Die große Wunde: Psychologische Betrachtungen zum Verhältnis von Kapital und Arbeit 9783486749304, 9783486749298


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German Pages 158 [164] Year 1923

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Die Große Wunde
II. Persönlichkeit Und Masse
III. Die Zweite Revolution
IV. Der Schuh Der Macht
V. Die Reform
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Die große Wunde: Psychologische Betrachtungen zum Verhältnis von Kapital und Arbeit
 9783486749304, 9783486749298

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Ale große Wurröe psgchologische Oetrachtungen zum Verhältnis von

Kapital unö Arbeit Äon

Ernst Horneffer a. o. Professor öer Philosophie in Gießen

Zweite Auflage (4. bis 5» TausenL)

München unö Vertin 192,3

Druck unö Verlag von R. Älöenbourg

Alte Rechte, einschließlich des Übersehungsrechtes, vorbehalten Copyright 1922 by R. Oldenbourg, München

Vorwort zur zweiten Auflage. Die Gedanken dieses Buches sind auf fruchtbaren Boden ge­ fallen. Die Mahnung an die Leiter der deutschen Wirtschaft ist nicht vergeblich verhallt. Nicht nur däß die maßgebenden Kreise der Industrie das Buch eifrig gelesen haben; sie haben auch vielfach zum Zwecke einer Erläuterung meiner Grundgedanken und einer Aus­ sprache mit mir persönlich Fühlung genommen. So ist es zu einer weiteren Behandlung der hier aufgeworfenen Fragen gekommen, auf die ich die künftigen Leser dieses Buches Hinweisen muß. Auf Ein­ ladung der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände hielt ich am 11. Oktober 1922 in Berlin einen Vortrag, der unter dem Titel „Der soziale Gegensatz und seine Überwindung" unter den Schriften der deutschen Arbeitgeberverbände im.Verlage „Offene Worte", Charlottenburg 4, erschienen ist. Ferner hat sich in der Zeitschrift „Der Arbeitgeber" eine lebhafte Debatte an mein Buch angeschlossen, in die ich mit Aufsätzen in Nr. 17 des Jahrganges 1922 und in Nr. 1 von 1923 eingegriffen habe, denen im Maihefte dieses Jahres ein weiterer Aufsatz folgen soll. Wer zu diesem Buche Stellung nehmen will, den bitte ich, die dort auegeführten Gedanken mit zu berücksichtigen. Gießen, im April 1923.

Dr. Ernst Horneffer.

Inhalt. Seite

I. Die grohe Wunde........................................................................

II. Persönlichkeit und Masse . .

1

...........................................14

IIL Die zweite Revolution..............................................

. .

36

IV. Der Schuh der Macht..................................................................... 57 V. Die Reform......................................................................................71

I.

Die große Wunde. Die folgende Abhandlung ist für die Führer unseres wirt­ schaftlichen Lebens bestimmt. Eine ganz unvergleichlich hohe Verantwortung ruht auf den Führern unseres gegenwärtigen Wirtschaftslebens, eine Verantwortung, wie sie ähnlich noch nie­ mals wirtschaftlich tätigen Männern oder Gruppen zugefallen ist. Politisch ist das deutsche Volk völlig ohnmächtig geworden, mili­ tärisch sind wir gänzlich lahmgelegt, obwohl wir uns ehemals militärisch für unbesiegbar hielten. Die einzige Hoffnung auf eine Erhaltung des deutschen Volkes heftet sich jetzt an unsere Wirtschaft. Wir werden den Versailler Frieden nur überdauern, werden unser Volk vor der vollständigen Zermürbung und Zersetzung nur retten können, wenn wir uns trotz aller Belastungen, Einschnürungen und Vergewaltigungen wirtschaftlich als unüberwindlich erweisen. Das aber hat zur notwendigen Folge, dah alle Hemmungen aus dem wirtschaftlichen Prozeß ausgeschaltet werden, wenigstens alle schweren und tiesergreifenden Störungen, die den Erfolg unserer wirtschaftlichen Arbeit ernsthaft in Frage stellen, ihn nach­ haltig beeinträchtigen können. Das schwerste Hemmnis für den Erfolg der deutschen Wirtschaft liegt offenbar in dem sozialen Zwiespalt unseres Volkes, in dem anscheinend unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Eine solche Schärfe hat dieser Gegensatz angenommen, daß er die ganze deutsche Wirt­ schaft untergraben, daß er unter Umständen und zwar möglicher­ weise bald, in kürzester Frist unser ganzes Wirtschaftsleben zer­ sprengen und zerschlagen kann. Es fehlt wahrlich nicht an Unternehmungs- und Erfindungsgeist im deutschen Volke. Kaufmännische Kühnheit und Scharfblick und ebenso wissenschaftlich-technische Genialität und Leistungsfähigkeit sind überreich im deutschen Volk vorhanden. An diesen Begabungen wird für absehbare Zeit kein Horneffer, Vie große Wunde. 2. Stuft.

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Mangel sein. Aber all diese Befähigungen und deren etwaige Früchte bleiben illusorisch, wenn sie nicht die freudigen Arbeitskräfte finden, um die erzeugten Ideen auch auszuführen. Die Gespanntheit des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit hat seit den Tagen der Revolution nicht nachgelassen, hat keinerlei Abmilderung erfahren. Es wäre ein gefährlicher Irrtum, das zu glauben. Nur scheinbar ist inzwischen eine gewisse Beruhigung und Stetigkeit der Arbeit wieder eingetreten. Die revolutionären Zuckungen haben sich bis in die jüngste Zeit und bisweilen mit großer Heftigkeit fortgepflanzt. Aber schon die sich ständig ablösenden Streiks sind Beweis genug, daß eine dauernde Beruhigung und Sicherung unseres Wirtschaftslebens durchaus noch nicht wieder zurückgewonnen worden ist. Man ist geneigt, diese Vorgänge nur als natürliche Nachklänge und unvermeidliche Auswirkungen der verflossenen Revolution aufzufassen, die mit der Zeit von selbst verschwinden würden. Das ist ein sehr gefährlicher, fast sträflicher Optimismus. Diese ununterbrochenen revolutionären Aufwallungen und Streikbewegungen können ebensogut auch die Vorboten noch größerer, noch grauenvollerer und verheerenderer Erschütterungen und Zerstörungen sein, als diejenigen waren, welche wir erfahren haben. Unheimlich schwer und drohend steht das Problem des Ver­ hältnisses von Kapital und Arbeit vor uns, so schwer und bedrohlich, daß die meisten dieses Problem überhaupt für unlösbar halten, daß sie an einer nur einigermaßen befriedigenden Lösung dieser Ausgabe, nämlich einer praktischen Lösung, die die Arbeitskräfte in leidlichem Frieden zu gemeinsamer Tätigkeit wieder zusammenführt, völlig verzweifeln. Ss geht aber nicht an, mit verschränkten Armen totlos dem Verhängnis zuzuschauen, die Krisis, die in dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit unsere Wirtschaft unterhöhlt, einfach sich aus­ wirken zu lassen. Eine planmäßige, großzügige, weitblickende, von durchgreifenden Ideen getragene Gegenwirkung gegen die Zer­ störungskeime in unserem Wirtschaftsleben ist ganz unerläßlich. Keine Stunde darf versäumt werden, um mit diesem Werk systematisch zu beginnen, die Versuche, die in dieser Richtung bisher unternommen worden sind, von dem Dilettantismus zu befreien, der ihnen bislang anhaftete und der sie zu der offenkundigen Erfolg­ losigkeit verurteilt hat. Wenn ich mit den nachfolgenden Ausführungen Vorschläge zu unterbreiten wage, die diesem schwersten Problem unseres gesell­ schaftlichen und staatlichen Daseins gelten, so geschieht das, weil ich die Aufgabe von einer neuen Seite in Angriff nehmen, die Ausgabe von einer Seite aus anzugreisen empfehlen will, die bisher in ihrer

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Bedeutung völlig verkannt worden ist, wodurch sich neue Mög­ lichkeiten zu eröffnen scheinen. Das Problem ist nicht rein wirtschaftlich-materiell zu fassen. Mit bloß materiellen Zugeständnissen, etwa mit ständig weiter­ steigenden Löhnen der Aufgabe gerecht werden zu wollen, ist ver­ fehlt. Fede Lohnerhöhung reizt zu neuen Forderungen, bis die Wirtschaft jede Ertragfähigkeit eingebüßt hat und in sich zusammen­ stürzt. Die ständigen Lohntreibereien können diesen Augenblick sehr bald herbeisühren. Ebenso verfehlt ist es, von der Erhöhung des rechtlich-politischen Einflusses, der der Arbeiterschaft durch die Revolution und die ihr folgende Gesetzgebung wie das Betriebsrätegeseh und anderes zugefallen ist, irgendwelche Beruhigung und Befriedigung der Arbeiterschaft zu erwarten. Im Gegenteil. Parallel mit der ständigen Lohnerhöhung geht der wachsende politisch-rechtliche Einfluß der großen und breiten Massen in allen Angelegenheiten. Aber wie die allzugroße Lohnbelastung den Zusammenbruch unserer Wirtschaft herbeisühren muß, so muß auch der allzu einseitige und starke rechtliche Einfluß der breiten Massen, solange er ohne Verantwortungsgefühl ausgeübt wird, was sichtlich der Fall ist, die wirtschaftliche Erzeugung notwendig lähmen, ja kann sie gänzlich vernichten. — Man hat dann noch von dem religiös-sittlichen Appell sich gewissen Erfolg versprochen, dadurch daß man das sittliche Pflichtgefühl wieder zu wecken versuchte. Ohne dieses Pflichtgefühl ist allerdings auf die Dauer nichts zu erhoffen. Aber dieses Pflichtgefühl wird niemals von sich aus, ohne ander­ weitige Antriebe, wieder zu einer solchen Stärke anwachsen, daß dadurch allein eine Gesundung unserer Wirtschaft herbeigesührt würde. Das ist eine lächerliche Utopie. Aber was dann? Mir scheint, das Problem ist weder von der materiellen noch der politischen noch der moralischen Seite — es ist nur von der psychologischen Seite aus anzugreifen. Eine psychologisch richtige Einschätzung der Menschen und deren Beziehungen untereinander wie zu den Sachgütern, den materiellen Bedingungen ihres Lebens, kann allein die richtigen Maßstäbe und zuverlässigen Richtlinien liefern, wie bei dieser Aufgabe zu verfahren ist. Wie es stetige Naturgesetze gibt, die die wirtschaftliche Arbeit bei der Hilfeleistung der Technik, bei der Beherrschung und Ver­ wertung der Naturkräfte notwendig zugrunde legen muß, die sie grundsätzlich und restlos anerkennen muß, wenn nicht der Arbeits­ prozeß scheitern soll, was jeder einsieht, so gibt es auch, was sehr viel seltener eingesehen wird, psychologische unverbrüchliche Lebensgesetze der Menschen, die nicht ungestraft ver-

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konnt werden dürfen, die man nicht vernachlässigen und verletzen darf, wenn der Arbeitsprozeß einen sicheren und erfolgreichen Verlauf nehmen soll. Denn die Arbeit läßt sich nicht nur mit der kaufmännischen und technischen Idee und dem für solche Ideen zur Verfügung stehenden Kapital durchführen, sie bedarf der Menschen, der Arbeiter, die zur Aus­ führung dieser Ideen willig und fleißig die Kraft ihrer Hände dar­ bieten. Die psychologischen Lebensgesetze der Menschen also, die als Mitarbeiter zur Erzeugung der Wirtschaftsgüter unentbehrlich sind, müssen deshalb mit derselben Genauigkeit, Gründlichkeit und Sorgfalt erforscht werden, wie die Naturgesetze. Denn die Menschen bilden genau so wie die materiellen Stoffe, die bearbeitet werden sollen, eine unerläßliche Bedingung der wirtschaftlichen Produktion. Ja, die freudige, positive Stellung der lebendigen Arbeiter zur Arbeit ist ein noch weit integrierenderer Bestandteil der zu leistenden Arbeit als die rohen stofflichen Bedingungen. Das Sein und Ver­ halten, die Gesinnung der lebendigen Mitarbeiter ist ein aller­ wichtigster Faktor der Wirtschaft, wie jetzt doch die Erfahrung genug­ sam gelehrt hat. Man glaubte bis vor kurzem mit diesen lebendigen Faktoren wie mit toten Zahlen, unlebendigen Gütem schalten zu können, die man einfach in Rechnung stellte, wie die übrigen Voraussetzungen -er Arbeit, in der Annahme: die Menschen sind da, sie müssen arbeiten, wenn sie nicht verhungern wollen, also stehen sie ohne weiteres zu Gebote. Das ist zwar kraß ausgedrückt. Aber im Grunde war dies doch die stillschweigende Voraussetzung unserer wirt­ schaftlichen Arbeit während der letzten Generationen, wobei natür­ lich keinen einzelnen Unternehmer ein Vorwurf trifft. Die all­ gemeine Anschauung der Zeit, die ungeheuere Zwangslage der erst entstehenden deutschen Arbeit brachten es so mit sich, abgesehen davon, daß zahlreiche Unternehmer und große Werke in voller Einsicht dieser Verhältnisse den Bannkreis dieser Anschauung durch­ brachen und Außerordentliches leisteten, die Arbeiter als lebendige Menschen zu werten und ihr Leben ihnen erträglich und zufrieden­ stellend zu machen. Auch die soziale Gesetzgebung des Staates suchte nach dieser Richtung hin zu wirken. Aber es müssen doch schwere Irrtümer in der privaten und staatlichen sozialen Fürsorge verborgen liegen, sie können offenbar nicht den psychologischen Lebenegesetzen, auf die ich abziele, entsprochen haben. Denn sonst wären sie nicht in ihrer Auswirkung so arg mißglückt. Und nicht nur erforscht müssen diese psychologischen Gesetze werden, sondem, wenn sie erforscht sind, müssen sie auch durch-

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geführt und befolgt werden, und zwar mit derselben Strenge, mit der man sich an die Naturgesetze gebunden erachtet, um beispiels­ weise einer Explosion gefährlicher Stoffe vorzubeugen. Ebenso können auch durch Nichtachtung und Verkennung der psychologischen Grundgesetze des menschlichen Lebens seelische Explosionen von nicht minder verheerender Wirkung eintreten, die das ganze Gebäude des Wirtschaftslebens zertrümmern und in Asche legen. Das. führt zu dem überraschenden, bisher völlig verkannten Ergebnis, daß die uns gestellte soziale Aufgabe wesentlich eine philosophische Aufgabe ist. Ich bin mir wohl bewußt, daß das eine ganz unzeitgemäße Behauptung ist, daß ich mit diesem Ausspruch bei Männern der praktischen Lebensarbeit aus den größten Widerstand stoße, das stärkste Mißtrauen wachrufe. Denn Philosophie gilt heute allgemein als die überflüssigste, weltfremdeste, unpraktischste Bemühung, die sich denken läßt, als etwas, das dem Leben gänzlich fernliegt. Daß von der Philosophie her irgendwelche praktisch brauchbare und verwertbare Ideen ausgehen könnten, mit denen im realen Leben etwas anzufangen wäre, die dem realen Leben wirkliche Dienste leisten könnten, das glaubt heute kein Mensch, das gilt allgemein als völlig ausgeschlossen. Ich weise aber aus folgende einfache Tatsache hin. Der Um­ stand, daß die arbeitenden Schichten in unserm Volke von tiefem, unauslöschlichem Haß gegen die sogenannten „Besitzenden" erfüllt sind — das große, schwere Übel, das den ganzen Gegenstand unserer Untersuchung bildet, das zu beseitigen wir versuchen wollen — dieser Umstand der haßerfüllten, feindseligen Gesinnung unserer Arbeiterschaft gegen den Kapitalismus und auch gegen die geistige Arbeit, das ist doch eine — psychologische Erscheinung, ist zunächst doch ein rein seelischer Tatbestand. Es ist ein innerer Vorgang in dem seelischen Wesen der Menschen, der gebieterisch nach Auf­ klärung verlangt. Ich frage: wer ist für die Deutung dieses Vor­ ganges der Sachverständige, der berufene Erklärer? Dieser innere Charakter der breiten Massen unseres Volkes ist als solcher rein geistiger Natur, ist ein psychologischer Zustand, nach dessen Gründen man zu suchen hat. Denn hat man nicht die Ursachen dieser geistigen Erscheinung erkannt, wird man auch niemals imstande sein, diesen Zustand zu beheben, erfolgreich an seiner Abstellung oder Ab­ schwächung zu arbeiten. Man darf sich dieser Aufgabe nicht dadurch entziehen, daß man behauptet: es war immer so; der Gegensatz von Arm und Reich, von Hoch und Niedrig, von geistiger und Handarbeit ist so alt wie

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die Welt ist. Ich sage: das ist einfach unwahr. Es war nicht immer so und wird auch hoffentlich nicht immer so bleiben. Gewiß hat stets ein Gegensatz zwischen Reich und Arm bestanden. Dieser Gegensatz ist, wie alle anderen Gegensätze im menschlichen Leben, immer vorhanden gewesen und er ist auch, wie alle anderen Gegen­ sätze von Natur, als solcher, sehr heilsam, wie ich gleich betonen will. Denn er bedingt das Aufstreben der ärmeren Schichten oder doch einzelner aus dem sogenannten „unteren", von der'Hand­ arbeit lebenden Volke. Würde der Gegensatz gleichgültig genommen, wären die Menschen gegen jede Vorzugsstellung, gegen größeren Wohlstand und stärkeren Einfluß stumpf und unempfänglich, dann gäbe es gar kein Auswärts- und Vorwärtsstreben mehr, dann würde das Leben, da die Kräfte der aristokratischen, irgendwie durch Tra­ dition, Besitz, Bildung bevorzugten Schichten bald aufgezehrt werden, versumpfen und verfallen, der Blutkreislauf .des sozialen Lebens käme zum Stillstand. So ist an sich jedes Höher-, Reicher-, Mächtigerwerdenwollen nur ein gesunder Trieb, ein Trieb, den ja die führenden Schichten selbst gehabt haben und noch haben, dem sie selbst ihren Ausstieg, ihre Höherstellung im sozialen Leben zu verdanken haben. Also, der Gegensatz von Arm und Reich ist immer da. Aber ich behaupte, er ist nicht immer mit solcher Schärfe und mit so tödlichen, die ganze Volkswirtschaft be­ drohenden Begleiterscheinungen und Folgen da. Die weitesten Strecken der Geschichte hindurch, ganze Jahrhunderte lang hält sich dieser Gegensatz in einer normalen, erträglichen Form, ist er nur eine heilsame Spannung, die das Leben in Bewegung hält. Es sind besonders kritische, explosive Epochen, nur Ausnahme­ zeiten, bei denen dieser Gegensatz eine so scharfe Zuspitzung er­ fährt, eine so gefährliche Entladung findet. And alle Kräfte müssen angespannt werden, um ihn aus dem überheftigen, unnormalen Zustande wieder zu einem normalen zurückzusühren. Ich sage: der Haß, die Auflehnung, die revolutionäre Haltung gewisser Volksteile gegen andere ist eine psychologische Er­ scheinung, die in materiellen Verhältnissen ihre Voraussetzung und Bedingung haben mag. Aber zunächst ist sie geistiger Art. And ich frage nun: wer ist für eine solche Erscheinung in erster Linie der Sachverständige? Doch offenbar der Kenner des seelischen Lebens, der Psychologe, der Philosoph als Psychologe. Ich unterschätze gewiß nicht die Menschenkenntnis, die der Mann des praktischen Lebens durch die ständige Berührung mit den Menschen gewinnt. Aber in der Regel lernt er doch nur einzelne Menschen oder einzelne Gruppen näher und unmittelbar persönlich 6

kennen. Etwas ganz anderes aber ist der soziologische Einblick und Überblick über den Charakter und die Gesinnung weiter, großer Massen, ganzer Zeitepochen und Kulturen. Dazu gehört ein beruflich und ständig, durch die regelmäßige Blickrichtung geschärfter und geübter Sinn für solche Erscheinungen, den die praktische Erfahrung zwar sehr begünstigen, aber nicht erzeugen kann. Er ist Sache ganz besonderer Veranlagung und besonderer planmäßiger Schulung. - Man kann sich dies am Dichter deutlich machen. Der echte Dichter ist auch immer 6in äußerst feiner Psychologe, der die Menschen bis ins innerste Herz durchschaut, das Tiefste und Verborgenste, das ihnen selbst nicht zum Bewußtsein kommt, durch seine Darstellung herausholt. Dem unmittelbar praktischen Leben aber steht der Dichter in der Regel völlig fern, da weiß er sich wenig geschickt zu benehmen, ja da irrt er sogar bei der psychologischen Beurteilung der Einzelfälle auf Schritt und Tritt. Er ist hier anscheinend ganz wett- und lebensfremd. Aber bei den allgemeinen Erscheinungen seiner Zeit, in der Beurteilung der typischen, durchgehenden Seelen­ stimmung seines Zeitalters — da trifft er den Nagel auf den Kopf, da gestaltet er aus innigstem und tiefstem Miterleben, aus einer Art visionärer Erkenntnis heraus die geheimsten Seelenregungen seiner Zeitgenossen oder auch der nächsten Generation, die er ahnend vorwegnimmt. Das gleiche Verhältnis liegt aber auch bei dem echten Phi­ losophen vor, der gleichfalls ein feinfühlender, tiefdringender Psychologe sein muß, wenn er als Kritiker seiner Zeit durch deren Oberflächenerscheinungen hindurch in den verborgenen Gehalt, die unbewußten, aber um so mächtigeren Triebkräfte der Massen­ bewegungen hindurchschauen will, um seine Zeit zu verstehen. Und nur aus diesem Verständnis, dieser unbestechlichen Erkenntnis des Charakters seiner Zeit kann er ihr geistiger Arzt und Führer werden, der ihr mit neuen, befruchtenden Ideen ihre Konflikte und Not­ stände überwinden hilft. Im praktischen Leben selbst braucht er deshalb durchaus nicht zu stehen, obwohl es ihm natürlich nur heilsam ist, auch unmittelbare Anschauungen der Menschen und Verhältnisse gewonnen zu haben. Aber die allzu große Nähe einer Erscheinung gegenüber — das wissen wir doch von dem Anblick jedes Berges — trübt und verfälscht den Blick. Eine gewisse Entfernung ist nötig, um eine allgemeine Überschau zu ermöglichen. Diese rückt erst die Erscheinungen gegenseitig in das rechte Verhältnis, läßt sie in ihren Haupt- und Grundzügen erkennen. Das ist nicht nur bei den Naturbildern der äußerlich sichtbaren Welt, sondern auch bei der inneren geistigen Welt der Menschen der Fall. Und ich wiederhole, 7

es handelt sich bei dem vorliegenden Problem um eine geistige Er­ scheinung, um einen psychologischen Vorgang und infolgedessen auch um eine psychologische Aufgabe. Wenn ich sage: der Psychologe hat das erste Wort bei dem sozialen Problem der Gegenwart, der psychologisch vorgebildete und geschulte Philosoph muß uns die Erscheinungen und ihre weiteten Konsequenzen erkennen lehren, so darf man hierbei — das ist selbst­ verständlich — natürlich nicht an den abstrakten Schulphilosophen der Fachphilosophie denken. Der steht mit seinen Abstraktionen dem Leben notwendigerweise fern, wodurch diese Abstraktionen in keiner Weise ihren Wert verlieren. Sie bewegen sich in einer anderen Sphäre. Es kann sich nur um eine Philosophie und philosophische Erkenntnisse und Ideen handeln, die aus das Leben Bezug nehmen, speziell das soziale Leben organisieren, in bestimmte Formen und Ordnungen bringen wollen. Von welchem Einfluß eine solche Philosophie sein kann, kann man an Einern schlagenden Beispiel erkennen, am — Sozialismus, an eben der Erscheinung, mit der wir es hier zu tun haben. Der Sozialismus, soweit er praktische Bedeutung gewonnen, das staat­ liche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben beeinflußt hat, ist eine Schöpfung von Karl Marx. Aber Marx war kein Praktiker. Er war weder Fabrikbesitzer noch Kaufmann noch Arbeiter, er war ein Philosoph, der aus der Schule Hegels hervorgegangen war. Er war auch nicht in erster Linie Nationalökonom. Die National­ ökonomie ist in der gleichen Gefahr wie das praktische Leben selbst, nämlich das vorliegende Problem der sozialen Ordnung zu ein­ seitig aus der Perspektive der Wirtschaft zu betrachten und die allgemein-menschlichen, psychologischen Faktoren zu übersehen. Marx hat seine nationalökonomische Theorie unterbaut mit philosophischen Ideen, hat sie ganz und gar auf eine bestimmte Geschichtsphilosophie gestützt. Und diese allgemeinen Ideen haben eine beispiellose Wirkung ausgeübt, sie waren es vornehmlich, die diesem System zu der erstaunlichen Macht verholfen haben. Denn sie waren äußerst fein und psychologisch sicher den Bedürfnissen der Massen, die Marx in Bewegung sehen wollte, angepaßt. Nun kann man ja sagen: wohin man mit theoretischen Ideen kommt, die nicht aus dem praktischen Leben selbst gewonnen worden sind, das kann man gerade am besten am Sozialismus marxistischer Färbung beobachten. Ist es doch diese Theorie gewesen, die uns das ganze Unheil der sozialistischen Aufwühlung und Verhetzung der Massen, der Spaltung unseres Volkes gebracht hat. Ich wider­ spreche dem keinen Augenblick. Aber ich sage: alle philosophischen

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Ideen brauchen nicht so einseitig und extrem zu sein, wie die marxistischen. Es können diesen irrigen und deshalb so gefährlichen Ideen auch andere, der Wirklichkeit näherkommende, zutreffendere und darum heilsamere Ideen gegenübergestellt werden> auch solche Ideen können erzeugt und propagiert werden. Und ich behaupte: nur durch eine solche Propaganda von allgemeinen, die ganze ge­ sellschaftliche Ordnung umfassenden und durchdringenden Ideen kann ein Gegengewicht gegen die Tyrannei des Marxismus geschaffen werden. Den Teufel kann man nur durch Beelzebub austreiben. Das ist doch uralte Wahrheit. Gleiches kann nur von Gleichem bekämpft und überwunden werden. Wenn irgend etwas die Notwendigkeit philosophisch-psychologischer Arbeit in der Sozial­ politik beweisen kann, so ist es eben der Sozialismus, der Marxismus selbst, der aus den gleichen Quellen entsprungen ist, aus den gleichen Quellen seine Kraft gesogen hat. Solange es an allgemeinen und richtunggebenden Ideen für das soziale Leben fehlt, die dem Marxis­ mus Widerpart zu leisten imstande find, wird jeder Kampf mit dem Marxismus erfolglos bleiben. Das steht fest. Die sträfliche Unter­ schätzung der philosophischen Idee hat sich im Siege des Marxismus, in dessen Sieg über die Geister furchtbar gerächt. Ohne leitende Idee streitet man nur gegen Einzelheiten und Außenposten, aber niemals gegen den eigentlichen Kern und die Wurzel der ganzen Bewegung. Man hat immer nur auf die alten religiösen Welt­ anschauungen mit ihren Pslichtgeboten zurückzugreisen vermocht — damit aber mußte man scheitern. Wie aussichtslos der Appell an das religiös-sittliche Pflichtgefühl als solches ist, habe ich oben schon angedeutet und lehrt jeder Tag von neuem. Nur eine unmittelbar aus dem gegenwärtigen Leben selbst entspringende, für das gegen­ wärtige Leben berechnete Sozialphilosophie mit einleuchtenden und überzeugenden Ideen kann Abhilfe schaffen, dem Terrorismus der Marxistischen Ideen erfolgreich entgegenwirken. Das liegt auf der Hand. Ich komme später bei der näher zu skizzierenden Propaganda, die zu treiben ist und wie sie zu treiben ist, noch einmal hierauf zu sprechen. Jetzt betone ich nur das eine: ohne philosophische Ideen geht es nicht, solche Ideen sind das einzige Rettungsmittel. Soziologische Ideen, richtig erkannt und richtig vertreten, das heißt verständlich vorgetragen und dann auch praktisch ausgesührt und ver­ wirklicht und so durch die Tat bewiesen — das ist das einzige, was den verheerenden Flutstrom des Marxismus eindämmen kann. Was man im allgemeinen für das Wirkungsloseste, Wertloseste, Überflüssigste, Schwächste und Ohnmächtigste hielt, eben die philo­ sophische Idee, das gerade ist das Stärkste und Hoffnungsreichste,

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das einzige, was Rettung bringen kann. Diese Einsicht ist der Aus­ gangspunkt und die Grundlage dieser Arbeit, wie ich zur vollen Klärung der Sachlage notwendig vorausschicken muß. Hierauf bauen sich die weiteren Ausführungen und Schlußfolgerungen dieser Ab­ handlung auf. Darin liegt der eigenartige, originelle Gesichts­ punkt, den ich in dieser Arbeit geltend machen will und der nach meiner Schätzung neue, bisher unerkannte Aussichten eröffnet. Man hat ja viel von der materialistischen Weltanschauung und der materialistischen Gesinnung der vom Sozialismus erzogenen Massen gesprochen. Ich will das nicht in Abrede stellen. Aber ich behaupte, daneben müssen es auch noch andere, über den Egoismus hinausgreifende Ideen und Kräfte gewesen sein, die in dieser Be­ wegung ihren Ausdruck gefunden haben. Der reine Egoismus hat immer eine auflösende und zersetzende Wirkung. Die außerordentlich stetige, die erstaunlich konsequente und erfolgreiche Geschichte dieser Bewegung ist ein vollgültiges Zeugnis, daß auch noch etwas anderes und mehr dahintersteckte. Ideen und Ideale können es allein ge­ wesen sein, die der Bewegung den festen Zusammenhang und die starke Stoßkraft verliehen haben, die die Opferwilligkeit und Hin­ gebung der in der Bewegung tätigen Personen und Kreise erzeugt haben. Es mögen falsche Ideen, verkehrte Ideale gewesen sein, die hier gewirkt haben. Aber Ideen und Ideale haben einen erheb­ lichen Anteil an der Bewegung gehabt. Män kann umgekehrt behaupten, daß ein ideenloser, kurzsich­ tiger Materialismus, der nur von Augenblick zu Augenblick mit bloß materiellen Zielen das Leben fristet, daß diese Anschauung im Bürgertum viel verbreiteter gewesen ist. Nur die rücksichtslose und klare Erkenntnis der Sachlage, nur unbestechliche Selbsterkenntnis können uns Mittel und Wege zu einer Besserung unserer Zustände aufweisen und an die Hand geben. Aus diesem Grunde, aus Mangel an idealbildender Kraft, ist ja auch schließlich das Bürgertum politisch überwunden worden. Solche Erscheinungen haben ihre triftigen Gründe. Man hat zwar in den bürgerlichen Kreisen das Wort Idealismus viel im Munde geführt. Aber der gute Wille, die gute Absicht allein tun es nicht. Ich behaupte: es gibt keinen starken, leistungsfähigen Idealismus ohne Ideen. Es müssen bestimmte, fest umrissene, klar erkennbare Ideen vorhanden sein, einleuchtende und begeisterungweckende Lebensziele müssen über dem Leben schweben, in den Gemütern der Menschen wirksam sein. Nur eine solche Begeisterung für die Verwirklichung bestimmter, als hoch und bedeutsam empfundener Ideen kann die sittliche Tatkraft und Opfer­ willigkeit erzeugen, kann wirklichen Idealismus wecken. Darum 10

benennt sich ja auch das Wort „Idealismus" mit Fug und Recht nach dem Worte „Idee". An solchen Ideen aber, die im Gegensatz zu den marxistischen Ideen das Leben beherrscht und beflügelt hätten, hat es gefehlt. Oder genauer gesagt: sie haben nicht so sehr gefehlt, aber sie wurden nicht erkannt, sie wurden übersehen, als nebensächlich und überflüssig, als wert- und zwecklos beiseite­ geschoben. Man glaubte mit der reinen Praxis auskommen zu können. Um einem naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen, will ich hier gleich einschalten und mit Nachdruck betonen, daß mir natürlich nichts ferner liegt, als einseitig und ausschließlich die Bedeutung der soziologischen Idee im Kampf um die Wirtschaftsordnung her­ vorzuheben. Im Gegenteil, ich erblicke das Heil in dem innigen Zusammenhänge, in der vollen Verschmelzung von Theorie und Praxis. Ein solches Zusammenwirken der beiden maßgebenden Kräfte herbeizuführen, ist sogar der Hauptzweck dieser Arbeit. Wie wir in der Beherrschung der Natur, in der Technik das Größte erreicht haben durch die wunderbar ineinandergreisende und sich ergänzende Arbeit der theoretisch-exakten Naturwissenschaft und der Praxis, so muß es auch bei den soziologisch-psychologischen Ausgaben, die uns die Wirtschaft stellt, gleichfalls geschehen, wo dieses feste Band zwischen Idee und Wirklichkeit bisher leider völlig gefehlt hat. Es ist doch kein Zweifel, daß die deutsche Technik ihren wunder­ baren Aufschwung ausschließlich durch die innige Verbindung mit der strengen Wissenschaft genommen hat. Die Engländer und Amerikaner begnügen sich im allgemeinen mehr mit der praktischen Erfahrung. Sie haben auf Grund ihrer geschickten Praxis ohne Zweifel viel erreicht. Aber das Letzte und Größte ist auf diesem Wege nicht erreichbar. Nur durch das Zurückgreifen auf die Wissenschaft, daß alles aus die letzten theoretischen Erkenntnisse und Grundlagen zurückgeführt wurde, nur durch diese Methode hat die deutsche Technik die ausländische überflügelt. Dieser erfolgreiche Grundsatz muß endlich auch auf alle weiteren Probleme, die mit der Wirtschaft Zusammenhängen, ausgedehnt werden. Auch in der Menschen­ behandlung, in der Stellung der gesellschaftlichen Schichten, dec Arbeitsgruppen zueinander haben Engländer und Amerikaner dank ihrer praktischen Veranlagung und Einsicht eine beneidens­ wert glückliche Hand. Die Gegensätze nehmen dort niemals die un­ versöhnliche Schroffheit an wie bei uns. Alle Beteiligten wissen das praktisch Notwendige und Unerläßliche richtig zu würdigen, auch der Arbeiter. Er ist Phantastereien nicht so zugänglich, er behält den Blick für die Wirklichkeit. Aber grundsätzliche, dauernde, be­ ll

freiende Lösungen des großen sozialen Problems, das jedes Kultur­ volk bedrückt und jede höher entwickelte Wirtschaft bedroht, sind damit nicht erzielbar. Auch aus dem geistig-soziologischen Gebiet, das unter allen Umständen mit zur Wirtschaft gehört, tief in die Wirtschaft eingreift, werden nur wissenschaftlich festbegründete Ideen und Gesetze das Wirtschaftsleben aus die Dauer fruchtbar und ertragreich, gesund und stark erhalten. Diejenige Wirtschaft, die hier bahn­ brechend vorgeht, wird dadurch ebenso den Sieg gewinnen, wie durch die wissenschaftlich überlegene Technik. Die wissenschaftliche Ergänzung nach dieser soziologisch-psychologischen Seite hin wird erst wahrhaft und endgültig den Sieg unserer Wirtschaft besiegeln.

Bis vor kurzem haben Worte wie „Idee", „Wissenschaft" bei der Frage, die uns hier beschäftigt, nur Spott und Lächeln erregt. Die Tätigkeit und Wirkung der Kathedersozialisten hat hierzu man­ chen berechtigten Anlaß gegeben. Aber man wird erkennen, daß ich hier etwas anderes bieten und anregen will, als der Katheder­ sozialismus zu geben wußte. Nicht als Nationalökonom, sondern als psychologischer Philosoph ergreife ich das Wort zum sozialen Problem der Gegenwart. Man lebte im deutschen Bürgertum ohne weiterreichende Ziele und Grundsätze, lebte nur von der Hand in den Mund. Den klas­ sischen Ausdruck für diese Gesinnung des gesamten Zeitalters hat mit seiner stets schönfärbenden, alle Schwierigkeiten und Gefahren bemäntelnden und verschleiernden Denk- und Redeweise Bülow gegeben, der sich selbst und das ganze deutsche Volk wunderbar über die unheimlichsten Gefahren, die unserem Volke drohten, hinweg­ zutäuschen verstand, indem er als obersten Grundsatz für das deutsche Leben die Losung ausgab: die Forderung des Tages. Das klang sehr schön, war aber das Allerverkehrteste. Denn alle Deutschen lebten ja schon ohnehin nach diesem Rezept, leider! immer nur aus die Forderung dieses und des nächsten Tages bedacht. Das Wort selbst stammt von Goethe. Aber zu Goethes Zeiten schwelgten die Deutschen in benj weltfremdesten, abgelegensten, verstiegensten Ideen. Philosophie und Dichtung waren damals ihre einzigen Interessen. Da war es nützlich und richtig, sie auf das praktische Leben, auf das, was der Tag erfordert, hinzuweisen. Inzwischen aber hatten sich die Deutschen mit aller Energie auf das praktische Leben geworfen. Sie lebten allesamt nur für die Forderung des Tages. Jede weiterblickende Idee aber war verpönt, die nur die Geschäftigkeit stören, den Gewinn und Ertrag des jeweiligen Tages hemmen könnte.

Inzwischen ist allerdings ein merklicher Umschwung eingetreten. Nach dem Zusammenbruch unserer ehemaligen Staatsordnung, bei der immer drohender werdenden Gefahr einer vollkommenen Zer­ rüttung und Auslösung unserer gesamten Gesellschasts- und Wirt­ schaftsordnung besinnt man sich langsam. Heute ertönt schon leb­ hafter und häufiger der Ruf nach Ideen. Ja, ein wahrer Heiß­ hunger nach Ideen hat sich fühlbar gemacht. Alles kommt jetzt darauf an, daß der entscheidende Augenblick der großen Krisis unseres Wirtschaftslebens nicht verpaßt werde, daß dem Bedürfnis in der rechten Art und Weise, mit der Aufstellung und Durchkämpfung wahrhaft befreiender und schöpferischer Ideen Genüge geleistet werde. Gespannt wird man nach diesen Ausführungen fragen: welche Ideen denn diese Ausgaben erfüllen, welche Ideen aus die Zeit einwirken, als Gegenmacht gegen den Marxismus ins Treffen geführt werden sollen. Der eigentliche Zweck dieser Abhandlung ist, praktische Vorschläge zur Aussöhnung zwischen Kapital und Arbeit zu machen. Die theoretische Aufgabe, eine Sozialphilosophie zu entwickeln, grundlegende und richtunggebende Ideen für die gesamte Sozialpolitik und sozialpolitische Erziehung unseres Volkes vorzulegen und auszuarbeiten, eine so weitreichende Aufgabe über­ schreitet den Rahmen dieser Abhandlung. Aber ich muß doch wenige kurze Andeutungen machen über die Richtung dieser Ideen, weil sich auf diesen Ideen eben die praktischen Vorschläge ausbauen müssen, aus die ich hinaus will, weil sie nur auf Grund der theore­ tischen Voraussetzungen in ihrer Bedeutung völlig gewürdigt werden können. Dor allem kann nur auf Grund der Anerkennung und Würdigung der allgemeinen Gesellschaftsideen, die ich im Auge habe, die neuartige Propaganda, die in unserer Öffentlichkeit und besonders in unseren Arbeiterkreisen zu treiben ist, um sie von unerfüllbaren Ideen zu befreien, sie auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuführen, richtig eingeschätzt werden. Darum müssen doch wenigstens in allerkürzestem Umriß solche Ideen geboten werden, die eine so schwierige Ausgabe fördern sollen.

II.

Derfönlichtett und Masse. Zwei Philosophien, zwei soziologische Weltanschauungen hat es im letzten Jahrhundert gegeben, die großen Einfluß gewonnen haben, die aus dem Bannkreis bloß gelehrter und abstrakter Schul­ theorie heraus auf das allgemeine Leben bestimmend eingewirkt haben, die Philosophien und Ideen von Marx und Nietzsche. Beide sind Antipoden. Marx vertritt die Idee der Masse. Die Masse ist alles, ist Ziel, Gesetz, Zweck und Sinn des Gemeinschafts­ lebens, ihr gebührt auch das Herrschaftsrecht im sozialen Verbände, sie hat sich die Gesamtheit der staatlichen, wirtschaftlichen, geistigen Macht und Machtmittel zu unterwerfen und anzueignen. Sie ist das einzige und erlösende Prinzip im Menschenleben nach allen seinen Auswirkungen und Aufgaben. Das war im Grunde der Leitgedanke von Marx, die Quelle, aus der alle weiteren Ideen und praktischen Zielbestimmungen bei Marx entsprungen sind. Alle anderen Vorschläge und Ideen, die Marx ausspricht, auch die speziell nationalökonomischen, sind nur die Anwendung und Aus­ führung dieser Grundidee, daß die Masse alles bedeutet. Dieser Anschauung steht schroff gegenüber die Auffassung von Nietzsche. Hier ist der einzelne, das hervorragende Individuum, der durch besondere Anlage, Erziehung und Selbstentwicklung be­ vorzugte und bedeutende Ausnahmemensch das einzig Wertvolle, das beherrschende Grundmotiv und Gestaltungsprinzip im Men­ schenleben. Nietzsche stimmt in tausend Variationen immer wieder das Hohelied von dem genialen Individuum an. Dem Sozialismus, der als extremer und radikaler Demokratismus in allen Lebens­ richtungen auftrat, stellt Nietzsche — denn er kam später, als Reaktion gegen den sozialistischen Demokratismus — den schroffen Indivi­ dualismus ‘ und Aristokratismus gegenüber. Die große Führer­ persönlichkeit sei das einzige Heil und die Rettung der sozialen Gemeinschaft. Von dem genialen Führer gehe alles Entscheidende und Fruchtbare aus. Der überragende Einzelmensch müsse gegen den Ansturm der Masse geschützt werden, müsse sich selbst durch­ setzen, er dürfe nicht in dem allgemeinen, nivellierenden Willen der Masse untergehen, sondern müsse ihr Trotz bieten, wie und w er nur könne. Er trage das Gesetz in sich selbst, in seiner bevorzugten Natur. Ihm gebühre die Herrschaft. Die große Masse ist nur dazu ba, solche genialen bewundernswerten Einzelmenschen, die in ihrer

Kraft, Schönheit, Ganzheit den Sinn der menschlichen Entwicklung darstellen, zu tragen, von unten zu stützen, vorzubereiten und zu ermöglichen. Der eigentliche Wert aber liege nur und ausschließlich in diesen höchsten Einzeltypen der Menschennatur. So steht dem schroffen Demokratismus dort ein schroffer Aristokratismus hier gegenüber. Das Bemerkenswerte und eigentlich Entscheidende nun an diesen Geistesbewegungen ist die Tatsache, daß beide Richtungen schlechthin extrem auftreten, daß die eine die andere absolut aus­ schließen will. Jede von beiden Richtungen will unbedingt, ohne alle Konzessionen nach der anderen, entgegengesetzten Seite hin gelten. Die Stellung zur entgegengesetzten Richtung ist die eines bedingungslosen Kampfes, bis zur erhofften vollständigen Unter­ werfung der Gegenseite. Das hängt nun mit einer anderen, all­ gemein die Zeit beherrschenden Anschauung zusammen, nämlich mit der monistischen Denkweise des gesamten Zeitalters. Das will besagen: man war durchgehend der Aberzeugung in den letzten Generationen, daß das Leben, die Gesellschaftsordnung, ja alles Menschliche und darüber hinaus die gesamte Wirklichkeit immer nur einheitlich, aus einem einzigen Prinzipe abzuleiten, zu deuten und dementsprechend auch zu gestalten sei. Ein einziger leitender Grundsatz sollte immer als der oberste und einzig maß­ gebende das gesamte Leben durchwalten. Don einem einzigen, ein für allemal eingenommenen Standorte, von einem bestimmten Gesichtspunkte aus suchte man dem Leben und allen seinen Auf­ gaben beizukommen und gerecht zu werden. Man glaubte an eine absolut ausschließende Gültigkeit der Gegensätze. Alles war immer aus das Entweder-Oder gestellt. Gilt das eine, so meinte man, kann nicht das andere, das Entgegengesetzte gelten. Man kann sich diesen Charakter des Zeitalters am besten ver­ deutlichen an dem ausschließenden, schroffen Parteisanatismus, den wir täglich beobachten und beklagen müssen. Jede Partei hält sich mit ihrer Weltanschauung, mit ihren staatlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Prinzipien für die einzig berechtigte Lebensordnung. Alles andere, Entgegengesetzte, Andersartige hat auch nicht eine Spur von Berechtigung. Alles andere ist ein einziger schwerer Irrtum. Diese Schroffheit und Unversöhnlichkeit der Gegensätze waltet nicht nur im politischen und wirtschaftlichen Tageskamps. Diese Auffassung von der absoluten Bedeutung der Gegensätze durchzieht das gesamte verflossene Zeitalter in allen seinen Erscheinungen, von der höchsten Ideenbildung herab bis in die Niederungen des all15

täglichen Lebens. Ich kann das hier, um nicht zu weitschweifig zu werden, nicht näher ausführen. Es war das Grunddogma, die stillschweigend angenommene, niemals geprüfte, selbstverständlich und instinktiv befolgte Lebensregel. Jede Anzweiflung, Abschwä­ chung des einmal erfaßten Grundsatzes, des einmal eingenommenen Postens galt als Charakterschwäche. Das Ganze ist ein unsagbar verhängnisvoller und verderblicher Irrtum, eine falsche Ideenbildung, die uns die gesamte Revolution, die Explosion unserer Staats- und Gesellschaftsordnung gebracht hat. Denn diese Schroffheit aller Lebensgegensätze mutzte zur gewaltsamen Explosion, zu einer vollkommenen Zerreißung und Zersprengung des sozialen Verbandes, zur Zersetzung führen. Hier erkennt man klar, zum Greifen deutlich, von welcher Bedeutung die richtige oder irrige Ideenbildung ist, die die Menschen beherrscht. Richtige Ideen führen zur Erhaltung und Steigerung, fal­ sche Ideen zur Zersetzung und Auslösung des sozialen Lebens, ebenso wie falsche Vorstellungen und Denkrichtungen das Leben des Einzelmenschen schwächen und zuletzt, im schlimmsten Falle ver­ nichten müssen. Bei den verflossenen Revolutionen können wir nachträglich vollkommen überschauen und einsehen, beispielsweise bei der französischen Revolution, welche falschen Ideen das voran­ gehende Zeitalter beherrschten; wir sehen klar, wie diese falschen Ideen notwendig zu einer gewaltsamen Umwälzung und Zer­ trümmerung aller Verhältnisse führen mußten. Dieser große und schwere soziale Irrtum, der der deutschen Revolution, allen ihren Begleit- und Folgeerscheinungen zugrunde­ liegt, ist der Irrtum der sich ausschließenden Gegensätze. Die tiefere philosophische Betrachtung lehrt nämlich das Gegenteil. Das Leben, jede Lebenserscheinung und Lebensform in Staat, Wirt­ schaft, Kultur ist ein Gleichgewichts-, ein Schwebezustand einander die Wage haltender Gegensätze und Gegen­ kräfte. Jedes Leben und jede Lebensbildung ist ein Spannungs­ verhältnis derartiger Kräfte. Die Gegensätze haben nicht die Auf­ gabe, gegenseitig völlig zu unterwerfen, zu unterjochen, wohl gar auszurotten und zu vernichten. Ganz im Gegenteil, sie haben die Aufgabe, einander zu ermöglichen, gegenseitig zu stützen, durch einander entsprechende Dienstleistungen zu ergänzen. Sie sollen aus den ursprünglichen Spannungen und Gegensätzen heraus eine höhere Einheit aufbauen, ein Gesamtleben formen, das viel und vielerlei in sich begreift, das nicht eintönig nur aus einem einzigen Prinzip gebildet ist — wie langweilig wäre dies! — nicht ein ödes Unisono, sondern eine Harmonie darstellt verschiedenartigster An16

triebe und Kräfte. Jedes Leben ist oder soll sein -eine Harmonie des Gegensätzlichen wie jedes Kunstwerk. Jede der vorhandenen Kräfte und Tendenzen ist an sich berechtigt, vertritt einen in sich verständ­ lichen und notwendig entstehenden Kern oder Keim oder Ansatz des Lebens. Dessen Ausgabe ist mit anderen Lebensgebilden und Lebenstendenzen, Lebensansätzen zusammenzuwachsen, sich in sie hineinzufügen und mit ihnen zusammen ein System zu bilden. In der Natur herrscht überall das Gesetz der Polarität, der Wechselwirkung von Gegenkräften. Und jeder lebendige Organismus wird von polaren Kräften getragen. Im Wesen des Organismus liegt geradezu diese Doppeltheit und Mehrheit der in wechselseitiger Spannung befindlichen Kräfte und Strebungen. Ein Organismus ist immer ein System. Und ein System ist immer eine Zusammen­ fügung von Momenten, die einzeln, als solche betrachtet, einander widersprechen. Aber dieser Widerspruch gilt nur, solange man sie isoliert, als schlechthin selbständig betrachtet. In dieser Wirtlichkeit -aber gibt es nichts schlechthin Selbständiges, Isoliertes. Sondern alles steht untereinander in Verknüpfung. Der Widerspruch der Losgelöst betrachteten Einzeltendenzen ist nur der erste, vorläufige Akt ihrer Entwicklung, er soll nur den Anreiz, den Stachel abgeben zu ihrer Weiterentwicklung, und diese Weiterentwicklung soll eben in der Überwindung des Widerspruchs, in einem Verschmelzung^ und Vereinheitlichungsprozeß, in einer Eingliederung und Um­ arbeitung der Einzelkräfte in ein System bestehen. Ich kann hier diese Gedankenreihe aus Mangel an Raum nicht weiter sortsetzen. Denn nicht ein wissenschaftlich-theoretischer Zweck ist das Ziel dieser Arbeit. Der wissenschaftliche Begriff, aus den diese Betrachtung hinführt, ist der Begriff der „Form", als der bindenden, übergreifenden Einheit des Mannigfaltigen. Alle Or-ganismen stellen Formen dar. Auch die soziale Gemeinschaft, auch der Staat ist eine Form. Also dürfen sie nicht schematisch einen einförmigen, sondern müssen einen gegliederten Charakter tragen. Der bestimmende Charakter jeder Form ist eben die Gliederung, die Gliederung des Mannigfaltigen, die immer gegenseitige Er­ gänzung und Ausgleichung der Einzelglieder ist. Der Deutsche ist spekulativ veranlagt. Man darf des­ halb solche Betrachtungen nicht für zwecklos und überflüssig halten. Damit würde man die Grundlage des deutschen Charakters voll­ kommen verkennen und hätte sich alle Folgen dieses Irrtums zu­ zuschreiben. Der ganze Kampf um die Wirtschaftsordnung muß von solchen letzten einschneidenden Ideen ausgehen. Wir erkennen •Väter", die Erzeuger der Masse, die ohne sie gar nicht vorhanden wäre. Noch klarer wird dieses Ver­ hältnis, wenn man wieder große geschichtliche Veränderungen ins Auge faßt. Seit der Reichsgründung durch Bismarck hat sich das deutsche Volk unbeschreiblich vermehrt. Es ist geradezu ein ganz neues, zweites Volk zu dem alten deutschen Volk aus der vorbismarckischen Zeit hinzugewachsen. Denn durch die Reichsgründung wurden ganz neue Bedingungen für die Lebensentsaltung des deutschen Volkes geschaffen. Unzählige störende Hemmungen fielen fort. Und so konnte es sich in dieser erstaunlichen Weise vermehren. Wer aber die für die Vermehrung notwendigen Bedingungen schafft, schafft der nicht damit zugleich das vermehrte Leben selbst, die große Zahl als solche? Bismarck hat mit seiner Reichsgründung ungezählte Massen gleichsam aus dem Boden gestampft. Und so ist, jede große Individualität eine Art Kolonisator, der neue Möglichkeiten für das Volksleben hervvrruft. Und diese Mög­ lichkeiten werden dann auch sofort ausgefüllt, verwirklicht, die Masse ergreift den bereitgestellten Lebensplah. Aus diesem Grunde ist die große Individualität mit ihren Ideen, mit ihrem Wirken der soziale Zeugungeakt, der die soziale Gemeinschaft sich fort­ pflanzen und sich ausdehnen läßt. Und wie wir es hier unmittelbar im lebendigen Leben, im Hellen Lichte der jüngsten Geschichte vor uns sehen, so waren es von jeher, auch unter den einfachsten Verhältnissen, auch in den ältesten und urältesten Zeiten, immer einzelne, besonders begabte, entschlossene, unternehmungsfreudige, führende Männer, die neue Lebensbedingungen für ihre Stämme, für kleinere Horden wie für größere Völker und Völkerverbände schufen. Als Führer geleiteten sie diese in andere Gegenden, durch tatkräftiges Zugreisen und Organisieren machten sie sie Heimisch aus dem neuen Boden, so daß zahllose Enkel und Enkelkinder aus den anfänglich geringfügigen Scharen erwachsen konnten. Und so weiter aus jeder Etappe des geschichtlichen Lebens. Ferner gilt dieses Gesetz, daß der schöpferische Einzelmensch die vermehrte Menschheit als ursächliche Kraft hervor­ ruft, nicht etwa nur, wie man vielleicht vermuten könnte, für das politische und wirtschaftliche Gebiet, sondern seltsamerweise, was man kaum erwarten sollte, auch für die geistige Produktion. Auch der geistige Schöpfer ist ein Erzeuger von realem Menschenleben, ist y>ie jeder Führer ein Menschenschöpfer. Auch rein geistige Ideen haben die Kraft und die Nachwirkung, wahrhaftes , und lebendiges Leben ins Dasein zu zaubern. Auch aus der scheinbaren Luftleere 25

geistiger Werte erwachsen kompakte Menschenmassen. Man hat bei­ spielsweise mit Recht darauf hingewiesen, daß Homer einer der größten Arbeitgeber der Weltgeschichte gewesen sei. Welche Be­ deutung haben die homerischen Dichtungen für die griechische Kultur gehabt! Feder Grieche kannte seinen Homer. Wieviel Rezitatoren, Abschreiber, Schulmänner haben in der antiken Kultur von diesem Arbeitgeber Homer gelebt! Und wie unendlich ost ist Homer seit der Wiedererweckung der Altertumsstudien in der Neuzeit aufgelegt worden! Man denke an die Verleger und Buchhändler, Drucker und Papierfabrikanten, Lehrer und Professoren, die jahrein, jahraus von diesem unerschöpflichen Arbeitgeber in Nahrung gesetzt worden sind. Noch viel drastischer wird dieser Beweis, wenn man an die Bibel, an die geistigen Schöpfer des Alten und Neuen Testamentes denkt. Welche Unmasse von Menschen haben aus Grund dieser rein innerlichen, seelischen Schöpfungen ihre äußere Existenz gefunden, durch die Jahrhunderte hindurch! Wieviel Millionen Bibeln sind in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen über die Menschheit verbreitet worden! Und die ganze Schöpfung der Institution der Kirche mit allen von ihr abhängigen Existenzen, mit ihren Priestern und Pastoren, mit ihren Päpsten, Mönchen, Nonnen, Kranken­ schwestern usw. — das alles verdankt letzten Endes sein Dasein, sein Leben der Ideenschöpfung der jüdisch-christlichen Religion und Religionsstifter — ein unabsehbares Heer! Abgesehen davon, daß schon die bloße Lebenskraft, das Lebensvertrauen und die Lebens­ zuversicht, die die schöpferischen Ideen erwecken und über die Menschheit ausstrahlen, unsäglich viel reale Arbeitskraft und dadurch auch Lebensmöglichkeit und so direkte Lebensvermehrung in die Geschichte bringen, wenn man das auch im einzelnen nicht zahlen­ mäßig aufweisen und nachrechnen kann. Wenn den Erzvätern im Alten Testament immer wieder die Weissagung erteilt wird, daß aus ihnen dereinst ganze große Völker, Völker wie Sand am Meere, hervorgehen würden, so ist das ein symbolischer Ausdruck für eine buchstäbliche Wahrheit. Und man darf die Bedeutung und Originalität des Einzel­ geistes, wie es häufig geschieht, nicht dadurch wieder entwerten, daß man diesen selbständigen einzelnen mit allen seinen Ideen und Kräften aus der Masse, der Allgemeinheit ableitet, die also doch die letzte erzeugende Kraft sei. Man meint vielfach, die Anlagen und Fähigkeiten, die in einem hervorragenden Einzelmenschen vereint austreten, seien einzeln durch die stille Vorarbeit der vielen vorbereitet, gesammelt worden und strömten nur, durch gewisse günstige Umstände bewirkt, zu der geschlossenen Energie im Einzel-

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geiste zusammen, so daß der überragende einzelne nur eine Summe der auch sonst in der Masse vorhandenen Fähigkeiten bedeute und also ein Geschöpf der Masse sei. Wohl kann man vielfach die Vor­ stufen der Ideen Md Kräfte, die ein einzelner starker Geist oder Wille darstellt und vertritt, in dem Leben und Streben der Gesamt­ heit, aus der jener hervorgegangen ist, nachweisen und wieder­ erkennen. Aber woher denn nun das eigentümliche Zusammen­ strömen jener auch sonst getrennt vorhandenen Kräfte im genialen einzelnen kommt, wie dieses Zusammenströmen zustande kommt, das bleibt das Ewigrätselhafte. Gerade diese Kombination der sonst zerstreuten Tendenzen und Ideen macht das Genie aus. Und aus dieser Kombination geht etwas ganz Neues, Ursprüngliches, Freies, Schöpferisches hervor, daraus beruht die Originalität, Echtheit, Kraft, Kühnheit, Schöpfermacht des Genies, das in seinem Wesen und seiner Entstehung bisher unerforschlich geblieben ist, unerforschlich wie der biologische Zeugungsakt bei der natürlichen Zeugung und Geburt jedes einzelnen Lebewesens. Darum be­ zeichnete ich den schöpferischen Einzelgeist auch absichtlich als den „Zeugungsakt der sozialen Gemeinschaft, -er als solcher die Fort­ bildung, die Weiterentwicklung des sozialen Lebens verbürgt und leistet. Hier macht das Leben in irgendeinem Sinne, der bisher wissenschaftlich noch nicht ergründet worden ist, einen Sprung, ein kühnes Vorwärts, Aufwärts, wodurch dem Gesamtleben neue Möglichkeiten, Erweiterungen und Erhöhungen erschlossen werden. Erst aus dieser Einsicht kann man die ganz unausmeßbare Bedeutung des schöpferischen Einzelgeistes begreifen. Er ist mit seinen kühnen Entwürfen, mit seinem ünternehmunge- und Wagemut, in Ideen und Taten, der wahre Lebensschöpfer. Ihm den Garaus machen heißt das Leben gleichsam abknicken, vernichten, es zum Tode ver­ urteilen. Das alles muß man wissen und im Auge haben, um für die praktische Lebensordnung, auch die Wirtschaftsordnung die richtigen Maßstäbe zu haben, vor allem um bei den zu fassenden Entschlüssen das gute Gewissen, die Festigkeit der Überzeugung zu haben. Denn bewußt oder unbewußt unterliegen wir alle der Sug­ gestion der Masse. Revolutionen sind immer nur dann siegreich, wenn die be­ kämpften Mächte schon vor Ausbruch des Kampfes innerlich unsicher und schwankend geworden sind, wenn sie nicht mehr den wahren Mut zu ihrem Standpunkte, den Mut zu sich selbst haben. Der alte Staat ist bei uns zusammengebrochen, weil ein erheblicher Bruchteil des führenden Bürgertums selbst, bis in unsere Beamten27

und Ofsizierskreise hinein, innerlich mit diesem Staate zerfallen war. Man glaubte nicht mehr recht, nicht mehr mit voller Seele an diesen Staat. Mit allzu vielem war man unzufrieden. Man schwieg zwar, aber man ballte die Faust in der Tasche. Dieses unzufriedene Schweigen hat mindestens ebenso unseren Staat unterhöhlt wie der offene Kampf der Sozialdemokratie. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte dieser Staat in der Stunde der Not sicherlich seine Verteidiger gesunden. So ist es bei jeder Re­ volution. Innerlich müssen die regierenden Kräfte, die aus dem Sattel geschleudert werden sollen, schon mürbe und matt, schon unsicher geworden sein. Sonst gelingt keine Revolution. So ist es nun auch bei dem viel tieferen, sozialen Gegensatz zwischen Individualität und Masse, der unsere ganze Zeit durch­ zieht. Innerlich ist auch hier der Mut zur Individualität schon bedenklich angefressen. Das macht die Situation so beispiellos ge­ fährlich. Die Suggestion der Masse hat unheimlich um sich ge­ griffen und alles Denken und Handeln vergiftet. Nicht nur die falsche monistische, ausschließende Denkweise, daß man sich immer nur an ein Prinzip klammert, ist das allgemeine Kennzeichen der Zeit geworden. Nein, noch weit schlimmer ist, daß die gesamte Zeit, vielleicht mehr unbewußt als bewußt, innerlich das Prinzip der Masse als das allein maßgebende und berechtigte anerkannt und sich angeeignet hat. Unbemerkt, uns selber unbewußt sind wir alle — Marxisten geworden. Das werden viele bestreiten. Es ist aber, wie ich nachweisen werde, eine sichere Wahr­ heit. Diese Erkenntnis ist wohl die wichtigste und tiefste Einsicht, die wir über den Charakter unserer Zeit gewinnen können. Nur wenn wir diese Wahrheit erkannt haben, können wir an eine Wendung und Heilung denken. So überraschend im ersten Augenblick diese Auffassung dem unvorbereiteten Leser klingen mag, erst diese Über­ zeugung gibt uns den Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Der Gegensatz zwischen Individualität und Masse beherrscht keineswegs nur das Verhältnis der breiten Arbeitermassen zum Unternehmertum, obwohl hier der Gegensatz, da es sich um materielle Dinge handelt, den schärfsten Ausdruck, die gefährlichste Spannung und Zuspitzung erfahren hat. Derselbe Gegensatz hat sich überall, auch in allen anderen sozialen Schichtungen und Beziehungen geltend gemacht, er wiederholt sich aus allen anderen Lebensstufen. Auch innerhalb der bürger­ lichen Kreise selbst, in allen Berufen und Ständen, hat eine merk­ würdig feindselige Haltung gegen die höher und stärker veranlagten Naturen Platz gegriffen. Der überlegene, zum Führen berufene 28

einzelne wurde überall, in allen Lagen, bei allen nur denkbaren Aufgaben während -er letzten Generation gehaßt, ja geradezu boykottiert, ausgeschaltet, in Acht und Bann getan. Die größere Zahl des Durchschnittes hat allenthalben dem schöpferischen Ein­ zelnen gegenüber unversöhnliche Gegnerschaft bewiesen. Nur von diesem allgemeinen Hintergründe aus ist der wirtschaftliche Gegensatz von Unternehmer- und Arbeiterschaft zu verstehen. Es war ein ganz allgemeiner Instinkt des Zeitalters, der sich darin auswirkte, in der wirtschaftlichen Spannung nur eine spezielle Anwendung gefunden hat. Bekanntlich hat man dem gestürzten Kaiser häufig vorgeworfen, daß er keine befähigten Männer um sich geduldet hätte. Ich kann das nicht richtig finden. Bülow, Bethmann-Hollweg, Miquel, Posadowsky, Dernburg u. a. waren in ihrer Art bedeutende Männer, sicher ihrer sonstigen Umgebung weit überlegen. Nein, das deutsche Volk im ganzen hat die geniale Natur nicht aufkommen lassen. Wie soll denn der Monarch die große Be­ gabung finden, wenn sie ihm nicht von unten heraus durch die stete Auslese, die das Volk überall selbst zu treffen hat, gleichsam nach oben, in seinen Gesichtskreis gehoben und geschoben wird? Aus irgendeinem Kaffeehause heraus kann sich doch der Fürst nicht das verkannte Genie holen 1 Diese ständige Auslese aber der Tüchtigsten wurde in der letzten Generation im allgemeinen nicht getroffen, aus dem eben skizzierten instinktiven Haß aller Durchschnittsmenschen gegen den Auenahmemenschen. Am meisten noch wurde der Be­ fähigte befördert, in einflußreiche Stellen gebracht in der Industrie, im Bankfach, kurz in den führenden Wirtschaftskreisen. Denn hier handelte es sich um das Geld, um den zu erwartenden realen Ge­ winn, und das nahm die letzte Generation allein wirklich ernst. Da setzte man sich über alle hemmenden Rücksichten hinweg und tat das Notwendige, gab in weitem Maße dem Talent Gelegenheit sich auszuwirken. Und der Erfolg dieser richtigen Maßnahme ist in der glänzenden Entwicklung unserer Wirtschaft auch nicht ausg'eblieben. Aber auf allen anderen Lebensgebieten hat man, wie nach fester Verabredung, in Wirklichkeit aus einem geheimen, instinktiv und unwiderstehlich wirkenden Zuge der Zeit heraus, stets nur den guten, soliden Durchschnittsmenschen be­ fördert, den Gleichmäßigen, den „Korrekten", der keine Unruhe stiftet, nichts Besonderes will und anstrebt, sondern fleißig und gehorsam nach überlieferten Maßstäben und Gewohnheiten weiterarbeitet. Um Gottes willen keine Persönlichkeit, keinen Menschen, der Ideen hat, der Neuerungen einführen könnte, an 29

dem Heiligtum der Überlieferung rüttelt, etwas daran zu ändern trachtet! Um Himmels willen keinen originalen Menschen, der sich irgendwie aus dem Schema, dem Korpsgeist, der allgemeinen Anschauung von Berus, Gruppe und Stand heraushebt l Wer will bestreiten, daß dies die ganz allgemein befolgte, durchgehende Norm unseres gesamten Lebens gewesen ist? Und was den berühmten Sturz Bismarcks anbelangt, den man in der Regel nur dem Kaiser zur Last legt, so ist zu erklären, daß das Volks­ ganze wohl schwer betrübt und erschüttert von diesem Ereignisse war. Aber die Entrüstung war doch nicht stark genug, um wirklich gegen den neuen Kaiser mit Entschiedenheit aufzutreten. Und die Ministerien, das höhere Beamtentum, der ganze Reichstag, alles, was politisch in Betracht kam, zur Zusammenarbeit mit Bismarck genötigt war, alles war selig, endlich den unbequemen Riesen loszuwerden. Man atmete im stillen förmlich auf. Darin zeigte sich das wahre Wesen des engherzigen, sittlich beschränkten Zeit­ alters. Es ist ganz verkehrt, den Gegensatz zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum isoliert zu betrachten. Es ist dies nur ein Spezialfall, ein Symptom des tiefsten Wesens unserer ganzen Epoche. Za, man kann noch weitergehen und denselben Gegensatz aufspüren und wiederfinden, wenn man von den Gegensätzen und Spannungen innerhalb des einzelnen Volkes hinüberblickt zu dem großen weltgeschichtlichen Gegensatze der Völker untereinander, zu dem furchtbaren Konflikt, der sich in dem Weltkriege entladen hat. Auch hier finden wir den nämlichen Grundzug unserer Zeit, den Gegensatz der großen Zahl, der Masse gegen das überlegene geniale Können der Minderheit. Denn die ganze Welt hat sich gegen das eine deutsche Volk verschworen, hat ihm den Garaus zu machen gesucht, gewiß nicht nach einem einheitlichen, satanischen, politischen Plane — eine so ungeheuere Bewegung kann nur aus einem tiefen, unbewußten Lebeneinstinkt und Drange hervorgehen, kann nur aus elementaren, unbewußten Tiefen des Lebenswillens ent­ sprungen sein. Und zwar ist es der fanatische, unwiderstehliche Haß gegen das geistig überlegene, erfinderische, schöpferische, geniale Einzelvolk gewesen, das alle anderen Völker zu überholen schien, was diese Feindseligkeit entfesselt hat. Die überlegene Geistigkeit, die höhere Begabung, die schöpferische Kraft des deutschen Volkes, das ist das letzte Motiv zum Ausbruch des Weltkrieges gewesen, die treibende Kraft, die die ganze Welt gegen Deutschland auf­ gebracht und in kriegerische Bewegung gesetzt hat. Ein Zug, ein Charakter, eine Weltanschauung beherrscht jede Epoche. Aus einer gemeinsamen, unsichtbar rauschenden Quelle entströmen alle 30

Handlungen und Taten, Unterlassungen und Schicksale, Heil und Unheil jeder Epoche. Die Aufdeckung dieses einen beherrschenden guges in unserem Zeitalter kann uns allein instand setzen, die bessernde Hand anzulegen, im großen und kleinen. Und zuletzt wird man die Bewegung der Arbeiterschaft selbst, der großen Masse nur dann richtig würdigen und voll begreifen, wenn man auch hier wieder denselben Grundzug der Zeit gewahr wird, nämlich die Kriegserklärung und Feindseligkeit der großen Zahl des Durchschnitts gegen die überlegene, höherstehende, besser befähigte Minderheit. In jedem Lebensgebiete nämlich, aus jeder Lebensstufe muß sich das allgemeine Lebensprinzip wiederholen, das Prinzip der Gliederung, daß gewisse einzelne oder kleinere ©nippen sich aus dem Gros des Durchschnitts auf- und empor­ schwingen, durch höhere Leistungen sich abheben, durch diese höheren Leistungen führend und vorbildlich wirken und mit diesen ihren Vorzugsleistungen auch zur Anerkennung gelangen. Jedermann weiß, daß die Arbeiterbewegung in den eigenen Reihen im all­ gemeinen auf das direkt entgegengesetzte Ziel hinstrebt, auf dem entgegengesetzten Triebe beruht, nämlich alle Arbeiter ohne Unterschied des Könnens, der Leistung, des Fleißes, der Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit, völlig gleichartig und gleichwertig zu behandeln. Alles soll in eine gleiche Linie gestellt, alles in eine unterschiedslose Reihe gedrängt werden. Der all­ gemeine Kamps der Zeit gegen den überlegenen Menschen wiederholt sich innerhalb der Arbeiterschaft selbst. Auch hier finden wir dieselbe Spannung wie überall: die große Zahl in Auflehnung gegen das bessere Können der einzelnen, wenigen. Die Arbeit soll nur nach dem rein mechanischen Prinzip der Zeit gemessen werden. Die Qualität und Quantität des Geleisteten sollen keine Rolle spielen. Die Faulen sollen dasselbe Recht haben wie die Fleißigen. Die Ungelernten, Unerfahrenen, Jugendlichen terrorisieren die Ein­ sichtigen, Erfahrenen, Älteren. Das gelingt gewiß nicht immer, man kann nicht aus die Dauer der Natur trotzen. Das rechte Ver­ hältnis hat sich schon langsam in vieler Hinsicht wieder hergestellt. Aber daß die allgemeine Tendenz, der beherrschende Instinkt auch in der Arbeiterschaft selbst sich in der angedeuteten Richtung bewegt, nämlich gegen jede Gliederung, Abstufung, gegen ieden Äufftieg, jede Vorzugsstellung, das liegt am Tage. Der Terror ist das kennzeichnende Prinzip, die beherrschende Praxis der Be­ wegung geworden. Und Terror mit gröberen oder feineren Mitteln, die Anwendung und Ausspielung der Gewalt, irgendeiner Art Zwanges in dem Gegensatz der vielen gegen die wenigen, der großen 31

8en. Kapitalismus und den Kapita­ listen, wie seine unbedingten Feinde, seine Todfeinde. Aus einem tief verborgenen Mißverständnis heraus haßt der Arbeiter den Kapitalismus. Er meint den Kapitalismus selbst, schlechthin, als solchen zu hassen. Aber er verkennt sich in diesem Hasse selbst, seine eigene, innerste Natur. Weil der Arbeiter selbst im tiefsten Grunde seines Herzens Kapitalist ist, den Kapitalismus 72

schätzt, darum widmet er diesen Mächten seine ingrimmige Feind­ schaft, weil sie in ihrer gegenwärtigen Ausprägung, in ihrem gegen­ wärtigen Verhalten und Wirken seinen eigenen kapitalistischen Be­ dürfnissen, die er hat, die er nur in schwerer Selbsttäuschung über­ sieht, nicht in genügendem Maße entgegenkommen. Aber nicht nur der Arbeiter, jeder Mensch, behaupte ich, ist seinem innersten Wesen nach, von Natur ein Kapitalist. Zum menschlichen Charakter überhaupt gehört der Kapitalismus, er ist niemals auszurotten, er könnte nur mit der Vernichtung des Menschen selbst aufgehoben werden und verschwinden. Die Feindschaft des Arbeiters gegen den Kapitalismus rührt von seinem eigenen kapitalistischen Charakter her, den er mit allen menschlichen Wesen teilt. Die soziale Frage kann nur gelöst, der Arbeiter von seinem Haß aus den Kapitalismus nur geheilt werden, wenn sein kapitalistischer Charakter, das Recht zur Befriedigung dieses allgemein-mensch­ lichen Grundzuges auch bei ihm anerkannt und in den möglichen, den berechtigten Grenzen zusriedengestellt wird. So führt die Frage nach dem Recht und den Forderungen des Arbeiters nochmals zu der Frage nach dem Wesen des Kapitalismus zurück. Nur von hier aus können wir den Arbeiter und seine Be­ dürfnisse voll verstehen. Es ist Mode geworden, den Kapitalismus in Grund und Boden zu verdammen. Auch über den Kreis der eigentlichen und heftigen Feinde des Kapitalismus, über die Arbeiterwelt hinaus pflegt man, ohne sich ausdrücklich zum politischen Sozialismus zu bekennen, das Wort „Kapitalismus" nur mit Abscheu zu nennen, als ob man damit etwas ganz Verruchtes und Verworfenes brandmarke. Ein förmliches Gruseln überläuft die meisten, wenn sie das Wort „Ka­ pitalismus" nur aussprechen hören. Ein verhängnisvolles Beispiel, welchen Einfluß die Suggestion der Masse zu üben vermag. Da hält es allerdings schwer, als Sachwalter einer so verfehmten Er­ scheinung auszutreten. And doch ist die Rechtfertigung und das Verständnis des Kapitalismus die Voraussetzung und Vorbedingung, um auch dem Standpunkte und den Bedürfnissen des Arbeiters, des scheinbaren Gegners des Kapitalismus, gerecht zu werden. Das klingt sehr seltsam, allen Begriffen und verbreiteten Vorstellungen der Gegenwart entgegengesetzt, ist aber, wie wir sogleich erkennen werden, eine Wahrheit. Zunächst eine allgemeine Bemerkung. Man darf sich durch den Mißbrauch, den eine Einrichtung zeitweise erfährt, nicht von der Schätzung dieser Erscheinung als solcher, die sie kraft ihrer all­ gemeinen Bedeutung verdient, abbringen lassen. Der Staat schasst

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aus Grund seiner Souveränität, seiner höchsten Machtgewalt das Gesetz, welches die menschliche Ordnung und damit alle Gesittung und Bildung begründet. Wie oft aber und wie furchtbar ist die staatliche Macht mißbraucht worden! Und dennoch ist der Staat und sein Gesetz das Erhabenste, das sich denken läßt, der Rückhalt und Schutz des ganzen menschlichen Lebens mit allen seinen äußeren und inneren Werten. Die Religion offenbart dem menschlichen Herzen die letzte und geheimste Wahrheit über die göttlichen und menschlichen Dinge, um dem Menschen Vertrauen zum Sinn im Dasein und somit Zuversicht im Leben und Sterben einzuhauchen. Wie grauenhaft aber haben die Offenbarer der Wahrheit^die Priester, bisweilen ihre Macht über die geängsteten Gemüter durch Mißbrauch dieser Seelengewalt, durch wahre seelische Folterqualen geschändet! Darf das aber dazu verführen, die Religion selbst zu verachten, die heiligste Regung des Menschenherzens zu unterdrücken und absterben zu lassen? Der Kapitalismus als Wirtschaftsform hat zweifellos schwere und bedenkliche Mißstände im Gefolge gehabt. Diese mag man und soll man uneingeschränkt anerkennen und herausheben. Nur dadurch wird man in die Lage versetzt, sie zu beseitigen oder zu lindern. Aber die Tatsache dieser Mißstände darf nicht dazu ver­ führen, den Kapitalismus überhaupt an den Pranger zu stellen und als wahre Ausgeburt der Hölle auszumalen. Man darf das Kind doch nicht mit dem Bade ausschütten! Wo viel Licht ist, ist viel Schatten — das sind doch so einfache und uralt erkannte Wahrheiten, die man auch im rechten Augenblick, bei gegebener Sachlage an­ wenden soll. Das einseitige, undifferenzierte, grobschlächtige Denken der Gegenwart, das gar nicht zu unterscheiden vermag, immer alles über einen Leisten schlägt, ist geradezu unerträglich. Im Gesamthaushalt der Wirtschaft ist der Kapitalist das denkbar feinste, wertvollste Instrument, das man niemals entbehren kann, das zu zertrümmern die Unvernunft selbst wäre. Ich sagte oben, die be­ deutendsten und echtesten Erscheinungen des Lebens seien die­ jenigen, die irgendwelche Gegensätze in sich vereinigen. Der Ka­ pitalist vereinigt in sich zu wunderbarer Mischung und gegenseitiger Durchdringung die beiden anscheinend völlig unversöhnbaren Gegen­ sätze, nämlich Vorsicht und Kühnheit, deren Vereinigung aber gerade das Leben verlangt und vor allem das große, verantwortungs­ volle Leben verlangt. Und darum ist auch der wahre Kapitalist so erfolgreich. Weil nämlich der Kapitalist sein Vermögen aufs Spiel setzt, übt er notwendig die äußerste Vorsicht; weil er aber zugleich auch Gewinn erzielen will, wagt er etwas mit seinem Vermögen. Don dem einen Triebe, von dem nach Gewinn wird 74

er angestachelt. Von dem anderen, dem Wunsche, seinen Besitz nicht zu verlieren, wird er gehemmt und zurückgehalten. So vereinigen sich Wagemut und Behutsamkeit, Tatkraft und Be­ sonnenheit bei ihm zu einer schöpferischen Einheit, wie man sie sonst, aus künstlichem Wege der Erziehung niemals erzielen könnte. Hier entsteht diese Synthese gleichsam urwüchsig, aus der natürlichen Voraussetzung der Lage selbst. Der Beamte hingegen, der als Wirtschaftsfunktionär der Allgemeinheit zu wirken hat, wird in der Regel entweder zu ängstlich sein. Er scheut sich, bei der Gewagt­ heit jedes neuen Unternehmens und jeder weiteren Ausgestaltung vorhandener Unternehmungen, wobei jeder Schritt eine Spekulation, ein spekulativer Akt ist, das ihm nicht gehörige öffentliche Vermögen zu gefährden. Er schreckt leicht vor der Verantwortung zurück, die eine solche Spekulation in sich schließt, da es ja nicht sein Geld ist, das in Frage steht. Oder aber, da es eben nicht sein Geld ist, er nicht unmittelbar selbst von seinem Gut und Geld etwas einzu­ büßen hat, wird er leichtsinnig, er läßt sich zu allzu kühnen Operationen hinreißen. Das liegt in der Natur der Dinge, in der Voraussetzung, die auch hier wieder die Lage des zum Handeln Berufenen not­ wendig schafft. Selbstverständlich gibt es von diesen allgemeinen Regeln stets zahlreiche Ausnahmen. Der Privatkapitalist kann sich grimmig verrechnen und der soziale Beamte kann vortrefflich wirt­ schaften. Das menschliche Leben ist niemals schematisch, ist so viel­ gestaltig, daß jede Regel in jedem Augenblicke durchbrochen werden kann. Deshalb besteht aber die Regel selbst als die allgemeine, hauptsächliche, als die zunächst wahrscheinliche und überwiegende Erscheinung dennoch fort. Alle Ordnung aber im Menschenleben, jedes Gesetz hat immer nur mit den allgemeinen, wahrscheinlichen, geläufigen Verhältnissen und Zuständen zu rechnen. Die Ordnung und das Gesetz können nicht aus Ausnahmen gegründet werden. Was ich hier kurz andeute und was leicht weiter auszuführen und durch Beispiele zu belegen wäre, sind psychologische Gesetze, die aus der innersten Natur der Dinge/ trotz einzelner Ausnahmefälle, sich immer wieder Geltung verschaffen werden. Man muß die Dinge von weitem, aus einer allgemeinen Über­ schau zu betrachten lernen. Der private Reichtum und der soziale Reichtum eines ganzen Volkes sind gar nicht voneinander zu trennen. Denn der Polksreichtum setzt sich aus dem Reichtum der einzelnen zusammen. Und was der einzelne scheinbar nur für sich selbst erwirbt und ansammelt, erwirbt und sammelt er zugleich für das ganze Volk, da sein Reichtum fruchtbar und zeugungskräftig wieder aus den Nationalwohlstand einwirkt. Es ist eine soziale Klugheit ersten

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Ranges, eine sozial höchst gescheite Maßregel, die sich natürlich nicht bewußt, sondern instinktiv herausgebildet hat, daß die Ver­ waltung der Reichtümer des Eesamtvolkes in dem Verfügungsrecht einzelner liegt. Es ist dies die sparsamste, behutsamste, vorsichtigste Form der Verwaltung und zugleich die schöpferisch fruchtbarste, kühnste, entschlossenste. Eben die schon vorher gekennzeichnete Verknüpfung von Zurückhaltung und Vorwärtsstreben, von Unternehmungsgeist und doch zugleich kühler, haushälterischer Berechnung und Überlegung — diese Ver­ einigung findet sich im Kapitalisten aus die denkbar glücklichste Weise, und zwar ganz elementar und triebhaft, instinktiv, weil seine natür­ liche Lage ihm diese Fähigkeiten von selbst anzüchtet. Auch im menschlichen Leben ist der Instinkt immer noch der klügste Ratgeber. Doch dies soll nur ein kurzer Hinweis auf die Verhältnisse der Gegenwart sein, eine Warnung, nicht so kurzerhand über etwas abzuurteilen, was die allgemeine Feindseligkeit aus sich gezogen hat. Man hat vielmehr im allgemeinen Veranlassung, Erscheinungen, die dem Verdammungsurteil der Mehrzahl anheimsallen, seine Sympathie zuzuwenden, man kann von vornherein fast immer ver­ muten, daß hinter solchen Erscheinungen etwas Bedeutsames steckt, daß solche Erscheinungen höchst beachtens- und schätzenswert sind. Was alle Welt haßt, dahinter pflegt sich etwas Wertvolles zu ver­ bergen. Der allgemeine Haß der Welt auf Deutschland kann uns nur zur Ehre gereichen. So auch auf allen anderen Gebieten des Lebens. Indessen müssen wir die Frage des Kapitalismus noch tiefer auf ihren Grund verfolgen. Ich sagte vorher, der Kapitalismus, die Kapitalbildung liege im Wesen der menschlichen Natur. Denn die Kapitalbildung bedeutet nichts anderes als die Ansammlung von Werten und Kräften die im Augenblicke nicht benötigt werden, die über das unmittelbare Bedürfnis hinausreichen. And da behaupte ich nun: das ist ein menschlicher Grundtrieb, etwas, das zum innersten Wesen des Menschen gehört und deshalb auch niemandem verkümmert werden darf. Sonst vernichtet man damit seine menschliche Natur. Der Mensch hebt sich dadurch über das Tier hinaus, daß er sich von dem flüchtigen Augenblick sreimacht, daß er nicht ein Knecht des augenblicklichen, unmittelbaren Bedürfnisses bleibt, daß er weiterschaut, Voraussicht hat und daß er in dieser Voraussicht vor­ sorgt, Leistungen hervorbringt, Werke und Werte schasst, die der Augenblick nicht erheischt, die erst später, bei gegebener Gelegenheit ihre Verwendung finden. Wenn wir aus den Menschen in den

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einfachsten Verhältnissen blicken, so zeigt sich, daß er ansammelt, daß er irgendwelche Güter, und seien es nur seine ärmliche Hütte, seine Kleidung, seine Waffen, nicht nur für den Augenblick, sondern vorsorgend für weitere Zeiträume schafft, daß er ausspart, erhält, was er später gebrauchen will. Ist das nicht die innerste Natur des Menschen selbst, dieses Vorsorgen und Vorbauen, dieser Blick in die Zukunft, dies sich Freimachen vom Zwange des Augenblickes? Das Tier unterliegt ganz diesem Zwange des Augenblickes, der Mensch formt sein ganzes Leben unter einheitliche Gesichtspunkte und Ziele, er knüpft Gegenwart und Zukunft in eins zusammen, legt in der Gegenwart den Grund für die vorausgeschaute Zukunft, deren Bedürfnisse ihn nicht überraschen, nicht unvorbereitet treffen sollen. Der Mensch ist von Natur Kapitalist, Sparer, An­ sammler von Kräften. Was er an geistigen und materiellen Gütern erwirbt, an geistigen und materiellen' Werten erzeugt, alles ist niemals nur von der Not des Augenblickes ihm ausgedrungen, alles dient als Werkzeug, Mittel und Kraft einer späteren Zukunft. Die gesamte menschliche Kultur, die ganze Geschichte des Menschen beruht aus diesem Spartrieb, dieser Sparkrast, die über den Augenblick hinaus die Mittel und Grundlagen zur Sicherung, Mehrung und Steigerung des Lebens in der Zukunft hervorbringt. Auch alles, was der Mensch geistig erzeugt, geistig arbeitet, ist eine Ansammlung für später. Er vertraut, was er in sich ausgenommen hat, seinem Gedächtnisse an — das Gedächtnis ist ein Kapital —, er erwirbt sich durch seine geistige Arbeit dauernde geistige Fähig­ keiten, die er später in jedem Augenblicke wieder, wenn der Bedarf ruft, wenn äußere oder innere Bedingungen dazu antreiben, aus­ spielen, in Anwendung bringen kann. Die ganze menschliche Seele mit allen ihren Kenntnissen, Begabungen und Kräften ist ein Kapital, ein gewaltiges Kapital. Aber auch der menschliche Körper mit seinen gespannten Kräften, die jederzeit ausgelöst, in Tätigkeit versetzt werden können und so auch alle im Lause der Ge­ schichte aus Körper und Geist zugleich geborenen Werke und Fähig­ keiten des Menschen — alles ist Kapital. Als Erben einer langen Geschichte sind wir ungeheuer reiche Kapitalisten geworden, ein Schatz von Errungenschaften ist durch die Spar- und Sammelkrast des Menschengeschlechts unser geworden, der uns eine ungeheuere Verantwortung für die Zukunft auslädt, ihn weiter zu erhalten und zu mehren, wie unsere Vorfahren für uns sorgten, unendliche Arbeit aufboten, äußeres und inneres Kapital, materielle und ideelle Güter für uns als ihre Enkel aufzuhäufen, so auch unsererseits diesen materiellen und geistigen Kapitalschatz den nachfolgenden Ge77

schlechtem vorsorgend aufzuheben und zu überantworten, um die Geschlechter der Zukunft immer mächtiger, reicher, fähiger, um sie zu wahren Herren und Meistern der Schöpfung zu machen. Mensch sein und Kapital bilden ist gleichbedeutend. Im Gmnde genommen ist dies Kapitalbilden des Menschen nichts anderes als eine Fortsetzung und Steigerung des natürlichen Wachstums. Es ist nur ein sehr schnelles Wachstum. Auf Grund der geistigen Voraussicht und Umsicht des Menschen erarbeitet er weit mehr, als im Augenblicke nötig ist, im Augenblicke seine Natur fordert. Und sein Arbeiten ist ja nur eine neue, erhöhte Form des Wachstums, ein Ausdehnen seines Machtbereiches, seiner 23ersügungskrast aus Grund seiner geistigen und materiellen Güter­ erzeugung über einen weiteren Umkreis der Wirklichkeit. Dieses Schaffen über den Bedarf hinaus ist das natürliche Wachstum auf den Boden und die Natur des Menschen verpflanzt, der mit seinen Kräften und Leistungen schnell, sprunghaft wächst, mehr als un­ bedingt erforderlich ist, wodurch das überschüssige Wachstum und Schaffen für Lagen der Gefahr oder besondere Anforderungen in späterer Zeit zur Verfügung steht. Dieses Wachstum über den drängendsten Bedarf hinaus, dieses Zurückstellen für später, dieses Kapitalbilden als allgemein menschliche Anlage und Notwendigkeit, als angeborene und anerzogene Eigenschaft und zwingendes Be­ dürfnis darf den Menschen nicht verkürzt und ver­ kümmert, darf den Menschen durch die soziale Ordnung nicht genommen werden, oder die menschliche Gemein­ schaft, die soziale Ordnung geht in Trümmer. Denn die so beschaffene soziale Ordnung oder Unordnung widerstreitet der innersten Natur des Menschen, verleugnet die unausrottbaren Grundtriebe des Menschen. Und das muß notwendig eine ver­ heerende Wirkung haben. Ein solcher Fehler fällt wuchtig und zermalmend auf das soziale System zurück. Und so behaupte ich denn: die Lage des Arbeiters, wie sie ge­ wöhnlich, gemeinhin ist — die Ausnahmen kommen nicht in Betracht — mit dem berühmten Existenzminimum, daß er nur gerade, nur knapp existieren kann, daß er nur von der Hand in den Mund lebt, dies Proletarierdasein, wie es doch unstreitig einem großen Teil unseres Volkes durch unsere wirtschaftliche Ordnung beschieden und aufgenötigt ist, ein Leben, das gar keine Kapitalbildung, keine Aus­ sparung Und Ansammlung für die Zukunft gestattet, materiell nicht und deshalb auch nicht ideell — diese Lage ist unerträglich, bedeutet für die Dauer eine Unmöglichkeit, bedingt eine schlechthin unmögliche Existenz. Sie trägt psycholo-

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gische Unmöglichkeiten in sich, die sich gefährlich Lust machen müssen, die die ganze soziale Ordnung, die ganze Wirtschaft unterhöhlen und sprengen müssen. Solange diese Verhältnisse in der Hauptsache be­ stehen bleiben — die Ausnahmen, wie gesagt, kommen für die Ge­ samtbeurteilung der Lage der Arbeiterschaft nicht in Frage — solange diese Zustände die allgemein üblichen, dauernden und gewöhnlichen sind, sammelt sich notwendig ein furchtbarer Gärungs­ und Sprengstoff in diesen von der Kapitalbildung aus­ geschlossenen Kreisen und Schichten an, der sich immer wieder entladen, los- und ausbrechen muß. Man mag sich drehen und wenden wie man will: solange im wesentlichen dieser Zustand erhalten bleibt, ruht unser ganzes Wirtschaftsleben gleichsam auf einem Vesuv, der jederzeit in gewaltigen Erdbeben und Erschütterungen aufbrodeln kann und muß. Das ist eine psycholo­ gische Notwendigkeit, eine psychologisch unabwendbare und unab­ stellbare Tatsächlichkeit, mit der einfach zu rechnen ist, die da ist und deshalb bei allen sozialen Erwägungen und Plänen zugrunde gelegt, bedacht und beachtet werden muh. Diese Tatsache entfließt der innersten und unveränderlichen Natur des Menschen, erwächst unmittelbar aus seinem Urcharakter, der nicht zu brechen und um­ zubiegen ist, der sein Recht unerbittlich fordert, der stärker ist als Menschenwille. Man kann die Bedeutung dieser Sachlage nur ermessen, wenn man die Verhältnisse wieder von einer weiteren und allgemeineren Überschau aus betrachtet. Die soziale Spannung in unserem Volke ist durch die Industrialisierung der Gewerbe im modernen Groß­ betriebe hervorgerufen worden. Erst von der modernen Industrie aus ist diese gereizte Spannung auch auf die ländlichen Verhältnisse, die Landarbeiterschast übergesprungen. Wie aber waren die -gewerb­ lichen Verhältnisse in älterer Zeit, bevor der moderne maschinelle Großbetrieb alles ergriffen hatte? Eine gewisse Zeit war jeder Gewerbetreibende, der künftige Kaufmann und Handwerker in abhängiger und lernender Stellung, als Lehrling, Geselle, An­ gestellter usw. Aber sein Ziel, sein berechtigtes und in den meisten Fällen auch erreichtes Ziel war die selbständige Führung, der eigene Betrieb eines Gewerbes von größerem oder kleinerem Um­ fange. Und wenn er, zu dieser Selbständigkeit gelangt, sehr fleißig war, unermüdlich arbeitete, man möchte mit einiger Übertreibung sagen, Tag und Nacht auf den Beinen war — einen Achtstundentag gab es für die damalige Zeit noch nicht — dann konnte er sich langsam etwas zurücklegen, dann konnte er hoffen für das Alter etwas gespart zu haben, um einem ruhigen Lebensabend entgegenzusehen. Dies

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war der normale Verlauf. Jedenfalls die Möglichkeit, ja Wahr­ scheinlichkeit dieser Lebensentwicklung stand beim Eintritt in das gewerbliche Leben vor dem Blick jedes Anfängers. Wer das Ziel nicht erreichte, mutzte die Schuld davon sich selbst zuschreiben, das lag dann an seiner mangelnden technischen Ausbildung, an dem Mangel an Umsicht, Geschicklichkeit, Fleitz oder sonst etwas, er konnte keinen anderen dafür verantwortlich machen, keinen Kapitalisten, der über ihm stand. Wie ist die Lage des heutigen Arbeiters, der seine Selbständigkeit eingebüßt hat, mit einer großen Zahl von Schicksalsgenossen in einen gemeinsamen großen Betrieb ein­ getreten ist, dem er nur als ein winziges, unbedeutendes Glied angehört, in welchem er mit seinen Genossen zusammen nur als Zahl Bedeutung hat? Er erhält einen auskömmlichen Lohn. Ich will nicht fragen, ob er ihn immer, auch in der Vorrevolutionszeit, in den ersten Jahrzehnten der aufstrebenden deutschen Wirtschaft empfangen hat. Es steht wohl fest, daß der Lohn bisweilen unter dem Nötigsten blieb, daß in einzelnen Fällen von wirklicher Aus­ beutung in der damaligen Zeit gesprochen werden kann. Aber ich setze den Fall, der Arbeiter erhält jetzt und künftig einen ausreichenden Lohn. Da wird man sagen — und man hat es oft gesagt —: nun, das ist doch genug, was will der Arbeiter mehr? Ich erwidere: das ist nicht genug. Ich sehe ab von all den künstlichen Konstruk­ tionen des „Mehrwertes" und anderen Formulierungen, die diese Verhältnisse als unzulänglich erweisen sollen. Ich halte mich nur an die allgemein-menschlichen, elementaren Lebensvorgänge und Lebenssunktionen, an die psychologischen Lebensbedürfnisse des Menschen. Dem Arbeiter ist im allgemeinen die natürlichste und unerläßlichste Funktion des Lebens entzogen, abgeschnitten, nämlich das ständige und stetige Wachstum, die Kapitalbildung und Aussparung, die dem menschlichen Leben so nötig ist, wie Licht und Wärme der Sonne, wie das tägliche Brot, weil der Mensch eben über den Augenblick hinaus in die Zukunft schaut, weil ihm diese Zukunft nicht gleichgültig sein kann, weil er notwendig, bei nur einigermaßen ernsthafter Lebensführung und Gesinnung fragen muß, was künftig werden wird. Der Mensch wächst körperlich bis Anfang der zwanziger Jahre. Die meisten wachsen auch geistig nicht über diese Zeit hinaus,' sondern die Vorstellungswelt, die An­ schauungen, die sie sich bis Mitte der zwanziger Jahre angeeignet haben, bleiben ihnen meist für das ganze Leben anhaften, aus diesen vermögen sie sich nicht mehr herauszuwinden. Das Genie allerdings wächst geistig bis zum letzten Tage, wie wir es am erstaun­ lichsten bei Goethe gewahren. Aber wenn auch dem Durchschnitts80

Menschen körperlich und geistig frühzeitig eine Schranke seines Wachstums gezogen ist oder wenn er sich selbst durch sein Unver­ mögen diese Schranke setzt, eine Art des Wachstums, der steten Fortentwicklung mutz auch der alltägliche Mensch auf seinem Lebens­ wege erfahren, das ist das wirtschaftliche Wachstum, der wirtschaftliche Aufstieg. Er muß das Gefühl, die Gewißheit haben, daß seine Lebensarbeit nicht vergeblich ist, daß sie Frucht trägt, daß er durch seiner Hände Werk auch wirklich etwas zustandebringt, aufbaut, das über den flüchtigen Augenblick hinaus Dauer hat und die Zukunft in trostreiches, mildes und zufriedenes Licht rückt. Gewiß, vor den großen Wechselfällen des Lebens ist niemand sicher. Krankheit, frühzeitiger Tod, allgemeine Erschütterungen und Umwälzungen des gesamten politischen und sozialen Lebens können jederzeit auch das bestgeführte und vorsorglichste Einzelleben über­ fallen, können es von Grund aus zerstören. Aber im großen und ganzen hat der Mensch den berechtigten Wunsch, der normalerweise bei der nötigen Arbeitsfreude und Anstrengung auch erfüllt wird oder erfüllt werden sollte, daß das Leben ein Ergebnis hat, nämlich eine wirtschaftlich aufsteigende Richtung zeigt, die eine wachsende Sicherheit in sich schließt, daß die Lebensarbeit zu einer wenn auch noch so mäßigen Kapitalisierung führt, die das Alter schützt und stützt. Allerdings muß man sich klarmachen, daß es immer Lohn­ arbeiter im strengen Sinne des Wortes gegeben hat und geben wird, d. h. solche, die wirtschaftlich nicht aussteigen und nichts Dauer­ haftes erreichen, keine Kapitalisierung ihrer Lebensarbeit erringen, Menschen, die nicht über diese bloße Fristung des Daseins hinaus­ gelangen. Solche schlechtest Gestellten hat es immer gegeben, auch in der „guten, alten Zeit" und es wird sie immer geben. Es ist ein Wahnwitz zu glauben, daß jemals die Armut abzuschaffen wäre. Diese Vorstellung ist eine gefährliche Sentimentalität. Ich erinnere mich irgendwann einmal in einer sozialphilosophischen Studie einen wirkungsvollen Kontrast gelesen zu haben zwischen den Leistungen der modernen Technik und dem noch immer vorhandenen sozialen Elend. In beweglichen Worten wurden die Wunder der modernen Technik geschildert und dann wurde emphatisch ausgerusen (dem Sinne nach): „Man sollte meinen, daß es zu einer Zeit, die solche Wunderwerke des menschlichen Geistes hervorbringt, gar keine Blöße und Nacktheit, Hunger und Armut mehr geben könne." Das ist ein grundsätzlicher Irrtum, der überall spukt. Diese Erscheinungen haben gar nichts miteinander zu tun. Es wird niemals eine Zeit geben, in der die Armut aufhörte. Auch Marx und der aus ihm geborene Sozialismus haben sich vielfach dieses Utopismus schuldig Hornefser, Oie große Wunde. 2.Ausl.

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gemacht. Marx war der Meinung und hat sie verbreitet, daß infolge der modernen Technik der Mensch künftighin viel weniger zu arbeiten brauche — eine nach seiner Meinung gerechte soziale Ordnung vorausgesetzt —, da er ja die Maschine für sich arbeiten lasse, die ihm einen großen Teil seiner Arbeit abnehme. Verteile man Arbeit und Gewinn richtig, so könnten alle ohne Überanstrengung, ja mit sehr eingeschränkter und mäßiger Arbeit herrlich und in Freuden leben. Diese Annahme übersieht nur eines: die unaufhaltsame Vermehrung der Menschen. Nur wenn die Zahl der Menschen gleichbliebe, würde die durch die Maschinen geleistete Arbeit die Menschen entlasten. Aber wo nur die geringsten Lebensmöglich­ keiten sich bieten, neu entstehen, da wird diese Stelle auch sofort durch das nachschießende, üppig schwellende Leben ausgesüllt. Der Tisch des Lebens ist stets bis auf den letzten Platz besetzt. Der Mensch mag erfinden, was er will: die ungeheuere Vermehrung, das üppige Wachstum des Lebens wird immer wieder den großen Wettbewerb um die erzeugten Lebensgüter und Lebensgrundlagen, grob ausgedrückt, um die Futterplähe des Lebens entfachen. And bei diesem Wettkampf wird es immer solche geben, die infolge ihrer ünsähigkeit, auch infolge äußeren, zufälligen Mißgeschicks, widriger Umstände, über die kein Mensch Herr ist, an die unterste Stelle gedrängt werden, wo sie nur gerade, nur kümmerlich genug ihr Dasein aufrechterhalten. Denn auch darein müssen wir uns fügen, auch diese Tatsache müssen wir als schlechthin unabwendbar hin­ nehmen, daß der Zufall, das Geschick, Umstände, die mit dem Inneren des Menschen, mit seinem Charakter, seinem Verdienst und seiner Würdigkeit in gar keinem Zusammenhänge stehen, eine ungeheuer große Rolle im menschlichen Leben spielen. Eine entsetzlich wahllose Willkür des Geschickes, des rein äußeren Geschehens, der Ver­ kettung der Zufälle waltet über dem Menschenleben, unaushebbar, unentsliehbar. Die Gegenwart leidet an einer wahren Feigheit in der Frage der Weltanschauung. Beides ist sehr notwendig und heilsam, ist gut so, nämlich das launisch blinde Geschick und der furchtbare Wettkampf unter den Menschen, der in seinem Gefolge die Armut hat. Denn nur die unberechenbare Launenhaftigkeit und Zufälligkeit des Schicksals hat dem Menschen seine Vorsorge, Umsicht, Gewandtheit, List, seine ganze Geistigkeit angezüchtet, daß er all seine Kräfte aufbot, jede nur denkbare Regsamkeit, Schmiegsamkeit, Zähigkeit, Härte, Span­ nung seines Geistes entfaltete, um dem furchtbar unberechenbaren Geschick Trotz zu bieten, um sich gegen dieses wilde Geschick zu be­ haupten. Diesem tragischen Charakter des Daseins verdankt der 82

Mensch seine Größe und seine Kraft, seine Tiefe und seine Schön­ heit. Und der Kamps ums Dasein, der infolge der immer nach* wachsenden Vermehrung der Menschen unvermeidlich ist, welcher Kampf immer auch gewisse Gruppen an die ungünstigste Stelle drängt, auch dieser Kamps ist, wenn man der Sache auf den Grund geht, sich nicht durch den äußeren Schein, die abschreckende Außen­ seite täuschen läßt, äußerst fruchtbar und erzieherisch. Denn die Gefahr, in jene schlechtest gestellten Gruppen hinabzusinken oder darin stecken zu bleiben, ist der stärkste Stachel, ist der schmerzhafte, peinigende, aber doch auch emporreißende Antrieb und Auftrieb, mit aller Energie, mit dem äußersten Aufwande von Kraft sich emporzuarbeiten, auf die freien Höhen des Lebens. Die Armut, dieses unheimlich hohle Gespenst in dem härenen Gewände, steht als grausame, martervolle Zuchtrute hinter dem Menschen und geißelt ihn empor in die Höhe, in die Kraft und die Arbeit. Der Mensch wäre das alles nicht, was er geworden ist, hätte das alles nicht, was er erworben hat, wenn nicht Mißgeschick und Armut ihn immer als drohende Warnungen begleiteten. Das mag unbarm­ herzig und roh klingen. Aber es ist so im Nate der Weltgeschicke beschlossen worden, und kein Menschenwille, und sei er noch so verwegen und hochfliegend, wird daran je etwas ändern können. Es ist so und bleibt so. Diese grausame Tatsache erzeugt erst den Heroismus des Menschenlebens. Es fragt sich eben, welch eine Welt­ anschauung man hegt, was man als das Wünschbare und Erstrebens­ werte, als das Ideal für das Menschenleben empfindet. Will man ein gemächliches Phäakenleben haben, das, was Nietzsche verächtlich das „Grüne-Weide-Glück der Heerde", „das erbärmliche Behagen" nennt, oder das Ringen, die Spannung und Anspannung der Fähigkeiten. Diese Wahl bestimmt die ganze Lebensführung und Lebensbeurteilung der Menschen, entscheidet auch über die soziale Ordnung. So tapfer und kühn heute viele diesen großen Kampf kämpfen, sehr viele andererseits, wenn nicht gar die meisten, bekennen sich offen oder geheim zu dem Leben als Genuß. Die einen, die Reichen, so meint.man, haben dieses erbärmliche Behagen, und die anderen, die sie beneiden, wollen es haben. In der Grundbeurteilung der Lebensideale sind sie einander gleich. Es bewegt sie der gleiche Gott. Wer sich aber zu dem heroischen Leben bekennt und ent­ schließt, bekennt sich zur Wahrheit. Denn der innerste Charakter der Wirklichkeit ist aus diese heroische Lebensführung abgestimmt und angelegt. Mit dieser Lebensführung rührt man an den Kern und Nerv der Dinge, man lebt in Übereinstimmung mit dem wahren Gehalt der Wirklichkeit, dem ewigen unzerstörbaren Sinn des 6*

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Daseins. Darum aber mutz man auch alle die düsteren Gewalten segnen oder doch geduldig und weise hinnehmen, die dieses Helden­ tum erzeugen, und das ist unter anderem die drohende Armut und der Zwang zum großen Wettbewerb im Leben. Denn diese düsteren Gewalten lehren den Menschen auf der Hut sein, züchten ihm alle seine Tugenden an. Also: in dem unvermeidbaren Wettbewerb um die Lebens­ güter, der immer wieder entbrennt, niemals aussetzt, weil die Ver­ mehrung des Lebens immer wieder neue Wettbewerber auf den Plan schickt, in diesem Kampfe wird es immer Anterliegende geben, die nur gerade über der Schwelle des Lebens sich zu erhalten, die keine Dauerergebnisse zu erzielen vermögen, sondern, was sie im Augenblicke erwerben, auch sofort wieder im Augenblicke verzehren, die sich also zu keiner Kapitalbildung emporarbeiten können, sei es aus Unfähigkeit oder Trägheit, sei es infolge allzu herben, unverdienten Mißgeschicks trotz heißen Bemühens. Weich­ liche Gemüter mögen erschauern über diese herbe Tragik im Wesens­ grunde des menschlichen Lebens. Die Tatsache aber dieser Tragik ist unabänderlich. Indessen, nun müssen wir die Frage aufwerfen: eine wie große Anzahl von Menschen in diesem bedürftigen Zustande der bloßen Lebensfristung verharren bleibt, ein wie großer Prozent­ satz von Mitgliedern eines Volkes zu diesem bloß sich hinschleppenden, kapitallosen Leben verurteilt ist, zu einem Leben nur von Augen­ blick zu Augenblick, ohne Wachstum, ohne sichtbaren Aufstieg. Es kann und darf das immer nur eine ganz geringfügige Minderheit sein. Und nur eine geringfügige Minderheit ist in älterer Zeit diesem herben Schicksal anheimgefallen. Durch die Umwälzung aber-des Wirtschaftslebens in den industriellen Groß­ betrieben ist es heute eine außerordentlich große Zahl unseres Volkes, eine viel zu große Zahl, die in diese Lage hineingedrängt worden ist. Die Mehrzahl der Arbeiter verdient unzweifelhaft kraft ihrer Arbeitsleistung, ihres Fleißes und ihrer ernsten Lebensführung ein besseres Los als-die bloße Lebensfristung. Denn in der Hauptsache, als allgemeine Regel und Durch­ schnitt, bleibt die Löhnung der Arbeiterschaft aus dieser Linie der bloßen Lebenserhaltung, ohne ernstliche und ins Gewicht fallende Möglichkeit der Ansammlung und Sparung von Werten, ohne Kapitalbildung. An der großen Kapitalerzeugung, die der moderne Großbetrieb ausweist und die er zur Erhaltung und Fortpflanzung der Wirtschaft auch notwendig braucht, hat der Arbeiter so gut wie gar keinen Anteil. Davon bleibt er ausgeschlossen. Es ist aber 84

unmöglich, einen so großen, gewaltigen Bruchteil des Volkes, wie ihn unsere Arbeiterschaft darstellt, mit dieser Lage der bloßen Lebensfristung abzüspeisen. Die nackte Lebenserhaltung bei gerade aus­ kömmlicher Entlohnung genügt bei den Besten, Fähigsten und Tüchtigsten keinesfalls. Trotz der Besoldung, die dem allgemeinen Urteil nach ausreichend erscheint, muß man zugeben, da die Arbeiter nicht zur Kapitalbildung, zur Anteilnahme an der Kapital­ bildung gelangen, daß das Wort von den „Enterbten und Ent­ rechteten", abgesehen von der agitatorischen Übertreibung, die das Wort gefunden hat, doch einen Kern von Wahrheit und Berechtigung birgt. Nochmals muß ich es ablehnen, die besonderen Ausnahme­ fälle als Einwand gegen diese allgemeine Feststellung gelten zu lassen. Man bezieht sich hierbei auf Fälle, wo mehrere erwachsene Familienmitglieder einer Arbeiterfamilie gleichzeitig verdienen und für eine Hauswirtschaft arbeiten, der Vater,- möglicherweise beide Eltern und ein oder mehrere erwachsene Söhne oder Töchter. Da kommt dann allerdings eine bedeutende Summe zusammen. Aber es liegt doch aus der Hand, daß das nur äußerst seltene Fälle sind und nur für sehr kurze Jahre in Betracht kommen. Denn alsbald machen sich die erwachsenen Kinder selbständig, gründen ihren eigenen Hausstand, was in Arbeiterkreisen bekanntlich meist in jungen Jahren geschieht. Und weiter ist bei den gegenwärtig hohen Löhnen der Arbeiter zu berücksichtigen, daß sie eben früher, vor der Zeit der großen Teuerung und Geldentwertung kein Kapital bilden konnten, also keine oder nur ganz geringe Besitztümer in die Zeit der Teuerung mit hinübernahmen, weder Kleidung noch Wäsche und anderes. Sie haben aus keinen Vorräten schöpfen können, sondern müssen alles mit den inzwischen eingetretenen Preisen kaufen. Im allgemeinen, im großen und ganzen entsprechen die gegenwärtigen Löhne den gegenwärtigen Lebensverhältnissen, so daß die Arbeiterschaft in der Hauptsache auch jetzt nicht über die bloße Erhaltung des Lebens hinauskommt, kein Kapital bilden, keine Sicherung für die Zukunft aufbringen kann. Und das ist das De­ primierende ihrer Lage, das ständig Kränkende und Verletzende, das Vergiftende ihres Zustandes. Ich hörte einen Mann, der es wissen muß — er stammte aus den einfachsten Verhältnissen, war lange Jahre Sozialdemokrat und als solcher örtlicher Führer ge­ wesen, hatte sich aber mit großer Energie und Begabung zum Groß­ kaufmann emporgearbeitet, sah dabei begreiflicherweise ein, daß die sozialistischen Ideen undurchführbar seien und schloß sich nach dem Zusammenbruch unseres Staates der deutschnationalen Volks­ partei an, ohne sein Herz für die Arbeiter zu verlieren —, ich hörte

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diesen vortrefflichen Mann, als er für die Bedürfnisse der Arbeiter in einer Versammlung eintrat, -en Ausspruch tun: „Das, was den Arbeiter drückt, ist die relative Unsicherheit seiner Existenz." Der Arbeiter sieht kein Wachsen, keinen steigenden und beruhigenden Erfolg seiner Lebensarbeit. Er sieht gleichsam eine feste Wand vor sich, die er nicht verrücken, nicht übersteigen kann. Das macht seine Lage innerlich und äußerlich so bedrohlich und unheilschwanger. Und diese Lage des Arbeiters, scheint mir, erklärt sein ganzes Verhalten, nicht nur seine revolutionäre Gesinnung als solche, sondern auch die positiven soziologischen Ideen und Utopien, die ihn beherrschen, seine Vorschläge und Ziele, wie er den empfundenen Adelständen abzuhelfen entschlossen ist. Zunächst wird man ver­ stehen, daß der Arbeiter sich ausbäumt, daß er revolutionär ist, daß er die Stellung und Lage, in die er hineingezwängt worden ist durch die moderne Wirtschaftsentwicklung, nicht für immer und endgültig hinzunehmen und anzuerkennen gewillt ist. Und weiter wird man begreifen, daß die revolutionäre Haltung über das wirt­ schaftliche Gebiet, aus dem sie zuerst entstanden ist, wo ihr Ursprung liegt und ihre eigentlichen Ziele und Wünsche sind, daß diese revolu­ tionäre Gesinnung und Stimmung über das engere Gebiet der Wirtschaft hinausgreift und sich gegen das Leben in seinen gegen­ wärtigen Einrichtungen und Ordnungen, Anschauungen und Idealen im ganzen wendet. Der Arbeiter, mit seiner Lage im sozialen Verbände zerfallen, entfesselt den sozialen Krieg auf der ganzen Linie. Er verkündet den Klassenkamps, der nicht nur wirtschaftlich gedacht ist, der die ganze überkommene, innere und äußere Lebensordnung, auch politisch, auch geistig, umstürzen soll. Ich sage, auch das wird man psychologisch begreifen können. Es ist doch eine allgemeine Erfahrung: wer einmal gereizt ist, ist gegen alles gereizt, der findet dann nichts mehr gut und in Ordnung, der sieht in allem nur Feindseligkeit und Gehässigkeit gegen sich, der fühlt sich von allem verfolgt und verstoßen. Die ganze Welt kommt über ihn. Er meint, er hat sich gegen alle Welt zur Wehre zu setzen. Jeder nervöse Mensch lehrt das täglich. Er ist gereizt und empfindlich nach allen Seiten. Es hängt das zuletzt mit der Einheit der menschlichen Seele zusammen, wo alles ineinander­ fließt, nichts sich begrenzen und absondern läßt. Das trifft nun auch bei sozialen Reizungen und Hemmungen ganzer Volksschichten zu. Ist einmal der Anmut entfesselt, in die Volksseele eingedrungen, hat. sich tiefe Anzusriedenheit und Empörung in die Seele ganzer Schichten eingesressen, dann entlädt sie ihren Groll notwendig gegen alles, was nur in ihren Gesichtskreis tritt. Dann sieht sie 86

alles grau in grau oder schwarz in schwarz. Dann glaubt man das ganze Leben mit allen seinen Erscheinungen zerschmettern zu müssen. Denn dieses Leben gilt dann bis in die Wurzeln als krank und verderbt, als hoffnungslos siech und ungerecht. Der schroffste Radikalismus ist aus einer solchen Lage heraus, die stets eine ver­ bitternde und vergiftende Reizung erzeugt und wacherhält, psycholo­ gisch völlig verständlich. So ist die menschliche Seele geartet, die eben eine Einheit ist, in der alles zusammenhängt, wo immer alles aufs Ganze geht, aufs Ganze zielt. Aber was das Allermerkwürdigste ist: auch die positiven Vor­ schläge und Ideale, die der Arbeiter zur Rettung seiner Lage und damit der gesamten sozialen Gemeinschaft anempsiehlt, finden in der geschilderten Lage des Arbeiters ihre Erklärung. Es ist eine bekannte psychologische Tatsache: gehemmte, gestaute Triebe, nicht genügend befriedigte Neigungen werden pervers, ausschweifend, suchen eine illegitime und unmäßige Phantasiebefriedigung, wenn die reale Befriedigung abgeschnitten ist. Es ist das beispielsweise bei den erotischen Trieben oft beobachtet worden. Die Erscheinung ist aber allgemein, hat für alle menschlichen Bedürfnisse Gültigkeit. Die natürliche Kapitalbildung ist dem Arbeiter versagt. Was ist die Folge? Er will, das Ganze haben. Nun richtet sich sein verlangender Blick und Wille aus die Gesamtheit des Kapitals, auf den gesamten realen Besitz des Volkes. Sein Besitzwille wird schrankenlos. Er macht vor keiner Grenze mehr Halt. Keine Rück­ sicht kann seinen Besitzwillen mehr eindämmen und mäßigen. Man hat ihn enterben, ausstoßen wollen, wie er meint. So will er zur Rache sich des gesamten ungeteilten Reichtums des Volkes be­ mächtigen. Der wirtschaftliche Utopismus des Arbeiters findet hier feine Erklärung, wie aller Utopismus immer Ausfluß und Folge überreizter, krankhafter Sehnsucht ist. Und eine krankhafte Sehnsucht entsteht immer, wenn gewisse Bedürfnisse nicht ihre naturgemäße und genügende Beftiedigung finden. Utopismus ist immer die Folge einer Überreizung. Und die Überreizung wieder ist die Folge einer versagten, vorenthaltenen Befriedigung natür­ lich bedingter Triebe. Ohne Befriedigung und angemessene Erfül­ lung wird jeder Trieb überreizt. Er wird immer gebieterischer und herrischer, er erobert schließlich die ganze Seele des Menschen. Der Mensch, der an dieser Nichtbefriedigung leidet, denkt, weiß, fühlt zuletzt nichts anderes mehr als nur die eine Sehnsucht, das eine Verlangen. Und die Ausschweifung seiner Gedankenwelt führt dann schließlich auch zu einer Ausschweifung im Handeln. Er will mit Gewalt ins Leben ziehen, was ihm das Leben grausam

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versagt. Er gleicht einer überheizten Maschine, die keine Ventile hat. Was Wunder, wenn die Maschine springt I Auch im geistigen Leben gibt es für alle Erscheinungen zureichende Gründe. Man muß auch hier Ursache und Wirkung in ihrer notwendigen Ver­ kettung erkennen lernen. Und noch eine andere, viel tiefer greifende Wirkung hat die Versagung der Kapitalbildung für die seelische Verfassung des Arbeiters. Ich bin genötigt, eine kühne Behauptung auszusprechen, die mich vermutlich bei allen Ideologen und Moralphilosophen, bei allen sittlichen Schwärmern in Mißkredit bringen wird. Aber die Wahrheit duldet keine Furcht. Ich behaupte: ohne die Unter­ lage eines wenn auch noch so bescheidenen Besitzes, ohne feste reale Basis, die ein solcher Besitz dem Leben verleiht, gibt es auf die Dauer keine Sittlichkeit. Entrüstet wird man ausrufen: wie, Sittlichkeit, die moralische Gesinnung und Verfassung des Menschen, die doch etwas rein Geistiges, Innerliches, eine Zuständlichkeit der Seele sei, diese Sittlichkeit sei abhängig von der materiellen Lage des betreffenden Menschen? Ist das nicht ein Verrat, ein Hohn auf allen Idealismus? Verlangt der Idealismus nicht das volle Freisein von aller materiellen Bedingtheit? Ist die sittliche For­ derung, der kategorische Imperativ nicht eine Forderung für immer, für jede Lage und Lebensbedingung, für Reich und Arm, Bürger und Proletarier, Hoch und Niedrig, Mann und Weib, alt Und jung, ist sie nicht ein Gebot für das ganze Leben mit allen seinen Wechsel­ fällen, Bewegungen, Schicksalen? Muß die Sittlichkeit nicht als die strenge, erhabene Göttin über allem thronen und in jedem Augenblick, unter allen Verhältnissen ihre Macht bewähren? Aller­ dings gilt das Gebot der Sittlichkeit ausnahmslos, dieses Gebot wendet sich an alle, ohne Unterschied, es ist ein Gesetz schlechthin für alle Menschen in allen Lagen. Aber die Frage darf man wohl aufwerfen, ob die Erfüllung dieses Gebotes, die Befolgung und Ausführung dieses Gesetzes auch unter allen Verhältnissen und äußeren Zuständen gleich wahrscheinlich und möglich ist, oder ob nicht psychologische Zustände des Menschen obwalten können, die die Erfüllung d'es Sittengesehes äußerst unwahrscheinlich machen, die dem Eindringen, der Herrschaft des Sittengesetzes in der mensch­ lichen Seele einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen. Und da behaupte ich allerdings: der Mensch ist ein sinnliches Wesen, er ist an materiell-sinnliche Bedingungen gebunden, die sich nicht verleugnen lassen. Davon absehen, den Menschen völlig loslösen wollen von den realen Notwendigkeiten des Daseins, kann nur zu heillosen Enttäuschungen führen. Der Idealismus muß den

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Fuß auf der Erde behalten, darf sich nicht erkühnen wollen, der sinnlichen Wirklichkeit zu entschweben. Dabei verdampft er in die leeren Lüfte und verliert jede Herrschaft über das wirkliche Leben. Man vergegenwärtige sich folgende Tatsache. Sittlichkeit be­ deutet eine gewisse Festigkeit, Regelmäßigkeit, Stetigkeit des mensch­ lichen Innern. Sittlichkeit ist die Grundsätzlichkeit und Beharr­ lichkeit in der Gesinnung und im Handeln der Menschen. Was man als „Charakter", als „Charakterhaben", als „Charakterfestigkeit" be­ zeichnet, enthält diese Forderung oder Bestätigung, nämlich, daß der menschliche Wille und seine Äußerungsweise dem Schwanken entzogen ist, daß er Konstanz, Dauer angenommen hat, daß der Träger dieses Willens sich auf seinen eigenen Willen, die Sicherheit und Stetigkeit seiner Natur verlassen kann und daß auch alle andern sich aus die gleiche Stetigkeit, Bestimmtheit, Unbeugsamkeit des betreffenden Menschen verlqssen können. Allerdings geht die Sitt­ lichkeit nicht in dieser formalen Sicherheit und Gleichmäßigkeit des Charakters auf. Denn die nämliche Konsequenz kann auch zur Verfolgung unsittlicher, böser Ziele verwendet und aufgeboten werden. Es kommt zuletzt auf den Inhalt des Gewollten an, ob die Ziele des Strebens als solche rein und lauter, dem Sittengesetze entsprechend sind. Aber aus alle Fälle ist die feste, geschlossene Einheitlichkeit des Wollens, die Stetigkeit des Charakters eine Bedingung und Voraussetzung, ein ganz unentbehrlicher Bestandteil der Sittlich­ keit. Nur eine gefestigte, einheitliche Seele, die für sich selber gut sagen, für sich selbst und ihr Handeln kraft ihrer Einheitlichkeit Bürg­ schaft leisten kann, ist der Sittlichkeit fähig.' Der Erwerb dieser Festigkeit und Zuverlässigkeit des Charakters ist das Eingangstvr zur Sittlichkeit. Nun aber ist festzustellen, daß beim Menschen das Geistige mit dem Materiellen und Sinnlichen aufs allerengste zusammen­ hängt. Denn der Mensch ist sinnlich bedingt, er ist kein reines Geist­ wesen, er lebt und wandelt auf der begrenzten Erde, in den Schran­ ken von, Raum und Zeit. Und geheimnisvolle Fäden der Ver­ bindung laufen beim Menschen vom Geistigen zum Materiellen und auch vom Materiellen zum Geistigen herüber und hinüber. Ein Kern von Wahrheit ist in dem materialistischen Sozialismus trotz seiner Irrtümer tatsächlich enthalten, wie alle großen Be­ wegungen irgendeinen Ansatz zu einer Wahrheit, einen Anflug von Wahrheit zu haben pflegen. Und so behaupte ich denn: die innere seelische Festigkeit, die Gleichmäßigkeit und Stärke des Cha­ rakters ist für die Dauer, für längere Zeiträume und größere Massen nur erreichbar und möglich, wenn die Menschen gleichzeitig 89

auch eine feste, ruhige, stetige, sichere materielle Basis ihres Lebens haben. Schwankt der materielle Untergrund, auf dem sie stehen, dann geht mit der Zeit auch die seelische Festigkeit, die Sittlichkeit in die Brüche. Die menschlichen Verhältnisse, das sagte ich schon oben, lassen immer Ausnahmen 311.. Aber die all­ gemeinen und durchgehenden Erscheinungen bleiben dessenungeachtet bestehen. Und so gilt auch zweifellos im allgemeinen, als wahr­ scheinliche Tatsache, für größere zeitliche wie räumliche Verhältnisse des Menschenlebens die Wahrheit, daß der schlechthin Besitz­ lose nicht dauernd tugendhaft sein kann. Er hat den realen Boden unter den Füßen verloren. Damit schwindet ihm auch die sittliche Kraft, die Fähigkeit zur Ausbildung und Erhaltung eines stetigen und gleichmäßigen Charakters dahin, mag er wollen oder nicht. Die Unstetigkeit und Unzuverlässigkeit, das Schwankende seines äußeren Lebens überträgt sich notwendig und unvermeidbar aus sein geistiges Leben. Alle Ideologen werden, wie gesagt, über eine derartige Behauptung zetern. Sie ist und bleibt aber Wahrheit. Der völlig Besitzlose ist ungefestigt, Heimat- und wurzellos. Er haftet an nichts mehr fest. In jedem Augenblick kann ihn die Welle des Lebens hierhin und dorthin schleudern. Er setzt dieser Unruhe von außen keinen Widerstand entgegen. Denn es gibt ja nichts, was ihn von außen hält, ihn von außen an irgend etwas bindet. Das erscheint ihm selbst vielleicht als ein Glück und Vorzug, als die wahre „Freiheit". Aber furchtbare Folgen hat diese Lage für sein Inneres. Denn sein seelisches Leben und Wesen hat nun auch nichts Festes mehr, es ist unruhig- flackernd geworden, ein Spielball der äußeren Zufälle und inneren Launen. Jede Dauerhaftigkeit und Gleichmäßigkeit, jede Verläßlichkeit und Beharrlichkeit, jede Tragfähigkeit in sittlichem Sinne ist mit dem Eintritt der vollkom­ menen Besitzlosigkeit zugleich abhanden gekommen. Wer an nichts mehr, durch nichts mehr von außen gebunden wird, hat auch keine Bindung im Innern mehr. Und Sittlichkeit ist wesentlich innere Bindung, Halt, Zusammenhang des geistigen Wesens. Der „Pro­ letarier" als der völlig Besitzlose, der Proletarier in Reinkultur, wie er ja im realen Leben selbst nur äußerst selten vorkommt — aber das Prinzip des Proletarierdaseins als Srenzfall einmal zu Ende gedacht — der Proletarier kann auf die Dauer nicht sittlich sein. Mit der Besitzlosigkeit geht er in ein zigeunerhaftes Vagabunden­ dasein über, dessen ganzes geistiges Wesen schließlich in ein einziges Gefühl ausmündet: in den Haß auf alles Feste, auf jede Ord­ nung und Stetigkeit, Einheitlichkeit des Lebens, von der er inner­ lich und äußerlich ausgeschlossen ist, gegen Staat, Familie, Erziehung 90

und was sonst das Leben in feste Formen und Ordnungen bannt. Man wundert sich bei uns, daß die Proletarier kein Heimatgesühl haben, jeden Sinn für Staat, Volk, Vaterland vermissen lassen. Man sollte sich nicht darüber wundern! Aus der Lage heraus, in der sich die Proletarier im allgemeinen, durchschnittlich befinden, kann gar kein anderer Charakter, keine andere sittliche Anschauung hervorgehen. Die äußeren Umstände, unter denen diese Schichten leben, müssen solche Gesinnungen notwendig erzeugen. Es ist leicht und billig, darüber zu schelten und zu eifern. Man sollte über die Ursachen dieser erschütternden Tatsache nachdenken und Sorge tragen, die erzeugenden Ursachen abzustellen oder abzumildern. Und wenn man darauf hinweist, daß zahlreiche Führer der Arbeiter persönlich diesen gedrückten materiellen Bedingungen nicht unter­ liegen und niemals ihnen unterworfen gewesen sind, so ist zu er­ klären, daß diese Männer ausschließlich den Stimmungen und Bedürfnissen der von ihnen geleiteten Massen Ausdruck geben. Auch im geistigen Leben herrscht das Gesetz von Angebot und Nach­ frage. Wo irgendwelche geistigen Bedürfnisse, Anschauungen, Be­ strebungen sich regen, finden sich auch immer Persönlichkeiten, die sie künden, die ihnen Ausdruck leihen in Wort, Schrift und Tat, um den Wünschen ihrer Auftraggeber gerecht zu werden. Die Hal­ tung und Stellung dieser Führer darf nicht über die eigentliche Quelle der von ihnen vertretenen Gedanken und Gesinnungen, über deren Ursache und Ursprung täuschen. Für die Dauer, auf einen weiteren Umkreis des Lebens kann nur der „Bürger" Sittlichkeit haben, innere Charakterstärke und Treue zu Volk und Vaterland. Das klingt ungeheuerlich und wird vermutlich bei Lesern aus allen Lagern Empörung Hervorrufen. Zch muß aber ganz ungeschminkt, offen und frei die Wahrheit aus­ sprechen. Gewiß, tausend und abertausend Ausnahmen gibt es, glücklicherweise und wird es immer wieder geben, die diese Auf­ fassung Lügen zu strafen scheinen. Ich sage: scheinen. Denn nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist es, die wir in den Ordnungen des Lebens auszusuchen und zu gestalten haben. Nur auf diese Regel ist die Ordnung in Wirtschaft und Staat zu gründen. Und die Regel beweist meine Behauptung. Ich verstehe in diesem Zusammenhänge unter „Bürger" den in irgendeinem Sinne „Be­ sitzenden", der im Gegensatz zu dem fluktuierenden, unstetigen Leben des „Proletariers" irgendwie und irgendwo festen Boden gefaßt hat, Herz, Liebe, Leben, Arbeit an eine bestimmte Stelle gebunden hat, mit der er nun fest verwachsen ist, von der er auch einen dauernden Halt für sein Leben erwartet und erwirbt. Ich

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sprach oben von dem Haß der Arbeitermassen gegen das Kapital. Ich führte diesen Haß psychologisch auf ihr eigenes, unbefriedigtes Kapitalbedürfnis zurück. So steht es nun auch mit dem Haß des Proletariers auf den „Bürger". Er haßt den Bürger, weil er an seiner eigenen Natur und Verfassung, wenn vielleicht auch unbe­ wußt, leidet, weil er im tiefsten Grunde trotz seines Proletarier­ stolzes selbst „Bürger" sein möchte und mühte. Nur wenn wir unsere Proletarier zu Bürgern machen, nur dann können wir eine Festigung und Gesundung unseres sozialen Lebens und damit auch aller anderen Ausgaben in Staat und Kultur erwarten. Ich weiß wohl, mit welcher Entrüstung unsere Arbeiterkreise eine der­ artige Erklärung aufnehmen und zurückweisen werden. Denn sie meinen ja gerade umgekehrt, der Bürger sei der Verderbte. Sie führten gerade eine neue erlösende Proletarierkultur heraus, die diese bürgerliche Verderbtheit beseitigen solle. Es herrschen in einer Zeit ost die widersinnigsten Falschheiten, die Wahrheit und Wirk­ lichkeit auf den Kops stellen. Ich komme später noch einmal daraus zu sprechen. Nur mit einem Seitenblick will ich auf die Gefahr Hinweisen, die das Proletariertum, d. h. das ungefestigte, schwankende, fluk­ tuierende Wesen auch für das geistige Leben, die geistigen Leistungen des Gesamtvolkes, für die Kultur bedeutet. Alle geistige Arbeit ist wie die Handarbeit stets in Gefahr, die Bodenständigkeit zu ver­ lieren. Das unruhige Vagabundentum, die zigeunerhafte Unruhe und Unstetigkeit lauert als Gefahr neben jeder geistigen Tätigkeit. Kraftvolle Kultur gibt es nur in festem Zusammenhangs mit Staat und Volkstum. Nur eine Kultur, die für ein dauerhaftes, kernhaftes, charaktervolles Bürgertum schafft, bekommt Gehalt, Tiefe, Schwer­ gewicht, Wahrheit. Ist das soziale Gefüge ausgelockert und auf­ gebröckelt, ist der herrschende Grundzug des wirtschaftlichen Lebens der Wechsel, die. Unsicherheit, die Besitzlosigkeit, das Proletarier­ dasein geworden, dann zerflattert auch die geistige Bildung ins Willkürliche, Unruhige, Launenhafte, Gewissenlose. Das geistige Leben sinkt zum Bohemecharakter herab. Die Boheme, das geistige Zigeunertum, wirft sich als „Kultur" aus, erhebt den Anspruch, den geistigen Gehalt der betreffenden Zeit zu vertreten und dar­ zustellen. Wer will in Abrede stellen, daß dieser Zustand bei uns tatsächlich eingetreten ist? Die Massen — und die Massen haben einen ungeheuren Einfluß auf den Charakter des Gesamtvolkes — sind bei uns entwurzelt. Das überträgt sich weiter als man gemein­ hin annimmt. Eine so schlimme und schwere Krankheit wirkt ver­ heerend bis in die feinste Geistigkeit des Volkes, bis in die Ge-

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staltung der gesamten Kultur hinein. Wir haben eine Zigeuner­ kultur bekommen, weil die Wurzelkraft und Bodenständigkeit un­ serem Volk entschwunden ist, weil es kein Bürgertum mehr gibt oder nur noch ein Bürgertum mit sehr beschränktem Einfluß. Und das wieder ist eine Folge unserer wirtschaftlichen Verhältnisse, die einen übergroßen Teil unseres Volkes vom Boden losgerissen, in ein haltloses, auf- und niederwogendes Meer geschleudert haben. Es ist eben auf die Dauer für das Gesamtvolk unerträglich, ver­ heerend und vergiftend, wenn große Teile des Volkes nichts ihr eigen nennen, an nichts haften, an nichts mit ihrem Leben und Streben gebunden sind. Diese soziale Ordnung oder Unordnung trägt den Keim des Verderbens in sich. Durch Unterwühlung und Unterhöhlung zerfällt sie von innen her. Aber wie können wir denn nun dem schweren Übel zu Leibe gehen? Wie können wir die große Reform unseres sozialen Lebens einleiten, zu dieser dringend notwendigen Reform unseres Volks­ lebens wenigstens den Ansatz machen, die erfolgversprechende Richtung emschlagen? Der Proletarier muß zum Bürger gemacht werden, der berechtigte Kapitaldrang des Arbeiters muß anerkannt und erfüllt werden. Wie läßt sich diese unbeschreiblich schwierige Aufgabe bewältigen? Ich stelle mir einen großen Fabrikbetrieb vor. Wie ost hat man sinnend vor diesen mächtigen Schöpfungen gestanden, be­ wundernd vor diesen großartigen Siegeszeichen menschlicher Meister­ schaft! Ich weiß nicht, wie es andern ergangen ist, wenn sie einen Großbetrieb betrachteten, was sie dabei empfunden haben. Ich gestehe, mir hat sich bei aller Bewunderung für das Geleistete doch stets auch eine schmerzlich besorgte Enttäuschung beigemischt. Vor aller Technik, die ich anstaunte, stand mir doch immer der Mensch. Und da hatte ich das unabweisbar deutliche, das ganz bestimmte, gar nicht fortzubannende Gefühl: so geht es nicht. Die Arbeitermassen fluten herein, sie fluten heraus. Eine Ver­ antwortung für den Betrieb tragen sie nicht. Sie stehen außer­ halb des eigentlichen Werkes, zu dem sie gar kein inneres Verhältnis haben, mit dem ihnen jeder tiefere Zusammenhang fehlt. Sie ar­ beiten nur. Aber Erfolg, Wirkung der Arbeit im ganzen und großen sehen sie nicht, ernten sie nicht. Verantwortung erwächst immer nur in Verbindung mit der Einheitlichkeit, dem Überblick, der Zu­ sammenfassung eines großen Gebildes, handle es sich um Schöp­ fungen in Wirtschaft, Staat oder Kultur. Aber gerade dieser Zu­ gang zu dem einheitlichen Ganzen des Werkes ist den Arbeitern versperrt. Sie bleiben trotz der vielen Zeit und der Arbeit, die sie 93

dem Werke widmen, nur gleichsam Gäste, Fremdlinge, die kommen und gehen. Sie sind wirklich nur „Lohnsklaven", keine Beschönigung kann die Wahrheit dieser grausamen Tatsache verschleiern. Sie müssen hineingenommen werden in das Werk selbst, das Werk in seiner Ganzheit und Einheit muß auch ihre Sache, ihre Angelegenheit, ihre Verantwortung werden. Man darf sie nicht außerhalb halten. Zur inneren Gestaltung und Verwaltung, zum einheitlichen Zusammensassen, Beherrschen und Verwerten des Ganzen müssen sie irgendwie mitherangezogen werden. Sie müssen mit dem Werk als solchem innerlich verwachsen, daß sie Glieder des Ganzen werden, die sich dem Ganzen ver­ bunden fühlen, denen sich auch andererseits wieder das Gesamtwerk verbunden fühlt. Dieses Verbundensein in der Gesinnung, in der Arbeit, in der Verantwortung ist aber nur möglich, wenn ein Eigentums­ und Besitzrecht für sie an dem Gesamtwerk haftet. Sonst werden sie immer Fremdlinge, Außenstehende bleiben. Gehört ihnen nichts von dem allen, so sind sie auch niemals innerlich, mit dem Herzen und mit dem Pflichtgefühl diesem Ganzen einzugliedern und anzuschließen. Sie bleiben kühl bis ans Herz hinan, ja feind­ selig, abweisend. Was sie lieben sollten, dem fluchen sie. Woran sie ihr Herz hängen sollten, dem schwören sie unauslöschlichen Haß. Wie bekannt, will die Arbeiterschaft das Ganze der Werke selbst und ausschließlich haben. Sie wollen die Eigentümer und bisherigen Verwalter an die Luft sehen, sich selbst in den Besitz der gesamten, mühsam und kunstvoll ausgebauten Werke bringen. Denn wenn sie sagen: das ganze Volk, der Staat, die Gesellschaft sollen die Betriebe übernehmen und künftig leiten und verwerten, dann meinen sie sich mit diesen Allgemeinbegrifsen selbst. Denn im Volk, im Staat, in der Gesellschaft glauben sie sich als bestim­ mende Mehrheit zu finden. Nach ihrem Willen und ihrem Be­ finden werde dann künftig der ganze Gewerbebetrieb verwaltet und ausgewertet werden. Die Arbeiter wollen das Ganze haben. Das aber würde die völlige Zerstörung der Wirtschaft bedeuten, das gäbe ein dSbacle, einen Zusammenbruch und Einsturz, eine Verwüstung, wie sie die Menschheit noch zu keinen Zeiten erlebt hat. Das Bild des Grauens und des Schreckens, der vollen Zertrümmemng wäre nicht aus­ zumalen. Aber wenn sie nicht das Ganze bekommen, so könnten sie doch vielleicht einen Teil des Ganzen, das ihnen „Zukommende", wirt­ schaftlich, rechtlich, menschlich „Gebührende" zuerkannt erhalten.

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Ihnen könnte doch vielleicht ein „Anteil" an dem Gesamtwert der Werke, für die sie heute nur mit Entlohnung, ohne innere Betei­ ligung und Zuneigung schaffen, zugebilligt werden. Wenn es mit dem Ganzen nicht geht, geht es vielleicht mit dem Teil, einem gewissen, genau abzugrenzenden Teil. Das einzig logisch Mög­ liche, wenn es nicht bei dem bisherigen Zustande verbleiben kann und wenn auch die „Expropriierung der Expropriateure" nicht möglich, die Sozialisierung ein Wahnbild ist — dies einzig Mögliche ist dann die „Beteiligung". Die heutige Privatwirtschaft ist ein Extrem mit allen verderblichen Auswirkungen eines Extrems, und die ersehnte Sozialisierung ist gleichfalls ein Extrem mit voraus­ sichtlich noch viel furchtbareren Auswirkungen und Folgeerschei­ nungen. Die Sozialisierung wäre ein schneller Tod. Und was wir jetzt haben, ist ein langsamer Tod, eine heimliche Verwesung von innen her, eine Vergiftung bei aller scheinbaren äußeren Blüte und Kraft. Die „Beteiligung" wäre das Mittelding, die Verbin­ dung und damit die Überwindung der beiden Extreme. Es gibt keinen andern Weg aus der Zerrüttung. Man wird ihn beschreiten müssen, wenn man nicht dem Untergange Hellen Auges entgegen­ eilen will. Also „Arbeiter-Beteiligung?" wird man verächtlich fragen. Das ist des Pudels Kern? Darauf laufen diese langatmigen Unter­ suchungen zuletzt hinaus, auf nichts weiter? Das sei der Weisheit letzter Schluß? Wie oft sei die Frage der Arbeiterbeteiligung ver­ handelt worden! „Olk Kamellen" wird man mit Fritz Reuter abschätzig ausrufen. Diese Lösung sei billig, sie sei aber durch ihre Erfolglosigkeit schon längst widerlegt und gerichtet. Alle Versuche dieser Art seien kläglich gescheitert. Der soziale Friede sei durch solche Versuche um nichts, auch nicht um Haaresbreite gebessert worden. Im Gegenteil, die soziale Spannung und Feindseligkeit sei dadurch nur noch vertieft und vergrößert worden. Wenn es keine andere, bessere, neue Lösung gäbe, hätte ich mir die ganze Arbeit des Schreibens und dem Leser die Zeit der Lektüre sparen können. Doch gemach! Große Aufgaben und Werke gelingen nicht mit einem Wurf. Die besten, wichtigsten, notwendigsten Aufgaben schreiten durch viele Fehlversuche hindurch, kommen erst nach langem Suchen und Tasten, Scheitern und Wiederversuchen zur rechten Lösung. Man halte sich nur klar vor Augen: einen andern Weg als diesen gibt es nicht, kann es nicht geben. Wer will ernsthaft wagen, zu behaupten, daß die strenge privat-kapitalistische Form der Gegenwart aufrecht zu erhalten sei? Die Unmöglichkeit dieser 95

Lösung der sozialen Frage ist bereits erwiesen. Die Arbeiter lassen sich diese „Lösung" auf die Dauer einfach nicht gefallen. Dessen kann man sicher sein. Und was will man zuletzt gegen die große Masse tun? Sie zertritt und zerstampft, wenn es zum äußersten kommt, die ganze Herrlichkeit. Mit der Sozialisierung ist es aber auch nichts, — das liegt gleichfalls klar zutage. Die Masse kann nie den einzelnen ausschalten, ersetzen. Vernichtung und Tod lauem auch hinter dieser Lösung der sozialen Aufgabe. Es gibt überhaupt gar keine andere Möglichkeit, keinen Ausweg, keine denkbare Rettung als die „Beteiligung", als Verbindung von Kapital und Arbeit in einem Werke, mit gerecht und sinnvoll abgestuftem Rechte der Leitung und der Ausnützung der Werke für beide Gegen­ sätze, die nicht mehr Gegensätze bleiben, sondern Glieder einer Ein­ heit werden müssen. x Daß diese Aufgabe sehr schwierig ist, daß sich hier ganz unermeß­ liche Schwierigkeiten, Bedenken und ' Unzuträglichkeiten heraus­ stellen, große neue Gefahren auftürmen, wird niemand bestreiten, der nur einigermaßen ernsthaft denkt und Kenntnisse besitzt. Aber hochmütig dieses Ziel und diese Arbeitsrichtung kurzerhand ablehnen, den Gedanken mit einem Federstriche im voraus verdammen, diese Lösung gar nicht mehr zur Diskussion zulassen — das geht auch nicht an. Damit schlägt man überhaupt das Tor einer besseren Zukunft zu. Die nationale Frage des deutschen Volkes zu lösen, das deutsche Reich zu gründen, war gewiß keine leichte Aufgabe. Wieviel Pläne, Vorschläge, Bemühungen, Versuche, Gründungen gehen der großen, einfachen, schlagenden Tat Bismarcks voraus^ Zwei Menschenalter hatten im heißen Ringen vergeblich das hohe Ziel gesucht. Die Aufgabe erschien unlösbar, in Trostlosigkeit und Verzweiflung schien das deutsche Volk untersinken zu müssen. Aber meint man, daß alle die Vorbereitungen, Vorversuche und Bemühungen um die Einheit des Reiches, die Bismarck vorausgingen, wirklich ver­ geblich gewesen sind, mußten nicht diese Fehlversuche und Irrtümer begangen und damit ausgeprobt werden, um endlich das Rechte zu finden? Auch im menschlich-geschichtlichen Leben herrscht wie in der Natur eine grenzenlose Verschwendung. Ein unsagbarer Überschuß von scheinbar unnötigen, unfruchtbaren, geopferten und zertretenen Keimen und Bildungen ist die Voraussetzung für die Hervorbringung dauerhafter, kraftvoller, beständiger Schöpfungen. Das soziale Problem ist nicht minder bedrohlich, ernst und schwierig. Auch hier handelt es sich um Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes mit dem ganzen Gehalt seiner Kräfte und Mög-

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lichkeiten, auch seiner geistigen Möglichkeiten, seiner gesamten Kultur. Kein Wunder, daß zahlreiche Irrwege vor dem rechten Wege be­ treten werden müssen. Das allgemeine Lebensgesetz will es so. Alles Gute und Hohe wird dem Menschen nicht leicht gemacht. Die bisherige Erfolglosigkeit der Bestrebung, die Arbeiter durch Beteiligung in die Werke selbst hineinzuziehen, sie verantwortlich mit dem Werk zu verknüpfen, beweist nicht das Geringste gegen die Gediegenheit und Richtigkeit, die Zweckmäßigkeit und Notwendig­ keit dieser Idee als solcher. Es kommt alles auf das nähere Wie an, auf die Form, die bestimmtere Art und Weise, wie eine der­ artige Idee zur Ausführung gelangt oder gelangen soll, wie man mit ihr die spröde, widerstrebende Wirklichkeit zu überwinden, für die Aufnahme der Idee zu erobern gedenkt. Die Wirklichkeit ist immer spröde gegen die Idee. Denn so widerspruchsvoll, undurch­ dringlich, verschlungen sind die Verhältnisse des wirklichen Lebens, daß diesem wirren Netz nicht leicht eine neue Masche einzuweben ist. Man darf sich durch das Mißlingen einer an die Wirklichkeit heran­ getragenen Idee nicht abschrecken lassen. Man denke vergleichs­ weise an die unendlich vielen sehlgeschlagenen Versuche, bis man endlich mit Luftschiffen und Flugzeugen die Luft zu erobern gelernt hat. So auch bei den Aufgaben des sozialen Lebens. Selbst die realste, nüchternste, überzeugendste Idee stößt bei der Ausführung zunächst auf starke Hemmungen. Wer da gleich den Rückzug antritt, bricht der Idee die Treue. Der Haupteinwand, der in der Regel gegen den Gedanken und Vorschlag irgendeiner Art Beteiligung der Arbeiter an den Betrieben gemacht wird, mit dem der ganze Gedanke sofort noch vor allen Versuchen, ja schon vor aller Erörterung niedergeschlagen, vor jeder Erprobung schon im Keime erstickt werden soll, ist die Erklärung: die Arbeiter wollen ja diese Beteiligung gar nicht, sie lehnen sie mit aller Entschiedenheit ab. Noch jüngst, bei dem Angebot und dem Versuch der Firma Krupp in dieser Richtung hat sich die Ablehnung der Arbeiter einer solchen Form gegenüber in aller Deutlichkeit herausgestellt. Die Arbeiter im ganzen und allgemeinen wollen diesen Weg der Verständigung, des Ausgleiches durchaus nicht beschreiten. Mit größter Schroff­ heit weisen sie das Angebot von sich. Aber das gerade ist mir der beste Beweis, daß die Idee richtig ist und daß sie deshalb trotz aller Widerstände mit unbeirrbarer Kon­ sequenz weiter verfolgt werden muß. Es ist doch ganz selbst­ verständlich, daß die Arbeiter dieser Idee zunächst ihre ganze Abneigung schenken. Denn sie wollen ja das Ganze haben. Wie Hornefser, Die große Wunde. L.Aufl.

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sollten sie denn nun mit einem Teile zufrieden sein und gar mit einem sehr bescheidenen Teile? Das würde aller psychologischen Erfahrung widersprechen. Wenn einmal so kühne und ausschwei­ fende Erwartungen geweckt worden sind, wie es im Sozialismus geschehen ist, so kann der menschliche Geist nicht mit einem Male, von heute auf morgen, solchen Hoffnungen entsagen. Nein, wider allen Augenschein der Erfahrung hält er solche Wunsch- und Wahn­ bilder mit aller Zähigkeit, man möchte sagen, mit den Zähnen fest. Man darf sich keinen Augenblick darüber wundern, daß die Arbeiter dem Gedanken der Beteiligung ein schroffes Nein entgegensetzen. Täten sie das nicht, stimmten sie zu, so würden sie über ihre ganze bisherige sozialpolitische Arbeit den Stab brechen, die Zustimmung gälte dem Eingeständnis gleich, daß sie bisher völlig auf dem Holz­ wege gewesen seien, daß all ihr sozialpolitisches Streben und Ringen null und nichtig gewesen sei. Und welcher Mensch entschließt sich von heute auf morgen zu einem solchen Zugeständnis! Ein der­ artiges Zugeständnis wird dem Menschen immer nur sehr langsam, nur nach langem, qualvollem Widerstreben abgerungen. Man kann nicht erwarten, daß die Arbeiter freudig und willig in diese Bahn lenken, in die dargebotene Hand alsbald einschlagen. Das wäre ein wahres Wunder, und Wunder gibt es nicht. Wer auf Wunder im Menschenleben hofft, betrügt sich ebenso wie derjenige, welcher sie im Naturlaus erwartet. Ich mutz in diesem Zusammenhänge auf die psychologische Erscheinung aufmerksam machen, daß alle sozialen seelischen Ent­ wicklungen sich sehr langsam abspielen und daß es deshalb der allergrößte und allergröbste Fehler ist, bei sozialen, politischen Er­ wägungen und Handlungen Ungeduld zu zeigen. Wer unge­ duldig ist, soll von allem politischen Treiben, von aller sozialen Betätigung die Hände lassen, soll sich besonders von verantwortungs­ vollen, bedeutsamen Stellen, die ein weitreichendes und einfluß­ reiches Handeln erfordern, fernhalten. Der versteht von sozialem Wesen nichts, rein gar nichts. Mich erinnert die Enttäuschung, die sich für unsere Sozialpolitiker an die Versuche der Beteiligung knüpfen, an die dilettantische Ungeduld des letzten Kaisers. Er hatte ein warmes Herz für die Arbeiterschaft, er begann seine . Re­ gierung mit einer großangelegten, von Begeisterung getragenen, arbeiterfreundlichen Kundgebung, die das größte Aufsehen machte. Er fühlte sich schon als der Erretter und Befreier der gedrückten Klassen, als sozialer Heiland. Wie groß aber war seine Enttäuschung, als die Arbeiter nun nicht sofort umschwenkten, mit einem Male ihren ganzen Sozialismus, ihre sozialistischen Ziele über Bord 98

warfen und alle Hoffnung auf ihn, den Kaiser, setzten. Er besaß keine Geduld, die im politischen Leben so nötig ist, da die sozialen Stimmungen und Strömungen so allmählich dahinsließen, nur so langsam ablausen. Und aus der Ungeduld wurde der Kaiser zornig. Und in seiner Entrüstung und seinem Groll hat er dann die un­ klügsten, verhängnisvollsten Worte gesprochen, die verderblichsten Handlungen begangen, für die er zuletzt im Weltkriege, in der Re­ volution gebüßt hat. Ein Fürst und Groll — das reimt sich nicht. Der Zorn darf an einen Fürsten überhaupt nicht herankommen, darf ihn auch nicht von fern berühren. Ein Fürst muß wie ein unerreichbarer, unnahbarer Gott über dem Toben der Wasser, über dem Wogen der politischen Leidenschaften schweben. Aber wer hätte in der damaligen Zeit psychologische Einsicht gehabt! Und die wenigen, die sie hatten, besaßen nicht den nötigen Mut oder die Kraft, ihr im Leben Geltung zu verschaffen. Die Arbeiterschaft hat mit ihrem Utopismus, mit den ver­ wegenen, unausführbaren sozialistischen Ideen eine Mauer auf­ getürmt zwischen sich und den anderen Bevölterungsklassen, nament­ lich gegen das Unternehmertum. Und wenn nun ein weitblickendes Unternehmertum diese Mauer hinwegräumen will, um wieder der Arbeiterschaft die Hände reichen zu können und mit ihr in Friede und Eintracht an dem gemeinsamen Werk der deutschen Wirtschaft zu arbeiten, und wenn es, um die dazwischen aufgetürmte Mauer zu beseitigen, mit einem ehrlich und ernstgemeinten Vorschlag und Angebot an die Arbeiter herantritt, — wie kann man sich nur wun­ dern, daß die Arbeiter nicht sogleich einschlagen! Nein, mit einem Stoß ist die Mauer der Fremdheit und Feindschaft nicht zu er­ schüttern. Man muß Geduld haben. Einen Stoß nach dem anderen muß man führen, einen dem anderen folgen lassen, bis vielleicht langsam, langsam der Widerstand weicht und ein Entgegenkommen auch von der anderen Seite merkbar wird. Unermüdlich und un­ verdrossen muß man das Angebot wiederholen, bei allen angemes­ senen Gelegenheiten, in den richtigen Abständen muß man es immer wieder zum Gespräch bringen, vorschieben, bis der Tag anbricht, da es erst ganz leise, dann allmählich stärker wirkt und endlich in den Gemütern der Gegenseite Eingang findet. Anders vollziehen sich solche Vorgänge im sozialen Leben nicht. Im Einzel­ leben, bei einer einzelnen Persönlichkeit hat man oft infolge eines ein­ zigen Wortes, wenn man den Betreffenden an der rechten Stelle zu packen wußte, einen ganz plötzlichen Umschwung der Gesinnung beobachten können. Im persönlichen Leben ist ein derartiger, urplötzlicher, radikaler Wechsel, eine „Bekehrung" durchaus keine 7*

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Seltenheit, wie sich Wilhelm II. wohl die Dinge bei Beginn seiner Sozialpolitik gedacht hat. Aber es ist der Grundfehler, gegen den Bismarck immer wieder gewettert hat, der aber nicht aussterben will und jetzt schlimmer grassiert als je zuvor, daß soziale Erschei­ nungen, die Beziehungen zwischen großen sozialen Gebilden immer nach dem Muster persönlicher Beziehungen vorgestellt werden. Das ist ein radikaler Fehler. Wer diesen Grundfehler nicht über­ wunden und abgetan hat, soll in allen großen politischen und sozialen Fragen schweigen. Er ist am unrechten Orte, er soll sich in das Privatleben zurückziehen. . Soziale Stimmungen kommen und gehen langsam. Alle sozialen Gebilde sind große, mächtige, vielfältige Krastzentren, die nur schrittweise zu durchdringen, umzumodeln, zu bestimmen sind. Ich sagte schon oben, Regieren sei eine Art Erziehen. Ist Geduld schon der erste Prüfstein für den Einzelerzieher — wieviel mehr für soziale Erziehungsaufgaben l Also unverzagt weiter! Die bisherigen Mißerfolge der Idee der Beteiligung beweisen nicht das Geringste gegen die Idee selbst. Sie legen uns nur die Pflicht ob, weiter darüber nachzudenken, die Fehler aufzuspüren, die bisher bei dem Versuch der Ausführung begangen worden sind, um künftig diese Fehler zu vermeiden, um, durch diese Fehler gewitzigt, andere, bessere Mittel zu ergreifen und so endgültige Erfolge zu erzielen. Und in der Tat, es sind bei diesem Unternehmen außer der allgemeinen Ungeduld, die man an den Tag legte, sehr schwer­ wiegende Fehler begangen worden, die das bisherige Ausbleiben jeglichen Erfolges vollkommen begreiflich machen, daß der so heiß begehrte soziale Friede noch nicht seinen Einzug halten konnte. Wir müssen in eine Untersuchung der Frage eintreten, wer denn das betreffende Angebot machen soll, von wem es ausgehen soll, und zweitens, wie das Angebot selbst sachlich beschaffen, wie sein Inhalt sein soll, was denn eigentlich den Arbeitern anzubieten ist. Die subjektive und objektive Seite der Aufgabe sind getrennt und beide Fragen mit gleicher Bedeutsamkeit zu besprechen. Im sozialen Leben ist nämlich von größtem Einfluß die Frage, von wem irgendeine Anregung und Handlung ausgeht. Unser Unternehmertum denkt immer noch viel zu individualistisch. Der Individualismus ist ihre Kraft. Mit ihrer persönlichen Initiative im Wirtschaftsleben vertreten sie das individualistische Prinzip für den sozialen Organismus. Und sie haben mit Hingabe an dieses Prinzip zweifellos die größten Erfolge auszuweisen. Aber sie müssen auch der mächtigen Gegenströmung, der sozialen Bindung, 100

der Einhelligkeit und Gemeinsamkeit im Denken und Handeln — und dieser Zug geht gleichfalls unwiderstehlich durch unsere Zeit — Rechnung tragen, müssen auch dieses Bedürfnis zu verstehen suchen und anerkennen. Der Fehler war der, daß einzelne Unternehmer oder bestimmte Werke glaubten in dieser Frage gesondert, für sich, mit Angeboten und Abmachungen nur für den Kreis ihres Unter­ nehmens, ihrer engeren Arbeiterschaft vorgehen zu können. Das war ein schlimmer Mißgriff. Es gibt nämlich -keine Oasen mehr im sozialen Leben. Ich meine damit, alle Lebensbedürf­ nisse und Ideen, Notwendigkeiten und Wünsche treten heute nicht mehr vereinzelt aus, sondern sie ballen sich sofort zu großen, allge­ meinen, äußeren oder inneren Gewalten zusammen, die das ge­ samte Gemeinwesen durchdringen und beherrschen. Und weil die Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen sogleich einen sozialen Cha­ rakter annehmen, eine weitreichende und umfassende Wirkung üben, so können sie selbstverständlich auch nur mit einem einhelligen, sozialen, gemeinsamen Handeln der betreffenden Gesamtgebilde des sozialen Organismus befriedigt werden. Wie die Forderungen und Erwartungen sozial auftreten, so können sie auch nur sozial, d. h. aus Grund gemeinsamen, gleichzeitigen, übereinstimmenden Handelns der Betreffenden, an die sie sich richten, erfüllt, kann ihnen nur durch eine allgemeinere soziale Gegenwirkung entsprochen werden. Mit einem Worte: nicht ein Unternehmer oder wenige, vereinzelte können hier etwas ausrichten, nicht einige dürfen hier selbständig mit Entschlüssen und Versuchen vorgehen, sondern nur die Ge­ samtheit, die einheitlich organisierte Unternehmerschaft im ganzen kann die erforderlichen Maßregeln bestimmen und ergreifen, die das soziale Problem zu lösen be­ rufen sind. Innerhalb des allgemeinen Kriegszustandes zwischen Kapital und Arbeit kann nicht irgendwo und irgendwie ein isolierter Friede für einzelne Werke geschlossen werden. Es ist fast unver­ ständlich, daß gewisse Unternehmungen sich einer derartigen Täu­ schung hingeben konnten. Die Unternehmer sind, wie gesagt, immer noch viel zu individualistisch, sie sind viel zu sehr von der Idee der gegenseitigen Konkurrenz beherrscht. Diese hat gewiß ihre Berechtigung für die technische Erzeugung und den Verkauf ihrer Erzeugnisse. Aber diese Konkurrenz muß absolut schweigen, wenn es sich um die Stellung des Unternehmertums als solche, im Gänzen des sozialen Verbandes, um die Berechtigung und Er­ haltung des Unternehmertums im wirtschaftlichen Leben überhaupt handelt. Dann hat jede individuelle Konkurrenz unter den ein101

zelnen Unternehmern, jeder individuelle Instinkt, jede private Tendenz, auch im edelsten Wettstreit der sozialen Leistungen, zu schweigen. Da dürfen die Unternehmer nur eine gemeinsame, einhellige und geschlossene Front im Denken und auch im Handeln bilden, weil ihnen ja auch von der andern Seite her ein einhelliges Fordern und Verlangen entgegenschallt. Die Notwendigkeit festen Zusammenschlusses, völlig .durchorganisierter Einheit des Unter­ nehmertums, und zwar des gesamten. Unternehmertums aller wirtschaftlichen- Arbeitsgebiete ist den einzelnen Unternehmern und den besonderen Einzelverbänden immer noch nicht mit der ganzen Wucht der Bedeutung aufgegangen. Aber es ist Zeit, allerhöchste Zeit, daß die berufliche Einheit des Unternehmertums, die ja der beruflichen Einheit der Arbeiter erst nachgehinkt ist, mit derselben Strenge und Folgerichtigkeit, mit der gleichen Entschlußkraft und Tatenfreudigkeit zur Durchführung gelangt, wie die Organisation der Arbeiterschaft trotz der politischen und gewerkschaftlichen Unter­ schiede im ganzen doch eine einheitliche Stoßkraft gefährlichster Art gewonnen hat. Und diese einheitlich durchgeführte Organisation des Unternehmertums muß mit dem Zweck einer positiven Lösung die soziale Frage, die sich in der Spannung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgetan hat, zu beantworten, mit klar und bestimmt formulierten Vorschlägen, so weit das möglich ist, zu erledigen und abzuschließen suchen. Nur notgedrungen, durch die Lohnforderungen und die damit verbundenen Streiks gezwungen, haben sich die Unternehmer zögernd genug zusammengesunden, um sich gegen diese Anfor­ derungen und deren mehr oder minder gewalttätige Durchsetzung zu wehren. Aber das war bisher auch alles. Nur- zur Abwehr, zu ihrem eigenen Schutz haben die Unternehmer sich in ihren Orga­ nisationen zusammengeschlossen. Aber alle menschlichen Bildungen sind unvollkommen und ungenügend, die nur einen negativen Zweck verfolgen. Es ruht ein Fluch auf ihnen, sie versagen und zerfallen zuletzt. Das Leben lebt sozusagen nur von aktiven, positiven Zielen. Nur solche und ein dementsprechendes Wollen, welches auf ein Neu schaffen ausgeht, eine bestimmte Umbildung und Umgestaltung menschlicher Verhältnisse anstrebt, welches wirk­ liche Reformen beabsichtigt — nur solches Wollen und solche Ziele sind gedeihlich und erfolgreich, zweckvoll und belebend. Die Unter­ nehmerorganisationen haben sich bisher immer nur abwehrend verhalten gegen die stürmischen Forderungen und Zielsetzungen der Arbeiterschaft. Sie haben sich gegenüber den sozialen Utopien ihrer Gegner nur aus die Negative beschränkt und erklärt, daß diese 102

Wünsche und Forderungen unmöglich und unerfüllbar seien, was ja richtig sein mag, was aber nicht genügt. Nicht nur ablehnen und abwehren, kritisieren und inhibieren, nicht nur verneinen mit Wort' und Tat. dürfen die Unternehmergruppen.'' Das war wohl die erste Notwendigkeit, die vorläufige Gegenwirkung, die un­ vermeidbar war. Aber über diese bloße Negation müssen sie hinauskommen. Sie müssen den ihnen zugeworfenen Ball ausfangen, sie müssen ihrerseits mit aktiven, positiven Vorschlägen für die Lösung der sozialen Spannung hervortreten, müssen klar angeben und bestimmt formulieren, was sie für erreichbar halten, was nach ihrer Schätzung die wirtschaftlichen Verhältnisse ma­ teriell und ideell hergeben und gestatten zur Festigung und Be­ ruhigung der Lebensstellung der Arbeiterschaft. Diese positive Beantwortung aus die aufgebrochene soziale Frage, die doch da ist und nicht abgeleugnet werden kann, muß die geschlossene Einheit des Unternehmertums aus tiefster Gewissenhaftigkeit, aus reichstem, ebenso sachlichem wie sittlichem Ernst hervorbringen. So vollzieht sich stets die Überwindung einer Re­ volution. Wir müssen nur im Buch der Geschichte zu lesen ver­ stehen. Die Revolutionen können entweder alles zerstören oder sie tragen zu einer höher organisierten, verbesserten und reiferen Form der menschlichen Verhältnisse bei, bilden eine zwar schmerzvoll bewegte und unruhige, aber zuletzt doch heilsame Übergangs­ erscheinung zu edleren Gestaltungen des Menschentums, die die menschlichen Kräfte äußerer oder innerer Art zu vollerer und reinerer Darstellung emporführen. Diese Wendung aber der Revolutionen zum Heilsamen geschieht auf folgende Weise. Irgendeine Gruppe, eine Partei, eine soziale Schicht fühlt sich durch die Verhältnisse beengt, bedrückt, verletzt, glaubt nicht zu ihrem Rechte zu kommen, sie fühlt an sich selbst, an ihrer eigenen Haut den Mangel, das Fehlerhafte der überlieferten und gültigen Form der Verhältnisse. Sie „fordert", wie Goethe so tiefsinnig die Sturm- und Drang­ periode seiner Jugend, die revolutionär war, als eine „fordernde Epoche" bezeichnete. Aber die „Fordernden" erschöpfen sich dann auch meist in diesen ihren Forderungen, die aus der gedrückten Lage heraus stets über das Ziel hinausschießen und unerfüllbar sind. „Fordern" nämlich einerseits und „Erfüllen und Leisten" andererseits sind zweierlei. Die Fordemden verlieren in ihrer Überhitzung die Fähigkeit zum Leisten und Gestalten, bleiben im Negativen, in dem Bekenntnis ihrer Unzufriedenheit verharren. Denn ihre For­ derungen sind in der Übertreibung nur eine verschleierte Form, ein bloßer Ausdruck ihrer rein negativen Unzufriedenheit und Beklem-

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mung. Die Leistung, die positive Beantwortung, die Erfüllung, die Umwandlung der Zustände zum Besseren — das alles erfolgt meist von der angegriffenen Gegenseite her, von der Tradition und geltenden Macht her, die durch die Fordernden in ihrem Gewissen aufgeweckt und ergriffen und schon aus eigenstem Interesse heraus eine Neuordnung des Lebens ins Werk seht. So war in der Mitte des letzten Jahrhunderts in bezug auf die politische Gestaltung Deutschlands die revolutionär-demokratische Welle die fordernde Macht. Aber schaffen konnte diese Partei das neue Reich nicht. Der konservative Bismarck, der in sich alle Traditionen der positiven Gestaltungen und Kräfte des deutschen Staates trug — denn in Deutschland gab es damals nur den einen Staat Preußen — er war es, der den Forderungen die Antwort der Erfüllung gab. Bis­ weilen allerdings kann auch ein Revolutionär der erlösende Erfüller, der Vollbringer der rettenden Tat werden, der das zer­ rüttete und aufgewühlte Leben wieder einrenkt und in ruhige Bahnen lenkt, aber nur dann, wenn er den revolutionären Geist vollständig in sich ertötet und überwunden hat. So wuchs Goethe aus der Revolution von „Sturm und Drang" heraus, stellte sich in das gegebene Leben hinein und ging ehrfürchtig in die Schule der größten Tradition, aus der er alle seine Kräfte zu aufbauender, positiver Gestaltung schöpfte. In der sozialen Spannung sind heute die Arbeiter die „For­ dernden". Nicht das leiseste Anzeichen spricht dafür, daß aus ihrer Mitte die positive Neuordnung, Heilung und Besserung unseres Lebens hervorgehen werde. Sie sind gänzlich beherrscht und ein­ gefangen von ihren unerfüllbaren Forderungen. Sie werden den revolutionären Geist nicht los, der sie unfruchtbar macht. So sage ich denn: jetzt hat das schöpferische Unternehmertum das Wort. Es darf sich nicht nur auf die Abwehr der Fordernden be­ schränken. Es muß seinerseits durch eine positive Lösung den For­ dernden, den übertrieben und unerfüllbar Fordernden die gerechte, erfüllbare Leistung und Reform entgegenstellen. Ich sprach schon oben gelegentlich von dem allgemeinen Haß auf den Kapitalismus. Unser Unternehmertum^ erfreut sich keiner sonderlichen Verehrung im allgemeinen Volksbewußtsein. Um so mehr muß das verantwortungs­ bewußte Unternehmertum von sich aus — ich möchte sagen — die Zügel der Revolution ergreifen, muß es von sich aus die soziale Reform ins Werk setzen, um so mehr als es niemand von ihm erwartet. Taten, die überraschend kommen, gelingen am besten. Aber nun ist das Entscheidende — und damit nehme ich den vorher fallen gelassenen Faden wieder auf — nicht der einzelne

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Unternehmer darf hier selbständig vorgehen, auch der größte und mächtigste nicht, auch nicht ein Unternehmen wie Zeitz oder selbst Krupp. Der einzelne Unternehmer kann hier mehr schaden als nützen, je er muß durch unzeitiges und einseitiges Vorgehen die Reform eher verschütten als fördern. Nur das einheitlich organisierte Gesamtunternehmertum der deutschen Wirtschaft darf und kann hier die bedeutungsvollen Schritte tun. Man lese nur ein Buch wie Adolf Weber: „Der Kampf zwischen Ka­ pital und Arbeit, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland" (III. Ausl., Tübingen 1921), man mache sich danach anschaulich klar, wie die beiden mächtigen Gruppen, die großen Gegensätze der deutschen Wirtschaft in den letzten Generationen gegenseitig aufmarschiert sind und nun einander gegenüberstehen. Wenn man nur einigermaßen psychologisch zu denken vermag, wird man sofort einsehen, daß hier kein einzelner aus der Reihe springen kann. Der allgemeine Strom der sozialen Bewegung, der großen Richtungen und Züge des Geschehens reißt ihn mit fort, geht über ihn hinweg. Das wirtschaftliche Leben ist so durchorga­ nisiert, daß es nur noch soziale, d. h. gemeinschaftliche Handlungen der großen Gruppen auf diesem Gebiete geben kann. Es gibt ent­ weder eine Heilung im ganzen oder gar keine. Was für gefährliche Folgen das unzeitige und unangemessene Einzelvorgehen bestimmter Unternehmungen in sozialer Hinsicht gehabt hat, hat die Erfahrung bereits eindringlich genug gelehrt. Wo man nämlich den Arbeitern Anteil am Gewinn geboten hat, wo man ihnen überhaupt irgendwo besonders weit entgegen­ gekommen ist, durch soziale Einrichtungen, durch besonderes Wohl­ wollen und dementsprechende Leistungen, wo man also ernstlich um den sozialen Frieden bemüht gewesen ist, dort gerade hat sich der wildeste Radikalismus entfaltet. Seit der Revo­ lution hat sich das wahrhaft erschütternd offenbart. Die ehemals innigsten Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zersprangen, wo diese Beziehungen die vertrautesten gewesen waren, dort nahm die Feindseligkeit der Arbeiter gegen ihre Freunde und Wohltäter die schnödeste Form an. Und das hat sich grundsätzlich auch heute noch nicht geändert. Bei Zeiß haben die Kommunisten jüngst über die vereinigten anderen Arbeitergruppen bei den Be­ triebsrätewahlen den Sieg errungen. Wie ist diese Erscheinung erklärbar? Wohlwollen wird mit der giftigsten Feindschaft beantwortet. Das ist aus den ersten Blick doch gänzlich unnatürlich. Der Mensch ist und bleibt doch immer — Mensch. Wie ist nur solche Unnatur, solche Unmenschlichkeit mög105

lich? Man sieht, daß die Behandlung dieser Fragen nicht der Psy­ chologie entraten kann, daß es seinen Grund hat, wenn ich immer wieder aus die psychologischen Voraussetzungen der Handlungen zurückgehe, um die anscheinend so rätselhaften und unbegreiflichen sozialen Vorgänge der Gegenwart zu analysieren, ihre tieferen Wurzeln auszudecken. Man wundert sich bei uns nicht wenig über die erwähnte Tatsache. Ich kann nur sagen, daß ich mich nur über dieses Wun­ dern wundere, wie bei so vielen Verhältnissen und Zuständen der Gegenwart, die mir selbstverständlich erscheinen, während mir immer nur das Erstaunen der Menschen darüber das Erstaun­ liche ist. Fede Handlung hat nämlich eine doppelte Seite, eine sachliche und eine persönliche. Aus gegebenen Verhältnissen ist irgend etwas sachlich notwendig. Das sieht man ein und dann handelt man kurzerhand, um das als sachlich notwendig und richtig Erkannte zu erreichen und zu verwirklichen. Das ist gänzlich verkehrt. Denn alles Handeln im Menschenleben berührt Menschen, Personen. Und es fragt sich sehr, ob die betreffenden Kreise, aus die sich die Handlung erstreckt, aus die sie abzielt, auch in der Verfassung sind, ob sie die nötigen Voraussetzungen mitbringen, um bestimmte Handlungsweisen richtig auszunehmen, zu würdigen und dem eigenen Leben und Denken einzugliedern. Diese persönliche Seite der Handlung darf nicht übersehen und unterschätzt werden. Des­ halb muß man vieles, was an sich, sachlich, rein objektiv betrachtet, nötig, vielleicht dringend nötig wäre, doch zeitweise zurückstellen und zurückhalten, bis der rechte Zeitpunkt gekommen ist, bis die unerläßlichen Voraussetzungen in der subjektiven Stimmung der Menschen erfüllt sind. Das sind alles lächerliche Binsenwahrheiten, gegen die aber oft und schwer gefehlt wird. Mit der Bewilligung von Gewinnanteilen an die Arbeiter, mit vielen anderen sozialen Fürsorgeeinrichtungen hat man den Arbeitern die Hand zum Frieden entgegengestreckt oder vielmehr nicht „man", nicht allgemein hat man es getan, sondern einzelne Unternehmer, einzelne Werke haben in dieser Weise ihr Bestes zu tun. geglaubt. Auf welche Stimmung muß ein solches Vorgehen bei den Arbeitern stoßen? Man muß sich doch vergegenwärtigen, daß die Arbeiter solchen Versuchen nicht unbefangen, frei, naiv gegenüberstehen, daß sie diese Angebote gar nicht so aufnehmen können, wie sie dargeboten werden. Denn die ganze Atmosphäre in den Beziehungen zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft ist zurzeit vergiftet, ein dauernder und ganz allgemeiner Kriegs106

zustand ist zwischen den Gruppen herrschend geworden. Wie muß unter diesen Umständen ein wohlwollendes Entgegenkommen aus die Arbeiter wirken? Ganz offenbar als eine kümmerliche, unehrliche, unaufrichtige Konzession, die aus dem bösen Gewissen stammt. Die Arbeiter sind samt und sonders der festen, sichersten Überzeugung — die nichtsozialistischen Arbeiter im tiefsten Grunde ihres Herzens ebenfalls — daß eigentlich ihnen die ganze deutsche Wirtschaft gehören müßte, wie ich das schon öfter erwähnt habe. Die Unternehmer, die technischen und kaufmännischen Leiter der Betriebe, meinen sie, Müßten nur als ihre, der Arbeiter, An­ gestellte funktionieren, gegen ganz schmale Entlohnung, nicht höher oder nur ganz wenig höher als sie, die Arbeiter, selbst beziehen. Daß unter dieser Voraussetzung überhaupt kein höher organisiertes, kulturelles Gemeinschaftsleben möglich wäre, sehen sie nicht ein. Wenn die soziale Gemeinschaft den irgendwie zum Leiten berufenen und befähigten Kräften nicht eine ganz besonders bevorzugte Stel­ lung einraumt, durch höheres Ansehen und Ehre und sehr hohe finanzielle Vorteile, dann gibt sich niemand mehr für diese schwie­ rigen Aufgaben her. Denn ob geistig, wirtschaftlich, staatlich — jede Führerstellung und schon die Vorbereitung dazu ist mit solch einem Kraftaufwand, mit solchem Energieverbrauch, mit solcher Nervenanspannung, mit so viel zäher, unermüdlicher Arbeit ver­ bunden, mit so zerrüttender und aufreibender Verantwortung, daß ohne die allerstärksten Motive und Entgelte Führerleistungen aus keinem Gebiete überhaupt mehr zustande kämen. Dann bliebe alles in der gleichen dumpfen Masse gebunden. Hätten nicht schon in den einfachsten Verhältnissen der ürzeit die Horden und Stämme ihren Führern die besten Beuteanteile gewährt, — niemals hätte es Führer unter ihnen gegeben. Es ist die geradezu ungeheuerliche soziale Unbildung unserer Arbeiter, die das nicht einsehen will. Ich nehme die begabten, geistig regen und tätigen Arbeiter aus — aber der allgemeine Durchschnitt unserer Arbeiter hält geistige Arbeit überhaupt nicht für „Arbeit". Zn solcher Unkultur und Barbarei sind sie stecken geblieben oder vielmehr in solche Barbarei sind sie zurückgesunken, daß sie „Arbeit" nur nach der angewandten Muskelkraft schätzen können. Alle höhere Kultur beruht auf der Ehrfurcht vor dem Geistigen. Inmitten unserer reichen Kultur erhebt die Barbarei ihry rohe Faust, um die gesamte Kultur zu zerschmettern. Nichtschähung des Geistigen ist immer der Anfang der Entwicklung, daß eine Kultur umschlägt und in die Barbarei zurückfällt. Das hat sich schon öfter in der Geschichte abgespielt. Dann gewinnt das Bopertum in irgendeinem Sinne, die rohe 107

Körperkraft wieder über den Geist die Oberhand, und dann ist alles zu Ende. Diese Gefahr schlummert in unserer Epoche, man sieht es au allen Ecken und Enden. Ich nenne die Dinge beim rechten Namen, wie man sieht. Es hat aber keinen Sinn, aus Schwäche sich den Blick in die Wirklichkeit zu verhüllen. Diese Voraussetzung in der allgemeinen Stimmung der über­ wiegenden Mehrheit der Arbeiter muß man sich verdeutlichen, daß sie nämlich die Überzeugung hegen, die ihnen bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß eigentlich die gesamte Wirtschaft ihr Eigentum sei, daß ihnen von Rechts wegen der Besitz der ge­ samten Wirtschaft zukomme. Wie muß unter dieser Voraussetzung ein Entgegenkommen, ein Geschenk, ein Angebot von selten eines Unternehmers oder einer Werkleitung auf sie wirken? Sie müssen es notwendig als.eine Bestechung aufsassen, als einen Versuch, sie von ihren wahren, richtigen, berechtigten Zielen abzulenken. Sie meinen, sie sollen dadurch gekirrt, geködert werden; was ihnen geboten wird, sei ja nur ein ganz winziger, lächerlich kleiner Bruch­ teil dessen, was ihnen wahrhaft zustehe. Nicht eine Spur von An­ erkennung und Dankbarkeit kommt bei dieser Stimmung in ihrer Seele aus, kann nicht aufkommen, viel eher Entrüstung. Wie ein Hohn erscheint ihnen das bestgemeinte Angebot, als ein Zuge­ ständnis des Unrechts von der anderen Seite, als ein Beweis des schlechten Gewissens. Und so tritt die gegenteilige Wirkung ein als die, welche man beabsichtigt und erwartet hatte. Das Angebot wirkt als Reizung mehr — im allgemeinen, wiederhole ich, nicht bei jedem Arbeiter, aber bei der Mehrheit — die Ansprüche, For­ derungen werden nur noch zügelloser, wilder, das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird nur noch gespannter und unglücklicher. So viel kommt daraus an, wer eine Handlung einleitet und unter welchen Bedingungen sie eingeleitet wird. In einem allgemeinen Kriegszustände, der doch offenbar heute im sozialen Leben besteht, ist bei derartigen Entschlüssen die allergrößte Vorsicht am Platze. Ein treffendes Beispiel für diese Warnung bieten während des großen Weltkrieges die mancherlei unzeitigen Konzessionen und Friedensangebote, die von privater, inkompetenter Stelle aus, von Erzberger und anderen übereifrigen Friedensfreunden aus­ gingen. Sie untergruben die ganze Stellung Deutschlands. Genau so gefährlich und unzeitig sind in dem allgemeinen sozialen Kriegs­ zustände, der nun einmal tatsächlich herrscht, die sozialpolitischen Konzessionen und Angebote einzelner Werke, selbst der größten und einflußreichsten. Es mag hart klingen, da diese Versuche sicherlich 108

vielfach von edlem Hochsinn eingegeben sind, aber ich muß es aus­ sprechen: sie verderben die ganze Situation. Sie wirken nur aufreizend, sie entfesseln erst wahrhaft die Revolution, den voll­ ständigen Umsturz. Man muh alle menschlichen Verhältnisse psy­ chologisch behandeln, sonst macht man sich bei aller Gutwilligkeit sträflich schuldig. Nur die kompetente, die berufene Stelle darf in solchem Falle die entscheidenden Schritte tun, die Macht, die die Verantwortung trägt und in ihrer Machtstellung auch die Bürgschaft bietet, daß die Angebote ernst gemeint sind und die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit der Durchführung und Erfüllung in sich tragen. Aber auch dann noch sind schwere Fehler möglich. Auch die kompetente, berufene Stelle kann sich psychologisch vergreisen. Auch das hat der Weltkrieg an einem klaren Beispiel gelehrt. Nach dem rumänischen Feldzuge hat der verantwortliche Leiter der deut­ schen Politik, der Reichskanzler Bethmann-Hollweg das vielum­ strittene offizielle Friedensangebot gemacht. Der unerhörte Fehler dieses Versuches war, daß die deutsche Politik ein ganz allgemein ge­ haltenes, unbestimmtes, gar nicht spezifiziertes Angebot machte. Da­ mit konnten die feindlichen Staaten und Völker nichts ansangen, sie konnten gar nicht wissen, was denn eigentlich dahintersteckte, ob ein ehrlicher Friedenswille oder eine abgefeimte Bosheit und List. Sie mußten befürchten, daß sie damit übers Ohr gehauen, auf den Leim gelockt werden sollten. Nur eine wenigstens in den großen Hauptzügen spezialisierte Friedensbotschaft mit bestimmten An­ gaben konnte wirken, nur solche bestimmten, faßlichen, kontrollier­ baren, überdenkbaren Vorschläge konnten die Einbildungskraft der feindlichen Völker beschäftigen und in Bewegung setzen und, wenn sie ihnen annehmbar schienen, einem gerechten Ausgleichsfrieden geneigter machen. Das unbestimmte, geheimnisvolle Friedens­ angebot aber mußte erst ihre wahre und letzte Kriegsstärke, ihren unbeugsamsten Kriegswillen entflammen. Ähnlich nun auch im sozialen Kriegszustände. Das Unter­ nehmertum, dem durch den Klassenkampf, durch die angedrohte und schon im Fluß befindliche soziale Revolution der Krieg erklärt worden ist, das durch diesen Krieg völlig entwurzelt und gestürzt werden soll, muß von seiner kompetenten Vertretung aus, als organisierte Einheit mit einem klar und bestimmt formulierten, durchdachten, vertretbaren, aus sachlichen wie sittlichen Erwägungen gerechtfertigten und wohl begründeten Friedensangebot an die Arbeiterschaft herantreten, um den Versuch zu einem gerechten sozialen Ausgleichssrieden zu machen. Die überhitzte Einbildungs109

traft der Arbeiter wird natürlich auch ein solches Angebot, das mit einer derartigen Autorität austritt, zunächst hohnlachend und voller Entrüstung zurückweisen. Selbstverständlich. Aber gerade die bestimmt formulierten Vorschläge, die greifbaren sozialen Reform­ gedanken, die gewisse drängende Bedürfnisse der Arbeiterschaft unmittelbar zu befriedigen geeignet sind, werden doch auf die Phantasie der Arbeiter einwirken und nachwirken. Eine Erschüt­ terung des Vertrauens der Arbeiter zu ihren sozialistischen Wahn­ bildern ist zweifellos eingetreten. Es ist schon reichlich Wasser in den schäumenden Wein ihrer Träume geflossen. Das ist der psycho­ logisch richtige Augenblick, um mit erreichbaren, unmittelbar hel­ fenden, fördernden, bessernden Vorschlägen, mit Angeboten, die nur ergriffen zu werden brauchen, erstmalig vor die Arbeiterschaft hinzutreten, solche greifbaren Möglichkeiten der Arbeiterschaft vor die Augen zu rücken. Richt sofort, aber mit der Zeit muß dann aller Wahrscheinlichkeit nach eine Stimmung bei ihr erwachen und sich regen, da ihr der Sperling in der Hand wertvoller erscheint als die Taube aus dem Dache. Die große Woge der sozialistischen Utopien ist augenblicklich im Abebben begriffen. Sie kann jederzeit wieder anschwellen und zu einer verheerenden und alles verschlin­ genden Sturmflut werden, die die ganze deutsche Wirtschaft über­ spült und verwüstet. Wer zurzeit ist ein Abebben zweifellos ein­ getreten. Gar manche Arbeiter haben in ihrem gepriesenen Sozia­ lismus ein Haar gefunden. Diesem Abebben der sozialistischen Träume muß man zu Hilfe zu kommen suchen, muß man Vorschub leisten durch das Vorzeigen und Anbieten erreichbarer, in nächster Nähe der Verwirklichung gerückter, sozialer Neformideen, die einen Ersatz zu bieten vermögen für den Verlust der sozialistischen Träume. Nur an solche bestimmt zu erwartende, faßbare, erreichbare Möglichkeiten kann sich die enttäuschte Einbildungskraft anklammern, emporranken, und so vielleicht langsam gesunden, den vergiftenden Träumen allmählich entsagen. Aber ernsthaft muß das Angebot sein und es ist allein ernsthaft, wenn die Berufenen, die es zunächst angeht, von deren Entschluß und gutem Willen das' Gelingen überhaupt abhängt, den entscheidenden Schritt im Dollbewußtsein der Verantwortung tun. Nicht der Staat mit seinen Gesehen, nicht die öffentliche Meinung, nicht die Wissenschaft, keine Macht sonst kann den Bann des Schweigens, der dumpfen Untätigkeit, des gefährlichen Züwartens brechen. Allein das Unternehmertum in seiner führenden, verantwortlichen und einheitlichen Organisation kann das erlösende und befreiende Wort sprechen.

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Aber was für ein Angebot soll denn nun die organisierte Unter­ nehmerschaft den Arbeitern machen? Ich klimme endlich zu dem letzten Gipfel meiner Betrachtung empor, nachdem ich wie ein Bergwanderer zahlreiche Vorberge überwinden mußte. Vielleicht habe ich mit diesen Vorbetrachtungen manchen Leser gelangweilt, der schnell zum Ziele drängte. Ich habe sie aber für unerläßlich gehalten, weil ich die aufzustellenden Forderungen nicht nur als Forderungen einfach und nackt hinstellen, nicht nur behaupten, sondern auch psychologisch durch die Analyse der gesamten sozialen Situation begründen wollte, um auch zu überzeugen, um diesen Vorschlägeu ein geneigtes Ohr zu verschaffen, um so wenigstens mittelbar für ihren Durchbruch, für ihre Verwirklichung etwas zu leisten. Zunächst das innere Anrecht des Arbeiters auf „Beteiligung". Der schroffe Unternehmerstandpunkt erklärtwie oft hat man es aussprechen hören l —: sie, die Unternehmer", riskierten allein etwas bei den industriellen Gründungen, eben ihr Kapital, ihr Vermögen. Das ganze Risiko läge auf ihrer Seite. So hätten sie auch auf dieses übernommene Risiko hin allein das Anrecht aus den erzielten Gewinn, falls er sich einstellt. Der Arbeiter riskiere nichts, also habe er außer seiner Entlohnung auch keinen Anspruch auf die über­ schüssigen Erträgnisse des Unternehmens. Nur wer etwas wage, aufs Spiel sehe, dürfe an dem durch eben diese Kühnheit erworbenen Gewinne Anteil haben. „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein" — dieses allgemeine Wort Schillers treffe auch auf die Wirtschaft zu. Nur wo ein Einsatz sei, dürfe der entsprechende Erfolg beansprucht werden. Nur der Unter­ nehmer riskiere, nicht der Arbeiter. Das klingt auf den ersten Augenblick äußerst überzeugend und ist doch so grundfalsch. Diese Beweisführung krankt an dem schon soeben gerügten Fehler, daß man allgemeine soziale Bewegungen, Erscheinungen, Beziehungen niemals individuell, nach dem Bei­ spiel und Muster einzelner Fälle, persönlicher Umstände betrachten darf. Man muß in ganz anderen Kategorien denken lernen, wenn man an größere soziale Aufgaben herantritt. Soziale Einheiten — und in der heutigen sozialen Spannung treten dje sozialen Ein­ heiten, die geschlossenen Gruppen, Unternehmerschaft und Ar­ beiterschaft einander gegenüber, nicht der einzelne Unternehmer und der einzelne Arbeiter — soziale Einheiten sind etwas gänzlich anderes als individuelle Persönlichkeiten mit ihrem Schicksal. Es ist das eine Erkenntnis, die man in der Gegenwart absolut nicht be­ greifen kann und begreifen will. Ein Volk beispielsweise ist schon

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aus dem einen einzigen Gründe etwas gänzlich anderes als eine Einzelpersönlichkeit, ist damit gar nicht vergleichbar, steht unter ganz anderen Gesehen und Notwendigkeiten, weil der Einzelmensch eine überschaubare, kurze Existenz hat, während das Volk und sein Leben gleichsam als unsterblich gedacht werden muß, jedenfalls als von unberechenbarer, unabsehbarer Dauer. Das verschiebt die Beurteilung in allen Fragen. Ein Staatsmann, der die Verant­ wortung für das Volk und seine ganze noch unerschlvssene Zukunft trägt, ist durch diesen ungeheuren Druck zu ganz anderen Hand­ lungen berechtigt, ja verpflichtet, als im individuellen Leben üblich und richtig sind. Die Quelle dieses Irrtums, daß man soziale Ein­ heiten gar nicht mehr zu verstehen vermag, liegt tief verborgen. Der Irrtum hängt mit der ganzen Weltanschauung und wissenschaft­ lichen Auffassung der letzten Generationen zusammen, die alles atomisierte, alles in seine kleinsten Bestandteile zerschlug und auflöste, die Welt und älle ihre Erscheinungen immer nur aus ihrer Zusammensetzung, aus ihren Teilen zu begreifen versuchte, die gar nichts Ganzes, keine Einheit mehr begrifflich zu umspannen und zu würdigen wußte. Eine Einheit ist nämlich etwas schlechthin anderes, Eigenes, mit eigenen Qualitäten und eigener Wirklichkeitskraft und Bedeutung, als die einzelnen Teile darstellen, die die Einheit zusammensehen. Nur mit einem Worte sage ich für den philosophisch gebildeten Leser, daß es der Mangel an platonischem Geiste ist, der uns in diesen verhängnisvollen Irrtum verstrickt hat. Nicht nur Völker bilden derartige übergreifende, selbständige Einheiten, die als solche zu fassen sind, sondern auch die einzelnen Volksschichten, sozialen Gruppen und Stände innerhalb des Volkes fordern eine sozial zusammensassende und bindende An­ schauung und Würdigung, auch diese muß man als Einheiten zu verstehen suchen. Auch über diese, ihre Bedingungen und Ansprüche kann man nur zu zutreffenden und gerechten Urteilen gelangen, wenn man sie in einer weiteren und allgemeinen Überschau als einheit­ liche, abgeschlossene Gebilde aufzusassen vermag. Dieser Hinweis und sein Zweck werden sofort deutlich werden. Der Großbetrieb, als einheitliches Prinzip gedacht, hat in den Anfängen der ent­ stehenden deutschen Großwirtschaft aus den ruhigen, stetigen, sicheren kleinstädtischen und bäuerlichen Verhältnissen des alten Deutschland große Volksmassen herausgerissen und an sich gezogen. Der Großbetrieb hat dabei sein Vermögen riskiert. Was sich ihm aber als Arbeiterschaft anschloß, riskierte das Leben, die ganze Exi­ stenz. Das muh einmal mit aller Bestimmtheit und Entschiedenheit ausgesprochen werden. Kümmerlich und ärmlich genug zwar war

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das Leben in dem noch nicht-industriellen Deutschland, vor dem wirtschaftlichen Aufschwünge der letzten Generationen. Aber bei der Bevölkerungsdünne der damaligen Zeit fand doch jeder seine verhältnismäßig sichere Existenz, den Ausblick in eine ruhige, sorgen­ lose Zukunft. Niemand hatte das Gefühl, vor dem Nichts zu stehen, brauchte es nicht zu haben. Und wer gar keine Arbeit oder seinem Tatendrange nicht entsprechende Arbeit fand, wer abenteuerlustig und unternehmend war, wanderte aus. Und die Auswanderung bot damals noch die reichsten Möglichkeiten. Nun kam der Groß­ betrieb. Wenn er nicht prosperierte, verlor das Unternehmertum allerdings das angelegte Kapital, die Arbeiterschaft aber, die aus seinen Rus hin herbeigeströmt war, mußte darauf gefaßt sein, kurzerhand auf die Straße geworfen zu werden, vor dem Nichts zu stehen. Sie war in ihrem nackten Dasein, nachdem sie einmal dem Rufe des Kapitals gefolgt war und sich von dem alten Boden des Lebens losgerissen hatte, gefährdet, war ein Spielball der Konjunktur geworden. Dies ist doch wahrhaftig auch kein kleines Risiko, das die Arbeiterschaft beim Übergange in die Großwirtschaft übernommen hat. Und der wehrlose Spielball der Konjunktur ist der Arbeiter vielfach heute noch. Der einzelne Arbeiter mag vielleicht, wenn hier ein Unternehmen zusammenbricht, anderswo Arbeit und Exi­ stenz finden, aber man muß die seelische Grundstimmung der Ar­ beiterschaft zu verstehen suchen, deren Quellen ihr vielleicht selbst nicht klar sind, man muß, wie schon dargelegt, auf das Ganze, All­ gemeine schauen. Und da kann man nur sagen: das Risiko der Ar­ beiterschaft ist nicht geringer gewesen als das der Kapitalisten bei der Schöpfung der deutschen Wirtschaft. Heraustretend aus den alten, gleichmäßigen, sicheren Verhältnissen, riskierten die Arbeiter mit ihrer Nachkommenschaft alles. Sie begaben sich auf ein noch ganz un­ ausgeprobtes, ungewisses Land, das die größten Gefahren barg, dem sie sich mit ihrer ganzen Existenz und der der kommenden Ge­ schlechter anvertrauen mußten. Das Risiko beider Gruppen war notwendig, zweifellos. Das deutsche Volk hat nichts zu bereuen, weder das Risiko der Unternehmer noch das Risiko der Arbeiter. Denn wenn das deutsche Volk aus seinen ärmlichen, allzu bescheidenen, gedrückten wirtschaftlichen Bedingungen sich emporringen, sich gegen die älteren, erfolgreichen Wirtschaften, namentlich England gegenüber, durchsetzen wollte, dann konnte es das nur durch ein großes Wagnis. Es mußte seinen ganzen, bis dahin erworbenen Besitz, es mußte den größten Teil seiner lebendigen Volts­ kraft bei diesem Versuch aufs Spiel setzen. Das war das Kapitalrisiko der Unternehmer und das Existenz- und Lebensrisiko der Arbeiters Horneffer, D!e große Wunde. 2. Ausl.

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Was folgt aus dieser Feststellung? Daß die Arbeiterschaft aus Grund ihres nicht minder großen Risikos, das sie weiß Gott übernommen hat, auch am Erfolge der deutschen Wirtschaft beteiligt sein muß. Denn der große Wurf ist gelungen, die deutsche Wirt­ schaft ist gegründet und ausgebaut worden. Sie hat sich gegen die Wirtschaft der anderen Völker achtunggebietend emporgereckt, sie ist eine Macht in der allgemeinen Weltwirtschaft geworden. Die Gefährdung, die der Weltkrieg und der Versailler Frieden neuer­ dings von außen über die deutsche Wirtschaft gebracht haben, soll gleich noch berücksichtigt werden. Diese Gefahr entlastet das Unter­ nehmertum, das Kapital nicht von der Verpflichtung, das Risiko der Arbeiter anzuerkennen und entsprechend zu entlohnen. Der ge­ wöhnliche Arbeitslohn erfüllt diese Aufgabe nicht. Eine andere Betrachtung führt zu dem gleichen Ergebnis. Die Unternehmerschaft legt ihr Kapital an. Gewiß, und niemand wird bestreiten, daß dem Arbeiter an diesem vom Unternehmertum ein- und angelegten Kapital kein Anteil zusteht. Es ist nicht vom Arbeiter ausgegangen, so kann es auch nicht wieder zu ihm zurück­ gehen. Es würde ein reines Geschenk bedeuten, das ihm in den Schoß fällt. Aber die Unternehmerschaft legt das Kapital doch wahrlich nicht nur an, um es zu erhalten, sondern dieses angelegte Kapital soll sich doch vermehren, vergrößern, soll doch ein Pfund sein, mit dem int besten Sinne des Wortes gewuchert werden soll, das den Nationalwohlstand vergrößern soll. Es soll doch nur eine Keimzelle bilden, um sehr viel größere und reichere Werte aus sich zu erzeugen. Und das Unternehmerkapital hat sich in dem Aufblühen und der Entwicklung der deutschen Wirtschaft ganz gewaltig vermehrt, es ist um ein außerordentlich hohes Vielfaches angeschwollen. Und an dieser Vervielfachung und an diesem Wachstum hat die Arbeiterschaft zweifellos ihren gemessenen Anteil, sie ist doch eine Miturheberin und Miterzeugerin dieses Wachstums gewesen — immer die Arbeiterschaft, wie es erforderlich ist, als Ganzes, als Einheit betrachtet. Die einzelnen Arbeiter, die da kommen und gehen, von einem Unternehmen zum anderen, scheinen völlig außerhalb dieser Leistung und dieses Erfolges zu stehen. Aber es handelt sich, wie mehrfach betont, um die allgemeine, die ganze Arbeiter^ schäft in ihrem Verhältnis zum Gesamtkapital, wobei das Schicksal und die Bedeutung der einzelnen Arbeiter ganz gleichgültig ist. Das Meer ist auch etwas anderes als die einzelnen Tropfen, die es bilden. Für diese Mitarbeit an der Steigerung und dem Wachstum des Kapitals wird die Arbeiterschaft nicht genügend mit dem bloßen Arbeitsvertrag und dessen Lohnbestimmungen beftiedigt. Denn 114

das ist der Entgelt für die Einzelleistung, für Tages-, Wochen-, Jahresarbeit. Aber diese einzeln aufsummierte Arbeit erzeugt ein bedeutsames Ganzes, einen Gesamteffekt, eben die Kapitalerhöhung. Und auch an dieser muß der Arbeiterschaft der ihr zukommende Teil zugemessen und zugebilligt werden. Sie schafft nicht nur im einzel­ nen, sondern als Ganzes schafft sie mit am Ganzen. Also gebührt ihr auch ein Anrecht und Anteil am Wachstum des Ganzen. Aber welches ist denn nun dieser der Arbeiterschaft zukommende Anteil und in welcher Form soll und muß ihr dieser Anteil gewährt werden? Das Nächstliegende, worauf man von vielen Seiten aus ver­ fallen ist und was sich dem Blicke ohne weiteres aufdrängt, ist die Gewinnbeteiligung. Dies war der zweite schwere Mißgriff, den man getan hat. Denn diese Maßnahme war etwas durch und durch Halbes. Die Halbheit ist unter den zahlreichen Unzulänglich­ keiten und Gebrechen unseres Zeitalters vielleicht die betrüblichste Erscheinung. Sie geht fast allen Versuchen und Entschlüssen der nun gestürzten und gerichteten Generation nach, hat sich an alle ihre Taten angeheftet. Eine Revolution, ein gewaltsamer Umsturz der Lebensverhältnisse bricht herein, wenn eine Epoche allzustark an dem Gewordenen sestgehalten hat, wenn sie keinen Umbildungs- und Fortbildungswillen bewährt hat, wenn sie versteinert ist, keine organische Lebendigkeit mehr erzeugen konnte. Dann bricht ur­ plötzlich aus der Tiefe der unerschöpfliche Strom des Lebens über die es einzäunenden Schranken hinweg. Statt des langsamen, stetigen Werdens und sich Wandelns kommt die wilde Flut voll Zerstörung und Unheil. Neben diesen allgemeinen Erscheinungen und Vor­ gängen laufen dann die gut gemeinten Versuche einher, durch halbe, schwache, unzureichende Taten dem sichtbar und fühlbar werdenden Verhängnis vorzubeugen, die es aber eben wegen ihrer Unzulänglichkeit und Halbheit erst vollends herbeirufen und be­ schleunigen. Halbheiten waren im letzten Zeitalter der Fluch unseres Lebens in seiner ganzen Ausdehnung. Und als mit dem Weltkriege die großartigste Gelegenheit sich bot, mit heldenhaften, kühnen, ganzen Taten nach innen wie nach außen das deutsche Leben aus seiner entsetzlichen Gefahr in letzter Stunde mit einem gewaltigen Griff zu befreien, es über die schwere Krisis hinwegzusühren, da waren es wieder allseits die elenden, trostlosen Halbheiten, die uns um die herrlichste Gelegenheit, um die Größe der Stunde gebracht haben und alles vereitelten. Doch dies nur nebenbei, zur Bekräfti­ gung der Einsicht, daß in einer Zeit die allertiefsten Zusammen­ hänge herrschen, daß einhellige, gemeinsame Züge und Bestimmt-

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heiten der gesamten Epoche das Handeln der Menschen lenken. Wir ersticken förmlich in Halbheiten. Es ist darin nach der Revolution noch nicht um ein Haar besser geworden. Auch auf sozialem Gebiete stoßen wir fortgesetzt aus derartige Halbheiten. Dazu gehört vor allem auch der Gedanke der Gewinn­ beteiligung der Arbeiter. Man kann sich nicht genug verwundern über die psychologische Unerfahrenheit und Unreife der im übrigen, im Kaufmännischen und Technischen so hervorragend bewährten Kräfte unseres Wirtschaftslebens. Man begreift nicht, wie so be­ deutende Begabungen nur einen Augenblick von einer bloßen Gewinn­ beteiligung der Arbeiter sich etwas versprechen konnten. Denn was ist die Gewinnbeteiligung? Sie ist doch nichts als eine andere Form des Lohnes. Rur an Stelle des konstanten ist der schwankende, wechselnde Lohn getreten. Das ist alles. Und da den Arbeitern die feste Entlohnung viel sympathischer ist, hat man die gewährte Gewinnbeteiligung auf deren Wunsch mehrfach, wie beispiels­ weise bei Zeiß, wieder aus feste Prozentsätze zurückgeführt, wodurch der Charakter des Lohnes dieser Gewinnbeteiligung vollends und «ausdrücklich ausgeprägt worden ist, womit also gar nichts, ja sogar weniger als nichts gewonnen worden ist. Denn nun mußte dieses Zugeständnis in der oben geschilderten Weise erst recht zu weiter­ gehenden Forderungen reizen. Gerade das, was die soziale Reform erzielen soll, ein Dauerverhältnis herzustellen zwischen Arbeiter und Werk, die Arbeiter mit dem Werke innerlich, seelisch, verantwort­ lich zu verknüpfen, sie zu einem organischen Glied des Unternehmens zu machen, gerade das wir- durch die bloße Gewinnbeteiligung nicht im entferntesten erreicht, ja diese Aufgabe wird durch die bloße Gewinnbeteiligung überhaupt gar nicht, berührt. Ob der Arbeiter W

I. Kapitel.

Heimat und Kindheit. Karl Heinrich Lang ist geboren zu Balgheim in Schwaben am 7. Juli 1764, also in jenem Halbjahrhundert europäischer Geschichte, das trunken von der Überfülle inneren und äußeren Lebens dem blutigen Taumel der großen Revolution entgegenstürmte, und in jenem Zentrum süddeutschen Geisteslebens, das, die Mitte haltend zwischen der leichten Entzündlichkeit der Rheinländer und dem beschaulichen Konservativismus der Bajuvaren, von jeher die Fragen der Zeit besonders klar und scharf durchdacht hatte: etwas Gebärendes, Kritisches, Unbefriedigtes lag tm Blut seiner Zeit und seiner Heimat. In Perioden so lebhafter geistiger und politischer Entwicklung, in denen die einzelnen Wellen sich überstürzen und überholen, werden Geburtsort und Geburtsjahr in ganz anderem Maße richtunggebend für die Entwicklung des einzelnen, als in Zeiten der Ruhe und Reife. Der Historiker, der ein solches Leben zu schildern hat, wird daher gleich diesen Ausgangspunkt möglichst klar fixieren müssen. Langs Geburtsjahr liegt auf der Mitte einer Linie, die vom Regierungsantritt Friedrichs des Großen, des Schöpfers des ersten „aufgeklärten Staates" großen Stils, zum Ausbruch der Französischen Revolution führt, die der Umbildung von oben her die Umwälzung von unten her entgegen­ setzte — und seine Heimat war der politisch zerrissene schwäbisch­ fränkische Südwesten des Reiches, in dem am üppigsten jener Duodez­ absolutismus wucherte, der den Glanz des Boi Soleil nicht vergessen konnte, auch wenn er, ehrlich oder zum Schein, nach dem Lorbeer des Boi öclairö rang; der eine lachende Kultur des Rokoko erblühen ließ, die im Grunde doch nur ein baroque en miniature war, ohne die Verfeinerung und Durchgeistigung, die das Rokoko von Sans-Souci charakterisieren; und der um so jäher von den Sturmglocken der Re­ volution aus dem Traum gerüttelt wurde, je tiefer er den Gang der Geschichte verschlafen hatte. Eine zweite Linie mag den Punkt noch klarer bestimmen, von dem das Leben Karl Heinrich Langs seinen Ausgang nimmt: Fünf Jahre vor seiner Geburt war Christian Wolff gestorben, der erste, der spezifisch deutsche Aufklärung in die weitesten Kreise des Volkes gettagen hatte, aber sein exklusiver Nationalismus wurde bereits über­ flutet von einem mächtigen Sttom sensualistischer Aufklärung, der von England herüber kam; der Patriarch der französischen Aufklärung,

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Ernst Horneffer

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I. Band: Die Tragödie des deutschen Volkes 207 Seilen.

Grundpreis: Pappband M. 4.50

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Der Neichsbote: Der farblose Titel läßt nichts von dem erkennen, was die 2to Seiten des Buches enthalten. Es gibt zunächst die politische Vorgeschichte des Krieges: unübertrefflich und unwidersprechlich klar. Wir lernen den Philosophen als einen Politiker kennen, der die äußere Politik (von der in dem Buche allein die Rede ist) staunenswert beherrscht.

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II. Band: Die Wiedergeburt des deutschen Volkes

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„Literatur, Kunst und Wissenschaft": Mit hoher Vaterlandsliebe, aber zugleich mit schonungsloser Wahrheit wird im ersten Bande dem Leser der tiefe Fall vor Augen geführt, den Deutschland tun mußte, während der zweite Band der Hoffnung zum Wiederaufstieg Raum gibt. Wer die Wahrheit scheut, der soll die Bücher nicht in die Hand nehmen, wer durch die Erkenntnis der Wahrheit zur Besserung gelangen will, wird in ihnen Erbauung und Trost finden. Weitere Bände sind in Aussicht gestellt, deren Erscheinen der ernste Leser der ersten Bände mit Freuden entgegensehen wird. *

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Platonismus und die Gegenwart | 144 Seiten.

Grundpreis: Geheftet M. 2.50

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Weser-Zeitung: Das Buch des bekannten und verdienstvollen Gelehrten erstrebt kein geringeres Ziel, als die Ideenwelt Platons mit

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den Aufgaben der drangvollen Gegenwart zu verknüpfen, Wege zu einer neuen Harmonie, zu einem neuen Kulturideal zu suchen. — Der Platonismus mit der Unerschöpflichkeit seiner Ausstrahlungen und Wirkungen vermag die Totalität des menschlichen Wesens zu umspannen.

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Wie aus Platons synthetischer Kraft die geistige Wiedergeburt seiner Zeit erblühte, wie Richtlinien seines Denkens auch den gegenwärtigen Zeitgeist läutern und heben können, das stellt der Verfasser in Deduktionen voller Tiefe und Bewegung dar.

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R. OLDENBOURG / MÜNCHEN UND BERLIN

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