mädchens verhinderte auf Weisung des ihr erschienenen Heiligen die Herausgabe des Leichnams für die Bestattung, bevor die Tochter sich tatsächlich lebendig und geheilt wieder erhob.20 In der Hagiographie spielt also offenbar weniger die Zahl der Tage als vielmehr die noch nicht eingesetzte Verwesung der Toten eine wichtige Rolle. So bemerkt der Chirurg Heinrich von Mondeville im 14. Jahrhundert bei der Beschreibung der von ihm empfohlenen Einbalsamierungstechniken, dass die einfachste Leichenversorgung, die »mit wenig oder keiner Herrichtung« erfolge, die Toten im Sommer drei, im Winter vier Tage erhalte.21 Nach mittelalterlichem Wissensstand war es also klar, dass der Leichnam sich ohne größere Zeichen der Zersetzung für etwa drei Tage hielt; die Geschichte von dem bereits stark riechenden Lazarus bestätigte diese Chronologie. Umgekehrt blieb beim Stand des Wissens auch schwierig feststellbar, wer eigentlich wirklich verstorben war. Wenn eine Frau ihre Totgeburt dem Heiligen Petrus Martyr weihte und das Kind daraufhin erwachte, braucht es schon die Kenntnis der Vorgeschichte, dass sie schon drei Totgeburten hinter sich hatte, um dem Leser deutlich zu machen, dass es hier nicht einfach um eine medizinische Fehldiagnose, sondern um ein echtes Wunder geht.22 Noch deutlicher wird die Vita des Heiligen an anderer Stelle: In Sens sei ein Mädchen ins Wasser gefallen, er-

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New York 1996, S. 8–11. Damit aber war eine Wiederbelebung erst nach vier Tagen besonders wundersam. Vgl. hierzu den Bibelstellenindex der zweibändigen Ausgabe von Giovanni P. Maggioni in Bezug auf Joh 11,17; Mk 8,31; 9,31 oder 10,34: Iacopo da Varazze: Legenda aurea con le miniature dal Codice Ambrosiano C 240 inf., Bd. 2, hg. von Giovanni P. Maggioni, Florenz 2007, S. 1744–1752. Iacopo da Varazze [Anm. 19], Bd. 2, S. 1156. Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 271. Iacopo da Varazze [Anm. 19], Bd. 1, S. 484.

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trunken und erst durch die Hilfe des Petrus Martyr wiederbelebt worden. Jacobus de Voragine ergänzt ausdrücklich, dass es bereits »vier Zeichen ihres Todes gab: die lange Zeit, die seit dem Tod verstrichen war, die Steifheit des Körpers, die niedrige Temperatur und die Leichenflecken.«23 Es schien also dem Hagiographen hier notwendig, das Erweckungswunder noch einmal zu unterstreichen. Mit der Totenstarre wird zudem deutlich, dass die »lange Zeit« seit dem Tod etwa mit drei oder vier Tagen benannt werden kann. Eine wirkliche Zersetzung des Leichnams hatte also noch nicht eingesetzt, und das scheint hier der wichtige Punkt zu sein. Statt also auf ein klares Motiv der drei oder vier Tage zu stoßen, verweisen die hagiographischen Quellen auf eine flexible zeitliche Grenze, die sich mit dem Beginn der Zersetzung des Fleisches benennen lässt.

IV.

»Sieben Tage hielt er um seinen Vater Trauer«24 – sieben Tage

Die Zahlensymbolik übernimmt mit der Frage nach der nächsten signifikanten Frist jedoch wieder das Feld in unserer heterochronen Geschichte. Der alttestamentliche Joseph bestattete seinen Vater Jakob in Palästina und hielt danach eine Trauerphase von sieben Tagen ein; es handelt sich hier also um eine Trauer bei bereits bestattetem Leichnam, die gleich mehrfach im Alten Testament bestätigt wird.25 Sieben gilt in der christlichen Zahlensymbolik entsprechend als Zahl der Totenruhe; am siebten Tag hatte sich Gott schon bei der Erschaffung der Welt ausgeruht und die entsprechende Konnotation mit der Totenruhe wird selten so deutlich wie in der achteckigen Konstruktion der Baptisterien, die eben damit auf die Auferstehung der Christen vorverweisen.26 Den Konnex machen auch die Liturgiker des Hochmittelalters, denen zufolge die siebentägige Trauerfrist üblich gewesen sei. Für Wilhelm Durandus ist es diese Vorbedeutung des »Sabbats der ewigen Ruhe«, die die Frist zunächst erklärt. In unserem Zusammenhang bemerkenswert ist hier auch eine weitere symbolische Deutung, die Wilhelm Durandus von Johannes Beleth übernimmt: Die Sieben könne auch für die psychosomatische Einheit des Menschen in seinem Leben stehen, indem sie 23 Mortis cuius erant quatuor argumenta, scilicet et magnum spatium temporis et rigiditas corporis et frigiditas et nigredo. Iacopo da Varazze [Anm. 19], Bd. 1, S. 486. 24 Gen 50,10. 25 Etwa wenn Judith sieben Tage betrauert wird (Jdt 16,24) oder das Buch Jesus Sirach deutlich macht: »Die Trauer um den Toten währt sieben Tage« (Sir 22,12). Auch in Num 19,11–19 werden sieben Tage Abstand für die rituelle Reinigung nach dem Umgang mit den Toten mehrfach vorgegeben. Vgl. ausführlicher auch Carl Gustav Homeyer : Der Dreißigste, in: Philologische und Historische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1864, Berlin 1865, S. 87–270, hier S. 89. 26 Vgl. hierzu ausführlich Paul von Naredi-Rainer : Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 61999, S. 51–60.

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die Dreizahl der Seelenkräfte (Fähigkeit zum Denken, zur Begierde, zur Erregung) und die Vierzahl der Körperelemente (also wohl der Galen’schen Säfte) bezeichnet.27 In einem übertragenen Sinne griff die Sieben also auf den Körper in diesem Leben zurück, die in der Acht, ihrer Überwindung, zugleich den symbolischen Abschluss der Trauer signalisierte. Der Körper des Toten spielt hier also eine Rolle, die den physischen Leichnam aber nur mehr symbolisch repräsentiert. Etwas anders sieht der Befund jedoch für eine nächste Phase aus: das neuntägige Trauern, bei dem der konkrete Leichnam noch einmal in unsere Geschichte zurückkehrt.

V.

»Und er blieb acht Tage ohne irgendeinen Geruch in der Welt«28 – das Novemdiale

Dieses Zitat stammt aus der ›Cirurgia‹ des Bologneser Chirurgen Pietro d’Argelata, der sich in diesem Abschnitt zur Einbalsamierung selbst rühmt, den Leichnam des 1410 in Bologna verstorbenen Papstes Alexander V. erfolgreich über mehr als eine Woche erhalten zu haben. Seine Bemerkung zu den acht Tagen ist Ausdruck seines Stolzes, solch eine schwierige Operation erfolgreich abgeschlossen zu haben; tatsächlich ist er der erste Chirurg, der einen solchen konkreten Erfolg bemerkt. Hier verweist die Achtzahl also nicht auf die Auferstehung; vielmehr ist es die Beherrschung des Verwesungsprozesses, die in der neu aufkommenden universitären und gelehrten Medizin des Spätmittelalters eine immer wichtigere Rolle spielte. Unter seinen Kollegen zeichnete sich Pietro d’Argelata somit als Experte aus. Doch warum wollte man den Papst überhaupt so lange aufbahren? Hier kommt eine andere Zahl ins Spiel, auf deren Bedeutung für das päpstliche Zeremoniell bereits Agostino Paravicini Bagliani hingewiesen hat: die Neun.29 Mit der Bulle ›Ubi periculum‹ Papst Gregors X. wurde den Kardinälen 1274 die Wahl des Papstes innerhalb von zehn Tagen vorgeschrieben. Damit entwickelte sich der Wunsch, den verstorbenen Amtsvorgänger für die neun Tage zuvor

27 Aut certe propter septenarium animae et corporis. Habet enim anima tres potissimum proprietates, uti nimirum ratione, concupiscere, et irasci. Corpus vero ex quatuor constat elementis. Johannes Beleth [Anm. 14], S. 312. Vgl. Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 88 (VII,35,6). 28 Demum fuit indutus vt summus pontifex et stetit per dies octo sine aliquo fetore mundi. Pietro d’Argelata: Cirurgia, München, BSB, Inc.c.a. 3723, fol. 109r (URL: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/0004/bsb00045667/images/, zuletzt eingesehen am 3. 12. 2018). Vgl. Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 280–282. 29 Agostino Paravicini Bagliani: Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit, München 1997, S. 144–163.

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aufzubahren, die Bestattung und die Inthronisation als einen flüssigen rituellen Ablauf zu gestalten, der den Toten noch im Amt beließ, bis die Nachfolge sicher geklärt war. Eine solche Entwicklung hatte es bereits zuvor mit wenig nachhaltigem Erfolg in ottonischer Zeit gegeben. Bei ottonischen Bischöfen versuchte man eine verlängerte Aufbahrung, um die Wahl und Einsetzung des Nachfolgers in dieser Zeit zu lösen. Als 1008 Bischof Notker von Lüttich starb, bahrte man ihn an fünf konsekutiven Tagen in fünf Kirchen der Stadt auf;30 ein ähnliches Prozedere ist für die Bischöfe von Worms31 und die Erzbischöfe von Magdeburg belegt, wobei in den Berichten Thietmars von Merseburg auch der Konnex zwischen Leichentransport, Aufbahrung und Bestattung des Amtsvorgängers und der Wahl, Designation und Einsetzung des Nachfolgers äußerst deutlich wird.32 Warum aber setzte sich dieser Brauch dann erst bei den Päpsten des 13. Jahrhunderts durch? Zunächst hatte sich die Einbalsamierung weiterentwickelt, sodass eine solch lange Aufbahrung möglich wurde. Der Erfolg des Pietro d’Argelata ist nur im Zusammenhang mit der von Chirurgen herbeigeführten Verbesserung der Einbalsamierung im 14. und 15. Jahrhundert zu verstehen.33 Zudem war die neuntägige Trauerfrist seit der Antike bekannt. Zwar fehlte jede biblische Vorlage für die neun Tage, und Augustinus lehnte diese Frist als heidnisch sogar ganz dezidiert ab,34 doch handelte es sich in der Einführung des 30 Jean-Louis Kupper: De la s8pulture des princes-8vÞques de LiHge, in: Entre Paradis et Enfer. Mourir au Moyen ffge, 600–1600, hg. von Sophie Balance/Alexandra De Poorter, Brüssel 2010, S. 137–145, hier S. 137, und Bernd Päffgen: Die Speyerer Bischofsgräber und ihre vergleichende Einordnung. Eine archäologische Studie zu Bischofsgräbern in Deutschland von den frühchristlichen Anfängen bis zum Ende des Ancien R8gime, Friedberg 2010 (Studia archaeologiae medii aevi 1), S. 55. 31 Ernst Gierlich: Die Grabstätten der rheinischen Bischöfe vor 1200, Mainz 1990 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 65), S. 231f., und Päffgen [Anm. 30], S. 54, Anm. 456. 32 Thietmar von Merseburg: Chronicon, in: MGH SS rer. Germ. N. S. 9, hg. von Robert Holtzmann, Berlin 1935, S. 266–268 (V,40f.). Vgl. hierzu ausführlicher Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 409f., sowie allgemein zur Bestattung von Bischöfen: Rudolf Schieffer: Das Grab des Bischofs in der Kathedrale, München 2001 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosphisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 2011/4). 33 Zur Einbalsamierung im Mittelalter vgl. insbesondere Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 165–309. Dominic Olariu: La genHse de la repr8sentation ressemblante de l’homme. Reconsid8rations du portrait / partir du XIIIe siHcle, Bern 2014, S. 81–210. Ernst von Rudloff: Über das Konservieren von Leichen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Anatomie des Bestattungswesens, Diss. Freiburg i. Br. 1921. 34 Nescio utrum inueniatur alicui sanctorum in scripturis celebratum esse luctum nouem dies, quod apud Latinos nouendial appelant. Vnde mihi uidentur ab hac consuetudine prohibendi, si qui christianorum istum in mortuis suis numerum seruant, qui magis est in gentilium consuetudine. Augustinus von Hippo: Quaestionum in heptateuchum libri septem, in: Sancti Aurelii Augustinii Opera 5, hg. von Johannes Fraipont, Turnhout 1958 (Corpus Christianorum Series Latina 33), S. 1–377, hier S. 67f. (I,172). Auch Ambrosius ist deutlich, wenn er die biblischen Trauerzeiten bemerkt und das Novemdiale auslässt: »Und einige sind es

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Novemdiale wahrscheinlich auch um einen humanistischen Rückgriff auf die Antike.35

VI.

»Die Israeliten beweinten Mose dreißig Tage lang in den Steppen von Moab«36 – dreißig Tage

Moses wurde – wie sein Bruder Aaron37 – für dreißig Tage beweint. Bei dieser Trauerfrist wird erneut die biblische Vorgabe wichtiger ; die Idee einer Trennung von Körper und Seele tritt zugleich zurück. Vielmehr geht es um eine liturgische und gelehrte – weil biblisch begründete – Trauerphase, die insbesondere der Klerus als signifikant wahrnahm. Sie ist umfangreich belegt und kommt beispielsweise in liturgischen Handbüchern prominent vor; hier wird zudem als Begründung die Verbindung zur Monatsfrist gezogen.38 In der monastischen Praxis war die Dreißig zudem etabliert, da die Tagesration eines verstorbenen Mitbruders dreißig Tage lang nach seinem Tod (ebenso wie erneut am Jahrtag) an die Armen ausgegeben wurde.39 Für ein tieferes Verständnis nützlich ist ein Blick in die erzählende Literatur des Mittelalters. In der ›Relatio‹ von Rein, einer Erzählung des ausgehenden 12. Jahrhunderts aus der Zisterze Rein bei Graz, wird von zwei cluniazensischen Mönchen berichtet, die sich um ihr Seelenheil nicht sicher sind; als der eine schwer erkrankt, machen sie aus, dass sie sich in dreißig Tagen nach seinem Tod

35

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gewohnt, den dritten Tag und den dreißigsten, andere den siebten und den vierzigsten zu beachten«. Et quia alii tertium diem et tricesimum, alii septimum et quadragesimum observare consuerunt, quid doceat lectio condiseremus. Ambrosius von Mailand: De obitu Theodosii, in: Sancti Ambrosii opera, pars septima, hg. von Otto Faller, Turnhout 1955 (CSEL 73), S. 371–401, hier S. 372. Entsprechend skeptisch äußert sich Wilhelm Durandus zu dieser Frist. Nachdem er knapp erwähnt, dass das von manchen gefeierte Novemdiale etwa mit Hinweis auf die neun Chöre der Engel begründet werde, fährt er fort: »Dies aber wird von einigen nicht gutgeheißen, damit wir nicht die Heiden nachzuahmen scheinen; denn von diesen scheint es genommen zu sein, da sie neun Tage lang ihre Toten beweinten und am neunten Tag deren Asche in Pyramiden oder in Grabhügeln beisetzten.« Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 88 (VII,35,7). Vgl. auch Johannes Beleth [Anm. 14], S. 313, und Sicard von Cremona: Mitralis de officiis, hg. von G#bor Sarbak/Lorenz Weinrich, Turnhout 2008 (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 228), S. 666 (IX,50). Das zeigt bereits der Begriff ›Novemdiale‹. Diese neuntägige Frist wurde bei lateinischen Autoren wie Livius, Cicero, Horaz, Virgil, Statius und Apuleius erwähnt, das spätantike römische Recht schützte den Leichnam insbesondere in den ersten neun Tagen. Eine Liste solcher Belegstellen stellte bereits Homeyer [Anm. 25], S. 90–92 und 94f., zusammen. Dtn 34,8. Num 20,29. Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 88 (VII,35,8). Vgl. ausführlich zudem Homeyer [Anm. 25]. Joachim Wollasch: Necrolog, in: LexMAVI (2002), Sp. 1078f., hier Sp. 1079, mit Verweis auf die einschlägige Literatur.

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auf einem Berg wiedersehen würden. Als der überlebende Mönch an besagtem Tag zu besagtem Ort kommt, findet er in einer schrecklichen Vision und durch die Worte des ihm erscheinenden Toten bestätigt, dass dieser zur ewigen Höllenpein verdammt sei – sicherlich zur großen Freude des zisterziensischen Publikums der ›Relatio‹. In unserem Zusammenhang ist interessant, dass das verabredete Treffen eben genau 30 Tage später stattfindet,40 einer durchaus typischen Frist für die Rückkehr von Toten, die über ihr Schicksal Auskunft erteilen.41 Der Leichnam wird nicht mehr genannt, aber die Seele hat offenbar an diesem Tag noch eine Nahebeziehung zu dieser Welt. Der Tote scheint also bei dreißig Tagen keine körperliche Präsenz mehr zu haben, aber sein Erscheinen konnte durchaus physische Wirkungen haben. Als Beweis der erfolgten Begegnung durchschlägt ein Funke des brennenden Mönchsgewands seines höllischen Kumpanen dem lebenden Mönch die Hand. Im etwas früheren Pseudo-Turpin erscheint ein verstorbener Vater nach dreißig Tagen seinem Sohn, als dieser sein Testament nicht in seinem Sinne vollstreckte; am folgenden Tag wird der ungehorsame Mann vor den Augen eines ganzen Heeres von Dämonen unter wildem Geheul lebendig fortgerissen.42 Erklärlich wird vor diesem Hintergrund der Bedeutung der Dreißigtagesfrist auch, warum es als Motiv im Kontext von Wiederverheiratungen aufkommt. In den ›Chronique de Normandie‹ aus dem Jahr 1487, welche die fantastische Reise eines Ritter Richard in den Nahen Osten beschreibt, trifft der Protagonist so beispielsweise am Katharinenkloster am Berg Sinai auf einen Freund, der vor sieben Jahren von den Sarazenen gefangen worden war. Als Richard ihm eröffnet, seine Frau werde in dreißig Tagen heiraten, bittet ihn dieser inständig, ihr sein Überleben mitzuteilen, und sendet mit Richard eine Ringhälfte zur Bestätigung mit. Richard kehrt wundersam zurück und unterbindet die neue Heirat. Warum aber sind es dreißig Tage? Die biblische Trauerfrist war im Mittelalter zugleich auch ins Recht übernommen worden; Witwen durften nicht innerhalb von dreißig Tagen wieder heiraten, das Erbe

40 Tricesima igitur die ad montem illum quo sotio condixerat iam ad/uesperascente solus uenit solus ascendit cum timore tamen; Die Vorauer Novelle und die Reuner [sic] Relationen, hg. von Hans Gröchening, Göppingen 1981 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 81), S. 28f., Zitat S. 29. 41 Ein weiteres Beispiel findet sich beim Kontinuator der Chronik des Dominikaners von Colmar aus dem frühen 14. Jh., ediert in: Erich Kleinschmidt: Die Colmarer DominikanerGeschichtsschreibung im 13. und 14. Jahrhundert. Neue Handschriftenfunde und Forschungen zur Überlieferungsgeschichte, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 28 (1972), S. 371–496, hier S. 447–449. 42 Sed quia malefactis divini iudicii vindicta proxima esse solet, transactis triginta diebus apparuit ei nocte in extasi mortuus; Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische Pseudo-Turpin in den Handschriften aus Aachen und Andernach, hg. und übers. von Hans-Wilhelm Klein, München 1986 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters. Editionen und Abhandlungen 13), S. 46–49, Zitat S. 46.

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binnen dieser Frist noch nicht verteilt werden.43 Es ist in dieser spätmittelalterlichen Erzählung aber nur mehr eine Art zusätzlicher Schutzfrist, denn sieben Jahre sind ja schon seit dem Fortzug vergangen; auch die Siebenzahl hat also Platz im Narrativ gefunden. In der aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammenden Erzählung ›Der Württemberger‹ klagt eine verstorbene Ehebrecherin bei ihrem Erscheinen: »Mein Körper ist vor dreißig Jahren zugrunde gegangen, er ist vermodert, und was ihr hier seht, ist nur ein Widerschein.«44 Interessant ist dabei der Aufgriff der dreißig Tage, die nun in Jahre verwandelt werden, ohne das Zahlenspiel aufzugeben; dabei spielt der bereits verweste Leichnam eine zentrale Rolle. Der Hinweis auf seinen bereits erfolgten Zersetzungsprozess macht auch deutlich, dass man auch die Dreißigtagesfrist in diesem Zusammenhang sehen kann: Ein guter Teil der Verwesung hat nun schließlich schon stattgefunden. Mit der ›Legenda Aurea‹ schärfte auch einer der wichtigsten hagiographischen Texte des Mittelalters die Einhaltung der dreißigtägigen Trauer ein. Sie berichtet von einer wundersam in einem Eisblock eingeschlossenen Seele, die vom Bischof von Alba forderte, dass man ihr zu ihrer Befreiung dreißig Messen an dreißig aufeinanderfolgenden Tagen singen möge; daraufhin sabotieren die Dämonen mit allen Mitteln die Abhaltung der Messen durch interne Zwistigkeiten in der Stadt, externe Kriegsereignisse und den Brand des Bischofspalastes selbst, bevor die Abhaltung aller Messen dem standhaften Bischof schließlich gelang.45 Hier wird diese Zeitfrist damit aber getrennt vom körperlichen Schicksal und unabhängig von ihrem direkten Anschluss an den Tod gedacht. Es geht also nicht um eine konkrete Zeit der Trennung zwischen Seele und Körper, sondern vielmehr um die richtige Einhaltung der rites de passage, um das glückliche Schicksal der Seele zu gewährleisten. 43 Eine Frist von dreißig Tagen Trauerzeit wird für Witwen bereits unter Ludwig dem Frommen eingeschärft; MGH Capit. 1, hg. von Alfred Boretius, Hannover 1883, S. 195–373, hier S. 278 und 281. Der ›Sachsenspiegel‹ verbindet die Trauerfrist zudem mit dem Antritt des Erbes; Eike von Repgow, Sachsenspiegel. Landrecht, Bd. 1, hg. von Karl August Eckhardt, Göttingen/Berlin/Frankfurt 21955 (MGH Fontes iuris N.S. 1/1), S. 87f. (I,22,1–3). Einen Fall des 15. Jhs. bietet: Sammlung deutscher Rechtsquellen, Bd. 1, hg. von Hermann Wasserschleben, Gießen 1860, S. 283 (Kap. 147). Vgl. Homeyer [Anm. 25], S. 96, 116 und 201–205, mit weiteren Belegen sowie knapper auch bei: Lecouteux [Anm. 15], S. 52f. 44 vor dreizzig jaren waz mein leib / erfawlt und erstorben, / diu sel da mit verdorben. / hie ist newr des leibs schein, / diu sel leidet dar inne pein. Der Württemberger, hg. von Franziska Heinzle, Göppingen 1974 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 137), S. 166 (W 120–124). Übersetzt nach: Lecouteux, Nachtdämonen [Anm. 15], S. 55. 45 Iacopo da Varazze [Anm. 19], Bd. 2, S. 1252 (zum Allerseelenfest). Dass es sich vermutlich um den Bischof von Alba handelt, ergibt sich aus der Nennung der Herkunft der Fischer, die ihm das wundersam im Herbst gefundene Eis zur Linderung eines Fußleidens bringen: Sie stammen aus San Teobaldo, einem kleinen Ort bei Alba. In der Diözese wurde der Heilige Teobaldo Roggeri besonders verehrt, und die Nähe zu Genua erklärt auch, warum diese Geschichte Eingang in die dort entstandene ›Legenda Aurea‹ fand.

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VII.

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»da man sie länger als einen Monat oder ein Jahr unbestattet belassen muss«46 – vierzig, fünfzig, siebzig, hundert Tage?

In seiner einflussreichen ›Chirurgia‹ aus dem frühen 14. Jahrhundert nennt Heinrich von Mondeville mehrere Verfahren zur Erhaltung der Körperhülle. Dabei staffelt er die Techniken nicht nur nach ihrer Effektivität, sondern auch nach dem sozialen Status der betroffenen Personen. Die Reichen würde man so nicht nur einbalsamieren, sondern dann, wenn sie von weit her überführt werden müssten, auch in einen Bleisarg legen, so dass eine Zeitspanne von mehr als einem Monat überbrückt werden könne: »So nämlich kann man den Körper verwest und unverwest aufbewahren und überallhin transportieren, denn weder Geruch noch Dunst kann vor dem Tag des Gerichts entweichen, wenn das Gefäß ausreichend ist und nicht durch einen Zusammenstoß oder einen anderen Grund von außen aufgebrochen wird.«47 Der Leichnam wird also dadurch lange haltbar gemacht, dass man ihn nach der Einbalsamierung den Blicken entzieht. Er spielte folglich in einem Zeitraum von mehr als einem Monat nach dem Tod in der Regel nur mehr für die Elite der Gesellschaft eine Rolle. Tatsächlich scheint aber auch das konkrete Totengedenken in diesem Zeitraum nachgelassen zu haben. Trotzdem gibt es noch Hinweise auf mehrere Zeitspannen, die zwischen dem bedeutsamen dreißigsten Tag und der Jahresfrist lagen. Zunächst sind hier die vierzig Tage zu nennen, die der Bibel zufolge die Einbalsamierung des alttestamentlichen Jakob benötigte, bevor er von seinem Sohn Joseph aus Ägypten nach Palästina transportiert wurde. »Darüber vergingen vierzig volle Tage, denn so lange dauerte die Einbalsamierung«,48 heißt es im biblischen Bericht. Das Zitat wurde weniger für die konkreten Trauerzeiten in der Praxis wichtig, als vielmehr als Rechtfertigung der Praxis der Einbalsamierung selbst.49 Die ›Genesis‹ ergänzt an der bereits für Jakob zitierten Stelle noch eine weitere Frist: »Die Ägypter beweinten ihn siebzig Tage lang.«50 Diese Frist spielte aber offenbar im konkreten Ritus des Mittelalters eine untergeordnete Rolle, wohl da die Ägypter nun eben als Heiden verstanden wurden.51 Endgültig verwirrend wird der Befund bei 46 De corporibus divitum, quae necessario custodia et praeparatione indigent, quia forte per mensem aut per annum servari debent non sepulta; Heinrich von Mondeville: Die Chirurgie des Heinrich von Mondeville (Hermondaville) nach Berliner, Erfurter und Pariser Codices, hg. von Julius L. Pagel, Berlin 1892, S. 391. Übersetzung in: Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 273. 47 Heinrich von Mondeville [Anm. 46], S. 392. Vgl. Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 274. 48 Gen 50,3. 49 Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 171–178. 50 Gen 50,3. Also war auch eine Beweinungszeit von 70 Tagen biblisch belegbar. 51 Entsprechend fehlen die 70 Tage in der bereits zitierten Aufstellung des Kirchenvaters Ambrosius ebenso wie das Novemdiale [Anm. 34].

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einem Blick in die Schriften der hochmittelalterlichen Liturgiehandbücher : Hier werden neben den biblisch begründeten vierzig Tagen mit Hilfe einfacher Zahlensymbolik Trauerzeiten von fünfzig, sechzig und hundert Tagen eingeführt; die siebzig Tage, die biblisch begründbar wären, fehlen bei Wilhelm Durandus überraschenderweise ganz.52 Dass es – zumindest meines Wissens nach und ganz anders als bei den dreißig Tagen – keine Quellen für eine konkrete Praxis gibt, in denen diese Zeiträume jenseits der liturgischen Handbücher eine signifikante Rolle spielten, zeigt, dass diese Handbücher ihrerseits nicht einfach die liturgische Praxis wiedergeben. Auch scheinen die Quellen für einen umfangreichen Reflex auf die damit einmal eingeführten Trauerzeiten in der Praxis des Spätmittelalters zu fehlen.

VIII. »Es gibt den Tag des Jahrgedächtnisses für die Verstorbenen deshalb, weil wir nach Augustinus nicht wissen, wie es ihnen im anderen Leben ergeht«53 – der Jahrtag Anders verhält es sich bei dem Gedächtnis an die Toten am ersten Jahrtag, den man bereits in der römischen Antike einhielt und den das Christentum übernahm.54 Tatsächlich stand die Wiederkehr des Sterbetags im Zentrum der mittelalterlichen Memoria. Entsprechend erwähnen sie auch die Liturgiehandbücher ausführlich; bemerkenswert ist die Art, in der Wilhelm Durandus dabei auf Augustinus zurückgreift und das Gedächtnis am Jahrtag in Verbindung zum Gedächtnis an den Toten bringt, das lieber zu oft als zu selten erfolge.55 In dieser Perspektive stellt dieser Tag eine Möglichkeit dar, den Toten sicherheitshalber nicht zu vergessen; gleichzeitig impliziert Wilhelm damit aber auch, dass die Strafen im Fegefeuer für viele Verstorbene nach einem Jahr bereits abgeschlossen sein könnten. Damit eröffnet er Überlegungen zur unbekannten Länge der Läuterung der Seele im Jenseits. Grabinschriften und Nekrologien mit ihrer Ausrichtung am Sterbetag machen nur Sinn, wenn dem Jahrtag diese besondere Rolle als Mnemotechnik für 52 Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 88f. (VII,35,9–13). Vgl. Sicard von Cremona, der noch nicht die Sechzig, aber dafür wiederum die Siebzig neben Vierzig, Fünfzig und Hundert nennt; Sicard von Cremona [Anm. 34], S. 666 (IX,50). 53 Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 90 (VII,35,16). Übersetzung aus: Wilhelm Durandus: Rationale Divinorum Officiorum, Bd. 3, hg. von Rudolf Suntrup, übers. von Heribert Douteil, Münster 2016 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 107/3), S. 1356f. 54 So ist das sacrificium anniversarium, quod recte fieri non posset, nisi ipsus eo die ibi sit einer der Gründe, der römischen Soldaten das Fernbleiben trotz einer Ladung durch den Konsul gestattete; Aulus Gellius: Noctes Atticae, Bd. 2, hg. von Peter K. Marshall, Oxford 21990 (ND 1991), S. 479 (XVI,4). 55 Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 89f. (VII,35,14–17).

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das Totengedächtnis zukam.56 Dass der Jahrtag in der persönlichen Frömmigkeit von Christen besondere Bedeutung besaß, zeigt auch beispielsweise das von Jean-Claude Schmitt ausgewertete Tagebuch des Florentiner Kaufmanns Giovanni Morelli, der darin über die erschütternde Erfahrung des Todes seines neunjährigen Sohnes Alberto im Juni 1406 reflektiert; erst ein persönlicher Abschiedsritus am Jahrtag des Sohnes, zu dessen Abschluss er von dem Verstorbenen träumt und so die erhoffte Nachricht über dessen Rettung im Jenseits erhält, hilft Giovanni bei der Verarbeitung des traumatischen Ereignisses.57 Es scheint fast so, als wäre mit der Idee des Jahrtags nicht einfach nur ein Stichtag für die Abhaltung passender Memoria verbunden gewesen, vielmehr verband sich mit der Idee des Jahreslaufes ein zyklisches Modell. Die Seele kehrte also gerade dann gerne auf die Erde zurück, wenn sich ihr Todestag näherte. Das wird etwa im Falle eines jungen Mitglieds des Zisterzienserordens deutlich, von dem Caesarius von Heisterbach berichtet: Als dieser auf einer Grangie des Ordens arbeitete und dort die Schafe hütete, erschien ihm sein Vetter, um ihn um Seelenmessen zu seinen Gunsten anzuflehen. Der Vetter wird dabei charakterisiert als ein Mann, »der in noch jungem Alter zu derselben Zeit verstorben war«.58 Die Jahresfrist spielt übrigens nicht nur für die Toten selbst, sondern auch für Lebende, denen sie begegnen, immer wieder eine Rolle. Häufig erkranken sie in Folge der Begegnung für ein Jahr schwer oder sterben ein Jahr nach der Begegnung.59 Bei Petrus Damiani findet sich die Geschichte von einer Frau, die in 56 Bleitäfelchen, wie sie ab dem ausgehenden 10. Jh. den Toten der Elite ins Grab mitgegeben wurden, beinhalten in ihrem Formular üblicherweise nicht das Sterbejahr, sehr wohl aber den Sterbetag, boten also im Falle einer Graböffnung die Möglichkeit, die Memoria am Jahrestag aufzunehmen. Das ist insofern interessant, als dies eine Absicherung gegenüber dem Verlust von Erinnerung in anderer Form darstellt, die ja etwa im Falle von Kaisern, Königen und Bischöfen doch durch die schriftlichen Zeugnisse (Nekrologien, Historiographie der Klöster, Grabdenkmäler) ausreichend gesichert erschienen haben könnte. Offenbar wollte man aber sichergehen, wenn es um das jenseitige Heil ging; zudem half bei Bischöfen gleichen Namens der Sterbetag gerade wegen der zusätzlich vorhandenen Schriftlichkeit bei der Identifizierung. Romedio Schmitz-Esser : Kommunikation mit wem? Die Bleitafel des Bremer Bischofs Leuderich, in: Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, hg. von Jan Keupp/Romedio Schmitz-Esser, Ostfildern 2015, S. 77–100. Thomas Meier : Inschrifttafeln aus mittelalterlichen Gräbern. Einige Thesen zu ihrer Aussagekraft, in: Death and Burial in Medieval Europe. Papers of the ›Medieval Europe Brugge 1997‹ Conference 2, hg. von Guy De Boe/Frans Verhaeghe, Zellik 1997 (Instituut voor het Archeologisch Patrimonium 2), S. 43–53. Hartmut Ehrentraut: Bleierne Inschriftentafeln aus mittelalterlichen Gräbern, Diss. Bonn 1951. 57 Schmitt, Les revenants [Anm. 8], S. 71–76. 58 in adolescentia eodem tempore defunctus; Caesarius von Heisterbach [Anm. 9], S. 2256f. (XII,33). 59 So findet sich in der ›Vita sancti Leonis pape‹, die Wipert von Toul um 1060 verfasste, der Bericht von einem Mann, der sich einem Zug von weiß gekleideten Toten vor den Toren von

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einer römischen Kirche bei einer Messe ihrer verstorbenen Verwandten begegnet, die ihr ihren eigenen Tod in einem Jahr voraussagt.60 Dieses Beispiel ist deshalb besonders aussagekräftig, weil hier die Herkunft der Jahresfrist für den Tod nach der Begegnung deutlich wird: Auch die Verwandte war vor »fast einem Jahr« gestorben; die Spiegelung der Jahresfrist wird hier als Motiv also sichtbar.

IX.

Requiem aeternam dona eis, Domine – die Endlichkeit der Zeit bis zum Jüngsten Gericht

Die Forschungen zur mittelalterlichen Sepulkralkultur zeigen ein weiteres heterochrones Zeitkonzept auf: die Ambivalenz zwischen der bei der Trauerarbeit (etwa in den Gebetstexten für das Requiem) beschworenen ›ewigen Ruhe‹ und einer Praxis, bei der eine regelhafte Exhumierung der meisten Toten nach kaum mehr als zwei Generationen üblich gewesen ist.61 Die Bezeichnung ewiger Ruhe war also im Mittelalter in der Regel ebenso endlich wie in unserer Gegenwart. Bereits Jean-Claude Schmitt stellte zudem fest, dass die Gebetsfristen eben deshalb immer größere Abstände nach dem Tod aufwiesen, da das eigentliche Ziel christlicher Memoria nicht die dauerhafte Erinnerung, sondern das Vergessen zumindest der normalen Toten gewesen ist, nachdem diese der Fürsprache der Lebenden nicht mehr bedurften. Ziel der Memoria war es, den Übergang vom Leben zum Tod zu moderieren, die Qualen am jenseitigen Läuterungsort zu verkürzen und den Hinterbliebenen ein Vergessen zu ermöglichen.62 Doch zugleich konnte in einer augustinischen Perspektive auf das Leben nach dem Tod auch kein Zweifel daran aufkommen, dass die Verbindung von Seele und Körper für den Christen weiterhin bestand, denn beide würden nach ihrer Wiedervereinigung zum Jüngsten Gericht gemeinsam das letzte Schicksal bei der Auferstehung teilen. Nur so erklärt sich auch der Reliquienkult des Mittelalters, der auf der Annahme einer ›Realpräsenz‹ der Seelen der Heiligen in ihren

Narmi näherte und über deren Antworten so erschrak, dass er ein Jahr krank ans Bett gefesselt blieb. Wipert von Toul, Vita S. Leonis papae IX, in: Acta Sanctorum. Aprilis tomus secundus, hg. von Johannes Carnandet, Paris/Rom 21866, S. 647–673, hier S. 660. Vgl. Lecouteux [Anm. 15], S. 47. Ein von Radulf Glaber erwähnter Priester Frottier starb im folgenden Jahr an seiner Erkrankung, die ihm der Schreck beim Anblick eines Totenheeres eingejagt hatte. Radulf Glaber, Historiarum Libri Quinque. The Five Books of the Histories, hg. und übers. von John France, Oxford 1989, S. 222 (V,6). 60 Petrus Damiani, Die Briefe des Petrus Damiani, Bd. 4, hg. von Kurt Reindl, München 1993 (MGH, Die Briefe der Deutschen Kaiserzeit IV/4), S. 242f. (nr. 168). 61 Vgl. hierzu ausführlicher Schmitz-Esser, Leichnam [Anm. 10], S. 32–38. 62 Schmitt, Les revenants [Anm. 8], S. 17f.

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sterblichen Überresten basierte.63 Ein Blick auf Erzählungen von den wiederkehrenden Toten zeigt deutlich, dass es folglich auch keinen klaren Stichtag für die Lösung zwischen Seele und Körper geben konnte. Tote sind also eigentlich bis zum Jüngsten Gericht nie tot, entsprechend können sie auch immer wieder auftauchen.64 Es konkurrieren folglich zwei unterschiedliche Überlegungen miteinander, welche die systematische Zusammenstellung der Zeitpunkte noch einmal deutlich hervorgeholt hat, weil eben eine solche Systematisierung bei den Zeitgenossen letztlich fehlte: Einerseits glaubte man, dass die Seele und der Leib sich binnen einer Frist trennen würden; während dieser Phase war es möglich, mit den Toten in Kontakt zu treten.65 Andererseits war klar, dass die Toten letztlich nicht wirklich eine Trennung von Leib und Seele erlebten, da diese Verbindung weiterbestand, um am Jüngsten Gericht die Wiedervereinigung zu ermöglichen. »Darauf soll der Leichnam […] gewaschen werden, um anzudeuten, dass beide, nämlich Seele und Leib, die ewige Herrlichkeit und Klarheit am Tage des Gerichtes erlangen werden«, formuliert es Wilhelm Durandus mit Blick auf die Herrichtung des Leichnams und verweist auf dessen einstige Wiedervereinigung mit der Seele bei der Auferstehung.66 Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass es eine solche Vielzahl konkurrierender Fristen im Umgang mit den 63 Vgl. hierzu Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, Hamburg 22007, S. 149–166. Peter Dinzelbacher: Religiosität und Mentalität des Mittelalters, Klagenfurt/Wien 2003, S. 134–143. Ders.: Die ›Realpräsenz‹ der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. von dems./Dieter R. Bauer, Ostfildern 1990, S. 115–174. 64 Ein Beispiel bietet die Erzählung von Bernard le Gros, einem bedeutsamen Ritter aus der Gegend von Cluny, der auf einer Pilgerfahrt nach Rom verstarb, bevor er seinen Wunsch erfüllen konnte, Mönch in Cluny zu werden. Der Erzählung des Abtes Petrus Venerabilis zufolge erschien er »einige Jahre später« einem Vorsteher in der Verwaltung des Klosters Cluny, um für sein Seelenheil Linderung durch die Fürsprache der Mönche zu erbitten. Petrus Venerabilis: De miraculis libri duo, hg. von Dyonisia Bouthillier, Turnhout 1988 (Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 83), S. 40–42 (I,11). 65 Ein hochmittelalterlicher Autor bemerkt in einem Zürcher Manuskript entsprechend, dass man mit Hilfe eines Priesters insbesondere am siebten und dreißigsten Tag noch mit den Toten in Kontakt treten könne; Wilhelm Wackernagel: Wergeld Christi und Psalmenzauber, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 7 (1849), S. 134–139, hier S. 138, sowie mit Bezug auf diese antiquierte Transkription auch: Lecouteux [Anm. 15], S. 53, der jedoch nur indirekt über Kurt Ranke: Indogermanische Totenverehrung, Bd. 1: Der dreissigste und vierzigste Tag im Totenkult der Indogermanen, Helsinki 1951, S. 290, zitiert. Eine neue, unvorbelastete Bewertung des zugrundeliegenden deutschsprachigen Eintrags im Codex 171 der Stadtbibliothek Zürich wäre in diesem Zusammenhang wünschenswert, vgl. Leo Cunibert Mohlberg: Mittelalterliche Handschriften, Zürich 1951 (Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich 1), S. 74 (Nr. 195/5). 66 Wilhelm Durandus, Rationale [Anm. 14], S. 98 (VII,35,36). Übersetzung aus: Wilhelm Durandus [Anm. 53], S. 1364.

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Toten gegeben hat. Wie so oft im Bereich der eschatologischen Fragen kannte auch das Mittelalter keine grundlegende, allgemeingültige Antwort auf die konkreten Probleme, die sich mit dem Jenseitsbild der eigenen Religion ergaben. Konkret bedeutet das: Es gibt nach mittelalterlicher Vorstellung also keinen klaren Zeitpunkt, mit dem die Sphären der Lebenden und der Toten getrennt werden würden, sondern nur signifikante Zeitabschnitte. Ein Abschluss der Trennung von Seele und Körper wäre auch kontraproduktiv für die soziale Rolle der Vorstellung einer in der Fürsprache vor Gott aufeinander angewiesenen Gemeinschaft von Lebenden und Toten. Die Durchlässigkeit, nicht der Abschluss, schien im mittelalterlichen Modell ein wichtiger Aspekt dieser Wechselbeziehung zu sein.

X.

Absente Zeiten – ein Ausblick

Bei der abschließenden Betrachtung der Liste, die hier aufgestellt wurde, fällt auf, dass einzelne Tage fehlen. Dies sind vor allem die Tage Zwei, Fünf und Sechs, Zehn, Elf und Zwölf, deren Absenz in den Quellen trotz ihres durchaus vorhandenen Symbolwerts am meisten überrascht. Jede von ihnen hat einen dezidierten Symbolwert: Sechs gilt als perfekte Zahl, deren mathematische Eigenschaften sie besonders auszeichnen.67 Aber es ist ausgerechnet die Fünfzig, die Wilhelm Durandus als ›perfekte Zahl‹ bezeichnet, der die mathematische Qualität einer perfekten Zahl gänzlich fehlt.68 Nicht umsonst schafft Gott die Welt eben in sechs Tagen. Aber es ist die Erschaffung, die bei ihrer Zahlensymbolik im Zentrum steht; im Tod greift die mittelalterliche Gesellschaft nur indirekt auf diese Symbolkraft der Sechs zurück, indem man die ihr folgende Sieben aufgreift. Fünf und Elf sind klassische Zahlen, die als magisch oder leer interpretiert werden. Dabei kommt zumindest der Fünf eine gewisse Bedeutung im Umgang mit den Toten zu, nämlich in der Beschwörung von Dämonen. So ist es kein Zufall, dass eine der wenigen Quellen, die dezidiert ein Erscheinen des Toten nach fünf Tagen erwähnt, aus einem Inquisitionsprozess stammt: Der Bischof Jacques Fournier beschäftigte sich 1320 mit dem Fall des Arnaud G8lis, der behauptete, ihm würden die Toten erscheinen. Als ersten Vorfall untersuchte der Inquisitor die Wiederkehr eines Domherren von Saint-Antonin in Pamiers, dem Arnaud G8lis eben fünf Tage nach dessen Tod begegnete.69 Schon hierin wird deutlich, dass die im Folgenden für den Inquisitor nicht akzeptable Eigenstän67 Naredi-Rainer [Anm. 26], S. 74f. 68 Wilhelm Durandus [Anm. 14], S. 89 (VII,35,11). 69 Vgl. zum Fall des Arnaud G8lis bes. Kathrin Utz Tremp: Waldenser und Wiedergänger. Das Fegefeuer im Inquisitionsregister des Bischofs Jacques Fournier von Pamiers (1317–1326), in: Himmel. Hölle. Fegefeuer [Anm. 2], S. 125–134, hier S. 128–132.

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digkeit des Arnaud G8lis im Umgang mit den Toten von vorneherein diskreditiert erschien, denn seine Toten hielten sich an nigromantische, nicht an biblische Zahlenspiele. Zehn und Zwölf sind zwei bedeutsame Zahlen, doch sie haben ihren Ort in der mittelalterlichen Symbolik ebenfalls an anderer Stelle. Zehn als Grundlage der mit der Musik verbundenen Proportionssysteme nahm vor allem in der Baukunst eine wichtige Rolle ein; Zwölf hingegen stand als Zahl der Apostel für die Mission und die Verbreitung des Glaubens. Sie sind offenbar beide nur von untergeordneter Bedeutung für den Umgang mit den Toten. Gegen die Verwendung der höheren Zahlen sprach zudem ein rein praktischer Grund: Die Verwesung kann eine rituelle Nutzung in der Bestattungspraxis der langen Zeiträume von zehn oder zwölf Tagen kaum erleichtert haben. Interessanterweise gilt das auch für die Frist von zwei Tagen, die eben gerade durch ihre Unauffälligkeit zwischen dem unmittelbaren Sterbezeitpunkt und der deutlich erkennbar einsetzenden Verwesung nach drei oder vier Tagen keine größere Rolle gespielt zu haben scheint. Dieser Effekt trat umso stärker ein, als eben die biblische Vorgabe nur den Sterbetag und die Frist von drei beziehungsweise vier Tagen hervorhob. Mit der Zwei sind zum Schluss dieses Beitrags zwei wichtige Aspekte angesprochen: Zum einen zeigt sich in ihrer wenig bedeutsamen Rolle einmal mehr die Kombination zwischen ritueller Ausgestaltung von Sterben und Bestattung und konkreten, physischen Notwendigkeiten des Verwesungsprozesses, die die hier dargestellten Überlegungen durchzogen. Das komplexe Wechselspiel zwischen natürlichem Prozess und seiner kulturellen Überformung scheint ein besonders interessanter Aspekt bei der Frage nach heterochronen Zeitsemantiken im Umgang mit dem Tod zu sein. Zum anderen bietet die Zwei einen Fall, in dem die Argumentation auf dem scheinbaren Schweigen über ihre Verwendung nach Ausweis der mittelalterlichen Quellen basiert. Solche Aussagen ex silentio sind jedoch immer wissenschaftlich angreifbar und leicht zu widerlegen, sobald neue, hier unberücksichtigte Quellen herangezogen werden. Damit können sie aber eine gute Anregung für eine Diskussion der hier vorgestellten Ergebnisse und für weitere Forschungen in diesem Gebiet der mittelalterlichen Totenfürsorge sein.

Christian Kiening

Zeit des Aufschubs oder: Jedermanns Ende

I Quod fuimus estis, quod sumus (vos) eritis, »was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr« – diese Formel begegnet mehr oder weniger ähnlich schon in lateinischen Inschriften der Antike und dann in volkssprachlichen Versionen des Hohen Mittelalters. Seit dem 13. Jahrhundert wird sie szenisch oder bildhaft – auf Wandgemälden wie in Stundenbüchern – ausgestaltet: Drei junge Männer treffen, zum Beispiel bei der Jagd, auf drei Kadaver, die sie mit der bekannten Formel auf die unausweichliche Endlichkeit des Menschenlebens aufmerksam machen.1 Die drei Kadaver können je nach Tradition im Grabe liegen oder aus ihm sich erheben und die Lebenden attackieren; sie können Zeichen verschiedener hochadliger Stände tragen; und sie können in ihrem Verfall abgestuft sein, in Relation zu den ihrerseits altersmäßig differenzierten Lebenden. In jedem Fall ist die kontrastive Beziehung zwischen den einen und den anderen zugleich eine chiastische: Zwischen den beiden Gruppierungen verschränken sich die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit der einen ist 1 Karl Künstle: Die Legende der drei Lebenden und der drei Toten und der Totentanz. Nebst einem Exkurs über die Jakobslegende, Freiburg i. Br. 1908; Willy F. Storck: Die Legende von den drei Lebenden und von den drei Toten, Tübingen 1910; St8fan Glixelli: Les cinq poHmes des trois morts et des trois vifs, Paris 1914; Liliane Guerry : Le thHme du ›Triomphe de la Mort‹ dans la peinture italienne, Paris 1950, S. 38–57; Willy Rotzler : Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Ein Beitrag zur Forschung über die mittelalterlichen Vergänglichkeitsdarstellungen, Winterthur 1961; Erich Wimmer : Die drei Lebenden und die drei Toten, 2VL II, Sp. 226–228; B8r8nice Terrier : Le Dict des trois morts et des trois vifs et sa repr8sentation murale dans la centre de la France, in: Art Sacr8 14 (2001), S. 128–143; Christine Kralik: Änderungen in der Andachtspraxis und die Legende der drei Lebenden und der drei Toten in spätmittelalterlichen Handschriften, in: L’art macabre. Jahrbuch der europäischen Totentanz-Vereinigung 6 (2005), S. 135–147; Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Eine Edition nach der maasländischen und ripuarischen Überlieferung, hg. von Helmut Tervooren/Johannes Spicker, Berlin 2011 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 47); Nicole Eichenberger : Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters, Berlin/Boston 2015 (Hermaea N. F. 136), S. 540–548.

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die Gegenwart der anderen, die Zukunft der anderen die Gegenwart der einen. Oder, bezieht man die Formel auf den aktuellen Moment, den die beiden Gruppen zu teilen scheinen, so ist die Gegenwart einerseits nur mehr die Schwundstufe einer lebendigen Vergangenheit, andererseits nur eine flüchtige Phase im Hinblick auf die letztlich alles gleichmachende Zukunft. Die Formel gewinnt ihre Griffigkeit durch die situative Konkretheit, die sie impliziert: das Wir, das Ihr, das dialogische Muster. Sie lebt von der Figuration des personenbezogen unmöglichen und lebensweltlich doch beständig gegebenen Mit- und Gegeneinanders von Lebenden und Toten. Die Begegnung der einen mit den anderen kann, wenn die Toten aggressiv auftreten, auf das abrupt sich einstellende Lebensende, die mors improvisa, zielen. Mehr noch gilt sie aber der Ermahnung und der Warnung, teilweise der text- oder bildinternen Figuren, immer der -externen Leserinnen und Leser, was zum Beispiel durch die rahmend auftretende Figur eines Eremiten unterstrichen werden kann. Es geht also um den Aufschub, der sich an dieser Stelle eröffnet, um die Möglichkeit, das eigene Leben noch im Sinne einer christlichen Bußfertigkeit und im Gedenken an das Seelenheil auszurichten. Es ist, wenn der Eindruck nicht täuscht, dieser Aufschub (lat. dilatatio, mhd. auffzug), der in der Todesdidaktik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit generell an Bedeutung gewinnt. In den Totentänzen werden zwar Standesvertreter gezeigt, die vom Tod oder von den Toten mitgenommen werden, doch die rahmenden Partien wenden sich an die, die ihr Leben noch ändern können. So werden in der ältesten Fassung des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes alle angesprochen, die noch im leben sint (V. 2), und ermahnt, sich vom sündigen Leben abzukehren, denn: die zeit ist kurz an disem leben (V. 17).2 Auch die Ars moriendi ist nicht einfach, wie man schon Seuses Text aus dem ›Buch der ewigen Weisheit‹ entnehmen kann, ein Hilfsmittel für Sterbende, sondern bietet die Möglichkeit einer imaginativen Vorwegnahme der mit dem Sterben verbundenen Aspekte und Prozesse.3 Wenn um 1500 in einer geistlichen Umschrift des 2 Wilhelm Fehse: Der oberdeutsche vierzeilige Totentanztext, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 40 (1908), S. 67–92, hier S. 83f.; zu diesem Text Christian Kiening: Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz, 2VL XI, Sp. 1074–1079; Almut Breitenbach: Der ›Oberdeutsche vierzeilige Totentanz‹. Formen seiner Rezeption und Aneignung in Handschrift und Blockdruck, Tübingen 2015 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 88). 3 Nigel F. Palmer : Ars moriendi und Totentanz. Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter, in: Tod im Mittelalter, hg. von Arno Borst [u. a.], Konstanz 1993 (Konstanzer Bibliothek 20), S. 313–334; vgl. auch Mark Chinca: Innenraum des Selbst, Innenraum des andern. Zur Ars moriendi im 15. Jahrhundert, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters, hg. von Burkhard Hasebrink [u. a.], Tübingen 2008, S. 355–381; Heike Sahm, Mediale Formatierung. Die ›ars moriendi‹ des 15. Jahrhunderts im Übergang von der Handschrift zum Druck, in: Daphnis 42 (2013), S. 29–91; Tod und Sterben. Lateinische und deutsche Sterbeliteratur des Spätmittelalters. Bearb. von Hiram Kümper. Mit einem Beitrag zur Bilder-Ars-

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Trennungs- und Abschiedsliedes Ich stund an einem morgen ein Jüngling auf den Tod trifft, spielt dieser selbstherrlich mit der Möglichkeit, sein Gegenüber noch einmal von der Angel zu lassen, ihm noch ein halbes Jahr oder mehr zu gewähren, was ihm doch nicht viel helfen würde: Ob du hindan thust fliehen / ein halbes jar auß dem landt / ich kann dir wol nach ziehen, / bin allenthalben bekannt. / Laß ich dich frey dasselbig jar, / so du kumbst wider heyme, / bist noch nit sicher zwar.4 In der gleichen Zeit halten die Todesfiguren auf Wandgemälden und Skulpturen, in Handschriften und Druckgraphiken immer häufiger das Stundenglas, die Sanduhr in der Hand – sie führen das Ende, das sie verkörpern, nicht einfach schon herbei, sondern zeigen es zunächst einmal an.5 Das gilt auch dort, wo der Tod zu einer Bühnenfigur wird,6 zum Beispiel in Moralitäten oder moralisierenden Fastnachtspielen. Auftretend als Bote Gottes, geschickt als ausführendes Organ des göttlichen Willens ist der Tod hier ein Vertreter der Macht, ein Substitut Gottes, ein fremder und zugleich vertrauter Gegner. Er gehört, wie Michael Titzmann festgestellt hat, »einer anderen ontologischen Klasse« an, »aber keiner so ganz anderen, daß Kommunikation nicht mehr möglich wäre«7. Mit ihm scheint verhandelbar, was mit dem göttlichen Richter selbst nicht zur Verhandlung steht. Mit ihm lässt sich ein Dialog führen, der immer wieder die gleichen Punkte tangiert: auf der einen Seite Unaus-

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moriendi von Andrea Berlin, Duisburg/Köln 2007 (Texte zur mittelalterlichen Literatur in Stoffgruppen 1). Alfred Herr : Zwei deutsche Lieder des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 57 (1919), S. 177–207, hier S. 181 (Str. 12); zu den verschiedenen Versionen des Liedes Dietrich Schmidtke: ›Ich stund an einem morgen‹, 2VL IV, Sp. 353–357. Vgl. Erwin Panofsky : Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance (urspr. 1939), New York 1962, S. 82f.; Christian Kiening: Privatheit und Innerlichkeit. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville/Peter von Moos, Wien 1998 (Norm und Struktur 10), S. 527–548; ders.: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003. Anton Dürrwächter : Die Darstellungen des Todes und Totentanzes auf den Jesuitenbühnen, vorzugsweise in Bayern, in: Forschungen zur Kultur- und Literaturgeschichte Bayerns 5 (1897), S. 89–115; Theodore Spencer, Death and Elizabethan Tragedy. A Study of Convention and Opinion in the Elizabethan Drama, Cambridge 1936; Roger Stilling: Love and Death in Renaissance Tragedy, Baton Ruoge/La. 1977; Thomas Habel: Der Tod im Fastnachtspiel. Beobachtungen zum Verhältnis von Stoff und Medium, in: Studien zur Thematik des Todes im 16. Jahrhundert, hg. von Paul Richard Blum, Wolfenbüttel 1983 (Wolfenbütteler Forschungen 22), S. 63–95; Alain Surdel, Les repr8sentation de la mort dans le th8.tre religieux du XVe siHcle et des d8buts du XVIe siHcle, in: La mort en toutes les lettres, hg. von Gilles Ernst, Nancy 1983, S. 11–23; Michael Titzmann: Der Tod als Figur im Drama des deutschsprachigen Gebiets des 16. Jahrhunderts. Implikationen und Transformationen, in: Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner, hg. von Klaus W. Hempfer/Gerhard Regn, Wiesbaden 1983, S. 352–393; Phoebe S. Spinrad: The Summons of Death on the Medieval and Renaissance English Stage, Columbus/Ohio 1987. Titzmann [Anm. 6], S. 362.

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weichlichkeit und Universalität, Nicht-Achtung von Gütern und Aufforderung zur Rechenschaft, auf der anderen Seite Nicht-glauben-Wollen, Verhandlungsversuche, Hoffnung auf Gewährung einer letzten Frist. Das Erscheinen des Todes ist mit Plötzlichkeit, Gewaltsamkeit und Vorzeitigkeit verbunden. Es eröffnet aber auch Spielräume: zunächst für das Gespräch, dann für eine letztmögliche Bewährung, in der die positiven und negativen Optionen des Diesseits wie des Jenseits ein letztes Mal zur Disposition stehen können.8 Die Begegnung mit dem Tod macht die Prinzipien einer sündhaften und unchristlichen Lebensführung evident. Sie bringt die im Soll stehende menschliche Lebensbilanz ans Licht. Sie lässt das Dasein zusammenschnurren auf Momente der Entscheidung, unterschiedlich lange, in denen sich die wahre Gesinnung des Betroffenen erweist, in denen aber auch die Frage nach dem Umgang mit Zeit, mit lebensweltlicher wie heilsgeschichtlicher Zeitlichkeit aufgeworfen ist. Dabei lassen die Spiele in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zugleich verschiedene Akzentsetzungen erkennen. Ihnen soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten.

II Das Grundmodell ist schon greifbar in volkssprachigen Contemptus-mundiund Memento-mori-Texten des 15. Jahrhunderts, die den problematischen Zustand der gegenwärtigen Christenheit aufs Korn nehmen. In einem in zahlreichen Handschriften überlieferten dialogischen Gedicht wird die Welt dafür gescholten, dass ihre Aufmerksamkeit allein zytlichen dingen gelte. Es wird ihr prophezeit, dass deshalb ihre zytlich ere vnd gu˚t rasch vergehen werde – wenn der Mensch sich nicht anders orientiere: Schaff diner armen sele rate, / stand ir mit hilffe ze aller zyt by¨, / als ob sie yetz in dem fegfure sy.9 Szenisch und dramatisch entfaltet wird diese Konstellation zunächst weniger in deutschen Texten – hier gibt es vor 1500 nur die ›Erfurter Moralität‹ und die ›Berliner Moralität‹, die jeweils andere Akzente setzen.10 Entfaltet wird sie im niederländischen ›Elckerlijk‹ (abgekürzt El.), der um 1496 zuerst gedruckt wurde, und weitgehend, aber nicht vollständig entsprechend im englischen ›Everyman‹ (abgekürzt Ev.), dessen erste Drucke in das frühe 16. Jahrhundert 8 Vgl. Thomas W. Best: Heralds of Death in Dutch and German Everyman Plays, in: Neophilologus 65 (1981), S. 397–403, hier S. 397. 9 Christian Kiening, Contemptus mundi in Vers und Bild am Ende des Mittelalters, in: ZfdA 123 (1994), S. 409–457, 482, hier S. 421. 10 Spiel von Frauen Ehre und Schande – Erfurter Moralität –, hg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 1: Text, Berlin 2013; Renate Schipke: Die ›Berliner Moralität‹. Ein unbekanntes Fragment aus dem Bestand der Deutschen Staatsbibliothek, in: Studien zum Buch- und Bibliothekswesen 4 (1986), S. 36–45.

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fallen.11 In beiden Stücken wird ein exemplarischer Vertreter der Menschheit, Jedermann, mit einem plötzlich einbrechenden Tod konfrontiert, der nicht nur die mors prima, das Ende des Lebens, sondern auch die mors secunda, die mors aeterna, den Tod der Seele, den Verlust des Seelenheils betrifft. In einer ersten Serie von Begegnungen wendet sich Jedermann an Vertreter jener Lebensdimensionen, die ihm immer besonders lieb waren: Freunde, Verwandte, irdische Güter. Alle bekennen sich zu ihm, suchen dann aber, als klar wird, wohin die Reise geht, schnell das Weite. Die Guten Taten sind allein zu schwach, um ihm zu helfen, erst ihre Schwester Erkenntnis (Kennisse, Knowlege) bringt ihn auf die richtige Spur : Er wendet sich zunächst an Beichte und dann an die göttlichen Instanzen. Damit ist er gewappnet, dem Tod nicht mehr als Figur, sondern als Prozess des Sterbens ins Auge zu sehen. Der Text gewinnt Züge einer dramatisierten Ars moriendi.12 In diesem Rahmen kommt es zu einer zweiten Serie von Begegnungen mit vertrauten Instanzen: Nun sind es Schönheit, Stärke, Vernunft und Fünf Sinne, die in ähnlicher Weise wie die ersten Figuren erklären, bei Jedermann bleiben zu wollen, schließlich aber doch, als das Ende naht, zurückbleiben.13 Die wiedererstarkten Guten Taten und Erkenntnis sind seine letzten Begleiter, bevor er mit den Worten Commendo spiritum meum einen gut christlichen Tod stirbt. Ein Engel erscheint und führt die Seele des Verstorbenen in den Himmel. Mit Hilfe von Personifikationsallegorien werden hier also verschiedene Phasen der Konfrontation mit den letzten Dingen ausgestaltet – wobei fraglos 11 Vergleichende Studien: Karl Goedeke: Every-man, Homulus und Hekastus. Ein Beitrag zur internationaler Literaturgeschichte, Hannover 1865; Wilhelm Creizenach: Geschichte des neueren Dramas, Bd. 1, Halle a. S. 21911, S. 461–490; Th[eodor] C. van Stockum: Das Jedermann-Motiv und das Motiv des verlorenen Sohnes im niederländischen und in niederdeutschen Drama, Amsterdam 1958 (Mededelingen der Koninklijke Akademie voor Wetenschappen, Afdeling Letterkunde. Nieuwe Reeks 21, 7); John J. Parker : The Development of the Everyman Drama from ›Elckerlyc‹ to Hofmannsthal’s ›Jedermann‹, Doetinchem 1970; Everyman & Company. Essays on the Theme and Structure of the European Moral Play, hg. von Donald Gilman, New York 1989 (AMS Studies in the Middle Ages) [Bibliographie S. 193–327]; Jan Bloemendal: Transfer and Integration of Latin and Vernacular Drama in the Early Modern Period. The Case of Everyman, Elckerlijc, Homulus and Hecastus, in: arcadia 44 (2009), S. 274–288. Eine populäre Sammlung von Texten bietet: Vom Sterben des reichen Mannes. Die Dramen von Everyman, Homulus, Hecastus und dem Kaufmann. Nach Drucken des 16. Jahrhunderts übers., hg. und eingel. von Helmut Wiemken, Bremen 1965 (Sammlung Dieterich 298). Zitierte Ausgabe im Folgenden: Everyman and Its Dutch Original, Elckerlijc, hg. von Clifford Davidson/Martin W. Walsh/Ton J. Broos, Kalamazoo, Mich. 2007 (Middle English Texts Series), unter Vergleich mit: Den spyeghel der salicheyt van Elckerlijc, hg. von A. van Elslander, Antwerpen 1985 (dort auch Bibliographie der älteren Forschung). 12 Donald F. Duclow: ›Everyman‹ and the ›Ars moriendi‹. Fifteenth-Century Ceremonies of Dying, in: Fifteenth Century Studies 6 (1983), S. 93–113. 13 Vgl. Phoebe S. Spinrad: The Last Temptation of Everyman, in: Philological Quarterly (1985), S. 185–194.

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bleibt, dass die Kombination aus Einsicht, Reue, Beichte, Buße und guten Werken sowie die Autorität der Priesterschaft eine entscheidende Rolle für jenen Prozess spielt, der von einem schlechten Ausgangspunkt schließlich doch zu einem guten Ende führt. Dieser Ausgangspunkt betrifft einerseits, in der Anfangsrede des Ansagers, die grundsätzliche Spannung von Anfang, Verlauf und Ende des menschlichen Lebens sowie dessen generell transitorischen Charakter. Er betrifft andererseits, aus göttlicher Perspektive, den Eindruck eines moralischen, sittlichen und religiösen Verfalls der Menschheit. Der majestätische Christus erinnert an die Ereignisse seiner Passion und konstatiert zugleich die Depravation der Welt, die van jare te jare (El. 22; from yere to yere; Ev. 43) fortgeschritten sei. Der englische Text leitet daraus die Notwendigkeit eines beschleunigten Handelns ab; keine Zeit sei mehr zu verlieren: Therfore I wyll, sagt Gott, in all the haste, / Haue a rekenynge of every mannes persone (Ev. 45f.); der Everyman solle sich rechtfertigen, Without delay or ony taryenge (Ev. 71).14 Auf diese Weise bringt bereits die anfängliche Rede Christi mehrere Zeitlichkeiten zusammen: die Vergangenheit, markiert durch das Geschehen der Passion, die Gegenwart, gekennzeichnet durch rapiden Niedergang, die Zukunft, die ihren Schatten vorauswirft – insofern die über die heilsgeschichtlichen Aussichten entscheidende Rechenschaft unmittelbar bevorsteht. Zwei metaphorische Felder werden hier eingeführt, die den weiteren Text prägen werden. Einerseits dasjenige der Rechenschaft (rekenninghe, rekenynge): Es ist nicht nur auf die Buchhaltung des Lebens im Allgemeinen gemünzt, sondern auch auf die Möglichkeit, diese Buchhaltung in der verbliebenen Frist in Ordnung zu bringen.15 Andererseits das Feld der Reise, der Pilgerreise (pylgrymage), das nicht nur auf die grundsätzliche peregrinatio des menschlichen Lebens bezogen wird, sondern auch auf die letzte Reise, die den Pilger erwartet. Die beiden Felder stecken den konzeptuellen Raum ab, in dem das Stück sich bewegt: hier die Dimension der Berechenbarkeit der guten Werke wie der verfügbaren Zeit, dort die Dimension der Bewegung, die weniger in einem konkreten Raum verläuft als 14 Zum englischen Text vgl. außerdem Lawrence V. Ryan: Doctrine and Dramatic Structure in ›Everyman‹, in: Speculum 32 (1957), S. 722–735; Thomas F. van Laan: ›Everyman‹: A Structural Analysis, in: Publications of the Modern Language Association of America 78 (1963), S. 465–475; John Conley : The Doctrine of Friendship in ›Everyman‹, in: Speculum 44 (1969), S. 374–382; Allen D. Goldhamer : ›Everyman‹: A dramatization of Death, in: Quarterly Journal of Speech 59 (1973), S. 87–98; William Munson: Knowing and Doing in ›Everyman‹, in: The Chaucer Review 19 (1985), S. 252–271; Richard Hillman: ›Everyman‹ and the Energies of Stasis, in: Florilegium 7 (1985), S. 206–226; Julie Paulson: Death’s Arrival and Everyman’s Separation, in: Theatre Survey 48 (2007), S. 121–141; Andrew Hadfield: The Summoning of Everyman, in: The Oxford Handbook of Tudor Drama, hg. von Thomas Betteridge/Greg Walker, Oxford 2012, S. 93–108. 15 Vgl. auch Elizabeth Harper/Britt Mize: Material Economy, Spiritual Economy, and Social Critique in ›Everyman‹, in: Comparative Drama 40 (2006), S. 263–311.

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zwischen zwei Zeitpunkten – dem, an dem der Mensch mit seinem Ende konfrontiert wird, und dem, an dem ihn dieses tatsächlich ereilt. Die eingeforderte Präsentation einer korrekten Buchhaltung betrifft im Grunde die Rechenschaft über die verbrauchte Zeit und die Einsicht, die sich, nun unter verschärften Bedingungen, aus der negativen Bilanz ergibt.16 Derjenige, der den von Gott aufgebauten Zeitdruck an den Menschen vermittelt, ist der Tod. Er agiert als ein Bote, der, im englischen Text wieder stärker als im niederländischen, der Hektik menschlichen Tuns (stonde styll; Ev. 85), die dramatisch und zeitlich zugespitzte Notwendigkeit der Besinnung gegenüberstellt: In grete hast I am sende to thee / From God out of his majesty8. […] A rekenynge he wyll nedes haue / Without lenger respyte (Ev. 90f./99f.). Everyman versucht, sich einen Handlungsspielraum zu verschaffen, muss aber einsehen, dass seine eigenen Vorschläge für zeitliche Aufschübe nichts fruchten: Zunächst will er noch allgemein longer layser, seine Rechenschaft soll auf einen unbestimmten anderen Tag (tyll an other daye) verschoben werden; dann probiert er es mit zwölf Jahren, schließlich mit einem Tag. Der Tod macht kein Zugeständnis, verschwindet aber noch einmal, was faktisch doch einen letzten Zeitraum eröffnet – der nun ganz unter dem Zeichen extremer Zeitknappheit steht: Den tijt gaet verre, tes nae noene (El. 173) – The tyme passeth. […] The day passeth and is almoost ago (Ev. 192/194). Elckerlijk/Everyman erinnert sich an die, mit denen er lange seine Zeit verbrachte: die Freundschaft, die Verwandtschaft, den Besitz – alle wollen ihm auf seinem Weg nicht folgen, eben weil dieser Weg zwar einerseits als lang und beschwerlich, andererseits aber als kurz und einlinig erscheint. So sagt Freundschaft im englischen Text: Wenn noch Zeit wäre, würde sie länger bei Jedermann bleiben (thou had taryed, I wolde not a left thee so. / And as now God spede thee in thy journaye, / For from the I wyll departe as fast as I may ; Ev. 294–296). Auch der Vetter meint: Um Rechenschaft ablegen zu können, bräuchte es mehr Zeit. Im Gespräch mit Besitz wird Elckerlijk/Everyman dann klar, dass alles, was er in seinem Leben geschätzt hat, ihm nur auf Zeit geliehen war. Die Guten Taten führen ihn zu Erkenntnis und diese zu Beichte. Und hier mischt sich schon ein wenig Hoffnung in die Zeitknappheit. Während es im niederländischen Text nur heißt: Want u tijt varinck eynden sal (El. 522), verdeutlicht der englische: For your tyme draweth fast, and ye wyll saved be (Ev. 569). Als Everyman dann, gut kirchlich, im Beisein seiner Freunde Schönheit, Stärke, Vernunft und Fünf Sinne sein Testament macht, bringt ein in der englischen Fassung hinzugefügter Satz zum Ausdruck, dass sich seine Einstellung zur Zeit geändert hat: This I do in despyte of the fende of Hell, / To go quyte 16 Vgl. David Kaula: Time and the Timeless in Everyman and Dr. Faustus, in: College English 22 (1960), S. 9–14.

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out of his parell / Ever after and this daye (Ev. 703–705). Pointiert verschränken sich Zukunft und Gegenwart. Everyman nennt zuerst das Kommende (ever after), dann den gegenwärtigen Tag (this daye). Das zeigt an, dass seine Orientierung sich von der irdischen Zeitlichkeit auf die überirdische Ewigkeit zu verschieben beginnt: Er trauert nicht mehr der verlorenen Zeit nach, beklagt nicht mehr die unaufhaltsam verrinnenden letzten Stunden, er richtet sich auf eine Transzendenz aus, die sich allerdings nach der Logik des Stücks ganz im Immanenten manifestiert. In diesem Sinne ist das Jetzt (nu, now), das am Ende des Textes erscheint, nicht mehr das sorgenvolle, von Zeitknappheit geprägte Jetzt des Anfangs. Es tendiert zu jenem ewigen Nunc, wie er sich mit dem Göttlichen und dem Himmelreich verbindet: Now hath he suffred that we all shall endure (Ev. 888), Now hathe he made endynge (Ev. 890), Now thy soule is taken thy body fro, […] / Now shalte thou in to the hevenly spere / Unto the whiche all ye shall cume / That lyveth well before the Day of Dome (Ev. 897–901). Mit dem Modell des sich mit dem Tod vollziehenden individuellen Gerichts, das sich für Everyman ins Positive wendet, ragt gewissermaßen ein Stück Endzeitlichkeit in die Gegenwart des Stücks hinein. Die tyme of dystress (Ev. 508), verursacht durch eine mangelhafte Lebensbilanz (blynde rekenynge; ebd.), verwandelt sich in eine ungetrübte Zeit der Freude, die auch hier wieder in einer optischen Metapher gefasst wird: Thy rekenynge is crystall clere (Ev. 898). Beide Stücke zielen solchermaßen darauf, dem Publikum nahezubringen, die Gesetze der irdischen Zeitlichkeit zu transzendieren, indem es sich der irdischen Gesetzlichkeit einer sakramental und klerikal geregelten Sterbekunst unterstellt. Sie tun dies aber auf unterschiedliche Weise. Die englische Moralität dramatisiert das Geschehen nicht zuletzt in zeitlicher Hinsicht. Sie entdeckt die Zeit als jenes Phänomen, an dem sich das irdische Geschehen ebenso wie seine Aufhebung am klarsten fassen lässt.

III Die Arbeit an der Zeit, die sich hier manifestiert, hat auch in den weiteren Fassungen des Jedermann-Stoffs im 16. Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen. Schon 1510 wurden in einem mit Holzschnitten und Meditationsmaterialien garnierten Münchner Spiel die heilsgeschichtlichen Optionen ausbuchstabiert.17 17 Ausgabe (ohne die Holzschnitte): Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen, hg. von Johannes Bolte, Leipzig 1927 (Bibliothek des Literarischen Vereins 269/270), S. 1–62. Zur Beziehung zwischen dem Spiel und ›Everyman‹ Barbara Könneker : Die Moralität ›The somonynge of Everyman‹ und das ›Münchner Spiel vom Sterbenden Menschen‹, in: Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. FS Hans-Gert Roloff, hg. von Jörg Jungmayr/Joseph P. Strelka, Frankfurt a. M. [usw.] 1983, S. 91–105. Neuere Literatur:

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Im Rahmen der irdischen Spielhandlung wird hier ein Kaufmann im Gespräch mit einem Doktor der Theologie gezeigt. Daran erinnert, dass er immerfort an seine letste zeyt (V. 283), allzeyt an den tod gedenncken solle (V. 287), entgegnet der Kaufmann, dies sei ihm kaum möglich, habe er doch seinen Geschäften nachzugehen, um Frau und Kinder zu ernähren (V. 289–293). Der Theologe modifiziert daraufhin »seinen Appell und passt ihn der Lebenswirklichkeit des Laien an«.18 Er gesteht ihm zu, dass er nit allso an den tod gedencken [müsse] zu˚ aller zeyt, sondern nur dann, wenn dich dein aygen fleisch raiczt zu˚n sünden / oder die wellt bewegt mit iren bösen fünden, / Oder der teüfel mit seinem falschen list, / dann so gedennck eben, das du sterblich bist ! (v. 296–300). Die Konsequenzen, wenn dies unterbleibt, erfährt der Kaufmann am Binnenexempel eines Jünglings, der, mit dem Tod konfrontiert, nur die Jetztzeit und die eigenen Vergnügungen im Blick hat; er kündigt an, erst in 30 Jahren der Lehre des Todes folgen zu wollen (V. 434), und wird daraufhin umgehend vom Tod mit seinem Pfeil niedergestreckt; dessen Aufforderung post mortem liegt ganz auf der Linie der anderen Jedermanndramen: Gib rechnung yetz zu˚ diser frist! / wann yetz deines lebens ennd ist (V. 477f.), nur dass hier der Ausgang klar ist: Umb dein verachtung unnd übermu˚t / mu˚stu ewig prinnen in helle glu˚t (V. 483f.). In diesem Sinne werden im weiteren Text dann »drei alternative Sterbevorgänge« präsentiert, »die in Himmel, Hölle und Fegefeuer einmünden«.19 Stirbt im Münchner Spiel der Jüngling anders als in den meisten anderen Fassungen des Stoffs tatsächlich unbußfertig, erhält sein reformiertes Pendant, e der Jüngling in Johannes Kolroß’ Stück ›Eyn schon spil von Fünfferley betrachtnussen‹ (1532), noch einmal eine Chance.20 Er hat sich einen ganz bestimmten Zeitpunkt ausgesucht, um seinen Genüssen zu frönen: die Osternacht. Christian Kiening: Schwierige Modernität. Der ›Ackermann‹ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen 1998 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 123), S. 250–259; Hansjürgen Linke: Das Münchner Eigengerichtspiel, in: Et respondeat. Studien zum deutschen Theater des Mittelalters. FS Johan Now8, hg. von Katja Scheel, Leuven 2002 (Mediaevalia Lovaniensia 32), S. 131–144; Mark Chinca: Norm und Durchschnitt. Zum ›Münchner Eigengerichtsspiel von 1510‹, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter, hg. von Elke Brüggen [u. a.], Berlin/New York 2012, S. 217–231; Christian Schmidt: Drama und Betrachtung. Meditative Theaterästhetiken im 16. Jahrhundert, Berlin/Boston 2018 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 93 [327]), S. 44–63; Maximilian Benz: München 1510: Ein Schauspiel vom Tode, in: Medialität. Historische Konstellationen, hg. von Christian Kiening/Martina Stercken, Zürich 2019 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 42), S. 247–256. 18 Schmidt [Anm. 17], S. 50. 19 Ebd., S. 55. 20 Ausgabe: Fünferlei Betrachtnisse, die den Menschen zur Buße reizen [bearb. von Thedor Odinga], in: Schweizerische Schauspiele des sechszehnten Jahrhunderts, bearb. […] von Jakob Bächtold, hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee, Bd. 1, Zürich 1890, S. 51–100; zum Text Schmidt [Anm. 17], S. 64–95.

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Um die Auferstehung des Erlösers zu feiern, dürfe man feiern und tanzen. Mitten im Tanz aber erscheint der Tod. Der schon am Boden liegende Jüngling erinnert sich sofort der warnenden Worte des Pfarrers und wendet sich erst an Gott mit der Bitte, ihm das Leben aufzufrischen (V. 241), dann an dessen ausführendes e Organ: Ach grimmer tod, gib mir noch zyl, / Wann ich myn laben bessern will (V. 242f.). Hier folgt kein Verhandeln, der Tod ist sofort bereit, den Aufschub zu e e gewähren (so laßs ich langer laben dich; V. 246). Er stellt einen letzten Tag zur e Verfügung, um die Bilanz in Ordnung zu bringen: Ein eynigen tag mogst blyben, / e Das soll dir billich vertryben / Dyn üppig fround vnd hohen mu˚t (V. 264–266). Im Weiteren gelingt es dem Jüngling, sich mit geistlicher Hilfe den Anfechtungen der Welt und des Teufels zu widersetzen, er wird wie in der niederländischenglischen Tradition von einem Engel ins Paradies geführt, wohingegen ein anderer Knabe mit dem Tod auch dem Teufel anheimfällt – ein negatives Exempel für die am Ende ausgebreitete Erziehungslehre. Während Kolroß’ Stück, wie es scheint, nicht unmittelbar auf den etwas älteren Jedermann-Dramen aufbaut, entstehen wenig später, ab Mitte der 1530 Jahre, lateinische Versionen aus der Feder verschiedener Humanisten, die an den niederländischen ›Elckerlijk‹ anknüpfen. Die Texte, ihrerseits mehrfach in die Volkssprachen übersetzt, sind: der ›Homulus‹ des Christian Ischyrius (Erstdruck: Köln 1536), der ›Hecastus‹ des Georg Macropedius (Erstdruck: Antwerpen 1539) und der ›Mercator‹ des Paulus Naogeorgius (Erstdruck: vielleicht Basel 1540).21 Alle drei stehen ebenso wie ihre Übersetzungen im Kontext konfessioneller Auseinandersetzungen: Unterstreicht Ischyrius die katholische Tendenz durch die Hinzufügung einer Marienszene,22 lässt sein Drucker Jaspar von Gennep, als er 1540 eine eigene deutsche Bearbeitung herausbringt, schon im Titel erkennen, dass er auf die lutherische Heilslehre reagiert: Er zitiert den

21 Vgl. Anm. 11 und Bernadette Verschelde: Macropedius’ ›Hecastus‹ (1539), Ischyrius’ ›Homulus‹ (1536) en ›Elckerlijc‹, in: Handelingen van de Koninklijke Zuid-nederlandse Maatschappij voor Taal- en Letterkunde en Geschiedenis 37 (1983), S. 235–254; dies.: Macropedius’ ›Hecastus‹: een herboren Elckerlyc, in: Didactica Classica Gandensia 23 (1983), S. 215–249; Thomas W. Best: Everyman and Protestantism in the Netherlands and Germany, in: Daphnis 16 (1987), S. 13–32; Jean-Marie Valentin: Die Moralität im 16. Jahrhundert. Konfessionelle Wandlungen einer dramatischen Struktur, in: Theatrum Catholicum. Les j8suites et la scHne en Allemagne au XVIe et au XVIIe siHcles. Die Jesuiten und die Bühne im Deutschland des 16. und 17. Jahrhunderts, Nancy 1990 (Ptudes allemandes), S. 113–127; Jan Bloemendal: Similarities, Dissimilarities and Possible Relations Between Early Modern Latin Drama and Drama in the Vernacular, in: The Early Modern Cultures of Neo-Latin Drama, hg. von Philip Ford/Andrew Taylor, Leuven 2013 (Supplementa Humanistica Lovanianesia 32), S. 141–157; Schmidt [Anm. 17], S. 122–149. 22 Ausgabe: Christianus Ischyrius: Homulus, hg. von Alexander Roersch, Gent/Antwerpen 1903; vgl. auch Elisˇka Pol#cˇkova: ›Mutato nomine dicor nunc Homulus‹. Latin Translation of the Morality Play of ›Elckerlijc‹, in: Listy filologick8 134 (2011), S. 323–339, hier S. 334.

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Römerbrief des Paulus (»Der Sünde Lohn ist der Tod«).23 Im Text selbst ersetzt er die bei Ischyrius formulierte Anerkennung »der Reformbedürftigkeit der römischen Kirche« durch einen »Angriff gegen die Neuerer«.24 Die beiden anderen Humanisten weichen noch stärker vom Ursprünglichen ab. Macropedius, Mitglied der der Devotio moderna nahestehenden Genossenschaft der Brüder vom gemeinsamen Leben, setzt an die Stelle der Werkgerechtigkeit die Besinnung auf den Glauben (Fides).25 Der Papstkritiker Naogeorg nutzt das Stück zu einer Polemik gegen den alten Glauben, seine Instanzen und Heilsmittel; er folgt der lutherischen Rechtfertigungslehre und der damit verbundenen Abschaffung des Bußsakraments und entwirft einen exemplarischen Heilsweg, der von der contritio und der desperatio über die infusio gratiae zur fides und zur electio führt;26 eine entscheidende Rolle spielt nun das Gewissen, das den Kaufmann schließlich doch auf den Weg des Guten setzt, wo er drei Vertretern des alten Glaubens, einem Fürsten, einem Bischof und einem Franziskaner, begegnet, die dem Teufel anheimfallen. So verschieden die Akzentsetzungen sind, bezeugen die Texte doch allesamt ein vom englischen Text unabhängiges Interesse an der temporalen Logik der Jedermanngeschichte. Jeweils bleibt die zentrale Szene erhalten, in der die Hauptfigur versucht, einen Aufschub zu erlangen, die zeitlichen Dimensionen werden aber unterschiedlich konkretisiert: Homulus erhält vom Tod ein kleine weil, bis zum Ende der Nacht (V. 788; paulisper ; fol. Aviijr, act. 1, sc. 4) zugestanden, Hecastus bekommt eine Stunde, Mercator wird sein Ende durch die Pest für den folgenden Tag angekündigt.27 Mit dieser Konkretisierung verbindet sich auch eine Plausibilisierung des Geschehens, das nun stärker in einen innerweltlichen Ablauf integriert wird. So gehen in den meisten lateinischen Texten und ihren Übersetzungen der für die Handlung entscheidenden Willensbezeugung Gottes (er will die Menschheit bestrafen und schickt dem Vertreter der Menschheit den Tod auf den Hals) Szenen voran, die das weltliche Leben der Hauptfigur veranschaulichen: als ein den Sinnen, der Lust, dem Genuss ergebenes Leben, das der heilsgeschichtlichen Orientierung ermangelt.

23 Ausgabe: Homulus (Der sünden loin ist der Toid). Geistliches Schauspiel von Jaspar von Gennep, hg. von P[eter] Norrenberg, Viersen 1873 (Bibliothek der niederrheinischen Literatur 1) [zit.]; vgl. R. Vos: Elckerlijc – Everyman – Homulus – Der sünden Loin ist der Toid, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 82 (1966), S. 129–143. 24 Valentin [Anm. 21], S. 775. 25 Zu Makropedius vgl. Georgius Macropedius 1487–1558. Leven en werken van een Brabantse humanist, hg. von Henk Giebels/Frans Slits, Tilburg 2005, über ›Hecastus‹ S. 252–266; Jan Bloemendal: Macropedius’ Drama in an International Context, in: European Medieval Drama 13 (2009), S. 39–55. 26 Arthur Hübner : Studien zu Naogeorg. 2. Mercator, in: ZfdA 54 (1913), S. 320–338, hier S. 321. 27 Ebd., S. 323.

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Diese Szenen spielen sich in einem relativ exakten zeitlichen Rahmen ab: Der deutsche ›Homulus‹ beginnt am Morgen mit der Planung des Festmahls für den Abend; es ist dieser zunächst scheinbar beliebig herausgegriffene Tag, der zu dem einen Tag, dem Schicksalstag, dem letzten Tag wird – darin dem Jüngsten Tag korrespondierend, den Gott eingangs für die Menschheit kommen sieht (der jüngste tag ist schon vorhanden; V. 599). Dieser Tag wird von einem typischen zu einem absolut singulären, der zugleich das Ganze des Lebens repräsentiert: Der tag ist vergangen, der abent ist hie (V. 686). Die konkrete Bedeutung von ›Tag‹ und ›Abend‹ verschiebt sich zu einer metaphorischen, die irdische Zeitlichkeit zu einer überirdischen – wobei das Augenmerk sich darauf richtet, dass der Protagonist eben dies begreift. Zeitvertreib ist hier das zentrale Stichwort: Das epikureische Verbringen von Tag und Nacht mit Speis und Trank, Spiel oder Hurerei wird aus der religiösen Perspektive, die zunächst der Tod oder, entallegorisiert, ein Legat oder ein Bote geltend macht, als Zeitverschwendung gebrandmarkt. Ein anderes Zeitverständnis kommt ins Spiel, auf den Punkt gebracht von dem mit der jenseitigen Ordnung verbundenen Eremitenbruder : Ein kurze zeit ist hier vorwar. / Ob wol einer alt wird hundert iar, / Wat ist es mer dan eine stunt? (V. 356–358). Dieses Zeitverständnis allerdings setzt sich nicht sofort bei dem Protagonisten durch. Vielmehr zeigen die Stücke mehrstufige Warnungen und Rückfälle, die eine Art Übergangszone bilden zwischen der profanen Zeitlichkeit, in der der Jedermann anfangs lebt, und der transzendenten Zeitlichkeit, in der er am Ende sein Leben beschließt. Diese letztere dominiert aber nicht in dem Sinne, dass sie alles Mundane absorbieren würde. Am Schluss der Texte steht eine Szene, die – anders als bei ›Everyman‹ und ›Elckerlijk‹ – den Blick auf das Irdische beibehält. Wo der Jedermann seine Orientierung zu einer zeit- und das heißt zugleich ewigkeitsbewussten verschiebt, kehren die Stücke selbst abschließend zur Welt zurück: Auf den Tod des Protagonisten folgen Ankündigung und Vorbereitung des Begräbnisses, das für den nächsten Tag angesetzt ist. Auf diese Weise verflüchtigt sich das Geschehen nicht in einer allegorisch repräsentierten Soteriologie. Vielmehr tritt die Spannung zwischen zeitlicher und überzeitlicher Logik in den Vordergrund. Das zeigt sich im ›Hecastus‹ des Macropedius schon daran, dass auf dem Titelblatt der Erstausgabe die Zeit als Figur dargestellt ist: Tempus trägt Züge des seine Kinder verschlingenden Gottes Kronos bzw. Saturn und verfügt außerdem über Attribute der Zeitmessung: Stab und Sanduhr (Abb. 1).28 Der Antwerpener 28 Ausgaben: Drei Schauspiele, ed. Bolte [Anm. 17], S. 63–160 (ohne Abb. des Holzschnitts); Der Jedermann im 16. Jahrhundert. Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs, hg. von Raphael Dammer/Benedikt Jeßing, Berlin/New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 42 [276]).

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Abb. 1: Georgius Macropedius: ›Hecastus‹, Antwerpen: Hillen 1539, Titelbl.; Utrecht, Universiteitsbibliotheek, X oct 525 (Rariora) dl 7

Drucker Michael Hillen hat auch sonst gerne Darstellungen der Zeit in seinen Ausgaben verwendet.29 Das Druckerzeichen der Mercator-Ausgabe erhält durch die Publikationsgeschichte eine besondere Pointe. Macropedius wurde von katholischer Seite angegriffen, weil er in seinem Stück Hecastus nicht aufgrund der guten Werke, sondern des Glaubens (Fides) und der Tugend (Virtus) zum Heil gelangen lässt. In der Vorrede zur Zweitauflage schreibt er : Da Hecastus »nun einmal angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Todes für Früchte der

29 Hubert Meeus: From Nameplate to Emblem. The Evolution of the Printer’s Device in the Southern Low Countries up to 1600, in: Typographorum Emblemata. The Printer’s Mark in the Context of Early Modern Culture, hg. von Anja Wolkenhauer/Bernhard F. Scholz, Berlin/ Boston 2018, S. 77–100, hier S. 86–89.

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Reue keine Zeit mehr blieb«, musste er »einzig und allein durch den Glauben an Christus […] zu Gottes Liebe« zurückfinden.30 Hier ist das Problem der Zeitverschwendung ernstgenommen: Die eine Stunde, die Hecastus bleibt, reicht nicht aus, die eigene Lebensbilanz entscheidend zu verändern. Damit geht bei Macropedius zwar kein vollständiges Einschwenken auf die lutherische Doktrin der sola fides einher, doch zweifellos wird der katholischen Doktrin der bona opera aus rationalistischer Perspektive eine Absage erteilt. Noch komplexer ist die Situation für den ›Mercator‹ des Naogeorg.31 Hier rückt einerseits die schon in ›Elckerlijk‹ und ›Everyman‹ vorhandene ökonomische Dimension in den Mittelpunkt: Der Protagonist ist ein Kaufmann, er verkörpert also jenen Stand, der aus lutherischer Sicht mit schwerster moralischer Sünde belastet ist – so dass daran die Diskrepanz von Schuld und Gnade in besonderer Zuspitzung gezeigt werden kann. Zugleich lassen sich mit dieser Figur Aspekte der Berechnung und des Handels ins Spiel bringen, die über das Einzelschicksal hinausweisen. Andererseits erfährt die Idee der Werkgerechtigkeit eine deutliche Absage: Mercator gelangt zum Heil nicht aufgrund irgendwelcher mehr oder weniger fragwürdiger Wohltaten oder irgendwelcher teuer erkaufter Ablassbriefe, er wird selig, eben weil er, durch sein Gewissen und ein Gespräch mit Paulus und Kosmas zum Umschwenken gebracht, bereit ist, auf alle Heilsmittel programmatisch zu verzichten und allein auf Christus zu vertrauen.32 Doch wollte Naogeorg offensichtlich die ökonomische Logik des Heils nicht völlig preisgeben. So begegnet zwar verschiedentlich das Jüngste Gericht als Fluchtpunkt der irdischen Zeit. Tatsächlich aber wird der Kaufmann in jenem nach dem Tod stattfindenden Einzelgericht salviert, das mit der altgläubigen Logik des Heils eng verbunden war : Am Ende seiner letzten Rede hält der Totenbote Lyochares fest, der Kaufmann sei nach dem Urteil zur Schar der Seligen geführt worden. Im Epilog heißt es: Sic ibunt hi poenas ad perpetuas, sed in / Contr/ coelestium iungetur coetui; (Mer. 3219). Die Idee des Fegfeuers wird explizit verabschiedet. Naogeorg kennt, auf der Linie Luthers, der sich nach seinem Widerruf von 1530 nicht mehr auf das Purgatorium bezogen hatte, nur 30 Der Jedermann, ed. Dammer/Jeßing [Anm. 28], S. 28f.: Videbitis, nihilominus, quemadmodum, j Cum paenitentiae operibus seu fructibus j Essent negata nece imminente tempora, j Post criminum confessionem praeviam, j Post lacrimas cordisque paenitudinem j […] Per unicam in Christum fidem Deo patri j Gravissime offenso rediit in gratiam. 31 Ausgaben: Drei Schauspiele, ed. Bolte [Anm. 17], S. 161–318. Zitierte Ausgabe im Folgenden: Thomas Naogeorg: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, 2. Bd. Dramen II: Tragoedia alia nova Mercator mit einer zeitgenössischen Übersetzung, Berlin/New York 1982 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts) [abgekürzt: Mer.]. 32 Zur Figur des Gewissens Claudia Spanily : Allegorie und Psychologie. Personifikationen auf der Bühne des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Münster 2010 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 30), S. 248–265.

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die beiden Optionen: Himmel oder Hölle.33 Doch scheint die Hölle nun beinahe mit dem Fegfeuer zu verschmelzen: Die Sündigen werden in ihr, so referiert Lyochares den Weltenrichter Christus, ihre Sünden bis zum letzten Pfennig verbüßen: Donec quadrantem etiam solverint novissimum (Mer. 3205). Für die temporalen Verhältnisse wiederum bedeutet das: Die fundamentale Opposition zwischen Zeit und Ewigkeit bildet nach wie vor einen Kern des Stücks. Doch wird sie teilweise durch andere Zeitlichkeiten überlagert: eine kaufmännische, eine biographische, eine lebensweltliche. Der Kaufmann legt seinem Sohn ans Herz, die occasiones temporum (Mer. 378), das heißt die günstigen Gelegenheiten des Kaufens und Verkaufens, zu beachten. Dementsprechend feilscht Mercator stärker als irgendein anderer Jedermann mit dem Tod um die verbleibende Zeit. Er spricht zunächst von etlichen Jahren, bezieht sich auf Ezechiel, dem 15 Jahre zugestanden worden seien (Mer. 557, Mer. dt. 943), dann geht er auf ein Jahr, auf elf Monate, auf sechs Monate herunter, auf 14 Tage oder wenigstens so viele Tage, dass er noch die Geschäfte auf der Frankfurter Messe erledigen kann, zu der er am anderen Tag aufbrechen wollte. Es scheint, als seien diese nummerischen Dimensionen nur deshalb ausgebreitet, um sie als Negativfolie für die andere Zeit, die der Gnade, zu benutzen. Doch legt Naogeorg das Problem tiefer : Die spezifische Biographie des Kaufmanns bringt es mit sich, dass das Hören auf die Stimme des Gewissens erschwert ist: War Hecastus in biographischer Hinsicht eine schillernde Figur, kaum 30-jährig hat er schon zwei erwachsenen Söhne, so steht Mercator eindeutig im reifen Mannesalter, er hat eine hervorragende Stellung im Rat und hat seine Familie allein zehn Jahre lang durch Veruntreuungen ernährt. Eben diese Betrügereien und noch schlimmere Vergehen, die Lyochares Mercator vorrechnet, haben einen Habitus begründet, der erst einmal verändert werden muss. Im deutschen ›Homulus‹ war das Problem der Erziehung in den Blick gekommen: Der Protagonist führt ein dem Genuss ergebenes zeitverschwendendes Leben, weil er es nicht anders gelernt hat; damit geht eine teilweise Verlagerung der Schuld einher (V. 298–313), zu Homulus’ Erkenntnisprozess gehört es, dass er dann selbst bei seinen Kumpanen deren verfehlte Erziehung konstatieren kann (V. 994–997). Im ›Mercator‹ hingegen erscheint das Problem, im Erwachsenenleben aufgebaut, nicht so leicht als erklär- und entschuldbar. Es bedarf der Arbeit des Gnadenlehrers Paulus und des Himmelsarztes Kosmas, jene durch die Zeit eingeschliffenen Gewohnheiten aufzubrechen, die den Kaufmann darin hindern, sich zum Heil zu wenden. Daraus ergibt sich wiederum eine Verteilung der Handlung des Stückes auf zwei Tage: einen ersten, an dem das Leben des 33 Albrecht Peters: Glaube und Werk. Luthers Rechtfertigungslehre im Lichte der Heiligen Schrift, Berlin 1962, S. 73–77; Erich Fleischhack: Fegfeuer. Die christlichen Vorstellungen vom Geschick der Verstorbenen geschichtlich dargestellt, Tübingen 1969, S. 116–134.

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Kaufmanns und seine Konfrontation mit dem Tod geschildert werden, und einen zweiten, an dem sich seine conversio und das Gericht abspielen. Dieses Gericht macht kontrastiv deutlich, worin der entscheidende Unterschied zwischen Mercator und den anderen Figuren liegt: Er verabschiedet sich nicht nur von seinen moralischen Fehlern und kriminellen Machenschaften, er verwirft auch den bisherigen Glauben an die Heilsmittel der Kirche. Das wird nach der Logik des Stücks dem Fürsten, dem Bischof und dem Franziskaner nicht gestattet. Verfügt der letztere, der meint, 20 Jahre mit guten Werken zugebracht zu haben, zwar scheinbar über eine bessere Voraussetzung zum Heilserwerb als der Kaufmann, so ist er tatsächlich ohne Chance, weil er das nicht preisgibt, das Naogeorg als absolut heilsabträglich definiert. Mit denjenigen, die die Scheidung vornehmen, dem Satan auf der einen Seite, dem Erzengel Michael auf der anderen, schwappt aber zugleich etwas von der kaufmännischen Ökonomie ins Heilsgeschehen hinein. Sosehr die Berechenbarkeit des Heils mittels der Werke theoretisch abgewiesen wird, sosehr bleibt das Modell des Berechnens und Wiegens praktisch wirksam. Der Fürst, der Bischof und der Franziskaner, deren Sünden der Satan in aufsteigender Folge auf 29.000, 33.000 und 37.000 Pfund beziffert, werden von Michael gewogen und vermögen ihrer Sündenlast nicht genug entgegen zu setzen. Der Kaufmann hingegen wird nicht gewogen, seine Sünden sind durch die Besinnung auf Christus und den Glauben beseitigt. Das scheint auf die Inkommensurabilität ökonomischer und anökonomischer Heilsvorstellungen hinauszulaufen. Tatsächlich aber behalten die ökonomischen bis in die Schlussperspektive hinein ihr Gewicht – nicht zuletzt, weil Satan die Doppelrolle zukommt, einerseits das Sündenbuch für alle Menschen zu führen, andererseits das Sprachrohr konfessioneller Polemik zu sein. In diesem Sinne bestimmt Satan den Zeitpunkt und den Ablauf der Rechenschaft. Einmal neigt er dabei zur Beschleunigung, ein andermal breitet er die Sünden genüsslich aus, wo Michael es genügen würde, die bloße Endsumme zu kennen. Unter den auftretenden Figuren behält Satan das letzte Wort, er eröffnet dem Franziskaner die fragwürdige Hoffnung auf eine Willensänderung Gottes: Oh non vacat patri vos ut hodie audiat. / Quare mecum. Cras si patri videbitur, / Latam contra vos retractet sententiam (Mer. 3216–3218). In der deutschen Übersetzung von 1541 heißt es: Der vatter hat heüt nit der weil/ / das e e er eüch hor in solcher eil. / Kumpt jetzt mit mir dann ich nit mag/ / hie verzehren den gantzen tag (Mer. dt. 4957–4960). Satan ist es, der zu wissen meint, wofür Gott Zeit hat und wofür nicht, und dessen eigenes Zeitregime noch über das Individualgericht hinaus anhält. Er wird zur Vermittlungsfigur zwischen heilsgeschichtlicher und irdischer Zeitlichkeit, eine Figur indes, die die Hybridität des Stücks zwischen altgläubigen und reformierten Positionen nur umso deutlicher sichtbar macht.

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IV Das Spektrum zeitlicher Dimensionen, das sich in den Jedermann-Dramen eröffnet, deckt sich nicht ganz mit dem, was man zum Beispiel aus der zeitgenössischen Entwicklung der Ars moriendi kennt. Der Entdramatisierung der Todesstunde stellen die reformatorischen Texte, soweit sie nicht nur eine allgemeine Heilslehre bieten, eine zunehmend dramatische Gestaltung der mit dem Lebensende verbundenen Ereignisse entgegen.34 Diese Ereignisse allerdings, und das verbindet doch wieder die verschiedenen Genres, sind nicht nur heilsgeschichtliche, sondern auch lebensweltliche. Und der wichtige Schritt in der Entwicklung der Jedermann-Stücke ist vielleicht nicht so sehr der Verzicht darauf, die göttlichen Personen und die Allegorien der verschiedenen Freunde auf die Bühne zu bringen, sondern die Ausgestaltung jenes Sündenlebens, das dann durch die heilsgeschichtliche conversio zu überwinden ist. Die Autoren delektieren sich daran auszumalen, wie jener schlechte Zeitvertreib aussieht, dem ihre Protagonisten eingangs frönen. Als 1584 der in Holstein wirkende lutherische Pfarrer Johannes Stricker die älteren Traditionen in seiner niederdeutschen Fassung weiterschrieb (›De düdesche Schlömer‹), schildert er nicht nur, wie sein Protagonist nach durchzechter Nacht am Morgen darauf brennt, seine Saufkumpane zu einem neuen Gelage zu vereinen, er zeichnet auch ein so detailliertes Bild der zeitgenössischen Landjunker, dass er sich deren Nachstellungen zu erwehren hatte.35 Erhält hier die Gegenwartsebene eine unerhörte Präsenz, so ist in den anderen Stücken eine mehr oder weniger explizite Beschäftigung mit Zeit und Zeitlichkeit zu beobachten. Formen des Aufschubs und der Beschleunigung rücken in den Fokus. Vielfältige Inbezugsetzungen zwischen Lebenszeit und Heilsgeschichte werden erprobt. Anderorts erfährt dies in der gleichen Zeit sogar figürliche Gestaltung. Jörg Wickram entwirft in seinem ›Irr Reitend Bilger‹, 1555 in Reimpaarversen verfasst, einen Fall menschlicher Daseinsbewältigung, ausgehend von der Situation eines reichen Mannes, der seine Frau verloren hat – 34 Zur reformatorischen Ars moriendi Austra Reinis: Reforming the Art of Dying. The Ars Moriendi in the German Reformation (1519–1528), Aldershot 2007 (St. Andrews Studies in Reformation History); Berndt Hamm: Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Ars moriendi, in: ders.: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, S. 115–163. 35 De düdesche Schlömer. Ein niederdeutsches Drama von Johannes Stricker (1584), hg. von Johannes Bolte, Norden/Leipzig 1889; Deutsche Dramen und Spiele des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Hellmut Thomke, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 2 = Bibliothek deutscher Klassiker 136), S. 567–822, S. 1089–1136. Zum Text Schmidt [Anm. 17], S. 134–149. Zum Weiterwirken der Tradition im 17. Jahrhundert Christian Schmidt: ›in jetzo neu-übliche Teutsche Reim-Arten nach Mögligkeit übersetzet‹. Rezeptionen des Jedermann im 17. Jahrhundert, in: Morgen-Glantz 26 (2016), S. 51–80.

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eine wesentliche Anregung stammt von dem stellenweise wörtlich benutzten ›Ackermann‹ des Johannes von Tepl.36 Der Mann klagt über die unglückselige Stunde ihres Todes, woraufhin der Tod selbst ihm entgegentritt – mit den üblichen Argumenten, alle müssten sterben, aber niemand wüsste den Zeitpunkt seines Todes etc. Er begegnet dem Menschen wie die Todesfiguren der Jedermann-Spiele, nur dass es diesem Gegenüber gar nicht um das Verdrängen des eigenen Todes, sondern um die Erfahrung des Todes eines anderen, der geliebten Frau, geht. Der Protagonist sagt denn auch, mit dem Tod würde er sich arrangieren, wenn nur nicht die Zeit wäre, die der Tod wiederum als Moment der naturgesetzlichen Ordnung hinstellt.

Abb. 2/3: Georg Wickram: ›Der Jrr Reittend Bilger‹, Straßburg: Knobloch 1556, fol. [jr] und vv ; München, Bayer. Staatsbibliothek, Res. 48 P.o.germ. 213 t

Dieses Geplänkel liefert die Basis, dass der Tod, von vorn herein ebenso als Vollstreckungsorgan der Zeit wie als Herr über das instrument die stund (V. 31) bezeichnet, Platz macht für die eben beschworene Stunde, die, ausgerüstet mit 36 Zitate im Folgenden nach: Georg Wickram: Werke, 4. Bd.: Losbuch. Von der Trunckenheit. Der irr reitende Pilger, hg. von Johannes Bolte, Tübingen 1903 (Bibliothek des Literarischen Vereins 230); Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans Gert Roloff, 6. Bd.: Der Irr Reitende Pilger, Berlin/New York 1972. Zum Text Kiening [Anm. 17], S. 286–299; Martin Baisch: Jörg Wickram begegnet sich selbst. Autorschaft, Wissen und Wiederholung im ›Irr reitenden Pilger‹, in: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Internationale Wickram-Tagung, hg. von Michael Mecklenburg/Maria E. Müller, Bern 2007, S. 247–260.

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Stundenglas, Zirkel und Winkelmaß, dem Protagonisten entgegentritt und ihm die von Gott gesetzte Zeitlichkeit des menschlichen Lebens vor Augen stellt. Tod und Zeit treten hier in ein komplexes Verhältnis. In wechselnder Hierarchie präsentiert, scheinen sie einerseits eng miteinander verbunden, andererseits doch so distinkt, dass sie in der Abfolge des Dialogs nacheinander auftreten und auch in den zugehörigen Holzschnitten (Abb. 2/3) nicht einfach die gleiche Stelle einnehmen: Ist der Tod links platziert, so die Stunde rechts – als fiele der Blick von der anderen Seite auf das Szenario; auch die Handgesten, weniger ausgreifend, verweisen darauf, dass der zweite Dialog den ersten weniger wiederholt als weiterführt, vielleicht in eine andere Richtung entwickelt. Frau Stunde, eine eher seltene Personifikation der Zeit, scheint jene konkrete, im Stundenglas messbare temporale Einheit zu verkörpern, in der sich Zeit fassen lässt, in der man aber auch dem Tod begegnen kann – nur dass diese Stunde hier nicht wie bei den anderen Jedermännern die letzte ist, sondern jene, in der und an der vorliegende Jedermann, nur gelegentlich Arnolt genannt, eine spezifische Erfahrung machen kann: Betroffen vom Todes einer geliebten Person muss er nicht die Einsicht in die eigene Sterblichkeit lernen, kann aber dazu gebracht werden, über die Gestaltung des Lebens in grundsätzlicher Weise zu reflektieren – über die Frage, wie es in der Vorrede heißt, was wir gewesen / was wir sind / und was wir werden müssen (9,26f.). Arnolt unternimmt in diesem Sinne zwar auch eine Reise wie die anderen Figuren. Doch ist die seine keine letzte. Seine Pilgerfahrt, die ihn laut Titelblatt nach Santiago de Compostela führen soll, reicht kaum weiter als bis zu einigen idyllischen Gärten, in denen er gesprächsweise eine erasmianisch-neutestamentliche Sicht auf das Dasein erfährt. Das menschliche Leben erscheint in diesem Text nicht einfach als durch den Tod determiniert, sondern auch als durch die Zeit problematisiert. Sie ist es, deren Einbruch in das menschliche Leben zu verarbeiten ist. Und sie ist es, die spezifisch auf die Situation des reichen Kaufmanns gemünzt ist. Mit den geometrischen Attributen des maßsetzenden göttlichen Schöpfers ausgestattet, setzt Frau Stunde der kaufmännisch berechenbaren Zeitlichkeit ein ontologisch begründetes, nicht menschlich berechenbares Zeitmaß entgegen. Die Zeit des Aufschubs ist hier auch die Zeit, um die Zeit zu begreifen.

II. Textpraxis als Umgang mit Vergänglichkeit

Henrike Manuwald

Die ›letzten Dinge‹ im tätigen Leben. Eine Relektüre von Cgm 717 unter dem Aspekt einer vita mixta*

I.

Vorbemerkung zum Vorgehen

Das Studium von Textzusammenstellungen in Handschriften hat sich als fruchtbares Forschungsfeld erwiesen, in dem Kodizes als Sinneinheiten und als kulturelle Objekte erschlossen worden sind: aus der Perspektive der Überlieferungsgeschichte und der Material Philology ebenso wie aus der Perspektive der Buchgeschichte und der kulturwissenschaftlich arbeitenden Literaturwissenschaft.1 Zu Recht ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass eine genaue kodikologische Analyse die Grundlage für die Interpretation der jeweiligen Handschrift bilden müsse, weil nur auf diese Weise Rückschlüsse auf den konzeptionellen Charakter der Textzusammenstellung gezogen werden könnten.2 Kodikologische Aspekte haben auch bei der Entscheidung für die den * Der Beitrag ist im Teilprojekt G2 ›vita mixta. Zur Laikalisierung eines geistlichen Konzepts‹ des Freiburger Sonderforschungsbereichs 1015 ›Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken‹ (https://www.sfb1015.uni-freiburg.de/de, abgerufen am 28. 12. 2018) entstanden. Ich danke Christian Schmidt für die anregenden projektinternen Diskussionen, die in den Beitrag eingeflossen sind. Für Unterstützung bei der Recherche danke ich Eva-Lotte Gebhardt. 1 Vgl. stellvertretend Karl Stackmann: Neue Philologie?, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M./Leipzig 1999 (insel taschenbuch 2513), S. 398–427, bes. S. 405–409; Jürgen Wolf: Sammelhandschriften – mehr als die Summe der Einzelteile, in: Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, hg. von Dorothea Klein [u. a.], Wiesbaden 2016 (Wissensliteratur im Mittelalter 52), S. 69–81; außerdem die Beiträge in: The Whole Book. Cultural perspectives on the Medieval Miscellany, hg. von Stephen G. Nichols/Siegfried Wenzel, Ann Arbor, MI, 1996 (Recentiores); The Medieval Manuscript Book. Cultural Approaches, hg. von Michael Johnston/Michael Van Dussen, Cambridge 2015 (Cambridge Studies in Medieval Literature 94); One-Volume Libraries: Composite and Multiple-Text Manuscripts, hg. von Michael Friedrich/Cosima Schwarke, Berlin/Boston 2016 (Studies in Manuscript Cultures 9). 2 Zu den verschiedenen Typen von ›Sammel-‹ und ›Komposithandschriften‹ vgl. Erik Kwakkel: Towards a Terminology for the Analysis of Composite Manuscripts, in: Gazette du livre m8di8val 41 (2002), S. 12–19; Frank Fürbeth: Wissensorganisierende Komposithandschriften. Materiale Indizien eines spätmittelalterlichen Handschriftentyps am Beispiel des sog. »Hausbuchs« von Michael de Leone, in: Materialität in der Editionswissenschaft, hg. von

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folgenden Ausführungen zugrunde gelegte Handschrift eine Rolle gespielt: Cgm 717, eine in die Jahre 1347/48 zu datierende Papierhandschrift mit ›geistlichen‹ und ›weltlichen‹ deutschsprachigen Texten,3 ist von einem einzigen Schreiber wohl für den eigenen Gebrauch geschrieben worden.4 Ein von vornherein existierendes Gesamtprogramm kann man hier wohl nicht unterstellen, dafür aber einen engen Konnex zwischen der Auswahl der Texte und den Interessen des Schreibers und wahrscheinlichen Nutzers.5 Um sein Interessensprofil soll es im Folgenden primär gehen, wobei die Überlegungen auf den bisherigen Erkenntnissen zur Kodikologie der Handschrift aufbauen können.

Martin Schubert, Berlin/New York 2010 (editio. Beihefte 32), S. 293–308, bes. S. 304–308; Karin Kranich-Hofbauer : Zusammengesetzte Handschriften – Sammelhandschriften: Materialität – Kodikologie – Editorik, in: ebd., S. 309–322. Zu Divergenzen zwischen der englischund der deutschsprachigen Diskussion vgl. Michael Friedrich/Cosima Schwarke: Introduction – Manuscripts as Evolving Entities, in: One-Volume Libraries [Anm. 1], S. 1–26, hier S. 7, Anm. 27. 3 Angesichts der vielfältigen Verschränkungen von ›Geistlichem‹ und ›Weltlichem‹, wie sie in der Handschrift selbst z. B. in der ›Ehrenrede auf Heinrich Preysing von Wolnzach‹ zu beobachten ist, kann die Dichotomie nur ein Behelf sein. Zur generellen Problematik dieser Dichotomie vgl. Burkhard Hasebrink/Peter Strohschneider : Religiöse Schriftkultur und säkulare Textwissenschaft. Germanistische Mediävistik in postsäkularem Kontext, in: Poetica 46 (2014), S. 277–291, hier S. 282–284. Auch wenn die Gefahr besteht, mit den Kategorien ›geistlich‹ und ›weltlich‹ manche Kontraste erst zu konstruieren, werden sie hier aus heuristischen Gründen verwendet, um eine Textzusammenstellung, wie sie im Cgm 717 vorliegt, von Sammlungsprogrammen zu unterscheiden, die durchgehend explizit religiös ausgerichtet sind. Zur Interpretation geistlich-weltlicher Sammelhandschriften vgl. (für den Zeitraum von ca. 1150 bis kurz nach 1200) auch Müller, der ausdrücklich von einem Spannungsverhältnis von ›Geistlichem‹ und ›Weltlichem‹ ausgeht (Stephan Müller : Der Codex als Text. Geistlichweltliche Überlieferungssymbiosen um 1200, in: Religiöse und literarische Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009, S. 411–426, hier S. 417). 4 München, BSB, Cgm 717; 147 Bl., 19,6–21 x 13,8–14,5 cm (Digitalisat unter : urn:nbn:de:bvb: 12-bsb00114815–7). Vgl. den Katalogeintrag in Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis 5,5), S. 100–113, und den Eintrag im ›Handschriftencensus‹ (http://www.handschriftencensus.de/3694, abgerufen am 28. 12. 2018). Für weitere Angaben zu der Handschrift s. u. Abschnitt III. 5 Innerhalb der einzelnen Faszikel (verstanden als Lagenverbünde, die mit dem Beginn eines neuen Textes eröffnet werden) lassen sich Ordnungsprinzipien feststellen, doch überschreiten Gruppen inhaltlich und formal korrespondierender Texte manchmal die Faszikelgrenzen (vgl. dazu Sarah Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts. 1300–1500, Columbia 1993 [Studies in German Literature, Linguistics, and Culture], S. 20–59, bes. S. 27 [zum Faszikelbegriff] und S. 28–30, und s. u. Anm. 22). Die Handschrift ist also nicht im strengen Sinn als Komposithandschrift zu betrachten. Die Frage des Handschriftentyps ist für die folgende Analyse zweitrangig, da es in erster Linie darauf ankommt, welches Spektrum von Texten von der Person des Schreibers und wahrscheinlichen Nutzers für aufzeichnenswert befunden wurde. – Mit den männlichen Formen ›Schreiber‹ und ›Nutzer‹ soll hier und im Folgenden kein bestimmtes Geschlecht impliziert sein.

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Der im Folgenden unternommene Versuch, die Textzusammenstellung im Cgm 717 zu einem Lebensformkonzept, der vita mixta, in Bezug zu setzen, muss – wie alle Erwägungen zu Gebrauchszusammenhängen von Handschriften – hypothetisch bleiben. Das gilt umso mehr, als systematische Kontexte skizziert werden, die weder chronologisch noch geographisch direkt mit der Handschrift in Verbindung stehen. Ziel ist es, einen systematischen Referenzrahmen plausibel zu machen, der prinzipiell auch für andere der zahlreichen spätmittelalterlichen geistlich-weltlichen Sammelhandschriften Relevanz haben könnte. Die Basis dafür ist aber die besondere Spannbreite der Textzusammenstellung im Cgm 717, die sich einseitigen Deutungen verweigert: Die Textsorten reichen von Minnereden und erotischen Mären auf der einen Seite bis zu Gebeten und Texten, die Unterweisung für ein vollkommenes Leben im Bewusstsein der ›letzten Dinge‹ bieten, auf der anderen. Der Schwerpunkt auf den ›letzten Dingen‹ bildet den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen. Zum Einstieg sei die Problemkonstellation, die als Folie für die Interpretation von Cgm 717 dienen soll, am Beispiel des ›Münchner Eigengerichtsspiels‹ entfaltet.

II.

Die ›letzten Dinge‹ im tätigen Leben: das ›Münchner Eigengerichtsspiel‹

Das ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ von 1510 leitet dazu an, seine Gedanken auf die ›letzten Dinge‹ zu richten.6 Bekanntlich sind die einzelnen exemplarischen Szenen des Spiels in einen Dialog zwischen einem Kaufmann und einem Doktor der Theologie eingebettet, wobei der Kaufmann einen Menschentyp repräsentiert, der sich mit welltlicher sach (V. 246) ernährt und gleichzeitig sein Leben so tugendhaft führen möchte, dass er Gottes Zorn entgeht (V. 245–259).7 Jedoch stellt ihn seine weltliche Tätigkeit dabei vor Probleme, wie aus seiner Reaktion auf die Aufforderung des Doktors hervorgeht, er solle bei all seinem Tun seine ›letzte Zeit‹ vor Augen haben: Jetzo steet auf ain doctor theologie, unnd lernet den kauffmann, wie er gotes zorn empfliehen und das ewig leben erlangen müg. 6 Vgl. dazu Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, S. 43f.; Mark Chinca: Norm und Durchschnitt. Zum Mu¨ nchner Eigengerichtsspiel von 1510, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium, hg. von Elke Bru¨ggen [u. a.], Berlin/New York 2012, S. 217–231, hier S. 218 (jeweils mit weiterer Literatur). 7 Der Text wird zitiert nach: Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen. 1. Das Münchner Spiel von 1510. 2. Macropedius, Hecastus. 1539. 3. Naogeorgus, Mercator. 1540, hg. von Johannes Bolte, Leipzig 1927 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 269/270) [ND Hildesheim 1986], S. 1–62 (Hervorhebung der Figurenbezeichnungen durch Fettdruck in der Ausgabe).

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[…] In allen deinen wercken gedennck dein letste zeyt! so wirstu nymermer sünden in ewigkeyt, Als der weiß am sybenden capitel spricht.8 Der kauffman antwurt schnell dem doctor. O lieber herr, dass ist ein schwär gericht. Sol ich allzeyt an den tod gedenncken unnd in allen meinen wercken darvon nit wencken? o Wie ist mir das zuverpringen müglich, o die weyl ich in der welt muß sein stätigklich Unnd meinem hanndel unnd narung nachgeen, damit ich in der welt mit eren müg besteen, Auch mein weib und kind mit eren hin müg pringen? (›Münchner Eigengerichtsspiel‹, V. 277–293)

Der Kaufmann sieht sich verschiedenen Anforderungen ausgesetzt: Schließlich solle er auch in der Welt mit eren (V. 292) bestehen und habe er Verantwortung gegenüber seiner Familie. Für den Kaufmann stellen die Reflexion über die ›letzten Dinge‹ und die Fokussierung auf seine Geschäfte klare Alternativen dar.9 Auch der Doktor schlägt in seiner Antwort kein integratives Modell vor, sondern schränkt seine Aufforderung dahingehend ein, dass der Kaufmann immer dann an seinen Tod denken solle, wenn er in Gefahr gerate, eine Sünde zu begehen:10 Der doctor antwurt dem kauffman. o o Ach lieber freünd, zu got hab guten gedingen! Der wirt dir hilffelich sein in deiner arbait. o du darfft nit allso an den tod gedencken zu aller zeyt; o Sonder wenn dich dein aygen fleisch raiczt zun- sünden oder die wellt bewegt mit iren bösen fünden, Oder der teüfel mit seinem falschen list, dann so gedennck eben, das du sterblich bist! (›Münchner Eigengerichtsspiel‹, V. 294–300) 8 Zum Zitat von Sir 7,40f. an dieser Stelle vgl. Chinca [Anm. 6], S. 224. 9 Vgl. dagegen etwa Meister Eckharts Konzept des inneren Gerichtetseins auf Gott auch bei äußeren Werken. Vgl. dazu u. a. Dietmar Mieth: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969 (Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie 15), S. 182–233; Anna Keiling: Muße in mystischer Literatur. Paradigmen geistig tätigen Lebens bei Meister Eckhart, Tübingen 2019 (Otium 11), bes. S. 182–197. Zu weiteren Modellen der Integration von Kontemplation und aktivem Leben vgl. C. Annette Gris8: The Mixed Life and Lay Piety in Mystical Texts Printed in Pre-Reformation England, in: Journal of the Early Book Society for the Study of Manuscripts and Printing History 8 (2005), S. 97–124, hier S. 105–108. 10 Zur »pragmatischen[n] Anpassung der Norm an die Verhältnisse und Möglichkeiten eines durchschnittlichen Adressaten« vgl. Chinca [Anm. 6], S. 224f., Zitat auf S. 224.

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Von diesem situationsbedingten Denken an den Tod ist die gezielte Reflexion darüber zu unterscheiden, für die der Kaufmann ebenfalls um Unterweisung bittet: Der kauffman. o Ey lieber herr, ir gebt gar gut unnderschaid. Got wöll ewch lonen ewigkleich! sagt mir, wie ich die letst zeit sol betrachten fleissikleich Und sollich gedechtnus in mein hercz müg senncken! Der doctor. o O lieber freünd, die ding must du offt überdenncken; Dann so dir miessige zeyt wirt gegeben, so betracht und durchsynn alles dein leben! Erfrag dich in dem gwissen dein, ob das sey lauter unnd auch rein Unnd ob du nit seyest in todsünden! (›Münchner Eigengerichtsspiel‹, V. 310–319)

Bemerkenswerterweise empfiehlt der Doktor, dann Gewissenserforschung zu betreiben, wenn miessige zeyt (V. 315), hier wohl ›freie Zeit‹,11 dazu gegeben sei. Und die Zeit ist – so kann man schließen – dann frei, wenn keine weltlichen Verpflichtungen rufen. Er gesteht also eine Taktung der Lebenszeit zu, einen Wechsel zwischen der Konzentration auf die täglichen Geschäfte und auf geistliche Übungen. Auch bei den abschließenden Ratschlägen des Doktors, wie der Kaufmann dem Fegefeuer entfliehen könne, ist ein Relativismus spürbar, wenn der Doktor den Kaufmann dazu anleitet, den armen Seelen zu helfen mit meß haben, peten, o allmusen, sovil dir müglich ist (V. 1778). Gleichermaßen wichtig ist eine ethisch korrekte Grundeinstellung bei allen Werken.12 Als ›Arznei‹ gegen die Laster möge die Passionsbetrachtung dienen, durch die man außerdem auch Ablass erwerben könne (V. 1783–1815). Nimmt man diese Handlungsanweisungen ernst, ergibt sich erneut ein Wechsel von Phasen des tugendhaften Handelns in der Welt und Phasen der kontemplativen Versenkung. 11 Zum Bedeutungsspektrum von ›müßig‹ vgl. das FWB, s. v. müssig, hier Abschnitt 1. Zur Bedeutungsgeschichte vgl. auch die Sondierung zum Gebrauch von mittelhochdeutsch müezec unter https://www.musse-digital.uni-freiburg.de/c1/index.php/M%C3%BCezecheit, abgerufen am 28. 12. 2018. 12 Der doctor lert in, wie er dem fegefeür entfliehen müg. / […] / sich, willdu dein sünd hye in o o o zeyt abtragen, / So thu in deinem guten fürsacz stät beleiben, / unnd thu dein leben in rechtem hanndel vertreiben! / Laß dich beduncken, wie dein sel yetz im fegfeür sey, / […] / sich, lieber freünd, dardurch magstu wol bewegt werden, / Das du den armen seelen yetzt in o zeyt hilffelich bist / mit meß haben, peten, allmusen, sovil dir müglich ist. (›Münchner Eigengerichtsspiel‹, V. 1766–1778). Zur Fegefeuerthematik im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ vgl. Chinca [Anm. 6], S. 229–231.

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Zwar ist der Kaufmann eine fiktive Figur, doch handelt es sich um eine Figur von »repräsentative[r] Beispielhaftigkeit«.13 Außerdem hat das ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ einen so deutlich unterweisenden Charakter, dass eine über den Text hinausgehende Relevanz des darin propagierten Lebensmodells zumindest beansprucht wird. Auf dieser Basis sei die Frage erlaubt, welche textuellen Hilfsmittel man für die dem Kaufmann empfohlene Lebensführung gebraucht haben könnte.

III.

Der Untersuchungsgegenstand: Cgm 717

Unter einer solchen Fragestellung soll die heute in München aufbewahrte, aber aller Wahrscheinlichkeit nach in Augsburg entstandene Sammelhandschrift Cgm 717 betrachtet werden, auch wenn sie mit ihrer Entstehungszeit um 1347/ 4814 deutlich früher anzusetzen ist als das ›Münchner Eigengerichtsspiel‹.15 Auf Augsburg als Entstehungsort hat man nicht nur wegen der ostschwäbischen Schreibsprache und großen Übereinstimmungen mit der Augsburger Kanzleisprache geschlossen, sondern auch deshalb, weil mit den Liedern des Kanonikers Heinrich von Beringen in Augsburg kurz zuvor entstandene Texte in die Sammlung aufgenommen wurden.16 Die ausschließlich deutschsprachigen Texte der Handschrift sind von einer Hand in einer Kursive mit Nähe zur Urkundenschrift geschrieben. Deshalb wurde zunächst vermutet, die Handschrift sei von einem Kanzlisten für den eigenen Gebrauch angefertigt worden.17 Da in den 13 Chinca [Anm. 6], S. 224. 14 Zur Interpretation der korrigierten Jahreszahl auf fol. 44r vgl. Wolfgang Schmitz: Die Dichtungen des Hartwig von dem Hage. Untersuchungen und Edition, Göppingen 1976 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 193), S. 7f. mit Anm. 5. Die Textsammlung entstand wohl über einen längeren Zeitraum (s. u. Anm. 22), so dass Gerhardt/Palmer als Entstehungszeitraum 1347/48 vermuten (vgl. Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717, Edition und Kommentar, hg. von Christoph Gerhardt/Nigel F. Palmer, Berlin 2002 [Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 41], S. 53). Schneider ([Anm. 4], S. 100) gibt als Datierung »um 1348« an. 15 Frömmigkeitsgeschichtlich ist zum Beginn des 16. Jahrhunderts hin mit einer zunehmenden Eschatologisierung und Fixierung auf das Partikulargericht zu rechnen, jedoch sind diese Konzepte Mitte des 14. Jahrhunderts schon präsent, wie nicht zuletzt die Texte im Cgm 717 belegen (s. dazu u. Abschnitt VII). Zu entsprechenden Kontinuitäten seit dem 13. Jahrhundert vgl. Berndt Hamm: Die »nahe Gnade« – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: ›Herbst des Mittelalters‹? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Jan A. Aertsen/Martin Pickav8, Berlin 2004 (Miscellanea mediaevalia 31), S. 541–557, hier S. 541–547. 16 Vgl. Schmitz [Anm. 14], S. 79–95; Westphal [Anm. 5], S. 22; Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 42. 17 Vgl. Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 40f.

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Augsburger Kanzleien Pergament verarbeitet wurde, das Trägermaterial der Handschrift aber stark geripptes italienisches Papier ist, haben Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer als Schreiber ein Mitglied des Kaufmannsstandes in Betracht gezogen (sofern man einen laikalen Entstehungskontext postuliere).18 Weil die Handschrift vollkommen schmucklos ist, die Papierhandhabung nicht professionell wirkt und Eintragungen über einen längeren Zeitraum erfolgt sind, herrscht in der Forschung auf jeden Fall die Annahme vor, die Textsammlung sei vom Schreiber für den eigenen Gebrauch erstellt worden.19 Auf dieser Grundlage hat man auch versucht, aus der Auswahl der Texte ein Nutzerprofil abzuleiten, doch sind solche Schlussfolgerungen mit Schwierigkeiten verbunden: Schon die Unterschiedlichkeit der Texte, die in der Handschrift vereint sind, geistliche Versdichtung und Prosa ebenso wie Mären, Minnelieder und Minnereden, verweist auf die Vielfalt möglicher Interpretationen. Dementsprechend ist die Handschrift in verschiedenen Kontexten analysiert worden. Sarah Westphal (1993) hat sich – ausgehend von der Kodikologie der Handschrift – mit der Anordnung der Mären und Minnereden beschäftigt.20 Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer (2002) wiederum haben in ihrer Ausgabe des ›Gedichts von den 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht‹ diejenigen Texte der Handschrift erschlossen, die mit den ›letzten Dingen‹ in Verbindung stehen.21 Beim heutigen Zustand der Handschrift lassen sich drei inhaltliche Abschnitte unterscheiden (die nicht mit Lagen- bzw. Faszikelgrenzen identisch sind):22 In einem ersten Teil (fol. 1r–96r) ist geistliche Prosa mit geistlichen Versdichtungen kombiniert. Hinter dieser abstrakten Charakterisierung verbergen sich Legenden, unterweisende Texte, aber auch Evangelienperikopen und eine Messauslegung. Der zweite Teil (fol. 96v–127rb) wird von Mären, Minne-23 18 Vgl. ebd., S. 42f. Diese Überlegung setzt allerdings voraus, dass ein Kanzlist für den privaten Gebrauch denselben Typ Schreibmaterial verwendet hätte wie für offizielle Zwecke. 19 Vgl. zusammenfassend Westphal [Anm. 5], S. 21; Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 39–41. 20 Vgl. Westphal [Anm. 5], S. 20–59. 21 Vgl. Gerhardt/Palmer [Anm. 14]. 22 Vgl. Ingeborg Glier : Erstes Kapitel. Einleitung, in: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, hg. von ders., München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 2), S. 1–17, hier S. 7; Westphal [Anm. 5], S. 24f.; 28f. Am Schluss der Handschrift fehlt mindestens eine Lage (vgl. Schneider [Anm. 4], S. 100). Kodikologische Indizien wie Verschmutzungsgrad und Tintenfarbe weisen darauf hin, dass die Lagen der Handschrift einige Zeit ungebunden waren, dass einzelne Lagen nach und nach zu Faszikeln zusammengesetzt und dass in den einzelnen Lagen Texte nachgetragen wurden (vgl. Schmitz [Anm. 14], S. 19–22; Westphal ebd., S. 29; 58f.). Es ist also mit verschiedenen Gebrauchsphasen zu rechnen (vgl. dazu Kwakkel [Anm. 2], S. 15). Hier soll der gesamte Codex betrachtet werden, soweit er erhalten ist. Für eine detaillierte Übersicht zu den einzelnen Texten der Handschrift vgl. Schneider [Anm. 4], deren Bezeichnungen für die einzelnen Texte und Textgruppen im Folgenden übernommen sind. 23 Für einen Überblick über die in der Handschrift enthaltenen Minnereden vgl. Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Mit Beiträgen von Iulia-Emilia Dorobant¸u u. a.,

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und Ehrenreden dominiert; es finden sich außerdem einige Minnelieder. Die Mären (›Der Ritter mit den Nüssen‹ und ›Der Sperber‹) haben einen explizit erotischen Charakter. Dieser Teil der Handschrift enthält aber auch Texte wie eine Lügenpredigt und ein Quodlibet, daneben ein Reimgebet zum Heiligen Geist, ein Marienlob und den ›Cato‹ (in der sogenannten Rumpfbearbeitung).24 Der dritte Teil (fol. 127rb–147vb) ist geistlichen Prosatexten gewidmet, unter anderem einer Kurzfassung des ›Spiegels der Tugend‹ Davids von Augsburg, Texten zur Demut und den Bußpsalmen. Inhaltlich bestehen hier Korrespondenzen zum ersten Teil, zum Beispiel sind jeweils Anleitungen zu einem vollkommenen Leben aufgenommen. Im letzten erhaltenen Teil weisen einige Texte einen klaren Bezug zum Partikulargericht auf: So enthält eine mehrteilige Andacht auf fol. 143rb–144ra (›Votivmessen und Gebet für die Seelen‹) nicht nur »Gebete zu den ›sieben Blutvergießen Christi‹, die mit Bittgebeten für die Vergebung verschiedener Sünden verknüpft werden«,25 sondern auch Betanweisungen, unter anderem die Verheißung: Swer die pater noster spriht / all tag der kumt nimmer / weder in das vegfiur noch in die hell (fol. 143vb, Z. 3–5).26 Dann folgen vier Gebete zur Passion und Auferstehung Jesu. Mit der Fürsorge für die Seelen Verstorbener ist dort außerdem ein Punkt angesprochen, der auch im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ als zentral für die Vorbereitung auf den eigenen Tod genannt ist. Die dort ebenfalls empfohlene Betrachtung des Leidens Jesu, die sich bereits in den gerade angeführten Gebeten fassen lässt, ist insgesamt ein wichtiges Element der Handschrift, wobei die Passionsandacht immer wieder mit einer Tugendlehre und der Bitte um die Vergebung der Sünden verbunden ist. Genannt seien hier nur das ›Passionsgebet zu sieben Paternostern‹ gleich zu Beginn der Handschrift (fol. 1r–3v), die ›15 Gebete zum Leiden Christi‹ (fol. 15v–16v) und die Passionsbetrachtung (fol. 75v–77v ; 81v–82r), die die ›100 Betrachtungen aus dem ›Büchlein der ewigen Weisheit‹‹ Heinrich Seuses (fol. 78r–81v) umrahmt.27 Noch vor

24

25 26 27

2 Bde., Berlin/Boston 2013, Bd. 2, S. 104 (Mü11). Zum thematischen Spektrum, das den Treuebruch mit umfasst (›Der Scheidsamen‹, ›Klage vor Frau Minne‹), vgl. Ingeborg Glier : Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971 (MTU 34), S. 184–187. Zur Rumpfbearbeitung vgl. Michael Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ›Fabulae‹ Avians und der deutschen ›Disticha Catonis‹, 2 Bde., Berlin/New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 44[278],1–2), Bd. 1, S. 136–158. Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 48. Eigene Transkription; die Abkürzungen sind aufgelöst, s-Formen normalisiert. Vgl. dazu Gerhardt/Palmer ([Anm. 14], S. 45–50), die einen franziskanischen Einfluss herausarbeiten. Andere Texte der Handschrift, insbesondere Seuses ›100 Betrachtungen aus dem ›Büchlein der ewigen Weisheit‹‹ und Exzerpte aus den ›Offenbarungen‹ Elsbeths von Oye, zeigen einen dominikanischen Einfluss (vgl. Gerhardt/Palmer ebd.).

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dem Passionsgebet steht zu Beginn der ersten Lage ein Ablassgebet: 40 Tage Ablass soll es für das Sprechen eines Gebets über die Namen Jesu und Marias geben.28 Damit sind die ›letzten Dinge‹ von Beginn an präsent. Verbunden ist die Sorge um das eigene Seelenheil mit einem starken eschatologischen Interesse, wie es in dem Gedicht von den ›15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht‹ (fol. 12r–15r) zum Ausdruck kommt, das zusätzlich in einer Prosabearbeitung (fol. 68r/v) aufgenommen ist.29 Über die 15er-Struktur ist formal eine Beziehung zu den Passionsgebeten geschaffen; als inhaltliche Verbindung dient der redemptive Aspekt der Passionsfrömmigkeit.30 Kombiniert sind die Texte, die zur Kontemplation anleiten, mit einer ganzen Reihe von Texten, die Orientierung für ein tugendhaftes Leben bieten (wie es im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ ebenfalls gefordert wird). Diese Texte bewegen sich auf mehreren Ebenen: Während es im ›Cato‹ vorrangig um ethische Prinzipien geht, steht bei den Texten zum vollkommenen Leben ein ›geistliches Leben‹ im Zentrum. Allerdings weist der ›Cato‹ ein gegenüber anderen Überlieferungszeugen modifiziertes Ende auf, das suggeriert, die Lehren seien von einem geistlichen Vater erteilt worden, der auch die Kraft zur Absolution habe:31 e

v

Swer min ler gehort hat v vnd volgen wil minem rat e den wil ich ledig kunden ob got wil siner svnden. Amen. (München, BSB, Cgm 717, fol. 110rb, Z. 7–10)32

Insofern hat auch der ›Cato‹ keinen ›weltlichen‹ Charakter, aber Anweisungen der Art, dass man seine Verwandten liebhaben und nicht zu oft wirtschaft halten solle, unterscheiden sich doch von Hinweisen, wie man richtig bete oder welche Arten der minne (zu Gott) es gebe, wie sie sich zum Beispiel im Abschnitt von fol. 62r bis fol. 68r finden. Texte zu den letztgenannten Aspekten ließen sich ohne Weiteres in einem monastischen Kontext denken. Klare Anzeichen für einen solchen Kontext fehlen jedoch: So enthält die Handschrift zwar ein Tagzeitengedicht (fol. 33r– 49v),33 jedoch keine Gebete für die Tagzeiten des Stundengebets als spezifisch monastische Form.34 Das ist jedoch nicht der Hauptgrund dafür, dass meist ein laikaler Entstehungskontext angenommen wird, sondern – neben den paläographischen Indizien – die Integration von Minnereden und vor allem von 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. dazu Gerhardt/Palmer ebd., S. 45. Vgl. dazu Gerhardt/Palmer ebd.; zur Prosabearbeitung vgl. ebd., S. 33–38. Vgl. Gerhardt/Palmer ebd., S. 33; 50. Vgl. Westphal [Anm. 5], S. 44f. Zitiert nach Westphal ebd., S. 44. Der Text Hartwigs von dem Hage ist ediert in Schmitz [Anm. 14], S. 305–385. Vgl. Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 49.

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Mären in den Codex. Am vorsichtigsten abwägend äußern sich dazu Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer : »Die Aufnahme von schwankhaften und teilweise obszönen Verserzählungen […] oder einer Reihe von Minne- und Ehrenreden […] spricht nicht gegen die Annahme eines Priesters als Schreiber und Sammler, wäre aber bei einer Nonne vielleicht ungewöhnlich, obwohl nicht ausgeschlossen. […] Die Frage nach der Person des Schreibers muß letztendlich offengelassen werden. In der Alternative ›Priester oder Laie‹ ist sie für die Handschrift dieses Typs wahrscheinlich sogar falsch gestellt. Aber es ist zu betonen, daß die Gebetsfrömmigkeit, die die Handschrift aufweist, zwar durch die Bettelorden, insbesondere durch die franziskanische Literatur, inspiriert sein mag, aber in keiner Weise gegen die bisher geltende These eines Laien als Kompilator spricht.«35

Tatsächlich ist es fruchtlos, weiter über die Frage ›Priester oder Laie‹ zu spekulieren, weil die Antwort letztlich davon abhängen wird, mit welchem Laienbegriff man operiert und was man der jeweiligen Personengruppe an geistlichen Übungen bzw. erotischer Explizitheit zutraut.36 Vielversprechender scheint es mir, nach dem Nutzungsverhalten zu fragen, das die Handschrift provoziert, weil sich daraus auch Rückschlüsse auf den Umgang mit den ›letzten Dingen‹ ziehen 35 Gerhardt/Palmer ebd. 36 Der Terminus ›Laie‹ kann eine bildungsgeschichtliche oder kirchenrechtliche Dimension haben, kann sich aber auch auf den Gegensatz ›weltlich‹ und ›geistlich‹ beziehen. Nur der kirchenrechtliche Laienbegriff ist einigermaßen trennscharf, beim Bildungsgrad und auch bei der Frage, wie ›geistlich‹ ein Leben ist, hat man mit vielen Übergangsstufen zu rechnen, etwa mit ›geistlichen Laien‹. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Laien religiöse Texte rezipierten, die nicht explizit an sie adressiert waren, bzw. dass die Standesfrage bei mystischer Literatur ganz in den Hintergrund rückt. Zu dem Problemkomplex vgl. Georg Steer : Der Laie als Anreger und Adressat deutscher Prosaliteratur im 14. Jahrhundert, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von Walter Haug [u. a.], Heidelberg 1983 (Reihe Siegen 45), S. 354–367; ders.: Die Stellung des ›Laien‹ im Schrifttum des Straßburger Gottesfreundes Rulman Merswin und der deutschen Dominikanermystiker des 14. Jahrhunderts, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände V), S. 643–658; ders.: Zum Begriff ›Laie‹ in der deutschen Dichtung und Prosa des Mittelalters, in: ebd., S. 764–768; Nikolaus Henkel/Nigel F. Palmer : Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter. 1100–1500. Zum Rahmenthema des Regensburger Colloquiums. Ein Forschungsbericht, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter. 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von dens., Tübingen 1992, S. 1–18, hier S. 10; Klaus Schreiner : Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes?, in: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, hg. von dems. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 1992, S. 1–78, bes. S. 28f.; Georg Steer : Die deutsche ›Rechtssumme‹ des Dominikaners Berthold – ein Dokument der spätmittelalterlichen Laienchristlichkeit, in: ebd., S. 227–240, bes. S. 235f.; Christoph Burger: Direkte Zuwendung zu den ›Laien‹ und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, hg. von Berndt Hamm/Thomas Lentes, Tübingen 2001 (Spätmittelalter und Reformation N. R. 15), S. 85–109, bes. S. 87–92.

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lassen. Auffällig ist, dass in der Handschrift auf der einen Seite ein ›geistliches‹ Leben ohne jede Einschränkung propagiert wird (›Sechs Dinge zur Vollkommenheit‹, fol. 144ra/va),37 dass die Textzusammenstellung in der Handschrift aber auch das Angebot macht, sich zeitweise auf Texte wie Minnereden oder Mären zu konzentrieren. Darüber hinaus zeigen die geistlichen Texte einen Exzerptcharakter, der nicht ungewöhnlich ist, aber ein gewisses Bemühen um Effizienz bei der Aneignung eines geistlichen Lebens nahelegt (wie bei dem Abschnitt ›Sechs Dinge zur Vollkommenheit‹). Auf dieser Grundlage soll geprüft werden, ob sich die Textzusammenstellung als Ausdruck eines phasenweisen Wechsels zwischen verschiedenen Modi der Lebensgestaltung interpretieren lässt. Dazu ist zunächst das Modell der vita mixta näher zu erläutern.

IV.

vita mixta als Paradigma

vita mixta ist als Bezeichnung für eine Lebensform in der wissenschaftlichen Diskussion weniger prominent als die Unterscheidung zwischen einer vita activa und einer vita contemplativa. Das liegt auch daran, dass unter den spätantiken und mittelalterlichen Theologen umstritten war, ob so etwas wie eine vita mixta überhaupt als eigene dritte Lebensform anzusetzen sei oder ob nicht ohnehin vita activa und vita contemplativa in Reinform die Ausnahme seien, so dass Mischungsverhältnisse die Regel sind.38 Der Sache nach wurde eine ›gemischte‹ Lebensform von Gregor dem Großen propagiert, der – insbesondere für 37 Gerhardt/Palmer ([Anm. 14], S. 49) weisen darauf hin, dass man sich unter einem ›geistlichen Leben‹ »in erster Linie – obwohl nicht ausschließlich – ein Leben als Priester oder als Nonne vorzustellen« habe. Tatsächlich scheint mit dem ›geistlichen‹ Leben im Cgm 717 kein bestimmter Stand gemeint zu sein, sondern ein ethisch gutes, auf Gott ausgerichtetes Leben. Vgl. das Initium der ›Sechs Dinge zur Vollkommenheit‹ (fol. 144ra, Z. 6–9; zitiert nach o Schneider [Anm. 4], S. 113): Von sechs lern gaistliches lebens. Wild du gern ain gut mensch werden so solt du dich vlizen an disen dingen. An anderen Stellen der Handschrift wird explizit formuliert, dass das Ziel sei, auf Erden das himmlische Leben zu gewinnen. Vgl. das Initium von ›Zwölf Dinge zu einem vollkommenen Leben‹ (fol. 50v–51r): Mit disen zwelf dingen mag uf ertrich himlische leben gewnnen werden. (fol. 50v, Z. 19f.; zitiert nach Schneider ebd., S. 103). Auch in der Passage, die Schneider [ebd.] mit ›Drei Dinge zu einem geistlichen Leben‹ betitelt hat, ist die zentrale Frage, wie man ins Himmelreich kommen könne, hier gerichtet von der Exempelfigur des ›alten Vaters‹ (der was in der wält, vnd gieng vil mit vzern dingen vm) an Gott (fol. 62v, Z. 25 – fol. 63r, Z. 4; Zitat in fol. 63r, Z. 1, eigene Transkription; die Abkürzungen sind aufgelöst, s- und z-Formen normalisiert). Zwar wird dort gesagt, dass der Mensch von der wälte und von der uzern bekümmernüz fliehen solle (fol. 63r, Z. 6f.), aber entscheidend ist die innere Grundhaltung (vgl. ebd., Z. 8–11), weshalb die Frage nach der konkreten Lebensform nachrangig wird. 38 Vgl. dazu zusammenfassend Mieth [Anm. 9], S. 93–95; Aim8 Solignac: Vie Active, Vie Contemplative, Vie Mixte, Dictionnaire de spiritualit8 asc8tique et mystique, Doctrine et histoire, XVI, Sp. 592–623.

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Personen mit pastoraler Verantwortung – die Pflicht sah, Christus in der Kombination von kontemplativem Rückzug und aktiver Zuwendung zu den Nächsten nachzufolgen.39 Im 14. Jahrhundert wurde das Konzept von Walter Hilton programmatisch auf Nicht-Geistliche übertragen.40 Wegen seines programmatischen Charakters und der auf Hilton bezogenen anglistischen Forschung zur vita mixta, die für die Germanistik fruchtbar gemacht werden kann, sei Hiltons Konzept hier näher vorgestellt.41 Hilton war, als er 1396 starb, Augustiner-Chorherr, war aber wohl, bevor er dieser Gemeinschaft beitrat, als Jurist tätig und lebte auch einige Jahre als Eremit. Aus dieser eremitischen Phase, den 1380er Jahren,42 so glaubt man, stammt sein mittelenglischer Brief über das ›Medeled Liyf‹. Er ist an einen (nicht namentlich benannten und als Typus konzipierten) wohlhabenden Laien gerichtet, der als Vater und Hausherr Verpflichtungen zu erfüllen hat, und ist als Antwort auf dessen Ansinnen konzipiert, ebenfalls ein kontemplatives Leben führen zu wollen.

39 Vgl. Giles Constable: The Interpretation of Mary and Martha, in: Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, hg. von dems., Cambridge [usw.] 1995, S. 1–141, hier S. 20–22; Mieth [Anm. 9], S. 101–106 (mit einem Schwerpunkt auf Gregors Augustin-Rezeption; vgl. dazu auch Constable ebd., S. 18f.). 40 Vgl. zusammenfassend dazu Karl-Heinz Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-Texten, Berlin 2005 (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der Mittelalterlichen Theologie und Philosophie 50), S. 141–143; Nicole R. Rice: Lay Piety and Religious Discipline in Middle English Literature, Cambridge 2008 (Cambridge Studies in Medieval Literature), S. 47–104; Margarethe Hopf: Der Weg zur christlichen Vollkommenheit. Eine Studie zu Walter Hilton auf dem Hintergrund der romanischen Mystik, Göttingen 2009 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 95), S. 53–56 (jeweils mit weiterer Literatur). Die Hochschätzung der Kontemplation bleibt bei Hiltons Konzept der vita mixta unbeeinträchtigt. Vgl. dazu Denise N. Baker : The Active and Contemplative Lives in Rolle, The Cloud-Author and Hilton, in: The Medieval Mystical Tradition in England, Ireland, and Wales: Exeter Symposium VI, hg. von Marion Glasscoe, Rochester, NY 1999, S. 85–102. 41 Wie verantwortungsvolle Aufgaben in der Welt mit Anforderungen an Kontemplation zu vereinbaren sind, wird in kontinentaleuropäischen Texten ebenfalls thematisiert, etwa im Widmungsbrief des an Königin Hedwig von Polen gerichteten Traktats ›De vita contemplativa et activa‹ (ca. 1397–1399) Heinrichs von Bitterfeld (vgl. Heinrich von Bitterfeld de Brega OP: Tractatus de vita contemplativa et activa, hg. von † Bruno Mazur [u. a.], Warschau 2003 [Studia »Przegla˛du Tomistycznego« 4], S. 3–6). Für den deutschen Raum ist eine Rezeption von Gregors Konzept der vita mixta durch ein höfisches Publikum im ›Elisabethpsalter‹ (Cividale del Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Ms. CXXXVII) vom Beginn des 13. Jahrhunderts plausibel gemacht worden (vgl. Katharina Mertens Fleury : Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin/New York 2006 [Scrinium Friburgense 21], S. 104–109 [zur Schlussminiatur auf fol. 173r]). 42 Vgl. Nicole R. Rice: Walter Hilton’s Mixed Life and the Transformation of Clerical Discipline, in: Leeds Studies in English 38 (2007), S. 143–169, hier S. 145; 165f.

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Thou schalt not uttirli folwen thi desire for to leven occupacioun and bisynesse of the world (whiche aren nedefull to usen in rulynge of thisilf and of alle othere that aren undir thi kepynge) and yeve thee hooli to goostli occupaciouns of preiers and meditaciouns, as it were a frere, or a monk, or anothir man that were not bounden to the world bi children and servauntes as thou art. For it falleth not to thee, and yif thou do soo thou kepest not the ordre of charite. Also, yif thou woldest leven uttirli goostli occupacion – nameli now aftir the grace that God hath yeven unto thee – and sette the hooli to the bisynesse of the world, to fulfillynge of werkes of actif liyf, as fulli as anothir man that nevere feeled devocion, thou levest the ordre of charite. For thi staat asketh for to doo bothe, eche of hem in dyvers tyme. Thou shalt meedele the werkes of actif liyf with goostli werkes of lif contemplatif, and thane doost thou weel.43 »Du sollst deiner Sehnsucht, deine Geschäfte und weltlichen Angelegenheiten, die notwendig sind, um dein Leben und das derjenigen, die unter deiner Obhut stehen, zu organisieren, hinter dir zu lassen, n i c h t ganz und gar folgen und dich ganz den geistlichen Aufgaben des Gebets und der Meditation hingeben, als ob du ein Frater, ein Mönch oder ein anderer Mann wärst, der nicht durch Kinder und Diener an die Welt gebunden ist, so wie du es bist. Denn es steht dir nicht zu, und wenn du das tust, folgst du nicht der Maßgabe der caritas. Ebenso: Wenn du die geistlichen Aufgaben ganz und gar verlassen wolltest – vor allem jetzt nach der Gnade, die Gott dir hat angedeihen lassen – und dich ganz den Geschäften der Welt hingeben wolltest, um Werke des aktiven Lebens in dem Maße umfassend zu vollbringen wie ein Mann, der niemals Andacht verspürt hat, verließest du die Maßgabe der caritas. Denn dein Stand verlangt, beides zu tun, jeweils zu einer anderen Zeit. Du sollst die Werke des aktiven Lebens mit geistlichen Werken des kontemplativen Lebens mischen. Dann handelst du gut.« (Übersetzung H. M.)44

Wie Hilton später ausführt, versteht er unter charite sowohl die Liebe zu Gott als auch die zu den Mitchristen. Menschen, die für andere Verantwortung trügen, 43 Zitiert nach: English Mystics of the Middle Ages, hg. von Barry Windeatt, Cambridge 1994, S. 112 (Leithandschrift: London, Lambeth Palace Library, MS 472). Vgl. auch Walter Hilton’s Mixed Life, edited from Lambeth Palace MS 472 by Sarah J. Ogilvie-Thomson, Salzburg 1986 (Salzburg Studies in English Literature. Elizabethan & Renaissance Studies 92:15), S. 9f., Z. 89–103 (mit Kommentar), und eine englische Übersetzung: Walter Hilton: Mixed Life. Translated by Rosemary Dorward with Introduction and Notes by John Clark, Oxford 2001, S. 5f. Zu dieser Passage vgl. Rice [Anm. 42], S. 145–150. 44 Expliziert wird das Konzept der Zeitaufteilung im Folgenden anhand der Schwestern Maria und Martha (vgl. Lk 10,38–42). Einen Teil der Zeit solle der Adressat des Briefs – mit Martha – für die Angehörigen seines Haushaltes sorgen, sie geistlich unterweisen und zu einer guten Besorgung der weltlichen Geschäfte anleiten, den anderen Teil der Zeit solle er – mit Maria – die weltlichen Geschäfte hinter sich lassen und sich dem Gebet und der Kontemplation widmen (vgl. Windeatt [Anm. 43], S. 112f.; Olgivie-Thomson [Anm. 43], S. 10f., Z. 103–116). Wie in der Auslegungstradition der Lukas-Perikope verbreitet (vgl. dazu Constable [Anm. 39]; Mieth [Anm. 9], S. 75–83) stehen Martha und Maria hier für ›Aktion‹ und ›Kontemplation‹. Bei Hilton werden jedoch nicht Lebensformen, sondern Verhaltensmodi beschrieben, die sich zeitlich hintereinanderschalten lassen. Bezeichnet werden sie als »maner of lyvynge« (Windeatt ebd., S. 113).

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könnten der von Gott eingesetzten Ordnung der charite – Bezugspunkt ist hier das ›Hohelied‹ 2,4 – nicht durch ein rein kontemplatives Leben gerecht werden.45 Zu diesen Menschen gehörten in erster Linie Männer der Kirche wie Prälaten (besonders hervorgehoben werden die Bischöfe), aber eben auch Männer in der Welt, sofern sie Herrschaftsverantwortung gegenüber anderen hätten (z. B. ihren Kindern oder Dienstleuten). Für diese Menschen sei weder eine aktive noch eine kontemplative Lebensweise angemessen, sondern eben eine dritte, die gemischte. Schon Gregor der Große habe gesagt, dass bei reiner Kontemplation die Mitchristen vernachlässigt würden, bei einer reinen Zuwendung zu den Mitchristen die Liebe zu Gott.46 Als Vorbild für das ›gemischte Leben‹ wird bei Hilton (wie auch schon bei Gregor)47 Jesus Christus selbst genannt: Er habe sich predigend und heilend seinen Mitmenschen zugewandt, habe sich aber auch zurückgezogen und die ganze Nacht gebetet. Wie aus diesen Ausführungen hervorgeht, denkt Hilton also nicht an ein Nacheinander verschiedener Lebensphasen, die mehr durch Aktion oder mehr durch Kontemplation geprägt sind, sondern an einen kleinschrittigeren Wechsel zwischen Werken christlicher Nächstenliebe und Gebet, womöglich auch im Tagesablauf.48 Einen Einfluss von Hiltons Programmschrift auf deutsche Texte des Spätmittelalters wird man nicht postulieren wollen.49 Aber Hilton beschreibt mit der Notwendigkeit, unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden, ein systematisches Problem, das – wie die Figur des Kaufmanns im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ (für den Beginn des 16. Jahrhunderts) belegt – auch im deutschsprachigen Raum diskutiert wird.50 Dabei sind die Akzente im ›Münchner Ei45 Vgl. Windeatt [Anm. 43], S. 114; Ogilvie-Thomson [Anm. 43], S. 16, Z. 166f. Zur Überordnung des Prinzips der charite über die Frage nach der Lebensform vgl. Walter H. Beale: Walter Hilton and the Concept of »Medled Lyf«, in: The American Benedictine Review 26 (1975), S. 381–394, hier S. 393. 46 Zu den Gregor-Referenzen vgl. Ogilvie-Thomson [Anm. 43], S. 15, Kommentar zu Z. 154; S. 17, Kommentar zu Z. 176. 47 Vgl. dazu Ogilvie-Thomson ebd., S. 17, Kommentar zu Z. 176. 48 Vgl. Windeatt [Anm. 43], S. 113–116; Ogilvie-Thomson [Anm. 43], S. 14, Z. 144 – S. 22, Z. 237. 49 Selbst im englischen Sprachraum müsste man – trotz des großen Einflusses von Hiltons Schrift auf Laienkreise (vgl. dazu Steinmetz [Anm. 40], S. 142) – Vorsicht bei der Verallgemeinerung für so etwas wie eine ›Laienkultur‹ walten lassen, weil Hiltons Texte auch intensiv in klerikalen Kontexten rezipiert wurden (vgl. dazu Rice [Anm. 42]; Hopf [Anm. 40], S. 2f.). 50 Für die Zeit davor müsste diese Problemkonstellation erst noch systematisch untersucht werden, wobei zu berücksichtigen wäre, was jeweils unter ›Aktion‹ und ›Kontemplation‹ verstanden wird (vgl. dazu Mieth [Anm. 9], S. 41). Für den Beginn des 14. Jahrhunderts lässt sich aber im Kontext des Kirchenrechts auf jeden Fall die Konkurrenz von Gebetspflichten und anderen Aufgaben nachweisen. So wird im ›Buch der Tugenden‹ (s. dazu u. S. 121f.) ausgeführt, dass Geistliche, die eine der vorgeschriebenen Gebetszeiten vergäßen, keine Todsünde begingen, wenn das Vergessen von einer ehaftiger vnmu˚sse herrühre (vgl. ›Das o buch der tugenden‹. Ein Compendium des 14. Jahrhunderts über Moral und Recht nach der

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gengerichtsspiel‹ anders gesetzt, denn dort geht es nicht allein um die Verantwortung des Kaufmanns als Familienoberhaupt, sondern auch um sein Ansehen in der Welt. Die Ansprüche an das ›aktive Leben‹ speisen sich also nicht allein aus einem christlichen Werterahmen, wenn auch gefordert wird, das Handeln in der Welt habe christlichen Prinzipien zu folgen. Bei Walter Hilton hingegen hat man es nicht mit einer Entgegensetzung von ›geistlich‹ und ›weltlich‹ zu tun, vielmehr mit zwei Formen der christlichen caritas. In der anglistischen Forschung wurde die Umsetzung des Modells einer vita mixta jedoch unter sozialhistorischen Gesichtspunkten auch im Hinblick auf Personengruppen untersucht, die in anderer Hinsicht durch ihre Partizipation an verschiedenen Sphären geprägt sind: literate ›Laien‹, die sich in höfischen Verhaltensweisen ebenso versiert zeigen wie in geistlichen Übungen. Zu nennen ist hier der 1987 erschienene Beitrag von Hilary M. Carey ›Devout Literate Laypeople and the Pursuit of the Mixed Life in Later Medieval England‹, auch wenn ihre Thesen dazu, ab wann ›Laien‹ die Möglichkeit zur Kontemplation gehabt hätten, im Einzelnen einer kritischen Diskussion bedürften.51 Weiterführend könnte aber ihr Ansatz sein: Neben Lebensbeschreibungen (auch in fiktionalen Texten) analysiert sie dort Quellen zum Buchbesitz adliger Damen und kann – zumindest für Einzelfälle – eine Mischung von devotionaler und

›Summa theologiae‹ II–II des Thomas von Aquin und anderen Werken der Scholastik und Kanonistik, Bd. 1, Einleitung – Mittelhochdeutscher Text, Bd. 2: Lateinische Quellen, hg. von Klaus Berg/Monika Kasper, Tübingen 1984 [Texte und Textgeschichte: Würzburger Forschungen 7/8], II.2.27.46, S. 207; vgl. dazu Bd. 2, S. 135). Während es hier um unterschiedliche Anforderungen im Rahmen eines geistlichen Lebens geht, werden in Bezug auf Laien (im kirchenrechtlichen Sinn) Gebetspflichten und weltliche Aufgaben gegeneinander abgewogen, z. B. in der ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds: Betleich lawt vnd layen die mit welte o leichem geschafft mussen bechümmert sein, da von dissz zeitleich leben enthalten wirt got zelob vnd ze eren, der disew werlt geschaffen hat, vnd wil sy haben, die sind nit schuldig die siben zeit, die geseczt synd von der heyligen chirchen, zepeten, noch ander gepet ze tün ze den e siben zeiten des tags vnd der nacht, die tünd nicht ain todsund, lassen si daz. Awer mochten si e daz getün vnd hieten dar zü muzz, daz wär wol getan vnd wär ayn guot rat. Awer peten si des e o tags nit vnd tund ander arbait nit von geittikait vbrigs gutz sunder von not wegen, die tund nit ain todsund. (Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der »Summa Confessorum« des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen B, A und C, Bd. 1: Einleitung, Buchstabenbereich A–B, hg. von Georg Steer [u. a.], Tübingen 1987 [Texte und Textgeschichte 11], B45 (B-Redaktion), Z. 1–21 [S. 438, s- und zFormen normalisiert]; vgl. dazu Steer, ›Rechtssumme‹ [Anm. 36], S. 235). Laien, die sich Gott zu Ehren (!) weltlichen Geschäften widmen, sind demnach nicht zur Einhaltung der Gebetszeiten verpflichtet. Es wird ihnen aber zugestanden, dass sie sie einhalten könnten, wenn der Wille und die Gelegenheit dazu vorhanden sind. Indirekt wird so ein Wechsel zwischen weltlichen und geistlichen Aufgaben unter schwierigen Bedingungen entworfen. 51 Hilary M. Carey : Devout Literate Laypeople and the Pursuit of the Mixed Life in Later Medieval England, in: Journal of Religious History 14 (1987), S. 361–381.

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höfischer Literatur nachweisen.52 Insofern liegt es nahe, auch für einzelne Kodizes mit einer ›gemischten‹ Textzusammenstellung zu fragen, in welchem Verhältnis sie zum Konzept einer vita mixta stehen könnten.

V.

Anzeichen für eine vita mixta als Rahmen für Cgm 717?

Betrachtet man die Textsammlung im Cgm 717 unter dem Aspekt einer vita mixta, wie sie von Walter Hilton konzipiert ist, fällt zunächst auf, dass die Handschrift zwar zum geistlichen Leben wie auch der Sorge um die ›letzten Dinge‹ anleitet und allgemeine ethische Werte vermittelt, aber keinerlei praktische Orientierung dafür bietet, wie man etwa als Haushaltsvorstand agieren soll. Darauf hat bereits Sarah Westphal hingewiesen, die die Handschrift in das Genre der Hausbücher eingeordnet hat: »Further, there are no selections of the pragmatic genres that give Michael’s Hausbuch its distinctive locus in life. Instead, Cgm 717 selects from only two realms of fourteenthcentury vernacular writing […], namely ›religiöse Geistlichenliteratur‹ and the ›Reimpaar- und Strophen-Dichtung deutscher Literaten‹. The manuscript offers spiritual guidance, edification, and entertainment, but no practical help in facing life’s more concrete challenges.«53

Für die vita activa bliebe also im Cgm 717 vor allem der ›Cato‹ zu verbuchen. Westphal hat – mit Bezug auf das Konzept des Lernens ex negativo – auch diskutiert, ob sich die Mären im Hinblick auf ihren moralischen Nutzen lesen ließen, hat diese These aber selbst als unbefriedigend verworfen.54 Stattdessen 52 Auch Kern-Stähler interpretiert »Sammelhandschriften mit religiöser und weltlicher Literatur« als Anzeichen für eine vita mixta. Vgl. Annette Kern-Stähler: Vita mixta oder Doppelleben? Chancen zur Erweiterung weiblicher Existenz im England des späten Mittelalters, in: Außen und Innen: Räume und ihre Symbolik im Mittelalter, hg. von Nikolaus Staubach/ Vera Johanterwage, Frankfurt a. M. [usw.] 2007 (Tradition – Reform – Innovation 14), S. 333–351 [zuerst erschienen als Kap. 6 in dies.: A Room of One’s Own. Reale und mentale Innenräume weiblicher Selbstbestimmung im spätmittelalterlichen England, Frankfurt a. M. [usw.] 2002 [Tradition – Reform – Innovation 3], S. 223–240), Zitat auf S. 333. 53 Westphal [Anm. 5], S. 23f. 54 Vgl. Westphal ebd., S. 38f. (mit Bezug auf Joachim Suchomski: ›delectatio‹ und ›utilitas‹. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975 [Bibliotheca Germanica 18], S. 189–195). Zwar lassen sich an den Mären im Cgm 717 (in der Märenforschung Sigle m6) durchaus lehrhafte Züge beobachten, wenn man sie auf die Vermittlung von Handlungswissen hin befragt (vgl. dazu Gert Hübner : Erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs. Überlegungen zur Lehrhaftigkeit vormoderner Erzählungen, in: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIII. Anglo-German Colloquium, Nottingham 2013, hg. von Henrike Lähnemann [u. a.], Tübingen 2017, S. 361–378; die Grundsatzdiskussion zur Lehrhaftigkeit von Mären kann hier jedoch nicht aufgearbeitet werden); handschriftenspezifische Pro- oder Epimy-

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konnte sie zeigen, dass die ›weltlichen‹ Texte des Cgm 717 eine Reihe bilden, in denen jeweils die Interpretationsbedürftigkeit von Äußerungen vor Augen geführt wird.55 In Texten wie dem Quodlibet und der Lügenpredigt (fol. 103r–105v) werde außerdem eine Freude an Rhetorik spürbar, die eine verhältnismäßig autonome Sphäre von Literatur vermuten lasse. Gleichzeitig verweist Westphal aber zu Recht auf die gelehrte Tradition, in der solche Texte stehen, was die unterschwellige These von einem Literarisierungsprozess relativiert.56 Weiterführend erscheint an Westphals Ausführungen vor allem der Aspekt der Unterhaltung, auf den noch einmal zurückzukommen sein wird. Vielleicht ist die Aufnahme der Mären und rhetorischen Spielereien aber auch Ausdruck des Bedürfnisses, an einer literarischen Kultur partizipieren zu wollen, wie es womöglich nötig war, um – wie der Kaufmann im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ – mit eren (V. 292) leben zu können. Dann ließe sich aus der Handschrift nicht direkt das Hilton’sche Konzept einer vita mixta ableiten, eher das traditionelle Bemühen, Gott und der Welt zu gefallen,57 das noch in den Äußerungen des Kaufmanns im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ fassbar ist. Zumindest für die positive Einschätzung einer Verbindung beider Sphären kann man für den Cgm 717 aus dem Bereich der Spekulation hinauskommen, denn mit der ›Ehrenrede auf Heinrich Preysing von Wolnzach‹ (fol. 112ra–116vb) ist ein thien, die eine moraldidaktische Deutung nahelegten, weisen die Mären im Cgm 717 aber nicht auf (zu ›Der Ritter mit den Nüssen‹ vgl. Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts, Bd. 1, hg. von Heinrich Niewöhner †, hg. von Werner Simon mit den Lesarten besorgt von Max Boeters und Kurt Schacks, Dublin/Zürich 2 1967, S. 172–179; zu ›Der Sperber‹ vgl. Novellistik des Mittelalters, hg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 [Bibliothek deutscher Klassiker 138; Bibliothek des Mittelalters 23], S. 568–589 und 1210–1221). Stattdessen wird im Epimythion von ›Der Sperber‹ ausdrücklich gesagt, dass es dem Ansehen diene, wenn man Gut und Böse unterscheiden könne. Nach V. 359f. des Ausgabentexts (swer das viur erkenne, / der hüete daz ez in iht brenne!) schließen sich im Cgm 717 nämlich folgende Verse an: Ez si frawe oder man, / e o swer vbel und gut verstan kann / daz ferfrumet im vil ser, / und behebt im alle sin er (fol. 102r, Z. 11f.; eigene Transkription; die Abkürzungen sind aufgelöst, s- und z-Formen normalisiert). 55 Westphal [Anm. 5], S. 39. Zur Deutung der Textsequenz vgl. demnächst auch Margit DahmKruse: Prägnante Kombinatorik. Zum semantischen Potential der Textarrangements in kleinepischen Sammelhandschriften am Beispiel von ›Der Sperber‹, erscheint in: Brevitas 1 (2019) – BmE Sonderheft ›Prägnantes Erzählen‹, hg. von Michael Dimpel/Silvan Wagner. 56 Westphal [Anm. 5], S. 40. 57 Vgl. dazu Klaus Hofbauer : Gott und der Welt gefallen. Geschichte eines gnomischen Motivs im hohen Mittelalter, Frankfurt a. M. [usw.] 1997 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1630); zur »angespannte[n] Konfliktlage«, die durch die Formel markiert wird, vgl. Susanne Köbele: Frauenlobs ›Minne und Welt‹. Paradoxe Effekte literarischer Säkularisierung, in: Literarische Säkularisierung im Mittelalter, hg. von ders./ Bruno Quast, Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 4), S. 221–258, hier S. 226–230, Zitat auf S. 227.

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Text aufgenommen, der die Vereinbarkeit der geistlichen und der weltlichen Ansprüche nachdrücklich belegt: Durch die Verkörperung des christlichen Ritterideals habe es Heinrich Preysing von Wolnzach geschafft, in den Himmel aufgenommen zu werden; ein Einsiedler fordert daraufhin die Trauernden auf, mit ihren Klagen aufzuhören.58 Abzuleiten ist daraus immerhin eine Integrierbarkeit geistlicher Ansprüche in ein weltliches Leben,59 wie es – in anderer Weise – für das Hilton’sche Modell einer vita mixta charakteristisch ist. Doch wie lässt sich der Unterhaltungsaspekt mit dem Konzept eines vorbildlichen christlichen Lebens in Einklang bringen?

VI.

Taktung von Kontemplation und Unterhaltung

Als Repräsentantin einer vita mixta gilt gemeinhin Cecily Neville (1415–1495), Duchess of York und Mutter Edwards IV., für die die detaillierte Beschreibung eines typischen Tagesablaufs überliefert ist.60 Akribisch ist dort aufgelistet, welche Zeiträume welchen Tätigkeiten gewidmet sind, etwa dem Besuch der Messe, der Lektüre geistlichen Schrifttums (u. a. Hilton of contemplative and active life) oder den Angelegenheiten, die im Rahmen einer Audienzstunde an sie herangetragen werden. Ihre Tätigkeit umfasst nach der Beschreibung auch pastorale Aspekte, wenn sie beim supper den Anwesenden die Lesung, die man zum dinner (hier eine Mahlzeit früher am Tag) hatte, weitergibt. Interessant ist, was nach dem supper passiert: After supper she disposeth herself to be famyliare with her gentlewomen, to the fecac’on of honest myrthe.61 Wenn man dem Konzept der ›anständigen Heiterkeit‹ nachgeht, wird man zum Beispiel im ›Buch der Tugenden‹ fündig als einem auf lateinischen Quellen 58 Der Text ist ediert in: Theodor Nolte: Lauda post mortem. Die deutschen und niederländischen Ehrenreden des Mittelalters, Frankfurt a. M./Bern 1983 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 562), S. 215–241. Bezeichnenderweise fungieren drei Ritterheilige als Fürbitter für den Verstorbenen: Georg, Willehalm und Eustachius. Nolte (ebd., S. 154–159) bietet eine Analyse der Ehrenrede; zur Sonderstellung der Ehrenrede vgl. Westphal [Anm. 5], S. 55. 59 »Christian perfection and knighthood are fully harmonized. It is no surprise that this cross between an eulogy and a religious discourse should find its way into Cgm 717, in which the compiler’s interest lay as much with spiritual edification as with literary pleasure« (Westphal [Anm. 5], S. 55). 60 Vgl. Carey [Anm. 51], S. 277–279; Kern-Stähler [Anm. 52], S. 338–341 (mit Betonung des exemplarischen Charakters der Beschreibung des Tageslaufs auf S. 341); Gris8 [Anm. 9], S. 104. 61 Zitate aus ›Orders and Rules of the Princess Cecill‹, in: A collection of ordinances and regulations for the government of the Royal household, made in divers reigns. From King Edward III. to King William and Queen Mary. Also receipts in ancient cookery, London 1790, S. 37–39, hier S. 37 (s-Formen normalisiert).

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basierenden Handbuch über »Moral, religiöse Praxis und Rechtsfragen«, das um 1300 im Wirkungsbereich des Straßburger Dominikanerklosters entstanden ist.62 Auf der Grundlage der ›Summa theologiae‹ des Thomas von Aquin wird dort die Frage diskutiert, Ob dehein spil sin tugentliche vnd ane sfflnde die der o mensche tut dur kurtz wile vnd durch ein ergetzen.63 Die Argumentation kann hier nur kurz skizziert werden: Wie der Mensch nach körperlicher Anstrengung körperlicher Ruhe bedürfe, so bedürfe er nach ›geistlicher‹ Anstrengung (wie studieren oder kontemplieren) ›geistlicher‹ Ruhe, und diese könne folgendero maßen gewonnen werden: Vnd wan nu wolluste ist der sele ruwe, dar vmb so sol e der mensche siner sele mude vertriben mit etzlicher hande spil vnd mit etzlicher hande kurtzwile dffl da der sele wolluste machet vnd bringet.64 Im Anschluss werden dann einige Einschränkungen formuliert: Das spil dürfe nicht lasterhaft sein, es dürfe den Ernst der Seele nicht ganz zerstören, und es solle in einem angemessenen Rahmen stattfinden. Dazu gehöre sowohl, dass es für die Person statthaft sei, als auch, dass es zur rechten Zeit stattfinde.65 Wie bei Hiltons Konzept einer vita mixta liegt der Grundgedanke einer zeitlichen Taktung vor, aber er ist hier anders gefüllt. Was genau unter spil zu verstehen sei, bleibt in der zitierten Passage offen. Der weitere Kontext legt nahe, dass vor allem an die Unterhaltung durch Spielleute gedacht ist.66 Aber die Formulierung mit etzlicher hande kurtzwile ist so allgemein, dass sich etwa auch die Lektüre von Mären darunter verbuchen ließe. Im ›Buch der Tugenden‹ wird der Bedarf nach heiterer Unterhaltung sogar mit einer sozialen Verantwortung in Zusammenhang gebracht, die Menschen für diejenigen tragen, mit denen sie zusammenleben:

62 Vgl. Monika Kasper-Schlottner : ›Der Tugenden Buch‹ (›Das buch der tugenden‹), in: 2VL IX, Sp. 1134–1137 (mit Ergänzungen in der ›Verfasserdatenbank‹), Zitat in Sp. 1135. 63 Berg/Kasper [Anm. 50], Bd. 1, II.4.17.1. (.89.), S. 446f.; vgl. dazu Bd. 2. S. 298f. mit Auszügen aus Quaestio 168 der ›Summa theologiae‹ IIa–IIae (vgl. S. Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII. P.M. edita, t. 10: Secunda secundae summae theologiae, Rom 1899 [Editio Leonina], S. 349–355). Vgl. dazu Suchomski [Anm. 54], S. 55–61, der Thomas von Aquin die entscheidende Rolle bei der Christianisierung des aristotelischen Konzepts der eutrapelia zuschreibt. 64 Berg/Kasper [Anm. 50], Bd. 1, S. 446, Z. 13–16. Auffällig ist hier die positive Konnotierung des Wortes wolluste, für die es aber Parallelen gibt (vgl. die Belegstellen in BMZ und ›Lexers Handwörterbuch‹, s. v. wollust). Die Ambiguität des Wortes stellt im Wortfeld des Ruhens und der Erquickung keinen Einzelfall dar ; für das Wort gemach lässt sich Entsprechendes beobachten (vgl. https://www.musse-digital.uni-freiburg.de/c1/index.php/Gemach, abgerufen am 28. 12. 2018). 65 Vgl. Berg/Kasper [Anm. 50], Bd. 1, S. 446, Z. 32 – S. 447, Z. 11. Zu solchen Einschränkungen in der ›Summa theologiae‹ des Thomas von Aquin und in deren antiken Quellen vgl. Suchomski [Anm. 54], S. 30–35; 56f. 66 Vgl. insbes. Berg/Kasper [Anm. 50], Bd. 1, II.4.17.3. (.90.); S. 448, vgl. dazu Bd. 2, S. 298f. o

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Ob es ein vntugende si vnd ein gebreste, das der mensche enkein kurtzwile welle han oder machen vnder dien lfflten mit dien er da wonet. Swas wider des menschen bescheidenheit ist, das ist alles ein vntugende vnd ein gebreste e an dem menschen. Nu ist es groslich wider des menschen bescheidenheit, das der mensche sich selben mache den lüten swere vnd vnlidig, als denne beschicht, so der e mensche nffltz nfflt frode oder lichtekeit dien lfflten machet mit dien er wonet, vnd denne e soliche frode irret vnd wendet, so si ander lfflte dur ein kurtzwile wellent machen.67

Im weiteren Verlauf der Argumentation wird sogar zugestanden, dass man wolluste für die Seele zur Vorbereitung auf gute Werke suche, wobei allerdings vor maßloser kurtzwile gewarnt wird.68 Nimmt man diese Abschnitte aus dem ›Buch der Tugenden‹ als Interpretationsrahmen, dann lassen sich die unterhaltsamen Passagen im Cgm 717 als Elemente einer vita mixta verstehen, entweder als Verweise auf individuelle Erholungsphasen von der Kontemplation oder als Mittel zur Unterhaltung anderer, dann im Rahmen der vita activa – wobei man sich durchaus darüber streiten kann, ob die durch Handschrift angeregte kurtzwile nicht doch lasterhaft ist. Die zweifache Zuordnungsmöglichkeit (zur vita activa oder zur vita contemplativa) zeigt schon, dass ein eindeutiger Zusammenhang mit der vita mixta nicht hergestellt werden kann, aber das Konzept hintereinandergeschalteter Phasen von Aktion und Kontemplation kann die Augen für andere integrative Lebensmodelle öffnen, da es den beiden Polen die Ausschließlichkeit nimmt. Die Spannung zwischen der Forderung nach einem geistlichen Leben und den erotischen Inhalten der Mären, wie sie die Textzusammenstellung nahelegt, verliert ihre Schärfe, wenn die Fokussierung auf das eine oder das andere zeitlich begrenzten Phasen zugeordnet werden kann.69

67 Berg/Kasper [Anm. 50], Bd. 1, II.4.17.4 (.91.), S. 449; vgl. dazu Bd. 2, S. 299. Zur entsprechenden Stelle in der ›Summa theologiae‹ des Thomas von Aquin vgl. Suchomski [Anm. 54], S. 57. 68 Berg/Kasper [Anm. 50], Bd. 1, II.4.17.4 (.91.), S. 449; Z. 19–24. Im lateinischen Vorlagentext ist von guten Werken nicht die Rede. Dort heißt es, dass das Spiel (ludus) wegen der daraus resultierenden Unterhaltung (delectatio) und Ruhe (quies) nützlich sei, die aber nicht um ihrer selbst willen angestrebt würden, sondern propter operationem. Deshalb sei zu wenig ›Spiel‹ weniger sündhaft als zu viel (vgl. ebd., Bd. 2, S. 299). Auch nach der deutschen Fassung kann das Bemühen um die ›Wollust‹ der Seele nicht das eigentliche Ziel sein, es wird jedoch als Vorbereitungsstadium für gute Werke aufgewertet, so dass die dem lateinischen Text entsprechende Schlussfolgerung weniger logisch erscheint. 69 Der Lektürevorschlag, die Textzusammenstellung auf eine zeitliche Taktung von Lebenshaltungen hin zu deuten, soll andere Deutungsmöglichkeiten wie die ästhetische Freude an Gegensätzen (vgl. Christoph Gerhardt: Überlegungen zur Überlieferung von Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹, in: PBB 94 (1972), S. 379–397, hier S. 388f.; dazu Gerhardt/ Palmer [Anm. 14], S. 33) oder ein breit gelagertes Interesse des Sammlers (vgl. Glier [Anm. 23], S. 185) nicht ausschließen.

Die ›letzten Dinge‹ im tätigen Leben

VII.

123

Die ›letzten Dinge‹ im tätigen Leben: Cgm 717

Was bedeuten diese Überlegungen für den Umgang mit der Vergänglichkeit und die damit verbundenen Zeitsemantiken? Christoph Gerhardt und Nigel F. Palmer, die bei ihrer Interpretation der Handschrift von den ›15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht‹ ausgehen, haben das Interesse an diesem Text, der in den Cgm 717 in zwei Versionen aufgenommen wurde, auf ein Endzeitbewusstsein um die Mitte des 14. Jahrhunderts zurückgeführt. Sie verweisen auf konkrete historische Ereignisse wie das Judenpogrom 1348 in Augsburg (als Zeichen der ›Bekehrung‹ der Juden in der Endzeit), Wetterereignisse und die Pest, die ein solches Bewusstsein geschaffen haben könnten.70 Prominenter noch als die Endzeiterwartung scheinen jedoch in der Handschrift Texte zu sein, die der Vorbereitung auf das Partikulargericht dienen, jedenfalls wenn man die ›redemptive‹ Passionsfrömmigkeit und die Anleitung zu einem tugendhaften Leben hinzuzählt. Offenbar folgt aus dem allgemeinen Bewusstsein, dass der eigene Tod Vorbereitung erfordert, aber keine Beschränkung auf Kontemplation – das kann man der heterogenen Textzusammenstellung mit Sicherheit entnehmen. Vielmehr deuten Texte wie die ›Ehrenrede auf Heinrich Preysing von Wolnzach‹ darauf hin, dass es auch darum geht, in der Welt möglichst sündenfrei zu bestehen. Daraus ergibt sich ein – in der Handschrift nicht explizit formuliertes – Prinzip der zeitlichen Taktung, eines Wechsels von nach außen und nach innen gewandtem Tun, bei dem zeitweise, nämlich in den unterhaltsamen Erholungsphasen, die ›letzten Dinge‹ sogar ausgeblendet werden können. Die Handschrift dokumentiert aber noch in einem anderen Sinn den Zusammenhang zwischen Lebenszeit, individuellem Tod und Weltende, nämlich als Ego-Dokument des Kompilators und Schreibers, der die Texte über einen längeren Zeitraum zusammentrug.71 Insofern könnte die Heterogenität der Texte auch bloße Interessenverschiebungen zum Ausdruck bringen, was jedoch nicht sehr plausibel erscheint, weil manche Ideen immer wieder aufgenommen werden, darunter gerade jene, die die ›letzten Dinge‹ betreffen, Ablass bzw. Sün70 Vgl. Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 53–58. Vgl. kritisch dazu die Rezension Rüdiger Brandts zu Gerhardt/Palmer ebd., in Perspicuitas (2003) Nr. 05.04.03 (https://www.uni-due.de/per spicuitas/rezensionen.php#2003, abgerufen am 28. 12. 2018), S. 1–16, hier S. 10. Brandt verweist sowohl auf die »weltlichen Stücke« als auch auf die nicht-eschatologischen religiösen Texte wie die in der Handschrift enthaltenen Legenden. 71 Die Handschrift gehört zu denjenigen Ego-Dokumenten, in denen das Ich implizit fassbar wird. Zu diesem Typ von Ego-Dokumenten und zur Problematik der Bezeichnung vgl. Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1,2 (2002) [20. 12. 2002], URL: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html [abgerufen am 28. 12. 2018]. Zu späteren Spuren der Nutzung der Handschrift vgl. zusammenfassend Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 39.

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Henrike Manuwald

denvergebung (auch im ›Cato‹). Das Schreiben der Handschrift selbst wiederum setzt Zeit voraus, die dafür offenbar zur Verfügung stand.72 Wenn die Handschrift n i c ht in einem monastischen Kontext entstanden ist – und das ist angesichts der paläographischen Indizien wahrscheinlich –, dann legt die Handschrift selbst Zeugnis von der Integration des Bemühens um die ›letzten Dinge‹ in ein tätiges Leben ab.

72 Vgl. Gerhardt/Palmer [Anm. 14], S. 41f. Sie sprechen von »Muße« (S. 41).

Julia Frick

Reflexionen des Untergangs. Erzählen vom Ende in den Fassungen der ›Nibelungenklage‹

Kein Anfang bleibt ohne Ende: Beide Pole bilden die »elementaren Kategorien der Orientierung, die den Rahmen von komplexen Ordnungsleistungen markieren«.1 Das ihnen inhärente Spannungsfeld von Vorgängigem und Nachträglichem, Zeitlichkeit und Ewigkeit generiert Deutungsmuster und Erzählformen, die den Umgang mit der Endlichkeit menschlicher Existenz sowie die diesem Problemfeld eingeschriebenen Zeithorizonte reflektieren.2 Das hier fokussierte Erzählen vom Ende im kollektiven Untergang, der in der ›Nibelungenklage‹ unter unterschiedlichen Aspekten und divergierenden Perspektiven immer wieder neu verhandelt wird, erweist sich dabei als zentraler Prozess der Sinnbildung: Sie basiert auf der gewissermaßen in einem unabgeschlossenen Untergangstableau mündenden Handlung des ›Nibelungenlieds‹, die einen narrativen Überschluss generiert, »der das Ende zugleich wieder übersteigt.«3 Die ›Nibelungenklage‹ greift offen gebliebene Sinnhorizonte auf und bietet in einer Anschlusskommunikation an das ›Nibelungenlied‹ je nach Fassung unterschiedliche narrative Entwürfe des ›Erzählens vom Ende‹. Anhand des Umgangs mit dem kollektiven Untergang in der ›Nibelungenklage‹ wird die Reflexion von Zeitkonzepten auf verschiedenen Ebenen historisch beobachtbar : in der »systematische[n] Gestaltung diegetischer Zeit« (Erzählzeit und erzählte Zeit),4 besonders aber in der im Text modellierten Verschränkung von diachroner Erzähltradition, die die Handlung der ›Klage‹ in 1 Udo Friedrich [u. a.]: Anfang und Ende, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. von dems. [u. a.], Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 3), S. 11–50, hier S. 11. 2 Vgl. die Einleitung des vorliegenden Bandes. 3 Hartmut Bleumer : Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie, in: Anfang und Ende [Anm. 1], S. 119–141, hier S. 127. 4 Vgl. die hierfür systematisch herausgearbeiteten Kategorien in Susanne Köbele/Coralie Rippl: Narrative Synchronisierung. Theoretische Voraussetzungen und historische Modelle. Zur Einführung, in: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von dens., Würzburg 2015 (Philologie der Kultur 14), S. 7–25, hier S. 9.

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Julia Frick

einer »epische[n] Totalität«5 situiert, und Synchronie im Erzählvorgang. Auf der medialen Ebene der handschriftlichen Überlieferung repräsentieren Lang- und Kurzfassung des Textes grundlegend veränderte Konzeptionen des Erzählens vom Ende: Während die Fassungen *B und *C ein breit angelegtes Panorama durchaus divergenter kollektiver Vergangenheitsbewältigung präsentieren, dokumentiert die Kurzfassung *J den Versuch, thematische und perspektivische Kohärenz herzustellen und damit einen ganz neuen Fokus des Erzählens zu schaffen. Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, der Dynamik des Erzählprozesses und dessen semantischer Struktur in den Fassungen der ›Nibelungenklage‹ durch die exemplarische Analyse folgender Aspekte auf die Spur zu kommen: I. narrative Modellierung von Zeitlichkeit in der ›Nibelungenklage‹; II. die Totenklage als Signum der Heterochronie; III. die Transformation unterschiedlicher Temporalitäten im Modus der abbreviatio (Kurzfassung *J). Das Erzählen vom Ende erscheint als Experimentierfeld, innerhalb dessen sich ein historisches Profil des Umgangs mit Vergänglichkeit sowie der Reflexion von Zeitlichkeit im Kontext medialer Konstellationen (Lang- und Kurzfassung der ›Nibelungenklage‹) manifestiert.

I.

Narrative Zeithorizonte

Die ersten rund 600 Verse der ›Nibelungenklage‹ bieten eine Abbreviatur des narrativen Grundgerüsts, indem sie die vergangene Handlung des ›Nibelungenlieds‹ in die Gegenwart des Erzählprozesses überführen. Damit werden die Ausgangsposition des Textes sowie die erzählerische Kontinuität markiert (Hie hebt sich ein maere *B V. 1):6 Nicht zuletzt die handschriftliche Überlieferung legt die konzeptuelle Zusammengehörigkeit von ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹ nahe,7 der zufolge der Textverbund für die mittelalterlichen Rezipienten ein geschlos5 Christian Kiening: Reflexion – Narration. Wege zum ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 1991 (Hermaea N. F. 63), S. 17. 6 Der Text wird zitiert nach: Die ›Nibelungenklage‹. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. von Joachim Bumke, Berlin/New York 1999. Vgl. auch Die Nibelungenklage. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Einführung, neuhochdt. Übersetzung und Kommentar von Elisabeth Lienert, Paderborn [usw.] 2000 (Schöninghs mediävistische Editionen 5). 7 Die Reimpaarverse der ›Klage‹ sind so organisiert, dass sie optisch den Strophen des ›Liedes‹ gleichkommen. Man muss »schon genau hinsehen und dabei auf die Reimstellungen achten […], um festzustellen, ob man eine ›Lied‹-Seite oder eine ›Klage‹-Seite vor sich hat«. Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]), S. 239.

Reflexionen des Untergangs

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senes Gefüge, das sog. »Nibelungen-Buch«,8 gebildet haben dürfte. Dieses Faktum dokumentiert, dass über das im ›Nibelungenlied‹ präsentierte Ende hinaus Publikumserwartungen bestanden, welche die Herausbildung einer Axiologie von Werten betreffen: Die Beantwortung der Schuldfrage gilt als zentrales Anliegen der ›Nibelungenklage‹.9 Die Erzählerstimme etabliert im ersten Teil des Textes eine Werte- und Deutungsordnung, die programmatisch auf die Lektüre des in der materialen Überlieferung vorausgehenden ›Nibelungenliedes‹ ausgerichtet ist.10 Damit weist sie den Erzählvorgang der ›Nibelungenklage‹ als Sinnbildungsprozess aus. Erzählungen vergangener Ereignisse, insbesondere solche, die ein kaum einstimmiges und einsinniges Sagenwissen in die Form kultureller memoria überführen,11 bieten immer auch ein Panorama unterschiedlicher Zeithorizonte. Das liege, so Jan-Dirk Müller, im Gegenstand begründet: »Die memoria, obwohl auf einmal Wahrgenommenes, Gedachtes, Erlebtes gerichtet, ist nicht an seinem Vergangen-sein […] interessiert, sondern an seiner Relevanz für die Gegenwart der Erinnernden.«12 In diesem Sinne ist auch der ›Nibelungenklage‹ eine Reflexion unterschiedlicher Temporalitäten inhärent, indem sie eingebunden ist in einen Zyklus nibelungischen Erzählens, doch zugleich auch Differenzen zu anderen, diachron existierenden Ausformungen des Stoffes markiert. Mit dieser »immanente[n] Diachronie der Erzählung«13 steht die Synchronie auf der Ebene der Handlung in einem gewissen Spannungsverhältnis: Die »Strukturierung des Erinnerten«14 im zeitlichen Nebeneinander des Vergangenen wird auf der Diskursebene in der Modellierung diegetischer Zeit greifbar. Für die folgende Analyse greife ich exemplarisch für meine These signifikante Aspekte heraus. 8 Vgl. Joachim Heinzle: Die Handschriften des ›Nibelungenliedes‹ und die Entwicklung des Textes, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. von Joachim Heinzle, Wiesbaden 2003, S. 191–212, hier S. 198. 9 Nikolaus Henkel: ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999. S. 73–98, hier S. 97f. 10 Zu den unterschiedlichen Erzähl- und Deutungsordnungen in der ›Nibelungenklage‹ vgl. demnächst Julia Frick: Einstimmigkeit und Fokalisierung. (Un-)Ordnung und perspektivisches Erzählen in der ›Nibelungenklage‹, in: Erzählte Ordnung – Ordnung des Erzählens, hg. von Daniela Fuhrmann/Pia Selmayr [ersch. 2020]. 11 Zur Funktionalisierung der ›Nibelungenklage‹ im »Kontext mittelalterlicher Memorialkultur« vgl. Jan-Dirk Müller : ›Episches‹ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 259), S. 157. 12 Jan-Dirk Müller : Memoriales Erzählen. Gleichzeitigkeit und memoria, in: Köbele/Rippl [Anm. 4], S. 255–280, hier S. 257. 13 Kiening [Anm. 5], S. 5. 14 Müller [Anm. 12], S. 260.

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Wie bereits erwähnt, wird zu Beginn des Textes das vergangene Geschehen in der Form einer Analepse rekapituliert, welche die mehrere Jahrzehnte überspannende Handlung des ›Nibelungenliedes‹15 von Anfang bis Ende zusammenfasst – mit den prägnanten Worten des Erzählers im Epilog: wie ez sich huob und ouch began / und wie ez ende gewan (*B V. 4303f.). Gleichwohl liegt der Fokus dieses zeitraffenden Erzählens keineswegs auf einer linearen Wiedergabe des zeitlichen Nacheinanders der Ereignisse; vielmehr tritt die Stimme des Erzählers im Modus der Reflexion immer wieder hervor und spielt eine epistemische Perspektive ein, die auf die Etablierung axiologischer Wertekategorien zielt, deutlich etwa in der Kommentierung von Siegfrieds Tod (dem helde sterben niht gezam / von deheines recken hant *B V. 106f.), der Zuweisung der Schuld an die Burgunden (ich waene, sie ir alten sünde / engulten und niht mÞre *B V. 196f.) oder im Bemühen um Kriemhilts Entlastung: sine hete mit ir henden, ob si mohte s%n ein man, ir schaden, als ich mich verst.n, errochen manege stunde. geschehen ez niene kunde, wande sie hete vrouwen l%p. (*B V. 128–133)

Es fällt auf, dass die zahlreichen reflexiven und zum Teil repetitiv angelegten Einschübe16 das summarische Tableau des Anfangsteils immer wieder unterbrechen, sodass Momente des Innehaltens im zeitlichen Ablauf des narrativen Prozesses entstehen. Im Syntagma der Erzählung vom Nibelungenuntergang fungieren sie paradigmatisch als Distanzierungsphänomene zum als abgeschlossen präsentierten vergangenen Geschehen. Die durch wiederholte Verweise auf eine vorgängige Erzähltradition17 als zeitlich inszenierte Differenz zwischen erzählendem Subjekt und erzähltem Gegenstand erlaubt es, die Handlungen und Motivationen der Figuren in die Kategorien von Schuld und Sühne als »Formen christlicher Leidbewältigung«18 einzuordnen. Daraus er15 Dreizehn Jahre nach Siegfrieds Tod erfolgt Etzels Werbung um Kriemhilt (NL Str. 1142), weitere dreizehn Jahre später plant sie die Einladung ihrer Brüder ins Hunnenreich (NL Str. 1390). Das ›Nibelungenlied‹ wird hier wie im Folgenden zitiert nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdt. übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2003 (RUB 644). 16 Vgl. z. B. die wiederholten triuwe-Exkurse mit Bezug auf Kriemhilt (*B V. 139–158; *B V. 546–586). 17 Nur einige Beispiele: Diu rede ist genuog wizzenl%ch (*B V. 47); N0 ist iu wol geseit daz (*B V. 71); Iu ist dicke wol gesagt (*B V. 159). 18 Nikolaus Henkel: Die ›Nibelungenklage‹ und die *C-Bearbeitung des ›Nibelungenliedes‹, in: Die Nibelungen [Anm. 8], S. 113–133, hier S. 120. Das Geschehen wird auf Gottes Handeln in

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wächst eine Spannung von bereits bekanntem Sagenwissen und aktueller axiologischer Differenzierung, die den narrativen Prozess des ersten Teils der ›Nibelungenklage‹ kennzeichnet. Dieses retrospektiv-kommentierende Erzählen mündet mit *B V. 517 in die Gegenwart der Figuren ein. Der darauffolgende lange Mittelteil ist – im wahrsten Sinne des Wortes – den Aufräumarbeiten gewidmet, deren zentraler Bestandteil die Totenklage um die Gefallenen bildet. In der Art eines Kommunikationsprozesses werden dabei unterschiedliche Perspektiven der Figuren (Dietrich, Hildebrant, Etzel) auf das erlebte Geschehen präsentiert. Die Erzählzeit ist, verglichen mit der anfänglichen Analepse, erkennbar gedehnt: Die zahlreichen Beteuerungen des Erzählers, es habe nie ein größeres Leid als den Nibelungenuntergang gegeben,19 der fortwährende Gestus des Klagens der Figuren Dietrich und Hildebrant sowie schließlich die permanent getadelte Verzweiflung Etzels modellieren eine Gleichzeitigkeit im Erleben von Verlust und Trauer, die ein Spannungsfeld zwischen der Simultaneität des Erzählten und der Sukzession des Erzählens generiert.20 Zwar sind die Reden als »paradigmatische Explikation«21 des durch den Erzähler etablierten axiologischen Modells angelegt, das sie freilich durchaus kommunikativ variieren. Doch führte gerade deren iterative Tendenz dazu, dass die ›Nibelungenklage‹ aufgrund der »Langwierigkeit des mageren Geschehens«22 in der Forschung als literarisch-qualitativ unvollkommenes »Experiment«23 figurierte. Swämmels Reise führt die Kommunikationssituation des Textes auf eine neue Ebene. Nicht nur wird der Bote als Legitimierungsinstanz der erzählten historia inszeniert, die er an das kollektive Gedächtnis übermittelt;24 sein Bericht ist als erzähltes Ereignis auf einer intradiegetischen Ebene der Erzählung zu verorten und eröffnet, von der Ausgangsebene der Rahmenhandlung aus betrachtet, eine metadiegetische Dimension.25 Das ist deshalb bedeutsam, weil der in Bechelaren

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der Welt zurückgeführt: got der woldes in niht geben, / daz in daz liep geschaehe, / daz in deheiniu saehe / b% gesundem s%nem l%be (*B V. 1942–1945). Vgl. d. von di Etzel gewan / die aller groezesten nit, / die ein künec .ne tit / ie gewan an s%nem l%be (*B V. 254–257). Vgl. Köbele/Rippl [Anm. 4], S. 8. Müller [Anm. 12], S. 273. Max Wehrli: Die ›Klage‹ und der Untergang der Nibelungen, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag, hg. von Karl-Heinz Schirmer/Bernhard Sowinski, Köln/Wien 1972, S. 96–112, hier S. 104. Burghart Wachinger : Die ›Klage‹ und das ›Nibelungenlied‹, in: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied. Unter Mitarbeit von Irmtraud Albrecht hg. von Achim Masser, Dornbirn 1981, S. 264–275, hier S. 266. Sein mündlicher Bericht bildet die »Basis einer authentischen schriftlichen Aufzeichnung«. Müller [Anm. 11], S. 156. Zu dieser Erzähltechnik vgl. Mat&as Mart&nez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie München 102016, S. 78f.

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und Worms fokussierte Augenzeugenbericht als Spiegelung der zu Beginn des Textes durch den Erzähler vorgetragenen Abbreviatur des Nibelungenuntergangs angelegt ist. Die durch die Figur des Spielmanns Swämmel vollzogene Rückwärtsbewegung nach Worms bildet eine Kreiskomposition, die das Geschehen räumlich an den Anfang zurückbindet. Das Erzähltempo changiert dabei zwischen nur knapp geschilderter Reisezeit und ausführlicher Erzählzeit des Boten. Als Überbringer der verräterischen Einladung und Überlebender der Katastrophe dient die Figur Swämmels dazu, sowohl über das Raum- als auch das ZeitParadigma narrative Kohärenz zu erzeugen. Dennoch offenbaren seine Aussagen vor Gotelint und Dietlint sowie Brünhilt – in dieser Hinsicht den Äußerungen der Figuren im Mittelteil vergleichbar – stellenweise eine Dissonanz zur eingangs von der Erzählerstimme etablierten Deutungsordnung, welche auf die »Sinnpluralität« wie auch »die grundsätzlich offenen Horizonte der Reflexion« verweist.26 Die ›Nibelungenklage‹ stiftet im Anschluss an das mit einem offenen Sinnhorizont endende ›Nibelungenlied‹ nicht nur eine Fortführung der Handlung im Modus des Erzählens, sondern eröffnet durch das »genealogische Modell […] eine innerweltliche Überwindung der kollektiven Vergänglichkeit in der dynastischen Erbfolge«,27 die die Endlichkeit menschlicher Existenz als conditio humana im Paradigma der Kontinuität zu überwinden sucht. Dieser Sinnhorizont wird realisiert durch ein Erzählen, das zu weiten Teilen in der Schilderung kollektiver Aufräum- sowie Trauerarbeit besteht und prägnant Ausdruck findet in der sprachlichen Form der Totenklage. Indem sie unterschiedliche Zeitschichten miteinander verknüpft, eignet ihr als »Medium der Vergegenwärtigung«28 eine temporale Struktur : Sie fungiert als eine Form der Verdichtung heterochroner Zeitsemantiken.

26 Kiening [Anm. 5], S. 243. Siehe zu diesem Problemfeld Frick [Anm. 10]. 27 Timo Reuvekamp-Felber : Kollektivtod, Gemeinschaftsbildung und Genealogie. Bewältigungsstrategien menschlicher Endlichkeit im Erzählzusammenhang der Nibelungenüberlieferung, in: Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft, hg. von Andreas Bihrer [u. a.], Bielefeld 2016 (Edition Kulturwissenschaft 59), S. 75–97, hier S. 96. 28 Vgl. Burkhard Hasebrink: »Ich kann nicht ruhen, ich brenne«. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im ›Fließenden Licht der Gottheit‹, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin/New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 91–107, bes. S. 105.

Reflexionen des Untergangs

II.

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Heterochrone Zeitlichkeitskonzepte im Medium der Klage

Diz liet heizet diu Klage (*B V. 4322). Die programmatische Selbstbezeichnung im Schlussvers markiert die Nähe der Dichtung zur lateinischen planctus-Tradition.29 Sie wird schon am Beginn ausgestellt, der den Gestus des Klagens als zentrales Signum des Textes präsentiert: Hie hebt sich ein maere, daz waere vil redebaere, und waere guot ze sagene, niwan daz ez ze klagene den liuten allen gezimt. (*B V. 1–5)

Die damit fokussierte ›Rahmung‹ der ›Nibelungenklage‹ lenkt den Blick auf die Endlichkeit menschlicher Existenz mit dem Ziel der Überwindung von Trauer, Tod und Vergänglichkeit im Modus des verklagens. Diesen Aspekt thematisieren die zahlreichen Totenklagen, die den etwa 2000 Verse umfassenden Mittelteil (*B V. 587–2418) der Dichtung dominieren. Sie entwerfen ein Spannungsfeld von »Vergangenheit und Aktualität, Vergänglichkeit und Dauer«,30 innerhalb dessen Phänomene ungleichzeitiger Temporalitäten beobachtbar werden. Totenklagen repräsentieren Rituale, »denen grundsätzlich eine heterochrone Dimension eignet«:31 Eine vergangene menschliche Existenz wird »mit der Gegenwart der klagenden Figur« verknüpft;32 das Besiegen der Endlichkeit durch ihre Überführung in die kollektive memoria markiert eine tendenziell in die Zukunft gerichtete Erinnerungsarbeit, die in jeder Aktualisierung des Textes durch Rezeption aufs Neue wirksam wird. Die Grundstruktur der Totenklage setzt sich aus den Elementen lamentatio (Beklagen des/der Verstorbenen), laudatio (Lob des/der Verstorbenen), consolatio (Tröstung der Hinterbliebenen) und commendatio (Fürbitte) zusammen.33 Im performativen Vollzug mittels der direkten Rede werden wechselnde Temporalitäten zwischen Vergangenheit und Dauer reflektiert. Intendiert sind 29 Vgl. dazu Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer. Darstellungsband, München 1971. 30 Susanne Köbele: Ironische Heterochronien. Dichtertotenklagen im Spannungsfeld von Topik und Novation (Des Strickers ›Frauenehre‹, Walthers Reinmar-Nachruf, Frauenlobs Konrad-Nachruf), in: DVjs 92 (2018), S. 429–462, hier S. 430. 31 Ebd., S. 432. 32 Florian Schmid: Stimme(n) des Klagens. Überlegungen zur Performanz der ›Nibelungenklage‹ im Umfeld der höfischen Epik, in: Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Monika Unzeitig [u. a.], Berlin/Boston 2017 (Historische Dialogforschung 3), S. 279–308, hier S. 289. 33 Vgl. von Moos [Anm. 29], S. 38–56.

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»Präsenzeffekt[e]«,34 die die »Erfahrung von Unentrinnbarkeit und Irreversibilität des Todes« übersteigen.35 Die Totenklage zielt »mit ihrer Bekundung einer Abwesenheit zugleich mit ihrer ganzen Intensität auf Vergegenwärtigung«36 und bildet damit eine Figur der narrativen Synchronisierung unterschiedlicher Zeitsemantiken: Indem die Klage Abwesenheit konstatiert, ist sie Sprachform der Differenz – und in diesem Modus zugleich Medium der Vergegenwärtigung.37 Die ›Nibelungenklage‹, die dieses heterochrone Modell gewissermaßen zum Programm macht, bietet ein »komplexes Geflecht von Klagen und Kommentaren zum Klagen«,38 die durch ihren beträchtlichen Umfang die temporale Struktur des Textes prägen. Der in Fassung *C unter der Rubrik Aventiure wie her Dietr%ch schuof, daz man die titen dannen truoc stehende Mittelteil der Dichtung eröffnet einen Einblick in das sich den Überlebenden bietende Panorama des kollektiven Untergangs. Während der Hunnenkönig Etzel durch ausuferndes, die Kategorie der temperantia überschreitendes Klagen in eine Handlungsunfähigkeit verfällt, kommt den Figuren Dietrich und Hildebrant ein aktiver Part im Rahmen der ›Aufräumarbeiten‹ zu. Das Raum-Zeit-Gefüge spiegelt dabei den Ausgang der Kampfhandlungen, deren räumliche Dimensionen bei der Auffindung der Toten sukzessive abgeschritten und deren temporale Strukturen durch die Klagereden nachvollzogen werden. Die erste Klage, durch Dietrich gesprochen, gilt Kriemhilt, die isoliert von den übrigen Toten aufgefunden wird (*B V. 726f.). Die Akzentuierung ihrer triuwe nimmt dabei paradigmatisch auf die triuwe-Exkurse des Erzählers im ersten Teil des Textes Bezug: ›j. h.n ich vürsten m.ge r%ch vil gesehen b% m%nen tagen. ich gehirte nie gesagen von schoenerm w%be.