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German Pages 336 [343] Year 1969
Zeleny
Die Wissenschaftslogik bei Marx und »Das Kapital«
Kritische Studien zur Philosophie
Herausgeber Karl Heinz Haag Herbert Marcuse Oskar Negt Alfred Schmidt
Jindrich Zeleny
Die Wisscnschaftslogik bei Marx und »Das Kapital«
Europäische Verlagsanstalt Frankfurt Europa Verlag Wien
Nach der unter dem Titel » O Logicke Strukture M a r x o v a Kapitalu« bei Nakladelstvi Ceskoslovenske akademie v e d , Prag, erschienenen tschechischen Originalausgabe übertragen von Peter Bollhagen
Lizenzausgabe des Akademie-Verlag, Berlin ©
1962 by Jindfich Zeleny
Druck: E L E K T R A , F r a n k f u r t Printed in Germany 1968
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
Einleitung
11 Teil I
Über die dialektisch-materialistische strukturell-genetische Analyse. Zur Charakteristik des spezifischen Typs der Analyse im Marxschen „Kapital"
19
1. Kapitel Marx über „wissenschaftliche E r k l ä r u n g " und „wissenschaftliches Begreifen" des Kapitalismus. Die Auffassung von Marx und Ricardo
21
2. K a p i t e l Die Überwindung des einseitig quantitativen Standpunktes. Die Umwandlung der fixen in elastische und bewegliche Begriffe
26
3. Kapitel Die Relativität der Formen der Wirklichkeit und die Relativierung der Denkformen. Als Verhältnisse erscheinende Eigenschaften, Eigenschaften als Verhältnisse .
35
4. Kapitel Das Problem des Ausgangspunktes
51
5. Kapitel Das Verhältnis des Verfahrens der theoretischen Darstellung zur wirklichen Geschichte
57
Zur Interpretation Grusins
67
6. Kapitel Der Charakter der dialektischen Ableitung und der dialektischen Übergänge Die neue logische Konzeption von Marx und ihre Vorbereitung durch Hegel Über die sogenannte historische und logische Forschungsmethode . . . .
75 94 103
5
7. Kapitel Konzeption und Rolle der Kausalverhältnisse
109
Kausalität und Widerspruch
125
8. Kapitel Zur Rolle der mathematischen und der formallogischen axiomatisierbaren Ableitung in der Marxschen Analyse Hegels und Marx' Verhältnis zur Idee des Mathematismus
141 159
9. Kapitel Die Bewegung des Verhältnisses von Erscheinung und Wesen beim Aufbau des Systems
164
10. Kapitel Der analytisch-synthetische Charakter der theoretischen Darstellung
. .
172
Ist die strukturell-genetische Analyse, wie sie im Marxschen „Kapital" angewendet wird, allgemeingültig?
182
11. Kapitel
Teil II Die Logik des „Kapitals" und die Marxsche Hegel-Kritik
185
1. Kapitel Die Hegel-Kritik in den Pariser Manuskripten
187
Die Negation der Negation
187
Hegels „scheinbar kritische" Einstellung
194
Gegenständlichkeit und Vergegenständlichung
197
„Logik" und „Encyklopädie"
201
2. Kapitel „Die heilige Familie"
209
3. Kapitel „Die Deutsche Ideologie" Die Entfernung der teleologisch-eschatologischen Methode der Kritik
Elemente
Das Ende der Philosophie?
aus
der
213 215 222
Marx und Stirner
225
Das tätige Individuum und die Verhältnisse
232
Die Hegeische Philosophie als Einheit von Spinoza und Fichte
240
Es genügt nicht, Feuerbach, praktisch zu machen
248
Marx und Rüge
263
6
4. Kapitel Das „El®nd der Philosophie": Nochmals über Hegels absolute Methode
. .
269
5. Kapitel Etappen der Marxschen Hegel-Kritik
274
6. Kapitel Das Verhältnis der Marxschen Hegel-Kritik und der Marxschen Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie zur Erklärung eines neuen Typs der Rationalität und der Überwindung der traditionellen Ontologie Einige
291
Schlußfolgerungen
Sein, Praxis und Vernunft
297
1. Kapitel Kant und Marx als Vernunftkritiker
299
2. Kapitel Die'Überwindung der traditionellen Ontologie
311
3. Kapitel Praxis und Vernunft
319
Bibliographie
326
7
Vorwort
Von welcher Fragestellung die vorliegende Untersuchung ausgeht und auf welche Weise sie die aufgegriffenen Probleme zu erörtern versucht, darüber gibt die folgende Einleitung eine vorläufige Vorstellung. Hier sei nur bemerkt, daß die Grundlage der deutschen Übersetzung die Monographie über die logische Struktur des „Kapitals" bildet, welche im J a h r e 1962 im Akademie-Verlag Prag in tschechischer Sprache veröffentlicht wurde. Die Fortsetzung der Studien auf einer allgemeineren Ebene f ü h r t e uns in den folgenden Jahren zur gründlicheren Beschäftigung mit der Marxschen Hegel-Kritik. Die vorliegende Arbeit versucht die bisherigen Ergebnisse der Studien über die logische Struktur des „Kapitals" im Zusammenhang mit der Frage nach der Marxschen Auffassung der Rationalität und der Überwindung der traditionellen Ontologie als ein Ganzes dem deutschsprachigen Leser mitzuteilen. Als ein äußeres Anzeichen der Aktualität und des theoretischen Interesses an den hier behandelten Problemen vermag die Lebendigkeit und Breite des Meinungsaustausches zu dienen, der sich in der Mitte der 60er J a h r e über unsere Problematik in den französischen Zeitschriften „La Nouvelle Critique", „Les Temps Modernes" u. a. aufgerollt hat. Unsere Arbeit kann als ein Beitrag zu dieser Diskussion betrachtet werden.
Prag, den 3 1 . 1 . 1967
Jindrich Zeleny
Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist in ihrem überwiegenden Teil ein Stück MarxInterpretation. Ihr Anliegen ist aber nicht rein historisch, sondern geht in einigen wesentlichen Punkten weiter. Im ersten Teil charakterisieren wir die dialektisch-materialistische Analyse, wie sie in spezifischer Gestalt im Marxschen „Kapital" erscheint. Dazu werden selbstverständlich auch andere Werke und Manuskripte von Marx herangezogen, die mit seinem Hauptwerk unmittelbar zusammenhängen, also vor allen das Manuskript der Erstfassung des „Kapitals". Diese Untersuchung, die von der beschreibend-erklärenden textlichen Detail-Analyse zu den tieferen philosophisch-logischen Fragen führt, soll den Hilfsstoff zur Erforschung einer allgemeineren Frage vorbereiten. Es geht darum, ob und in welchem Sinn die Entstehung des Marxismus eine Umwälzung in der Konzeption der Wissenschaft bedeutet. Welchen logischen Inhalt besitzt diese Umwälzung? Worin besteht das wesentlich Neue, das Marx zur Erörterung der Fragestellung beiträgt, die in der Philosophie der Neuzeit durch das „Novum Organum" von Bacon, den „Discours de la méthode" von Descartes, den „Essay concerning human understanding" von Locke, die „Nouveaux Essays" von Leibniz, die „Kritiken" von Kant, die „Phänomenologie des Geistes" und die „Wissenschaft der Logik" von Hegel aufgeworfen worden ist? Bei der Untersuchung der Frage, ob die strukturell-genetische Analyse, wie sie im „Kapital" verwendet wird, als neuer T y p des wissenschaftlichen Denkens Allgemeingültigkeit besitzt, gelangen wir zu der Schlußfolgerung, daß die Antwort auf diese Frage voraussetzt, Marx' Beziehung zur traditionellen europäischen Metaphysik zu klären. In dieser Hinsicht führt uns das Problem der Logik des „Kapitals" zur Frage des Wesens der Marxschen Hegel-Kritik. Beide — sowohl die Marxsche Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie als auch seine HegelKritik — stellen sich in einer unauflöslichen inneren Einheit und als etwas Zusammengehöriges dar, wenn wir uns fragen, ob und in welcher Hinsicht das Werk von Marx den umwälzenden Neubeginn in der Auffassung der Rationalität bedeutet.
11
In den abschließenden Kapiteln versuchen wir auf der Grundlage der vorhergehenden Analyse darzulegen, daß die Entstehung des Marxismus die Überwindung der traditionellen Entgegensetzung von Gnoseologie und Ontologie in der prinzipiell neuen philosophischen Methode der logischen Grundlagenforschung bedeutet, die man inhaltlich als ontopraxeologisch bezeichnen kann. Die Arbeit knüpft — sowohl positiv als kritisch — an die bisherige marxitisch-leninistische Literatur an, soweit sie sich mit der Frage beschäftigt hat, welche neue Konzeption des Logischen im Marxschen W e r k explizite und implizite enthalten ist. 1 Es gibt unserer Meinung nach Gründe dafür, die Ergebnisse der bisherigen marxistisch-leninistischen Versuche, die Beziehung von materialistischer Dialektik und analytischer Wissenschaftstheorie zu klären, als unbefriedigend zu betrachten. In dieser Problemlage erscheint es uns zweckmäßig, zur Frage der logischen Struktur des „ K a p i t a l s " zurückzukehren, da diese Rückkehr — unseres Erachtens — zu den Möglichkeiten gehört, wie die Erfassung der modernen Problematik der Rationalität vom Standpunkt des Marxismus aus vorbereitet werden kann. Es ist freilich eine Rückkehr unter einem neuen Gesichtspunkt, in der Perspektive des gegenwärtigen Problems der sog. dialektischen und analytischen R a t i o n a l i t ä t : reculer pour mieux sauter. In dieser Hinsicht greift die Arbeit den programmatischen Gedanken Lenins von der Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des Studiums der logischen Struktur des Hauptwerkes von Marx von neuem auf. 2 Die Rückkehr zur Frage der Logik des „ K a p i t a l s " von dem angeführten neuen Aspekt aus m a c h t es unserer Ansicht nach möglich, zugleich auch einige Kriterien für die Diskussion mit denjenigen Richtungen des gegenwärtigen marxistischen Denkens auszuarbeiten, die sich in der Kritik des Dogmatismus in dem Schisma von anthropologischer und scientistischer Intention bewegen. Wir nehmen j e t z t eine vorläufige Begriffsbestimmung vor, mit der wir arbeiten werden. Natürlich kann es sich hier nicht um eine allseitige B e gründung der betreffenden Bestimmungen und auch nicht um die Diskussion mit anderen Anschauungen handeln. Ist doch die Untersuchung vielmehr erst bemüht, einige Voraussetzungen für die Antwort auf jene Fragen Eine kritische Betrachtung dieser Literatur wird in dem Artikel von J . Zeleny, K problemu logiky Marxova „Kapitälu" vorgenommen (Filosoficky Casopis, H. 2, 1960). 2 Vgl. W . I . L e n i n , Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 316 f. 1
12
zu schaffen, die in der Regel als Problem der Beziehung von formaler und dialektischer Logik dargestellt werden. Wir werden uns hier auf alle diese Streitfragen nicht einlassen. Es ist vielmehr der Zweck der vorläufigen B e stimmungen, dem Leser so weit wie möglich klar werden zu lassen, in welcher Bedeutung wir diese Begriffe benutzen, denen er ständig begegnet. Dafür möchte der Leser das Urteil über die Berechtigung oder Nichtberechtigung dieser Bestimmungen auf den Zeitpunkt verschieben, wo er die ganze Untersuchung gelesen hat. Unter Logik verstehen wir die Wissenschaft von den Formen des Den kens, das zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit führt. Die Logik beschäftigt sich vor allen Dingen mit den Formen des Denkens, die wir im wissenschaftlichen theoretischen Denken vorfinden, wie sie von ihm benutzt werden, so wie es uns daher in der bisherigen, mehrere Jahrtausende währenden Entwicklung der Wissenschaften und insbesondere in den E r gebnissen und in der Tätigkeit der modernen Wissenschaften gegenübertritt. Der Ausdruck, „die ,Logik des Marxschen Kapitals' erforschen" ist offensichtlich metaphorisch. E r bedeutet zu untersuchen, welche Logik, welche Begriffe und Lösungen der logischen Problematik implizite in dem ökonomischen Werk von Marx enthalten sind. Denken ist zugleich Erkennen bzw. es ist zusammen mit anderen Momenten ein Bestandteil des Erkenntnisprozesses, der immer nur als Mom e n t der menschlichen Praxis existiert. Da die Logik als Theorie vom Denken ein Bestandteil des Erkenntnisprozesses ist, ist sie ein Teil der Erkenntnistheorie, bildet sie den wesentlichen Teil der Erkenntnistheorie. Die Grundprobleme der Erkenntnistheorie und Logik als Fragen nach der Natur und den Typen der Rationalität sind als ontopraxeologische Probleme zu stellen. (Die Erkenntnistheorie umfaßt außer den logischen Problemen, die sich mit den Denkformen, der sogenannten rationellen Stufe der E r kenntnis und zwar vom Wahrheitsaspekt her beschäftigen, darüber hinaus auch noch die Fragen der Abhängigkeit unserer Erkenntnisprozesse von den nhysiologischen Prozessen, Fragen der Bedingtheit unserer Erkenntnisprozesse durch den psychischen Zustand usw. 3 ). Die marxistische Erkenntnistheorie kehrt auf dem Boden, der von der deutschen Transzendental-Philosophie durch ihren Fortschritt in der Philosophie der Identität von Denken und Sein vorbereitet worden ist, auf einer grundlegend neuen Stufe zu der Auffassung des Verhältnisses 3
Vgl. die Ansicht Lenins, woraus die marxistische Erkenntnistheorie aufzubauen ist (Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 335).
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von Denken und Wirklichkeit zurück, die ihre Nichtidentität und den reflexiven Charakter der Erkenntnis hervorhebt. In dieser Bedeutung ist die Abbildtheorie die Grundlage, auf der die ganze marxistische E r kenntnistheorie und daher auch die Logik aufgebaut ist. Einige logische Probleme lassen sich auch dann erforschen und e x a k t lösen, wenn wir von dem Abbild-Projekt-Charakter der Erkenntnis abstrahieren, aber die Abbildtheorie wird für die weitere Phase dieser Untersuchung notwendig, wenn man nach den Voraussetzungen bzw. den Grenzen dieser („formalistischen") Untersuchung und Lösung fragt. Die logische Fragestellung läßt sich heute nicht in der Weise a d ä q u a t erfassen, daß die Logik streng in zwei Teile geteilt wird, von denen der eine Teil formal und in keiner Weise inhaltlich sein soll, der andere inhaltlich und in keiner Weise formal. 4 Dagegen scheint es berechtigt, die Denkformen und damit also auch die logische Problematik nach ihren verschiedenen Bereichen, Schichten und Sphären zu klassifizieren. Dabei besitzen diese Bereiche eine relative Selbständigkeit, grenzen sich gegenüber der übrigen logischen Fragestellung ab, was die Entwicklung der Logik fördert. So hat sich in den letzten hundert J a h r e n der Teil der Logik ziemlich ausgeprägt abgesondert, der sich mit der Folgebeziehung beschäftigt (der Beziehung der formallogischen „ F o l g e " 5 ) . Dabei beschränken einige Logiker den Begriff der Logik ausschließlich auf diesen Bereich, wobei sie die übrigen logischen Fragen als „philosophische Fragen der Logik", „gnoseologische Fragen der Logik" oder „Fragen der Theorie der Logik" bezeichnen und sie von den „rein logischen" oder „eigentlich logischen" unterscheiden. Der Streit um eine umfassendere oder engere Anwendung des Begriffs der Logik kann als ein terminologischer Streit ohne Bedeutung erscheinen, der durch Konvention lösbar ist. Doch sind wir der Ansicht, daß es gewichtige Argumente zugunsten der umfassenderen Konzeption gibt, insbesondere dann, wenn wir die gegenwärtige und künftige Entwicklung der marxistischen logischen Untersuchungen berücksichtigen. Die Entwicklung der Theorie der Folgebeziehung führt selbst zu Fragen (z. B . zu den Fragen der Grenze der Formalisierung, zu den semantischen Fragen der Interpretation usw.), die man kaum „rein logisch" in jenem engen Sinne nennen kann. Werden sie außerhalb der Grenzen der Logik als einer spezifisohen,
5
14
Wir stimmen in dieser Frage V. Filkorn zu (Predhegelosvkä logika, Bratislava 1953, S. 22, 45, 53). Vgl. weiter unten, S. 155 Z. B. in der Bestimmung A.Tarskis (Über den Begriff der logischen Folgerung, in: Actes du Congres International de Philosophie Scientißque, fasc. V I I ; Logique, Paris 1936, S. 1—11) oder bei E. W. Belli (Semantic cntailment and formal derivability, Amsterdam 1955).
wissenschaftlichen Disziplin angesiedelt, so kann dies die weitere Entwicklung hemmen. Analog verhält es sich auch in anderen Wissenschaften wie z. B. der Physik, in denen es verschiedene Problemschichten gibt. Es gibt physikalische Probleme, die in der Aufgabe bestehen, empirische Eigenschaften bestimmter Prozesse zu beschreiben (zu konstatieren, richtig zu messen). Es gibt die physikalische Fragestellung der gesetzmäßigen funktionalen Zusammenhänge empirischer Größen, die die physikalischen Prozesse charakterisieren. Ferner gibt es physikalische Theorien, die in verschiedenen Verallgemeinerungsstufen auf der Grundlage der empirischen Verifizierung der physikalischen Erkenntnisse aufgebaut sind. Es ist klar, daß diese physikalischen Theorien zur spezifisch physikalischen Problematik gehören. Die Auffassung, die hier umrissen wird, bedeutet keine Auflösung der Logik der Folgebeziehung in die gnoseologische Fragestellung. Ihre relative Selbständigkeit bleibt erhalten 6 , und es wird lediglich die scharfe Abgrenzung der sogenannten reinen logischen von der übrigen — in unserem Sinne — logischen Problematik verworfen. Die verschiedenen Schichten und Sphären der modernen logischen Forschungsbereiche kann man (um unsere Ausführungen zu verdeutlichen) etwa wie folgt gliedern: 6
Es wäre vermutlich nicht unzweckmäßig, die logische P r o b l e m a t i k , die sich m i t der Folgebeziehung beschäftigt, als logistische P r o b l e m a t i k zu bezeichnen und d a n n die Logistik als Teil der Logik zu fassen. Das w ü r d e bedeuten, d e m T e r m i n u s „Logistik", der bisher in der B e d e u t u n g des S y n o n y m s f ü r die symbolische Logik b e n u t z t wurde, einen etwas abweichenden Sinn zu geben. Dem Hinweis auf eine umfassendere Konzeption der Logik, die die Theorie der formallogischen Folgerung als Teil oder Moment in ein größeres Ganzes einordnet, k ö n n e n wir auch bei einigen Spezialisten auf dem Gebiet der m a t h e m a t i schen Logik begegnen, z. B. bei H. Scholz. In der Geschichte der Logik (Berlin 1931, S. 15—16) unterscheidet er zwischen einer formalen und einer nichtformalen Logik und b e s t i m m t ihre Beziehung f o l g e n d e r m a ß e n : ,,a) Als Oberbegriff zur formalen und nichtformalen Logik ist der Begriff einer Wissenschaftslehre zu denken, die definiert sein soll als Lehre v o m R ü s t zeug der wissenschaftlichen E r k e n n t n i s g e w i n n u n g im weitesten Sinne. b) Die formale Logik fällt d a n n zusammen m i t demjenigen Teil dieser Wissenschaftslehre, der die zum A u f b a u irgendeiner Wissenschaft erforderlichen Schlußregeln formuliert u n d selbstverständlich auch alles das liefert, was f ü r eine pünktliche Formulierung dieser Regeln erforderlich ist. c) U n t e r der nicht-formalen Logik verstehen wir endlich das ganze übrigbleibende Feld dieser Wissenschaftslehre, also alles, was erstens u n t e r den Begriff dieser Wissenschaftslehre subsumiert werden k a n n und zweitens von der formalen Logik verschieden ist."
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1. Die Theorie der Folgebeziehung. Sie umfaßt heute die Aussagenlogik, die Prädikatenlogik, die Klassenlogik usw. Die Formalisierung ist ihr wichtigstes methodisches Verfahren. 2. Die Theorie der logischen Wahrscheinlichkeitsbeziehungen. 3. Die Formalisierung wird selbst zum Gegenstand der logischen Untersuchung. Sie stellt die Fragen nach der Möglichkeit, den Grenzen und dem logischen Charakter der Formalisierung als solcher. 4. Damit hängt die Frage nach der Interpretation formalisierter Systeme (das Modellierüngsproblem) zusammen. Es wird untersucht a) allgemein ( = Beziehung von logischer Syntax und Semantik), b) in der Anwendung auf die speziellen Wissenschaften. Die unter 2, 3 und 4 genannten Aufgabenbereiche bilden m. E. die verschiedenen Zweige, in die sich die Logik als Folge der Ausarbeitung, Entwicklung und Überwindung der eng „formalistischen" Konzeption der Logik differenziert, die unter 1 aufgeführt sind. Die folgenden Punkte 5 und 6 dagegen behandeln die logische Problematik unter einem komplexen Gesichtswinkel', wobei sie in gewissem Sinne die vorhergehenden Punkte in sich enthalten und voraussetzen. 5. Die Frage des Aufbaus wissenschaftlicher Systeme allgemein (nicht nur axiomatischer, sondern auch von Systemen vom Typ des Marxschen „Kapitals" usw.). Dieser und der folgende Punkt können als methodologische Aufgaben bezeichnet werden. Wird in der Konzeption der logischen Beziehungen der Abbild- und &/s m & -
(statistische Generalisierung) Beim Aufbau einer systematischen Theorie der generalisierenden Verfahren auf der logisch-ontologischen Grundlage des dialektischen Materialismus wird es jedoch notwendig sein, zu berücksichtigen, daß der marxistische Determinismus die grundlegenden Methoden der Verallgemeinerung vermehrt. Vgl. a. auf S. 172). Whrights 5 Formen werden dann unzweifelhaft durch eine Reihe weiterer ergänzt. ' K. Marx, Das Kapital, Bd. I, in: a. a. 0 . , S. 27.
158
logische Ableitung vorbereitet. Diese Ausarbeitung der Voraussetzungen f ü r die dialektisch-logische Ableitung und die Ausarbeitung des gedanklichen Materials f ü r sie hönnen ein Dilemma der Gedankenarbeit des gleichen Denkers in der zeitlichen Aufeinanderfolge sein, aber es kann in der historischen Entwicklung auch das Dilemma der vorhergehenden Generationen sein. 38 In der dialektisch-materialistischen Analyse von Marx handelt es sich nicht um ein neues Wechselverhältnis von Induktion und Deduktion in ihrer ursprünglichen Bacon-Newtonschen Gestalt. Es geht um m e h r : F ü r die Erkenntnis des Kapitalismus in „seiner inneren S t r u k t u r " war es vor allen Dingen notwendig, neue Denkformen anzuwenden, andere als in der traditionellen Deduktion und Induktion — Formen, die spezifisch für die dialektisch-logische Ableitung sind. Daneben spielen noch I n d u k tion und Deduktion alter Prägung eine bestimmte Rolle. Die ursprüngliche, elementare Induktion und Deduktion (auf dem Boden der Konzeption des fixen Wesens, des fixen Allgemeinen, das in einem starren Subsumptionsgegensatz zum Besonderen und Einzelnen steht) spielen in d e r Marxschen Analyse insofern eine legitime Rolle, als wir durch die relative Stabilität des Wesens und des Allgemeinen berechtigt sind, sie als fixe und absolute Stabilität zu behandeln. 3 9
Hegels und Marx'
Verhältnis zur Idee des
Mathematismus
Die Idee des Mathematismus, wie sie die Wissenschaft des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s m i t sich bringt, sei es in den Formulierungen von Galilei, M Vgl. dazu K. Marx, Theorien über den Mehrwert, Teil 3, S. 497: „Die klassische Ökonomie sucht die verschiednen einander fremden Formen des Reichtums durch Analyse auf ihre innere Einheit zurückzuführen und ihnen die Gestalt^ worin sie gleichgültig nebeneinander stehen, abzuschälen . . . Die klassische Ökonomie widerspricht sich gelegentlich in dieser Analyse; sie versucht oft unmittelbar, ohne die Mittelglieder die Reduktion zu unternehmen und die Identität der Quellen der verschiedenen Formen nachzuweisen. Dies geht aber aus ihrer analytischen Methode, womit die Kritik und das Begreifen anfangen muß, notwendig hervor. Sie hat nicht das Interesse, die verschiednen Formen genetisch zu entwickeln, sondern sie durch Analyse auf ihre Einheit zurückzuführen, weil sie von ihnen als gegebnen Voraussetzungen ausgeht. Die Analyse ist aber die notwendige Voraussetzung der genetischen Darstellung, des Begreifens des wirklichen Gestaltungsprozesses in seinen verschiednen Phasen." 39 Vgl. z. B. die anfängliche Induktion bei der Schaffung des Begriffs „Arbeitsprozeß". (Vgl. K. Marx, Das Kapital, Bd. I, i n : a. a. 0 . , S. 531)
159
Descartes 4 0 oder Lcibniz, wird sowohl in der idealistischen als auch in der materialistischen
Dialektik Hegels
Dialektik von Marx kritisiert. Diese Kri-
tiken unterscheiden sich wesentlich voneinander. Hegel setzt, wie wir bereits erwähnt haben 4 1 , im Geist seiner idealistischen Weltauflassung den wissenschaftlichen Charakter der m a t h e m a t i schen Naturwissenschaft des 17. und des 18. Jahrhunderts herab. E r verbindet die Mathematik mit dem Bereich der niederen Denkformen und trennt die mathematischen Relationen als „begrifflos" von den anderen, komplizierteren, mehr innerlichen Verhältnissen, die sich nur durch das „begreifende Denken" erkennen lassen. Indem er die Idee des Mathematismus in ihren absolutistischen Ansprüchen verwirft, stellt Marx nicht wie Hegel die mathematische E r k e n n t nis als „undialektische" und eine „niedere R a t i o n a l i t ä t " erfassende unter eine andere „wahrhaft wissenschaftliche" Erkenntnis. E r ist für eine maximale und potentiell wachsende Anwendung der Mathematik auch im E r kenntnisprozeß
dialektischen Charakters. 4 2 Bemerkenswert
ist es,
wie
Marx häufig verschiedene und sehr komplizierte Prozesse zu m a t h e m a t i 40
Vgl. z. B. R. Descartes, Abhandlung über die Methode, Leipzig 1948, S. 15: „Die langen Ketten von ganz einfachen und leicht einzusehenden Vernunftgründen, deren sich die Gcometer zu bedienen pflegen, um zu ihren schwierigsten Beweisen zu gelangen, hatten mich darauf geführt, mir vorzustellen, daß alle Dinge, die unter die Erkenntnis der Menschen fallen können, unter einander in derselben Beziehung stehen, und daß, wenn man nur darauf achtet, kein Ding für wahr zu halten, das es nicht ist, und stets die Ordnung beibehält, die erforderlich ist, um die einen von den andern abzuleiten, es keine so entfernten Erkenntnisse geben kann, zu denen man nicht gelangte, noch auch so verborgene, die man nicht entdeckte."
41
Vgl. oben Kap. 6. Vgl. z. B. den Brief von Marx an Engels vom 31. V. 1873: „Ich habe hier Moore eine Geschichte mitgeteilt, mit der ich mich privatim lange herumgebalgt. Er glaubt aber, daß die Sache unlösbar ist oder wenigstens, wegen der vielen und großenteils erst auszufindenden Faktoren, die darin eingehen, pro tempore unlösbar ist. Die Sache ist die: Du kennst die Tabellen, worin Preise, Discourante etc. in ihrer Bewegung während des Jahres etc. in auf und absteigenden Zickzacks dargestellt sind. Ich habe verschiedenmal versucht — zur Analyse der Krisen — diese ups und downs als unregelmäßige Kurven zu berechnen, und geglaubt, (ich glaube noch, daß es mit hinreichend gesichtetem Material möglich ist), daraus die Hauptgesetze der Krisen mathematisch zu bestimmen. Moore, wie gesagt, hält die Sache einstweilen für untubar, und ich habe beschlossen, for the time beinges aufzugeben." (In: Werke, Bd. 33, Berlin 1966, S. 82.)
42
160
sehen Verhältnissen in Analogie setzt. 4 3 Das wissenschaftliche W e r k von Leibniz ist von Marx immer hoch geschätzt worden. 4 4 In den m a t h e m a tischen Manuskripten beschäftigt er sich mit der Entwicklung der Mathem a t i k und der mathematischen Verfahren. 4 5 Die prinzipiell unterschiedliche Rolle der mathematischen Erkenntnis in der materialistischen und in der idealistischen Dialektik hängt vor allen Dingen damit zusammen, daß Marx einen anderen Begriff dessen, was (wirklich) ist 4 6 , ausarbeitet als Hegel. Wenn in Hegels mystischer und absolut idealistischer Darlegung das Wesen jeder Wirklichkeit und die eigentlichste Wirklichkeit eine Art des Logischen (unter dem Namen „ I d e e " ) ist, nämlich irgendwelche objektivierten Gedankenbestimmungen, die den Prozeß des Übergangs der einen gedanklichen Bestimmung in die andere bilden; wenn die Natur, wie sie sich in ihrer empirischen Gestalt dem denkenden B e o b a c h t e r darstellt, nur eine sekundäre und abgeleitete „Verkörperung" und „ E n t ä u ß e r u n g " der Idee i s t ; wenn die Erkenntnis der eigentlichsten Wirklichkeit also, die E r k e n n t nis der Ideen ist und nur die Erkenntnis, die auf Ideen gerichtet ist, wahrhaft wissenschaftlich, wahre (in der Hegeischen Terminologie: philosophische) Erkenntnis genannt werden darf, dann ergibt sich daraus notwendig die Herabsetzung des Wertes und der Rolle der mathematischen E r k e n n t nis und des mathematisch-empirischen Wissenschaftstyps. Wenn dagegen in der Marxschen Auffassung die Wirklichkeit der m a t e riellen Natur als primär b e t r a c h t e t wird, über die es hinaus nichts W i r k licheres gibt, dann sind diejenigen Seiten, die in der mathematischen E r kenntnis erfaßt werden (die sowohl die äußeren als auch die inneren Prozesse betrifft) nicht etwas weniger wichtiges; die mathematische E r k e n n t nis trägt zwar im Hinbliok auf den ontologischen Charakter der erfaßten Seite der Wirklichkeit spezifischen Charakter, ist aber nicht niederer Ord« Vgl. K. Marx, Das Kapital, Bd. I, in: a. a. 0 . , S. 51, 118/119; Briefe über das Kapital, S. 159. 44 Marx im Brief an Engels vom 10. V. 1870: „You know my admiration for Leibniz." (In: Werke, Bd. 32, S. 504.) 4 5 Der bisher veröffentlichte Teil der Marxschen mathematischen Manuskripte (Pod znamenem Marksizma, H. 1, 1933) ist für die logische Untersuchung der Typen der Wissenschaftlichkeit u. a. dadurch wichtig, daß er Ausschnitte aus der Geschichte einer bestimmten Wissenschaft gibt, die dazu keine Gesellschaftswissenschaft ist. In dieser Hinsicht handelt es sich um ein interessantes Pendant zu den „Theorien über den Mehrwert". 46 Ich würde sagen: der Begriff der Wirklichkeit, wenn nicht bei Hegel dieser Terminus eine spezifische und engere Bedeutung besitzen würde. 11 Zc'.eny
161
nung. Marx übernimmt also nicht von Hegel die Hierarchie des Rationalen, wie sie in der klassischen deutschen Philosophie als Gegensatz von „Verstand" und „Vernunft" ausgedrückt wurde und den Hegel grob auf das Verhältnis der mathematischen Erkenntnis („verständig", „begrifilos") und der „wirklich wissenschaftlichen", „philosophischen" Erkenntnis (der „begreifenden Erkenntnis") anwendete. Die Schichtung des Rationalen ist bei Marx komplizierter, als daß man derartig einfache Grenzen ziehen könnte. Die mathematische Erkenntnis ist nicht als Ganzes prinzipiell niederer Ordnung (selbstverständlich auch nicht höherer Ordnung) als die übrige Erkenntnis. Wenn es in bestimmten Phasen der Entwicklung der marxistischen Philosophie im 20. J a h r h u n d e r t ein nicht ausreichend verständnisvolles Verhalten hinsichtlich der Rolle der mathematischen Erkenntnis in der dialektisch-materialistischen Analyse gab, so war dies ein Ausdruck — auch wenn dies zuweilen in der Kritik an den hegelianisierenden Tendenzen im Marxismus zutage t r a t — der ungenügenden Klärung des Unterschieds zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik. Umfassend h a t sich mit dem Verhältnis Hegels zum Mathematismus und zur mathematisch-empirischen Naturwissenschaft Emile Meyerson beschäftigt. 4 7 Er zeigt ein weitgehendes Verständnis für die historische Rolle der Hegeischen Philosophie. Dabei f ü h r t Meyerson ausführlich Hegels negatives Verhältnis zur mathematisch-empirischen Naturwissenschaft an. So verurteilt Hegel z. B. in der Naturphilosophie Newton dafür, daß dieser nur bei den mathematischen Explikationen verharrt, die nach Hegel etwas Künstliches und dem wahren Wesen der untersuchten Gegenstände ganz und gar äußerlioh sind. Die mathematische Formulierung des Gesetzes des freien Falls will Hegel „aus dem Begriff des Körpers" 4 8 ableiten. Ahnliche herabsetzende Beurteilungen der mathematischen Naturwissenschaft und ähnliche herabsetzende Wertungen hinsichtlich der Anwendbarkeit der 47
48
E. Meyerson, De l'explication dans les sciences, Paris 1921, insb. Bel. I l , Kap. X L La tentative de Hegel, p. 40 f. — A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, Paris 1947 und J. Hyppolite, Genese et structure de la Phénoménologie de Hegel, Paris 1947, umgehen dem Wesen der Sache nach von ihren existentialistisch-neuhegelianischen Interpretationen Hegels aus diese Problematik, die in der Iiegelschen Philosophie durchaus einen bedeutenden Platz eingenommen hat. G. W. F. Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Leipzig 1949, S. 227 (§ 267). Das entspricht der idealistischen Konzeption der Natur als Anderssein der Idee und von der Naturwissenschaft als Anwendung der Logik.
162
Mathematik in der Wissenschaft lassen sich bei Hegel viele finden. W a s sich aber aus der Meyersonschen Interpretation nicht begreifen läßt oder als Inkonsequenz Hegels und als Widerspruch in seinen Anschauungen erklärt werden müßte, ist der U m s t a n d , daß m a n ebenso bei Hegel z. B . lesen kann, daß die mathematischen Gesetze der mechanischen Bewegung „unsterbliche E n t d e c k u n g e n " sind, „die der Analyse des Verstandes die höchste Ehre m a c h e n " 4 9 . Ahnlich sind Keplers Gesetze der Planetenbewegungen „eine E n t d e c k u n g von unsterblichem R u h m e " . 6 0 Vom S t u d i u m der Mathematik schreibt Hegel, daß es „ v o n großer W i c h t i g k e i t " 6 1 ist. Folgende Interpretation scheint haltbar zu sein: Diese Aussagen ändern niohts an Hegels abwertender und negativer Einstellung zur m a t h e m a t i schen Naturwissenschaft. Wenn Hegel die mathematisch-empirische Wissenschaft bewertet— und er bewertet sie teilweise hoch—, so k o m m t das daher, daß nach Hegel einzig durch sie 5 2 der erkennende menschliche Geist zur „philosophischen W a h r h e i t " , z u m „begreifenden Wissen" gelangen kann. Wenn diese S t u f e erreicht ist, dann hört, nach Hegel, die mathematischcmpirische wissenschaftliche Erkenntnis auf, wichtig zu sein, h a t sie keine B e d e u t u n g im S y s t e m der „wahren Wirklichkeit", ist sie nur von (ontogene tisch und phylogenetisch) pädagogischer B e d e u t u n g . Ebenda, S. 424. 31 Vgl. ebenda, S. 195. 9 2 Vgl. ebenda, S. 69/70. Die Marxsche Idee der Zerstörung des Privateigentums hat den gleichen Inhalt, wenn der Begriff des Eigentums in der Marxschen Bedeutung gefaßt wird. Vgl. MEGA T. I / B d . 6, S. 212
236
B . Bauers, während vorher bereits in der „Heiligen Familie" Bauers „Philosophie des Selbstbewußtseins", die die Subjektivität verabsolutierte, einer detaillierten Kritik unterworfen worden war. Marx hält Stirner und Feuerbach vor, daß sie die theoretische Beziehung des menschlichen Bewußtseins zur Welt verzerrt fassen. Die geschichtlichen Stufen des menschlichen Lebens sind für beide — trotz der wechselseitigen Polemik — dem Wesen der Sache nach die gleiche Vergegenständlichung verschiedener philosophischer, theoretischer Haltungen: bei Stirner des Realismus, Idealismus und „Egoismus", bei Feuerbach zuerst der Theologie einschließlich der theologischen Philosophie und dann der Anthropologie. Die theoretische Beziehung des Bewußtseins wird faktisch als primär genommen, deshalb wird auch der Weg zur menschlichen Emanzipation in der Veränderung des Bewußtseins, in der Ersetzung der einen theoretischen Ansichten durch andere erblickt. Soll die Auffassung der theoretischen Beziehung des Bewußtseins zur Welt von der „spekulativen Entstellung" 9 3 befreit werden, so muß die Auffassung aufgegeben werden, die die Menschen als Dogmatiker, nicht aber als Produzenten ihrer W e l t 9 3 " begreift. Dieses Verhältnis des Bewußtseins ist ein Moment der gesamten, immer konkret-historischen Einheit der tätigen Individuen und der Verhältnisse; die Inhalte und Formen des Bewußtseins müssen notwendig im Zusammenhang mit den Formen der Praxis gefaßt werden. In diesem Sinne äußern sich die Verfasser der „Deutschen Ideologie" z. B . über die Philosophie Holbachs: „Holbachs Theorie ist also die historisch berechtigte, philosophische Illusion über die eben in Frankreich aufkommende Bourgeoisie, deren Exploitationslust noch ausgelegt werden konnte als Lust an der vollen Entwicklung der Individuen in einem von den alten feudalen Banden befreiten Verkehr. Die Befreiung entsprechend dem Standpunkte der Bourgeoisie, die Konkurrenz, war allerdings für das achtzehnte Jahrhundert die einzig mögliche Weise, den Individuen eine neue Laufbahn freierer Entwicklung zu eröffnen. Die theoretische Proklamation des dieser Bourgeoisiepraxis entsprechenden Bewußtseins, des Bewußtseins der wechselseitigen Exploitation als des allgemeinen Verhältnisses aller Individuen zueinander, war ebenfalls ein kühner und offner Fortschritt, eine profanierende Aufklärung über die politische patriarchalische, religiöse und gemütliche Verbrämung der Exploitation unter der Feudalität . . . " 9 4 E b e n d a , S. 128. !öa E b e n d a , S. 121
« Ebenda, S. 395.
237
Ähnlich heißt es an anderer S t e l l e : Die Basis der Gedanken „sind Individuen und ihre empirischen V e r h ä l t n i s s e " . 9 5 Das Denken ist immer das Denken eines b e s t i m m t e n Individuums, ist b e s t i m m t „durch seine Individualität und die Verhältnisse, in denen es l e b t " . 9 6 S t i r n e r t r e n n t das verkehrte „ideelle Spiegelbild" der wirklichen Kollisionen von diesen Kollisionen und verselbständigt es. E r verwandelt so die praktischen Kollisionen, d . h . die Kollisionen der Individuen m i t ihren praktischen Lebensbedingungen in Kollisionen der Individuen m i t den von ihnen geschaffenen Vorstellungen. Das ermöglicht ihm schließlich, die wirklichen Kollisionen, die das Urbild ihres ideellen Abbildes 9 7 sind, in die Folge dieses ideologischen Scheins zu verwandeln. E r k o m m t so zu der Schlußfolgerung, daß es sich n i c h t um die praktische Aufhebung dieser Kollisionen handelt, sondern nur darum, die Vorstellung dieser Kollisionen aufzugeben. 9 8 E b e n s o hier wie auch an anderer Stelle wird der Marxsehe Terminus „Spiegelbild" oder „ A b b i l d " — wenn auch insgesamt selten — zur Charakteristik der
des Erkenntnisprozesses
neuen Konzeption
als
der Theorie,
eines untergeordneten als
eines Moments
Moments
der G e s a m t -
praxis benutzt. E r besitzt eine antiideologische F u n k t i o n , und durch ihn wird die N i c h t i d e n t i t ä t von Denken und W i r k l i c h k e i t in der E i n h e i t der tätigen, dabei auch erkennenden und denkenden Individuen und der Verhältnisse b e t o n t . Wenn Marx Bewußtsein und Sein einander gegenüberstellt, c h a r a k t e r i siert er in der Regel in einer E i n s c h a l t u n g dieses „ S e i n " als „praktisches Neben der wirklichen
Menschen
unter
bestimmten
historischen
Um-
ständen."99 '"> V g l . ebt-mla, S . 3 1 2 : „ W i r s a h e n s c h o n f r ü h e r , wie hei den P h i l o s o p h e n
:
ver-
m i t t e l s t d e r T r e n n u n g der G e d a n k e n von den i h n e n z u r ß a s i s d i e n e n d e n I n d i v i d u e n u n d ihren e m p i r i s c h e n V e r h ä l t n i s s e n eine E n t w i c k l u n g lind G e s c h i c h t e der bloßen Gedanken entstehen konnte." E b e n d a , S . 2 4 6 : „ E b e n d a d u r c h , d a ß z. B . (las D e n k e n D e n k e n dieses b e s t i m m ten I n d i v i d u u m s i s t , b l e i b t es sein, d u r c h seine I n d i v i d u a l i t ä t u n d die V e r h ä l t nisse, in d e n e n es l e b t , b e s t i m m t e s D e n k e n . . . . E s ist i m m e r v o n v o r n h e r e i n ein n a c h
B e d ü r f n i s v e r s c h w i n d e n d e s und sieh r e p r o d u z i e r e n d e s M o m e n t
im
< i c s a m t l c b e n des I n d i v i d u u m s . " Vgl. e b e n d a , S . 2(j8. itp
Vgl. e b e n d a . E b e n d a , S . 2'i"): „ E s liegt n i c h t a m B e w u ß t s e i n , s o n d e r n — a m — S e i n ; n i c h t nm D e n k e n , s o n d e r n am L e b e n ; es liegt a n der e m p i r i s c h e n E n t w i c k l u n g u n d I . e b e n s ä u ß e r u n g des I n d i v i d u u m s , die w i e d e r u m von den abhängt." Ebenda. S. 25/2(i: „Das Bewußtsein
238
Weltverhältnissen
k a n n nie e t w a s A n d r e s sein
Marx und Feucrbach könnten gemeinsam die These akzeptieren, daß die Begriffe der Religion und der spekulativen Philosophie die empirische Wirklichkeit zur Grundlage haben. 1 0 0 Sie würden sie jedoch unterschiedlich darlegen, entsprechend dem Unterschied zwischen der praktischen Auffassung der Wirklichkeit bei Marx und der naturalistisch-kontemplativen bei Feucrbach. Feuerbach führt die Reduktion des Himmlischen auf das Irdische durch. 1 0 1 F ü r Marx ist diese Methode der Reduktion nicht konsequent materialistisch. Feuerbach — so meint Marx —weist zwar sehr richtig auf die irdische Welt als Grundlage der religiösen Illusionen hin, aber da diese irdische Welt bei ihm außerordentlich unkonkret und gestaltlos auftritt, so f r a g t er sich überhaupt nicht, wodurch es bedingt wird, daß die Menschen sich die Religion und spekulative Illusionen „in den Kopf setzen". Ahnlich stellt sich auch Stirner nicht die F r a g e : „Wie k o m m t es, daß die persönlichen Interessen sich den Personen zum Trotze immer zu Klasseninteressen fortentwickeln, zu gemeinschaftlichen Interessen, welche sich den einzelnen Personen gegenüber verselbständigen, in der Verselbständigung die Gestalt allgemeiner Interessen annehmen, als solche mit den wirklichen Individuen in Gegensatz treten und in diesem Gegensatz, wonach sie als allgemeine Interessen bestimmt sind, von dem Bewußtsein als ideale, selbst religiöse, heilige Interessen vorgestellt werden können? Wie k o m m t es, daß innerhalb dieser Verselbständigung der persönlichen Interessen zu Klasseninteressen das persönliche Verhalten des Individuums sich versachlichen, entfremden muß und zugleich als von ihm unabhängige, durch den Verkehr hervorgebrachte Macht ohne ihn besteht, sich in gesellschaftliche Verhältnisse verwandelt, in eine Reihe von Mächten, welche ihn bestimmen, subordinieren und daher in der Vorstellung als 'heilige' Mächte a l s d;is bewußte Sein, und d a s Sein der Menschen ist ihr wirklicher L e b e n s p r o z e ß . " K s h a n d e l t sich u m den L e b e n s p r o z e ß wirklicher Menschen, „ d . h. wie sie wirken, materiell p r o d u z i e r e n , also wie sie u n t e r b e s t i m m t e n materiellen und von ihrer Willkür u n a b h ä n g i g e n S c h r a n k e n , V o r a u s s e t z u n g e n und B e d i n g u n g e n t ä t i g s i n d . " Vgl. e b e n d a , S . 2 3 2 / 2 3 3 . "»» Vgl. z. B . e b e n d a , S . 2 1 7 / 2 1 8 . i"i V g l . F e u c r b a c h , D a s Wesen des C h r i s t e n t u m s , Berlin 1956, S . 22, 2G, 287 u. a. D e r s . , Kleine philosophische S c h r i f t e n , L e i p z i g 1950, S . 42, 183 (aus der A n t wort auf S t i r n e r s „ E i n z i g e n " ) : „ F . h a t sich in seiner S c h r i f t keine a n d e r e A u f g a b e gestellt, als G o t t oder die Religion auf ihren menschlichen U r s p r u n g z u r ü c k z u f ü h r e n und d u r c h diese R e d u k t i o n im Menschen theoretisch und p r a k tisch a u f z u l ö s e n . "
239
erscheinen? H a t t e Sancho einmal das F a k t u m begriffen, daß innerhalb gewisser, natürlich nicht vom Wollen abhängiger Produktionsweisen stets fremde, nicht nur vom vereinzelten Einzelnen, sondern sogar von ihrer Gesamtheit unabhängige praktische Mächte sich über die Menschen setzen, so konnte es ihm ziemlich gleichgültig sein, ob dies F a k t u m religiös vorgestellt oder in der Einbildung des Egoisten, über den Alles in der Vorstellung sich setzt, dahin verdreht wird, daß er Nichts über sich setzt. Sancho war dann überhaupt aus dem Reich der Spekulation in das der Wirklichkeit herabgestiegen, aus dem, was die Menschen sich einbilden, zu dem, was sie sind, aus dem, was sie sich vorstellen, zu dem, wie sie sich betätigen und unter bestimmten Umständen betätigen müssen. Was ihm als Produkt des Denkens erscheint, würde er als Produkt des Lebens begriffen h a b e n . " 1 0 2 Marx formuliert also die Aufgabe der Kritik der religiösen und spekulativ-philosophischen Ideen auch deshalb anders als Feuerbach, Stirner usw., weil er nicht die theoretische Haltung der Menschen zur W e l t von der menschlichen Gesamtpraxis trennt, weil „von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe . . . dargestellt" wird. 103 Oder wie es auch die wichtige methodologische Anmerkung im „ K a p i t a l " formuliert: „ E s ist bedeutend leichter, durch Analyse den Kern der nebelhaften religiösen Vorstellungen zu finden, als umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelte Form zu entwickeln. Das ist die einzig materialistische, die einzig wissenschaftliche Methode." 1 0 4 W i r haben versucht darzulegen, daß Marx bereits in der „Deutschen Ideologie" sich an diese Auffassung der wissenschaftlichen Methode heranarbeitet. Die Hegeische
Philosophie
als Einheit
von Spinoza
und
Fichte?
W i r versuchen j e t z t , die Marxsche Aussage von der Hegeischen Philosophie als Einheit von Spinoza und F i c h t e zu interpretieren. Sie wird, wie wir erwähnten, erstmals in der „Heiligen F a m i l i e " ausgesprochen: I s t die Spinozistische Substanz die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen und das Fichtesche „Selbstbewußtsein" der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, dann ist die K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 227/228. Ebenda, S. 26. Vgl. ebenda, S. 38: aus der Praxis die Ideenformationen erklären; S. 160: aus der Darstellung der praktischen, materiellen Verhältnisse ist der ideologische Ausdruck zu erklären. 10'. Vgl. IC Marx, Das Kapital, Bd. I, in: K.Marx/F.Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 393. 102
103
240
Hegeische Philosophie der Versuch, diese beiden Elemente in der metaphysischen Konzeption des „absoluten Geistes" zu vereinigen, und was dabei in der Hegeischen Idee des „absoluten Geistes" metaphysisch travestiert wird, sind der „wirkliche Mensch" und die „wirkliche Menschengattung". 1 0 5 Auch die „Deutsche Ideologie" bezieht sich auf diese Charakteristik. 1 0 6 Beobachten wir einige Nuancen bzw. Korrekturen in der Argumentation von Marx, in denen sich der Fortschritt in der theoretischen Erklärung des praktisch-materialistischen Standpunktes, der in den „Thesen über Feuerbach" erreicht worden ist, widerspiegelt. Wenn wir zuerst einmal die philosophiegeschichtliche Diagnose der Hegeischen Philosophie durch Marx, wie sie in der „Heiligen Familie" formuliert ist, kritisch beurteilen wollen, müssen wir in Rechnung stellen, daß die Marxsche Darlegung des Geheimnisses der Hegeischen Philosophie und des Wesens ihrer Methode in den polemischen Schriften (in der „Heiligen Familie", in der „Deutschen Ideologie", im „Elend der Philosophie") gewissermaßen adaptiert, beschränkt und simplifiziert ist unter Berücksichtigung der unmittelbaren polemischen Absicht. Es geht unmittelbar häufig einfach um den Nachweis, daß die kritisierten Autoren von Hegel abhängig sind, daß zwischen ihren Ideen Übereinstimmung oder Ähnlichkeit besteht; dieser Nachweis ist jedoch dem Zweck der Polemik zuweilen untergeordnet. So ist z. B . die Form der Darlegung des „Geheimnisses der spekulativen Konstruktion" in der „Heiligen Familie" (am Beispiel der Fruchtarten und „der" Frucht) auf die Polemik mit Szeliga ausgerichtet. Die ganze philosophische Passage von Marx beginnt: „Das Geheimnis der kritischen Darstellung der 'Mysteres de Paris' ist das Geheimnis der spekulativen, der Hegeischen Konstruktion" 1 0 7 und endet mit den Worten: „Es war nötig, diese Bemerkungen voranzuschicken, um sie Herrn Szeliga begreiflich zu machen." 1 0 8 Die Darlegung des Hegeischen „Substanz-Subj e k t " ist dem augenblicklichen polemischen Ziel angepaßt. In dieser Hinsicht besitzen die letzten Kapitel der „ökonomisch-philosophischen Manuskripte" (und ebenso auch der handschriftliche Kom1(0
K . M a r x / F . Engels, Die heilige Familie, i n : a. a. 0 . , S. 147. Vgl. weiter oben,
S. 2 1 1 f . ioc Vgl. I i . M a r x / F . Engels, Die deutsche Ideologie, i n : a. a. 0 . , S . 8 2 : „Die Hcgelsche Philosophie war in der„Heiligen F a m i l i e " p. 2 2 0 als Einheit von Spinoza und Fichte dargestellt und zugleich der Widerspruch, der darin liegt, hervorgehoben." 107 K . M a r x / F . Engels, Die heilige Familie, i n : a. a. 0 . , S . 59. i"8 E b e n d a , S. 62.
1C Zeleny
241
mentar zur Hegeischen Rechtsphilosophie von 1843) besondere Bedeutung. In ihnen wird die Kritik der Hegeischen Philosophie als theoretische H a u p t aufgabe thematisch erfaßt. Die Charakteristik der Hegeischen Philosophie als widersprüchliche Synthese von Spinoza und Fichte wird im Zusammenhang mit der Polemik gegen B. Bauer ausgesprochen. Die Begriffe „Substanz" und „Selbstbewußtsein", die Marx hier benutzt, reflektieren jedoch nicht ihre historische Vieldeutigkeit, sondern sind offensichtlich dem Wesen der Sache nach in der Bedeutung gemeint, in der sie gewöhnlich in der junghegelschen Literatur und überhaupt in der damaligen, von Hegel ausgehenden philosophischen Literatur gefaßt wurden. So ist z. B. f ü r B. Bauer in der „Posaune" 1 0 9 jedes substantielle Verhältnis das Verhältnis der Abhängigkeit der Menschen von etwas Äußerem, also — wie dies die Junghegelianer formulieren — ein Verhältnis der menschlichen Entfremdung. Die Substanz ist das Allgemeine, das dem endlichen menschlichen Ich als selbständige und absolute Macht gegenübersteht. 11 ® Nur eine antisubstantialistische Philosophie kann — wie B. Bauer meint — zur menschlichen Emanzipation führen und die Philosophie des wirklichen Menschen sein. In der Etappe seiner schillernden gedanklichen Entwicklung, die in der „Posaune" zum Ausdruck kommt, vermeint er, eine solche antisubstantialistische Philosophie in der ursprünglichen Hegeischen, fichtisch interpretierten Philosophie zu finden. Schon Hegel — behauptet B. Bauer — schuf eine Philosophie, die den individuellen Menschen nicht Gott oder der äußeren N a t u r opfert (der Substanz, der absoluten Idee als Substanz) und die die Schöpfung der Geschichte nicht so faßt, daß die individuellen Menschen Marionetten des „Weltgeistes" usw. wären. 111 „Nur das Ich ist ihm (Hegel) Substanz, es ist 109
B. Bauer, Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum, Leipzig 1841, S. 50, 63 u. a. Bauers Schrift erschien ursprünglich anonym. — Vgl. a. MEGA, T. 1, Bd. 1. 1, S. 103. 110 Vgl. in der „Posaune" S. 53 darüber, was das „Substantielle" ist, nämlich „. . . Das an und für sich Feste, von unserem Gefühl, unserer Empfindung Unabhängige und das Objektive, das an und für sich besteht." 111 Vgl. die „Posaune" über Hegels Auffassung der Religion: „. . . Auffassung der Religion, nach welcher das religiöse Verhältnis Nichts als ein inneres Verhältnis des Selbstbewußtseins zu sich selber ist und alle jene Mächte, die als Substanz oder absolute Idee von dein Selbstbewußtsein noch unterschieden zu sein scheinen, Nichts als die eignen in der religiösen Vorstellung nur objektivierten Momente derselben sind." Ebenda, S. 69: „Der Weltgeist hat erst seine Wirklichkeit im Menschengeiste oder er ist Nichts als der ,Begriff des Geistes', der im geschichtlichen Geiste und in dessen Selbstbewußtsein sich entwickelte und vollendet."
242
ihm a l l e s " , a b e r es ist j e d o c h ein Ich, d a s sich als „ a l l g e m e i n e s , unendliches S e l b s t b e w u ß t s e i n " setzt. 1 1 2 D a s S e l b s t b e w u ß t s e i n ist die einzige M a c h t der W e l t u n d der Geschichte, und die Geschichte h a t keinen a n d e r e n S i n n a l s den, d a ß d a s S e l b s t b e w u ß t s e i n e n t s t a n d und sich entwickelte. 1 1 3 S p ä t e r formuliert B . B a u e r die d e m W e s e n der S a c h e nach gleiche Philosophie, n ä m lich die Philosophie des S e l b s t b e w u ß t s e i n s als Kritik a n H e g e l 1 1 4 u n d a n der „ P h i l o s o p h i e " , offensichtlich unter d e m Einfluß von F e u e r b a c h , S t i r n e r und M a r x . In S t i r n e r s „ E i n z i g e m " erblickt er den Versuch, k o n s e q u e n t m i t der „ S u b s t a n z " a b z u r e c h n e n . In der „ P o s a u n e " s a g t B a u e r über den Z u s a m m e n h a n g der Hegeischen Philosophie m i t S p i n o z a u n d F i c h t e a u s d r ü c k l i c h : „ W e n n der Spinozisnius ihm (Hegel — J . Z.) als der notwendige A n f a n g der Philosophie g a l t , so nun die F i c h t e s c h e A u f f a s s u n g des Ich als die V o l l e n d u n g . " 1 1 5 Der S t r e i t u m die S u b s t a n z - oder S u b j e k t - I n t e r p r e t a t i o n der Hegeischen Philosophie b e g a n n ursprünglich zwischen S t r a u ß u n d B a u e r als S t r e i t u m die G ü l t i g k e i t der Hegeischen Methode der B i b e l i n t e r p r e t a t i o n . E r d e h n t e sich rasch auf u m f a s s e n d e r e F r a g e n der G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g a u s : E s ging insbesondere u m d a s P r o b l e m der A b h ä n g i g k e i t u n d der U n a b h ä n g i g k e i t ( I l e t e r o n o m i e u n d A u t o n o m i e ) des Menschen, d a r u m , ob die Menschen S c h ö p f e r oder nur Marionetten in der Geschichte sind, welcher Z u s a m m e n h a n g zwischen der absichtlichen T ä t i g k e i t der Menschen u n d der geschichtlichen N o t w e n d i g k e i t b e s t e h t , w a s die menschliche F r e i h e i t ist u s w . Hegel selbst b e t r a c h t e t e sein philosophisches W e r k nicht als Vereinig u n g von S p i n o z a u n d F i c h t e . E r m e i n t e , d a ß der philosophiegeschichtliche Z u s a m m e n h a n g zwischen seiner Philosophie einerseits u n d der von S p i n o z a und F i c h t e andererseits d u r c h eine R e i h e v o n D e n k e r n verm i t t e l t sei. Ü b e r S p i n o z a j e d o c h ä u ß e r t sich Hegel i m m e r m i t großer An112 Vgl. ebenda, S. 65. Vgl. die Bemerkungen von Engels gegen die Versuche, aus Hegel einen Propheten der subjektiven Autonomie zu machen, in: K. Marx/ F. Engels Werke, Bd. 1, S. 436. i « Vgl. B. Bauer, Die Posaune, S. 70. m
16"
Vgl. B. Bauer, Das entdeckte Christentum (1843), nach der Ausgabe Barnikols, Leipzig 1927, S. 155: „ I n dem echten Hegelschen System wenigstens hat der Begriff noch zum Teil den Anschein einer hypostatischen Macht, die abgesondert vom Selbstbewußtsein ihr Leben zu führen imstande ist, also auch wegen ihrer Übermacht über das Selbstbewußtsein der Gegenstand eines Gottesdienstes, wenn auch eines logischen sein kann . . . Die neuere Kritik hat den Menschen endlich zu sich selbst gebracht, sie hat ihn sich selbst kennen lehren, die Menschen von ihren Illusionen befreit und das Selbstbewußtsein als die einzige und schöpferische Macht — des Universums — als das Universum selbst kennen gelernt." 243
erkennung: der Spinozismus ist Hauptpunkt der modernen Philosophie, der wesentliche Anfang allen Philosophierens 115 ®, die causa sui ist der Grundbegriff jeder Spekulation. 116 Es ist der Mangel der spinozistischen Konzeption der Substanz, daß ihr „das Prinzip der Subjektivität, Individualität, Persönlichkeit" fehlt 1 1 7 ; jede Besonderheit und Singularität fehlt dem Wesen der Sache nach bei Spinoza, verliert sich bei ihm in der einen nichtprozessierenden Substanz. 1 1 8 Den Gegenpol zu Spinoza erblickt Hegel jedoch nicht in der Philosophie Fichtes, sondern zuerst in Leibniz. 1 1 8 a Fichte ist für Hegel vor allem „die Vollendung der Kantschen Philosophie". Fichtes spezifische, unmittelbare Kontraposition von Spinozismus (als der Philosophie der natürlichen Notwendigkeit, in der die menschliche Freiheit verlorengeht) und transzendentaler Philosophie des Selbstbewußtseins (als der konsequenten Philosophie der menschlichen Freiheit) wird von Hegel nicht übernommen. 119 Gegenüber Kant, Fichte und J a c o b i als der „Erfüllung der Formen der reflexiven Philosophie durch die Subjektivität" besaß der Spinozismus in den Augen Hegels den Vorzug, daß er keine Reflexionsphilosophie war, auf dem Prinzip der Identität von Denken und Sein aufbaute und, wenn auch unzureichend 1 2 0 , die „wahre" Unendlichkeit (Unbedingtheit, Unabhängigkeit von einem „Anderen"; das Absolute) als Identität von Produzieren und Produkt formulierte (natura naturans und natura naturata). Einen bewußten programmatischen Versuch, Spinoza und Fichte zu vereinigen, unternahm vor Hegel der junge Schelling 1 2 1 , insbesondere in seiner Schrift „Vom Ich als Prinzip der Philosophie". Hegel reagiert in seinen Werken, angefangen mit den Jenenser Aufsätzen und der „Phänomenologie", bereits auf diesen Schellingschen Versuch der Vereinigung des Standpunktes von 115
B . B a u e r , Die Posaune . . ., S. 77.
"Sa G. W . F . Hegel, Werke, Bd. 19, S. 374, 3 7 6 . im E b e n d a , S. 379. 117 E b e n d a , S. 375. Vgl. Werke, Bd. 4, S. 672. 118 Ebenda, B d . 19, S. 370. 118a E b e n d a , B d . 4, S. 675. 119 Ebenda, B d . 5, S. 10. J20 W a r u m unzureichend? In seiner Kritik, daß Spinoza die Negation nur einseitig versteht (vgl. Werke, B d . 19, S. 375), ist — von Hegels Gesichtspunkt aus — alles gesagt. Hegel t r a t für die entscheidende Rolle des Besonderen, für die Konzeption der Substanz als Prozeß mit den objektivierten Strukturen des sich selbst schaffenden (Fichteschen) Selbstbewußtseins ein. 121 Vgl, Vorrede zur 1. Auflage. Schluß. In dieser Hinsicht hat Rüge r e c h t : Schelling ist eine Kombination von Spinoza und Fichte.
244
„Substanz" und „Selbstbewußtsein" 1 2 2 , wobei er sich um eine richtige Auflassung der „ I d e n t i t ä t von Substanz und S u b j e k t " bemüht. In diesem Sinne kann man der Feuerbachschen Einschätzung zustimmen, an die — wie es scheint — Marx in der „Heiligen Familie" unmittelbar anknüpft. „Spinoza ist der eigentliche Urheber der modernen spekulativen Philosophie, Schelling ihr Wiederhersteller, Hegel ihr Vollender. . . . Die Identitätsphilosophie unterschied sich von der Spinozischen nur dadurch, daß sie das tote phlegmatische Bild der Substanz mit dem Spiritus des Idealismus begeisterte. Hegel insbesondere machte die Selbsttätigkeit, die Selbstunterscheidungskraft, das Selbstbewußtsein zum Attribut der Substanz." »23 Der Marxsche Gedanke von der Hegeischen Philosophie als widersprüchlicher Einheit von Spinoza und Fichte ist weder die Schlußfolgerung noch der Kern einer tieferen selbständigen philosophiegeschichtlichen Analyse, und soll es auch nicht sein. Bei einer gewissen Vereinfachung — so wird z. B. der spezifische Unterschied zwischen dem jungen Schelling und Hegel nicht berücksichtigt — ist dies einfach ein Aperçu, das im Zusammenhang mit der Polemik gegen B. Bauer eine Seite betonen soll, um die es wahrhaft geht: daß nämlich die Bauersche Philosophie des Menschen im Banne der einseitig dargelegten Hegeischen Philosophie verbleibt und versucht, die Widersprüche der Spekulation auf dem Boden der Spekulation zu lösen. In der „Heiligen Familie" legt Marx daher den philosophischen Begriff der Substanz als „metaphysisch travestierte N a t u r in der Trennung vom Menschen" 124 dar. Der weltliche, empirische Kern des philosophischen Substanzbegriffs — dieser metaphysischen Illusion — ist die Natur sowohl wie sie außer dem Menschen existiert, als wie sie seine eigne N a t u r ist." 12 5 In der „Deutschen Ideologie" ist in der Kritik der „Substanz" der Akzent auf die „andere N a t u r " gesetzt — auf die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse als Produkt der tätigen Menschen, fixiert in Gestalt selbständiger herrschender Kräfte gegenüber den Menschen und ihren Absichten und ihren Wünschen. Das hängt offensichtlich mit der Wendung bei der Wertungder Feuerbachschen Anthropologie und ihrer Konzeption des „menschlichen Wesens" zusammen, d.h. der menschlichen Natur, entsprechend dem 122 123 '24 125
Vgl. G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 19, S. 665. L. Feuerbach, Zur Kritik der Hegeischen Philosophie S. 70. Vgl. K. Marx/F. Engels, Die Heilige Familie, in: a. a. 0 . , S. 147. Ebenda, S. 150.
245
Modell des natürlich-organischen Allgemeinen. 1 2 6 Über B . Bauers Kontraposition von „ S u b s t a n z " und „Selbstbewußtsein" bemerkt das Manuskript der „Deutschen Ideologie": „ E r (Bauer — J . Z.) hat also auf der einen Seite s t a t t der wirklichen Menschen und ihres wirklichen Bewußtseins von ihren ihnen scheinbar selbständig gegenüberstehenden gesellschaftlichen Verhältnissen die bloße a b s t r a k t e P h r a s e : das Selbstbewußtsein, wie s t a t t der wirklichen Produktion die verselbständigte Tätigkeit dieses Selbstbewußtseins; und auf der andern Seite s t a t t der wirklichen N a t u r und der wirklich bestehenden sozialen Verhältnisse die philosophische Zusammenfassung aller philosophischen Kategorien oder Namen dieser Verhältnisse in der P h r a s e : die S u b s t a n z , da er mit allen Philosophen und Ideologen die Gedanken, Ideen, den verselbständigten Gedankenausdruck der bestehenden Welt für die Grundlage dieser bestehenden Welt versieht. Das er nun mit diesen beiden sinnlos und inhaltlos gewordenen Abstraktionen 1 2 7 allerlei K u n s t s t ü c k e machen kann, ohne von den wirklichen Menschen und ihren Verhältnissen etwas zu wissen, liegt auf der H a n d . " 1 2 8 D a s Bestreben, die Praxis in ihren konkret-historischen Formen zu erfassen, tritt an die Stelle des spekulativen Streites zwischen der Philosophie 126
127
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In derselben Richtung ging bereits vorher B. Bauers Kritik an der Konzeption der „menschlichen Natur" bei den französischen Materialisten, vgl. „Das entdeckte Christentum", a. a. 0., S. 162: „Ihr Fehler war überhaupt der, daB sie den Menschen nur anthropologisch, als bestimmtes, von der Natur bestimmtes Subjekt betrachteten und — wenigstens innerhalb des Systems der Natur — seine höhere Bestimmung als Volksgeist und seine freie Selbstbestimmung in der Geschichte, Kunst und Wissenschaft übersahen . . . — das war aber ein Fehler bei der ersten umfassenden und totalen Opposition gegen das christliche System, in welchem der Mensch nur als Volksgeist abgelöst und aller freien Selbstbestimmung beraubt ist, erklärt und unvermeidlich." K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0., S. 83: „. . . mit diesen beiden sinnlos und inhaltlos gewordenen Abstraktionen . . ." Vgl. dies., Die heilige Familie, in: a. a. 0., S. 145: „Substanz" und „Subjekt" (d. h. das unendliche, durch nichts anderes bestimmte Selbstbewußtsein) sind metaphysische Ungeheuer. Ebenda, S. 82/83. Vgl. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 217: „Sankt Bruno, dessen Broterwerb die Theologie ist. macht in seinen 'sauren Lebenskämpfen' gegen die Substanz denselben Versuch pro aris et focis, als Theologe aus der Theologie herauszutreten. Seine 'Substanz' ist Nichts als die in Einem Namen zusammengefaßten 'Prädikate Gottes'; mit Ausschluß der Persönlichkeit, die er sich vorbehält — der Prädikate Gottes, die wieder nichts sind als die verhimmelten Namen von Vorstellungen der Menschen von ihren bestimmten empirischen Verhältnissen . . . "
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der Substanz und der Philosophie des Selbstbewußtseins (Subjekts). 129 Die metaphysische spekulative Frage nach der Beziehung von Substanz und Subjekt betrachtet Marx nämlich nicht nur als völlig unfruchtbar, überflüssig oder imaginär, sondern er kritisiert sie und gibt sie dadurch auf, daß er sie umformuliert, daß heißt durch die Frage ersetzt, die die „wirklichen Kollisionen" 131 ', das „wahre Problem" zum Ausdruck bringt, dessen abstrakter und überirdischer Ausdruck die spekulative Frage nach der Beziehung von „Substanz" und „ S u b j e k t " war. Diese „wirklichen Kollisionen" erblickt die „Deutsche Ideologie" darin, daß unter den gegebenen Verhältnissen, deren Quintessenz sowohl die Hegeische als auch die junghegelsche Philosophie ist, die Produkte der Tätigkeit sich verselbständigen und sich den Produzenten entgegenstellen. Diese Kollisionen wachsen an und erzwingen — im Interesse der Erhaltung des menschlichen Lebens und der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse — die kommunistische Organisation der menschlichen Gesellschaft. Hegels Versuch, Substanz und Selbstbewußtsein zu vereinigen, mußte notwendigerweise widersprüchlich und unhaltbar sein, weil er zwar der spekulative philosophische Ausdruck der erwähnten wirklichen Kollisionen war, aber diese wirklichen Kollisionen, das wirkliche Problem weiter verdeckt und unbegriffen blieben. Hegels Identität von Substanz und Subjekt, sei es nun im Geiste der „Phänomenologie", die auf das Selbstbewußtsein als Substanz den Nachdruck legt, sei es im Geiste des Systems, das auf die Substanz (die absolute Idee) als Selbstbewußtsein (Subjekt) Nachdruck legt, war eine illusorische Konzeption, lediglich die gedankliche Überwindung und Versöhnung der „wirklichen Kollisionen"; sie war dem Wesen der Sache nach konservativ und m u ß t e deshalb zum Gegenstand der Kritik der Kräfte werden, denen es um die praktische Lösung, der „wirklichen Kollisionen" ging. Marx wendet sich mit einer prinzipiellen Kritik gegen jederlei Metaphysik, weil und insofern sie eine substantielle Ontologie ist, d.h., insofern sie in Gedanken die entfremdete Objektivität fixiert, die aus der Vergegenständlichung der menschlichen Tätigkeit unter bestimmten Bedingungen 129
Vgl. ebenda, S. 43/44: „Z. B. die wichtige Frage über das Verhältnis des Menschen zur Natur . . ., aus der alle die "unergründlich hohen Werke* über "Substanz' und 'Selbstbewußtsein' hervorgegangen sind, zerfällt von selbst in der Einsicht, daß die vielberühmte 'Einheit des Menschen mit der Natur' in der Industrie von jeher bestanden und in jeder Epoche je nach der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie anders bestanden hat, ebenso wie der 'Kampf' des Menschen mit der Natur, bis zur Entwicklung seiner Produktivkräfte auf einer entsprechenden Basis." i » Ebenda, S. 82.
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entspringt. Jedoch stößt nicht jede Kritik der substantiellen Ontologie, nicht jede antisubstantialistische Philosophie auf die Zustimmung von Marx, wie seine Polemik gegen B . Bauer und M. Stirner beweist. In der antisubstantialistischen Philosophie B . Bauers verwandelt sich das Selbstbewußtsein, das von den wirklichen, praktisch tätigen Menschen losgelöst ist, in etwas, was scheinbare causa sui ist, was von nichts anderem abhängig, was das spinozistische „in se esse" ist — jedoch der wirkliche Mensch geht auf diese Weise im „freien" Selbstbewußtsein als Substanz verloren. 130 ® Soweit es sich um Stirner handelt, distanziert sich Marx von dessen antisubstantialistischer Kritik, wie wir gesehen haben, hauptsächlich deshalb, weil sie nur scheinbar radikal ist und in Wirklichkeit hilft, die Lebensformen mit den entfremdeten verselbständigten Produkten der menschlichen Praxis zu konservieren, also die Verhältnisse, in denen notwendig aufs neue metaphysische Illusionen von der „Substanz" und dem unbedingten „ S u b j e k t " entstehen. Es genügt nicht, Feuerbach
praktisch zu machen
Moses Heß war außer Marx und Engels in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der kommunistische Theoretiker, der den wichtigsten und umfassendsten Versuch unternahm, die philosophischen Aspekte der theoretisch-praktischen kommunistischen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu klären. Die literarische Tätigkeit von Heß entwickelte sich in dieser Periode im direkten Kontakt mit Marx. Die Klärung einiger Seiten der Entwicklung des Verhältnisses von Marx zu den Auffassungen von Heß kann auf unsere Problematik der Etappen der Marxschen Hegelkritik insbesondere in den Jahren 1844—1846 ein Licht werfen. Die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" nennen die Artikel von Heß, die 1843 in den „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz" veröffentlicht wurden 131 , als eine der Quellen, die Marx benutzt, da er in ihnen einen 130» Vgl. ebenda, S. 8 5 : „ B r u n o fährt f o r t : 'Die Philosophie h a t selbst im B u n d e mit der Religion stets auf die absolute Unselbständigkeit des Individuums hingearbeitet und dieselbe wirklich vollbracht, indem sie das Einzelleben in dem allgemeinen Leben, das Akzidens in der Substanz, den Menschen im absoluten Geist aufgehen hieß und ließ.' Als ob 'die Philosophie' Brunos 'im Bunde mit der* Hegeischen und seinem noch fortdauernden verbotenen Umgang mit der Theologie 'den Menschen' nicht in der Vorstellung eines seiner 'Akzidentien', des Selbstbewußtseins als der 'Substanz', 'aufgehen hieße', wenn auch nicht 'ließe'!" 131
E s handelt sich um die Aufsätze: 1) „Socialismus und K o m m u n i s m u s " ; 2) „Philosophie der T a t " ; 3) „Die Eine und ganze F r e i h e i t ! " , Neue Ausgabe
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originalen deutschen Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie erblickt.« 2 Die „Deutsche Ideologie" ergänzt und modifiziert in der Kritik des wahren Sozialismus, die im F r ü h j a h r 1846 geschrieben wird, diese Einschätzung in der Hinsicht, daß sie auch weiter den Wert der erwähnten Artikel von Heß, f ü r die Zeit, wo sie entstanden und publiziert wurden, anerkennt; jedoch wird die Wiederholung der gleichen Gedanken in den Publikationen von 1845 als „langweilig und reaktionär" betrachtet, weil es sich um „antiquierte" Gedanken handelt. 1 3 3 Heß synthetisiert — neben den Verfassern der „Deutschen Ideologie" — die Entwicklung des französischen Sozialismus mit der Entwicklung der deutschen Philosophie und versucht, in diesem Sinne einen „philosophisch, wissenschaftlich begründeten" Sozialismus zu formulieren. Daran knüpfen die wahren Sozialisten a n : Sie versuchen, mit Hilfe der deutschen, insbesondere der Hegeischen und Feuerbachschen Ideologie 134 , sich die Ideen der sozialistischen und kommunistischen Literatur des Auslands anzueignen. „Sie heben die kommunistischen Systeme, Kritiken und Streitschriften ab von der wirklichen Bewegung, deren bloßer Ausdruck sie sind, und bringen sie dann in einen willkürlichen Zusammenhang mit der deutschen Philosophie. Sie trennen das Bewußtsein bestimmter geschichtlicher Lebenssphären von diesen Lebenssphären und messen es an dem wahren, absoluten, d. h. deutsch-philosophischen Bewußtsein. Sie verwandeln ganz konsequent die Verhältnisse dieser bestimmten Individuen in Verhältnisse 'des Menschen', sie erklären sich die Gedanken dieser bestimmten Individuen über ihre eignen Verhältnisse dadurch, daß sie Gedanken über 'den von A. Cornu und W. Mönke in: Moses Heß — Philosophische und sozialistische Schriften 1837-1850, Berlin 1961, S. 197-230. 132 Vgl. MEGA, Teil 1, Bd. 3, S. 34. 133 Vgl. K. Marx/F.Engels, Die deutsche Ideologie, in: a . a . O . , S. 478/479: „Sachen, die schon bei Heß ganz unbestimmt und mystisch sind, die aber im Anfange — in den Einundzwanzig Bogen — anzuerkennen waren und nur durch ihre ewige Wiederaufdrängung im Bürgerbuch, in den Neuen Anekdotis, in den Rheinischen Jahrbüchern zu einer Zeit, wo sie bereits antiquiert waren, langweilig und reaktionär geworden sind — die Sachen werden bei Herrn Grün vollends Unsinn." Es handelt sich um folgende Artikel von Heß: 1. Über die Not in unserer Gesellschaft und deren Abhilfe, in: Deutsches Bürgerbuch für 1845 (in der Ausg. Cornu/Mönke, a. a. 0 . , S. 3 1 1 - 3 2 6 ) ; 2. Fortschritt und Entwicklung und „Über die sozialistische Bewegung in Deutschland", in: Neue Anekdota (ebenda, S. 281—307); 3. Über das Geldwesen, in: Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform, 1. Bd., 1845 (ebenda, S. 329—348). 134 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 442.
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Menschen' seien. Sie sind d a m i t v o m wirklichen geschichtlichen B o d e n auf den B o d e n der Ideologie z u r ü c k g e k o m m e n u n d können nun, d a sie den wirklichen Z u s a m m e n h a n g nicht kennen, m i t H ü l f e der ' a b s o l u t e n ' o d e r einer a n d e r n ideologischen Methode leicht einen p h a n t a s t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g konstruieren. . . . E s w a r n a c h den in D e u t s c h l a n d f a k t i s c h vorliegenden Verhältnissen n o t w e n d i g , daß sich diese Zwischensekte bildete, daß eine V e r m i t t l u n g d e s K o m m u n i s m u s m i t den herrschenden Vorstellungen v e r s u c h t wurde. E s w a r ebenso n o t w e n d i g , daß eine Menge d e u t scher K o m m u n i s t e n , die von der Philosophie a u s g i n g e n , e r s t d u r c h einen solchen Ü b e r g a n g z u m K o m m u n i s m u s k a m e n u n d noch k o m m e n , während a n d e r e , die den Schlingen der Ideologie sich nicht entwinden k ö n n e n , diesen w a h r e n S o z i a l i s m u s bis a n ihr E n d e predigen w e r d e n . " 1 3 5 U m gründlicher zu klären, w a s a n der M a r x s c h e n H e g e l - K r i t i k und a n der M a r x s c h e n A u f f a s s u n g v o m E n d e der Philosophie spezifisch u n d original ist, m ü s s e n n o t w e n d i g d a s W e s e n der Heßschen philosophischen B e g r ü n d u n g des K o m m u n i s m u s u n d der k o m m u n i s t i s c h e n K r i t i k der vorhergehenden Philosophie, ihr eventueller Einfluß auf M a r x , ihr Verhältnis zur M a r x s c h e n A u f f a s s u n g der „philosophischen B e g r ü n d u n g " oder der U n m ö g l i c h k e i t einer „philosophischen B e g r ü n d u n g " des K o m m u n i s m u s g e k l ä r t werden. B e r e i t s 1841 u m r e i ß t Heß in d e m S c h r i f t c h e n „ D i e e u r o p ä i s c h e Hiera r c h i e " 1 3 6 die I d e e einer neuen „ P h i l o s o p h i e der T a t " . Hegel ist der Gipfel der Philosophie der V e r g a n g e n h e i t , a b e r j e t z t s t e h t der Ü b e r g a n g zur Philosophie der T a t auf der T a g e s o r d n u n g . S c h o n die J u n g h e g e l i a n e r befinden sich in diesem Ü b e r g a n g , a b e r ihr Mangel b e s t e h t darin, d a ß sie sich auf die „ g e i s t i g e F r e i h e i t " b e s c h r ä n k e n , d. h. auf die K r i t i k der religiösen Geschichts- u n d W e l t a u f f a s s u n g . 1 3 7 Ihre Arbeiten sind die Negation der Philosophie der V e r g a n g e n h e i t ; der p o s i t i v e Ü b e r g a n g z u r Philosophie der T a t wird in den Arbeiten von Cieszkowski u n d Heß gegeben. 1 3 8 D i e Hegelsche Philosophie r e c h t f e r t i g t u n d s a n k t i o n i e r t d a s Gewesene u n d S e i e n d e , MS Ebenda, S. 442/443. M6 M. Heß, a. a. 0 . , S. 77 ff. Ebenda, S. 77, 82-83, 86. 1 3 8 Ebenda, S. 85—86. Vgl. S. 89: „Was durch die moderne Wissenschaft Positives errungen werden kann, liegt nicht mehr im Gebiete der eigentlichen Philosophie, nicht mehr im Denken überhaupt, und träte es auch noch sehr als dogmatisches auf. Das Positive muß jetzt in einem andern Gebiete als der demgia gesucht werden. Das freie Denken verträgt sich mit keinem Dogmatismus. — Kann aber die Philosophie nicht mehr zum Dogmatismus zurückkehren, so muß sie, um Positives zu erringen, über sich selber hinaus zur Tat fortschreiten."
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sie ist keine Philosophie der Tat, die die Zukunft aufbaut. Hegel weiß und begreift nicht, was eine wahre T a t ist. 139 Auch die Auffassung der Natur als des „von sich selbst entfremdeten Geistes" ist unrichtig: die Natur ist „an und für sich" absolut, ebenso wie die Geschichte. 140 Das historisch-philosophische Fundament der Philosophie der T a t ist nach Heß die Hegeische Philosophie; diese selbst hat wiederum selbst die Schellingsche Naturphilosophie zur Voraussetzung, die auf dem Spinozismus beruht. 1 4 1 Unter den Werken Hegels nimmt die „Phänomenologie des Geistes" eine besondere Stellung ein, sie ist „das Buch der Bücher", das im Keim das ganze System Hegels enthält. 1 4 1 4 In einem Artikel über die gegenwärtige Krise der deutschen Philosophie von 1841 erblickt Heß in dem durch Rüge, Feuerbach und Bauer repräsentierten Junghegelianismus die Philosophie der Praxis. Das junghegelianische Denken überschreitet nach Heß die Grenzen einer kontemplativen Auffassung der Philosophie, hat ihre Quelle in der Hegeischen Philosophie des Selbstbewußtseins und bleibt dem Wesen der Sache nach dem Hegelianismus treu. 1 4 2 Bereits Hegel erkennt nichts Fertiges und Festes an, sondern ausdrücklich nur die Arbeit des Geistes. 143 Die Junghegelianer zerbrechen den abgeschlossenen Historismus Hegels, indem sie die Vergangenheit kritisieren und ihre Kräfte dem positiven Aufbau der Zukunft widmen. Die Aufsätze in den „Einundzwanzig Bogen", auf die sich Marx in den Pariser Manuskripten anerkennend bezieht, entwickeln das Heßsche Proj e k t der Philosophie der T a t als der philosophischen Begründung des 139 Ebenda, S. 82, 86, 89. Vgl. S. 79: „Der Hegelianismus umfaßt das ganze Gebiet des Denkens, vom phänomenologischen und logischen bis zum absoluten Wissen; er ist nur dann im Irrtum, wenn er glaubt, mehr als absolute GeistesPhilosophie zu sein, oder daß er schon als solche eo ipso auch die Tat umfasse." mo Ebenda, 1. 80-84. 1« Ebenda, S. 78. i«a Ebenda, S. 79-80. 142 Ebenda, S. 169: „Wenn einerseits behauptet werden muß, daß von der sogenannten 'junghegelschen Schule' die Grenze der Hegeischen Philosophie insofern überschritten wird, als man nicht im Idealismus oder bei der eigentlichen Philosophie, d. h. beim Denken allein stehenbleibt, sondern das, was in der Philosophie errungen worden — das adäquate Gottes- oder Selbstbewußtsein — nunmehr aufs Leben anwenden oder vielmehr dieses dem errungenen Selbstbewußtsein gemäß gestalten will; so darf andrerseits nicht verkannt werden, daß die neuere Richtung keine andere Grundlage, als die ideale der Hegeischen Philosophie hat." i « Ebenda, S. 170. 251
Kommunismus weiter. Nur in Deutschland, wo die Philosophie ihren Gipfel erreicht hat, kann sie sich selbst überwinden und zur T a t übergehen. 144 Heß konstruiert Parallelen zwischen F i c h t e und Babeuf, Hegel und Fourier — zwischen der deutschen Philosophie des autonomen Geistes und den französischen kommunistischen Theorien. 1 4 5 In beiden sieht er — weitgehend a b s t r a k t und spekulativ — die Manifestation und allmähliche Durchführung „des Grundprinzips der modernen W e l t " , nämlich der „absoluten Einheit allen Lebens". 1 4 6 Hier schimmert wieder ein spinozistisches Motiv durch, zu dessen Interpretation wir noch zurückkehren: Spinoza ist für Heß der „wahre Begründer" der deutschen Philosophie, und der Spinozismus liegt auch der französischen Gesellschaftstheorie, insbesondere dem Fourierismus, zugrunde. 147 Wenn so das „Prinzip der Neuzeit" in doppelt getrennter, aber paralleler Gestalt entdeckt ist, so geht es darum, es im Leben zu verwirklichen. Dazu fordert die Philosophie der T a t die Vereinigung der deutschen Philosophie und des französischen Kommunismus. 1 4 8 Reales Hindernis der Freiheit sind 'Staat und Kirche, man muß die Basis dieser Doppelerscheinung erfassen und beseitigen. 148 ® Einer der Hauptvorzüge des Kommunismus ist, daß in ihm der Gegensatz von Genuß und Arbeit verschwindet. 1 4 9 Die kommunistische Gemeinschaft ist die praktische Verwirklichung der philosophischen E t h i k , die in der freien Tätigkeit den wahren und einzigen Nutzen, das höchste Gut erblickt. Dagegen ist in der Gesellschaft isolierter egoistischer Besitzer „die freie Tätigkeit negiert und sie zur Arbeit des S k l a v e n " herabgewürdigt. 1 5 0 1« Ebenda, S. 198. "5 Ebenda, S. 199. Vgl. ebenda, S. 198, 199, 200, 201, 202. So S. 201: „Durch Fourier und llegel wurde der französische und deutsche Geist zu dem absoluten Standpunkte erhoben, auf welchem die unendliche Berechtigung des Subjekts, die persönliche Freiheit oder die absolut freie Persönlichkeit, und das Gesetz der nicht minder berechtigten objektiven Welt, die absolute Gleichheit aller Personen in der Gesellschaft, keine Gegensätze mehr, sondern die beiden sich gegenseitig ergänzenden Momente eines und desselben Prinzips sind, des Prinzips der absoluten Einheit allen Lebens." i « Ebenda, S. 200. «® Ebenda, S. 202. 148« Ebenda, S. 198. "9 Ebenda, S. 204. 150 Ebenda, S. 204, 206: „Zu irgendeiner Tätigkeit, ja zu sehr verschiedenartiger Tätigkeit hat jeder Mensch Lust — und aus der Mannigfaltigkeit der freien menschlichen Neigungen oder Tätigkeiten besteht d'- freie, nicht tote, gemachte, sondern lebendige, ewig junge Organismus der freien menschlichen Gesellschaft, der freien menschlichen Beschäftigungen, die hier dem 'Genuß' durchaus identisch sind."
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Der Artikel „Die Philosophie der T a t " spezifiziert die damalige Konzeption von Heß über die freie (kommunistische) Tätigkeit durch die Kritik der „Reflexion" und des „Dualismus". E r beginnt mit einem ontologischen Gedanken: „Nicht das Sein, sondern die That ist das Erste und Letzte." 1 5 1 Dieser Gedanke ist aber nicht original, er ist eine Paraphrase von Fichtes Darlegung des Kartesianischen „cogito". Schließlich erkennt Heß selbst an, daß er keine neue philosophisch-theoretische Wahrheit hervorbringen will. E r ist sich dessen bewußt, daß er die Gedanken der deutschen Transzendental-Philosophie wiederholt 152 , denn das Ziel des Sozialismus ist auch das Ziel des Idealismus. 153 Damit wir den spezifischen Charakter der philosophischen Begründung des Kommunismus durch Heß und eine Reihe verblüffender Gedanken, auf die wir dabei stoßen, begreifen, müssen wir die Gründe klären, die Heß dazu führen, daß er in der Philosophie der T a t drei Motive miteinander vereinigte: 1. die deutsche Transzendental-Philosophie, 2. den Spinozismus und 3. die Feuerbachsche Rcligionskritik, ausgedehnt auf das soziale und politische Leben. 154 Der Spinozismus ist für Heß die historische und logische Grundlage. „Die Basis der freien T a t ist die Ethik des Spinoza, und die vorliegende Philosophie der Tat soll eben nur eine weitere Entwicklung derselben sein. Fichte hat den Grundstein zu dieser Fortentwicklung gelegt; aber die deutsche Philosophie konnte als solche eben nicht über den Idealismus hinaus kommen . . . Für das Denken wird in Deutschland der Wert der IM E b e n d a , S. 2 1 0 : „Von der Kartcsischen Philosophie ist nur das erste Wort w a h r ; er konnte nicht cogito ergo sum, sondern nur cogito sagen. Das E r s t e (und Letzte), was ich erkenne, ist eben meine Geistestat, mein Erkennen. Der Geist, das zum Selbstbewußtsein erwachte Leben konstatiert seine Sichselbstgleichheit oder I d e n t i t ä t durch das Denken des Denkens. — . . . Gehen wir zur E x p l i kation dieses Aktes, so findeil wir dreierlei: ein Denkendes, ein Gedachtes, und die I d e n t i t ä t Beider, das Ich. 'Ich denke' h e i ß t : Ich stellt sich (oder setzt sich) sicli selber vor, als ein Anders, k o m m t aber durch die Aufhebung dieser Reflexion wieder zu sich, nachdem es gleichsam durch die E n t d e c k u n g seines eignen Lebens im Spiegel außer sich gekommen. E s sieht ein, daß das Spiegelbild sein eignes i s t . " IM Ebenda, S . 212. E b e n d a , S. 2 1 9 : „Das Ziel des Sozialismus ist kein anderes, als jenes des Idealismus ; es ist dieses: nichts von alle dem alten Plunder übrig zu lassen, als die Tätigkeit." 154 Vgl. ebenda, S. 2 1 3 : „Das theologische Bewußtsein ist die große Lüge, das Prin/.ipa aller Knechtschaft (und Herrschaft), welcher unser Geschlecht unterworfen ist . . . "
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Negation erkannt, für's Handeln nicht." 1 5 5 Freilich scheint es Heß erst nach einer zusätzlichen abstrakten und dem vorgefaßten S t a n d p u n k t angepaßten Kartierung der neuzeitlichen Philosophiegeschichte, daß Fichte der Initiator der neuen Entwicklung der Philosophie war, die auf Spinozas Ethik beruht; Fichte selbst betrachtete sich als ausgesprochener Antipode, als Leugner — und durchaus nicht als Fortsetzer — des Spinozismus. Eine schwierigere Frage, die bei der Heßschen Genealogie der kommunistischen „Philosophie der T a t " entsteht, ist jedoch eine andere: wie ist es damit, daß Spinozas Philosophie, die z. B. durch Jacobi 1 5 6 deshalb verworfen wird, weil sie prinzipiell die freie menschliche T a t leugnet, und die von einigen Gesinnungsgenossen von Heß, z. B. B. Bauer, als Philosophie der substantiellen Absorbtion und der Liquidierung des freien Menschen kritisiert wird, hier über alle anderen Philosophien in die Rolle des philosophischen Fundaments der kommunistischen freien Tätigkeit erhoben wird? 1 5 7 Wenn wir die Seite der Reminiszenz aus der frühen vorsozialistischen Schriftstellertätigkeit vernachlässigen, dann bilden das Geheimnis von Heß' kommunistischem Spinozismus die utopisch-kommunistischen Vorstellungen Fouriers von einer absoluten gesellschaftlichen Harmonie, die angeblich dadurch entsteht und dadurch automatisch erhalten wird, daß jederlei Druck, Nötigung, Bestimmung von außen verschwinden und jedes Individuum ausschließlich nach dem eignen Charakter und den eigenen Neigungen und völlig autonom handeln wird. 158 Dieses Ideal akzeptiert Heß, er findet zu ihm das philosophische Pendant und — wie er meint — die Grundlage in einigen Ideen Spinozas, die er ziemlich einseitig aus der Gesamtheit von Spinozas metaphysischer Konzeption ausgewählt hat. «5 Ebenda, S. 221. u* Vgl. F. H. Jacobi, Werke, Bd. 4,1812ff„ S. 26,223 u. a. 157 Vgl. M. Heß, a. a. 0 . , S. 220, 325, 363 u. a. IM Vgl. ebenda, S. 201, 206. Vgl. a. S. 202: „. . . Fourier . . . fand, daß jede Neigung gut ist, wenn sie nur nicht durch äußere Hindernisse gehemmt oder umgekehrt auch durch Reaktion krankhaft gereizt wird, sondern vollkommen frei hervortreten und ihre Tätigkeit applizieren kann. — Es ist dies das große Geheimnis, welches Spinoza schon in seiner Ethik ausgesprochen hat, das aber erst durch Fourier seine Bedeutung für die objektive Welt der menschlichen Gesellschaft, wie es andererseits durch Hegel erst seine wahre Bedeutung für die subjektive Welt des menschlichen Geistes gewonnen hat." Vgl. Engels Ansichten über Fouriers Ideal der Harmonie aus dem Frühwinter 1843, also aus einer Zeit, in der Engels noch annahm, daß der Kommunismus die notwendige Folge der junghegelsehen Philosophie ist. (F. Engels, Fortschritte der Sozialreforin auf dem Kontinent, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 1, S. 483.)
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Die Freiheit bestimmt Spinoza in der VII. Definition des 1. Buches der „Ethik" folgendermaßen: „Ea res libera dicitur, quae ex sola ad agendum determinatur: Necessaria autem, vel potius coacta, quae ab alio determinatur ad existendum, et operandum certa, ac determinate ratione."158® Das „Gute" ist bei Spinoza das, was unsere Wirkungskraft verstärkt, was uns erfreut.159 „Tugendhaftes" Handeln ist das Handeln nach den Gesetzen der eigenen Natur („ex legibus propriae naturae agere"). 160 Auf diese Ideen stützt Heß seine Betrachtungen über die kommunistische freie Tätigkeit als Identität von Arbeit und Genuß, über die Tugend,161 über den Sinn des menschlichen Lebens usw. In dieser Form stellt sich für Heß Spinozas Philosophie der Selbstbestimmung und der gesellschaftlich-menschlichen Autonomie dar. Diese gleiche Ethik Spinozas war dagegen in den Anfangsphasen der klassischen deutschen Philosophie für Jacobi der direkte Antipode zur Philosophie der Selbstbestimmung. Es genügte, daß Jacobi die Konsequenzen der Ansicht Spinozas in den Vordergrund stellte und widerlegte, daß lediglich die Substanz und diese einzige Substanz (d. h. die Natur, oder Gott) frei ist und daß der menschliche Wille nicht frei ist, daß alles was geschehen ist und geschieht, sich notwendig abspielt, so, wie es von der Substanz (dem Natur-Gott) 162 bestimmt ist. Einen so dargelegten „Das Ding soll frei heißen, das nur kraft der Notwendigkeit seiner Natur existiert und allein durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird; notwendig dagegen, oder besser gezwungen, das Ding, das von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken" (Benedict Spinoza, Ethik, Leipzig 1949, S. 4). Vgl. ebenda, S. 197. '60 Vgl. ebenda, S. 209. im Vgl. M. Heß, a. a. 0 . , S. 325: „Was ist aber Tugend? — Tätigkeit aus innerm Antriebe, beim Menschen, Tätigkeit aus menschlichem Antriebe. Folge ich meinen Handlungen, meinem iiinern Menschen, der Stimme meiner eigensten Natur oder meines Wesens, verleugne ich in meinem Leben meinen Charakter nicht, so bin ich ein tugendhafter, d. h. ein wahrer Mensch. . . . Hat die Tätigkeit ihren Bestimmungsgrund, ihre Triebfeder, außer sich, so ist sie eine Last «der ein Laster. Was ist Laster? — Der Zwang, den ich meiner innern menschlichen Natur antue, indem ich mich durch äußere Mächte — wirkliche oder eingebildete — zur Tätigkeit bestimmen lasse, erniedrigt und erdrückt mein wahres Leben."
,58a
102 Vgl. Spinoza, Ethica, vol. 1, prop. X X I X : „In rerum natura nulluni datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum et operandum." Prop. X X X I I : „Voluntas non potest vocari causa libera, sed tantum necessaria." Prop. X X X I I I : „Res nullo alio modo, neque alio ordine a Deo produci potuerunt, quam produetae sunt."
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Spinozismus kritisiert dann auch B. Bauer in seiner antisubstantialistischen Philosophie des Selbstbewußtseins usw. Die zweite Quelle der philosophischen Begründung des Kommunismus durch Heß ist die deutsche idealistische Transzendental-Philosophie, insbesondere ihre Auffassung vom freien Denken (dem durch nichts Außeres bestimmten, das sich nur selbst bestimmt, selbst schafft). Nach diesem Modell formuliert Heß analog seine Konzeption der „freien Tätigkeit", der „freien Praxis". Der Begriff der „Reflexion" in der spezifischen Bedeutung der deutschen spekulativen Philosophie spielt hier eine wichtige Rolle. Wo es ein Reflexionsverhältnis, Nichtidentität, Dualismus, Heteronomie gibt, dort gibt es keine Freiheit 163 , dort ist der Mensch — und hier tritt ein verallgemeinertes Feuerbachsches Motiv auf — in der Fessel des theologischen Bewußtseins. Beide charakterisieren sich wechselseitig: Wo es Reflexion gibt, dort ist theologisches Bewußtsein; wo es theologisches Bewußtsein gibt, dort ist Reflexion, Dualismus, Heteronomie. 164 Beide sind die dualistischen Wurzeln jeglicher Knechtschaft — der religiösen, der politischen und der sozialen. Hier tritt wieder deutlich der Idealismus der Philosophie der Tat von Heß zutage: Er meint, daß ein bestimmtes gedankliches Prinzip — der Dualismus, die Reflexion — alles Böse erzeugt h a t und daß das theologische Bewußtsein der Vater der politischen und sozialen Knechtschaft ist, aller materiellen Mächte und Institutionen, die den Menschen versklaven. 165 (Vgl. Ethik, a. a. 0 . , S. 31: „In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken." S. 33: „Der Wille kann nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern nur eine notwendige." S. 34: „Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht sind." >63 Vgl. M. Heß, a. a. 0 . , S. 213 ff. 164 Vgl. ebenda, S. 212/213: „. . . das in der Sackgassc der Reflexion festgerannte theologische Bewußtsein." Vgl. die Kritik an den Junghegelianern (ebenda, S. 219), daß sie auf dem Standpunkt der Reflexion, also dem theologischen Bewußtsein verharren, insofern sie das Objekt der Tätigkeit als etwas wirklich anderes als ein Moment der Tätigkeit selbst anerkennen. 165 Vgl. ebenda, S. 216: „Solange der Dualismus nicht überall, im Geiste wie im sozialen Leben, überwunden ist, hat die Freiheit noch nicht gesiegt. Die dualistische Weltanschauung mußte freilich in der Geschichte notwendig hervortreten. Aber die Lüge ist darum nicht minder Lüge. Unsere ganze bisherige Geschichte war sozusagen eine Notlüge. . . . Der Geist entwickelt sich an und in dem Widerspruch mit sich selbst." Vgl. S . 2 1 3 : Religion, der „religiöse Dualismus" ist der Vater, der „politische Dualismus" ist der Sohn.
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Heß assimiliert Hegels Idee, daß die Freiheit des Individuums in der Identifizierung m i t dem Allgemeinen besteht, in der Erkenntnis und „Realisierung" der I d e n t i t ä t von Besonderem und Allgemeinem. 1 6 6 E s scheint, daß er — zumindest in den Beiträgen zu den „Einundzwanzig B o g e n " — die Hegeische „Vereinigung" der individuellen Freiheit und des absoluten Charakters des gesellschaftlichen Ganzen philosophisch für e x a k t hält. In dieser Bewertung trennt er sich von den Junghegelianern, die in der Hegeischen Rechtsphilosophie richtig die Absorption der wirklichen menschlichen Individuen durch das Abstrakt-„AIlgemeine" erblickten. „Die Philosophie der T a t " bleibt im Bannkreis der spekulativen Philosophie, insbesondere der deutschen, aus deren verschiedenen Elementen Heß, der sich außerordentlich leicht in den Ebenen der höchsten Abstraktionen bewegt und fähig zu originalen abstrakten Kombinationen ist, seine „philosophische Begründung" des Kommunismus schafft. Mit der „ S u b s t a n z " Spinozas (als der Einheit von Produzieren und Produkt) geht Heß ebenso willkürlich um wie mit dem Fichteschen „ I c h " und dem Hegeischen „ G e i s t " und dem Feuerbachschen „Atheismus". Auf der Grundlage mehr oder weniger oberflächlicher Analogien sieht er in diesen Auffassungen die philosophische Grundlage oder das Modell der freien Tätigkeit, das im Geiste der utopisch-kommunistischen Vorstellungen Fouriers verstanden wird. B i s j e t z t haben wir die Heßsche „Philosophie der T a t " charakterisiert, wie sie in den Publikationen von 1843 formuliert wird, auf die sich Marx mit Respekt in den Pariser Manuskripten bezieht. Vom S t a n d p u n k t der Problematik aus, die wir verfolgen, verdienen außer den Aufsätzen von Heß von 1843 seine Manuskripte von 1844 besondere Aufmerksamkeit, die also etwa aus der gleichen Zeit wie die Pariser Manuskripte von Marx stammen. Über den Artikel „Über das Geldwesen", in dem die Theorie der ökonomischen Entfremdung167 formuliert ist, ist bekannt, daß ihn Marx als Rodakteur der „Deutsch-Französischen J a h r b ü c h e r " noch vor dem Untergang der J a h r b ü c h e r in der Hand gehabt hat. W i r wissen jedoch n i c h t 160 Vgl. ebenda, S. 215, 216ff. M" Der Artikel wurde erst 1845 veröffentlicht. Vgl. M. Heß, a. a. 0 . , S. 3 3 4 - 3 3 5 : „Was Gott für's theoretische Leben, das ist das Geld für's praktische Leben in der verkehrten Welt: das entäußerte Vermögen der Menschen, ihre verschacherte Lebenstätigkeit. . . . Die Menschen haben für den rein 'wissenschaftlichen' Ökonomen und Theologen gar keinen Wert. . . . Das Geld ist das Produkt der gegenseitig entfremdeten Menschen, der entäußerte Mensch." 17 Zeleny
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genau, in welcher Gestalt, können also keine exakt begründeten Schlußfolgerungen über den Einfluß dieses Artikels auf Marx ziehen. Allgemein kann vollkommen sicher behauptet werden — und die ernsthafte neuere Geschichtschreibung stimmt in dieser Hinsicht überein —, daß Heß die Marxsche Initiative vermittelt hat, die Entfremdungstheorie auf die Kritik der sozialen und ökonomischen Verhältnisse anzuwenden. 168 Mit dem Verhältnis der kommunistischen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und der klassischen deutschen Philosophie beschäftigen sich die Betrachtungen von Heß, die im Mai 1844, also etwas früher als die Marxschen „ökonomisch-philosophischen Manuskripte", geschrieben sind und die 1845 in dem Artikel „ ü b e r die sozialistische Bewegung in Deutschland" veröffentlicht wurden. Wir machen besonders auf die Verschiebung in der Bewertung der Philosophie von Fcuerbach und Hegel aufmerksam. Entgegen den Artikeln in den „Einundzwanzig Bogen" ist hier die philosophische Begründung des Kommunismus von der offenbaren Abhängigkeit von Spinoza und der deutschen spekulativen Philosophie losgelöst und stützt sich ziemlich ausdrücklich auf die Feuerbachsche Anthropologie. „Feuerbach weist nach, daß das objektive Wesen der vollendetesten Religion, des Christentums, das entäußerte Wesen des Menschen ist, und mit dieser einen Kritik hat Feuerbach die Grundlage aller theoretischen Irrtümer und Widersprüche zerstört — obgleich er es nicht systematisch durchführt, wie alle Gegensätze und Widersprüche aus dem sein Wesen entäußernden Menschen entstehen." 1 6 9 Feuerbach ist nach Heß der deutsche Proudhon. So wie Feuerbachs Kritik die Grundlage für die Erfassung und Überwindung aller theoretischen Kollisionen ist, so gelangt Proudhons grundsätzliche Kritik am Eigentum — obgleich Proudhon selbst das nicht zu Ende denkt — zur Grundlage des Begreifcns und der Überwindung aller praktischen Gegensätze und Kollisionen des sozialen Lebens. Keiner von beiden ist sich dessen bewußt, daß sie parallel vorgehen. „In der Tat aber braucht man nur den Fcuerbachschen Humanismus auf das Sozialleben anzuwenden, um zu den Proudhonschen praktischen Resultaten zu gelangen." 170 Wenn wir uns nämlich auf dem Feuerbachschen Standpunkt ebenso kritisch zu dem praktischen Gott, zum Geld, verhalten werden, wenn wir also Feuerbachs richtige Kritik an der christlichen l'S Vgl. W . Mönkc, im Vorwort zu M. Heß, a. a. 0 . , S. X L Y I : „mit der Übertragung der Feuerbachschen Auffassung der menschlichen E n t ä u ß e r u n g lind E n t f r e m d u n g auf das soziale und ökonomische Gebiet übte Heß Ende 1843 und Anfang 1844 einen gewissen Einfluß auf Marx a u s . " " » M. Heß, a. a. 0 . , S . 293. Ebenda.
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Religion auf die Politik u n d d a s soziale L e b e n a n w e n d e n , d a n n wird die Welt der L o h n a r b e i t und des S o n d e r e i g e n t u m s in ihren Wurzeln kritisiert werden. 1 7 1 W a r u m ist F e u e r b a e h nieht selbst zu diesen p r a k t i s c h e n K o n s e quenzen seines anthropologischen Prinzips g e k o m m e n ? F a u e r b a c h s T h e s e , d a ß die Theologie Anthropologie ist, ist richtig, a b e r sie ist nicht die g a n z e W a h r h e i t . „ D a s Wesen des Menschen, so m u ß h i n z u g e f ü g t werden, ist gesellschaftliches Wesen, Z u s a m m e n w i r k e n verschiedener Individuen auf d a s gleiche Ziel, a u s v o l l k o m m e n identischen Interessen, und die w a h r e Theorie des Menschen, der wahre H u m a n i s m u s ist die Theorie der menschlichen V e r g e s e l l s c h a f t u n g , d . h . , die Anthropologie ist S o z i a l i s m u s . " 1 7 2 A u c h F e u e r b a c h h a f t e t letzten E n d e s der allgemeine Mangel der deutschen Philosophie a n . „ D i e d e u t s c h e Philosophie als solche scheitert a n der P r a x i s , f ü r die sie keinen Sinn h a t , weil sie nur theoretisch ist." ( H e r v o r gehoben von J . Z . ) 1 7 2 a F e u e r b a c h h a t d e m Wesen der S a c h e nach nur die theoretische B e f r e i u n g vollendet, a b e r d a s P r o g r a m m der p r a k t i s c h e n B e f r e i u n g k o n n t e die d e u t s c h e Philosophie, insbesondere F e u e r b a e h , bereits nieht mehr geben. Vgl. ebenda, S. 293: „Man hat sich nämlich vom Feuerbachschen Standpunkte aus, nur eben so kritisch dem praktischen Gölte, dem Gclde, wie dem theoretischen gegenüber zu verhalten — oder man braucht nur das Wesen der vollendeten Politik, das Wesen des Rechtsstaates, ebenso richtig aufzufassen, wie er das Wesen der vollendeten Religion, des Christentums aufgefaßt hat, — um 172 Ebenda. die Krämerwelt aus ihren Fugen zu hoben . . . " 172a \ g l . ebenda, S. 295: „Die deutsche Philosophie scheitert an der Praxis, für die sie keinen Sinn hat, weil sie nur theoretisch ist. Als Praxis aber scheitert sie an dem Mangel philosophischer Durchbildung. Wir haben in ihr, sofern sie noch Philosophie ist, ihren allgemeinen Mangel entdeckt, und hieraus wird uns das Verhältnis der deutschen Philosophie zum Sozialismus klar. Das philosophische — um es noch einmal in wonigen Worten zusammenzufassen — das Verhältnis der vollendeten deutschen Philosophie, d. h. Feuerbachs, zum Sozialismus ist das Verhältnis des theoretischen Humanismus zum praktischen. Entsteht ein Konflikt zwischen dor denlschen Philosophie als solcher und dem Sozialismus, so kann dieser prinzipiell nur dadurch entstehen, daß die Erstere den Humanismus, das menschliche Leben, nicht als das Zusammenwirken der Menschen überhaupt, nicht als die menschliche Lebenstätigkeit im weitesten Sinne, sondern die Denklätigheii faßt, und dieser Konflikt ist wirklich entstanden." Vgl. S. 294: „Wo die deutsche Philosophie anfängt, praktisch zu werden, hört sie auf, Philosophie zu sein." Zu Feuerbachs Auffassung vom Wesen des Menschen vgl. S. 287: „ D a s Wesen des Menschen ist das 'Gattungswesen', wie Feuerbach sich etwas mystisch ausdrückt, es ist das Zu.sYHHmc/iwirken der Individuen, wie wir dies näher bestimmen müssen."
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17"
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In Übereinstimmung mit dieser Einschätzung der Feuerbachschen Anthropologie und mit der Annahme der kritischen Ideen der ökonomischen Entfremdung modifizieren sich die Darlegung und Kritik der Hegeischen Philosophie durch Heß etwas. Es verändert sich auch die Darlegung des Fichteschen subjektiven Idealisinus: In ihm wird bereits nicht der deutsche Beginn des Kommunismus erblickt, sondern nur die philosophische Rechtfertigung des freien Denkens und der Freiheit des egoistischen Handelns in der freien Konkurrenz. 1 7 3 Die Befreiung auf diesem S t a n d p u n k t des subjektiven Idealismus und der egoistischen Konkurrenz konnte jedoch nicht wahrhaft sein: das verkannte gesellschaftliche Wesen des Menschen macht sich dadurch bemerkbar, daß es sich wieder als äußere Macht gegen den Einzelmenschen stellt. 174 Parallel zu diesem Übergang des revolutionären Liberalismus in den Despotismus schwillt in Deutschland die Welle des alten Supranaturalismus und des Autoritätsglaubens a n : das war eine notwendige Reaktion auf die entfremdete Gemeinschaftlichkcit gegen die subjektive Freiheit der vereinzelten Individuen. Aber die Zeit konnte bereits keine einfache Rückkehr zur untrennbaren Herrschaft der entfremdeten Mächte mehr bringen, andererseits konnte auf diese Weise nicht die wirkliche Befreiung der menschlichen Individuen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenwirken erkämpft werden. „Eine heuchlerische Vermittelungsepoche t r a t ein, in welcher bald das entäußerte Gemeinwesen, bald der individuelle Liberalismus vorherrschte." 1 7 5 Diese Epoche der Restaurationen und Konstitutionen erzeugte — wie Heß meint — als ihre philosophischen Repräsentanten Schölling und Hegel. Der erste liefert die spekulative Grundlage für die sozialen Theorien und Bewegungen, in denen die entfremdete Macht der Gemeinschaft vorherrscht und das individuelle Subjekt völlig unterdrückt ist. Hegel ist im Unterschied zu Schölling für eine solche Vermittlung, durch die die Rechte des freien individuellen Subjekts nicht jeder Chance beraubt sind. Hegels Philosophie herrschte vor, denn sie bewies wissenschaftlich formuliert das Wesen des modernen Staates und seiner Voraussetzung, der bürgerlichen Gesellschaft. 176 Hegels logische
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Ebenda, S. 287. Ebenda, S. 288: „Je mehr aber der Einzelne sein Gemeinwesen von sich ausscheidet, desto mehr macht dieses sicli als sein höchstes Wesen ihm gegenüber geltend; der Kulminationspunkt des subjektiven Idealismus war daher, wie der des revolutionären Liberalismus, ein Umschlagen in den alten Despotismus." Ebenda, S. 288. Ebenda, S. 288—280: „Hegel hat seine Zeit lange befriedigt, weil er ihr klassischer Ausdruck war. Schelling hat im Grunde nur das Wesen der mittelalter-
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Dialektik ist, wenn wir sie auf ihre soziale Basis reduzieren, Ausdruck dieser Vereinigung der Gegensätze, die im realen Leben in der Bewegung der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft und des modernen bürgerlichen S t a a t e s realisiert wird; in ihm sind die „egoistischen Kämpfe . . . die Voraussetzung der S t a a t s m ä c h t e , die ihrerseits den Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufheben, sondern . . . in Schutz nehmen". 1 7 7 In den Manuskripten von 1844 gelangt Heß in der selbständigen kommunistischen Kritik der deutschen Philosophie, insbesondere Hegels, auf eine neue Stufe im Vergleich zur „Philosophie der T a t " . In der gleichen Zeit entsteht jedoch im Pariser Arbeitszimmer von Marx und dann in der Brüsseler Zusammenarbeit von Marx und Engels jene kommunistische K r i t i k an Hegel, deren entscheidende E t a p p e n aus den J a h r e n 1844—1845 wir in den vorhergehenden Kapiteln aufgeführt haben. E s ist eine Kritik, die nicht auf dem S t a n d p u n k t der Praktischmachung der Feucrbachschen Anthropologie stehenbleibt, sondern die zu neuen Konzeptionen fortschreitet, die die Horizonte der ursprünglich 1844 teilweise mit Heß übereinstimmenden Hegel-Kritik überschreitet. Zusammenfassend läßt sich die Entwicklung des Wechselverhältnisses zwischen der Marxschen und der Heßschen Konzeption der kommunistischen Kritik an der deutschen, insbesondere der Hegeischen Philosophie etwa folgendermaßen charakterisieren: liehen Hierarchie, Hegel hat das Wesen der mittelalterlichen Weltzustände und ihrer Auflösung, das Wesen des modernen Staates und seiner Voraussetzung, der bürgerlichen Gesellschaft, wissenschaftlich formuliert. Die logische Dialektik, auf ihre soziale Bedeutung reduziert, ist die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Assoziationen des Egoismus, die im 'Staate' oder richtiger in den Staaten, im 'Weltgeiste', in der Weltgeschichte, im 'absoluten Geiste', ebenso gut aufbewahrt wie aufgehoben sind. Die egoistischen Kämpfe sind die Voraussetzungen der Staatsmächte, die ihrerseits den Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufheben, sondern bewähren, bewahren, aufbewahren, in Schutz nehmen. — War Schelling mit seiner Identität der höheren Anschauung die spekulative Basis nicht nur zum neuen Christentum und Papsttum des St. Simon, so war Hegel mit seiner Dialektik die spekulative Basis zu dem Zwittersystem des Konstitutionalismus, wie auch zu dem Zwitter des Fourieristischen Sozialismus, der die Welt nur mit neuen Assoziationen des Egoismus beglücken möchte. — Hegel bekam in Deutschland, wie Fourier in Frankreich, das Übergewicht. Man wollte lieber in der subjektiven oder individuellen egoistischen Freiheit, als im objektiven Absolutismus und Depotismus zu weit gehen, lieber protestantisch und konstitutionell, als katholisch-hierarchisch sich einrichten." Ebenda. 261
1. Heß war der erste 1 7 8 , der überhaupt das wesentliche Verhältnis zwischen der klassischen deutschen Philosophie und der kommunistischen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu berücksichtigen begann. Wenn Marx als Redakteur der „Rheinischen Zeitung" die utopisch-eschatologischcn Elemente in den historischen Ansichten von Heß kritisiert 1 7 9 , dann manifestiert sich darin gleichsam als Vorzug von Marx seine Tendenz zur historischen Konkretheit, die ihm immer im Unterschied zu der Tendenz von Heß zu spekulativen Konstruktionen eigentümlich war; aber zugleich muß man sich dessen bewußt sein, daß damals Marx in dem eschatologischen Utopismus von Heß nicht nur den utopischen Sozialismus kritisierte, sondern auch den utopischen Sozialismus. 2. Der gemeinsame Aufenthalt in Paris und die Manuskripte von 1844 bedeuten die maximale theoretische Annäherung zwischen Marx und Heß. Auch Marx meint damals, daß die Feuerbachsche Anthropologie die „philosophischen Grundlagen des Kommunismus" bildet. 1 8 0 Man kann den wechselseitigen theoretischen Einfluß nachweisen. Zum Beispiel lassen die Marxschen Betrachtungen über den „groben Kommunismus" in den Pariser Manuskripten in Gedanken und Ausdruck den Einfluß von Heß durchscheinen. 1 8 1 Umgekehrt jedoch zitiert Heß Marx zustimmend und knüpft an ihn an. 1 8 2 Die theoretische Differenzierung in dieser Annäherungsperiode besteht hauptsächlich darin, daß a) Marx das „Prinzip der Spekulation" materialistisch kritisiert, also auf dem Standpunkt der Nichtidentität steht, der Feuerbachschen Anthropologie keinen philosophisch-spekulativen Sinn einer antireflexiven Konzeption der Wirklichkeit zugrunde legt; b) Marx sich positiv auf den empirischen Ausgangspunkt beruft, während für Heß der Empirismus das verdammungswürdigste Merkmal des theologischen Bewußtseins ist. 1 8 3 3. Die „deutsche Ideologie" bedeutet den prinzipiellen theoretischen Bruch mit der Heßschen „Philosophie der T a t " , mit der Heßschen „philosophischen Begründung" des Kommunismus und auch mit dem, was die Heßschen Manuskripte von 1844 geben. Marx distanziert sich prinzipiell von der Heßschen Konzeption der „freien kommunistischen T ä t i g k e i t " 178 Vgl. F. Engels, Fortschritte der Sozialreforni auf dem Kontinent, in: K. Marx F. Engels, Werke, Bd. 1, S. 494. ™ Vgl. MEGA, Teil I, Bd. 1/1, S. 231. 180 In dem Brief von Marx an Feucrbacli vom 11. August 1844, der erst vor kurzem entdeckt und erstmalig in der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus", H. 2/1958, veröffentlicht worden ist. 181 Vgl. M. Heß, a. a. 0 . , S. 214. i»2 Ebenda, S. 187 ff. ^Ebenda.
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als Modell eines voraussetzungslosen „freien spekulativen Denkens", von den Heßschen Versuchen einer naturalistisch-kosmologischen Begründung der Prinzipien des kommunistischen Lebens 1 8 4 usw. Die Ergebnisse der theoretischen Arbeiten von Heß werden nun als antiquiert betrachtet. 4. U m das J a h r 1847 k o m m t es dadurch zu einer neuen theoretischen Annäherung, daß Heß die Marxsche Theorie akzeptiert, daß er sich in seinen Publikationen zustimmend auf die materialistische Geschichtsauffassung von Marx beruft 1 8 5 und theoretisch kapituliert. E s ist von der Heßschen Seite her mehr der Versuch als die Fähigkeit, den neuen S t a n d punkt zu begreifen, und zum endgültigen B r u c h k o m m t es dann im F e b r u a r 1848. Marx
und
Rüge
Zu Beginn des J a h r e s 1845 — etwa in der gleichen Zeit, in der von Marx seine „Thesen über F e u e r b a c h " formuliert werden — schreibt Rüge eine große Abhandlung 1 8 6 , in der er Hegel der Kritik unterzieht und die E n t wicklung der ideellen Strömungen einschätzt, mit denen sich Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie" beschäftigen. Das Rugesche Panorama der „neuesten deutschen Philosophie" mündet in den Gedanken, daß die Vollendung der theoretischen Befreiung die praktische Befreiung ist, die sich nur durch die Bewegung der Massen im Sinne des praktischen Humanismus erreichen läßt. Versuchen wir, das Verhältnis der Rugeschen und der Marxschen HegelKritik zu beleuchten. Ruges Abhandlung enthält eine Reihe von Gedanken, die dem Marxschen Standpunkt nahe zu stehen scheinen. Das Prinzip nicht nur der Moral, sondern jeder Theorie und Praxis soll — so meint Rüge — der wirkliche lebendige Mensch sein. 1 8 7 Der deutsche Protestantismus und seine philosophischen Systeme, die Philosophie von K a n t und Hegel, bleiben religiös, verbleiben auf dem Boden des Christentums, d. h. der alten unfreien Auffassung. Die Anerkennung des Atheismus (die Negation Gottes) selbst ist noch keine Befreiung. An die Stelle des Atheismus muß die voraussetzungslose Wissenschaft v o n d e r N a t u r u n d vomMenschen treten, und hauptsächlich: damit das religiöse Problem in der Wirklichkeit und nicht nur in der Theorie entschieden werden kann, muß es zur sozialen Revolution und zur Umgestaltung der Gesellschaft kommen. 1 8 8 Vgl. ebenda, S. 334, 349 u. a. «5 Vgl. z. B. ebenda, S. 439, 442, 420. 180 A. Rüge, Werke, Bd. 6, 3. Aufl. Leipzig 1850, S. 1 - 1 3 4 : „Unsere letzten zehn Jahre. Über die neueste deutsche Philosophie an einen Franzosen." 2 Ebenda, S. 65. 269
sehen idealistischen F a s s u n g der D i a l e k t i k des S e l b s t b e w u ß t s e i n s u n d von der R u g i s c h - F e u e r b a c h s c h e n „ n e u e n R e l i g i o n " . 2 1 0 R u g e s S c h l u ß f o l g e r u n g von der N o t w e n d i g k e i t des U b e r g a n g s v o n der theoretischen zur p r a k t i s c h e n B e f r e i u n g , die nur „ d u r c h die B e w e g u n g der .Massen im S i n n e der T h e o r i e " 2 1 1 zu erreichen ist, h a t die A n n a h m e zur V o r a u s s e t z u n g , daß die Geschichte „ v e r n ü n f t i g " ist, daß diese „ V e r n u n f t " (Sinn) der Geschichte theoretisch durch die Anthropologie e n t d e c k t worden ist u n d es sich folglich d a r u m h a n d e l t , durch die philosophische K r i t i k , die m i t der M a s s e n b e w e g u n g v e r b u n d e n ist, die E m a n z i p a t i o n des Menschen zu verwirklichen. Die Theorie, die realisiert werden soll, ist der „ p r a k t i s c h e H u m a n i s m u s " , den R ü g e ziemlich u n b e s t i m m t als „ A b leitung der g a n z e n O r d n u n g der menschlichen G e s e l l s c h a f t a u s den F o r d e r u n g e n aller I n d i v i d u e n auf eine w a h r h a f t menschliche E x i s t e n z " 2 1 2 definiert. Die Ähnlichkeit m i t den M a r x s c h e n Thesen über F e u e r b a c h (insb e s o n d e r e m i t den Thesen I I I , V I I I und X I ) ist eine nur scheinbare Ähnlichkeit.
4.
KAPITEL
D a s „ E l e n d der
Philosophie":
Nochmals über Hegels absolute Methode
I m „ E l e n d der P h i l o s o p h i e " (1847) b e s c h ä f t i g t sich M a r x d e s h a l b m i t Hegel im Z u s a m m e n h a n g m i t der K r i t i k a n P r o u d h o n , weil er in ihren Methoden Analogien erblickte bzw. weil er die methodologische A b h ä n g i g keit P r o u d h o n s v o m Hegeischen dialektischen I d e a l i s m u s beweisen wollte. E b e n s o wie Hegel eine b e s t i m m t e m e t a p h y s i s c h e Methode z. B . auf d a s Unwahrheit befreit und ihre Wahrheit, d. h. ihre freie Existenz hervorbringt." Vgl. ebenda, S. 353 über die „Forderung des ganzen Menschen, sich zu verwirklichen, sich in jeder Hinsicht zum Menschen zu machen, seine wahre Wirklichkeit zu erreichen". 2'» Vgl. ebenda, Bd. 4, S. 248. 211 Vgl. ebenda, B d . 6, S. 134: „Das Ende der theoretischen Befreiung ist die praktische. Die Praxis aber ist nichts anders als die Bewegung der Massen im Sinne der Theorie, der Herzschlag der ewig jungen Welt." 2>2 Ebenda, S. 65. 269
R e c h t a n w e n d e t und so die R e c h t s p h i l o s o p h i e in eine a n g e w a n d t e m e t a physische Logik verwandelt, ähnlich handelt — nach Marx — Proudhon in der P o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e . F ü r P r o u d h o n sind e b e n s o wie für H e g e l die Dinge u n d realen g e s e l l s c h a f t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e I n k a r n a t i o n e n v o n K a t e g o r i e n 1 , das P r o u d h o n s c h e ideologische S y s t e m 2 g i b t die M e t a p h y s i k der Politischen Ökonomie.3 Zu der P r o b l e m a t i k , die wir verfolgen, t r ä g t das „ E l e n d der P h i l o s o p h i e " v o r allem die v e r h ä l t n i s m ä ß i g e z u s a m m e n h ä n g e n d e k r i t i s c h e
Darlegung
d a r ü b e r bei, was die H e g e i s c h e „ a b s o l u t e M e t h o d e " i s t , a u c h wenn die D a r l e g u n g w i e d e r u m p o l e m i s c h e i n g e e n g t wird. 4 D e m M e t a p h y s i k e r — s a g t M a r x , w o b e i er offensichtlich v o r allem die H e g e l s c h e
spekulative
P h i l o s o p h i e m e i n t — erscheinen die logischen K a t e g o r i e n als S u b s t a n z e n und die Dinge dieser W e l t als b l o ß e S t i c k e r e i e n a u f einem G e w e b e , das v o n d e n logischen K a t e g o r i e n g e b i l d e t wird. „ E b e n s o wie wir d u r c h A b s t r a k tion j e d e s D i n g in eine logische K a t e g o r i e v e r w a n d e l t h a b e n , b r a u c h t m a n n u r v o n j e d e r u n t e r s c h e i d e n d e n E i g e n s c h a f t der v e r s c h i e d e n e n B e w e g u n gen zu a b s t r a h i e r e n , u m zur B e w e g u n g im a b s t r a k t e n Z u s t a n d e , z u r rein f o r m e l l e n B e w e g u n g , zu der rein logischen F o r m e l der B e w e g u n g zu g e l a n gen. H a t m a n e r s t in den logischen K a t e g o r i e n das W e s e n aller Dinge g e f u n d e n , so b i l d e t m a n sich ein, in der logischen F o r m e l d e r B e w e g u n g die absolute
Methode
zu finden, die n i c h t n u r alle D i n g e e r k l ä r t , sondern
die a u c h die B e w e g u n g der Dinge u m f a ß t . E s ist dies die a b s o l u t e M e t h o d e , von der Hegel s a g t : „ D i e M e t h o d e ist die a b s o l u t e , die einzige, die h ö c h s t e , unendliche K r a f t , der kein D i n g w i d e r s t e h e n k a n n . S i c ist die T e n d e n z der V e r n u n f t , sich selbst in j e d e m Dinge wiederzufinden,
wiederzuerkennen
( L o g i k , B d . I I I ) . . . W a s ist s o m i t diese a b s o l u t e M e t h o d e ? Die A b s t r a k tion der B e w e g u n g . W a s ist die A b s t r a k t i o n der B e w e g u n g ? Die B e w e g u n g im a b s t r a k t e n Z u s t a n d e . W a s ist die B e w e g u n g im a b s t r a k t e n Z u s t a n d e ? Die rein logische F o r m e l der B e w e g u n g oder die B e w e g u n g der reinen V e r n u n f t . W o r i n b e s t e h t die B e w e g u n g der reinen V e r n u n f t ? S i c h zu s e t zen, sich selbst e n t g e g e n z u s e t z e n , und schließlich wieder m i t sich s e l b s t in eins zu setzen, sich als T h e s e , A n t i t h e s e , S y n t h e s e zu f o r m u l i e r e n , oder schließlich sich zu setzen, sich zu negieren und ihre N e g a t i o n zu n e g i e r e n . " 5 K . M a r x , Das Elend der Philosophie, i n : K. .Marx/1'. Engels, Werke, Bil. 4, Herlin 1959, S. 127/128. 2 Ebenda, S. 127. ^ Ebenda, S. 129 1
'• Und in einigen Formulierungen noch einseitig, z. B . ebenda, S. 129- „So ist für llegel alles, was geschehen ist lind noch geschieht, genau das, was in seinem eigenen Denken vor sich geht . " s Ebenda, S. 128. 270
Z u e r s t m u ß e r k l ä r t w e i d e n , was er hier m i t „ B e w e g u n g "
(mouvement)
n i e i n t . E s h a n d e l t sich n i c h t u m die m e c h a n i s c h e B e w e g u n g u n d ihre a b s t r a k t e , f o r m a l i s i e r t e z. B . m a t h e m a t i s c h e
Ausdrucksform.
Z u s a m m e n h a n g l ä ß t sich f e s t s t e l l e n , d a ß v o r allem der
Aus
dem
geschichtliche
B e w e g u n g s p r o z e ß und die industrielle A r b e i t g e m e i n t sind, d a ß es sich also u m die g r u n d l e g e n d e s t r u k t u r e l l e B c w o g u n g s f o r m der m e n s c h l i c h e n P r a x i s h a n d e l t . 6 D a b e i ist die reine logische B e w e g u n g s f o r m , d. h . die rein logische F o r m e l des g e s c h i c h t l i c h e n und A r b e i t s p r o z e s s e s in der H e g e l sehen A u f f a s s u n g der „ B e g r i f f " , die spezifische prozessierende
logische
S t r u k t u r der V e r m i t t l u n g , die S t r u k t u r der N e g a t i o n der N e g a t i o n . Ä h n l i c h h a b e n H e g e l s N e g a t i o n der N e g a t i o n b e r e i t s die „ ö k o n o m i s c h philosophischen Manuskripte" dargelegt, nur m i t dem Unterschied, M a r x d o r t als p r i m ä r e die
Struktur
der
Q u e l l e der H e g e i s c h e n N e g a t i o n
Weltgeschichte
Marx-Feuerbachschen
betrachtete,
gefaßt
der im
daß
Negation
Geiste
K o m m u n i s m u s von 1 8 4 4 , des K o m m u n i s m u s
des als
N e g a t i o n der N e g a t i o n , als W i e d e r e r w e r b u n g des m e n s c h l i c h e n G a t t u n g s wesens. Die G e s c h i c h t l i c h k e i t
wird also,
a n g e f a n g e n v o n den „ T h e s e n
ü b e r F e u e r b a c h " u n d der „ D e u t s c h e n I d e o l o g i e " und n a c h E n t f e r n u n g der teleologisch-eschatologischen
Elemente
hegelisch-feuerbachschen
Ur-
s p r u n g s 7 t i e f e r als in den P a r i s e r M a n u s k r i p t e n v e r s t a n d e n : als individuelle und gesellschaftliche
menschliche
Tätigkeit,
die a u c h z u r
Entstehung
n e u e r , b i s h e r u n b e k a n n t e r L e b e n s f o r m e n f ü h r t . D e r Z u s a m m e n h a n g in der G e s c h i c h t e e n t s t e h t d u r c h a u s n i c h t d a d u r c h , d a ß die G e s c h i c h t e die R e a l i sierung der n o t w e n d i g e n E n t w i c k l u n g d e r I d e e n w ä r e , also ein ( ü b e r z e i t licher) Entwicklungszusammenhang
von
I d e e n in i r g e n d e i n e r
überper-
s ö n l i c h e n V e r n u n f t der M e n s c h h e i t — wie P r o u d h o n u n t e r d e m E i n f l u ß v o n H e g e l m e i n t . W e n n er die g e s c h i c h t l i c h e B e w e g u n g so hegelisch f a ß t , d a n n ist es n o c h k e i n e G e s c h i c h t e . 8 D e n n a u c h P r o u d h o n , w i e d e r u m in den ,J
Vgl. ebenda, S. 128: „Alles, was existiert, was auf der Erde und im Wasser lebt, existiert nur, lebt nur vermittelst irgend welcher Bewegung. So erzeugt die Bewegung der Geschichte die sozialen Beziehungen, die industrielle Bewegung gibt uns die industriellen Produkte e t c . " E b e n d a : „ I s t jedes Ding auf eine logischc Kategorie und jede Bewegung, jeder Produktionsakt auf die Methode reduziert, so folgt daraus, daß jeder Zusammenhang von Produkten und Produktion, von Dingen und Bewegung sich auf eine angewandte Metaphysik reduziert." Vgl. a. S. 135/136, 159.
' Vgl. oben, S . 215 ff. * K. Marx, Das Elend der Philosophie, i n : a. a. 0 . , S. 134. Vgl. den Brief von Marx an Annenkow vom Dezember 1846 (in: Werke, Bd. 4, S. 5 4 9 ) : „Unfähig, die wirkliche Bewegung der Geschichtc zu verfolgen, liefert Herr Proudhon
271
Fußstapfen Hegels, kann behaupten, „daß es nicht exakt ist, wenn wir sagen, daß etwas geschieht, daß sich etwas bildet (se quelque chose se produ.it); in der Zivilisation ebenso wie im Weltall existiert alles, und alles wirkt seit jeher . . . " Dagegen ist f ü r Marx keinerlei Bewegungszusammenhang in der Geschichte durch irgendwelche invariablen ewigen Gesetze und Prinzipien vorherbestimmt; er entsteht vielmehr dadurch, daß die wirklichen tätigen und handelnden Menschen (les hommes actifs et agissants) 9 der folgenden Generationen die von den vorhergehenden Generationen erreichten Ergebnisse umgestalten. 1 0 In der Geschichte schafft die menschliche Tätigkeit auch neue Inhalte und Formen, die bis dahin nicht existiert haben. Die Menschen, die zugleich Autoren und Spieler ihrer Geschichte sind, besitzen die Fähigkeit, „sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen." 1 1 Wenn in der Erfassung der Geschichtlichkeit als der Grundlage der Hegeischen Idee der Negativität das „Elend der Philosophie "weiter geht als die Pariser Manuskripte, dann bleibt ein Vorzug der Pariser Kritik von Marx an Hegels „absoluter Methode" der Versuch, seine differenzierte Anwendung in der „Phänomenologie des Geistes" und in der „Wissenschaft der Logik" zu erklären. Zu dieser Frage — in der Tiefe und Breite der Absicht, die fragmentarisch inden „ökonomisch-philosophischen eine Phantasmagorie, die den Anspruch erhebt, eine dialektische Phantasmagorie zu sein, . . . Mit einem Wort: das ist Hegelsclies abgedroschenes Zeug, das ist keine Geschichte, keine profane Geschichte — Geschichte der Menschen — sondern heilige Geschichte — Geschichte der Ideen. Nach seiner Ansicht ist der Mensch bloß das Werkezeug, dessen sich die Idee oder die ewige Vernunft zu ihrer Entwicklung bedient." 9 K. Marx, Das Elend der Philosophie, i n : a. a. 0 . , S. 135. 10 Ebenda, S. 130. Vgl. den Brief an Annenkow (a. a. 0 . , S. 548:) „Man braucht nicht hinzufügen, daß die Menschen ihre Produktivkräfte — die Basis ihrer ganzen Geschichte — nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generation ist. Dank der einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen." 11 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K. Marx/ F. Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115.
272
Manuskripten" verwirklicht ist — ist Marx jedoch nie wieder zurückgekehrt. Insofern es sich um die Auffassung des „Verhältnisses des Bewußtseins" handelt, also um das Verhältnis der Kategorien und überhaupt der theoretischen Formen zur Wirklichkeit, steht die Marxsche Kritik an Proudhons verdünntem und degradiertem Hegelianismus vollkommen auf der in der „Deutschen Ideologie" ausgearbeiteten Position 1 2 und wird in einigen klassischen Formulierungen ausgedrückt. Erklären, warum in einer bestimmten Zeit bestimmte Ideen und Kategorien herrschten, bedeutet zu untersuchen, wie die Menschen dieser oder jener Zeit waren, „welches ihre jedesmaligen Bedürfnisse, ihre Produktivkräfte, ihre Produktionsweise, die Rohstoffe ihrer Produktion, welches endlich die Beziehungen von Mensch zu Mensch waren, die aus allen diesen Existenzbedingungen hervorgingen." 1 3 Der wirkliche Ausgangspunkt für die rationale Erfassung der realen Geschichte und Kategorien können nur die praktisch handelnden Menschen sein. Daraus ergibt sich bei Marx nicht nur die prinzipielle Verwerfung der „absoluten Methode" in der Hegeischen oder Proudhonschen Bedeutung, sondern auch allgemein der überhistorischen Geschichtsphilosophie, die etwas anders wäre als eine Wissenschaft, die aus der kritischen Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung geschöpft wäre. 14 Im „Elend der Philosophie" sind im Kontrast zu Proudhons Hegelscher ideologischer Konzeption des Ausgangspunktes die neuen praktischmaterialistischen Methoden der wissenschaftlichen Erklärung des Ursprungs und der profanen Geschichte der ökonomischen Kategorien klar umrissen, — die gleichen Methoden, die dann die Marxsche Analyse und Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie im „Kapital" orientieren. Jedoch ist nicht die Frage des teilweisen Unterschiedes im historischen Charakter der ökonomischen Kategorien einerseits, der logischen Kategorien andererseits, die bisher nicht als historisch vorübergehende erscheinen, z. B . der logischen Kategorie der Quantität, gestellt und erklärt 1 5 ; was für die ökonomischen Kategorien gilt, ist in einigen Formulierungen von Marx allgemein über die Kategorien überhaupt ausgesagt. 12
Siehe oben.
13
K . Marx, Das Elend (1er Philosophie, i n : a. a. 0 . , S. 135. Vgl. K . M a r x / F . Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 371. Vgl. K . Marx, Das Elend der Philosophie, i n : a. a. 0 . , S. 127.
15
1S Zeleny
273
5.
KAPITEL
Etappen der Marxschen Hegel-Kritik
B i s j e t z t haben wir die Marxsche kritische Auseinandersetzung mit Hegel verfolgt, wie sie in den Arbeiten von 1844—1847, von den Pariser Manuskripten bis zum „Elend der Philosophie" zum Ausdruck kommt. Unsere Interpretation war zugleich bemüht, Antwort auf die Frage zu geben, welche Etappen in diesem bestimmten Zeitabschnitt — den wir für entscheidend bei der Ausarbeitung der selbständigen theoretischen Grundkonzeptionen von Marx halten -- die Marxsche Hegel-Kritik durchlaufen hat. J e t z t wollen wir die bisherige Analyse dadurch ergänzen, daß wir die untersuchte Periode wieder in die gedankliche Gesamtentwicklung von Marx einordnen und von diesem umfassenderen Gesichtspunkt aus nach den Etappen der Marxschen Hegel-Kritik fragen. Mehr Platz werden wir natürlich den Etappen widmen, mit denen wir uns bisher nicht beschäftigt haben. Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit bedeutet natürlich nicht, daß wir aufhören, in der Periode von 1844—1847 die wichtigste, philosophisch reichste und bedeutsamste Phase der Marxschen Hegel-Kritik zu erblicken. 1. Wenn wir den bekannten Marx-Brief an seinen Vater von 1837 beiseite lassen, der die jugendliche Begeisterung an dem gerade entdeckten philosophischen Lehrer ohne Merkmal einer selbständigen kritischen Einstellung zum Ausdruck bringt, dann kann uns die Doktordissertation von Marx über die „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie" (1841) die erste Etappe seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Hegeischen Philosophie repräsentieren. Insbesondere in zwei Punkten distanziert sich der junge Marx bereits damals von der Hegeischen Philosophie — und wenn auch nicht in der scharfen äußeren F o r m , dennoch inhaltlich ausgeprägt und radikal: E r bekennt sich zum Atheismus, der mit einer gewissen Verabsolutierung des freien menschlichen Selbstbewußtseins 1 zusammenhängt (was ihn i Vgl. z. B. MEGA, Teil I, Bd. 1/1, S. 10: „Das Bekenntnis des Prometheus: änXä> Xoyq> TOVQ NDVTag ¿XÄAIGW öeovg ist ihr (der Philosophie) eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anor•274
B . B a u e r a n n ä h e r t ) u n d g i b t a u s d r ü c k l i c h die H e g e i s c h e K o n z e p t i o n des „ P r i n z i p s d e r S p e k u l a t i o n " 2 (der I d e n t i t ä t v o n S u b j e k t u n d O b j e k t ) als obersten philosophischen S t a n d p u n k t auf, der das Kriterium des Wertes d e r D e n k e r d e r V e r g a n g e n h e i t sein soll; i n f o l g e d e s s e n u n t e r s c h e i d e t er sich v o n H e g e l in d e r E i n s c h ä t z u n g e i n e r R e i h e v o n D e n k e r n , z. B . E p i kurs. M a r x i n t e r e s s i e r t e d a m a l s „ d e r Z y k l u s des g r i e c h i s c h e n philosop h i s c h e n S e l b s t b e w u ß t s e i n s " als P r o b l e m des e r s t e n A u s b r e c h e n s des selbstbewußten individuellen Menschen aus den Fesseln der N a t u r . 3 E s i s t o f f e n s i c h t l i c h , d a ß diese P r o b l e m a t i k — wie d a s L e b e n d a s selbstb e w u ß t e L e b e n d e r m e n s c h l i c h e n I n d i v i d u e n w i r d — auf d e m B o d e n des H e g e l i a n i s m u s e n t s t e h t . 4 A u c h ist z. B . die E i n s c h ä t z u n g E p i k u r s als „ A u f k l ä r e r " bei H e g e l 5 u n d M a r x ä h n l i c h . I n einigen w e s e n t lichen P u n k t e n l ö s t sich j e d o c h M a r x n i c h t n u r v o n d e r H e g e i s c h e n E i n s c h ä t z u n g los, s o n d e r n b e g r ü n d e t eine u n t e r s c h i e d l i c h e u n d gegens ä t z l i c h e A n s i c h t . W e n n H e g e l t r o t z d e r teilweise p o s i t i v e n B e w e r t u n g e i n i g e r G e d a n k e n m e i n t e , d a ß E p i k u r s G e d a n k e n „ l e e r e W o r t e " seien 6 , d a n n i s t die z u s a m m e n f a s s e n d e E i n s c h ä t z u n g v o n M a r x v o l l k o m m e n a n d e r s . E p i k u r i s t d e r P h i l o s o p h des f r e i e n m e n s c h l i c h e n S e l b s t b e w u ß t seins, a u c h w e n n dieses S e l b s t b e w u ß t s e i n n u r in d e r F o r m d e r I n d i v i d u a l i t ä t g e f a ß t wird.7 I n d e r D i s s e r t a t i o n t r i t t M a r x f ü r d e n konkreten Charakter des H i s t o r i s m u s ein, obgleich dieser H i s t o r i s m u s idealistisch u n d f a s t a u s s c h l i e ß l i c h in d e r G e s c h i c h t e d e r P h i l o s o p h i e u n d d e r B e z i e h u n g d e r P h i l o s o p h i e z u r W e l t d u r c h g e f ü h r t ist.8 D a s F i c h t e s c h e M o t i v s c h e i n t in d e r M a r x s c h e n A n s i c h t d u r c h , d a ß d e r t h e o r e t i s c h e I n h a l t d e r P h i l o s o p h i e v o n d e r P e r s ö n l i c h k e i t des P h i l o s o p h e n kennen. Es soll Keiner neben mir sein." Das Vorwort ist etwas später geschrieben als die Dissertation, aber auch in ihr -- vgl. ebenda, S. 81 u. a. — äußert sich Marx ähnlich. 2 In dem Sinne, wie es Hegel z. B. formuliert in: Werke, Bd. 6, § 35. Vgl. die unterschiedliche Anschauung von Marx und Hegel über die Kantsche Kritik des ontologischen Gottesbeweises (MEGA, ebenda, S. 80, 440). 3 Vgl. MEGA, Teil 1, Bd. 1/1, S. 31. Vgl. die Darlegung der „Phänomenologie des Geistes" über die antike Philosophie des Selbstbewußtseins, s G. W. F. Hegel, Werke, Bd 18, S. 498. u Ebenda, S. 500 ' MEGA, Teil I, Bd. 1/1, S. 51. S Ebenda, S. 14, 131, 133, 155, 190, 316.
275
abhängig ist. Erste Voraussetzung der philosophischen Forschung ist es, „ein kühner, freier Geist" zu sein. 9 In der Dissertation verfolgt Marx, wie eine bestimmte Naturauffassung Hand in Hand mit einer bestimmten Auffassung vom Menschen und umgekehrt geht. 10 2. Die zweite Etappe der Marxschen Hegel-Kritik repräsentiert vor allem der handschriftliche Kommentar zur Hegeischen Rechtsphilosophie von 1843. Wenn sich in der Doktor-Dissertation der Verfasser von Hegel in der Hinsicht distanzierte, daß er seine „Einseitigkeit" 1 1 korrigieren wollte, dann beginnt jetzt im Verhältnis zur Hegeischen Philosophie die totale Kritik der spekulativen Philosophie. Dies fordert erstmals der Marxsche Beitrag zu den Rugeschen Anekdota, der Anfang 1842 geschrieben ist: Man muß sich von den Begriffen und Vorurteilen der bisherigen spekulativen Philosophie frei machen, wenn man zu dem Ding, wie es ist, gelangen will, d. h. zur Wahrheit; es gibt keinen anderen Weg zur Wahrheit und Freiheit als durch diesen „Feuerstrom" — durch Feuerbach, der das reinigende Medium der Gegenwart ist. 12 In dieser zweiten Etappe akzeptiert Marx im Prinzip die Feuerbachsche Methode der Kritik an der Hegeischen spekulativen Philosophie, wie dieser sie in den „Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie" formuliert: „Die Methode der reformatorischen Kritik der spekulativen Philosophie überhaupt unterscheidet sich überhaupt nicht von der bereits in der Religionsphilosophie angewandten. Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt, und so als zum Objekt und Prinzip machen — also, die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit." 1 3 0 Ebenda, S . 15, 21, 122. 1» Ebenda, S. 21, 31, 44, 92. 11 Ebenda, S . 9. Vgl. das Vorwort zur Dissertation über das Verhältnis zur Hegeischen Philosophie: „Hegel hat zwar das Allgemeine der genannten S y steme im Ganzen richtig bestimmt, allein bei dein bewunderungswürdig großen und kühnen Plane seiner Geschichte der Philosophie, von der überhaupt erst die Geschichte der Philosophie datiert werden kann, war es teils unmöglich, in das Einzelne einzugehen, teils hinderte den riesenhaften Denker seine Ansicht von dem, was er parexcellence spekulativ nannte, in diesen Systemen die hohe Bedeutung zu erkennen, die sie für die Geschichte der griechischen Philosophie und den griechischen Geist überhaupt h a b e n . " « Ebenda, S. 175. 13
L . Feuerbach, Zur Kritik der Hegeischen Philosophie, Berlin 1955, S. 70.
276
In dieser Hinsicht sieht Marx auf dieser zweiten E t a p p e das Geheimnis der Hegeischen Philosophie darin, daß die Tätigkeit der wirklichen Menschen als der primären S u b j e k t e der gesellschaftlichen Tätigkeit — ebenso wie die (aus der Tätigkeit der Individuen abgeleitete) Tätigkeit der wirklichen gesellschaftlichen kollektiven S u b j e k t e — von Hegel verdreht als Erscheinung, Manifestation, vermittelndes Glied der Tätigkeit von etwas anderem, Ursprünglicherem, nämlich der absoluten Idee interpretiert wird. So entsteht der „logische, pantheistische Mystizismus" Hegels. 14 Die verschiedensten Formen der wirklichen Vermittlung, durch die sich der menschlich-gesellschaftliche Lebensprozeß bildet — u. a. das Zusammenspiel von Umständen und unabhängigen Individuen, oder umgekehrt die willkürliche Wahl, die von den Menschen innerhalb gewisser Grenzen vollzogen wird —, sind als bloße Erscheinung der Selbstvermittlung der Idee, des Prozesses, der hinter dem Vorhang abläuft, dargestellt. Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst ausgegeben, sondern als irgendeine andere Wirklichkeit, die als das R e s u l t a t der sich selbstschaffenden Tätigkeit der Ideo betrachtet wird. 15 „Die Idee wird versubjektiviert und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum S t a a t wird als ihre innere imaginäre Tätigkeit gefaßt. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des S t a a t s ; sie sind die eigentlich T ä t i g e n ; aber in der Spekulation wird es umgekehrt. Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen S u b j e k t e , bürgerliche Gesellschaft, Familie, „Umstände, Willkür" etc. — zu unwirklichen, anderes bedeutenden objektiven Momenten der I d e e . " 1 6 Der logische, pantheistische Mystizismus geht bei Hegel Hand in Hand mit der Vergöttlichung des S t a a t s , mit einem etatistischen Mystizismus, weil für ihn die R e a l i t ä t der Idee (der absoluten Vernunft) der monarchisch-konstitutionelle bürgerliche S t a a t ist. „Hegel geht vom S t a a t aus und m a c h t den Menschen zum versubjektivierten S t a a t ; die Demokratie geht vom Menschen aus und m a c h t den S t a a t zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung." 1 7 K. Marx, Aus der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313), in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 206. 15 Ebenda, S. 208/209. Vgl. S. 207: „. . . Die Bedingung wird als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Produzierende wird als das Produkt seines Produkts gesetzt . . .". Vgl. ebenda, 228/229, 241 u. a. 16 Ebenda, S. 206. » Ebenda, S. 231. 14
Hegel ist der Interpret des modernen Staates, wie er sich von der französischen antifeudalen Revolution herleitet. 18 Marx schätzt 19 an Hegels Rechtsphilosophie, daß sie tief in das Wesen des modernen bürgerlichen Staates eindringt; sie wird jedoch zum konservativen Apologeten des bürgerlichen Staates in der Form der konstitutionellen Monarchie dadurch, daß dieser Staat als Verkörperung der ewigen Vernunft ausgegeben wird.20 Insofern es sich um die Methode der wissenschaftlichen Erklärung und Ableitung handelt, sieht Marx den Formalismus von Hegel darin, daß die Notwendigkeit, der notwendige Zusammenhang aller Gegenstände in der „wissenschaftlichen Logik" prädestiniert ist. 21 Wenn die Doktor-Dissertation die Aufgabe der philosophischen Kritik darin erblickt, daß es erforderlich ist, die individuelle Existenz des Wesens, die spezifische Wirklichkeit der Idee 22 , festzustellen, dann fordert Marx jetzt vielmehr, daß die Wirklichkeit das Kriterium der Idee sein soll.23 Die Hegeische Idealisierung der konstitutionellen Monarchie ist im Marxschen Kommentar zur Rechtsphilosophie von 1843 noch nicht vom Standpunkt der kommunistischen Perspektive aus kritisiert. In der „Demokratie" als der wahren Staatsform erblickt daher Marx die Überwindung der politischen Entfremdung, die in allen Staatsformen außer der Demokratie existiert. „Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als »8 Ebenda, S. 288 »9 Ebenda, S. 257 ff. 20 Ebenda, S. 242. 2 1 Ebenda, S. 213: „ E r (Hegel — J . Z.) entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken. Es handelt sich nicht darum, die bestimmte Idee der politischen Verfassung zu entwickeln, sondern es handelt sich darum, der politischen Verfassung ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte (der Idee) zu rangieren, eine offenbare Mystifikation. Eine andre Bestimmung ist, daß die 'verschiedenen Gewalten', 'durch die Natur des Begriffs bestimmt sind' und darum das Allgemeine sie 'auf notwendige Weise hervorbringt'. Die verschiedenen Gewalten sind also nicht durch ihre eigene Natur bestimmt, sondern durch eine fremde. Ebenso ist die Notwendigkeit nicht aus ihrem eignen Wesen geschöpft, noch weniger kritisch bewiesen. Ihr Schicksal ist vielmehr prädestiniert durch die „Natur des Begriffs", versiegelt in der Santa Casa (der Logik) heiligen Registern." 22 Vgl. MEGA, Teil 1, Bd. 1.1, S. 22.
278
23 Ebenda, S. 281.
sein eigenes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen . . ," 2 4 Dagegen ist in der Analyse der Hegelschen Philosophie noch nicht der kritische Gedanke der ökonomischen E n t fremdung angewendet: er wird zum kritischen Zentralmotiv auf einer weiteren E t a p p e der Marxschen Auseinandersetzung mit Hegel werden, zu der die Artikel in den „Deutsch-Französischen J a h r b ü c h e r n " den Übergang bilden. 3. Die dritte Etappe der Marxschen Hegel-Kritik sehen wir folglich in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" formuliert, während 4. die „Deutsche Ideologie" und das „Elend der Philosophie" uns eine neue, die vierte Etappe repräsentieren. Die Charakteristik dieser beiden Etappen und ihres Verhältnisses haben wir bereits ausführlicher weiter oben zu geben versucht. 2 5 Die Frage, ob es in der weiteren gedanklichen Entwicklung von Marx im Verhältnis zur Hegeischen Philosophie zu solchen Veränderungen und Modifikationen kommt, die man als eine neue spezifische E t a p p e seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegel bezeichnen könnte, muß unserer Ansicht nach negativ beantwortet werden. Das Verhältnis von Marx zu Hegel bleibt dem Wesen der Sache nach so, wie es prinzipiell nach einer verhältnismäßig komplizierten Entwicklung auf der vierten Etappe, in der „Deutschen Ideologie" und im „Elend der Philosophie", geklärt wurde. Auf dieser Grundlage bewegen sich auch die Betrachtungen über die Methode der politischen Ökonomie in der ursprünglichen „Einleitung" zu der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie" und in dem Werk „Grundrisse" und im „ K a p i t a l " ebenso wie die entsprechenden wertenden und kritischen Charakteristiken Hegels im Marxschen Briefwechsel 26 usw. Vergleichen wir jetzt die Ergebnisse unserer Untersuchung damit, wie Marx selbst seine gedankliche Entwicklung eingeschätzt h a t — auch wenn uns klar ist, daß die eigene Einschätzung nicht immer die adäquateste ist und daß man ihr nicht die Rolle eines Schiedsrichters bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Etappen der gedanklichen Entwicklung von Marx geben kann. Auf unsere Problematik beziehen sich insbesondere zwei Selbstcharakteristiken von Marx; die in ihnen enthaltenen Bewertungen kann man nämlich f ü r fast identisch betrachten. M Ebenda, S. 231.
& Vgl. S. 213ff.
26 Vgl. z. B. K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1963, S. 260, 274; Bd. 30, Berlin 1964, S. 207; Bd. 31, Berlin 1965, S. 234, 306; Bd. 32, Berlin 1965, S. 52; Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 124, 232, 276 u. a.
279
a) Die „Deutsche Ideologie" drückt sich gegenüber der vorhergehenden theoretischen Entwicklung von Marx folgendermaßen aus: „Indem Feuerbach die religiöse Welt als die Illusion der bei ihm selbst nur noch als Phrase vorkommenden irdischen Welt aufzeigte, ergab sich von selbst auch für die deutsche Theorie die von ihm nicht beantwortete Frage: Wie kam es, daß die Menschen sich diese Illusionen 'in den Kopf setzten'? Diese Frage bahnte selbst für die deutschen Theoretiker den Weg zur materialistischen, nicht voraussetzungslosen, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kritischen Anschauung der Welt. Dieser Gang war schon angedeutet in den 'Deutsch-Französischen Jahrbüchern', in der „Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" und „Zur Judenfrage". Da dies damals noch in philosophischer Phrasologie geschah, so gaben die hier tradionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie 'menschliches Wesen', 'Gattung' pp. den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, die wirkliche Entwicklung mißzuverstehen und zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke . . ." 2 7 b) Das Vorwort von Marx zu der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 führt bei der Rekapitulierung der theoretischen E n t wicklung des Verfassers u. a. an : „. . . im Frühling 1845 . . . beschlossen wir (mit Engels — J . Z.), den Gegensatz unserer Ansicht gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten, in der T a t mit unserem ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen. Der Vorsatz wurde ausgeführt in der Form einer Kritik der nachhegelschen Philosophie. . . . Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unseren Hauptzweck erreicht hatten — Selbstverständigung . . . Die entscheidenden Punkte unserer Ansicht wurden zuerst wissenschaftlich, wenn auch nur polemisch, angedeutet, in meiner . . . Schrift 'Misère de la philosophie etc.' . . ." 2 8 Wenn Marx in der ersten Eigeneinschätzung die Kontinuität betont, muß unbedingt berücksichtigt werden, daß er unmittelbar auf den an ihn gerichteten Vorwurf Stirners reagiert, daß seine Konzeption des „Menschen" in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" identisch mit der Feuerbachschen sei und sich also auf sie vollständig Stirners Kritik an der Feuer27
28
K. Marx, Die deutsche Ideologie, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 3. Berlin 1956, S. 217/218. K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in : K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1962, S. 10.
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bachschen Anthropologie als einer inkonsequenten Philosophie des wirklichen Menschen beziehe, die nicht die Grenzen der „theologischen" Philosophie überschreite. Marx h a t t e in seiner Abgrenzung recht, als er darauf hinwies, daß seine soziologisch-politische u n d geschichtliche Auffassung des Menschen bereits in den „Deutsch-Französischen J a h r b ü c h e r n " 2 9 — auch wenn sie von der Feuerbachschen Anthropologie b e w u ß t ausging u n d sich auf sie bis zu den „Thesen über F e u e r b a c h " berief — bereits damals die Horizonte der Feuerbachschen Philosophie überschritten h a t t e u n d in sich die Keime der späteren Entwicklung enthielt, die in den p r a k tischen Materialismus der „Thesen über F e u e r b a c h " u n d der „Deutschen Ideologie" m ü n d e t e . Eine gewisse Diskontinuität in dieser Entwicklung, die äußerlich u. a. in der radikalen Veränderung in der Einschätzung der Feuerbachschen Anthropologie u n d dem in wesentlicher Weise modifizierten Verhältnis zu Heß u n d P r o u d h o n zum Ausdruck k o m m t , scheint uns jedoch unbestreitbar, und in dieser Hinsicht h a t die zweite Eigeneinschätzung recht, die diese Diskontinuität b e t o n t u n d von der „Abrechn u n g m i t dem eigenen ehemaligen philosophischen Gewissen" spricht, das die „Deutsche Ideologie" d u r c h g e f ü h r t h a t . Es ist nicht nötig, diese Formulierung so zu verstehen, daß u n t e r das „ehemalige philosophische Gewissen" alle Arbeiten von Marx in gleicher Weise subsumiert werden m ü ß t e n , die vor der „Deutschen Ideologie" geschrieben worden sind. Hier werden nicht die Übergangsstufen bestritten, sondern es wird n u r k o n s t a t i e r t , daß erst in der „Deutschen Ideologie" die völlige Klärung gebracht wurde und sie die Preisgabe des philosophischen „ideologischen" S t a n d p u n k t e s vollendete. W e n n wir also beide a n g e f ü h r t e Eigeneinschätzungen von Marx m i t ihrem K o n t e x t interpretieren, so k a n n m a n sagen, daß sie sich nicht wechselseitig ausschließen u n d daß sie auch nicht im Widerspruch zu der Schlußfolgerung stehen, die sich f ü r uns — soweit es sich um die E t a p p e n der Marxschen Hegel-Kritik h a n d e l t — aus der Analyse der Marxschen F r ü h s c h r i f t e n ergeben haben. 3 0 Auch wenn die veröffentlichte L i t e r a t u r , die sich m i t Marx beschäftigt, bisher — soweit uns b e k a n n t ist — sich nicht die Aufgabe gestellt h a t , die 29
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Vgl. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschon Hechtsphilosophie, Einleitung, in: a. a. O., S. 378: „Der Mensch, das ist die Weltdes Menschen, Staat, Sozietät." Auf einem offensichtlichen Mißverständnis oder Übersehen ruht die nicht näher erklärte Bemerkung von Habermaß (Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S. 288), nach der Marx' Abrechnung mit den eigenen älteren philosophischen Bewußtsein auf die fünfziger Jahre angesetzt wird. 281
Marxsche Hegel-Kritik unter Berücksichtigung aller ihrer Etappen zuanalysieren 31 , so wendet sie sich doch zumindest einigen Fragen zu, die wir untersucht haben, und es wird folglich zweckmäßig sein, sich mit ihr auseinanderzusetzen, insofern dort unterschiedliche Schlußfolgerungen begründet werden. Die einflußreiche und in vieler Hinsicht wertvolle Arbeit von Löwith32 „Von Hegel zu Nietzsche" leidet, insofern sie von der Marxschen Kritik der spekulativen Philosophie und Hegels insbesondere spricht, darunter, daß sie nicht die Etappen der Marxschen Kritik erklärt und ihnen nicht die notwendige Aufmerksamkeit schenkt. Darüber hinaus sind einige der Löwithschen Gegenüberstellungen von Marx und den Junghegelianern usw. anachronistisch, so wenn z. B. Löwith behauptet, daß Marx im Gegensatz zu Stirners These vom Eigentum des Einzigen die Enteignung fordert, „um dem Menschen als 'Gattungswesen' die Welt als die seine zu eigen zu geben." 33 Hier werden die Konzeptionen von Marx aus einer vergangenen und überwundenen Etappe auf die späteren Etappen übertragen, und die Kontroverse Marx—Stirner erscheint verzerrt. Calvez versteht die Etappen der Marxschen Entwicklung als allmähliche Befreiung von den verschiedenen „Entfremdungen". 3 4 Man kann gewiß mit Calvez übereinstimmen, wenn er bei der allgemeinen Charakteristik der gedanklichen Entwicklung von Marx sagt, daß die entscheidende Klärung 31
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Vgl. die Feststellung von Lukäcs, daß eine Monographie fehlt, in der die verschiedenen Etappen der Überwindung der idealistischen Dialektik Hegels analysiert werden (in dem Aufsatz „Die philosophische Entwicklung des jungen Marx", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 2, 1954, S. 288). K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, 5. Aufl., X Stuttgart 1964. Löwith war z. B. bereits in den dreißiger Jahren einer der wenigen Philosophen, die begriffen, daß die „ökonomisch-philosophischen Manuskripte und die Deutsche Ideologie die bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte der nachhegelschen Philosophie waren" (ebenda, S. 295). Ebenda, S. 120: „Im Gegensatz zu dieser (Stirnerschen — J. Z.) These vom Eigentum des 'Einzigen' hat Marx eine Enteignung gefordert, um dem Menschen als 'Gattungswesen' die Welt als die seine zu eigen zu geben. Stirner und Marx philosophieren einander entgegen in derselben Wüste der Freiheit: der sich selbst entfremdete Mensch von Marx muß das Ganze der bestehenden Welt durch eine Revolution verändern, um im Anderssein bei sich selbst sein zu können; das los und ledig gewordene Ich von Stirner weiß umgekehrt nichts anderes zu tun als in sein Nichts zurückzukehren, um die Welt, so wie sie ist, zu verbrauchen, soweit sie ihm brauchbar ist." J. Y. Calvez, La pensee de Karl Marx, Paris 1956.
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der Marxschen dialektischen Methode als Einheit von Theorie und Praxis in die J a h r e 1845—1847 fällt und daß es von dieser Periode an zwar zu einer Bereicherung und Präzisierung kommt, daß sich aber dem Wesen der Sache nach seine Grundkonzeption bereits nicht ändert. 3 5 Aber in der konkreteren Darlegung zeigt sich, daß Calvez ebenso wie viele andere Marxologen nicht den Übergang von den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" zur „Deutschen Ideologie" erklärt. Das ist überhaupt das Experimentum crucis für die neuere Literatur über Marx und auch für die umfassendere Diskussion zwischen der sogenannten humanistischen und szientistischen, der sogenannten existentialen und essentiellen Tendenz im modernen Marxismus, da diese Diskussionen ebenfalls m i t verschiedenen Interpretationen des jungen Marx operieren. Die F r a g e der E t a p p e n der Marxschen Hegel-Kritik analysiert Calvez nicht 3 6 , und erstellt sie auch nicht reflektierend, sondern er beschränkt sich auf die Feststellung, daß die Einstellung von Marx zu Hegel komplizierter ist als die zu Bauer, Stirner oder Feuerbach und führt dann einige Marxsche Hegeleinschätzungen aus verschiedenen Perioden an. E r meint, daß die kritische Einstellung von Marx zur Hegeischen Dialektik, die z. B . in dem bekannten Nachwort zur zweiten Ausgabe des „ K a p i t a l s " oder in dem Brief von 1858 darüber, wie die „Wissenschaft der L o g i k " für die Marxsche Methode der Darlegung der Kritik der politischen Ökonomie gedient hat, sich in den J a h r e n 1838—1844 formierte und daß die Marxsche Kritik der 35
Ebenda, S. 36: „Rappelons la nature du mouvement qu'accomplirent sa pensée comme sa vie : elle ont un centre dans la prise de conscience de l'unité de la théorie et de la praxis. Dans ce centre, toute la suite du développement est donné, tandisque'en deçà de ce centre la méthode n'est encore présente que de maniéré confuse. Ce haut sommet de la méthode dialectique est atteint des 1845—1847. On peut dire qu'a partir de cette époque sa pensée s'enrichie at précisée. Pour l'essentiel, elle ne s'est pa modifiée. Il est donc absolutement illégitime d'opposer un jeune Marx an un Marx vieilli et durci . . ." („Erinnern wir uns an den Charakter der Bewegung, die sowohl sein Denken als auch sein Leben erfüllt : sie steht im Zentrum, wenn er sich der Einheit von Theorie und Praxis bewußt wird. In diesem Zentrum ist die ganze weitere Entwicklung gegeben, wobei andererseits durch diesen Kernpunkt die Methode nicht völlig dunkel dargestellt wird. Dieser Gipfelpunkt der Dialektik wird 1845—1847 erreicht. Man kann sagen, daß von diesem Zeitpunkt an sein Denken bereichert und präzisiert wird, es wird aber nicht verändert. Es ist daher vollkommen ungerechtfertigt, einen jungen Marx und einen alten und starren Marx einander gegenüberzustellen . . .").
36 Ebenda, S. 121—122,320, 338—345 (Kap. „Dialectique hégélienne et dialectique marxiste"). 283
„Phänomenologie" in den Pariser Manuskripten typisch für die gesamte Kritik der Philosophie durch Marx ist. 37 Wenn unsere vorhergehende Analyse richtig ist, dann kann man also sagen, daß Calvez die vierte Etappe der Marxschen Hegel-Kritik auf die dritte reduziert. Ähnlich verfährt Popitz3®, mit dem Unterschied, daß er vielleicht in der Weltliteratur den zusammenhängendsten Versuch unternommen hat, die Etappen der Marxschen Hegel-Kritik zu analysieren: 1. Dissertation, 2. Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie auf der Grundlage der Feuerbachschen Methode 39 , 3. die Pariser Manuskripte, in denen Marx nach Popitz das „System der Entfremdung" konzipiert 4 0 , dessen Grundlage die „Philosophie der Arbeit" ist. 41 Hier sind diejenigen philosophischen Grundlagen der Marxschen Methode ausgearbeitet — so meint Popitz, ähnlich wie vor ihm Marcuse —, die auch im „Kapital" dem Wesen der Sache nach unverändert bleiben. Nach Popitz stellen die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" von Marx den „Angelpunkt" dar, an dem die Motive der frühen Entwicklung zusammenlaufen und kulminieren. „Der spezifische Charakter des Marxschen Denkens tritt hier am deutlichsten ans Licht. Auf der Grundlage einer gründlichen Interpretation der Pariser Manuskripte kann die weitere Entwicklung bis zum „Kommunistischen Manifest" in verständlicher Weise an verschiedenen Merkmalen gezeigt werden." 4 2 Popitz nennt die Pariser Manuskripte das „bedeutendste Werk des jungen Marx". 43 Damit kann man sich einverstanden erklären, wenn es in dem Sinne gemeint ist, daß zur Überwindung der falschen und vereinfachenden naturalistisch3? Ebenda, S. 122. 38 H. Popitz, Der entfremdete Mensch, Basel 1953. 3° Ebenda, S. 69: „Zunächst ist das methodologische Prinzip der 'Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie' zu betrachten. Der Ausgangspunkt bildet eine Kritik der Hegelschen Spekulation. Hier stützt sich Marx fast ausschließlich auf Feucrbachs Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie . . ." Andererseits warnt jedoch Popitz vor einer Überschätzung des Feuerbachschen Einflusses auf Marx und bestreitet die Feuerbachperiode von Marx: „Marx stimmte 1845 mit Feuerbach höchstens noch in der Terminologie überein, sachlich hatte er sich in der Pariser Zeit ungeachtet der hohen Anerkennung von Feuerbach distanziert und die unmittelbare Auseinandersetzung mit Hegel wiederaufgenommen. Aber auch für die frühere Zeit ist Feuerbachs Einfluß begrenzt." (Ebenda, S. 68) Ebenda, S. 113. « Ebenda, S. 115. « Ebenda, S. 3.
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« Ebenda.
p o s i t i v i s t i s c h e n D a r l e g u n g v o n M a r x , z. B . a u s d e r F e d e r K . K a u t s k y s , die H e r a u s g a b e d e r P a r i s e r M a n u s k r i p t e als des b e d e u t e n d s t e n W e r k s in d e m S i n n e m i t g e w i r k t h a t , d a ß sie d i r e k t z u r R e v i s i o n d e r I n t e r p r e t a t i o n n ö t i g t e , die in e i n e r b e s t i m m t e n Zeit u n d in b e s t i m m t e n K r e i s e n ü b l i c h war. W e n n jedoch Popitz' Herausstellung der theoretischen Bedeutung der P a r i s e r M a n u s k r i p t e v e r h ü l l t , d a ß d e r j u n g e M a r x t h e o r e t i s c h gleich unmittelbar nach den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" tiefer u n d w e i t e r ging, w e n n f ü r P o p i t z d e r j u n g e M a r x t h e o r e t i s c h in d e n P a r i s e r M a n u s k r i p t e n kulminiert, also d a s A u f s t e i g e n v o n h i e r zu d e n „ T h e s e n ü b e r F e u e r b a c h " u n d z u r „ D e u t s c h e n I d e o l o g i e " n i c h t als tiefere u n d k o n s e q u e n t e r e K l ä r u n g d e r gleichen P r o b l e m a t i k auf d e m W e g e g e s e h e n w i r d , d e r in d e n „ D e u t s c h - F r a n z ö s i s c h e n J a h r b ü c h e r n " u n d in d e n „ Ö k o n o m i s c h p h i l o s o p h i s c h e n M a n u s k r i p t e n " b e s c h r i t t e n w u r d e , d a n n g e r ä t die E i n s c h ä t z u n g v o n P o p i t z in W i d e r s p r u c h zu u n s e r e r v o r h e r g e h e n d e n E i n schätzung. P o p i t z k e n n t M. H e ß n i c h t u n d b e r ü c k s i c h t i g t n i c h t die P r i o r i t ä t d e r A r t i k e l v o n H e ß a u s d e n „ E i n u n d z w a n z i g B o g e n a u s d e r S c h w e i z " bei d e r I n t e r p r e t a t i o n d e r P a r i s e r M a n u s k r i p t e als eines S y s t e m s d e r E n t f r e m d u n g . So w e r d e n d e n n D i n g e als originale G e d a n k e n v o n M a r x g e f a ß t , die einf a c h a u s d e n A n s i c h t e n v o n H e ß ü b e r d a s Geld als ö k o n o m i s c h e E n t f r e m d u n g usw. ü b e r n o m m e n sind. W e n n P o p i t z d i e t h e o r e t i s c h - p h i l o s o p h i s c h e E n t w i c k l u n g v o n M a r x auf der Stufe der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" stehenbleiben l ä ß t , d a n n k a n n e r m i t e i n e r gewissen B e g r ü n d u n g in d e m g e d a n k l i c h e n M o t i v v o n d e r „ V e r w i r k l i c h u n g des m e n s c h l i c h e n W e s e n s " bei M a r x eine humanistische Eschatologie erblicken44 und den Zusammenhang der säkularisierten E n t f r e m d u n g s t h e o r i e mit dem christlichen Mythus von der E r b s ü n d e u n d d e r E r l ö s u n g skizzieren. 4 3 D a m i t ist j e d o c h n i c h t n a c h g e w i e s e n , d a ß dies f ü r d e n M a r x s c h e n t h e o r e t i s c h e n S t a n d p u n k t n a c h d e n „ T h e s e n ü b e r F e u e r b a c h " gilt. Lukäcs — w e n n wir u n s auf seine N a c h k r i e g s a r b e i t e n ü b e r d e n „ J u n g e n H e g e l " u n d „ Z u r p h i l o s o p h i s c h e n E n t w i c k l u n g des j u n g e n M a r x (1840— 1844)" beschränken46 — h a t nachdrücklich u n d verdienstvoller Weise darauf a u f m e r k s a m g e m a c h t , d a ß M a r x bei d e r K r i t i k a n H e g e l u n d aller v o r « Ebenda, S. 12-13. « Ebenda, S. 21. 46 G. Lukäcs, Der junge Ilcgel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1954, insbes. S. 622—639; ders., Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx (1840—1844), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1954, S. 288-343.
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hergehenden Philosophie dadurch einen entscheidenden theoretischen Fortschritt erzielt, daß er die Kritik der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie mit der Kritik an der Hegeischen Philosophie vereinigt. 47 Lukäcs konzentriert jedoch dabei sowohl die idealistische Dialektik Hegels als auch die Marxsche Hegel-Kritik ausschließlich auf das Problem der Entfremdung. 4 8 Dabei sieht Lukäcs die Schicksale dieser seiner Meinung nach zentralen 4 9 philosophischen Konzeption der Hegeischen idealistischen Dialektik in der antihegelianischen Kritik der vierziger J a h r e in einer vereinfachten Perspektive 5 0 : Nach Hegel kommen Feuerbach, derdie „große Wendung zum Materialismus" vollzieht, der aber zugleich die kritische Konzeption der Entfremdung lediglich auf die Religion bezieht, und dann sofort Marx, und zwar der Marx der Pariser Manuskripte, in der „seit Hegel zum erstenmal in Deutschland wieder auftretenden Vereinigung der ökonomischen und philosophischen Gesichtspunkte in der Behandlung aller Probleme der Gesellschaft und der Philosophie selbst." 50 ® Es fehlt völlig die Klärung des Verhältnisses von Heß und Marx hinsichtlich ihrer damaligen Auffassungen von der sozial-historischen und ökonomischen E n t fremdung. Lukäcs nimmt alles als bare Münze wissenschaftlicher Erklärung der wirklichen ökonomischen Tatsache der Entäußerung 5 1 , was Marx in den Pariser Manuskripten über die „Entfremdung der Arbeit" auf der Grundlage der ersten Bekanntschaft mit der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie sagt. Die weitere Entwicklung der Marxschen Konzeption der Entfremdung und Überwindung der Entfremdung, zu der er bald nach den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" in der „Deutschen Ideologie" kommt, ist nicht erfaßt und interpretiert. Es scheint vielmehr im Gegenteil, daß Lukäcs in der Marxschen Konzeption aus den Pariser .Manuskripten die Vollendung, den Abschluß der progressiven theoretischphilosophischen Entwicklung von Marx erblickt. Nach ihm gibt Marx in den Pariser Manuskripten der Kategorie der Entfremdung erstmals einen wissenschaftlich gefaßten historisch-gesellschaftlichen Sinn. 52 Er spricht ' 7 Ebenda, S. 331: „Die beiden Kritiken gehören daher eng zusammen und werden dementsprechend von Marx intensiv ineinander gearbeitet." Vgl. G. Lukäcs, Der junge Hegel, S. 623-624. '•'•> Ebenda, S. 624. W Ebenda, S. 6 2 3 - 6 2 4 . •">»» Ebenda, S. 623. Ebenda, S. 627. 32
Vgl. G. Lukäcs, Zur philosophischen Entwicklung . . ., in: a. a. 0 . , S. 335—336: „Bei der materialistischen Umstülpung dieser Kategorie, ihrer Verwendung zum Kampf gegen die Religion ist bei Fcuerbacli jedoch — infolge der metaphy-
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zwar dann davon, daß die Pariser Manuskripte „jene reine, klassische Ausarbeitung des historischen Materialismus" vorbereiten, die bald darauf in der „Deutschen Ideologie" und im „Elend der Philosophie folgen". 53 Aber die Frage, worin dieses „Reifen" von Marx besteht, ob es überhaupt einen gewissen Unterschied zwischen den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" und der „reifen" Formulierung der Marxschen Dialektik gibt, bleibt bei Lukacs nicht nur im Dämmerlicht, sondern in vollständigem Dunkel. Ahnlich fixiert die Betrachtung über den Unterschied zwischen Marxscher und Feuerbachscher Hegel-Kritik 54 den Marxschen Standpunkt lediglich auf dem Niveau der Pariser Manuskripte. Lukacs hat die „Deutsche Ideologie" niemals begriffen. A. Cornu stellt sich zwar in seiner bisher unvollendeten Biographie von Marx und Engels, die mehr wertvoll durch die erstaunlich große Breite und Zuverlässigkeit des gesammelten Materials als durch die theoretische Tiefe der Untersuchung ist, gegen die allgemeine Behandlung des Marxschen Verhältnisses zu Hegel 55 und fordert die konkrete Analyse der Etappen. Dabei realisiert er diese Forderung selbst nur teilweise — seine Monographie gelangt dabei nur bis zur „Heiligen Familie" und nur als Nebenaufgabe eines umfassenderen Vorhabens, auch fehlt nicht selten die Interpretation der spezielleren philosophischen Probleme, z. B. aus dem letzten Kapitel der Pariser Manuskripte, wo die Textparaphrase eine kritische Interpretation aufdrängt. Hyppolites Einwand gegen Cornu56, daß dieser den Marx des „Kapitals" vom philosophischen Denken des jungen Marx losreißt, berücksichtigt nicht in ausreichender Weise, daß der junge Marx eine gedankliche Entwicklung durchläuft. Hyppolite hat gewiß recht, wenn er betont, daß das sischen Schranken seines anthropologischen Gesichtspunkts — die breite Gesellschaftlichkeit und Historizität, die diese Kategorie, — wenn auch idealistisch verzerrt — bei Hegel h a t t e , verlorengegangen. Marx hat nun — in seinen vorhergehenden Schriften seit „Zur J u d e n f r a g e " und auf bisher höchstem Niveau in der K r i t i k der klassischen Ökonomie — der Kategorie Entfremdung, E n t äußerung einen qualitativ neuen, weil erstmals wissenschaftlich gefaßten historisch-gesellschaftlichen Sinn gegeben. . . . Die „ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx stellten somit die zentrale Überwindung sowohl des Hegeischen Idealismus, wie auch j e n e r logischen Fehler, die aus dem idealistischen Charakter der Hegeischen Dialektik folgen, d a r . " "-1 E b e n d a , S. 3 3 9 . G. Lukacs, Der junge Hegel, S . 636. A. Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels, B d . 2, Berlin 1962, S. 204. s® J . Hyppolite, É t u d e sur Marx et Hegel, Paris 1955, S. 172.
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„ K a p i t a l " positiv und vielseitig mit den Ideen des jungen Marx, — z. B . der „Deutschen Ideologie" — zusammenhängt, aber wir müssen hinzufügen, daß sie doch unbestreitbar ein W e r k des jungen Marx und des jungen Engels ist. Wenn jedoch der Einwand von Hyppolite gegen die These, daß „Marx allmählich seinen anfänglichen theoretischen Standpunkt a u f g a b " bedeuten soll, daß z. B . das Verhältnis von Marx zur Hegeischen „Phänomenologie" im „ K a p i t a l " dasgleiche ist wie in den Pariser Manuskripten, dann wird eine objektive Analyse Hyppolite kaum recht geben, und von unserem Standpunkt aus gilt dasselbe, was im Zusammenhang mit der ähnlichen Ansicht von Calvez gesagt worden ist. Unsere Analysen und Schlußfolgerungen befinden sich im Widerspruch zu der Annahme, die Lefebvre im „Dialektischen Materialismus" 5 7 ausspricht, nach denen Marx in der „Deutschen Ideologie" und im „Elend der Philosophie" ein Empiriker ohne Dialektik sei. In dieser Periode — so meint Lefebvre — existiere der dialektische Materialismus nicht, und erst nach dem J a h r e 1858 beginne bei Marx angeblich die positive Bewertung der Hegeischen Dialektik. 5 8 Unsere Analyse der Etappen des Marxschen Verhältnisses zu Hegel findet sowohl in der „Deutschen Ideologie" und im „Elend der Philosophie" als auch in den methodologischen Betrachtungen von Marx aus den J a h r e n 1857—1858 einen prinzipiell übereinstimmenden philosophisch-theoretischen Standpunkt. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß die Manuskripte aus der zweiten Hälfte der fünfziger J a h r e — in den Horizonten des philosophischen Standpunktes, den Marx in der vierten E t a p p e seiner Hegel-Kritik erreicht hat — einige neue Probleme reflektieren, vor allem konkrete Fragen der Methode der Analyse und Kritik der kapitalistischen ökonomischen Bewegung. Dabei k o m m t er zur
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H. Lefebvre, Le Matérialisme dialectique, Paris 1949, S. 62—63. Vgl. ebenda: „Les premiers exposés économiques de Marx (et notamment 'Misère de la philosophie') se donnent pour empiriques. La théorie des contradictions sociales impliquées dans la 'Manifest' des 1848 est inspirée de l'humanisme et de l'aliénation au sens matérialiste du terme plus que der la logique hégélienne. . . . A cette époque donc le matérialisme dialectique n'existe pas encore! Un de ses Clements essentiels, la dialectique, est expressément rejeté." („Die ersten ökonomischen Darlegungen von Marx / und insbesondere das „Elend der Philosophie" / sind empirisch ausgerichtet. Die Theorie der sozialen Gegensätze, wie im 'Manifest' von 1848 impliziert ist, wird durch den Humanismus und die Entfremdung im materialistischen Sinne zumindest mehr inspiriert als durch die Hegeische Logik, . . . In dieser Epoche existiert folglich der dialektische Materialismus noch überhaupt nicht \ Einer seiner wesentlichen Elemente, die Dialektik, wird ausdrücklich abgelehnt.")
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positiven Einschätzung einiger Hegelscher Denkformen (das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, der konkreten T o t a l i t ä t usw.), die die „Deutsche Ideologie" und das „Elend der Philosophie" eindeutig nicht eingeschätzt haben. E s handelt sich jedoch nicht um eine prinzipielle Veränderung in der Einstellung zur Hegeischen Dialektik. In der letzten Zeit h a t in Frankreich und Italien die Interpretation des Werkes von Marx durch Althusser Aufmerksamkeit erregt. 5 9 Entgegen der Welle häußg oberflächlicher Literatur, die — meist ohne solide T e x t a n a lyse, in einer wissenschaftlich nicht begründeten Essayistik — die dogmatische Konzeption des Marxismus durch die Reinterpretation von Marx ini Geiste der verschiedenen Formen einer Feuerbach-existentialistischen Antropologie überwinden will, legt Althusser Nachdruck auf die Arbeit m i t dem T e x t und auf die Unterscheidung der Etappen der gedanklichen Entwicklung des jungen Marx. Wenn er betont, daß wir in den „Thesen über F e u e r b a c h " und in der „Deutschen Ideologie" eine neue E t a p p e der theoretisch-philosophischen Entwicklung von Marx vor uns haben, die kritisch den vorhergehenden S t a n d p u n k t überwindet, insbesondere den S t a n d p u n k t der Pariser Manuskripte von 1844, befinden sich die Ergebnisse unserer Analyse damit in Übereinstimmung. Sie unterscheiden sicli aber prinzipiell von der Darlegung Althussers in der inhaltlichen Frage, worin der neue Charakter dieser E t a p p e besteht. Althusser charakterisiert den Übergang von den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" zur „Deutschen Ideologie" als einen solchen Bruch, eine solche Unterbrechung, eine solche Wendung („rupture, coupure épistémologique"), der bzw. die den Übergang vom Humanismus zu einem prinzipiellen theoretischen Antihumanismus darstelle; in diesem Sinne verwerfe Marx angeblich die alte Problematik, die alten Begriffe und eigne sich radikal neue Begriffe, eine radikal neue Problematik und Methode an. 6 0 59 60
L. Althusser, Pour Marx, Paris 1965, ders., Lire le Capital, Paris 1966. Vgl. L. Althusser, Pour Marx, S. 233: „A partir de 1845, Marx rompt radicalement avec toute théorie qui fonde l'histoire et la politique sur une essence de l'homme. Cette rupture unique comporte trois aspects théoretiques indissocialabes: 1. Formation d'une theorie de l'histoire et de la politique fondée sur des concepts radicalement noveaux: concepts de formation sociale, forces productives, rapports de production, superstructure, idéologies, détermination eh derniere instance par l'économie, détermination spécifique des autres niveaux, etc. 2. Critique radicale des prétentions théoretiques de tout humanisme philosophique. 3. Definition de l'humanisme comme idéologieEbenda, S. 235— 236: „Cette révolution théorctique totale n'est en droit de récuser les anciens concepts que parce qu'elle les remplace par des concepts noveaux. . . . Sous le
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Unsere Analyse 6 1 kann als Begründung der Ansicht betrachtet werden, daß der theoretisch-philosophische Standpunkt der „Thesen über Feuerb a c h " und der „Deutschen Ideologie" eine neue Form des Humanismus darstellt. In den Pariser Manuskripten und in der „Deutschen Ideologie" geht es Marx vor allem um den „wirklichen" Menschen. In beiden Fällen wird der theoretische Versuch unternommen, die gesamte gesellschaftliche und geschichtliche Wirklichkeit ausschließlich aus dem Lebensprozeß der „wirklichen" Menschen zu erklären. Wenn Marx vom Standpunkt der „Deutschen Ideologie" aus diese Konzeption der „wirklichen" Menschen und der Geschichte, wie sie in den Pariser Manuskripten vertreten wurde, als „ideologisch" erscheint, dann handelt es sich in der „Deutschen Ideologie" — falls unsere vorgenommene Analyse richtig ist — um die Radikalisierung des Humanismus, um die Schaffung einer neuen Form des Humanismus. Die Irrigkeit der Interpretation Althussers in der Frage des Humanismus läßt sich schon dadurch illustrieren, daß er als Motto seiner Abhandlung, in der er den Antihumanismus der Marxschen Theorie nachweist 6 2 , dieMarxsche Bemerkung über die Methode des „ K a p i t a l s " in einer französischen Übersetzung zitiert, die den Sinn entstellt: „Ma méthode analytique ne part pas de l'homme, mais de la période sociale économiquement donnée . . . " . Das deutsche Original l a u t e t : „. . . (Wagner), der nicht einmal bemerkt hat, daß meine analytische Methode, die nicht von dem Men-
rapport strict de la théorie, 011 peut et on doir alors parler ouvertement d'un anti-humanisme théorelique de Marx . . ." („Seit 1845 bricht Marx entschieden mit jeder Theorie, die Geschichte und Theorie auf einem Wesen des Menschen begründet. Dieser Bruch läßt allein drei voneinander nicht zu trennende theoretische Aspekte zu: 1. Formierung einer Theorie von Geschichte und Politik, die auf radikal neuen Begriffen aufbaut: den Begriffen der Gesellschaftsformation, der Produktivkräfte, der Produktionsverhältnisse, des Überbaus, der Ideologien, die Determinierung letzter Instanz durch die Ökonomie, spezifische Determination der anderen Ebenen usw. 2. Badikale Kritik der theorc tischen Ansprüche des genannten philosophischen Humanismus. 3. Die Definition des Humanismus als Ideologie." Ebenda, S.235—236: „Diese totale theoretische Revolution ist nicht im Recht, die alten Begriffe zu verwerfen, weil sie sie durch neue Begriffe ersetzt . . . Streng auf die Theorie bezogen, kann man offen von einem theoretischen Antihumanismus von Marx sprechen.") Siehe insbesondere die Unterkapitel „Marx und Stirner" und „Tätiges Individuum und Verhältnisse" und ebenso auch die Bemerkung über die Geschichtlichkeit im 4. Kap. des II. Teils. m L. Althusser, a. a. 0 . , S. 225. 290
schell, sondern der ö k o n o m i s c h gegebenen G e s e l l s c h a f t s p e r i o d e a u s g e h t , m i t der p r o f e s s o r a l - d e u t s c h e n B e g r i f f s a n k n ü p f u n g s - M e t h o d e nichts gemein h a t . . .' < 6 3 Der Begriff „ ö k o n o m i s c h gegebene G e s e l l s c h a f t s p e r i o d e " wird von M a r x nicht als bloß o b j e k t i v , von der T ä t i g k e i t der menschlichen I n d i v i d u e n losgerissen v e r s t a n d e n . Die M a r x s c h e B e m e r k u n g d o k u m e n tiert nicht den theoretischen A n t i h u m a n i s m u s , sondern v e r w i r f t lediglich, von d e m ideologisch v e r s t a n d e n e n „Menschen ü b e r h a u p t " „(der M e n s c h " ) a u s z u g e h e n unc1 fordert eine Theorie, die von den „ w i r k l i c h e n " Menschen im S i n n e des p r a k t i s c h e n M a t e r i a l i s m u s a u s g e h t . E r will nichts a n d e r e s sagen, als w a s er ü b e r den A u s g a n g s p u n k t der ökonomischen Theorie in der „ E i n l e i t u n g " von „ Z u r K r i t i k der politischen Ö k o n o m i e " g e s a g t h a t : „ G e sellschaftlich produzierende I n d i v i d u e n — also die gesellschaftlich bes t i m m t e P r o d u k t i o n der Individuen — ist j e d o c h der A u s g a n g s p u n k t . " 6 4
6.
KAPITEL
D a s Verhältnis der M a r x s c h e n und
der M a r x s c h e n K r i t i k
Hegel-Kritik
der bürgerlichen
zur E r k l ä r u n g eines neuen T y p s der
politischen. Ö k o n o m i e Rationalität
und der Ü b e r w i n d u n g der traditionellen Ontologie
Wenn wir nach d e m Verhältnis der M a r x s c h e n K r i t i k der bürgerlichen politischen Ökonomie u n d der M a r x s c h e n K r i t i k der Hegeischen Philosophie fragen, d a n n m ü s s e n in diesem P r o b l e m zwei A s p e k t e unterschieden werden: a) E r s t die K r i t i k der bürgerlichen politischen Ökonomie, obgleich sie ;mfänglich außerordentlich s k i z z e n h a f t konzipiert w a r , e r m ö g l i c h t e M a r x einen tieferen kritischen B l i c k auf die Hegeische Philosophie a l s V o l l e n d u n g der traditionellen M e t a p h y s i k und also a u c h den B r u c h m i t der g e s a m t e n traditionellen „ i d e o l o g i s c h e n " Philosophie (insbesondere der j u n g h e g e l i a nischen und F e u e r b a c h s c h e n Anthropologie). Mit anderen W o r t e n : Die K. Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 371. M K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 5. 19*
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schell, sondern der ö k o n o m i s c h gegebenen G e s e l l s c h a f t s p e r i o d e a u s g e h t , m i t der p r o f e s s o r a l - d e u t s c h e n B e g r i f f s a n k n ü p f u n g s - M e t h o d e nichts gemein h a t . . .' < 6 3 Der Begriff „ ö k o n o m i s c h gegebene G e s e l l s c h a f t s p e r i o d e " wird von M a r x nicht als bloß o b j e k t i v , von der T ä t i g k e i t der menschlichen I n d i v i d u e n losgerissen v e r s t a n d e n . Die M a r x s c h e B e m e r k u n g d o k u m e n tiert nicht den theoretischen A n t i h u m a n i s m u s , sondern v e r w i r f t lediglich, von d e m ideologisch v e r s t a n d e n e n „Menschen ü b e r h a u p t " „(der M e n s c h " ) a u s z u g e h e n unc1 fordert eine Theorie, die von den „ w i r k l i c h e n " Menschen im S i n n e des p r a k t i s c h e n M a t e r i a l i s m u s a u s g e h t . E r will nichts a n d e r e s sagen, als w a s er ü b e r den A u s g a n g s p u n k t der ökonomischen Theorie in der „ E i n l e i t u n g " von „ Z u r K r i t i k der politischen Ö k o n o m i e " g e s a g t h a t : „ G e sellschaftlich produzierende I n d i v i d u e n — also die gesellschaftlich bes t i m m t e P r o d u k t i o n der Individuen — ist j e d o c h der A u s g a n g s p u n k t . " 6 4
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KAPITEL
D a s Verhältnis der M a r x s c h e n und
der M a r x s c h e n K r i t i k
Hegel-Kritik
der bürgerlichen
zur E r k l ä r u n g eines neuen T y p s der
politischen. Ö k o n o m i e Rationalität
und der Ü b e r w i n d u n g der traditionellen Ontologie
Wenn wir nach d e m Verhältnis der M a r x s c h e n K r i t i k der bürgerlichen politischen Ökonomie u n d der M a r x s c h e n K r i t i k der Hegeischen Philosophie fragen, d a n n m ü s s e n in diesem P r o b l e m zwei A s p e k t e unterschieden werden: a) E r s t die K r i t i k der bürgerlichen politischen Ökonomie, obgleich sie ;mfänglich außerordentlich s k i z z e n h a f t konzipiert w a r , e r m ö g l i c h t e M a r x einen tieferen kritischen B l i c k auf die Hegeische Philosophie a l s V o l l e n d u n g der traditionellen M e t a p h y s i k und also a u c h den B r u c h m i t der g e s a m t e n traditionellen „ i d e o l o g i s c h e n " Philosophie (insbesondere der j u n g h e g e l i a nischen und F e u e r b a c h s c h e n Anthropologie). Mit anderen W o r t e n : Die K. Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 371. M K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 5. 19*
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Anfänge der ontopraxeologischen Überwindung der traditionellen Philosophie, wie sie in den „Thesen über Feuerbach" und in der „Deutschen Ideologie" skizziert sind, setzen die kritische Einstellung zur bürgerlichen politischen Ökonomie und das Erfassen des Zusammenhanges zwischen den bürgerlichen Formen des individuell-gesellschaftlichen Lebens und der Metaphysik voraus. b) Wenn in der Marxschen Analyse des Kapitalismus, die im „Kapital" mittels der Methode der strukturell-genetischen Analyse durchgeführt wird, Denkformen angewendet werden, die der materialistisch „umgestülpten" Hegeischen Dialektik, d. h. dem Höhepunkt der metaphysischen Philosophie, nahestehen, handelt es sich um eine partikuläre Annäherung, die dadurch bedingt wird, daß das letzte System der traditionellen Metaphysik (Hegel) und die beginnende Ausarbeitung der Negation der Metaphysik und des Bruchs mit der traditionellen „ideologischen" Philosophie (Marx) sich historisch in den Grenzen bestimmter übereinstimmender Formen der Praxis bewegen. Aber wenn es sich im ersten Falle um ihre Apologie handelt, dann geht es im zweiten um ihre prinzipielle Kritik. In dem Brief an Engels vom 14. 1. 1858 bemerkt Marx: „In der Methode des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich by mere accident . . . Hegels Logik wieder durchgeblättert h a t t e . " 1 Wenn in den fünfziger Jahren bei der Erklärung der methodologischen Probleme der Kritik der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie Marx mit Nutzen nach der Hegeischen „Logik" greift — und wir fügen hinzu: auch nach der Hegeischen „Rechtsphilosophie" 2 —, so bedeutet das nicht, 1 K . M a r x / F . Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1963, S. 260. 2
Vgl. die Marxschen und Hegeischen Erörterungen über die historisch-chronologische und theoretische Abfolge der Kategorien, a) Marx, Grundrisse der K r i t i k der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 2 2 - 2 8 . b) G. W . F . Hegel, Rechtsphilosophie, Werke, B d . 7, § 3 2 , Ausg. Gans, Zusatz: „ I n den empirischen Wissenschaften analysiert man gewöhnlich das, was in der Vorstellung gefunden wird, und wenn man nun das Einzelne auf das Gemeinschaftliche zurückgebracht hat, so nennt man dieses alsdann den Begriff. So verfahren wir nicht, denn wir wollen nur zusehen, wie sich der Begriff selbst bestimmt und tun uns die Gewalt an, nichts von unserem Meinen und Denken hinzuzugeben. W a s wir auf diese Weise erhalten, ist aber eine Reihe von Gedanken, und eine andere Reihe daseiender Gestalten, bei denen es sich fügen kann, daß die Ordnung der Zeit in der wirklichen Erscheinung zum Teil anders ist, als die Ordnung des Begriffs. So kann man z. B . nicht sagen, daß das Eigentum vor der Familie dagewesen sei, und trotzdem wird es vor derselben abgehandelt. Man könnte hier also die Frage aufwerfen, warum wir nicht mit dem Höchsten, das heißt mit dem konkret Wahren begonnenhaben. Die Antwort wird sein, weil wir
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daß der S t a n d p u n k t der radikalen Kritik an Hegels spekulativer Philosophie aufgegeben wird, wie sie in der „Deutschen Ideologie" und im „Elend der Philosophie" vorgenommen wird. Marx denkt das zu Ende und konkretisiert im Hinblick auf ein beschränktes und spezifisches methodologisches Problem, was er als Geheimnis der Hegeischen spekulativen Dialektik in der Mitte der vierziger Jahre enthüllt h a t t e : Die „Vernünftigkeit" der Hegeischen Dialektik ist die spekulative philosophische, logische Verabsolutierung und Verewigung der nachrevolutionären bürgerlichen Formen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Daher ist es also kein Wunder, daß wir bei der Kritik dieser Lebensformen ebenso wie bei der Kritik der „Mystifikation", d. h. der Verabsolutierung und Verewigung, in der Marxschen Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie Denkformen begegnen, die — nach der materialistischen Umstülpung — Elemente der Hegeischen Methode übernehmen. Die Umstülpung, die materialistische Entmystifizierung besteht — bezüglich der speziellen Methode der Marxschen Kritik an der bürgerlichen politischen Ökonomie, wie sie in der ursprünglichen Fassung der bekannten „Einleitung" von „Zur Kritik der politischen Ökonomie" behandelt wird —, vor allem darin, daß für den theoretischen S t a n d p u n k t von Marx die entwickelte bürgerliche Gesellschaft als gegebenes Substrat der Erkenntnis und als gegebenes außergedankliches Subjekt, unabhängig vom Akt der theoretischen Entwicklung, existiert (d. h. unabhängig von der geistigen Reproduktion der konkreten Totalität der kapitalistischen Produktion durch das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten). 3
3
eben das Wahre in Form eines Resultates sehen wollen, und dazu wesentlich gehört, zuerst den abstrakten Begriff selbst zu begreifen." — Die Methode der Rechtsphilosophie ist jedoch für Hegel die bloße Anwendung der inhaltlichen Methode der „Wissenschaft der Logik", vgl. Rechtsphilosophie § 31, ebenso ebenda, Vorrede, S. 2 0 - 2 1 (Werke, Bd. 7). Vgl. G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 6, § 35 darüber, welche Voraussetzungen wir erfüllen müssen, wenn wir uns auf den Standpunkt der Wissenschaft stellen wollen. U. a. muß — nach Hegel — preisgegeben werden „die Voraussetzung eines gegebenen, vorgestellten, schon fertigen Substrats, welches Maßstab dafür sein soll, ob eine jener Gedankenbestimmungen ihm angemessen sei oder nicht." Vgl. dagegen K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 22: „Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst. . . . Das reale Subjekt bleibt naeh wie vor
293
E s wäre j e d o c h u n b e r e c h t i g t , diese methodologischen E r w ä g u n g e n von M a r x , die die spezifischen F r a g e n der K r i t i k der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie betreffen — auch wenn sie zuweilen allgemein f o r m u liert werden — zu e x t r a p o l i e r e n und in ihnen die B e a r b e i t u n g der allgemeinsten P r o b l e m e der A u f f a s s u n g der R a t i o n a l i t ä t v o m S t a n d p u n k t des p r a k t i s c h e n M a t e r i a l i s m u s a u s zu erblicken. „ D a s K a p i t a l " folgt in seiner logischen S t r u k t u r vor allem der B e w e g u n g der bürgerlichen G e s e l l s c h a f t . S u b j e k t des g e s a m t e n Vorgehens sind im „ K a p i t a l " nicht die Menschen, ebenso wie sie in der realen historischen B e w e g u n g der bürgerlichen G e s e l l s c h a f t nicht dieses s o u v e r ä n e S u b j e k t sind, Menschen, die u n t e r e i n a n d e r diese oder j e n e Verhältnisse eingehen, sondern d a s K a p i t a l als gesellschaftliches Verhältnis, d a s über den K ö p f e n der Menschen in dieser G e s e l l s c h a f t als äußere K r a f t herrscht u n d sich durch die V e r m i t t l u n g der Menschen realisiert. D a s K a p i t a l als spezifischer U n t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d , als S u b s t a n z und S u b j e k t zugleich, ist z w a r in seinen F o r m e n a b s o l u t veränderlich, a b e r in seinem inneren Wesen unveränderlich. Wir h a b e n gesehen, daß M a r x zur theoretischen D a r s t e l l u n g der B e w e g u n g der bürgerlichen G e s e l l s c h a f t verschiedene logische Mittel b e n u t z t , von den traditionellen, der v o r m a r x i s t i s c h e n W i s s e n s c h a f t bek a n n t e n bis zu der völlig neuen, bisher u n b e k a n n t e n , niemals vorher ben u t z t e n „ F i g u r " der v o l l s t ä n d i g e n K r i t i k der bürgerlichen politischen Ökonomie u n d der bürgerlichen Wirklichkeit, einer „ F i g u r " , deren spezifisches logisches K o r r e l a t die o b j e k t i v e B e w e g u n g der revolutionären N e g a t i o n ist. H e u t e k a n n m a n sich j e d o c h bereits g u t die historische Materie vorstellen, deren B e w e g u n g s f o r m e n wesentlich andere sind, als sie theoretisch im „ K a p i t a l " a n a l y s i e r t wurden u n d d a h e r der logischen S t r u k t u r des „ K a p i t a l s " ihre spezifische G e s t a l t a u f g e p r ä g t h a b e n . S o ist es z. B . in der Geschichte des K o m m u n i s m u s , in der bereits nicht mehr d a s gesellschaftliche Verhältnis, sondern die Menschen u n d die menschliche T ä t i g k e i t selbst d a s S u b j e k t sind. U n d wenn bei der gedanklichen A n e i g n u n g dieser neuen B e w e g u n g s f o r m gewiß viele logische Verfahren gelten, die bereits im „ K a p i t a l " b e n u t z t worden sind — so k a n n m a n sagen, daß sie in j e d e m F a l l e G r e n z e und A u s g a n g s p u n k t bleiben, von d e m a u s sich eine neue D i m e n sion der B e w e g u n g a u f b a u t , die bereits im „ K a p i t a l " n e g a t i v e n t h a l t e n ist. außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehen; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben." 294
Die D i a l e k t i k der k o m m u n i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t wird u n z w e i f e l h a f t viel reicher u n d komplizierter sein. 4 In diesem S i n n e ist also d a s „ K a p i t a l " nur der n e g a t i v e B e g i n n . E s m u ß f e s t g e s t e l l t werden, daß zu einer z u s a m m e n h ä n g e n d e r e n B e a r b e i t u n g der allgemeinsten P r o b l e m e der R a t i o n a l i t ä t auf d e m S t a n d p u n k t der p r a k t i s c h - m a t e r i a l i s t i s c h e n N e g a t i o n der traditionellen Ontologie M a r x in den Arbeiten a u s den vierziger J a h r e n nirgends g e l a n g t ist. In den A b s c h l u ß k a p i t e l n versuchen wir, die E r g e b n i s s e unserer U n t e r s u c h u n g a u s d e m I. u n d I I . Teil dieser Arbeit d a d u r c h z u s a m m e n z u f a s s e n , d a ß wir die M a r x s c h e theoretische I n i t i a t i v e in u m f a s s e n d e r e historischtheoretische Z u s a m m e n h ä n g e einordnen. 4
Vgl. R. Richta u. a., Civilizace na rozcesti, Prag 1966.
2!)5
1.
KAPITEL
K a n t u n d M a r x als V e r n u n f t k r i t i k e r
Wir versuchen jetzt, im Hinblick auf die Ergebnisse der beiden vorhergehenden Teile der Arbeit unsere Antwort auf die F r a g e zu vertiefen, was eigentlich der praktische Materialismus von Marx in der Entwicklung des theoretischen Denkens darstellt, in welchem Sinne er ein neues Wort in der Philosophie oder eine neue theoretisch-praktische Haltung ist. Wenn wir dieses Problem an der F r a g e des Verhältnisses von K a n t und Marx konkretisieren, so haben wir für dieses Vorgehen einige Argumente. E s handelt sich nicht um die Belebung und Rehabilitierung der Versuche einiger neukantianisch orientierter Marxisten der I I . Internationale um die E r g ä n z u n g des Marxismus durch die K a n t s c h e Erkenntnistheorie und um die Reinterpretation der wissenschaftlichen Methode von Marx im Geiste des K a n t i a n i s m u s von außen. Die Unhaltbarkeit dieser Versuche kann man als nachgewiesen betrachten, insbesondere nach der Veröffentlichung der Pariser Manuskripte von Marx von 1844 und der Vorbereitungsarbeiten zum „ K a p i t a l " von 1857—1858. Marx war kein Vernunftkritiker im spezifisch Kantschen Sinn. In einem anderen Sinn, nämlich als Kritiker aller spekulativen Philosophie und insbesondere der Hegeischen Philosophie der Vernunft war Marx allerdings ganz zweifellos ein „ K r i t i k e r der V e r n u n f t " . In der Kritik der Hegeischen Vernunft formulierte Marx seine Auffassung von der Aufhebung aller traditionellen Metaphysik und Ontologie, und zwar nicht nur der vorkantschen Ontologie, sondern auch der von K a n t ausgehenden spekulativen Transzendentalphilosophie. K a n t vermutete es nicht nur von sich, sondern auch in der wirklichen Entwicklung der Philosophie wirkte er als Initiator der Umwälzung in der A u f f a s s u n g und L ö s u n g der protophilosophischen Problematik. Auf seine Art h a t gerade K a n t — vor Feuerbach und Marx — begründet, daß die traditionelle Metaphysik definitiv endet. J e d o c h sofort im Anschluß an die positive Anknüpfung an den Kantschen Gedanken von der notwendigen Zerstörung der vorkritischen Ontologie entstehen philosophische S y s t e m e , in denen Feuerbach und Marx die Verteidigung uud den Kulmin a t i o n s p u n k t der Metaphysik erblicken. Das E n d e der Metaphysik bedeutet dabei für die nachhegelschen Denker vor allem das E n d e der spekulativen Philosophie, die vom Kantschcn Transzendentalismus ausgeht. 299
In diesem Zusammenhang erscheint die Formulierung folgender Fragen berechtigt: I s t der Marxsche B r u c h mit der philosophischen Tradition, insofern es um den T y p des wissenschaftlichen Denkens geht, die R ü c k kehr zum vorkritischen Denken, zur Ontologie des vorkantischen T y p s oder zum aphilosophischen vorkantschen Empirismus — oder sind dies Umrisse eines neuen Beginnes im theoretischen Denken ohne Kontinuität mit K a n t — oder handelt es sich schließlich u. a. um den Versuch, die Fragen der Kritik der vorkantschen Metaphysik, deren Kritik K a n t begonnen h a t t e auf neue Art zu lösen? Wenn das letztere gilt, in welcher Hinsicht kann man dann in der Marxschen Kritik an der Hegeischen spekulativen Vernunft dennoch nur die Fortsetzung und die prinzipielle Wendung auf den von K a n t begonnenen W e g erblicken? fylarx ging es aber um mehr als nur um ein neues W o r t in der Philosophie. E r erblickt das F u n d a m e n t für die Lösung der menschlich-gesellschaftlichen — und als ihr Moment: der theoretischen — Probleme seiner Zeit in der praktischen revolutionären Bewegung, die zur Ersetzung der bürgerlichen Formen der menschlichen Tätigkeit durch die neuen kommunistischen Formen des Lebensprozesses strebt. Integrierendes und nicht zu vernachlässigendes Moment dieses revolutionären Prozesses ist für ihn die wissenschaftliche Denktätigkeit, vor allem das „Begreifen der P r a x i s " 1 als „positiver Wissenschaft", also die Wissenschaft von der praktischen T ä t i g keit, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen („positive Wissenschaft" — „Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen".) 2 Die Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, die er in seinen späteren Werken vornahm, betrachtete Marx unzweifelhaft als Ausgangspunkt der Bearbeitung dieser positiv-kritischen Wissenschaft für die gegebenen Verhältnisse, einer prinzipiell offenen und niemals fertigen Wissenschaft, ebenso wie beim Marxschen Standpunkt des „praktischen Materialismus" die menschliche Praxis notwendig als offen und neue Inhalte und Formen schaffend erschien. Wie ist eine solche neue positive Wissenschaft, die aus dem „Begreifen der P r a x i s " entspringt, möglich? B e i Marx finden wir keine Fragestellung nach der Möglichkeit der B e gründung einer solchen Wissenschaft — im Sinne der Kantschen Vernunft1
2
K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 535. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 27.
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kritik — da Marx die ursprünglichen kritizistischen Fragen vom Standpunkt des praktischen Materialismus aus als unkritisch, als eine Rückkehr zum spekulativen Philosophieren betrachtet hätte. Da sich Marx, soweit uns bekannt ist, nicht ausdrücklich mit diesem Punkt der Kantschen „Kritik der reinen Vernunft" auseinandergesetzt hat, können wir insgesamt, vielleicht z. B . auf der Grundlage der „Deutschen Ideologie", die Marxschen Argumente rekonstruieren, aus denen heraus er die Kantsche Form der Fragestellung prinzipiell ablehnt. Das menschliche Wissen—und es gibt keinerlei anderes Wissen —ist eine spezifische, in der Arbeitsteilung abgesonderte Form der Tätigkeit der wirklichen Menschen, d.h. der Menschen, wie sie unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen materiell und geistig produzieren. Das Denken, insbesondere das sich in wissenschaftlichen Formen bewegende Denken, ist ein Moment des praktischen gesellschaftlich-individuellen Lebensprozesses der Menschen. Wenn es keine Untersuchung der Denkformen, darunter auch die Untersuchung des Problems der Begründung der Wissenschaft, in abstrakter (in der Marxschen Bedeutung), spekulativer, „ideologischer" Gestalt, geben kann, dann muß von Anfang an berücksichtigt werden, daß das menschliche Bewußtsein und Denken dem Wesen der Sache nach lediglich diese spezifische Formen des Seins sind, daß sie nämlich nur als Moment des praktischen menschlichen Lebensprozesses existieren. Weil Kant dies von Anfang an nicht in Betracht zieht, ist es notwendig, die Form zu verwerfen, in der er die Frage nach den Grundlagen der Wissenschaft stellt. Analyse und gedankliche Reproduktion der wirklichen praktischen Lebensprozesse der Menschen in der Epoche der bürgerlichen Gesellschaft sind für Marx ebenso die Grundlage für die Analyse und Kritik der Formen des wissenschaftlichen Denkens, das der kapitalistischen Ära eigentümlich ist, sind die Grundlage für das rationelle Verstehen des entsprechenden Typs der Rationalität. In dieser Hinsicht sind die Marxselle Konzeption der Grundlagen des Wissens Negation und prinzipielle Preisgabe nicht nur der Lösungen Kants, sondern auch seiner Art, die Fragen zu stellen. Versuchen wir jetzt zu erklären, in welcher Hinsicht die Marxsehe Konzeption der Grundlagen der Wissensehaft dennoch auf dem Wege fortschreitet, der von K a n t begonnen worden ist. Aus unseren bisherigen Darlegungen über die ideellen Differenzen zwischen Marx einerseits und Feucrbach, Heß und Stirner andererseits werden wir den Stoff für den Beweis nehmen, daß Marx einerseits in der theoretischen Initiative radikaler ist als die anderen, andererseits tiefer mit der philosophischen Revolution verbunden ist, die von Kant ausgeht.
301
Wenn unsere Darlegung korrekt ist, dann ergibt sich aus ihr, in welcher Hinsicht die Schlußfolgerung Kroners präzisiert werden muß, daß die philosophische Entwicklung von Kant bis Hegel ein abgeschlossenes Ganzes bildet, „einen Denkabschnitt, der innerlich zusammenhängt, der aus sich begreifbar ist, der nicht zu einer Überschreitung seiner Grenzen führt". „In der eingeschlagenen Richtung", sagt Kroner, „konnte das durch Kant in Bewegung gesetzte Denken nicht mehr weiter schreiten . . . Sollte es noch ein Nach-Hegel geben, so mußte ein neuer Anfang gemacht werden." 3 Es geht uns um den Charakter des Marxschen Neubeginns, um seine Beziehung zu dem Denken, das von Kant in Bewegung gesetzt worden ist. Indem Marx in seiner ersten These über Feuerbach seine Auffassung der Wirklichkeit von der Feuerbachsehen abhebt, formuliert er sein Abgehen von der Transzendentalphilosophie und gleichzeitig seine Würdigung ihres theoretischen Beitrags. Der Hauptmangel des bisherigen Materialismus beruht nach Marx darin, „daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird, nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus — der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt — entwickelt." 4 Der fragmentarische Ausdruck der ersten „These über Feuerbach" ist derart unbestimmt, daß er zumindest zweierlei Deutung ermöglicht. Will Marx sagen, der Gegenstand, die Wirklichkeit müsse nicht nur unter der Form des Objekts und der Anschauung, sondern auch als menschliche Tätigkeit, Praxis aufgefaßt werden (wobei dann allerdings weitere Fragen entstehen, wie dieses „nicht nur — sondern auch" zu verstehen wäre)? Oder soll die Marxsche Kritik an Feuerbach und am bisherigen Materialismus bedeuten, die Wirklichkeit sei ausschließlich als menschliche Tätigkeit aufzufassen, und es existiere also keine Wirklichkeit, die unter der Form des Objekts aufgefaßt werden könnte? Aus dem im 2. Abschnitt Erörterten ergibt sich, daß die erste These über Feuerbach nicht im Sinne einer Reduktion aller Wirklichkeit auf die praktische menschliche Tätigkeit zu interpretieren ist, wie dies z. B . der junge Lukács in seinem einflußreichen Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein" anzunehmen geneigt scheint. 5 Wir halten also die erste Interpretation als Ausgangspunkt für richtig. :l
R . Kroner, Von K a n t bis Hegel, 2. Aufl. Tübingen 1961, S. 6.
'• K. Marx, Thesen über Feucrbacli, i n : Werke, Bd. 3, S. 533. Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 28, 160 u. a.
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N a c h M a r x b e r u h t F e u e r b a c h s Fehler nicht darin, d a ß die E x i s t e n z von sinnlichen G e g e n s t ä n d e n , die von den G e d a n k e n o b j e k t e n u n d der G e d a n k e n t ä t i g k e i t unterschieden sind, a n e r k a n n t wird, sondern in der „ h ö c h s t b o r n i e r t e n " , d. h. ungeschichtlichen W e i s e 6 dieser A n e r k e n n u n g . W e n n F e u e r b a c h ü b e r h a u p t auf den Z u s a m m e n h a n g d e s Menschen m i t den gesellschaftlichen Verhältnissen u n d der Geschichte eingeht, e r k l ä r t er alles als R e a l i s i e r u n g „ d e s menschlichen W e s e n s " , die ungeschichtlich a l s bloße natürliche G a t t u n g s a l l g e m e i n h e i t a u f g e f a ß t wird. D e m g e g e n ü b e r b e t o n t M a r x , d a s „ m e n s c h l i c h e W e s e n " sei zu allen Zeiten ein historisches P r o d u k t . Die Geschichte wird weder v o m W e l t g e i s t , noch von „dem M e n s c h e n " g e m a c h t , sondern von den Menschen, wie sie wirklich sind, d a s heißt n a c h M a r x : wie sie wirken, materiell u n d geistig produzieren. In der Geschichte finden wir auf j e d e r S t u f e ein historisch geschaffenes V e r h ä l t n i s zur N a t u r u n d eine Wechselbeziehung der I n d i v i d u e n z u e i n a n d e r v o r ; diese W e c h s e l v e r h ä l t n i s s e werden in jeweils b e s t i m m t e n P r o d u k t i v k r ä f t e n und P r o d u k t i o n s v e r h ä l t n i s s e n a u s g e d r ü c k t , und j e d e G e n e r a t i o n e r b t sie von ihren V o r g ä n g e r n . Die ererbten P r o d u k t i v k r ä f t e und U m s t ä n d e werden einerseits von der neuen G e n e r a t i o n modifiziert, andererseits schreiben sie der neuen G e n e r a t i o n ihre eigenen L e b e n s b e d i n g u n g e n vor. Man k a n n also sagen, d a ß „ d i e U m s t ä n d e ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die U m s t ä n d e m a c h e n " . 7 In diesem Zus a m m e n h a n g g e l a n g t M a r x zu seinem f u n d a m e n t a l s t e n P h i l o s o p h e m : D a s Andern der U m s t ä n d e und der menschlichen T ä t i g k e i t (oder die S e l b s t gev e r ä n d e r u n g ) f ä l l t z u s a m m e n u n d ; ) k a n n nur als umwälzende Praxis fußt und rationell v e r s t a n d e n w e r d e n " . 8 F ü r M a r x ist d a s „ W e s e n des M e n s c h e n " die wirkliche menschliche T ä t i g k e i t in jeweils b e s t i m m t e n u n d w a n d e l b a r e n historischen F o r m e n der S e l b s t v e r ä n d e r u n g , in der individuell-gesellschaftlichen E i n h e i t des „ U m s t ä n d e - M a c h c n s " und „ Y o n - d e n U m s t ä n d e n - g e m a c h t - W e r d e n s " u n d h a t seinen realen G r u n d in der von den vorhergehenden Generationen erzeugten sozialen O b j e k t i v i t ä t . 9 Der U n t e r s c h i e d zwischen der bürgerlichen u n d der nachbürgerlichen G e s e l l s c h a f t b e s t e h t nach M a r x in dieser H i n s i c h t d a r i n , d a ß in der ersten die V e r g a n g e n h e i t ü b e r die G e g e n w a r t , in der zweiten die G e g e n w a r t ü b e r die V e r g a n g e n h e i t herrscht. 1 0 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 44 f. ' Ebenda, S. 38 s K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: a. a. 0 . , S. 534; vgl. a. ebenda, S. 195. 8 Ebenda, S. 45. 10 Vgl. K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei: K. Marx/ F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1958, S. 476. li
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Vom Standpunkt des praktischen Materialismus aus erscheint Marx die traditionelle Kontraposition von Bewußtsein und Gegenstand, von Denken und Sein vereinfachend und abstrakt. ( „ A b s t r a k t " in der Bedeutung von Marx, der in der Regel an den Feuerbachschen Begriff des Abstrakten, d. h. „losgelöst vom wirklichen Menschen", anknüpft. Marx setzt allerdings anstelle der Feuerbachschen „ideologischen" Auffassung vom Menschen seine unterschiedliche Auffassung; deshalb hat „abstrakt-konkret" einen anderen Sinn als bei Feuerbach. Auch Feuerbach ist für Marx abstrakt in allen seinen philosophischen Auffassungen, sofern ihm die geschichtliche, praktische Auffassung des Menschen und der Wirklichkeit fehlt.) Feuerbach begriff die Einheit von Bewußtsein und Gegenstand, von Denken und Sein entweder kontemplativ dualistisch oder gelangte höchstens zu einer unhistorischen wechselseitigen Einwirkung zwischen Bewußtsein und Gegenstand, zwischen Denken und Sein, und zu ihrer naturalistisch aufgefaßten Einheit. „ D a s wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: das Sein ist Subjekt, das Denken ist Prädikat. Das Denken ist äus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken." 1 * F ü r Marx ist das Denken ein Moment des Seins 1 2 , wobei unter dem Sein die Marxsche praktische Auffassung der Wirklichkeit gemeint wird. Auf Grund eines derart aufgefaßten Seins unterscheidet Marx bei der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er vor sich hatte, verschiedene Formen der Gegenständlichkeit: 1. die Gegenständlichkeit, die von Menschen geschaffen wird und durch das Zusammenwirken vieler Individuen entsteht und je nach den verschiedenen sozialen Bedingungen a) entweder gegen die tätigen Individuen als fremde Macht in Form einer äußeren Notwendigkeit auftritt oder b) nicht diesen Charakter einer entfremdeten Gegenständlichkeit hat, ein Moment bewußter Selbstverwirklichung der Menschen ist; 2. die Gegenständlichkeit, deren Existenz nicht durch die Tätigkeit der Menschen vermittelt wird, die also etwas ohne Zutun des Menschen Vorhandenes 1 3 ist und je nach den historischen Bedingungen früher oder später als materielles Substrat in den menschlichen Arbeitsund Lebensprozeß einbezogen oder nicht einbezogen wird; 3. die Gegenständlichkeit der menschlichen Subjektivität als Moment der gesamten Praxis u. a. Marx genügt also für den Ausdruck der Beziehung von Denken und Sein bzw. von Denken und den verschiedenen Formen der Gegenständ11
12
L. Feucrbach, Vorläufige Thesen, in: Zur Kritik der Hegeischen Philosophie, Berlin 1955, S. 84. K . Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 245/246.
13 K.Marx, Das Kapital, Bd. I, in: K.Marx/F.Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 193.
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lichkeit bereits nicht mehr die von Feuerbach angewandte Beziehung „Subjekt-Prädikat". Diese setzt eigentlich eine substantiell-attributive Struktur dessen voraus, was wir durch die Beziehung „Subjekt-Prädikat" charakterisieren wollen. Für Marx hat aber die Beziehung „Denken — praktisch gefaßte Wirklichkeit" eine andere Struktur, und daher ist für ihn die Feuerbachsche Charakteristik unannehmbar. Die wissenschaftliche Aufgabe des „Begreifens der Praxis" wird allerdings für Marx nicht dadurch erfüllt, daß in den „Thesen über Feuerbach" und in der „Deutschen Ideologie" im Sinne eines praktischen Materialismus allgemeine Bestimmungen einer neuen, keineswegs objektivistischen, aber auch nicht subjektivistischen Auffassung der Wirklichkeit ausgearbeitet werden. Auch die Beziehung des Allgemeinen und Besonderen, wie alle traditionellen protophilosophischen Fragen, werden im praktischen Materialismus von Marx neu gefaßt. Würden wir diese allgemeinen Bestimmungen (Subjektivität-Objektivität, „Wesen" des Menschen usw.) als überhistorische Abstraktionen, als formelle Subsumtionsallgemeinheiten auffassen, wären wir uns nicht dessen bewußt, daß sie in ihrer Abstraktion zum Verständnis der Praxis in ihrer jeweils bestimmten konkret-historischen Form nicht ausreichen, würden wir — nach Marx — den historischen Boden verlassen und uns wiederum im Bann der Ideologie befinden.14 An sich, losgelöst von der wirklichen Geschichte, haben diese Abstraktionen überhaupt keinen Wert. 15 Wenn sie aber als geschichtliche Abstraktionen aufgefaßt werden, haben sie — was Marx insbesondere in der Polemik gegen Stirner zu beweisen versucht — große philosophische und methodologische Bedeutung. Sie sind ein Moment des wirklichen Wissens und sind unerläßlich für „das Begreifen der Praxis" und somit für die wirkliche revolutionäre Praxis. Die ökonomischen Analysen von Marx mit ihren explizite ausgedrückten oder implizierten Auffassungen der verschiedenen Seinsarten, der Beziehung von Subjektivität und Objektivität, Spontaneität und Rezeptivität, Autonomie und Heteronomie, Natürlichkeit und Geschichtlichkeit usw. sind in. E. protophilosophisch relevant nicht als bloße Konkretisierung überhistorischer Allgemeinheiten, sondern als unabdingbares, die neue protophilosophische Konzeption charakterisierendes und tragendes theoretisches Moment. Feuerbachs anthropologischer nachhegelscher Neuanfang erblickt in der Entwicklung von Kant bis Hegel nur eine Rationalisierung der Theologie 14
20
„Ideologie" in der Bedeutung, wie sie Marx in der „Deutschen Ideologie" anwendet. Vgl. a. a. 0 . , S. 3 1 f „ 539f. « Ebenda, S. 27. Zeleny
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und damit eine gewisse Annäherung des Absoluten an den Menschen und demnach eine Übergangsstufe zwischen dem gemeinen Theismus als grober F o r m der Entfremdung des menschlichen Wesens und der anthropologischen Philosophie als Wiedergewinnung des menschlichen Gattungswesens. In diesem Sinne h a t die deutsche spekulative Philosophie große geschichtliche Bedeutung. 1 6 Marx dagegen enthüllt einerseits vom S t a n d p u n k t des praktischen Materialismus aus den scheinbaren Radikalismus Feuerbachs und Stirners und weist nach, worin beide im B a n n der Tradition verbleiben. Andererseits b e t o n t er die von Feuerbach vernachlässigte Bedeutung der deutschen Transzendentalphilosophie bei der Vorbereitung einer zum „Begreifen der P r a x i s " fähigen Wissenschaft. Eine ausführlichere Interpretation des problemgeschichtlichen Zusammenhangs des neuen Materialismus von Marx m i t der Bearbeitung „der tätigen S e i t e " im deutschen Idealismus könnte von der „transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" K a n t s ausgehen, in den die Erfahrungen und die Erfahrungsrealität im wesentlichen als Verstandeshandlung und Produkt der Verstandeshandlung, also als eine gewisse F o r m der Handlung aufgefaßt wird. Man müßte verfolgen, wie F i c h t e den Ansatz des Kantischen Transzendentalismus durch die Ablehnung „des Dinges an sich" radikalisiert und den W e g zur Auffassung der S u b j e k t Objekt-Beziehung, und danach des Seins überhaupt als Produzieren, frei m a c h t ; wie Schelling die Kantsche Idee eines „intellectus archetypus" ausbaut und den Transzendentalismus durch die gesellschaftlich-historische Dimension bereichert; wie Hegel b e m ü h t ist, m i t der Theorie der Selbstreproduktion des Geistes auf der Basis des Transzendentalismus eine konsequentere Theorie der Gesamterfahrung und zugleich eine konsequentere Theorie der Freiheit zu geben, als es K a n t , F i c h t e und Schelling vermochten. An die Hegeische Philosophie der Selbsterzeugung des Geistes knüpft Marx kritisch in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" an, wenn er die philosophischen Voraussetzungen seiner K r i t i k der bürgerlichen politischen Ökonomie und seiner damaligen Marx-Feuerbachschen Theorie des Kommunismus aus dem J a h r e 1844 klarstellt. Die Selbstreproduktion des philosophischen Selbstbewußtseins, wie sie in der „Phänomenologie" Hegels geschildert ist, wird als spekulativer Ausdruck des geschichtlichen Prozesses der Selbsterzeugung des Menschen erklärt; diese Konzeption wird dann in der „Deutschen Ideologie" nach Aus16
L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 6 (Zur Kritik der Hegeischen Philosophie, Berlin 1955, S. 96ff.)
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Schaltung der eschatologischen und „ideologischen" Elemente FeuerbachHegelscher Provenienz weiter kritisch in eine praktische Auffassung der Wirklichkeit im Sinne des neuen Materialismus umgebildet. Den praktischen gesellschaftlichen Hintergrund f ü r die wichtigsten Konzeptionen der deutschen klassischen Philosophie einschließlich Hegels bilden wohl diejenigen Formen des geschichtlichen Prozesses (mit einer spezifisch historischen Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft) und diejenigen Formen der Abhängigkeit des Menschen von der N a t u r und der Beherrschung der N a t u r durch den Menschen, wie sie die bürgerliche Ära insbesondere in der Epoche der Französischen Revolution mit sich bringt; protophilosophisch, hinsichtlich der theoretischen Form, bekamen jene praktischen Probleme vor allem ihren Ausdruck in einer neuen Formulierung der Probleme der Bestimmung und Selbstbestimmung. Kants Hauptproblem, neben dem die bekannte Ausgangsfrage der „Kritik der reinen Vernunft" nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori ein abgeleitetes Problem darstellt, läßt sich etwa folgendermaßen formulieren: Wenn autonomes Sein mit der Newtonschen Realität, die ihren unerschütterlichen Platz in der Naturwissenschaft hat, unvereinbar und unbegreifbar ist, und wenn kein Zweifel daran herrscht, daß autonomes Sein (insbesondere und primär der bewußt moralisch handelnde Mensch als Persönlichkeit) existiert, welche philosophia prima ist dann fähig, diesen Tatbestand aufzunehmen und ihre Koexistenz, ihre Einheit, begreiflich zu machen? Es handelt sich um die Beziehung des Natürlichen und Menschlichen, um ihre Einheit, wobei K a n t das „Natürliche" und „Menschliche" allerdings in spezifischem Sinn auffaßt. Das Natürliche ist „Erscheinung", ist nur in den Grenzen der wissenschaftlichen Erfahrung wissenschaftlich zugänglich, wobei Wissenschaft ihrem Typ nach die Newtonsche Naturwissenschaft bedeutet. Das Menschliche im ureigensten Sinne ist dasjenige, dessen Existenz sich nicht in Zeit und Raum bestimmen läßt, nicht „erscheinungsbedingt" ist, also auch kein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, weil es sich dem natürlichen Mechanismus entzieht: es ist die moralisch handelnde Persönlichkeit, die ihren eigenen Willen selbst durch das moralische Gesetz vom Menschen als Selbstzweck bestimmt (in der Kantschen Terminologie: die „frei" handelt). Auf diese sich selbstbestimmende Realität, auf die Erfassung ihrer Seinsart lassen sich die für Erscheinungen gültigen Bestimmungen nicht anwenden. Das durch „Kausalität aus Freiheit" handelnde Subjekt ist in besonderer Weise „wirklich", anders als die Natur20*
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erscheinungen, und diese seine Wirklichkeit sui generis eröffnet gewisse neue Erkenntnismöglichkeiten, zwar nicht in F o r m theoretischer wissenschaftlicher Erkenntnisse, dennoch aber als solche, die wenigstens teilweise, wenigstens auf einem bestimmten beschränkten Gebiet das „Sein an sich" enthüllen. Es erhebt sich das Problem der Beziehung und Einheit eines derart aufgefaßten Natürlichen und Menschlichen, der Natur und des Menschen. Bekanntlich löste K a n t dieses Problem im Sinne einer dualistischen Koexistenz: Der natürliche Mechanismus gilt im Gebiet der „Erscheinungen", die „ F r e i h e i t " existiert im intelligiblen Gebiet. Ein Streit würde entstehen, wenn die Erscheinungen und die Dinge an sich nicht unterschieden würden, dann wäre der Spinozismus die unentrinnbare Alternative, d. h. jenes philosophische System, das — nach K a n t — keine Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn kennt und die Freiheit in einer fatalen allgemeinen Notwendigkeit untergehen läßt. F ü r K a n t ist der Begriff der Freiheit der Schlußstein im ganzen Gebäude der reinen V e r n u n f t 1 7 : damit beginnt die philosophia prima, in der die, dem autonomen Ich analogen, selbstbestimmenden Strukturen das Prim a t haben, wobei andere als die selbstbestimmenden Strukturen eine abgeleitete, auf der Grundlage der fundamentalen Rolle der Selbstbestimmung aufgefaßte Rolle spielen. Dadurch, daß K a n t dem Problem der Selbstbestimmung, wie es sich in der menschlichen Handlungsweise (der Wahl unter dem moralischen Gesetz) zeigt, einen Vorzugsplatz in der gesamten Philosophie einräumt, ist er Initiator einer bedeutsamen T a t in der Entwicklung der philosophia prima: E r vermenschlicht das Problem des Schaffens, worüber vorher die traditionelle christliche Metaphysik in entfremdeter Form gesprochen hatte, die den ersten Platz der Frage einräumte, was die göttliche creatio ist und welche Beziehung der Mensch zu ihr hat. Die vereinheitlichende Achse der ganzen philosophischen revolutionären Epoche von K a n t bis Marx ist das Problem der menschlichen Freiheit bzw. menschlichen Befreiung. Die Triebfeder des kritischen Denkens von K a n t ist sein Bestreben, „den Begriff der Natur und den Begriff der Freiheit miteinander zu vereinen", wobei es ihm primär um die menschliche Freiheit in der F o r m geht, wie sie bereits mit den bürgerlichen Formen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens verbunden ist — mit den gleichberechtigten und freien Individuen als Bürgern (den juristischen „Persönlichkeiten") und mit dem R e c h t s s t a a t . 17
I. Kant, Werke (Akademieausgabe), Bd. 5, S. 3.
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Wenn wir berücksichtigen, was in der Marxschen Kritik an Hegel und an den Junghegelianern eigentlich d a s Zentralproblem ist, auf das sich dem Wesen der Sache nach alle übrigen Probleme reduzieren lassen, dann finden wir, daß dies ebenfalls die F r a g e nach dem Verhältnis der menschlichen Freiheit und der natürlichen Notwendigkeit, die F r a g e über d a s Verhältnis und die Einheit des Menschen mit der N a t u r ist, freilich zwar der N a t u r einschließlich der zweiten N a t u r , dem objektivierten menschlichen Werk. Die fundamentale und zentrale Rolle im philosophischen S t a n d p u n k t , zu dem Marx in den „Thesen über F e u e r b a c h " und in der „Deutschen Ideolog i e " gelangt, spielen also weder die F r a g e der Beziehung von „ S u b s t a n z " und „ S u b j e k t " , noch der Begriff „Mensch ü b e r h a u p t " , noch der Begriff „Materie ü b e r h a u p t " , 1 8 noch sonst ein „ P r i n z i p " im Sinne der alten Ontologie, sondern die praktische A u f f a s s u n g der Wirklichkeit und der Wahrheit. Den Platz der alten vorkritizistischen Ontologie n i m m t die niemals abgeschlossene, mit der Entwicklung der menschlichen materiell-geistigen P r a x i s immer von neuem sich notwendigerweise erneuernde Untersuchung und K l ä r u n g der ontopraxeologischen Problematik ein, d. h. jener Problematik, die fragmentarisch und in embryonaler F o r m in den „Thesen über F e u e r b a c h " skizziert ist. In diesem Sinne kann man in der praktischen A u f f a s s u n g der Wirklichkeit durch Marx eine neue Antwort bzw. den Keim neuer Antworten auf jene F r a g e n sehen, die die traditionelle Ontologie und auch die deutsche Transzendentalphilosophie gestellt hatten. E s ist dies eine Antwort, die die Destruktion der vorkantschen „ d o g m a t i s c h e n " Ontologie in wesentlichen Punkten voraussetzt und akzeptiert und auf einem durch die neuzeitliche Tranzsendentalphilosophie vorbereiteten Boden emporwächst. Der ontopraxeologische-philosophische S t a n d p u n k t von Marx k n ü p f t an d a s Gedankenmotiv des Transzendentalismus in der A u f f a s s u n g K a n t s dadurch an, daß Marx, ebenso wie vor ihm K a n t , die Gegenständlichkeit, die Wirklichkeit nicht einfach als etwas Gegebenes auffaßt, was vom Menschen bloß rezeptiv gedanklich angeeignet und wahrhaftig erkannt werden kann. Beide Denker fragen nach der menschlichen Vermittlung von Wirklichkeit und Wahrheit. E s besteht selbstverständlich ein großer Unterschied darin, wie K a n t und Marx diese F r a g e beantworten. Der praktische und geschichtliche „ K r i t i z i s m u s " von Marx h a t neue Dimensionen: der problemgeschichtliche Z u s a m m e n h a n g mit der Kantschen Vernunftkritik scheint aber wesentlich zu sein. D e m A u s g a n g s p u n k t der deutschen Transzendentalphilosophie, d. h. 18
K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: a. a. 0 . , S. 83. 309
K a n t , scheint Marx besonders in dreierlei Hinsicht n ä h e r zu stehen als der idealistischen Vollendung der Transzendentalphilosophie in Hegels Vernunftdialektik. a) Es war in Hegels Augen ein Mangel des Kantschen Kritizismus, daß sein „absoluter S t a n d p u n k t " letzten Endes n u r „der Mensch und die Menschheit" gewesen war. „So ist das, worauf solche Philosophie ausgehen k a n n , nicht, G o t t zu erkennen, sondern, was m a n heißt, den Menschen" — sagt Hegel. 1 9 Marx k e h r t auf einer neuen Ebene in diesem Sinne zu K a n t zurück, da er in den endlichen Menschen, wie sie in den jeweils bestimmten u n d historisch wandelbaren gesellschaftlich-natürlichen Verhältnissen tätig sind, das Alpha u n d Omega aller Theorie sieht. b) Man k a n n das Verhältnis von Marx zur Idee des M a t h e m a t i s m u s als Ablehnung der diesbezüglichen Hegeischen Leibniz- u n d K a n t k r i t i k auffassen u n d darin eine gewisse W i e d e r a n n ä h e r u n g an K a n t feststellen. W e n n auch Marx die Idee des M a t h e m a t i s m u s in ihren verabsolutierten Ansprüchen ablehnt, begreift er dennoch nicht wie Hegel die m a t h e m a tische E r k e n n t n i s als eine untergeordnete u n d zweitrangige, die keinen Anspruch darauf erheben darf, „ w a h r h a f t wissenschaftliche" E r k e n n t n i s zu sein. E r setzt sich f ü r eine maximale u n d potentiell wachsende Anwend u n g der M a t h e m a t i k in der E r k e n n t n i s ein, u n d zwar auch in bezug auf Prozesse dialektischen Charakters, wie z. B. sein Brief an Engels (vom Mai 1873) über die k ü n f t i g zu e r w a r t e n d e Möglichkeit einer m a t h e m a t i schen B e s t i m m u n g der Hauptgesetze der ökonomischen Krisen beweist. Schon in der „Deutschen Ideologie" lehnt Marx die „belletristischen, m i t Hegeischen Traditionen verquickten Philippiken gegen die Zahl" von Seiten der sogenannten „ w a h r e n " Sozialisten schroff ab. c) Marx scheint uns in seiner prinzipiellen Anerkennung der Schranken u n d Grenzen der menschlichen V e r n u n f t K a n t näher als Hegel zu stehen, wenn auch diese Nicht-Absolutheit des menschlichen E r k e n n t n i s v e r mögens d u r c h beide Denker wesentlich anders g e f a ß t wird — bei K a n t im Z u s a m m e n h a n g mit seiner übergeschichtlichen Unterscheidung von E r fahrungswissenschaft und „Ding an sich", bei Marx als Folge seiner praktisch-historischen Auffassung der Wirklichkeit. Dabei verwirklicht sich aber die erneute A n n ä h e r u n g von A u s g a n g s p u n k t der deutschen Transzendentalphilosophie in zeptionen auf einem neuen N i v e a u ; sie reagiert auf die Entwicklung der Transzendentalphilosophie u n d ist d u r c h tisch vorbereitet. 19 G. W. F. Hegel, Werke, Bd. I, S. 291.
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Marx an den einigen Konnachkantsche diese theore-
2.
KAPITEL
Die Überwindung der traditionellen Ontologie
Fichte gelangt in seinem Bemühen, eine konsequentere Philosophie der Freiheit auszuarbeiten als Kant, als erster zu logisch-ontologischen Konzeptionen, die mit der traditionellen Ontologie nicht nur in der Hinsicht brechen, daß sie ihren Anspruch auf objektive Wahrheit bestreiten und ihr die neue philosophische Disziplin der „Kritik" voranstellen, sondern auch inhaltlich und formal in prinzipieller Hinsicht. Theoretisch bestand der entscheidende Schritt in der Aussonderung des „Dings an sich" als eines Überrestes des „Dogmatismus" 1 , wodurch bei der Transformation des Kantschen Transzendentalismus für Fichte das Problem des Seins dem Wesen der Sache nach und eindeutig das Problem der „Praxis" wurde, und zwar in dem Sinne, daß alle Wirklichkeit als Moment des Bewußtseinsprozesses erschien oder genauer: als Moment der Selbstreproduktion des absoluten Ich, der „Vernunft". Fichte ist sich dessen bewußt, daß er gerade in das Gebiet, das die traditionelle Domäne der metaphysischen Ontologie war, neue Gedanken einführt, die mit der Tradition unvereinbar sind und ringt um einen Ausdruck, der Mißverständnisse zu beseitigen imstande ist. Das einzig Absolute ist nach ihm die „reine Tätigkeit" 2 , und zwar eine Tätigkeit, die das „Handeln des Ich" ist. Sie besitzt eine Subjekt-Objekt Bewegungsstruktur, in der beide Pole miteinander identisch sind — sie sind das Ich, die „Vernunft" 3 . Das Ich ist zugleich seine Tat und ihr Pro» Vgl. J . G. Fichte, Werke (Medicusausgabe), Bd. I I , S. 27; Bd. I I I , S. 15 u. a. J . G. Fichte, Werke, Bd. I I , S. 406: „Das einzige Absolute, worauf alles Bewußtsein und alles Sein sich gründet, ist reine Tätigkeit." 3 Vgl. ebenda, S. 5 : „Der Charakter der Vernünftigkeit besteht darin, daß das Handelnde und das Behandelte eins sei und ebendasselbe: und durch diese Beschreibung ist der Umkreis der Vernunft, als solcher, erschöpft, — Der Sprachgebrauch hat diesen erhabenen Begriff für diejenigen, die dessen fähig sind, d. h. für diejenigen, die der Abstraktion von ihrem eignen Ich fähig sind, in dem Worte: Ich niedergelegt; darum ist die Vernunft überhaupt durch die Ichheit charakterisiert worden. Was für ein vernünftiges Wesen da ist, ist in ihm da; aber es ist nichts in ihm, außer zufolge eines Handelns auf sich selbst: was es anschaut, schaut es in sich selbst an; aber es ist in ihm nichts anzuschauen, als sein Handeln: und das Ich selbst ist nichts anderes, als ein 2
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dukt. 4 Sich in dieser I d e n t i t ä t von Tätigkeit und Produkt selbst zu begreifen, bedeutet nach F i c h t e , das reine Ich zu begreifen und sich so auf den Standpunkt der Transzendentalphilosophie zu stellen. 5 Aus dem Handeln des absoluten Ich oder der Intelligenz müssen alle Bestimmungen des Bewußtseins, alle bestimmten Vorstellungen, die wir im Bewußtsein vorfinden, abgeleitet werden, z. B . die Vorstellung von der äußeren, materiellen W e l t , die ohne unser Zutun existiert. 6 Das Handeln des Ich ist so „frei", und die vollständige Freiheit ist nur als Handeln des Ich möglich. So entsteht die Transformation der Kantschen ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption, und durch das Zuendedenken des Kantschen Postulats der Einheit von spekulativer und praktischer Vernunft ist sie gegen die traditionelle Ontologie gerichtet, aber als auf neue Art metaphysische Konzeption des „absoluten Handelns", von dem sowohl F i c h t e ( „ I c h " , „Vernünftigkeit", „Intelligenz") als auch Schelling („absolutes Ich, Intelligenz") und Hegel („Selbstbewußtsein", „Geist", „ V e r n u n f t " ) ausgehen. Sein, Handeln und Vernunft sind also in der nachkantschen E n t wicklung des deutschen Transzendentalismus vor allem durch diese metaphysische Konzeption miteinander vereinigt. Wie wir bereits weiter oben angedeutet haben, geht es K a n t bereits in der „ K r i t i k der reinen V e r n u n f t " nicht nur um die Möglichkeit theoretischen Wissens, sondern auch um die Möglichkeit praktischer Freiheit. E r begründet die Möglichkeit ihrer Koexistenz und formuliert als Forderung in der „Grundlegung zu einer Metaphysik der S i t t e n " die programmatische Handeln auf sich selbst." Dazu die Anmerkung unter dem Strich: „Ich möchte nicht einmal sagen; ein Handelndes, um nicht zur Vorstellung eines Substrats, in welchem die Kraft eingewickelt liege, zu veranlassen." Vgl. ebenda S. 7 : „Das Ich wird nur desjenigen sich bewußt, was ihm in diesem Handeln und durch dieses Handeln (bloß und lediglich dadurch) entsteht; und dieses ist das Objekt des Bewußtseins, oder das Ding. Ein anderes Ding gibt es für ein vernünftiges Wesen nicht. . . ." Vgl. Werke, Bd. I I I , S. 24: „Es kommt aus dem gleichen Grunde ihr (der Intelligenz) auch kein eigentliches Sein, kein Bestehen zu . . . . Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Tun, und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Tätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Bestehendes gedeutet wird, welchem die Tätigkeit beiwohne." 4 Ebenda, Bd. II, S. 26. Ebenda, S. 27: „Sich selbst in dieser Identität des Handelns und Behandeltwerdens, nicht im Handeln, nicht im Behandeltwerden, sondern in der Identität beider ergreifen, und gleichsam auf der Tat überraschen, heißt das reine Ich begreifen, und sich des Gesichtspunktes aller transzendentalen Philosophie bemächtigen." 6 Ebenda, Bd. I I I , S. 24. 5
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Idee der Vereinigung von theoretischer und praktischer Vernunft. 7 In der „Kritik der praktischen Vernunft" faßt er die Einheit von spekulativer und praktischer Vernunft dem Wesen der Sache nach dualistisch, als parallele Koexistenz. „Praktisch" bedeutet bei K a n t in der Regel: die bewußten, durch die Vernunft zu Bewußtsein gebrachten Beweggründe des Handelns. 8 Der Wille ist nichts anderes als die „praktische Vernunft". 9 Die Untersuchung der praktischen Vernunft ist die Theorie von der (moralischen) Pflicht als privilegiertem Beweggrund des Handelns. Es besteht ein Unterschied zwischen dem Technischen und dem Moralisch-Praktischen, zwischen den Praktiken und der Praxis. 10 In einer späteren Arbeit, der „Metaphysik der Sitten", unterscheidet K a n t zwischen dem theoretischen und dem praktischen Gesichtspunkt, und bei dem letzteren erkennt er den pragmatischpraktischen und den moralisch-praktischen S t a n d p u n k t an. 11 Das Primat der Praxis versteht K a n t als Primat der moralischen Probleme. 12 Die Wissenschaft von der Praxis ist etwas anderes als die Theorie darüber, wie man zur Erreichung günstiger Ziele die günstigsten Mittel wählt, und etwas anderes als die Technologie. 13 In der Ethik als der Wissenschaft von der Praxis gebt, es darum, f ü r uns das moralische Verhalten der Menschen zueinander begreifbar zu machen. 14 Kants Aufsatz über die Einheit von Theorie und Praxis 1 5 m a c h t ganz und gar deutlich, wie K a n t bereits auf dem analogen S t a n d p u n k t der ? I. Kant, Werke, Bd. IV (Akademieausgabe) S. 391: „. . . Ich erfordere zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es durch Prinzipam Ende nur ein und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß." Vgl. die Akzentverschiebung zwischen der „Kritik der reinen Vernunft" und der „Kritik der praktischen Vernunft" in der Frage, ob sich das praktische Moralgesetz auf den Begriff der tranzendentalen Freiheit stützt oder ob es sich umgekehrt verhält. 8 Ebenda, S. 396 f. 9 Ebenda, S. 412. i» J. Kant, Werke, Bd. 6, (Cassirer), S. 460. Ii Ebenda, Bd. 7, S. 161. ' 2 J. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 829. 13 I. Kant, Werke (Cassirer), Bd. 7, S. 456; vgl. a. ebenda, Bd. 7, S. 18, wo Kant a) „die technisch-praktische Lehre" unterscheidet, die zur theoretischen Philosophie gehört und ganz und gar zur Theorie der Natur gehört und b) „die moralisch-praktische Lehre" — „das Praktische nach Freiheitsgesetzen", das unabhängig von der naturwissenschaftlichen Theorie ist. " Ebenda, Bd. 7, S. 302. 15 Ebenda, Bd. 6, S. 357 u . a . — „Über den Gemeinspruch: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis."
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englischen politischen Ökonomie steht. Er ist ein Versuch, die Rationalität, die der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, zu erklären und zu sanktionieren. In der ideologischen Umkehrung ergibt sich die Auffassung dieser Sanktionierung jedoch so, daß die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft als die Realisierung der „reinen apriorischen gesetzgebenden Vernunft" ausgegeben werden und das „moralisch" freie Handeln dasjenige ist, das die Prinzipien des bürgerlichen Rechtes nicht nur in dem Gedanken, sich der Legalität unterzuordnen, sondern auch in der Weihung des überhistorischen und ewigen „moralischen" Gesetzes durchführt. In der Kantschen Konzeption der praktischen Vernunft und der Freiheit kommt — vom Standpunkt der praktisch-materialistischen Ausmündung der klassischen deutschen Philosophie aus — eine ohnmächtige Auffassung der Freiheit und der Praxis zum Ausdruck. Die materielle Praxis vollzieht sich nach Kant ganz und gar nach den Gesetzen der Naturnotwendigkeit. Der Mensch kann Initiative entwickeln, aber er muß an die Formen anknüpfen, deren Realisierung in der Welt der Erfahrung ganz und gar durch die Naturnotwendigkeit bestimmt ist. Auch die Wissenschaft von der Geschichte stellt fest, daß die mächtigste Kraft der Geschichte die menschliche Naturvoraussicht ist; unsere Projekte besitzen keinerlei Einfluß auf den Gesamtverlauf der Geschichte.16 Wie erfüllt nun Fichte das Kantsche Postulat 17 der Vereinigung von theoretischer und praktischer Vernunft, von theoretischer und praktischer Philosophie? Vor allen Dingen muß dabei geklärt werden, warum auf dem Standpunkt des Kantschen Transzendentalismus die Vereinigung von theoretischer und praktischer Vernunft erforderlich und notwendig erscheint. Kant will den „Kritikern" auf drei Fragen Antwort geben: Was kann man wissen? Was soll man tun? Worauf darf man hoffen? 18 Er will eine wissenschaftliche Antwort geben, was unter den damaligen Auffassungen bedeutet, daß sie allgemeingültig und notwendig ist. Weil es keine zwei Allgemeinheiten und Notwendigkeiten gibt, muß man letzten Endes eine „Vernunft" postulieren, die auf die angeführten Fragen antwortet, wenn sich überhaupt eine wissenschaftliche Antwort geben läßt. Und Kant ist überzeugt, daß sie sich geben läßt. Fichte postuliert von Anfang an: Die Vernunft ist ihrem Wesen nach „praktisch", weil sie Selbstsetzung ist, identisch mit dem absoluten Ich, 16 Ebenda, S. 395. 17 Ist auch in der Kritik der reinen Vernunft formuliert (vgl. Werke, Bd. V — 18 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 833. Akademieausgabe, S. 19).
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m i t dem handelnden freien Selbstbewußtsein. 19 Die Vernunft ist als „praktische" Vernunft in diesem Sinne nicht — wie z. B. das „System der Sittenlehre" erklärt, 2 0 — irgend etwas anderes neben der theoretischen Vernunft. Die eigene Tätigkeit bestimmen und praktisch sein ist identisch. In gewissem Sinne wurde von der Vernunft immer anerkannt, f ü g t Fichte hinzu, daß sie praktisch sein soll, und zwar in dem Sinne, daß sie hilft, die Mittel zu der Realisierung der Ziele zu finden, die durch etwas außer ihr gegeben sind, z. B. durch das natürliche biologische Bedürfnis oder durch unsere Willkür. In diesem Sinne ist die Vernunft technischpraktisch. Fichte aber geht es um etwas anderes: Die Vernunft ist die sich selbst als Ziel setzende und selbstbestimmende Tätigkeit, insofern sie „schlechthin praktisch" ist. 21 Das „absolute Handeln" besitzt eine spezifische S t r u k t u r : Es ist „Sichselbstsetzen als Entgegensetzen" und Entgegensetzen als Selbstsetzen oder die „in sich selbst zurückkehrende Tätigkeit" 2 2 , Identität von Subjekt und Objekt. Die Negation und also auch die Negation der Negation sind ein Moment der absoluten Tätigkeit des Ich. 2 3 In dem sie Tätigkeit ist, die zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt, h a t sie eine analoge S t r u k t u r wie der organische Prozeß mit seiner inneren Zweckmäßigkeit, den K a n t in der „Kritik der Urteilskraft" untersucht hat. Auf dieser einheitlichen Basis der Selbstsetzung ist es nach Fichtc möglich und notwendig, theoretische und praktische Haltung voneinander zu unterscheiden („praktisch" hier im engeren Sinne). Die praktische Haltung — die biologische menschliche Aktivität und die bewußte materielle Arbeit — ist in dem Sinne primär, daß sie Bedingung dafür ist, daß 19
Vgl. J. G. Fichte, Werke, Bd. I, S. 290 über das absolut erste, unbedingte Prinzip allen menschlichen Wissens: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst;und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. — Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind Eins und ebendasselbe, und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Tathandlung . . ." Vgl. Werke, Bd. II, S. 28: „Nur das absolut Selbsttätige oder Praktische wird als subjektiv, als dem Ich zugehörig, gesetzt . . ."
20 G. W. Fichte, Werke, Bd. II, S. 451. Ebenda, S. 451—452: „Die praktische Dignität der Vernunft ist ihre Absolutheil selbst; ihre Unbestimmbarkeit durch irgend etwas außer ihr, und vollkommene Bestimmtheit durch sich selbst." •n Ebenda, S. 21: Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 296. 23 Vgl. zu Fichtes Konzeption der Negativität, ebenda, Bd. 1, S. 296, 299, 325, 328, 330, 332, 346, 379, 399, 419 u. a. 21
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das theoretische Ich sich seiner bewußt werden kann. 2 4 Das Primat der praktisch-freien Tätigkeit des „vernünftigen Wesens" vor seiner rein noetischen Tätigkeit begründet Fichte in den „Grundlagen des Naturrechts" damit, daß die Tätigkeit des Ich in der anschauenden theoretischen Haltung („in der Weltanschauung") nicht ausreicht, das vernünftige Wesen als solches zu setzen 25 , d.h., sie kann nicht ausreichende Bedingung sein, daß der selbständige, freie und autonome Mensch denkt. Bei Fichte handelt es sich jedoch auch bei der kontemplativen theoretischen Haltung um „Handeln": Das vernünftige Wesen muß sich als Anschauendes setzen. Vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist die theoretische Anschauung nichts anderes als das „zu sich selbst zurückkehrende Ich", und die Welt ist nichts anderes als das Ich, betrachtet in seinen ursprünglichen Grenzen. Dann aber muß — meint Fichte — hier das selbständige Ich bereit sein, damit ihm etwas zugeschrieben werden kann. E r stellt die Frage, wie das selbständige autonome Ich ursprünglich entsteht, und das läßt sich nicht aus der kontemplativen Erkenntnis der Welt („aus der Weltanschauung") erklären. Beide, die Tätigkeit des Ich in der kontemplativen Erkenntnis und die Tätigkeit des Ich in der praktischen Aneignung und Überwindung des Widerstandes, den das Nicht-Ich setzt, sind in ihrem Kern Tätigkeit, aber nur jene erste Gestalt der Tätigkeit des Ich ist „freie Tätigkeit im Zustande der Gebundenheit" 2 6 , d. h. einer gewissen Abhängigkeit von den Objekten, während erst die zweite Art freies und vollständig autonomes Wirken ist. Fichte schließt daraus, daß das vernünftige Wesen nicht selbständiges und freies vernünftiges Wesen, Ich, Intelligenz sein könnte, wenn es nicht praktisches Wesen wäre. Willen und praktische Tätigkeit sind die innerste Wurzel des Ich. 2 7 Darüber, wie auch über eine Reihe weiterer Fragen, die sich auf unsere Problematik beziehen, schreibt sachkundig M. S o b o t k a in dem Buch „Clovek a präce v nemecke klasicke filosofie", Prag 1964, S. 6 1 ff. 25 G. F i c h t e , Werke, Bd. I I , S. 22. 26 E b e n d a , S. 23.
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E b e n d a , S. 2 5 : „ E s wird behauptet, daß das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewußtseins sei; daß ein vernünftiges Wesen nur im Wollen unmittelbar sich wahrnimmt, und sich nicht, und demzufolge auch die W e l t nicht wahrnehmen würde, mithin auch nicht einmal Intelligenz sein würde, wenn es nicht ein praktisches Wesen wäre. Das Wollen ist der eigentliche wesentliche Charakter der V e r n u n f t ; das Vorstellen steht mit demselben der Einsicht des Philosophen nach, freilich in Wechselwirkung, aber dennoch wird es gesetzt als zufällig. Das praktische Vermögen ist die innigste Wurzel des Ich, auf dieses wird erst alles andere aufgetragen, und daran angeheftet."
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In seinen Vorträgen von 1794 erklärt Fichte, warum vom S t a n d p u n k t dieser Philosophie der Freiheit aus die praktische Tätigkeit notwendig ist, wenn in der Praxis bereits das freie Ich entstanden ist: damit das autonome Ich sich erhält und sich so als selbständig und autonom erneuert. 2 8 Diese Vorstellung hängt dabei mit Fichtes Vorstellung vom höchsten Endziel des Menschen zusammen, das „in der völligen Ubereinstimmung des Menschen mit sich selbst besteht und — als Bedingung dessen — der Übereinstimmung aller Dinge außer ihm mit seinen notwendigen praktischen Begriffen über die umgebenden Dinge, mit den Begriffen, die bestimmen, wie jene umgebenden Dinge sein sollen." Das Endziel ist, sich alles „Unvernünftige" zu unterwerfen, d. h. was unvereinbar mit dem autonomen und sich selbstsetzenden Ich ist, sich dies frei und nach seinen eigenen Gesetzen anzueignen. 2 9 Ziehen wir noch in Betracht, wie Fichtes Grundschriften über die Wissenschaftslehre das Verhältnis von theoretischer und praktischer Haltung (und Vernunft) fassen. Es muß betont werden, daß Fichte vor der gesonderten Darlegung der Grundlagen des theoretischen Wissens und der „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen" die Darlegung der Prinzipien aller Wissenschaftslehre stellt. In den ersten Prinzipien alles Wissens ist dies clic vollständige Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie. Andererseits gilt jedoch auch hier bereits, daß der „praxeologische" Teil der Wissenschaftslehre f ü r die spezifische Bewertung Fichtes „bei weitem der wichtigste" ist, erst das feste F u n d a m e n t des theoretischen Teils bietet und ihn begründet. 3 0 28
Ebenda, Bd. I, S. 226: „Soll nun dennoch das Ich auch in dieser Rücksieht stets einig mit sich selbst sein, so muß es unmittelbar auf die Dinge selbst, von denen das Gefühl und die Vorstellung des Menschen abhängig ist, zu wirken streben; der Mensch muß suchen, dieselben zu modifizieren, und selbst in Übereinstimmung mit der reinen Form seines Ich zu bringen, damit nun auch die Vorstellung von ihnen, insofern sie von ihrer Beschaffenheit abhängt, mit jener Form übereinstimme. — Diese Modifikation der Dinge nun, wie sie nacli linsern notwendigen Begriffen von ihnen sein sollen, ist nicht durch den bloßen Willen möglich, sondern es bedarf dazu auch einer gewissen Geschicklichkeit, die durch Übung erworben und erhöht wird."
29 Ebenda, S. 227. 30 Ebenda. S. 213. Vgl. ebenda, S. 317, 321, 411, 478, 486, 511. Vgl. a. ebenda. Bd. II, S. 397: „Ich finde mich als wirkend in der Sinncnwelt. Davon hebt alles Bewußtsein an; und ohne dieses Bewußtsein meiner Wirksamkeit ist kein Selbstbewußtsein."
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Bei der Darlegung der Grundlagen des theoretischen Wissens tut Fichte eigentlich dem Wesen der Sache nach nichts anderes, als daß er die Formen und die Bewegungsstruktur des Denkens reflektiert, die in der Kantschen transzendentalen Deduktion der Kategorien nach der Abschreibung des „Dinges an sich" als eines Überrestes des Dogmatismus angewandt ist. Fichte will kritischer und gründlicher sein als Kant. Er meint, daß er nur umformuliert und bewußt ausgedrückt hat, was K a n t wirklich in der Deduktion tut, wenn er als Lehrsatz der theoretischen Wissenschaftslehre den Satz formuliert: „ D a s Ich setzt sich (setzt sich selbst) als bestimmtes Nicht-Ich, um dann Betrachtungen darüber anzustellen, ob und in welchen Bestimmungen dieses Prinzip denkbar ist. Er will die Kantsche Auffassung fundieren, wobei er sie prinzipiell überschreitet, den Weg zu neuen protophilosophischen Auffassungen öffnet, nach denen das absolute Ich, die praktische Vernunft das Prinzip von allem ist. Eine bedeutende Tat für die Überwindung der traditionellen Ontologie und für die nachfichtesche Auffassung der Einheit und Identität von theoretischer und praktischer Philosophie waren Fichtes Arbeiten über die Problematik von Gesellschaft und Recht. Der Begriff des Individuums und der Begriff des Rechts sind Bedingungen des Selbstbewußtseins, sagt Fichte in der „Grundlage des Naturrechts". 3 1 Wie ist das zu verstehen? Es geht nicht um eine zusätzliche Anwendung der allgemeinen Wahrheiten, die in den vorhergehenden Arbeiten erzielt worden sind, auf den Bereich der gesellschaftlich-rechtlichen Verhältnisse. In den Fichteschen Schriften über Naturrecht und Moral („Das System der Sittenlehre") muß man die weitere Ausarbeitung und Vertiefung des Fichteschen Gedankens vom Primat der Praxis sehen. Während in den „Grundlagen der Wissenschaftslehre" die praktische Haltung vorzugsweise in Betrachtungen über Streben, Triebe und Gefühle charakterisiert und analysiert worden waren, ist in der „Grundlegung des Naturrechts" und im „System der Sittenlehre" vor allem die Praxis in den reicheren gesellschaftlich-rechtlichen Formen Gegenstand. E s handelt sich um die integrierende Einbeziehung der praktischen gesellschaftlich-rechtlichen Problematik in die protophilosophische Untersuchung. Die traditionelle Ontologie verwandelt sich bei Fichte in die Metaphysik der praktischen Vernunft. Die Fundamentalfragen der Logik (der theoretischen Stellung) sind dort untrennbar mit bestimmten — wie man heute sagen könnte — existential-praktischen Haltungen vereinigt, die sich nicht theoretisch deduzieren und die sich auch auf keinerlei Form der theore•li Kbenda, S. 5 6 - 5 7 .
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tischen Haltung reduzieren lassen. Das Primat des außerrationalen 32 praktischen Verhaltens, das Fichte proklamiert, ist sofort und man kann sagen praenatal rationalisiert, in eine Bedingung verwandelt, in der die sich selbst setzende absolute Vernunft sich selbst setzt und schafft. Fichtes Vereinigung von Praxis und Vernunft zur „praktischen Vernunft", deren primäre Seinsform das „absolute Handeln" (durch das Selbstsetzen der Kontraposition) ist, ist der Schlüssel für die Erfassung der weiteren Entwicklung der deutschen Transzendentalphilosophie und für die Marxsche Überwindung der traditionellen Ontologie bei der Kritik der deutschen spekulativen Philosophie, d. h. der Metaphysik der praktischen Vernunft. Die neue Methode von Marx, die Fragen nach den Grundlagen der Wissenschaft von der Praxis und der Natur zu stellen und zu untersuchen, die wir als ontopraxeologisches Verfahren charakterisiert haben, knüpft kritisch an die Praktischmachung der philosophia prima in der deutschen Transzendentalphilosophie an, deren Zentralfrage — vom Gesichtspunkt ihres Ausmündens in den praktischen Materialismus — die menschliche Praxis in der deformierenden Reduktion auf die „praktische Vernunft" als dem Absoluten ist.
3.
KAPITEL
Praxis und Vernunft
Wenn bereits Fichte zu der Auffassung gelangt war, daß der Begriff des Individuums und der Begriff des Rechts Bedingungen des Selbstbewußtseins sind, dann fügt Schelling, der sein „System des transzendentalen Idealismus" als Ausarbeitung der philosophischen Entdeckungen Fichtes betrachtet, hinzu: dann ist also die Geschichte die Grundlage des Selbstbewußtseins.1 Sie ist die Explikation des absoluten Ich; ihre „Zelle" ist das „absolute Handeln" (die Selbstsetzung der Kontrapositionen, die Negation der Negation). Deshalb ist die empirische Geschichte in der Zeit mit ihrer ;J2
1
Das Primat des Außerrationalen bedeutet hier — wie Fichte sagt — vor allem das Primat von „Wollen und Wirken". Es handelt sich nicht wie bei Pascal um das Primat des passiven, engen religiösen Gefühls. Vgl. Schelling, System des tranzendentalen Idealismus, 1. Ausg. 1800, S. 417.
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tischen Haltung reduzieren lassen. Das Primat des außerrationalen 32 praktischen Verhaltens, das Fichte proklamiert, ist sofort und man kann sagen praenatal rationalisiert, in eine Bedingung verwandelt, in der die sich selbst setzende absolute Vernunft sich selbst setzt und schafft. Fichtes Vereinigung von Praxis und Vernunft zur „praktischen Vernunft", deren primäre Seinsform das „absolute Handeln" (durch das Selbstsetzen der Kontraposition) ist, ist der Schlüssel für die Erfassung der weiteren Entwicklung der deutschen Transzendentalphilosophie und für die Marxsche Überwindung der traditionellen Ontologie bei der Kritik der deutschen spekulativen Philosophie, d. h. der Metaphysik der praktischen Vernunft. Die neue Methode von Marx, die Fragen nach den Grundlagen der Wissenschaft von der Praxis und der Natur zu stellen und zu untersuchen, die wir als ontopraxeologisches Verfahren charakterisiert haben, knüpft kritisch an die Praktischmachung der philosophia prima in der deutschen Transzendentalphilosophie an, deren Zentralfrage — vom Gesichtspunkt ihres Ausmündens in den praktischen Materialismus — die menschliche Praxis in der deformierenden Reduktion auf die „praktische Vernunft" als dem Absoluten ist.
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KAPITEL
Praxis und Vernunft
Wenn bereits Fichte zu der Auffassung gelangt war, daß der Begriff des Individuums und der Begriff des Rechts Bedingungen des Selbstbewußtseins sind, dann fügt Schelling, der sein „System des transzendentalen Idealismus" als Ausarbeitung der philosophischen Entdeckungen Fichtes betrachtet, hinzu: dann ist also die Geschichte die Grundlage des Selbstbewußtseins.1 Sie ist die Explikation des absoluten Ich; ihre „Zelle" ist das „absolute Handeln" (die Selbstsetzung der Kontrapositionen, die Negation der Negation). Deshalb ist die empirische Geschichte in der Zeit mit ihrer ;J2
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Das Primat des Außerrationalen bedeutet hier — wie Fichte sagt — vor allem das Primat von „Wollen und Wirken". Es handelt sich nicht wie bei Pascal um das Primat des passiven, engen religiösen Gefühls. Vgl. Schelling, System des tranzendentalen Idealismus, 1. Ausg. 1800, S. 417.
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S t r u k t u r von These — Antithese — Synthese etwas Abgeleitetes und Untergeordnetes; sie ist das Mittel zur Selbstverwirklichung des absoluten Ich, das selbst nicht zeitlich bestimmt ist. 2 Auch für Schelling ist das Ich („Intelligenz") seinem Kern nach praktisch. Es entsteht durch den ursprünglichen Akt der Selbstbestimmung (der Freiheit), und diese Selbstbestimmung der Intelligenz ist „Wollen" im allgemeinsten Sinne des Wortes, transzendentaler freier (praktischer) Prozeß. 3 Die Theorie des Rechts und die Theorie der Geschichte integriert Schelling zum protophilosophischen System des transzendentalen Idealismus. Damit vertieft er jene Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie, durch die Fichte die traditionelle Ontologie gesprengt hatte, und bereichert sie um eine neue Dimension. 4 Darin schreitet Hegel weiter fort, wenn er die Idee des „absoluten Handelns" und das Prinzip der „praktischen Vernunft" zu einem allumfassenden philosophischen System ausarbeitet. 5 Alles was ist oder von dem wir wollen, daß es frei, vernünftig und autonom ist, muß die S t r u k t u r des „absoluten Handelns" besitzen — die Selbstsetzung durch den Gegensatz, die Negation der. Negation. Und alles, was eine analoge Struktur besitzt, ist „vernünftig" (z. B. der bürgerliche konstitutionelle Staat, die Liebe, in unvollendeter Gestalt auch der natürliche Organismus). Hegel ist sich dessen bewußt, daß er in der Linie der Praktischmachung der philosophia prima fortschreitet. In dem Jenenser Aufsatz über Rechtsphilosophie weist er zustimmend darauf hin, daß bereits K a n t und Fichte das Absolute völlig in die praktische Philosophie gelegt haben. 6 Sie haben es aber nicht konsequent zu Ende geführt, auf der Autonomie des „absoluten Handelns" das ganze System der Philosophie aufzubauen und das muß notwendig korrigiert werden. 2 Ebenda, S. 246, 296 u. a. Ebenda, S. 324—325. Vgl. S. 325 über die Unterscheidung a) des freien Aktes in transzendentaler Bedeutung, das heißt der ursprüngliche Freiheitsakt, die Selbstsetzung der Kontraposition in der Identität von Subjekt und Objekt, in der das Ich entsteht; b) des freien Aktes in der gewöhnlichen Bedeutung, wo dem Subjekt das Objekt als etwas anderes gegenübersteht.
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Vgl. ebenda, S. 327: „Es ist die Autonomie, welche insgesamt nur an die Spitze der praktischen Philosophie gestellt wird, und welche zum Prinzip der ganzen Philosophie erweitert, in ihrer Ausführung transzendentaler Idealismus ist." Vgl. Fichtes programmatische Idee, die praktische Vernunft zu einem System der Philosophie auszuarbeiten (Werke, Bd. II, S. 451, 453). G. W. F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, in: Werke, Bd. 7 (Lasson), S. 331.
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Die Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie wird in der Hegeischen Philosophie vor allem in der neuen Konzeption des Prinzips der Spekulation durchgeführt und folglich in der Konzeption dessen, was die wissenschaftliche Theorie (Philosophie) ist. Nur das kann wahrhafte Wissenschaft sein, was entsprechend seinem Gegenstand und Inhalt das Absolute (das Unendliche, die Freiheit) ist. K a n t und Fichte arbeiteten sich mehr an die höchste Abstraktion der Unendlichkeit 7 (d. h. der Unbeschränktheit, der Unbedingtheit, der Unabhängigkeit, der Autonomie, der Freiheit) heran als die vorhergehenden Philosophen, aber auch ihre Auffassung des Unbedingten und der Freiheit ist unbefriedigend geblieben. Sic ist es vor allem deshalb, weil sie von der Autonomie des Individuums ausgeht und die Vertragstheorie des Staates vertritt. Eine solche Auffassung der Freiheit, meint Hegel, f ü h r t ins Verderben. Wenn Fichte den Menschen im Denken (in der theoretischen Haltung) als beschränkt betrachtete, während er ihn im Wollen (in der freien Haltung) f ü r unbeschränkt hielt, dann kehrt Hegel diese Charakteristik u m : Der Mensch ist nur im Denken, in der Theorie unbegrenzt, während in der freien Haltung nur das zur Staatsgesellschaft organisierte Volk frei ist, also der souveräne Staat. Die Verabsolutierung der bürgerlichen Lebensformen in der reflektierten rechtlichen Bedeutung ist das Geheimnis der Hegeischen Vereinigung von thcorctischer und praktischer Philosophie. Kants Idee von der Freiheit als dem Schlußstein des Gesamtgebäudes der Philosophie ist hier zugleich mit der spezifischen Erfüllung des Kantschen Postulats der Vereinigung von theoretischer und praktischer Vernunft in einem höheren Prinzip, in der „Vernunft" realisiert, die das Wesen des absoluten Geistes ist. Die traditionelle vorkantsche Metaphysik verwandelt sich einerseits in die „Phänomenologie des Geistes", andererseits in die „Wissenschaft der Logik", aber diese Logik ist die Theorie des entwickelten „absoluten Handelns" — der „praktischen Vernunft", sie ist die mystifizierte Praxeologie — deshalb Ontotheologie. Erst in diesem Horizont der metaphysischen, ontotheologischen Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie erhalten Hegels Darlegungen über Unterschied und Beziehung zwischen theoretischer und praktischer Haltung in der Sphäre des Bewußtseins (in der Sphäre des „endlichen subjektiven Geistes") 8 wie auch Hegels Analysen der menschlichen Arbeitstätigkeit ihren authentischen Sinn. 1 Ebenda, S. 361. 8 Ebenda, Bd. 3, S. 25, 34, 38 u. n„ Bd. 7, § 4 u. a. 2 t Zelen^
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Wenn bei Fichte, Schelling und Hegel in der protophilosophischen Betrachtung die Rechtsphilosophie einen besonderen Platz einnahm, dann n i m m t bei Marx in der E r k l ä r u n g der philosophisch-theoretischen Gvundprobleme die Kritik der politischen Ökonomie eine besondere Rolle ein, d. h. die theoretische Analyse der kapitalistischen ökonomischen Praxis als der „ G r u n d f o r m " der Praxis unter den gegebenen historischen Bedingungen. Historisch läßt sich die Auffassung der R a t i o n a l i t ä t in dem ökonomischen Werk von Marx so charakterisieren, daß sie der ersten Phase der kommunistischen (theoretisch-praktischen) Kritik der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, in der die revolutionäre Negation der bürgerlichen Lebens- und Denkformen sich dem Wesen der Sache nach in den Horizonten dieser Formen der Praxis bewegt, die in entscheidender Weise durch die K a p i t a l bewegung als des mächtigsten „ S u b j e k t s " der Geschichte geschaffen wird. Zugleich ergibt sich aus der neuen Auffassung, die durch Marx begonnen wird, daß unter den Bedingungen, in denen der praktische Lebensprozeß der Menschen prinzipiell anderen Charakter haben wird, als er sich im klassischen K a p i t a l i s m u s gebildet hat, es bei der Erklärung der ontopraxeologischen Problematik (d. h. den Grundlagen des Wissens von der menschlichen Praxis und von der Natur) notwendig sein wird, sich auf neue Zusammenhänge im K o m p l e x der Momente des praktischen Lebens zu beziehen und auch über diese neue Stellung zu reflektieren. Marx kehrt nicht auf den S t a n d p u n k t jener vorkantischen Ontologie zurück, die das Wissen als direktes, die Praxis als unvermittelte Widerspiegelung der objektiven Welt begreifen wollte. E s k o m m t zur Formulierung der Aporicn dieses Versuchs. Die deutsche Transzendentalphilosophie geht den umgekehrten Weg. Sie will die Einheit von S u b j e k t und Objekt, die Möglichkeit der Erkenntnis dadurch erklären, daß sie das objektive Sein als Produkt des Bewußtseins betrachtet. Hier entstehen jedoch neue Aporicn, wie das äußere Sein zu „deduzieren" ist, das in der freien Praxis außerhalb des Bewußtseins steht. Ohne es anzuerkennen, zumindest in der Form des Fichteschen Triebs, läßt sich das freie praktische Ich nicht „deduzieren". Die Aporien dieser Art des Versuchs, nämlich des transzendental-idealistischen, begann Feucrbach zu enthüllen und zu kritisieren, als er darauf hinwies, daß der transzendentale Idealismus kein wirkliches außergedankliches" Unmittelbares S e i n " kennt, daß er also in die Immanenz des Bewußtseins verzaubert ist. Marx überdenkt das Verhältnis von Sein, Praxis und Vernunft nach der E r f a h r u n g und a u s der Erfahrung der aporischen Konsequenzen beider Versuche und bemüht sich um eine neue Lösung. E r 322
knüpft an die gedankliche Arbeit der Transzendentalphilosophie an, insofern sie als Theorie der Freiheit im Sinne der Selbstreproduktion, der Koinzidenz von Spontaneität und Rezeptivität über einige Strukturen zu reflektieren begann, die den Strukturen der menschlichen Praxis analog sind. Zugleich durchbricht jcdoch Marx prinzipiell den Kreis der Transzendcntalphilosophie, gibt das immanente Bewußtsein als Vorurteil preis und kehrt zum Empirismus zurück, also — vom Standpunkt der Kulmination der klassischen deutschen Philosophie — zu etwas, was als wesentlich unphilosophisch und unwissenschaftlich betrachtet wird, Das ist aber ein neuer Empirismus, verstanden als Niclitidentität von Theorie und Praxis auf der Basis der neu verstandenen (und erlebten) Einheit von Theorie und Praxis. Es ist dies ein Empirismus, der die Erfahrung als Praxis faßt, was bedeutet, daß die vorkantsche Kontraposition von a posteriori und a priori hier ihren ursprünglichen Sinn verliert. War für Descartes der einzige Ausgangspunkt der unbedingten Gewißheit das cogito, ergo sum, dann war Fichte der erste, der diesen subjektiven Ausgangspunkt in das Subjektiv-Freie, Subjektiv-Praktische modifizierte — und zugleich metaphysisch zum Prinzip der idealistischen Spekulation ausdehnte. Auf dem Standpunkt des praktischen Materialismus ist der Ausgangspunkt durchaus nicht das cogito und auch nicht das Fichtesche sich selbst schaffende, theoretisch-praktische Ich bin Ich, sondern die evidente Erlebnis-Erkenntnis des praktisch tätigen individuellen Menschen, in dem die Existenz, die Niclitidentität und das Verhältnis meines bewußten Seins und meines außerbewußten gegenständlichen (natürlich-gesellschaftlichen) Seins gesetzt sind. Die Unbestimmtheit dieses Ausgangspunktes ist unvermeidlich, weil es sich eben nur um den Ausgangspunkt, nicht aber um das „Prinzip" der Philosophie handelt — was nichts daran ändert, daß es das einzige fundamentum inconcussum für die Erklärung der ontopraxeologischen Problematik auf dem Standpunkt des praktischen Materialismus ist. 9 " Vom S t a n d p u n k t des praktischen Materialismus aus erscheint M a r x das traditionelle Problem der Philosophie der Neuzeit, wie man vor der primären Gewißheit des Bewußtseins (des Selbstbewußtseins) zur Gewißheit der außerhalb des Denkens existierenden Wirklichkeit gelangt, als „ideologisch". Vgl. K . M a r x / F . E n g e l s , Die deutsche Ideologie, i n : Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S . 4 3 5 : „ W i r haken gesehen, daß das ganze Problem, vom Denken zur Wirklichkeit 1111(1 daher von iler Sprache zum Leben zu kommen, nur in der philosophischen Illusion existiert, d. Ii. mir berechtigt ist für das philosophische Bewußtsein, das über die Beschaffenheit und den Ursprung seiner scheinbaren Trennung vom Leben unmöglich klar sein k a n n . " 21*
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In der Gestalt des Marxismus entsteht der dritte historische Grundtyp der Theorie. Im antiken Typ, der klassisch von Aristoteles zum Ausdruck gebracht wird, handelt es sich um eine kontemplative Auffassung der Theorie als des Gipfelpunkts des menschlichen Verhaltens, der Sinn und Ziel in sich selbst hat. In der bürgerlichen Epoche ist die Grundauffassung der Beziehung von Theorie und Praxis utilitaristisch-technisch, ergänzt durch Illusionen vom Primat der reinen, überhistorischen Theorie (der „Vernunft" einschließlich der „praktischen Vernunft" der klassischen deutschen Philosophie). In diesem Typ der Theorie wird nicht begriffen, daß die Theorie selbst ihrem Wesen nach ein Moment der sich geschichtlich umgestaltenden Praxis ist. In der Philosophie kam das so zum Ausdruck, daß auch die Denker der klassischen deutschen Philosophie, die direkt die Vereinigung von theoretischer und praktischer Philosophie formulierten, den Formen des Denkens den Charakter der Absolutheit und Ewigkeit zuerkannten, die die gegebene (bürgerliche) Welt als vernünftig ausdrückten. Das betrifft nicht nur Hegel, sondern auch Kant und Fichte u. a. In diesem Sinne bemerkt Marx in der 11. These über Feuerbach: Die Philosophen haben die Welt (lies: die bürgerliche Welt) nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. Die Kontemplativität, die Marx hier meint, ist nicht die aristotelische, denn die typischsten Vertreter des philosophischen Denkens der bürgerlichen Ära waren praktisch interessiert. Marx will, wie es scheint, nichts anderes sagen, als: Die Philosophen, d. h. in der damaligen Bedeutung: die Vertreter der verkehrten Ansicht von der entscheidenden Rolle der reinen, „vernünftigen" Theorie, begreifen nicht das Verhältnis vonTheroie und Praxis in seiner praktisch-materialistischen Bedeutung, d. h. in der damaligen Marxschen Terminologie: sie sind Gefangene der „Ideologie". Deshalb bleiben alle ihre gelegentlichen Kritiken der bestehenden Welt und die Programme ihrer Veränderung innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Lebensformen, sind nur Plänkeleien über die verschiedene Interpretation dessen, was ist. Die theoretische Kritik, die die überhistorische, über der Praxis stehende Vernunft zur Voraussetzung hat, kann kein realisierbares Programm der Veränderung der bürgerlichen Welt geben. Es gibt Argumente für die Annahme — deren Bearbeitung bereits den Rahmen dieser Arbeit überschreitet —, daß die Anstrengungen der lebenden Generationen um die Lösung der heutigen ökonomischen, staatsbürgerlichen, technischen, emotionalen und moralischen Probleme immer mehr — u. a. dank der bisherigen Erfolge der revolutionären Arbeiterbewegung — sich unter Bedingungen bewegen, die von den durch die Bewegung des Kapitals bestimmten unterschieden sind wie auch von der 324
revolutionären Negation dieser Bedingungen bei Aufrechterhaltung der alten Grundformen der materiellen Praxis. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit, die Grundfragen dieses neuen Typs der Rationalität zu klären, die der beginnenden zweiten Phase der revolutionären Kritik an den bürgerlichen Formen der menschlich-gesellschaftlichen Praxis entsprechen. Wenn diese Untersuchung mittels des konsequenten dialektisch-materialistischen Verfahrens durchgeführt wird, wie es von Marx entdeckt worden ist, dann wird dies — nicht dennoch, sondern gerade deshalb — die Erkenntnis von der historischen Vergänglichkeit der Marxsclien Konzeption der Rationalität implizieren, wie sie in ihren konkreten Formen in der Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie zum Ausdruck gebracht worden ist. 1 0 Zugleich wird der Kern der Marxschen Methode — die praktisch-materialistische Auffassung der Wirklichkeit und der Theorie — aktuell, wie sie in anfänglicher Gestalt in der Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie und der spekulativen Philosophie, insbesondere Hegels, ausgearbeitet worden ist. Es scheint, daß es nur in der Anknüpfung an diese Elemente und an diesen tieferen methodischen Kern der Marxschen Theorie möglich ist, bei der Erklärung der ontopraxeologischen Problematik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter fortzuschreiten. 10
Wenn man den scheinbar antidogmatischen Ausgangspunkt in der Verabsolutierung und Ontologisierung der Marxschen Theorie des
Warenfetischismus
erblickt, dann bewegen sich diese theoretischen Anstrengungen, auch wenn sie teilweise wirksam für die Erschütterung dogmatischer Konzeptionen anderer R i c h t u n g sein mögen, im Wesen nach auf den Ebenen einer überwundenen historischen Phase.
325
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Soweit nicht anders erwähnt, werden die Schriften K a n t s nach der Berliner Akademieausgabe (Berlin 1902 ff.) und Hegels Schriften nach der Glocknerausgabe zitiert. Die Marxschen Schriften werden nach der Ausgabe K. Marx/ F. Engels, Werke (Berlin 1956ff.) und nach der Marx-Engels-Gcsaintausgabe (MEGA), 1. Abt., Bd. 1 - 6 ( F r a n k f u r t a. M.-Berlin 1 9 2 7 - 1 9 3 2 ) zitiert. A u ß e r d e m : K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953. K. Marx/F. Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953. K. M a r x / F . Engels, Briefe über das „ K a p i t a l " , Berlin 1954.
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