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German Pages [72] Year 2015
Martin Rößler Die Wittenbergisch Nachtigall
Martin Rößler war nach dem Studium der Kirchenmusik und Theologie Musikdirektor am Evangelischen Stift in Tübingen, dann Pfarrer in Tübingen-Hagelloch und Reutlingen-Bronnweiler. Nach seiner Promotion und Habilitation war er außerplanmäßiger Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen; er lebt jetzt im Ruhestand in Reutlingen-Bronnweiler.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978–3–7668–4368–5 (Print) ISBN 978–3–7668–4378–4 (eBook / pdf) Völlig neubearbeitete und erweiterte Fassung des Kapitels »Martin Luther« aus: Martin Rößler, Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichten in Lebensbildern, Stuttgart 2001. © 2015 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]
Martin Rößler
DIE WITTENBERGISCH NACHTIGALL Martin Luther und seine Lieder
Calwer Verlag Stuttgart
Martin Luther Gemälde aus der Werkstatt von Lukas Cranach dem Älteren, Wittenberg 1522–1524
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Frau Musica
Für allen Freuden auf Erden kann niemand kein feiner werden, denn die ich geb mit meim Singen und mit manchem süßen Klingen. Hie kann nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut. Hie bleibt kein Zorn, Zank, Hass noch Neid, weichen muss alles Herzeleid. Geiz, Sorg und was sonst hart anleit fährt hin mit aller Traurigkeit. Auch ist ein jeder des wohl frei, dass solche Freud kein Sünde sei, sondern auch Gott viel bass (besser) gefällt denn alle Freud der ganzen Welt. Dem Teufel sie sein Werk zerstört und verhindert viel böser Mörd. Das zeugt David, des Königs Tat, der dem Saul oft gewehret hat mit gutem süßen Harfenspiel, dass er in großen Mord nicht fiel. (1 Sam 16,23) Zum göttlichen Wort und Wahrheit macht sie das Herz still und bereit; solchs hat Elisäus bekannt, da er den Geist durchs Harfen fand. (2 Kön 3,15ff.)
Die beste Zeit im Jahr ist mein, da singen alle Vögelein, Himmel und Erden ist der voll, viel gut Gesang da lautet wohl.
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Voran die liebe Nachtigall macht alles fröhlich überall mit ihrem lieblichen Gesang, des muss sie haben immer Dank. Viel mehr der liebe Herre Gott, der sie also geschaffen hat, zu sein die rechte Sängerin, der Musiken ein’ Meisterin. Dem singt und springt sie Tag und Nacht, seins Lobes sie nichts müde macht; den ehrt und lobt auch mein Gesang und sagt ihm ein’ ewigen Dank. Martin Luthers VORREDE AUF ALLE GUTE GESANGBÜCHER zu Johann Walters LOB UND PREIS DER LÖBLICHEN KUNST MUSICA, Wittenberg 1538
Recht spät beginnt die Wittenbergisch Nachtigall, / die man jetzt höret überall, ihre süßen Weisen zu singen. Mit diesem bezeichnenden und beziehungsreichen Vergleich begrüßt Hans Sachs (1494–1576), der Nürnberger Schuh-/macher und Poet dazu, den Mönch Martinus im Sommer 1523 mit einem langen Spruchgedicht; und er benennt ihn so, bevor noch dessen erste Lieder vorliegen – ahnungsvolle Vorausschau oder dezente Aufforderung? Martin Luther – am 10. November 1483 in Eisleben geboren – kommt schon früh mit dem geistlichen Singen und Spielen in Berührung. Ein emotionales Erleben der Musik verbindet sich bei ihm mit bildungsreichem Wissen und Wort-Ton-schöpferischem Können. An den Lateinschulen in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach, die er nacheinander besucht, wird mit Liedern der Unterricht eröffnet und geschlossen. Liturgischer Gesang in der Messe, bei Beerdigungen und festlichen Anlässen gehört zu den Pflichten der –6–
Schüler, und als Singgruppe, Kurrende genannt, ziehen sie mit lateinischen und volkstümlich deutschen Weihnachtsund Osterliedern von Haus zu Haus. Partekenhengst sei er gewesen, erzählt Luther, der sich auf diese Weise ein Stückchen Brot als Almosen für den Lebensunterhalt ersingt; Frau Ursula Cotta in Eisenach soll ihm wegen seiner schönen Stimme besonders zugetan gewesen sein. Im Sommer 1501 schreibt er sich als Student an der Universität in Erfurt ein. Musik als Theoriefach ist im System der Septem artes liberales, der Sieben Freien Künste verankert. Luther lernt die Zahlenlehre des Pythagoras, wie der ganze Kosmos in gesetzmäßigen Proportionen schwingt und singt: Sphärenharmonie, Weltenklang zu Ehren Gottes, als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten (Hiob 38,7). Er lernt die Ethoslehre des Platon, wie die Musik ein edles Menschenbild und ein ganzes Staatsgefüge formt, und er kann nachfühlen, wie der Kirchenvater Augustin von der Macht der Musik überwältigt und von der Süße der Hymnen zu Tränen gerührt wird. Der Humanist Crotus Rubeanus bemerkt zu Luther: Du warst einst in unserer Burse (Studentenheim) ein gelehrter Philosoph und Musicus. Er spielt Querpfeife, und als er sich einmal mit dem Degen verletzt, den er als Student trägt, benützt er die Genesungszeit, um sich das Lautenspiel beizubringen; er improvisiert und bearbeitet mehrstimmige Liedsätze, und mit seinem kleinen tumperen Tenor, der hohen hellen Stimme, singt er dazu. Im Sommer 1505 tritt Luther in das Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten ein, zwei Jahre später wird er zum Priester geweiht. Die Stundengebete nimmt er geistlich und musikalisch ernst; er lernt die Welt der gregorianischen Psalmen, Antiphonen und Responsorien, Hymnen und Sequenzen kennen. Aber er singt nicht locker und gelöst wie früher; er ringt um einen gnädigen Gott, um Glaubensgewissheit und Seelenfrieden. Er studiert Theologie und hält –7–
daneben ab 1508 philosophische Vorlesungen in Erfurt und an der jungen Universität in Wittenberg. Nach seiner Romreise 1510 und dem Erwerb der Doktorwürde wird er 1512 als Bibelprofessor und Klosterprediger nach Wittenberg berufen. Bei der Vorbereitung seiner exegetischen Vorlesungen, beim Studium im Turmstübchen, macht er seine umwerfenden Entdeckungen, und in Form der 95 Thesen zu Buße und Ablass tritt er 1517 mit seinen Erkenntnissen an die breitere Öffentlichkeit. Viel Kampfgeschrei und Theologendisput, erbitterte Gegner und überzeugte Freunde, Spuren einer neuen Frömmigkeit – keine Lieder. Auf dem Weg zum Reichstag in Worms 1521 beobachtet Johannes Cochlaeus, wie Luther in der Gegend um Frankfurt mit seinem Gesang zur Laute die Leute auf der Straße und im Wirtshaus begeistert; halb abfällig und halb bewundernd nennt er ihn einen zweiten Orpheus, obschon er noch Tonsur und Kutte trug – sicher noch nicht die späteren geistlichen Lieder. Kirchlicher Bann und kaiserliche Acht, Versteck auf der Wartburg mit der Übersetzung des Neuen Testaments und Rückkehr nach Wittenberg zu einer zurückhaltenden Gottesdienstreform – alle Ereignisse und Umwälzungen ohne Lieder. Kurz: Ein Vierzigjähriger tritt erstmals als geistlicher Dichter-Sänger auf; ein anderweitig berühmtberüchtigter Mann, bewundert und gefürchtet wegen seiner spitzen Feder und scharfen Zunge, beschäftigt sich nun mit dem gesungenen Wort.
Ein erster Anstoß kommt von außen. Am 1. Juli 1523 werden auf dem Marktplatz in Brüssel zwei junge Augustinermönche verbrannt, Johannes Esch (oder Johan van den Eschen) und Henricus Vos (oder Hendrik Voes), zwei von Luthers Ordensbrüdern, die ihr evangelisches Bekenntnis mit dem Leben bezahlen müssen – die ersten Märtyrer der reformatorischen Bewegung. Die katholisch-kirchliche Inquisition in Kooperation mit der weltlichen Staatsmacht hatte ihnen –8–
den Ketzerprozess angehängt, den sie gern am Urheber allen Übels vollzogen hätte. Luther ist geschockt und erschüttert, als er davon hört. Da hat er angefangen, innerlich zu weinen und gesagt: Ich vermeint, ich sollte ja der erste sein, der um dieses heiligen Evangeliums wegen sollte gemartert werden; aber ich bin des nit würdig gewesen, notiert sein Chronist Johann Kessler über diese Tage. In einer Stimmung von Trauer und Trotz schreibt er einen offenen BRIEF AN DIE CHRISTEN IM NIEDERLAND. Und gleich hinterher singt er – singen und sagen wird seine Lieblingsformel für eine öffentliche Verlautbarung – eine Art Helden- oder Heiligenlied; eine Ballade, verfasst in gereimter Sprache, beflügelt von einer selbsterfundenen Melodie – noch ist die Einheit des Dichter-Sängers ganz selbstverständlich –, verbreitet wohl als Flugblatt, weitergetragen von Markt zu Markt, von Mund zu Mund: Ein neues Lied wir heben an, des walt Gott, unser Herre, zu singen, was Gott hat getan zu seinem Lob und Ehre. Zu Brüssel in dem Niederland wohl durch zween junge Knaben hat er sein Wundermacht bekannt, die er mit seinen Gaben so reichlich hat gezieret. (Str. 1)
Luther erzählt, er benützt die schrillen Töne des Protestund Propagandasongs, aggressiv und agitatorisch, plakativ schwarz-weiß gemalt; er berichtet und wertet zugleich. Er prangert die ungeistlichen, ja unmenschlichen Methoden der Theologen von Löwen und der Juristen der Gerichte an. Er spricht von Lügengeflecht und Ränkespiel, von brutaler Gewalt in Verhören und Foltern; diesen Tod nennt er rundheraus Mord.
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Sie sungen süß, sie sungen saur, versuchten manche Listen; die Knaben stunden wie ein Maur, verachten die Sophisten. Den alten Feind das sehr verdross, dass er war überwunden von solchen Jungen, er so groß; er ward voll Zorn von Stunden, gedacht, sie zu verbrennen. (Str. 4) Zwei große Feur sie zündten an, die Knaben sie herbrachten. Es nahm groß Wunder jedermann, dass sie solch Pein verachten. Mit Freuden sie sich gaben drein, mit Gottes Lob und Singen. Der Mut ward den Sophisten klein für diesen neuen Dingen, da sich Gott ließ so merken. (Str. 8)
Diese schockierende Gewalttat sieht Luther mit einem Grundmotiv seiner Theologie verflochten: Kampf zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Teufel. Und in diesen Kampf will er mit den Mitteln von Wort und Ton eingreifen; das Lied hat teil an der Entlarvung der Welt, an der Austreibung der Dämonen. Die Winkelzüge und fintenreichen Argumente der Gegenseite hören mit der Hinrichtung der beiden Mönche nicht auf; Luther aber sieht einen größeren Horizont. Kündigt sich in der Schlussstrophe die Ansage einer beginnenden Heilszeit, das Erwachen eines Liederfrühlings an? Die lass man lügen immerhin, sie habens kleinen Frommen. Wir sollen danken Gott darin, sein Wort ist wieder kommen.
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Der Sommer ist hart für der Tür, der Winter ist vergangen, die zarten Blumen gehn herfür. Der das hat angefangen, der wird es wohl vollenden. (Str. 12)
Monate später reagiert Luther auf aktuelle Informationen und fügt seiner Ballade zwei neue Strophen ein, in denen es heißt: Die Aschen will nicht lassen ab, sie stäubt in allen Landen. Hie hilft kein Bach, Loch, Grub noch Grab; sie macht den Feind zu Schanden. Die er im Leben durch den Mord zu schweigen hat gedrungen, die muss er tot an allem Ort mit aller Stimm und Zungen gar fröhlich lassen singen. (Str. 10)
Ein recht irritierender Auftakt zu Luthers Liederschaffen: kein liturgisches oder katechetisches Bedürfnis, sondern der Drang, die Situation einer extremen Anfechtung zu bewältigen und zugleich die Gelegenheit zur volksmissionarischen Verkündigung zu nutzen. Ein engagierter Bericht einer irdischen Begebenheit, ein Beispiel der gereimten Publizistik, aufrüttelnd und zeitkritisch, nah am Ohr des Volkes und effektvoll in der Wirkung. Luther zeigt von allem Anfang an ein sicheres Gespür für die geeignete Form: ein Zeitungslied, das ein Ereignis als Kundgebung veröffentlicht; ein Gespür auch für das passende Kommunikationsmittel: ein Flugblatt, das die mündliche Nachrichtenwelle anstößt und wachhält.
Könnte dies Medium nicht auch für die Neu-Zeitung, für die Gute Nachricht geeignet sein, die Luther ausrufen will? Schon ein Jahr zuvor schreibt er im September-Testament in der – 11 –
»Nun freut euch, lieben Christen g’mein« ACHTLIEDERBUCH: ETLICH CHRISTLICH LIEDER LOBGESANG UND PSALM Nürnberg 1524
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Vorrede, und dabei fließen die Erfahrungen aus seiner Bibelübersetzung und sonstigen Schriftstellerei in die Gestaltung seiner Poesie mit ein: … denn Evangelion ist ein griechisch Wort und heißt auf deutsch: gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist. Er hat begriffen: Das Wort Gottes will als lebendiges, mündlich menschliches Wort verbreitet werden, um voll zur Wirkung zu kommen. Diese Überlegungen bilden den Hintergrund für Luthers zweites Lied: Nu freut euch, lieben Christen g’mein (Evangelisches Gesangbuch 1993, abgekürzt EG 341). Luther fügt seine eigene kühne Sprungmelodie in Analogie eines Tanzliedes bei, die er später um 1529 – unnötigerweise – durch seine gemeindegemäßere Melodie ersetzt (nun verwendet bei EG 149 und Gotteslob 2013, abgekürzt GL 258); er konnte nicht ahnen, dass sich gerade die Einheit des ersten Wurfs durchsetzen werde. Ein Zeitungslied von Gottes Ratschluss zur Erlösung: Dieses schon im Mittelalter bekannte Lehrstück ist der Stoff, den er berichten will. Und wie er berichtet: Auf dem Menschen lastet das Dunkel des Unheils, die Gefangenschaft in den Fesseln der unheiligen Dreieinigkeit von Sünde, Tod und Teufel (Str. 2.3). Luther kann es autobiographisch erhärten; er sagt Ich und spricht wie von einem persönlichen Schicksal. Aber er streift alle Momente der Zufälligkeit ab; jede und jeder im Wir, in der Gemeinde der Glaubenden, wird es so oder ähnlich erleben. Und dann nimmt der Bericht kosmische Ausmaße an (Str. 4–10): Gott in seiner Barmherzigkeit schickt den Sohn zum Werk der Befreiung. In wörtlicher Rede spricht Gott zu Christus, und dieser wiederum in wörtlicher Rede zum Menschen. Die Liedstrophen interpretieren das Werk des Erlösers in den einzelnen Stationen des Kirchenjahres: Weihnachten und Erdenweg (Str. 6), Karfreitag und Ostern (Str. 8), Himmelfahrt und Pfingsten (Str. 9). Und mittendrin die befreiende Zusage des Erlösers:
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Er sprach zu mir: Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen; ich geb mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen; denn ich bin dein und du bist mein, und wo ich bleib, da sollst du sein, uns soll der Feind nicht scheiden. (Str. 7)
Mit der uralten Verlöbnisformel Ich bin dein / und du bist mein, / des sollt du gewiss sein! (Str. 7) wird dem verlorenen Menschen das rettende Heil zugeeignet: Da bist du selig worden! (Str. 8). Die Anfangsmotive seines Dichtens: weltpolitischer Horizont und christozentrisches Heil, persönliche Betroffenheit und missionarisch verkündigendes Erzählen werden Luthers weitere Tätigkeit als Liedermacher begleiten. *
Ein zweiter Anstoß führt Luther in neue Richtungen, nachdem er die überwältigende Wirkung des gesungenen Liedes in seinen ersten beiden Beispielen erfahren hatte. In jenen Tagen des Spätherbstes 1523 erwarten befreundete Pfarrer, wohlwollende Stadträte, evangelisch gesinnte Gemeinden neue Gottesdienstordnungen in deutscher Sprache, die dem reformatorischen Ansatz entsprechen. In den grundsätzlich theologischen Weichenstellungen ist Luther radikal und rigoros, in den praktisch liturgischen Anordnungen aber eher konservativ und restriktiv. Er zögert. Er sieht es klar, dass mit einigen Abstrichen oder Beifügungen nichts geholfen ist. Das neuentdeckte Wort von der Rechtfertigung des Sünders muss die Menschen erst verändern, verwandeln, dann werden sich schon die adäquaten Feierformen einstellen. In seiner kleinen Schrift VON ORDNUNG GOTTESDIENSTS IN DER GEMEINE von 1523 gibt er die Richtung an: Aber die Summa sei die, dass es ja alles geschehe, dass das – 14 –
Wort im Schwang gehe und nicht wiederum ein Loren und Donen (leierndes und leertönendes Psalmodieren) draus werde, wie bisher gewesen ist. Es ist alles besser nachgelassen denn das Wort. Und es ist nichts besser getrieben denn das Wort. Ganz vorsichtig deutet sich an, was die geistlichen Lieder in diesem Wortgeschehen und Aufklärungsprozess leisten könnten: … auf dass dadurch Gottes Wort und christliche Lehre auf allerlei Weise getrieben und geübt werden …, das heilige Evangelion, so itzt von Gottes Gnaden wieder aufgangen ist, zu treiben und in Schwang zu bringen … (1. Gesangbuch-Vorrede von 1524). Die Lieder könnten Wort und Antwort, Eindruck und Ausdruck des Glaubens werden, später einmal eine Möglichkeit, die Mündigkeit der Gemeinde in der Mündlichkeit des gottesdienstlichen Singens zu verwirklichen. Hohe Gedanken, gleichsam eine Vision, und Luther sucht sie alsbald in eine wohlüberlegte Strategie umzusetzen. Zuerst wartet er auf sprachmächtige Dichter und Sänger: Ich möchte, wir hätten möglichst viele deutsche Lieder, die das Volk in der Messe singt … Zweifellos hat früher das gesamte Volk das gesungen, was jetzt nur noch der Chor singt oder dem Segen des Bischofs respondiert … Aber noch fehlt es an Dichtern – oder noch sind sie nicht hervorgetreten –, die uns fromme und geistliche Lieder, mit Paulus zu sprechen, singen, welche würdig sind, regelmäßig in Gottes Kirche benutzt zu werden. Er weist auf drei spätmittelalterliche Gesänge hin und endet mit der Erwartung: Ich sage das, um deutsche Dichter, wo es solche gibt, anzuregen, dass sie uns fromme Lieder dichten (FORMULA MISSAE ET COMMUNIONIS Ende 1523, aus dem Lateinischen übersetzt von Wilhelm Stapel). Bald darauf richtet er einen gezielten Appell an einige Freunde: Wir planen nach dem Beispiel der Propheten und der alten Kirchenväter für die Menge deutsche Psalmen zu dichten, geistliche Gesänge, damit Gottes Wort auch gesungen im Volke lebe. Darum suchen wir allenthalben Dichter. Da Du die deutsche Spra– 15 –
che so füllig und glänzend beherrschest, sie auch sehr gepflegt hast, möchte ich Dich bitten, dass Du Dich mit uns bemühst und versuchst, einen Psalm in ein Lied umzudichten etwa so, wie ich es in dem beiliegenden Beispiel getan habe (wohl das Lied zu Psalm 130 Aus tiefer Not schrei ich zu dir EG 299, GL 277). Neue, modisch-elegante Töne sähe ich freilich gern vermieden; denn um die Menge zu gewinnen, muss man ganz schlichte, landläufige, aber immer zugleich saubere und treffende Ausdrücke wählen, und der Sinn sollte klar und möglichst psalmgetreu sein. Daher muss man frei und ohne Rücksicht auf den Wortlaut den Sinn durch andere geeignete Worte übertragen. Ich selbst bin nicht hinreichend begnadet, dass ich dergleichen so machen könnte, wie ich möchte … (Brief an den kurfürstlichen Kanzler Georg Spalatin, Ende 1523 / Anfang 1524; deutsch ebenfalls von Wilhelm Stapel).
Die Psalmen, auf die Luther hinweist, bieten sich fast von selbst als vorzügliche Vorlagen an. Sie sind als Gesangbuch der alten israelitischen Gemeinde gesammelt und im Kanon der Heiligen Schrift verankert. Sie sind im Metrum, im zeilenentsprechenden Parallelismus, in den starken dichterischen Metaphern und Bildern als geistliche Poesie vorgeformt und weisen zudem zu allen Zeiten einen lückenlosen Gebrauch in gottesdienstlicher und privater Andacht auf. Luther findet in seiner Vorrede zum Psalter 1528 treffsichere, gewaltige Worte: Wo findet man feiner Wort von Freuden, denn die Lobpsalmen oder Dankpsalmen haben? Da siehest du allen Heiligen ins Herze wie in schöne lustige Garten, ja wie in den Himmel, wie feine, herzliche, lustige Blumen darinnen aufgehen von allerlei schönen fröhlichen Gedanken gegen Gott um seine Wohltat. – Wiederum, wo findest du tiefer, kläglicher, jämmerlicher Wort von Traurigkeit, denn die Klagepsalmen haben? Da siehest du abermal allen Heiligen ins Herze wie in den Tod, ja wie in die Hölle; wie finster und dunkel ists da von allerlei betrübtem Anblick des Zorns Gottes … – Summa, willst du die heiligen christlichen Kirchen gemalet sehen mit lebendiger Farbe und Gestalt, in einem – 16 –
kleinen Bilde gefasset, so nimm den Psalter für dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei, ja du wirst auch dich selbs(t) drinnen und das rechte Erkenne-dich-selbst finden, dazu Gott selbs(t) und alle Kreatur(e)n (nach der Bibelausgabe Wittenberg 1545). Luther schätzt die Psalmen als hohe Schule des Sprachund Glaubensunterrichts, als Musik von besonders würdiger Qualität: schöner Text und schöne Noten (1543). Nur sollten eben diese Psalmen in die dem Volk eingängigen und im Volkslied gängigen Strophenlieder umgegossen werden. Das so gestaltete, christologisch gefärbte und exemplarisch auslegende Psalmlied ist Luthers ureigene Erfindung oder Entdeckung; in der langen Liedtradition des Mittelalters hat sich kein entsprechendes Beispiel nachweisen lassen. Ein wahrhaft folgenreiches Programm: das Lied als gesungene Bibel. Die Bibel propagiert und legitimiert das Singen, und das Singen prolongiert und interpretiert die Bibel – eine fruchtbare Wechselwirkung. Das Lied wird zum Tor und Schlüssel, zum Blickfang und Wegweiser zur Heiligen Schrift, und im Lied ist sie oft griffiger, bisweilen angriffiger, eben verdichtet gegenwärtig. Sechs Psalmlieder hat Luther rasch hintereinander vorgelegt: schon 1523 den Bußpsalm in vier Strophen Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Psalm 130; EG 299, GL 277 in der vierstrophigen Fassung); wenig später gibt er dem Lied die eigene eindrückliche Melodie und erweitert es mit den Erfahrungen seiner Rechtfertigungslehre und Worttheologie auf fünf Strophen. Ach Gott, von Himmel sieh darein (Psalm 12; EG 273), in der Auseinandersetzung mit den religiösen Richtungen seiner Zeit entstanden und zuerst wie die anderen Psalmlieder dieses Versmaßes auf die Melodie des spätmittelalterlichen Oster-Prozessionsliedes Freu dich, werte Christenheit (verwendet bei EG 342) gesungen, bis der Text wohl von Luther selbst die eigene Singweise be– 17 –
kommt. Das ebenfalls aus der Kampfsituation geborene und vielleicht als Eingangsgesang beim Gottesdienst gedachte Lied: Wär Gott nicht mit uns diese Zeit, so soll Israel sagen, wär Gott nicht mit uns diese Zeit, wir hätten musst verzagen, die so ein armes Häuflein sind, veracht von so viel Menschenkind’, die an uns setzen alle. (Str. 1)
(Psalm 124; in EG 297 ist die Fortsetzung des Liedes als Str. 3.4 in das parallele Psalmlied von Luthers Mitarbeiter Justus Jonas ohne die Eigenmelodie eingefügt). Ferner das mit einer Segensformel als Schlusslied geeignete Es wollt uns Gott genädig sein (Psalm 67; EG 280). Die beiden anderen Psalmlieder Es spricht der Unweisen Mund wohl (Psalm 14; die Melodie von Johann Walter zu einem anderen Text bei EG 196) und Wohl dem, der in Gottes Furcht steht (Psalm 128; Luthers Melodie von 1529 zu einem anderen Text in EG Württemberg 557) haben sich in der Liedtradition nicht gleichermaßen als lebendig erwiesen. Insgesamt hält Luther seine Verse für poetische Beispiele, die die Phantasie und Schaffenskraft der Zeitgenossen und Nachkommen anstacheln sollten: … zum guten Anfang und Ursach zu geben denen, die es besser vermögen (1. Gesangbuch-Vorrede von 1524). Und seine Anregungen werden aufgenommen, in seinem unmittelbaren Umkreis eher zaghaft: Hier entstehen nur Erbarm dich mein, o Herre Gott (Psalm 51) von Erhart Hegenwalt, einem Schweizer Studenten, der sich gerade in Wittenberg aufhält; Fröhlich wollen wir Halleluja singen (Psalm 117) von Johann Agricola, dem Freund und Mitarbeiter Luthers, und Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (Psalm 124; EG 297) von Justus Jonas, – 18 –
dem Propst und Professor in Wittenberg, dem gelehrten Übersetzer und Trauzeugen Luthers; und Herr Christ, der einig Gotts Sohn (EG 67) von Elisabeth Cruciger, der Ehefrau von Luthers Schüler und Amtsgenossen in Wittenberg Caspar Cruciger, wobei ihr Lied eher mittelalterlich klösterliche Traditionen aufnimmt. Ganz anders aber in Straßburg: Luthers Psalmlieder, die nur als Texte dorthin gelangt sind, bekommen alsbald eigene Melodien durch die Straßburger Münstermusiker Wolfgang Dachstein (EG 83, 222, 299 II) und Matthäus Greiter (EG 76, 280). Die Straßburger Theologen und Kirchenmusiker werden dadurch zu eigenen Psalmliedern angeregt, von denen wir heute wenigstens noch die hochberühmten Melodien im Gebrauch haben: Wolfgang Dachstein mit An Wasserflüssen Babylon (Psalm 137; die Melodie bei EG 83) und Im Frieden dein, / o Herre mein (ursprünglich das Canticum des Simeon von Johann Englisch, heute mit einem Text von Friedrich Spitta bei EG 222, GL 216), Matthäus Greiter mit Es sind doch selig alle, die (Psalm 119; die Melodie bei EG 76 u.a., GL 267). Ähnliche Bemühungen um einzelne Psalmlieder sind später vor allem in Konstanz zu beobachten. Es kommt schon bald zu ersten Reihenbildungen: Ludwig Oeler in Straßburg bearbeitet 1525 die Psalmen 1–8, Hans Sachs in Nürnberg schließt sich in DREIZEHN PSALMEN 1526 bei Psalm 9 beginnend unter Auslassung der schon von anderen Autoren bearbeiteten Psalmen an. 1537 erscheint in Augsburg ein vollständiger deutscher Reimpsalter: DER GANZ PSALTER, DAS IST ALLE PSALMEN DAVIDS, AN DER ZAHL 150 (darin u.a. Psalm 23 Der Herr ist mein getreuer Hirt EG 274 und von Adam Reißner, dem Geheimschreiber des Landsknechtsführers Georg von Frundsberg, Psalm 31 In dich hab ich gehoffet, Herr EG 275). Der engagierte Verleger Wolfgang Köpphel in Straßburg druckt 1538 den Augsburger Psalter mit Noten nach und arbeitet im Jahr darauf die in Straßburg vorhandenen Psalmbereimungen ein. Trotz – 19 –
Psalme 36 »En moy le secret pensement« Johannes Calvin, Genf 1542
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aller Bevorzugung der Psalmlieder halten aber die Straßburger Theologen an den allgemeinen Fest-, Liturgie- und Lehrliedern fest, wie die Lieder von Conrad Hubert in späteren Gesangbuch-Ausgaben zeigen (O Gott, du höchster Gnadenhort EG 194, Allein zu dir, Herr Jesu Christ EG 232). Die wichtigste Entwicklung des Psalmliedes jedoch ist noch nicht genannt. Als Prediger der französischen Exulantengemeinde in Straßburg lernt Johannes Calvin 1538 den blühenden, begeisternden Psalmliedergesang kennen und schon im folgenden Jahr gibt er in Straßburg das erste französische evangelische Gesangbüchlein heraus: AULCUNS PSEAULMES ET CANTIQUES MYS EN CHANT – Einige Psalmen und Cantica, zum Gesang gesetzt. Neun eigene Texte auf Straßburger Melodien vereinigt er mit dreizehn Liedern des königlichen Hofdichters Clément Marot in Paris, der seit geraumer Zeit biblische Psalmen auf Pariser Chanson-Melodien schreibt. Das ist erst ein Anfang, und Calvin entwickelt ein prinzipielles Programm: Wir brauchen Lieder, die nicht nur anständig, sondern auch heilig sind, Lieder, die uns gleich Stacheln zum Bitten, zum Lob Gottes reizen, zum Nachdenken über seine Werke, damit wir ihn lieben, fürchten, ehren und preisen. Dabei trifft zu, was der heilige Augustinus sagt, dass niemand etwas singen kann, was Gottes würdig ist, wenn er es nicht von ihm empfangen hat. Darum, wir mögen suchen, wo wir wollen, wir werden keine besseren und dazu geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids, die der Heilige Geist ihm eingegeben und gemacht hat. Und so sind wir, wenn wir sie singen, gewiss, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen … (Vorrede zu LA FORME DE PRIERES ET CHANTZ ECCLESIASTIQUES 1542/43, deutsch von Markus Jenny). Geistliche Lieder ja, aber nur in völliger Gleichförmigkeit mit den biblischen Psalmen; Luthers Entdeckung des Psalmliedes ist verengt zum allein legitimen Kirchenlied geworden. 1541 wird Calvin als Prediger und Reformator nach Genf zurückgerufen; das Psal– 21 –
men-Gesangbuch wächst Jahr um Jahr, manchmal stagniert es. Der Hofdichter Clément Marot, als Glaubensflüchtling nach Genf gekommen, stellt bis zu seinem Tod 1544 fünfzig Psalmlieder fertig; die zugehörigen Melodien erfindet der Genfer Kantor und Musikschullehrer Guillaume Franc (EG 255/ GL 186, EG 379/ GL 290, GL 439; heute in veränderter Form EG 81/ GL 190, EG 108/ GL 143, GL 393, EG 271, EG 294/ GL 385, und eben diese Melodie wird zu Psalm 66 auch mit französischem Text verwendet: Vous, tous les peuples de la terre EG 279). Von 1548 an führt Théodore de Bèze die dichterische Arbeit weiter, der Kantor Loys Bourgeois als Nachfolger Francs glättet die bisherigen Melodien und stellt die neuen bereit (EG 300/ GL 539, EG 524, GL 500). Nach 1551 ist ein Maître Pierre (Davantès) für den musikalischen Part verantwortlich (EG 282, EG 290, EG 301/ GL 402, in späterer Form EG 322/ GL 403). 1562 liegt der vollständige französische Genfer Reim- oder Hugenottenpsalter vor, das einheitliche Gesamtwerk von zwei Dichtern und drei Melodisten nach den Regeln des Theologen Calvin. Dieses Psalmen-Gesangbuch wird zum alleinigen und verbindlichen Singbuch für die reformierten Kirchen aller Länder. Luthers Urgedanke, nämlich der als Strophenlied gesungene Psalm, hat unerwartet reiche Früchte getragen. *
Aus der Zeitperspektive der Nachwirkung wieder zurück zur Ausgangsposition. Ein dritter Anstoß kommt hinzu, und er weitet den Horizont des geistlichen Singens beträchtlich. Luther muss für die Funktion seiner entstehenden Liedkultur den Standort zwischen dem Lager der römisch hierarchischen Papstkirche und dem schwärmerisch revolutionären linken Flügel der Reformation finden und festigen. Thomas Müntzer, Prediger im kursächsischen Städtchen Allstedt und wenig später Anführer des thüringischen Bauernheeres gegen die Fürsten, veröffentlicht 1523 in DEUTSCH KIR– 22 –
CHENAMT elf altkirchliche Hymnen (daraus ist nach einigen Umformungen Gott, heilger Schöpfer aller Stern EG 3, GL 230 genommen), und manche seiner deutschen Übersetzungen entpuppen sich bei näherem Zusehen als Überarbeitungen im Sinne eines anderen Heilsweges: Entgrobung und Vergottung des Menschen, inneres Wort und Geistbesitz. Auch an der handwerklichen Ausführung sind bald Zweifel aufgekommen: Müntzer unterlegt den gregorianischen Singweisen silbengleich den deutschen Text. Luther aber zielt auf ein anderes Liedverständnis: Ich wollt heute gerne eine deutsche Messe haben, ich gehe auch damit um; aber ich wollt ja gerne, dass sie eine rechte deutsche Art hätte. Denn dass man den lat(e)inischen Text verdolmetscht und lat(e)inischen Ton oder Noten behält, lass ich geschehen, aber es laut(et) nicht artig noch rechtschaffen. Es muss beide, Text und Noten, Akzent, Weise und Gebärde aus rechter Muttersprach und Stimme kommen, sonst ists alles ein Nachahmen, wie die Affen tun, schreibt er Ende 1525 in seiner Schrift WIDER DIE HIMMLISCHEN PROPHETEN. Und Luther möchte die lobpreisenden Festgesänge der frühen Kirche nicht wie Müntzer in den Stundengebeten belassen, sondern im Hauptgottesdienst der Gemeinde verankert wissen. Ihm liegt an der Wolke der Zeugen, an dem Erbe der Väter. Sie werden ihm zu Bundesgenossen bei der gesungenen Verkündigung: … Sankt Ambrosius hat viel schöner Hymnos Ecclesiae (Kirchenlieder) gemacht, heißen Kirchen Gesang darum, dass sie die Kirche angenommen hat und braucht, als hätte sie dieselben gemacht, und wären ihre Lieder. Daher spricht man nicht: So singet Ambrosius, Gregorius, Prudentius, Sedulius, sondern: So singet die christliche Kirche … Und wenn sie sterben, so bleibt die Kirche, die immerfort ihre Lieder singet (VON DEN LETZTEN WORTEN DAVIDS, 1543 veröffentlicht). Der Gemeinde soll das wieder zurückgegeben werden, was ihr wesensmäßig zusteht: ihr Singen. Luther will nicht um jeden Preis original oder originell sein; seine Anlehnung an die Tradition ist Absicht, nicht Zeichen der Verlegenheit – 23 –
oder Mangel an Schöpferkraft. Er erkennt sehr wohl, wie in allen Jahrhunderten das Evangelium im Lied weiterglühte wie ein stilles Feuer unter der Asche; es muss jetzt nur befreit, zum Brennen, zur Brunst entfacht werden. In diesem Bemühen wird Luther zum großen Sammler, der alle vorhandenen Liedgattungen prüft und sichtet. Er aktiviert in seinem Liedschaffen eine tausendjährige Liedgeschichte von den alten Hymnen über die lateinisch liturgischen Gesänge bis zu den mittelalterlich deutschen Strophen. So öffnet sich ein weites Panorama; das Lied wird zum klingenden Kirchenjahr, auf die Mitte hin zentriert: … dass Christus unser Lob und Gesang sei, und nichts wissen sollen zu singen noch zu sagen denn Jesum Christum, unsern Heiland (1. GesangbuchVorrede von 1524). Auf diesem Hintergrund entstehen zu den Festzeiten des Jahres 1523/24 die jeweils fälligen Festlieder. Weihnachten naht, und an den Weihnachtsliedern wird Luthers Schaffensvorgang besonders deutlich. Er mustert erst einmal den Bestand, den er aus dem klösterlich liturgischen Gebrauch auswendig kennt und auch bei der Gemeinde als halbwegs bekannt voraussetzen kann. Den Hymnus des Ambrosius Veni redemptor gentium übersetzt er zum deutschen Lied Nu komm, der Heiden Heiland (EG 4, Luther formt auch die gregorianische Melodie in Richtung auf ein rhythmisiertes Volkslied um; GL 227 in anderer Übersetzung, aber mit Luthers Melodiefassung). In gleicher Methode, aber mit einem etwas freundlicheren deutschen Sprachduktus überträgt er den Anfangsteil des alphabetischen Leben-JesuHymnus von Caelius Sedulius A solis ortus cardine zu Christum wir sollen loben schon (EG Nordelbien 540, EG West 539). Viel später – Luther hat den 12. Dezember 1541 als Entstehungsdatum festgehalten – formt er weitere Strophen aus diesem Hymnus zu einem noch fehlenden Festlied zu Epiphanias um: Was fürchst du, Feind Herodes, sehr (EG Nordelbien 547). Luther hält sich damit durchweg – 24 –
an zentrale, nicht an periphere oder partielle Liedbeispiele der lateinischen Tradition. Mit diesen Hymnen kann er sich identifizieren. Schon in der Gestalt: Bewusst übernimmt er die vierzeilige Strophenform, die so ganz anders klingt als die siebenzeilige Luther-Strophe der meisten Psalmlieder; auch die zugehörigen schlichten, fast syllabischen Melodien lassen sich leicht zum Gemeindegesang umformen. Besonders im Gehalt: Ihm liegt an der dogmatisch befrachteten Christologie, an den universalen Titeln des Gottessohnes, an den Paradoxien des Heilsgeschehens, an der kosmischen Weite der Erlösung und an ihrer Zueignung in Wort und Glaube. Die schwerfällige Sprache, oft als ungelenker Versuch des Dichtens missdeutet, ist bewusster Kunstgriff; er dokumentiert auf diese Weise die enge Bindung an das Original in Gestalt und Gehalt. Dann prüft Luther die vorhandenen, schon ursprünglich deutschen Gesänge. Die Einzelstrophe aus dem 15. Jahrhundert Ein Kindelein so löbelich im Verbund mit Der Tag, der ist so freudenreich (EG Baden 546, EG Nordelbien 541; EG Württemberg 538 in späterer Umdichtung) lobt er ausdrücklich und zitiert sie zustimmend in Predigten; sie ist rein und braucht nicht bearbeitet zu werden. Er trifft auf eine andere Liedgattung: Zu Weihnachten ist die Einzelstrophe aus dem 14. Jahrhundert Gelobet seist du, Jesu Christ (EG 23, GL 252) weit verbreitet und äußerst beliebt; sie gehört zu den sogenannten Leisen, nach dem Refrainwort Kyrie eleison benannt, mit denen sich das Kirchenvolk im Zusammenhang mit der entsprechenden Sequenz eine fast-liturgische Mitwirkung im Gottesdienst ersungen und errungen hatte. Luther übernimmt die traditionelle Strophe im Wortlaut samt Melodie als Startimpuls und ergänzt sie durch sechs eigene, ohne Vorlage gedichtete Strophen. Jetzt hat er mehr Spielraum als bei den Hymnenübersetzungen. Er kann die Akzente setzen, wie sie ihm in seiner Verkündigung wichtig erscheinen: pro nobis – uns zugut; in den – 25 –
Mittelpunkt rückt die zentrale Kundgabe der Inkarnation Gottes: Das ewig Licht geht da herein … (Str. 4). Von vornherein denkt und dichtet er hier gemeindegemäß schlicht und verständlich – ein lehrreicher Blick in Luthers variable poetische Werkstatt. Eine ähnliche Arbeitsweise ist bei den anderen Festzeiten des Jahres 1524 zu beobachten. Ein Passionslied fehlt bei Luther. Er meidet bewusst die mittelalterliche Kreuzesmystik, die späteren Liederdichtern so wichtig werden sollte; er sieht das Kreuz in die Auferstehung Christi integriert. Zu Ostern ist die deutsche Kyrieleis-Strophe aus dem 12. Jahrhundert Christ ist erstanden (EG 99, GL 213) allgemein bekannt, geschätzt und geradezu liturgisch verehrt. Von ihr sagt Luther einmal in den Tischreden: Aller Lieder singt man sich mit der Zeit müde, aber das ›Christ ist erstanden‹ muss man alle Jahre wieder singen. Er entnimmt der Leise aber nur einige textliche und melodische Anklänge und mischt Gedanken aus der Oster-Sequenz des Wipo von Burgund Victimae paschali laudes – Singt das Lob dem Osterlamme (GL 320) hinzu; gebessert nennt er diesen Vorgang und meint damit: erweitert, verdeutlicht, entfaltet. Er gestaltet daraus, bildlich und biblisch weit ausholend, ein typologisches Festlied in sieben Strophen zu sieben Zeilen und sieben Silben: Christ lag in Todes Banden (EG 101). Gleichsam als Ersatz für eine regelgerechte Leise bildet er ein eigenes Kyrieeleison-Lied mit der von ihm so geliebten Wortkombination: Jesus Christus, unser Heiland, / der den Tod überwand (EG 102). Für Pfingsten übersetzt Luther, ganz parallel zur Arbeit im Weihnachtsfestkreis, den dogmatisch dichten Hymnus des Hrabanus Maurus Veni creator Spiritus (GL 341f.) weitgehend wörtlich zu Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist (EG 126). Die meditative Ausformung seiner Pfingstgedanken gibt er in eigenen Strophen zu der Kyrieleis-Strophe aus – 26 –
dem 13. Jahrhundert Nu bitten wir den Heiligen Geist (EG 124, GL 348 in anderen Textfassungen) und in einem um zwei Strophen erweiterten deutschen Antiphonengesang Komm, Heiliger Geist, Herre Gott (die ursprünglich mittelalterliche Antiphon EG 156, das Lied selbst EG 125). Bei diesem Lied setzt Luther bewusst gliedernd eine Mittelzäsur O Herr und verteilt logisch und einleuchtend die Wirkungen des Heiligen Geistes auf die Strophen. Zum Gebrauch beim Sonntag der Trinität stellt er zwei Lieder bereit. Er reinigt eine Allerheiligen-Litanei von allen möglichen Nebenpersonen und konzentriert die Anrufungen auf die Dreiheit der göttlichen Personen: Gott der Vater / Jesus Christus / Heilig Geist, der wohn uns bei (EG 138). Und er verteilt das Apostolische Glaubensbekenntnis sinnvoll, wenn auch gekürzt und komprimiert, nach einem älteren Glaubenslied aus Zwickau um 1500 auf drei Strophen: Wir gläuben all an einen Gott (EG 183). Bei beiden Liedern kann sich Luther wieder auf spätmittelalterliche, deutschsprachige Vorlagen aus dem Bereich der Antiphonenlieder und aus dem Umfeld der katechetisch-homiletischen Gottesdienstformen stützen.
Neben Psalm- und Festliedern entstehen im Lauf des fruchtbaren Liederjahres 1523/24 weitere Gesänge, die in Thematik und Typik keine geschlossene Sinngruppe zu ergeben scheinen. Vielleicht kann man wenigstens eine zielstrebige Absicht annehmen: die Bemühung um Unterricht und Seelsorge im weitesten Sinn. Zum Dienst am Wort, dem auch das Lied dienen will, gehört neben dem Gottes-Dienst auch der Dienst am Menschen in geistlichem Begleiten und Beraten. Seelsorge sucht Fragen zu beantworten. Die eine zentrale Frage der Luther-Zeit: Was ist es um Buße und Beichte? Wie erkenne ich mich als Sünder, und wie kann ich als Sünder aus Gnade leben? Die Antwort gibt Luther in einem Lie– 27 –
derpaar, in seelsorgerlichem Rahmen immer mit polaren Ausgestaltungen. Das große Zehn-Gebote-Lied Dies sind die heilgen zehn Gebot (EG 231) legt er wie einen Beichtspiegel an, der auf die rettungslose Selbsterkenntnis zuläuft: Es ist mit unserm Tun verlorn, / verdienen doch eitel Zorn (Str. 12). Jedes Gebot füllt eine Strophe – nach mittelalterlichem Brauch fehlt das Bilderverbot –, und er unterlegt seine Dichtung absichtsvoll der Melodie der alten Kreuzfahrer-Leise In Gottes Namen fahren wir (Melodie bei EG 498; GL 858 benutzt eine andere Melodie): Die wahre Pilgerschaft der Christen ist das Leben im Gehorsam gegenüber Gottes Weisung. Das kleine, kurz danach entstandene Zehn-Gebote-Lied nach der gleichen Melodie ist anders aufgebaut: Die Tafel der auf Gott bezogenen Gebote nimmt den meisten Raum ein; progressiv fortschreitend bringt der Dichter erst ein, dann zwei, dann drei, zuletzt vier Gebote in einer Strophe unter. Schon die Form predigt und weist darauf hin, woran wir letztlich unser Herz hängen sollen. Mensch, willt du leben seliglich und bei Gott bleiben ewiglich, sollt du halten die Zehn Gebot, die uns gebeut unser Gott. Kyrieleis. Dein Gott allein und Herr bin ich, kein ander Gott soll irren dich; trauen soll mir das Herze dein, mein eigen Reich sollt du sein. Kyrieleis. Du sollt mein’ Namen ehren schon und in der Not mich rufen an. Du sollt heilgen den Sabbattag, dass ich in dir wirken mag. Kyrieleis. Dem Vater und der Mutter dein sollt du nach mir gehorsam sein.
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Niemand töten noch zornig sein. Und deine Eh’ halten rein. Kyrieleis. Du sollst eim andern stehlen nicht. Auf niemand Falsches zeugen icht (irgend etwas). Deines Nächsten Weib nicht begehrn. Und all seins Guts gern entbehrn. Kyrieleis. (Str. 1–5)
Mit der Bereimung der Gebote überschreitet Luther in pä dagogischer Absicht fast schon die Grenze der Liedfähigkeit. Immerhin werden diese Lieder auch liturgisch verwendet: Johannes Bugenhagen, der Pfarrer der Wittenberger Stadtkirche, lässt sie in der Fastenzeit 1525 zu Anfang und Schluss der Katechismusgottesdienste singen. Trotzdem bleibt ein gewisses Unbehagen, wenn ethische Anweisungen gesangsweise gegeben werden. Es gibt Themen, die denkbar schlecht geeignet sind, im Lied traktiert zu werden; schließlich hat die Kirche noch andere Sprachmittel und Handlungsfelder als das geistliche Singen. Eine weitere seelsorgerliche Frage: Wie bekomme ich Absolution und Gnadenzusage? Wo finde ich Gewissheit und Geborgenheit? Hier wird für Luther das Abendmahl wichtig, und in seinen beiden Abendmahlsliedern gibt er die Antwort. Offensichtlich will er kein großes Lehrlied zum Sakra ment, eher eine Anleitung zum rechten Gebrauch bieten: Jesus Christus, unser Heiland, / der von uns den Gottes Zorn wandt (EG 215, wiederum die gleiche Startzeile wie im Osterlied; es fehlen in EG zwei Strophen). Luther betont die Gabe, das Geschenk. Christus ruft die Kranken und Bedürftigen, die Nichtskönner und Habenichtse an seinen Tisch: Er spricht selber: Kommt, ihr Armen, / lasst mich über euch erbarmen (orig. Str. 7, EG Str. 5). Und gleichermaßen betont Luther die Aufgabe, ein Leben in der Nachfolge zu führen: Die Konsequenz des göttlichen Erbarmens ist die tätige Nächstenliebe; wir sollen dem Menschen zum Chris– 29 –
tus werden: … dass er dein genießen kann, / wie dein Gott hat an dir getan (orig. Str. 10, EG Str. 8). Das andere Abendmahlslied, als Doppel-Leise aus der Tradition des Fronleichnamsfestes übernommen und mit zwei Strophen erweitert, dient als liturgisches Danklied nach der Feier: Gott sei gelobet und gebenedeiet (EG 214, GL 215). Die letzte, allerbewegendste seelsorgerliche Frage: Was ist es um den Tod? Wie lerne ich bei Lebzeiten die Sterbekunst? Wieder ein Liederpaar. Die Allgegenwart des Todes mit seinen Schatten, seinen Gründen und Abgründen hat kaum jemand erschütternder geschildert. Zugleich wird die Verflechtung von persönlichem Erleben und geistlichem Verarbeiten deutlich: Am 5. Juli 1524 ist der junge Humanist Wilhelm Nesen bei einer Kahnfahrt auf der Elbe vor den Augen der Freunde ertrunken. Aber nicht davon redet Luther, sondern er buchstabiert in seinen Worten die mittelalterliche Antiphon nach: Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen (EG 518, GL 503 nur mit der mittelalterlichen Strophe). Er bildet eine deutsche Liedvorlage um und vertieft sie zugleich: der Tod als äußerste Grenze und Auswegslosigkeit, der Tod als Hölle und Gericht für die Sünde, und Christus als der alleinige Rettungsanker: Lass uns nicht entfallen / von des rechten Glaubens Trost (Str. 3). Auf diesem Glaubensfundament kann Luther auch eine andere Sicht des Todes aufzeigen: Mit Fried und Freud ich fahr dahin (EG 519). Er versenkt sich in den biblischen Lobgesang des alten Simeon (Lk 2,29–32) und findet zu dem tröstlichen Schluss: … der Tod ist mein Schlaf worden (Str. 1). Jetzt singt er sehr persönlich im Stil eines Sololiedes zur Laute oder eines bürgerlichen Kunstliedes, Hofweise genannt, zur Begleitung eines Streicher- oder BläserEnsembles. Da die Strophenform singulär ist, kann mit gutem Recht die Melodie dem Dichter zugeschrieben werden. Luther hat wohl geahnt, dass das geistliche Liedgut zu den großen Tröstern zählen könnte, unverzichtbar auf dem Krankenbett und auf dem Sterbelager, in der Einsamkeit des Le– 30 –
bens und in der Anfechtung des Glaubens. In späteren Epochen der Liedgeschichte wird diese Zielrichtung wesentlich verstärkt und ausgeweitet. So weit hat Luther im Verlauf des knappen Jahres von Herbst 1523 bis Sommer 1524 – Liederjahr – die Sache des geistlichen Gesangs vorangetrieben. 24 Lieder, zwei Drittel seiner gesamten poetischen Produktion, liegen vor: Ergebnisse einer phantasievollen Planung und intensiven Bemühung, erste Anzeichen einer sich ausweitenden Singbewegung, Entdeckungen neuer Bereiche und Richtungen, Grundlegungen und Andeutungen, die erst die folgenden Generationen recht begriffen und ausgebaut haben. In dieser Breite der Themen ist Luther auf sich selbst gestellt, die erhofften Liedbeiträge bleiben weitgehend aus. Nur ein kongenialer Kollege stößt im Liederjahr dazu, unerwartet und fast zufällig, nachdem ihn das turbulente Zeitgeschick nach Wittenberg verschlägt. *
Paul Speratus ist 1484 – ein gutes Jahr nach Luther – in Rötlen bei Ellwangen geboren. Er studiert gründlich und umfassend an den Universitäten in Deutschland, Frankreich und Italien und erwirbt zwei Doktorgrade in Philosophie und Jurisprudenz; 1506 empfängt er die Priesterweihe. Er wird Domprediger in Salzburg und zugleich kaiserlicher und päpstlicher Notar; um seiner Dichtkunst willen erhält er den Adel eines Pfalzgrafen. Dann beginnt für Speratus ein rast-und ruheloses Wanderleben. Nach kurzer Wirksamkeit in Dinkelsbühl wird er 1520 Domprediger in Würzburg. Es mischen sich immer deutlicher reformatorische Töne in seine Worte, und als er gar Anna Fuchs, die Verwandte des Würzburger Domherren heiratet, wird er im November 1521 aus der Stadt vertrieben. Das Ehepaar siedelt sich kurz in Salzburg an, wo er seinen dritten Doktortitel in Theologie erwirbt. In den katholisch-habsburgischen – 31 –
Landen werden die Maßnahmen des Wormser Edikts strikt vollzogen, in Wien die Schriften Luthers öffentlich verbrannt. Ein Mönch verteidigt das Priester-Zölibat; da hält Speratus mit bischöflicher Genehmigung auf der Kanzel im Stephansdom in Wien eine Predigt über Römer 12 als Entgegnung: Mich drang mein Gewissen, dass ich des ehelichen Standes Ehre und Würdigkeit wiederholen und preisen musste. Die theologische Fakultät verklagt ihn als Ketzer, er wird exkommuniziert; die bereits vereinbarte Berufung nach Budapest ist damit vereitelt. In Iglau in Mähren stellt ihn der Stadtrat 1522 als Prediger an, und allmählich kann er eine kleine evangelisch gesinnte Gemeinde aufbauen. Aber bald schon verlangt der ungarische König Ludwig von der Stadt, den Ketzer auszustoßen; als sie nicht gehorcht, wird sie mit Acht und Bann bedroht. Speratus flieht, unterwegs wird er gefangen genommen, dem Bischof von Olmütz ausgeliefert und ohne Verhör ein Vierteljahr in den Kerker geworfen. Er hört, dass in Iglau sein Hab und Gut einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen sei; wo sich seine Frau aufhält, ist nicht bekannt. Der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen entgeht er nur knapp durch die Fürsprache einflussreicher adliger Kreise. Aus Mähren ausgewiesen, trifft er vor Martini 1523 als Flüchtling in Wittenberg ein. In diesem für die Verwirklichung des geistlichen Liedes so entscheidenden Winter kommt es zwischen Luther und Speratus zu einer engen Zusammenarbeit, zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen. Speratus übersetzt Luthers lateinische Gottesdienstschrift FORMULA MISSAE ins Deutsche; im Anhang veröffentlicht er je ein Lied von Luther und dem Wittenberger Mitarbeiter Johann Agricola. Wohl als Reflex auf Luthers Glaubensballade Nu freut euch, lieben Christen g’mein (EG 341) verfasst Speratus einen Liedtext, auf die gleiche ursprüngliche Melodie des Oster-Prozessionsliedes gesungen, ein Lied vom Gesetz und Glauben Es ist das Heil uns kommen her (EG 342; im EG – 32 –
stehen nun diese beiden frühen Reformationslieder sinnvoll nacheinander). Legt Luther die Erkenntnis von der Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Erbarmen sehr persönlich gefärbt und ansprechend erzählerisch aus, bedient sich Speratus mehr einer hochtheologischen, dogmatisch präzisen Begrifflichkeit. Daran liegt es wohl, dass sein Lied in neuerer Zeit nicht einmal als historisches Dokument – Sturmlied der Reformation – im Ganzen erhalten geblieben ist, sondern zum Fragment ausgedünnt wurde. Die fehlenden der insgesamt vierzehn Strophen sollen hier nachgetragen sein: richtende Funktion des Gesetzes und geduldiges Hoffen auf das rettende Wort. Es ist das Heil uns kommen her (orig. Str. 1, EG Str. 1) Was Gott im Gsetz geboten hat (orig. Str. 2, EG Str. 2) Es war ein falscher Wahn darbei, Gott hätt sein Gsetz drum geben, als ob wir möchten selber frei nach seinem Willen leben. So ist es nur ein Spiegel zart, der uns zeigt an die sündig Art, in unserm Fleisch verborgen. (orig. Str. 3) Nicht möglich war, dieselbig Art aus eigen Kräften lassen, wie wohl es oft versuchet ward, noch mehrt sich Sünd ohn Maßen, wann Gleisners (Heuchler) Werk er hoch verdammt, und jedem Fleisch der Sünde Schand allzeit war angeboren. (orig. Str. 4)
Noch musst das Gsetz erfüllet sein (orig. Str. 5, EG Str. 3) Und wenn es nun erfüllet ist (orig. Str. 6, EG Str. 4) Daran ich keinen Zweifel trag (orig. Str. 7, EG Str. 5) Es ist gerecht für Gott allein (orig. Str. 8, EG Str. 6) – 33 –
Es wird die Sünd durchs Gsetz erkannt und schlägt das Gwissen nieder, das Evangeli(um) kommt zuhand und stärkt den Sünder wieder und spricht: Nur kreuch zum Kreuz herzu, im Gsetz ist weder Rast noch Ruh mit allen seinen Werken. (orig. Str. 9)
Die Werk, die kommen gwisslich her (orig. Str. 10, EG Str. 7) Die Hoffnung wart’ der rechten Zeit, was Gottes Wort zusage; wenn das geschehen soll zu Freud, setzt Gott kein‘ gwissen Tage. Er weiß wohl, wenns am besten ist und braucht an uns kein argen List, das soll’ wir ihm vertrauen. (orig. Str. 11) Ob sichs anließ, als wollt er nit, lass dich es nit erschrecken, dann wo er ist am besten mit, da will ers nit entdecken. Sein Wort, das lass dir gwisser sein, und ob dein Fleisch spräch lauter nein, so lass doch dir nicht grauen. (orig. Str. 12)
Sei Lob und Ehr mit hohem Preis (orig. Str. 13, EG Str. 8) Sein Reich zukomm, sein Will auf Erd (orig. Str. 14, EG Str. 9) Doch bleibt das Lied nicht in dogmatischer Poesie stecken: Da entwickeln sich Gegenreden und Zwiegespräche, seelsorgerlich tröstliche Worte sind eingestreut; vor allem stempeln die letzten Strophen mit einer Trinitäts-Doxologie und einer kompakt kurzen Vaterunser-Paraphrase das Lied zum Lobund Bittgesang, und der Zusatz … die Anzeigung aus der Schrift, worauf dies Gesang allenthalben ist gegründet, darauf sich alle un– 34 –
ser Ursach verlassen mag, dieser Zusatz, der ersten Veröffentlichung beigegeben, weist es als bewusstes Bibellied aus. In der Gattung des Psalmliedes liegt für Speratus Luthers Psalm 130 Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299, GL 277) vor; Reminiszenzen klingen unüberhörbar an. Doch Speratus lässt in der Ausführlichkeit seiner sechs langen Strophen den Psalmenbezug fast untergehen; außerdem sind seine Verse im Stil der Meistersinger eher dem Sologesang als dem Lied der Gemeinde zuzurechnen. Hilf Gott, / wie ist der Menschen Not so groß, / wer kann es alls erzählen! Ganz tot / leit er ohn allen Rat, weislos (ohne Wissen), / erkennt auch nit sein Elend. Herz, Mut und Sinn / ist gar dahin, verderbt mit allen Kräften, weiß nit, wo ers soll heften; kennt nit das Gut, / noch minder tut, was Gott gefällt / hat sich gestellt wider allen Gottes Willen. O Herre Gott, / hilf uns diesen Jammer stillen. (Str. 1)
Die Credo-Bearbeitung im Versmaß seines Psalmliedes und mit gleicher Melodie scheint vor Luthers entsprechendem Lied Wir gläuben all an einen Gott (EG 183) entstanden zu sein, und Luther reagiert nun seinerseits. Diese kunstvoll gedrechselte Strophenform bei Speratus entspricht wohl kaum dem von Luther intendierten Kirchenlied. Darum hält sich Luther an eine geeignetere Vorlage, die Stephan Roth oder Speratus selbst aus der Ratsschulbibliothek von Zwickau mitgebracht hatte, und bildet daraus viel volksnaher sein drei strophiges Glaubenslied. Bei Speratus lautet der erste Artikel: In Gott / gelaub ich, dass er hat aus Nicht(s) / geschaffen Himml und Erden;
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kein Not / mag mir zufügen Spott, er sieht, dass er mein Bschützer werde. Zu aller Frist / allmächtig ist, sein Gwalt muss man bekennen, lässt sich ein Vater nennen. Trotz, wer mir tu, / der ist mein Ruh; Tod, Sünd und Höll / kein Ungefäll wider diesen Gott kann bringen. O Herre Gott, / vor Freud mein Herz muss aufspringen. (Str. 1)
Wahrscheinlich hat Speratus selbst die ersten Schritte zur Veröffentlichung veranlasst: Er spielt Flugblätter und Manuskripte über die Beziehungen des kurfürstlichen Kanzlers Georg Spalatin dem Verleger Jobst Gutknecht in Nürnberg zu, der im Frühsommer 1524 das sogenannte ACHTLIEDERBUCH: ETLICH CHRISTLICH LIEDER LOBGESANG UND PSALM druckt. Eine gezielte Auswahl: die beiden klassischen Reformationslieder (EG 341 und EG 342) stehen programmatisch auf den ersten Blättern, dann folgen die beiden anderen Speratus-Beispiele und drei Psalmlieder Luthers (EG 273, Es spricht der Unweisen Mund wohl, EG 299), und abgeschlossen wird das Büchlein durch einen anonymen, vielleicht vor Ort aus Nürnberg stammenden zweistimmigen Gesang. Eine solche Zusammenstellung von Liedern der beiden bedeutenden reformatorischen Dichter kann nicht wahllos oder zufällig erfolgt sein; sie ist als Dokument der Bemühung um das rechte evangelische Singen zu werten, als Hinweis auf die Spannweite der sprachlichmusikalischen Gestaltung zwischen Kunst- und Volkslied bei gleicher theologischer Zielsetzung. Nicht lange bleibt Speratus in Wittenberg. Herzog Albrecht, der Hochmeister des Deutschritterordens, will 1525 die preußische Provinz in ein weltliches, evangelisch regiertes Herzogtum umwandeln; auf Empfehlung Luthers nimmt er Speratus im Juli 1524 als Schlossprediger nach Königsberg – 36 –
mit. Der gelehrte Dichter mag dort noch einige hymnologische Anregungen gegeben haben: Vielleicht ist er an den beiden Königsberger Gesangbüchern von 1527 redaktionell beteiligt, und sicher ermutigt er seinen Landesherrn Herzog Albrecht (von ihm aus späterer Zeit Was mein Gott will, das gscheh allzeit EG 364) und seinen Pfarrkollegen Johann Gramann (Nun lob, mein Seel, den Herren EG 289 mit der Melodie des Königsberger Hoftrompeters Hans Kugelmann) zu eigenen Liedschöpfungen. Die Hauptaufgabe für Paul Speratus bleibt es, Kirchenordnungen auszuarbeiten und durchzusetzen, von 1529 an in der Funktion des Bischofs von Pomesanien. Fünf Jahre nach Luther stirbt er 1551 in Marienwerder; seine Frau, die er mit sich im Elend herumgeführt hatte, war ihm im Tod vorausgegangen. *
Nun ist es interessant zu sehen, wie in der Zeit des reformatorischen Aufbruchs das Lied unter die Leute kommt. Die erste Gestalt des Gesangbuchs ist die Flugschrift, der Einblattdruck. Die Möglichkeiten des aufblühenden Buchdrucks werden konsequent genutzt; Wort und Ton erreichen eine bisher ungeahnte Breitenwirkung. Nicht nur die dafür geeigneten Zeitungslieder, sondern erstaunlicherweise auch die neuen Kirchenjahrs- und Seelsorge-Lieder treten in diesem Medium an die Öffentlichkeit. In der Frühzeit wird das Lied auf den Markt gebracht, wörtlich und übertragen verstanden, und nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage beurteilt. Es gibt mehrere zeitgenössische Berichte, die diese Vorgänge dokumentieren, etwa in der MAGDEBURGER CHRONIK des Georg Butze: Im selben Jahre am Tage Johannis vor der Pforten (6. Mai 1524) zwischen Pfingsten und Ostern ist ein alter armer Mann, ein Tuchmacher, bei Kaiser Otten (Denkmal Ottos des Großen) gestanden und allhie die ersten geistlichen Lieder feile gehabt als ›Aus tiefer Not schrei ich zu dir‹ und ›Es wollt uns Gott genädig sein‹ und solche den – 37 –
Leuten fürgesungen. Da ist der Bürgermeister alte Hans Rubin von St. Johannis aus der Frühmesse kommen und gesehen, dass viel Volks um den Mann umhergestanden. hat er seine Knechte gefraget, was allda wäre, hat eine, Custos genannt, ihme geantwortet: Es stunde allda ein loser Bube, der hätte des Luthers ketzerische Gesänge feil und singe die dem Volke vor; da hatte der Bürge(r)meister befohlen, dass sie den Mann ins Gefängnis setzen sollten, welches von Stund an geschehen ist. Das ist für die Gemeinheit (Allgemeinheit) gekommen und sind bei 200 Bürger auf das Rathaus gekommen, welchen Johann Eickstedt das Wort gehalten, und für den armen Mann gebeten, dass er möchte seiner Gefängnisse entlediget werden, da die Stadtknechte hätten ihn boslich gegen den Bürge(r)meister angegeben, da hat man den armen Mann aus der Gefängnisse losgelassen und die Stadtknechte, die daran Schuld hatten, in seine Statt gesetzt und letztlich aus der Stadt geweiset. Verleger, Drucker, Buchhändler in vielen Städten stellen das begehrte Material an Liedern bereit, oft eilig und flüchtig produziert. Mehrere Flugblätter werden dann von Druckern in kleinen Heften zusammengefasst. In diesen Zusammenhang gehört das schon genannte Nürnberger ACHTLIEDERBUCH vom Frühsommer 1524, das in Augsburg alsbald nachgedruckt wird. Wenig später sind es etwas größere, durch eine Vorrede halbamtlich legitimierte Sammlungen wie etwa im Spätsommer 1524 in Erfurt EIN ENCHIRIDION ODER HANDBÜCHLEIN, fast gleichzeitig gedruckt in der Permentergassen zum Färbefass und zum Schwarzen Horn bei der Krämerbrücken – bei 26 Nummern 18 Luther-Lieder. Unter ähnlichen Titeln erscheinen Gesangbüchlein auch in Nürnberg, Straßburg, Zwickau, Breslau, Rostock; die erfolgreiche Ausbreitung des Liedguts ist in Gang gekommen. Luther selbst schweigt noch immer zur Herausgabe seiner Lieder. Die ganze Blütenlese des geistlichen Liederfrühlings mündet schließlich in eine mehrstimmige Chorliedsammlung, in das GEISTLICHE GESANG BÜCHLEIN, von Johann – 38 –
Walter verfasst und im Spätherbst 1524 in Wittenberg erschienen. Damit kommt ein weiterer Mitarbeiter Luthers in den Blick, diesmal ein Fachmann auf musikalischem Gebiet. Johann Walter – 1496 geboren – stammt aus Kahla, einer kleinen thüringischen Stadt an der Saale, möglicherweise aus der Blankenmühle am Nordrand der Stadt, so berichtet die Torgauer Überlieferung. Über seine Schulausbildung ist wenig bekannt. Für das Sommersemester 1517 schreibt er sich jedenfalls an der Universität in Leipzig ein. Er wird das philosophische Grundstudium der Sieben Freien Künste belegt und durchlaufen haben, unwahrscheinlich bleibt aber der Abgang mit der Magisterwürde; später wird er Meister genannt, nicht Magister. 1518 kommt Georg Rhau als Thomaskantor und Universitätslektor der Artistenfakultät in die Stadt. Zur gottesdienstlichen Eröffnung der Leipziger Disputation zwischen Martin Luther und Johann Eck im folgenden Jahr führt Rhau eine eigene zwölfstimmige Messe auf, und der Thomaskantor darf mit seinen Cantoribus und den Stadtpfeifern an den Diskussionen teilnehmen. Wenig später verlässt Rhau propter religionem – gemeint ist wohl seine reformatorische Gesinnung – Amt und Stadt und eröffnet 1525 in Wittenberg eine Druckerei für Musikliteratur, die dem Kunstgesang der Chöre in Schule und Kirche dienen soll; dieser Verlag wächst zum bedeutendsten Unternehmen dieser Art in reformatorischer Zeit. Johann Walter wird diese musikalischen und geistlichen Vorgänge sehr nah und intensiv erlebt haben. Hat er vielleicht mitgesungen und mitgehört? Er könnte wie Rhau ein Anhänger oder gar Verehrer Luthers geworden sein; ebenfalls wie Rhau könnte er seine Lebensaufgabe im Komponieren und Verbreiten geistlicher Liedsätze und Motetten gesehen haben. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass Walters spätere Lebensausrichtung ihre Wurzeln in dieser Leipziger Studienzeit hat. Um 1520 wird Walter Mitglied der kursächsischen Hofkapelle. Eine Notiz der höfischen Wirtschaftsführung vermel– 39 –
»Nu bitten wir den Heiligen Geist« Johann Walter GEISTLICHE GESANG BÜCHLEIN Wittenberg 1524 – Tenorheft
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det: Sommerkleidung im 1521. Jahr dem Johannes dem Singer. Stoff zu Rock, Hosen und Wams. Der Kapellmeister Conrad Rupsch, wie Walter aus Kahla gebürtig, wird ihn entdeckt und als Sänger, als Bassist in den Berufschor aufgenommen haben; als Komponist in der kurfürstlichen Kantorei erscheint Walter 1525 in einer Hofrechnung. Kurfürst Friedrich der Weise, als Landesherr auch für die Wittenberger Universität und ihre Lehrkräfte zuständig, hat auch so große Lust und Willen zur Musica gehabt, dass er viele Jahre und lange Zeit eine ehrliche, große Singerei gehalten und dieselbe oftmals auf die kaiserliche Reichstage mitgenommen, gnädiglich und wohl gehalten und besoldet, den Knaben einen eigenen Schulmeister, sie zur Lehre und Zucht zu erziehen, gehalten, berichtet Georg Spalatin, der kurfürstliche Kanzler. Die Hofkapelle wechselt den Standort jeweils mit der Hofhaltung. 1517 wird eine neue Singerstube im geräumigen Schloss von Altenburg eingerichtet, und hier in Altenburg erfolgt Walters Eintritt in die Hofkapelle. Einige Jahre später in Torgau umfasst die Kapelle zehn große Singer, dazu den Kapellmeister, einen Organisten als einzigen Instrumentalisten und zehn Sängerknaben. Mit dem Erscheinen der Flugblätter und kleinen Liederbüchlein beginnt Walter diese vorhandenen evangelischen Texte und Melodien als mehrstimmige Chorlieder zu setzen; er überträgt dabei die Technik des zumeist weltlichen TenorLiedsatzes auf die neuen Gesänge. Im Spätherbst 1524 erscheint also in Wittenberg unter dem Titel GEISTLICHE GESANG BÜCHLEIN das Chorgesangbuch Johann Walters in fünf Stimmheften, hergestellt unter der Aufsicht von Joseph Klug in der Druckerei von Lukas Cranach dem Älteren. Geht die Veröffentlichung auf Walters eigene künstlerische und geistliche Initiative zurück? Liegt eine absichtsvolle Anregung oder gar eine regelrechte Beauftragung vor? Es bleiben Mutmaßungen in zwei Richtungen. Zum einen könnte die kurfürstliche Sängerkapelle, die an einem der lutherischen Lehre zugewandten Hof lebt und arbeitet, die – 41 –
neuen reformatorischen Lieder bei ihren gottesdienstlichen Auftritten gerne mehrstimmig singen wollen; daraufhin hätte Georg Spalatin, der durch Luthers Brief in die Liederproduktion eingebunden ist, das fähigste Mitglied der Hofkapelle mit der Komposition beauftragt. Zum andern könnte der Anstoß von Luther ausgegangen sein: Er möchte seine Lieder in Kunstform veröffentlichen, damit sie von den Schulchören geübt – so meint es die dem Chorgesangbuch zugehörige Vorrede Luthers – und im Gottesdienst der Gemeinde klangvoll und ansprechend vorgetragen werden. Demnach wären Liedblätter und Flugschriften gesammelt worden, und Luther hätte sechs Lieder, die bisher noch nicht gedruckt waren, im Manuskript nach Torgau geschickt. Walter jedenfalls komponiert, wie er Vorlagen bekommt und schickt seine Sätze nacheinander in Lieferungen zur Wittenberger Druckerei. Die endgültige Reihenfolge ist ziemlich zufällig, wenn nicht gar willkürlich; Luther nimmt keinen Einblick in die musikalische Ausführung und keinen Einfluss auf die drucktechnische Anordnung im Buch. Er gibt schließlich und endlich seine legitimierende Vorrede dazu, und darauf kommt es für Verkauf und Verwendung entscheidend an. Das Chorgesangbuch enthält 38 Liedsätze von Johann Walter. Zwei sind zweistimmig, elf fünfstimmig, die restlichen 25 Melodien vierstimmig gesetzt; der Komponist fügt seine fünf lateinischen Motetten bei. Von Luther liegt in diesem Chorbuch vom Spätherbst 1524 der bislang größte Umfang seines Liedschaffens vor, nämlich 24 Gesänge. Johann Walter lebt und arbeitet in einer musikalisch stilistischen Übergangszeit. An einer Grundregel rüttelt er nicht: Die Melodie liegt üblicherweise im Tenor. Ja, er überhöht diese Grundregel in dogmatisch-theologischem Sinn: Mittelstimme, Tenor, ich heiß, / Vorzug vor andern hab ich im Kreis, / steh fest und halt die andern an …, so dichtet er in einem Musica-Gedicht. Der Tenor hält tatsächlich in unveränderten, meist planen oder vergrößerten Tönen als Cantus firmus die Mitte; um ihn – 42 –
ranken sich die anderen Stimmen, und dies geschieht bei Walter in zwei Grundtypen mit mancherlei Varianten und fließenden Grenzen. Zum einen verwendet er die spätgotische polyphone Struktur der niederländischen Meister: Vor imitation der Liedzeile, Verdichtung durch Kanontechnik, melismatisch verzierendes Aufblühen der Außenstimmen. Zum anderen bedient er sich der modernen homophonen, von der Humanistenode beeinflussten Satzart der Frührenaissance: syllabische Deklamation des Textes, gemeinsame und gleichzeitige Zeilenzäsuren. Dieser Typ kommt in seiner relativen Schlichtheit, Klarheit und Textverständlichkeit mehr den Idealen der reformatorischen Singbewegung entgegen. Walters Chorbuch legt den ersten Grundstein für eine eigenständige evangelische Kirchenmusik; das geeignete Material für die Schulchöre, Hofkapellen und späteren Bürgerkantoreien der Städte steht nunmehr zur Verfügung. Luthers erste Gesangbuch-Vorrede benennt neben den grundsätzlichen Prämissen zum geistlichen Singen die strategischen Absichten für den Gebrauch: … Und sind dazu auch in vier (!) Stimme bracht, nicht aus anderer Ursach, denn dass ich gerne wollte, die Jugend, die doch sonst soll und muss in der Musica und anderen rechten Künsten erzogen werden, etwas hätte, damit sie der Buhllieder und fleischlichen Gesänge los werde und an derselben Statt etwas Heilsames lernete, und also das Gute mit Lust, wie den Jungen gebührt, einginge. Auch dass ich nicht der Meinung bin, dass durchs Evangelium sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche Abergeistlichen fürgeben, sondern ich wollt alle Künste, sonderlich die Musica, gerne sehen im Dienst des, der sie geben und geschaffen hat … (1. Gesangbuch-Vorrede von 1524). Musik gerade in ihrer künstlerischen Komponente ist ein wesentlicher Beitrag zu Gotteslob, Christusbekenntnis und Glaubenstrost; der mehrstimmige Liedsatz wird zum Instrument, die Jugend zu gewinnen und sie an der Verbreitung des Evangeliums in Liedform zu beteiligen. – 43 –
Johann Walter LOB UND PREIS DER LÖBLICHEN KUNST MUSICA, Wittenberg 1538 mit Martin Luthers Vorrede
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Walter hat in einem großartigen ersten Wurf ein Standardwerk geschaffen, das ihn selbst in Verbesserung und Erweiterung noch nahezu drei Jahrzehnte beschäftigen wird. Wie kein anderer ist Luther dazu berufen, wesentliche Einsichten in die Musik zu vermitteln. Er selbst verkörpert die ursprüngliche Einheit des Dichter-Sängers: Mit dem eigenen Text entsteht zugleich die eigene Melodie oder umgekehrt. Er beherrscht auch die Regeln der Komposition. Zum Jux: Auf der Veste Coburg zur Zeit des Augsburger Reichstags 1530, so wird berichtet, habe Luther einen dreistimmigen Satz in cloaca, auf einem gewissen Örtchen gefunden, eine vierte Stimme ergänzt und das ganze Gebilde nach Wittenberg geschickt, man möge es dem momus musicus, dem musikalischen Besserwisser Georg Rörer als angebliche Reichstags-Motette überreichen. Im Ernst: Ein kleiner Motettensatz Luthers über seinen Wahlspruch Non moriar, sed vivam – Ich werde nicht sterben, sondern leben (Ps 118,17) hat sich in einem zeitgenössischen lateinischen Schuldrama erhalten. Vor und nach Tisch, in Freundesrunden und auf Reisen musiziert er mit seinen Hausgenossen oft mehrstimmige Psalmen und weltliche Liedsätze. Dem Freiberger Organisten Matthias Weller gibt er in einem Brief vom Oktober 1534 den Rat: Darum, wenn Ihr traurig seid und will überhand nehmen, so sprecht: Auf! Ich muss unserm Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal (Kleinorgel) (es sei Te Deum laudamus oder Benedictus etc.); denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Claves (Tasten) und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie David und Elisa taten. Kommet der Teufel wieder und gibt Euch Sorge oder traurige Gedanken ein, so wehret Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel, ich muss itzt meinem Herrn Christo singen und spielen. Über die besten Komponisten seiner Zeit vermag Luther fachmännische, treffsichere Urteile zu fällen, etwa über Josquin Desprez: Er ist der Noten Meister, die habens müssen machen, wie er gewollt; die anderen Sangmeister – 45 –
müssens machen, wie es die Noten haben wollen. An den Hofkomponisten Ludwig Senfl (Luthers Melodie von EG 202 hat Ähnlichkeit mit einem der Liedsätze von Senfl vor 1522) im katholischen München schreibt er einen Brief und bestellt bei ihm eine Motette über In pace in id ipsum – Ich liege und schlafe ganz mit Frieden (Ps 4,9); er bekommt sie alsbald und gleich noch eine zweite über Luthers Wahlspruch (Ps 118,17) zugeschickt. So formt sich bei Luther aus Erkenntnis und Erlebnis eine umfassende, tiefgründige Wesensschau. Musik ist ein Geschenk Gottes, ja ein Geschöpf Gottes: Frau Musica. Wunderbare Dinge sind es, die durchs Ohr in den Menschen eingehen, mehr als durchs Auge. Darum sollte der Mensch die Gabe der Musik als Gegengabe nützen: Ehrfurcht, Lobgetön, Dankopfer an Gott. Musik ist dem Wort wesensverwandt, rhetorisch bestimmt und durch Affekte und Emotionen ausgezeichnet; Zeitkunst, nicht Raumkunst. Darum kann sie mithelfen, Gottes größtes Wunder, das Evangelium von Jesus Christus, klingend zu veröffentlichen und zum Glauben zu reizen. Musik tröstet, sie besiegt die Anfechtung und Niedergeschlagenheit. Überraschenderweise skizziert Luther 1530 auf der Veste Coburg, wo er sich als Geächteter aufhält und in Angst und Anfechtung die politischen Entscheidungen des Reichstags in Augsburg abwartet, einen lateinischen Traktat ÜBER DIE MUSIK und darin notiert er in Stichworten: … Ich liebe die Musik, und es gefallen mir die Übergeistlichen nicht, die sie verdammen. Weil sie 1. ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen ist, 2. weil sie die Seelen fröhlich macht, 3. weil sie den Teufel verjagt, 4. weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hochmut. Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie … 5. weil sie in der Zeit des Friedens herrscht … Ich lobe die Fürsten Bayerns deshalb, weil sie die Musik pflegen … Bei uns Sachsen werden die Waffen und Bombarden gepredigt (übersetzt bei Oskar Söhngen, Theologie der Musik, Kassel 1967, S. 87f.). – 46 –
Musik ist Abbild der Freiheit der Kinder Gottes im Heiligen Geist, Gelöstheit auf Grund der Erlösung, Vorspiel der Ewigkeit inmitten der verklingenden Zeit. Diese Wesensschau hat Luther seiner Kirche für ihre praktische Musikpflege weitervererbt. In der Öffentlichkeit, im Haus, in der Schule: Luther vertraut auf die bildende Kraft: Musica ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer und vernünftiger machet, sagt er in den Tischreden, und meint damit eine musische Erziehung zu ethisch engagierten, friedlich und gemeinschaftlich verantwortlichen Menschen. In der Kirche: Luther ist die Beheimatung des geistlichen Singens in einer protestantischen Kirchenmusik gelungen. Mit den Vertonungen der ersten reformatorischen Lieder beginnt die jahrhundertelang so fruchtbare Verbindung: Liedmotette und Choralkantate, Bachchoral und Orgelchoral. *
Zielrichtung und Wirkungsradius der Lieder Luthers sind ursprünglich sehr breit gestreut, im umfassenden Sinn für den Gottesdienst des Lebens bestimmt. Sie werden auf der Straße gesungen, in der Schule gelernt, in Kunstform dargeboten. Für die Zeit nach dem schöpferischen Liederjahr 1523/24 konzentriert sich sein Bemühen stärker darauf, das Liederwerk dem sonntäglichen Gottesdienst zu- und einzuordnen. Als einstimmige Gemeindeform des Chorbuchs ist wohl schon 1525 das ENCHIRIDION GEISTLICHER GESÄNGE UND PSALMEN / SO MAN ITZT (GOTT ZU LOB) IN DER KIRCHEN SINGET gedacht. Und nach der Erprobung in der Wittenberger Gemeinde Ende 1525 erscheint die evangelische Bearbeitung des Messeformulars als DEUTSCHE MESSE UND ORDNUNG GOTTES DIENSTS 1526.
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Seine vorliegenden Strophenlieder ergänzt Luther also durch den Altargesang: Introituspsalm, Gebete, Lesungen, Einsetzungsworte des Abendmahls. Für diese gewaltige liturgische Neuordnung braucht Luther hilfreiche musikalische Unterstützung; er bittet den Kurfürsten, den Hofkapellmeister Conrad Rupsch und den bewährten Hauskomponisten Johann Walter nach Wittenberg zu entsenden. Drei Wochen bleibt zumindest Johann Walter; für ihn ein tiefgreifendes Erlebnis, voll bewundernder Verehrung für das Werk und Wissen Luthers, eine lebenslange, nie getrübte Freundschaft entwickelt sich; eine so unvergessene Begegnung, dass Walter vierzig Jahre später seine Erinnerungen in einem Bericht festhält: VERBA (Worte) DES ALTEN JOHANN WALTERS, und dieses Dokument hat Michael Praetorius in einem musiktheoretischen Werk 1615 als wertvollen Hinweis auf die Wittenberger Lieder- und Liturgieproduktion überliefert. … So weiß und zeuge ich wahrhaftig, dass der heilige Mann Gottes Lutherus, welcher deutscher Nation Prophet und Apostel gewest, zu der Musica im Choral- und Figuralgesange große Lust hatte, mit welchem ich gar manche liebe Stunde gesungen und oftmals gesehen, wie der teure Mann vom Singen so lustig und fröhlich im Geist ward, dass er des Singens schier nicht könnte müde und satt werden und von der Musica so herrlich zu reden wusste - Walter bestätigt Luthers emotionale Hinneigung zur Musik und seine tiefgründige Erkenntnis dieser Kunstrichtung, die der Reformator auch sonst in Traktaten und Tischreden, in Glossen und Anekdoten zum Ausdruck bringt. Luther hat … dazumalen von den Choralnoten (gemeint ist der gregorianische Choralgesang) und Art der acht Ton Unterredung mit uns gehalten, und beschließlich hat er von ihm selbst die Choralnoten octavi toni (achter Ton, hypomixolydisch d-d um den Mittelpunkt g) der Epistel zugeeignet und sextum tonum (sechster Ton, hypolydisch c-c um den Mittelpunkt f) dem – 48 –
Evangelio geordnet und sprach also: Christus ist ein freundlicher Herr und seine Rede sind lieblich, darum wollen wir sextum tonum zum Evangelio nehmen; und weil S. Paulus ein ernster Apostel ist, wollen wir octavum tonum zur Epistel ordnen. Hat auch die Noten über die Episteln, Evangelia und über die Wort der Einsetzung des wahren Leibes und Bluts Christi selbst gemacht, mir vorgesungen und mein Bedenken darüber hören wollen - Theologie drückt sich in der Tonartensymbolik aus: der herbe Ton für Paulus, die liebliche Stimme für Christus; so jedenfalls war es damals gemeint, auch wenn wir dies heute nicht mehr deutlich empfinden sollten. Er hat mich die Zeit drei Wochen lang zu Wittemberg aufgehalten, die Choralnoten über etliche Evangelia und Episteln ordentlich zu schreiben, bis die erste deutsche Mess in der Pfarrkirchen gesungen ward. Da musste ich zuhören und solcher ersten Deutschen Messe Abschrift mit mir nach Torgau nehmen und hochgedachten Kurfürsten ihrer kurfürstlichen Gnaden aus Befehl des Herrn Doctoris selbst überantworten - Walter hat also die gottesdienstliche Erprobung der Ordnung am 19. Oktober 1525 beobachtet und begutachtet. Von den Stundengebeten wird in den Beratungen die Vesper besprochen und das Notenmaterial für das Kurrendesingen der Schüler erörtert: … dass die arme Schüler, so nach Brot laufen, für den Türen lateinische Gesänge, Antiphonas und Responsoria nach Gelegenheit der Zeit singen sollten. Luther bleibt grundsätzlich bei der Doppelstrategie: deutsches Liedgut für das Volk, lateinischer Chor- und Liturgiegesang für die Schüler und Gebildeten. Zum Schluss seines Berichts rührt Walter an das Geheimnis der Wort-Ton-Beziehung, wenn er nach der Stelle sucht, wo Text und Melodie zu ihrer inneren Einheit finden: Und siehet, höret und greifet man augenscheinlich, wie der Heilige Geist sowohl in den Autoribus (Verfassern), welche die lateinischen, als auch im Herrn Luthero, welcher jetzo die deutschen Choralgesänge meistenteils gedichtet und zur Melodei bracht, selbst mitgewirket; – 49 –
wie denn unter andern aus dem deutschen Sanctus (Jesaja, dem Propheten, das geschah) zu ersehen, wie er alle Noten auf den Text nach dem rechten Accent und Concent so meisterlich und wohl gerichtet hat, und ich auch die Zeit seine Ehrwürden zu fragen verursachet ward, woraus oder woher sie doch dies Stücke oder Unterricht hätten. Darauf der teure Mann meiner Einfalt lachte und sagte: Der Poet Vergilius hat mir solches gelehret, der also seine Carmina (Lieder) und Wort auf die Geschichte, die er beschreibet, so künstlich applizieren (kunstreich anwenden) kann. Also soll auch die Musica alle ihre Noten und Gesänge auf den Text richten – der Urkantor Walter lauscht dem musisch begnadeten Theologen Luther.
Neben der Neuordnung der gesungenen Lesungen von Evangelium und Epistel gestaltet Luther für die Gemeinde die gleichbleibenden liturgischen Gesänge des Ordinariums: das griechische Kyrie eleison (EG 178.3). Dem Sanctus gibt er unter Einbeziehung der Jesaja-Vision (Jes 6,1–4) eine erzählende Form, in paarig gereimten Zeilen wie ein mittelalterliches Versepos strukturiert (früher im Evangelischen Kirchengesangbuch EKG 135): Jesaja, dem Propheten, das geschah, dass er im Geist den Herren sitzen sah auf einem hohen Thron in hellem Glanz, seines Kleides Saum den Chor füllet ganz. Es stunden zween Seraph bei ihm daran, sechs Flügel sah er einen jeden han: Mit zween verbargen sie ihr Antlitz klar, mit zween bedeckten sie die Füße gar und mit den andern zween sie flogen frei, gen ander rufen sie mit großem Schrei: Heilig ist Gott, der Herre Zebaoth! Heilig ist Gott, der Herre Zebaoth! Heilig ist Gott, der Herre Zebaoth!
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Sein Ehr die ganze Welt erfüllet hat. Von dem Schrei zittert Schwell und Balken gar, das Haus auch ganz voll Rauchs und Nebel war.
Auf ein Agnus Dei verweist er nur, doch in der Braunschweiger Kirchenordnung von Johannes Bugenhagen 1528 liegt es vor: Christe, du Lamm Gottes (EKG 190.2, GL 208). Das Gloria fehlt; für den Gesang All Ehr und Lob soll Gottes sein aus der Naumburger Kirchenordnung 1537 ist Luthers Verfasserschaft erwogen worden, er selbst hat das Gesangstück aber nie zu seinen eigenen Liedern gerechnet. Es ist eigenartig, dass Luther die liturgischen Lieder des Nikolaus Decius, die dieser als Schulrektor in Braunschweig, allerdings in niederdeutscher Mundart, schon um Ostern 1523 verwendet hat, nicht zu kennen scheint oder nicht übernehmen will: Allein Gott in der Höh sei Ehr (EG 179, GL 170) und O Lamm Gottes, unschuldig (EG 190.1, GL 203). Vor allem baut Luther seine vorhandenen Lieder in den Gottesdienstablauf ein. Zum Eingang der Introitus: Hier eignen sich Psalm- oder Festlieder, wenn der Introitus nicht auf gregorianische Weise ausgeführt wird. Das Graduallied zwischen Epistel und Evangelium: ein Wechselspiel einfacher und kunstvoller Lied- und Gesangsformen. Die liedmäßige Umrahmung der Predigt: die Pfingstleise etwa zu Beginn und das bekenntnishafte Glaubenslied als Antwort. Mit dieser Zuordnung hat das Lied eine äußerste Würdigung, ja eine geistliche Würde bekommen: wesentlicher, unverzichtbarer, tragender Teil des Gottesdienstes; Musik nicht nur beiläufig und zufällig, sondern als regulierte Kirchenmusik, wie Johann Sebastian Bach später die lutherische Musikauffassung auf den Begriff bringt. Diese Entscheidung ist neben der Verankerung der Predigt im Gottesdienst der Gemeinde die wohl bedeutungsvollste, geschichtsträchtigs– 51 –
te Neuerung Luthers: Das geistliche Singen in der Muttersprache bekommt ein liturgisches Hausrecht, wo es bisher höchstens Zutat oder Zierrat bedeutet hat. Das Lied wird, wie die Predigt, Dienst am Wort als Stimme des Evangeliums und zugleich, über die Predigt hinaus, Möglichkeit der Antwort für die versammelte Gemeinde, eingebunden in das Dialoggeschehen des Gottesdienstes. Aller Beobachtung nach klafft aber ein schmerzlicher Riss zwischen diesem hohen Prinzip und der alltäglichen Praxis. Gesangbücher sind in der ersten Zeit wohl nur in den Händen der Prediger und Lehrer, wenn überhaupt; das Kirchenvolk lernt im Hören und singt auswendig nach. Manchmal macht die Gemeinde aus Ärger und Unwissenheit den Mund nicht auf oder brüllt ohne Gefühl und Verstand – Klagen in beiden Richtungen begleiten die ganze Liedgeschichte. Eine Vermahnung Luthers, der Predigt vom 24. Januar 1529 angehängt, spricht harsche und harte grundsätzliche Worte: Ich kenne eure Faulheit, dass ihr die gebräuchlichen Kirchenlieder nicht lernt, die ihr nun schon fast zwei Jahre lang von den Schülern täglich habt singen hören. Ihr gebt euch nicht im geringsten Mühe, sondern achtet vielmehr auf Reuterliedlein (Gassenhauer, Schlager). Ihr Familienväter solltet darauf bedacht sein, die Euren zu unterweisen. Denn solche Lieder sind eine Bibel für die Unmündigen, ja auch für die Gelehrten – eine beredte Klage nach fünf Jahren lutherischer Singbewegung! Der Bildungsstand ist nicht eben höher geworden; die vielen Gottesdienste und Andachten haben wenig gefruchtet. Trotzdem hält Luther an der erziehenden, beflügelnden Kraft des Singens fest; es muss nur geübt, bewusst gemacht, ausgelegt und entfaltet werden. In der Epoche der lutherischen Orthodoxie wird die Liedpredigt als geeignetes Mittel entdeckt und gepflegt. *
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Um 1529 entstehen die beiden Katechismen, der KLEINE KATECHISMUS wird auf Tafeln und in Buchform gedruckt. Ebenfalls 1529 erscheint ein inhaltlich einigermaßen umfassendes und nach einem bestimmten Plan geordnetes Gesangbuch: GEISTLICHE LIEDER AUFS NEU GEBESSERT ZU WITTEMBERG. D. MARTIN LUTHER (so nach der Ausgabe von 1533, da die Erstausgabe von 1529 verloren ist), verlegt bei dem Wittenberger Drucker Joseph Klug. Ein deutliches Signal: Im Verbund mit der im Entstehen begriffenen vollständigen Bibelübersetzung, den Katechismen und der Neuausgabe seines Betbüchleins legt Luther den Grund für eine charakteristisch evangelische Frömmigkeit. Er stellt nun fest, wie durch seine Anstöße die Liedproduktion unübersehbar und unübersichtlich geworden ist. Andere Strömungen mischen sich ein; Missverständnisse, Hör-und Druckfehler verfestigen sich. Es will je der Mäuse Mist unter dem Pfeffer sein, schreibt er sarkastisch in der zugehörigen zweiten Gesangbuch-Vorrede. Er sichtet, sammelt und ordnet das Liedgut. Er will den Bestand, für den er verantwortlich zeichnet, mit einem Markenzeichen sichern; darum signiert er seine Lieder mit seinem Namen, wo sie vorher oft ohne Verfasserangabe umgelaufen sind. Er tritt aus der prinzipiellen Anonymität des Volks- und Kirchenliedes heraus; das Buch trägt im Impressum sein Familienwappen, die Lutherrose. Der Aufbau dieses Gesangbuchs zeigt Luthers eigenständigen Gestaltungswillen: ein systematisch theologisches Kompendium für Glauben und Leben soll es sein. Seine eigenen Lieder stehen geschlossen vornean, und zwar in einer Ordnung der Rubriken, die für Jahrzehnte als kanonisch gilt und den Rahmen für die neu entstehenden Lieder abgibt: Kirchenjahr – Katechismus – Psalmen – liturgische Gesänge. In der Rubrik Kirchenjahr bleibt es beim bisherigen Fundus der Festlieder. Für die Gesangbuch-Ausgabe von 1533 über– 53 –
»Nu komm, der Heiden Heiland« GEISTLICHE LIEDER Wittenberg 1529 (1533) bei Joseph Klug
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setzt Luther die alten lateinischen Kollekten und fügt sie als Gebete in den Ablauf des Festkalenders ein, so etwa zum Advent: Lieber Herr Gott, wecke uns auf, dass wir bereit seien, wenn dein Sohn kommt, ihn mit Freuden zu empfahen (empfangen) und dir mit reinem Herzen (zu) dienen. Durch denselbigen deinen Sohn Jesum Christum, unsern Herrn. Amen. Singen und Beten werden als die zwei Seiten der Hinwendung zu Gott verstanden; das Gesangbuch ist um die Funktion eines Andachtsbuches erweitert. Die Rubrik der Katechismuslieder ist wohl als überraschend empfunden worden, denn 1543 erhält dieser Teil eine eigene Einleitung: Nu folgen geistliche Gesänge, darin der Katechismus kurz gefasset ist, denn wir ja gern wollten, dass die christliche Lehre auf allerlei Weise mit Predigen, Lesen, Singen etc. fleißig getrieben und immer dem jungen und einfältigen Volk eingebildet und also für und für rein erhalten und auf unsere Nachkommen gebracht würde. Dazu verleihe Gott sein Gnade und Segen durch Jesum Christum. Amen. Luther ordnet seine bisherigen Lehrlieder entsprechend den Tafeln und Erklärungen des Kleinen Katechismus: Gebote – Glauben – Abendmahl. Fehlende Stücke übernimmt er nicht etwa von anderen Autoren, sondern ergänzt sie später: 1539 Vater unser im Himmelreich (EG 344). Sein handschriftlicher Entwurf ist erhalten geblieben; er vermittelt einen guten Eindruck, wie Luther an den Worten feilt, wie er Zeilen und Strophen durchstreicht und durch neue ersetzt, wie er verschiedene Möglichkeiten der Melodie entwirft und verwirft. Um 1540/41 Christ, unser Herr, zum Jordan kam (EG 202), ein breitausgeführtes Lehrlied zur ursprünglichen Melodie von Es wollt uns Gott genädig sein (EG 280), die durch eine bekanntere Vertonung des Psalmliedes frei geworden war. Im Nachhinein wird durch diese Rubrik deutlich: Das Lied, wie es Luther versteht und ausfertigt, ist keine leichtflüssige Lyrik, keine spielerische Gedankendichtung, sondern Summe der Lehre, tönender Katechismus, eingebunden in gottesdienst– 55 –
»Vater unser im Himmelreich« aus Luthers handschriftlicher Aufzeichnung 1539
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liche Andachtsformen, in denen zugleich gelobt und gelernt wird. Seine früheren Beispiele wie das Märtyrerlied oder die Glaubensballade, die nicht unmittelbar in den Rahmen des Katechismus passen, streut er als Deute-Lieder ein: Lehre nicht bloß im Lernschema, sondern zur Glaubensbewährung; nicht ein geschlossenes System, sondern Grund- und Obertöne des geistlichen Wissens, durch die erlebten und erlittenen Erfahrungen der Dichter angereichert und verwandelt. Die Rubrik der Psalmen hat einen gewichtigen Zuwachs bekommen. Luther hat wohl in den Schmerzen seines Steinleidens, von inneren Anfechtungen gepeinigt, in den Wirren der wirtschaftlichen und politischen Händel und in den Schrecken einer Pestepidemie um 1527/28 – so eindeutig ist es nicht zu sagen – sein Lied Ein feste Burg ist unser Gott (EG 362) in Text und Melodie verfasst. Bedeutende Liedforscher wie Friedrich Spitta haben das Lied um Jahre früher datiert, weil sie deutliche Anklänge an die Bekenntnissituation beim Reichstag in Worms heraushörten. Doch es ist schwer denkbar, dass Luther ein derartig gewichtiges Lied im Schreibtisch verborgen hält, wenn er überall und allezeit nach geistlichen Dichtern und ihren neuen Beiträgen sucht. Man wird für Luther bei der Regel bleiben müssen: Entstehung und Veröffentlichung eines Liedes liegen nah beieinander. Ein gewaltiges, wirkungsvolles Lied, das von vielen als Symbol des Protestantismus (Patrice Veit), gar als Marseillaise der Reformation (der Dichter Heinrich Heine) empfunden, gebraucht oder missbraucht worden ist. Luther denkt eher an ein Trostlied (und so ist es auch im Evangelischen Gesangbuch eingeordnet); er lehnt sich an Psalm 46 an, so frei allerdings, dass es nicht mit der Art seiner früheren Psalmlieder übereinstimmt. Zugleich bezieht er wie im allerersten Märtyrerlied in sehr persönlicher Betroffenheit das Politikum mit ein. Die heilsgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen Gott und Teufel in Raum und Zeit ist här– 57 –
ter, dunkler geworden. Der menschlichen Ohnmacht wird noch einseitiger die Vollmacht des Christus gegenübergestellt, der unglaublich kühn mit dem Herr Zebaoth (Str. 2), dem Herrscher der himmlischen Heerscharen, gleichgesetzt wird. Hilfe und Heil liegen allein im Wort (Str. 4), das den Glaubenden in den Grenzsituationen stärken will: Geborgenheit in äußerster Bedrängnis, Kampfesmut bei allen Widerständen, Leidensbereitschaft bis in den Tod. Auch die Rubrik der Liturgischen Gesänge ist gewachsen. Zum einen gewinnt Luther das im Rang eines Glaubensbekenntnisses stehende Te Deum laudamus – Herr Gott, dich loben wir (EG 191) als durchgeformten Wechselgesang zurück, mit stereotypen Melodieformeln auf zwei Chorgruppen verteilt. Zum anderen bezieht er aus aktuellem Anlass die Friedens-Thematik mit ein. Die Türken bedrohen in einer islamischen Eroberungswelle das Abendland; im Frühjahr 1529 stehen sie vor den Toren Wiens, und das bedeutet nicht nur eine politische Konfrontation oder wirtschaftliche Katastrophe, sondern eine Anfechtung für Glauben und Leben der Christen. Luther führt Gebetszeiten ein, die Glocken läuten zu bestimmten Tageszeiten das Pro pace – für den Frieden. Die Erwachsenen singen die Antiphon aus dem 9. Jahrhundert Da pacem Domine, die Luther zu Verleih uns Frieden gnädiglich (EG 421, GL 473 lateinisch und GL 475 nach Luther) übersetzt und mit Tonfolgen aus seinem Adventshymnus unterlegt. Die Schüler singen die wechselweis aufgeteilte Litanei (EG 192, aber stark revidiert und modernisiert). Ein gutes Jahrzehnt später verschärfen sich die Spannungen: 1542 laufen Gerüchte von neuen Angriffsplänen um, von einem Bündnis Frankreichs und vielleicht des Papstes mit dem Sultan gegen den deutschen Kaiser. Da singt Luther, und wieder traut er dem gesungenen Wort viel zu: Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort / und steur des Papsts und Türken Mord (EG 193, so der ursprüngliche Wortlaut!). Ein eindringliches Gebet, – 58 –
das er die Jugend als Kinderlied singen lässt; ein Gebet, das Gott und die Welt bewegen soll. Soweit Luthers Lieder im Gesangbuch von 1529 samt einigen späteren Ergänzungen. Dann sammelt und druckt er das übrige reformatorische Liedgut der Zeit in bestimmter Auswahl und Bewertung. Luthers Opus ist als erste Abteilung gedacht. In der zweiten Abteilung sind acht Lieder von Autoren aus dem Wittenberger Freundeskreis zusammengestellt: Nu folgen andere der Unsern Lieder. Es sind die Einzel-Psalmlieder der drei Autoren Justus Jonas, Erhart Hegenwald und Johann Agricola, die drei bekannten Lieder von Paul Speratus; von Lazarus Spengler, dem Nürnberger Ratsschreiber, Durch Adams Fall ist ganz verderbt (ganz oder teilweise in EG Bayern 620, EG Nordelbien 593, EG Württemberg 612) und von Elisabeth Cruciger Herr Christ, der einig Gotts Sohn (EG 67); ihr Lied war schon in den Erfurter Enchiridien von 1524 erschienen. Die dritte Abteilung mit fünf Liedern aus der Tradition: Nu folgen etliche geistliche Lieder, von den Alten gemacht, und dazu fügt Luther eine Bemerkung bei: Diese alten Lieder, die hernach folgen, haben wir auch mit aufgerafft zum Zeugnis etlicher frommen Christen, die für uns gewest sind in dem großen Finsternis der falschen Lehre, auf dass man ja sehen möge, wie dennoch allezeit Leute gewesen sind, die Christum recht erkannt haben, doch gar wunderlich in demselbigen Erkenntnis durch Gottes Gnade erhalten. Hier die Weihnachtslieder Dies est laetitiae – Der Tag, der ist so freudenreich (EG Baden 546, EG Nordelbien 541, EG Württemberg 538) – In dulci jubilo (GL 235, übersetzt EG 35) – der Vesperhymnus Christe, der du bist Tag und Licht (EG Nordelbien 633; vgl. auch EG 469 und GL 90) und erstmals die hochgeschätzte Osterleise Christ ist erstanden (EG 99, GL 318). Die vierte Abteilung führt Luther so ein: Es sind auch geistliche Lieder durch andere zu dieser Zeit gemacht, weil aber derselbigen sehr – 59 –
viel sind und der mehrer Teil nicht sonderlich taugen, habe ich sie nicht alle wollen in dies unser Gesangbüchl(e)in setzen, sondern die besten draus geklaubet und hie hernach gesetzt … Lieder mehr am Rande, die sich auch später nicht bleibend durchgesetzt haben: unter anderen ein Dialog-Lied zwischen Christus und dem Sünder von Hans Sachs, ein Beitrag von Adam von Fulda, das Markgraf-Casimirus-Lied und das Markgraf-Georgen-Lied, die beide von Herzog Albrecht von Preußen verfasst sein könnten, zwei Psalmlieder und schließlich Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ (EG 343), vermutlich von Johann Agricola. In der fünften und letzten Abteilung klärt er sein Verhältnis zu den gregorianisch gesungenen Psalmen und Cantica: Wir haben auch zu gutem Exempel in das Büchlein gesetzt die heiligen Lieder aus der Heiligen Schrift, so die lieben Patriarchen und Propheten vorzeiten gemacht und gesungen haben, auf dass wir nicht als neue Meister allein angesehen werden in diesem Werk, sondern für uns aller Heiligen Exempel anzeigen können. Darum ein jeglicher Christ wohl sehen wird, wie dieselbigen gleich wie wir tun, auch allein Gottes Gnade und nicht Menschenwerk preisen … Allermeist aber darum, dass wir solche Lieder oder Psalmen gerne wollten mit Ernst und Andacht, mit Herz und Verstand gesungen haben, nicht wie man sie in den Stiften und Klöstern mit großem Missebrauch und Abgötterei noch heutiges Tages blöket und heulet, da man nichts draus versteht noch zu verstehen Willen oder Fleiß hat, (ge)schweige denn mit Andacht und mit Frucht singen sollt, darum auch Gott mehr damit erzürnet denn versöhnet wird. Es folgen dreizehn alttestamentliche Gesänge und die vier neutestamentlichen Cantica mit ihren Psalmtönen. Luther dürfte klar geworden sein: Volkstümliche Strophenlieder können und dürfen nicht der einzige Ausdruck des geistlichen Singens bleiben; sie könnten sich einseitig verengen oder rasch verbrauchen. Zu der Gesangbuch-Ausgabe bei Joseph Klug 1533 stellt Johann Walter – vielleicht durch Luthers Anregung, vielleicht aus eigener schöpferischer Einsicht – zehn vierstimmige, streng homophone Rezitationsmodelle für die alttestament– 60 –
lichen Cantica bereit; in einer Technik, die aus der mittelalterlichen Organumpraxis als Falso bordone oder Fauxbourdon bekannt war und wohl in den Hofkapellen gepflegt wurde: Alle Stimmen deklamieren gemeinsam auf einem gleichen Akkord, Anfang und Schluss der Verszeilen werden durch grundakkordbestimmte Kadenzklauseln markiert. Heute ist uns diese Singart aus der russisch-orthodoxen oder westlich-kommunitären Tradition wohlvertraut. Die damaligen Gemeinden haben diese musikalische Bereicherung des geistlichen Singens nicht angenommen, und in den nächsten Wittenberger Gesangbuch-Ausgaben sind die Psalmtöne wieder auf die Einstimmigkeit reduziert. *
Was nach dem Gesangbuch von 1529 und seinen Ergänzungen in den folgenden Ausgaben in Luthers Liedschaffen folgt, ist Spätlese, mehr oder weniger Nachtrag. Der gottesdienstliche Einbau, der Umbau in der Gliederung und der Ausbau in pädagogisch-seelsorgerlicher Absicht sind abgeschlossen. Luther wagt sich nun darüber hinaus in literarische Randzonen vor, die sich der Einordnung in eine Singesituation merkwürdig sperren und vom bisherigen Duktus abweichen; die vielgestaltige Sprechweise sprengt fast die Identität des einen Dichters. Im Weihnachtslied Vom Himmel hoch, da komm ich her (EG 24, GL 237) von 1534/35 liegt eine offensichtliche Kontrafaktur vor, das heißt die Übernahme eines weltlichen Liedes in den geistlichen Bereich, wie sie zu Luthers Zeit unbedenklich gehandhabt wird; und fünf Jahre später erfindet er selbst die jetzt bekannte Melodie. Vielleicht denkt Luther tatsächlich an ein häusliches Krippenspiel. Im Juni 1525 hatte er mit Katharina von Bora die Ehe geschlossen, fünf Kinder waren ihnen geschenkt: Hans – Magdalena – Martin – Paul – Margareta, die an Weihnachten 1534 gerade acht Tage alt ist; – 61 –
das so idyllisch ausgemalte Familienleben lässt sich trotz aller Wahrscheinlichkeit nicht als Hintergrund beweisen. Tatsache ist jedoch die Anknüpfung in Text und Melodie an ein volkstümliches Rätsellied, einen Ringeltanz, wie man um den Kranz singet (die ursprüngliche Melodie ist bei EG 25 verwendet): Ich kumm aus fremden Landen her und bring euch viel der neuen Mär. Der neuen Mär bring ich so viel, mehr dann ich euch hie sagen will.
Luther scheut nicht vor extremen Analogien zurück: Der Bänkelsänger wird zum Verkündigungsengel – ein wahrlich kühner Zugriff! Der Teufel brauche nicht alle schönen Melodien für sich allein zu besitzen, sagt er einmal. Er tauft die Noten und nimmt die schon bekannten Worte für das Wortereignis der göttlichen Nachricht in Beschlag. Er benützt das volkstümliche Brauchtum mit seinen Sitten und Gewohnheiten, und das Volk hat dies spielerische Kinderlied immer als ein ihm gemäßes Volkslied in Erinnerung behalten. Ganz anders bei seinem letzten Weihnachtslied von 1542/43 Von Himmel kam der Engel Schar (EG 25), das in einer eigenhändigen Niederschrift als Vorlage zu einem Liedblatt erhalten ist. Äußerlich sieht es dem vorigen Lied zum Verwechseln ähnlich, innerlich aber ist es meilenweit von diesem entfernt: ein Trost- und Trutzlied – das zweite Kind Magdalena war im Herbst gestorben – und die Engel rufen die paulinisch-lutherische Rechtfertigungslehre in starken und stärkenden Worten aus. Das Lied Sie ist mir lieb, die werte Magd, im Wittenberger Gesangbuch von 1535 veröffentlicht, besteht aus drei kunstvollen, zwölfgliedrigen Strophen im Klanggewand einer filigranen Hofweise. Ist es nun wirklich ein persönliches Sololied, das gar nicht für den Mund der Gemeinde gedacht – 62 –
ist? Übernimmt Luther den Stil des weltlichen Liebesliedes für eine übertragen-geistliche Thematik, gar für ein Marienlied? Urteilt er über die Lage der Kirche in der Welt in der rätselhaft verschlüsselten, mythologischen Bildersprache der Johannes-Apokalypse (Offb 12)? Sie ist mir lieb, die werte Magd, und kann ihr nicht vergessen. Lob, Ehr und Zucht von ihr man sagt; sie hat mein Herz besessen. Ich bin ihr hold, und wenn ich sollt groß Unglück han, da liegt nicht an, sie will mich des ergötzen mit ihrer Lieb und Treu an mir, die sie zu mir will setzen und tun all mein Begier. Sie trägt von Gold so rein ein Kron, da leuchten inn’ zwölf Sterne; ihr Kleid ist wie die Sonne schon, das glänzet hell und ferne, und auf dem Mon(d) ihr’ Füße stohn (stehn). Sie ist die Braut, dem Herrn vertraut. Ihr ist weh und muss gebären ein schönes Kind, den edlen Sohn und aller Welt ein Herren; dem ist sie unterton (untertan). Das tut dem alten Drachen Zorn und will das Kind verschlingen; sein Toben ist doch ganz verlorn, es kann ihm nicht gelingen.
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Das Kind ist doch gen Himmel hoch genommen hin und lässet ihn auf Erden fast sehr wüten. Die Mutter muss gar sein allein; doch will sie Gott behüten und der recht Vater sein. (Str. 1–3)
Seit Johann Walter dem singbegeisterten Reformator begegnet ist, lassen Walter die Fundamentalfragen zum Verhältnis von Musik und Theologie, die Überlegungen zu Grund und Ursache, zu Zweck und Ziel des Singens nicht mehr los. Mit Worten, nicht nur mit Tönen will Walter ebenso wie Luther dem Geheimnis näherkommen: Was ist die Musik? Was bedeutet sie für den einzelnen Menschen, die Kirche, die Gesellschaft, ja für die ganze Weltordnung? Diese Fragen beantwortet Walter mit seinem Lehrgedicht LOB UND PREIS DER LÖBLICHEN KUNST MUSICA, bei Georg Rhau 1538 in Wittenberg erschienen, und er gewinnt Luther für die köstliche, ebenfalls gereimte VORREDE AUF ALLE GUTE GESANGBÜCHER (zu Anfang dieses Lebensbildes abgedruckt). Aus den Schlussversen dieser Vorrede hat die Jugend- und Singbewegung des frühen 20. Jahrhunderts das naturjubelnde Loblied Die beste Zeit im Jahr ist mein (EG 319) gewonnen. Die Nachtigall wird für Luther zum Symbol der Musik als Gotteslob in Freude und Dank. Ist er nun nicht im wörtlichen Sinn zur Wittenbergisch Nachtigall geworden? In beiden Lehrgedichten ist eine ebenso schlichte wie schlüssige Theologie der Musik ausgedrückt. In großem Einklang mit Luther weitet Walter dessen Beobachtungen und Schlussfolgerungen aus. Musik ist ein Schöpfungsgeschenk und damit Verpflichtung zu Gottes Lob und Ehre, eine Quelle der Erquickung für den geängstigten und ge– 64 –
quälten Menschen. Walter beginnt in seinem Lehrgedicht buchstäblich bei Adam und Eva und geht die ganze Bibel nach Beispielen durch, wo Musik ins Spiel kommt: Jubal, der Ahnherr der Geiger und Pfeifer, die Hymnen und Freudentänze beim Durchzug der Israeliten durchs Schilfmeer; die Mauern Jerichos fallen unter den Signalen der Trompeten, die verwirrte Seele Sauls beruhigt sich unter den Harfenklängen Davids; David singt seine Psalmen, Emotionen von Klage und Freude. An dieser Stelle fehlen auch nicht die Mahnungen an Könige, Fürsten und Ratsmitglieder, die Rahmenbedingungen für eine geordnete Musikpflege zu schaffen. Im Neuen Testament geht es weiter: Viele ausdrückliche Zitate fordern zum Singen auf und legitimieren die Musik in Gabe und Aufgabe; es gilt, mit allen künstlerischen Mitteln die Menschenfreundlichkeit Gottes auszurufen. Also bleibt keine andere Schlussfolgerung: Musik nahe beim Evangelium, Musik und Theologie geradezu verschwistert. Wie Musik dem Anfang der Welt innewohnt, so wird sie mit Gott und bei Gott am Ende der Zeit bleiben. Grammatik und Logik, Medizin und Juristerei, Philosophie und Rhetorik werden sich als überflüssig erweisen und vergehen; aber die Musik: Für sie gibt es keine Schlussnote. Die Ewigkeit gleicht einer himmlisch klingenden Kantorei. Aber noch sind wir auf Erden. Nach Luthers Tod greift Johann Walter nochmals mit eigenen Texten und Liedern in die kirchenpolitischen, so polemisch ausgetragenen Konflikte ein; in Flugblättern, wie er es aus der Frühzeit der reformatorischen Singbewegung gewohnt war: 1552 Herzlich tut mich erfreuen (EG 148), 1561 Wach auf, wach auf, du deutsches Land (EG 145) und 1566 sein persönliches Glaubensbekenntnis, wie er es von Luther gelernt hat: Allein auf Gottes Wort will ich / mein Grund und Glauben bauen (EG 195). Weder in Predigten noch in Schriften ist Luther zimperlich. Der dichterisch geprägten Gesangsformen bedient er sich – 65 –
sogar in aktuellen Kampf- und Streitpamphleten. In WIDER HANS WORST von 1541 schleudert er dem Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel eine Parodie der alten Judas-Leise (die Melodie ist bei EG 75 verwendet) entgegen und fügt als Unterschrift hinzu: Wenn ich dies Liedlein einmal voll mache, will ich dem zu Mainz seine Leisen auch finden. Ein Schmählied als größtmögliche Stufe der Beleidigung – hat Luther sein Liedideal nicht verraten? Ach du arger Heinze, / was hast du getan, dass du viel frommen Menschen / durchs Feur hast morden lan! Des wirst du in der Hölle / leiden große Pein, Luzifers Geselle / musst du ewig sein. Kyrie eleison. Ach verlorn’ Papisten, / was habt ihr getan, dass ihr die rechten Christen / nicht konntet leben lan! Des habt die großen Schande, / die ewig bleiben soll, sie geht durch alle Lande, / und sollt ihr werden toll. Kyrie eleison.
1542 veröffentlicht Luther ein kleines, aber gewichtiges Büchlein CHRISTLICHE GESÄNG LATEINISCH UND DEUTSCH, ZUM BEGRÄBNIS, in dem er seinen Beitrag zu einer evangelischen Bestattung leistet. Er zählt brauchbare Lieder auf, die man bei der Trauerfeier in der Kirche oder auf dem Friedhof benutzen könnte, so dass sie ein Zeugnis für den Auferstehungsglauben werden: … Singen auch kein Trauerlied noch Leidegesang bei unsern Toten und Gräbern, sondern tröstliche Lieder von Vergebung der Sünden, von Ruhe, Schlaf, Leben und Auferstehung der verstorbenen Christen, damit unser Glaub gestärkt und die Leute zu rechter Andacht gereizt werden … An den katholischen Riten der Vigilien und Seelenmessen und den Lehren von Fegfeuer und ewiger Verdammnis brechen die alten kontroverstheologischen Differenzen wieder auf, und für Singen – 66 –
und Sagen bedeutet dies: … Also haben sie auch wahrlich viel treffliche schöne Musica oder Gesang, sonderlich in den Stiften und Pfarren, aber viel unflätiger, abgöttischer Text damit geziert. Darum wir solche abgöttische, tote und tolle Text entkleidet und ihnen die schöne Musica abgestreift und dem lebendigen heiligen Gottes Wort angezogen, dasselb damit zu singen, zu loben und zu ehren. Dass also solcher schöner Schmuck der Musica in rechtem Brauch ihrem lieben Schöpfer und seinen Christen diene, dass er gelobt und geehret, wir aber durch sein heiliges Wort, mit süßem Gesang ins Herz getrieben, gebessert und gestärkt werden im Glauben. Das helfe uns Gott, der Vater, mit Sohn und Heiliger Geist. Amen. Von Michael Weiße, dem Prediger der Böhmischen Brüder, übernimmt Luther das Lied Nu lasst uns den Leib begraben (EG 520 in neuerer Fassung Nun legen wir den Leib ins Grab) und fügt eine eigene Schlussstrophe hinzu (EG Str. 7). Vor allem gibt er vier Beispiele von Sprüchen für Grab- und Gedenksteine, wie etwa zu Joh 11,25f.: Christ ist die Wahrheit und das Leben; die Auferstehung will er geben. Wer an ihn qläubt, das Leben (er)wirbt, ob er gleich hie auch leiblich stirbt. Wer lebt und gläubt, tut ihm die Ehr, wird gwisslich sterben nimmermehr.
Im Jahr 1543 schreibt Luther sein letztes kirchlich-liturgisches Lied: Der du bist drei in Einigkeit (EG 470); mit einer schlichten Übersetzung des alten lateinischen Vesperhymnus O lux beata Trinitas schlägt er in Wort und gregorianischer Weise noch einmal den Bogen vom frühkirchlichen Liedgesang bis zu seiner eigenen Liedgestaltung. Er bekennt den dreieinigen Gott, demütig und zuversichtlich zugleich, und lässt wie abschließend Motor und Motiv seines Dichtens anklingen: Unser armes Lied rühmet dich / jetzund, immer und ewiglich (Str. 2). – 67 –
»Nu komm, der Heiden Heiland« GEISTLICHE LIEDER Leipzig 1545 bei Valentin Babst
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Auf der letzten Reise im Winter 1546 in seine Geburtsstadt Eisleben – Luther stirbt dort am 18. Februar 1546 – besucht er in Halle seinen vertrauten Freund und Mitarbeiter Justus Jonas und überreicht ihm ein Glas mit der Inschrift eines lateinischen Epigramms. Gedanken an den eigenen Tod erfüllen ihn; herb und ohne Sentimentalität bringt er sie ins Wort. Dat vitrum vitro Jonae, vitrum ipse, Lutherus, ut vitro fragili similem se noscat uterque. Dieses Glas dem Jonas, der Glas ist, von Luther, der selbst Glas, beide sollen verstehn: Sie selbst sind zerbrechlichem Glas gleich. (übersetzt von Wilhelm Stapel)
In dem Prachtband des Gesangbuchs GEISTLICHE LIEDER. MIT EINER NEUEN VORREDE, D. MARTIN LUTHER, bei Valentin Babst in der Ritterstraßen in Leipzig 1545 gedruckt – ein Jahr vor Luthers Tod –, im größeren Format, geschmückt mit Holzschnitten und Zierleisten wie ein liturgisch wertvolles Buch, liegt Luthers gesamtes Opus von 37 Liedern und Gesängen gesammelt vor, vereint mit einem vielstimmigen Echo von Liedern aus anderen evangelischen Regionen und theologischen Lagern, darunter auch die Gesänge der Böhmischen Brüder oder Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn (EG 363) von dem österreichischen Wiedertäufer Georg Grünwald. Die protestantische Gesangbuch-Frömmigkeit mit ihrem lobenden und verkündigenden, betrachtenden und betenden Singen und Sagen hat jetzt ihren gültigen Ausdruck gefunden; Luthers Vision von einst ist geschichtlich greifbar verwirklicht. Die Vorrede zu diesem Gesangbuch, seine dritte insgesamt, sieht den – 69 –
Zusammenhang von Theologie und Musik in einer letzten, richtungsweisenden Klarheit: Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solchs mit Ernst gläubet, der kanns nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen. Wer aber nicht davon singen und sagen will, das ist ein Zeichen, dass ers nicht gläubet und nicht ins neu fröhliche Testament, sondern unter das alte, faule, unlustige Testament gehöret … Lebt der Glaube, erklingt das Lied. Ein rechtes Sagen wird das rechte Singen nach sich ziehen; ob ein Nachsingen der Lieder Luthers oder ein Neusingen zeitgenössischer Lieder, das ist dann eine zweitrangige Frage. Eine Glaubensbewegung wird immer in eine Singbewegung münden – Erfahrung und Vermächtnis der Wittenbergisch Nachtigall.
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Literatur
Friedrich Spitta, Ein feste Burg ist unser Gott. Die Lieder Luthers in ihrer Bedeutung für das evangelische Kirchenlied, Göttingen 1905 Hans Joachim Moser, Die Melodien der Lutherlieder, Leipzig und Hamburg 1935 Otto Schlißke, Handbuch der Lutherlieder, Göttingen 1948 Wilhelm Stapel, Luthers Lieder und Gedichte, Stuttgart 1950 Pierre Pidoux, Le Psautier huguenot du XVIe siècle. Mélodies et documents, Basel 1962, 2 Bände Oskar Söhngen, Theologie der Musik, Kassel 1967 Gerhard Hahn, Martin Luther, Die deutschen geistlichen Lieder, Tübingen 1967 Johannes Janota, Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, München 1968 Gerhard Hahn, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes, München 1981 Markus Jenny, Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983 Markus Jenny, Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Band 35 der Weimarer Ausgabe, Köln/Wien 1985 Patrice Veit, Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung, Stuttgart 1986 Martin Brecht, Martin Luther, Stuttgart 1981–1987, 3 Bände Walter Blankenburg / Johann Walter, Leben und Werk, hg. von Friedhelm Brusniak, Tutzing 1991 Wichmann von Meding, Luther und Speratus. Zwei Liedermacher in Wittenberg, in: Musik und Kirche 64, Kassel 1994, S. 188–199 Gerhard Hahn / Jürgen Henkys (Hg.), Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Göttingen 2000ff. in Einzelheften Martin Rößler, Ein neues Lied wir heben an. Luther als Liedermacher des neu entdeckten Evangeliums, in: Für den Gottesdienst, Heft 64, Hildesheim 2006, S. 8–16
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