Die Wissenschaft im Würgegriff des Westdeutschen Militarismus [Reprint 2021 ed.] 9783112581100, 9783112581094


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German Pages 154 [153] Year 1964

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Die Wissenschaft im Würgegriff des Westdeutschen Militarismus [Reprint 2021 ed.]
 9783112581100, 9783112581094

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Berichtigung Seite 70, 1. Absatz, 5. Zeile: statt finden, richtig: binden. Seite 109, 3. Absatz, muß es richtig heißen: Bemerkenswert an Anderles Auftreten ist sein Eingeständnis, daß die führenden reaktionären bürgerlichen deutschen Historiker unfähig sind, die Geschichte richtig zu begreifen, daß ihr Anspruch, echte Wissenschaft zu betreiben, zu Unrecht von ihnen erhoben wird, daß ihre etwaigen Beteuerungen, Gegner irrationaler Methoden zu sein, unglaubwürdig sind, und schließlich die Tatsache, daß sich der aufrichtig um das Schicksal der Geschichtswissenschaft besorgten bürgerlichen Historiker eine tiefe Unruhe und Unzufriedenheit über den derzeitigen Zustand der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, über ihre ausweglose L a g e bemächtigt hat.

Scheler, Die Wissenschaft

DIE WISSENSCHAFT IM WÜRGEGRIFF DES WESTDEUTSCHEN MILITARISMUS

DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN INSTITUT FÜR PHILOSOPHIE

DIE WISSENSCHAFT IM WÜRGEGRIFF DES WESTDEUTSCHEN MILITARISMUS

Herausgegeben v o n H e r m a n n Scheler

AKADEMIE-VERLAG•BERLIN 1963

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger Straße 3-4 Copyright 1963 by Akademie-Verlag G m b H Lizenznummer: 202 • 100/200/63 Gesamtherstellung: I V / 2 / 1 4 . VEB Werkdruck Gräfenhainichen • 1978 Bestellnummer: 5524 . ES 3B3- Preis 6 , - D M

INHALT

Vorwort

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Eleana Bauer Die Naturwissenschaft in der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden

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Gerd Irrlitz Ober den Einfluß der Ideologie des Militarismus auf die Gesellschaftswissenschaften in Westdeutschland

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Hans Schulze Zur Grundlagenkrise der westdeutschen Geschichtswissenschaft . . .

82

Heinz Peppetle Der antihumaine Charakter der neuthomistischen Wissenschaftsauffassung

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VORWORT

In unserer Zeit in der die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum entscheidenden Faktor des raschen Wachstums der gesellschaftlichen Produktivkräfte geworden ist, kann nur ein vom Leben völlig isolierter Wissenschaftler den engen Zusammenhang zwischen dem sozialökonomischen Prozeß und dem Fortschritt der Wissenschaft zu leugnen versuchen. Die Wissenschaft ist keine selbständige vom Gesamtprozefj der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit abgetrennte Erscheinung. Sie wird nicht, wie eine überlebte Auffassung behauptet, um ihrer selbst willen betrieben und steht nicht abseits vom Hauptstrom der geschichtlichen Entwicklung. Zwischen der materiellen, ökonomischen, politischen und kulturellen Tätigkeit der Gesellschaft und der Wissenschaft besteht eine enge unauflösliche Wechselwirkung, in der die ökonomische Entwicklung die übergreifende, letztlich bestimmende Seite verkörpert. Unter monopolkapitalistischen Daseinsbedingungen hat dieser unvermeidliche Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklung zur völligen Unterordnung der Wissenschaft und der Wissenschaftler unter die egoistischen, menschenfeindlichen Lebensinteressen einer verschwindend kleinen Schicht von Monopolisten, Bankiers und Militaristen geführt. Die imperialistische, an der Anzettelung von Kriegen interessierte Bourgeoisie hat die Wissenschaftler immer stärker zur Erfindung und ständigen Vervollkommnung modernster Vernichtungswaffen herangezogen und faktisch die Kontrolle und Planung der wissenschaftlichen Forschung übernommen. Auch dort, wo die Forschungsinstitute nicht direkt an kapitalistische Großunternehmen angeschlossen, sondern formell den Universitäten unterstellt wurden, ist die Kontrolle über die Wissenschaft und die Wissenschaftler in die Hände der allmächtigen Monopole oder ihres Staatsapparates übergegangen, haben sich die

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Wissenschaftler in Angestellte der Konzerne oder in Beamte der Ministerien verwandelt. Natürlich sind die herrschenden Klassen der imperialistischen Länder eifrig bestrebt, diesen Sachverhalt zu vertuschen, um die Wissenschaftler nicht zum Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Verantwortlichkeit kommen zu lassen. Aber der nur schlecht zu verbergende Mißbrauch der Errungenschaften der Wissenschaft für die reaktionären, antihumanistischen, ausbeuterischen Ziele der imperialistischen Bourgeoisie, insbesondere der offen zutage tretende Zusammenhang der modernen Wissenschaft mit der Produktion menschheitsbedrohender Waffen, stürzt die redlichen Wissenschaftler, die mit ihrer Tätigkeit dem menschlichen Fortschritt, dem Glück und Wohlergehen der Menschheit dienen wollen, in schwerste innere Konflikte. Es ist daher das Anliegen dieses Sammelbändchens, den Mißbrauch der Wissenschaft im Dienste der Kriegsvorbereitung zu brandmarken und die Wissenschaftler beider deutscher Staaten im Sinne ihrer nationalen Verantwortung zum Kampf gegen den westdeutschen Militarismus und gegen die Vorbereitung eines imperialistischen Krieges vom westdeutschen Boden aus zu ermutigen. Die vorliegenden Beiträge, die im Zusammenhang mit einem umfassenderen Forschungsvorhaben des Instituts für Philosophie der Deutschen Akademie der Wissenschaften geschrieben wurden, können keineswegs den Anspruch erheben, den verhängnisvollen Einfluß des wiedererstandenen Militarismus Westdeutschlands auf die Entwicklung der westdeutschen Wissenschaft etwa auch nur in seinen Hauptzügen zu enthüllen und in seinen schädlichen Folgen zu untersuchen; es geht vielmehr um das bescheidenere, aber im Hinblick auf seine wissenschaftspolitische Bedeutung keineswegs geringfügige Ziel, durch das Herausheben und Beleuchten einiger Aspekte der Wissenschaftsentwicklung in Westdeutschland nachzuweisen, wie die von den westdeutschen Ultras forcierte Aufrüstung und Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens die Wissenschaft deformiert, entmenschlicht und ihre Resultate gesellschaftsfeindlich verkehrt, die eroberten Naturkräfte in destruktive, die Menschheit bedrohende Kräfte verwandelt. Mit diesen Fragen beschäftigt sich insbesondere der Beitrag von Eleana Bauer. Er entlarvt die Lüge von der Freiheit der Wissenschaft unter monopol8

kapitalistischen Entwicklungsbedingungen, zeigt die tatsächliche Unterordnung der Wissenschaft unter die Interessen der staatsmonopolistischen Herrschaft des Kapitals sowie ihren zynischen Mißbrauch zu Zwecken der steigenden Ausbeutung und imperialistischen Kriegsvorbereitung. Auf dem Hintergrund dieser Darlegungen zeichnen sich die Befreiung der Wissenschaft durch den Sozialismus und ihre unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten in einer von Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg freien sozialistischen Gesellschaft ab. Der Beitrag widerlegt die Behauptung imperialistischer Ideologen, daß sich die moderne Wissenschaft in eine dem Menschen feindliche, dämonische Kraft verwandelt habe. Mit dieser Dämonisierung der Wissenschaft und des menschlichen wissenschaftlichen Denkens soll der von den verbrecherischen Ultramilitaristen und internationalen Rüstungs- und Kriegsgewinnlern vorbereitete Atomkrieg als ein unvermeidliches, verhängnisvolles Schicksal der Menschheit gerechtfertigt, der Widerstandswille der Wissenschaftler und der Volksmassen gegen den Krieg gebrochen und eingeschläfert werden. Der Aufsatz von Gerd Irrlitz ist hierzu insofern eine wichtige Ergänzung, als er sich vor allem mit dem Einfluß der Militarisierung und Kriegsvorbereitung auf die Gesellschaftswissenschaften beschäftigt. Die bürgerliche Philosophie, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft usw. werden aufgeboten, vor den Aufmarsch der westdeutschen Streitkräfte einen dichten ideologischen Nebelvorhang zu ziehen. Längst hat das bürgerliche gesellschaftliche Denken die Ansätze zur Entwicklung einer echten Gesellschaftswissenschaft unter der Apologetik des modernen Imperialismus begraben. Die Bemühungen der offiziellen Gesellschaftswissenschaft in Westdeutschland sind nicht darauf gerichtet, die deutsche Nation mit der wissenschaftlichen Einsicht in den Gang und die allgemeinen Resultate der deutschen Geschichte auszurüsten, die Lehren aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit zu ziehen und die heutige gesellschaftliche und politische Praxis auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen, um die gesellschaftlichen Kräfte der menschlichen Kontrolle zu unterwerfen, sondern darauf, diese Kräfte im Interesse der Rechtfertigung der imperialistischen Herrschaft zu irrationalisieren und zu mystifizieren. Den Gesellschaftswissenschaften wird durch die herrschenden Kreise Westdeutschlands die Aufgabe ge9

stellt, den Antikommunismus zu systematisieren, den AbendlandMythos, die Europa-Idee usw. zu »begründen", die Überlebtheit der Nation zu «beweisen" und den deutschen Imperialismus von seinen Verbrechen der Vergangenheit «reinzuwaschen" und die Legende vom antifaschistischen Widerstand der deutschen Großbourgeoisie und der Generalität zu verbreiten, um schließlich Militarisierung und Krieg als verhängnisvolle Schicksalhaftigkeit abendländischer Entscheidung erscheinen zu lassen. Hans Schulze zeigt in seiner Abhandlung, wie die Politik der westdeutschen Wiederaufrüstung, der Remilitarisierung und des Kampfes um imperialistische Vormachtstellung in Europa die Keime wissenschaftlicher und nationaler Selbstbesinnung in der westdeutschen Geschichtswissenschaft erstickt und jeden Weg zu einer echten wissenschaftlichen Geschichtsschreibung verlegt. In dem Artikel von Heinz Pepperle schließlich werden die Gefahren deutlich, die dem wissenschaftlichen Denken aus der neuthomistischen Scholastik erwachsen. Die Unterhöhlung der Wissenschaft vom Glauben her erfolgt im Interesse der ideologischen Rechtfertigung der überlebten kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, in unserem Falle aber insbesondere, um die klerikal-militaristische Herrschaft des westdeutschen Imperialismus und Militarismus ideologisch zu stützen. Auf diese Weise verkehrt sich das humanistische Anliegen der Wissenschaft in eine antihumanistische Aussöhnung der Intelligenz und der werktätigen Massen mit dem nationalen Verrat der westdeutschen Großbourgeoisie, mit dem Revanchismus der regierenden Kreise der Bundesrepublik, mit der verbrecherischen Politik der Aufrüstung und des Atomtods. Trotz des Umstandes, daß in dem vorliegenden Sammelbändchen der Verzerrung und Enstellung der westdeutschen Wissenschaft durch Militarisierung und Kriegsvorbereitung nur sehr sporadisch nachgegangen werden kann, werden die Beiträge nicht verfehlen, die Lüge von der Freiheit der Wissenschaft in Westdeutschland zu entlarven und die Erkenntnis zu verbreiten und zu festigen, daß die imperialistische Bourgeoisie nicht nur die Naturwissenschaft mißbraucht, sondern auch zur Entwicklung einer wahren Gesellschaftswissenschaft unfähig ist. Wer der Wissenschaft und damit der Menschheit dienen will, muß gegen den Imperialismus und den Militarismus kämpfen, um die Wissenschaft aus Knechtschaft und Ent10

Stellung zu befreien. Aber erst in der sozialistischen Gesellschaft, wie sie im sozialistischen Weltsystem besieht und sich auch in der Deutschen Demokratischen Republik immer allseitiger entfeiltet, kann die Wissenschaft ihr humanistisches Wesen voll verwirklichen, verleiht sie dem Menschen eine ungeahnte Macht über die Natur, setzt sie ihn in den Stand, deren Elementargewalten zu beherrschen und zu lenken. Der Mensch wird jedoch im Sozialismus nur zum Beherrscher der Natur, weil er zum Herrn seiner eigenen Vergesellschaftung geworden ist. Nur in einer Gesellschaft, in der die Produktion im Interesse der immer vollständigeren Befriedigung der Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft und damit jedes einzelnen betrieben wird, können durch die volle Vereinigung von Wissenschaft und Produktion die Schätze und Kräfte der Natur dem Volke am wirksamsten dienstbar gemacht, neue Arten der Energie entdeckt und neue Werkstoffe geschaffen werden. In einer Gesellschaft ohne Krieg wird die Wissenschaft nicht mehr dem Tod und der Zerstörung, sondern dem Leben und dem Aufbau dienen. Auch die Gesellschaftswissenschaft, die erst durch den historischen Materialismus zu einer Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes wurde, wird im Sozialismus ihre volle Blüte erreichen und das werden, was sie sein soll: eine Führerin und Lehrerin der Menschheit, die wissenschaftliche Grundlage zur Leitung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Natur- und Gesellschaftswissenschaften werden im Sozialismus eine qualitativ neue hervorragende Rolle spielen, sie werden zu einer mächtigen gesellschaftsverändernden Kraft werden und dem Frieden, dem Wohlstand und dem Glück des Volkes dienen. Es gibt daher zur Entstellung der Wissenschaft durch Imperialismus und Militarisierung eine echte Alternative in den gewaltigen Entwicklungsperspektiven der Wissenschaft im Sozialismus. Die deutschen Wissenschaftler können sich der Entscheidung der Wissenschaft im Kampf zwischen Krieg und Frieden nicht entziehen. Wenn die westdeutsche Wissenschaft leben soll, müssen die Wissenschaftler gemeinsam mit der Arbeiterklasse und allen friedliebenden Kräften unseres Volkes - ihrer nationalen Verantwortung eingedenk - gegen den verhängnisvollen Weg des westdeutschen Imperialismus und Militarismus kämpfen. Sie stehen in diesem Kampfe nicht allein. Die Ausdehnung der amerikanischen Atomtests auf den Kosmos beweist, wie bedrohlich die Lage der Menschheit geworden ist. 11

Seit Adenauer am Ruder ist, hat er für die Aufrüstung Westdeutschlands mehr ausgegeben als Hitler für die Vorbereitung des zweiten Weltkrieges. Aber gleichzeitig hat der Weltkongreß für allgemeine Abrüstung und Frieden in Moskau gezeigt, daß nicht nur das mächtige sozialistische Weltsystem, die Gruppe der friedliebenden Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die internationale Arbeiterbewegung, die gesamtdemokratische Bewegung und die nationale Befreiungsbewegung, sondern auch die mächtige Weltfriedensbewegung, in der Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und andere Intellektuelle eine hervorragende Rolle spielen, eine gewaltige Kraft für den Frieden darstellen. In Deutschland ist der festeste Hort des Friedens die Deutsche Demokratische Republik, auf die sich alle Friedenskräfte Deutschlands im Kampf für totale Abrüstung und Frieden stützen können. Eine neutrale Haltung der Wissenschaftler zwischen den Verderbern des deutschen Volkes, den Bonner Militaristen und Kriegstreibern und den friedliebenden Kräften des deutschen Volkes ist unmöglich. Das zu zeigen und den Willen zum Kampf für Abrüstung, Friedensvertrag und friedliche Koexistenz zu stärken, ist das Anliegen dieser kleinen Schrift. Hermann Schelet

Eleana Bauer

Die Naturwissenschaft in der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden

Die gesamte Welt befindet sich im Banne der großen weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Krieges und den Kräften des Friedens und bangt angesichts der Super-Atombomben, der interkontinentalen ballistischen Raketen, der Atom-Unterseeboote und all der nuklearen Massenvernichtungsmittel um die Existenz und Zukunft der Menschheit. Allein die Tatsache, daß eine einzige der heute zahlreich vorhandenen Atombomben eine Explosivkraft von 50 bzw. 100 Millionen Tonnen TNT besitzt, während alle zur Zeit des zweiten Weltkrieges zur Anwendung gebrachten Sprengstoffe insgesamt nur 3 Millionen Tonnen TNT betrugen, zeigt, welche ungeheuren und katastrophalen Folgen die Anwendung der auf den verschiedenen Punkten der Erde gelagerten nuklearen Massenvernichtungs- und Zerstörungsmittel in einem zukünftigen Krieg haben würde. Ein Atomkrieg, darüber besteht keinerlei Zweifel, würde das Leben vieler hundert Millionen Menschen kosten und könnte bei dem derzeitigen Stand der Raketentechnik innerhalb weniger Minuten ganze Völker vernichten. Er würde die wichtigsten industriellen und kulturellen Zentren der Welt, Transportwege, einen Großteil der materiellen Güter und kulturellen Denkmäler, kurzum vieles von dem, was die Menschheit im Laufe von Jahrhunderten in mühevoller Arbeit aufgebaut hat, zerstören und in radioaktiven Schutt und Asche verwandeln. Wissenschaftler haben sogar errechnet, daß alle zur Zeit existierenden Atombomben, zur Explosion gebracht, durch die unmittelbar und später auftretenden Folgen (Verseuchung der Atmosphäre mit radioaktiven Elementen, Strahlenwirkung auf die Nachkommenschaft usw.) alles Leben auf unserem Planeten in Gefahr bringen würden. 1 1

Vgl. Pauling, Leben oder Tod im Atomzeitalter, Wien 1960. 13

Die Menschheit ist heute in der Lage, diese furchtbare Gefahr zu bannen. Sie bedarf dazu der Überzeugung, daß es möglich ist, einen Atomkrieg zu verhindern, aber auch der klaren Einsicht in die Gründe und Ursachen, die einen solchen Krieg herbeiführen könnten. Sie muß mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln um die Erhaltung des Friedens, um die totale Abrüstung und um die Verwirklichung der friedlichen Koexistenz der Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung kämpfen. Noch kennen aber, insbesondere in den kapitalistischen Ländern, viele die Hintergründe und Ursachen der die Existenz vieler Millionen Menschen bedrohenden Kriegspolitik nicht. Sie glauben dem imperialistischen Märchen von der angeblichen „kommunistischen Bedrohung" oder sehen nur die Erscheinungen an der Oberfläche der Weltpolitik und bewerten folglich die Tatsache, daß sowohl die Vereinigten Staaten von Nordamerika als auch die Sowjetunion nukleare Massenvernichtungsmittel produzieren und erproben, als gleichwertig. Sie erkennen nicht, welcher der beiden Staaten oder welches der beiden heute in der Welt einander gegenüberstehenden gesellschaftlichen Systeme eine wirkliche Friedenspolitik betreibt und in welchem auf den Atomkrieg hingearbeitet wird. In Westdeutschland und anderen kapitalistischen Staaten gibt es sogar Atomkriegsgegner, die ernsthaft der Meinung sind, daß sich der sogenannte Westen, d. h. die kapitalistischen Länder, gegen die Sowjetunion, die DDR und die anderen Staaten des Sozialismus verteidigen müßten. Andererseits gibt es nicht wenige, die aus der Tatsache, dag an der Entdeckung, Produktion und Erprobung der modernen Kernwaffen ohne Zweifel Physik, Chemie, Elektronik, Mathematik und andere Zweige der Naturwissenschaft einen hohen Anteil haben, den Schluß ziehen, daß die unzähligen Millionen Toten, die ein Atomkrieg zweifellos verursachen würde, auf das Schuldkonto der Naturwissenschaften kommen würden und daß die derzeitige Bedrohung der Menschheit, wie sie das fieberhafte Wettrüsten unweigerlich mit sich bringt, aus dem angeblich dämonischen Charakter der modernen Naturwissenschaft herrühre. Alle diese und ähnliche Auffassungen entsprechen nicht den Tatsachen, verdunkeln den Blick für die wahren Ursachen der gegen14

wärtigen Spannungen, Konflikte und Gefahren in der Welt und verhindern vor allem eine richtige Einstellung und Entscheidung zu den gegenwärtigen Grundproblemen der Menschheit: alles vernichtender Atomkrieg oder friedliche Koexistenz.

Bedroht die Wissenschaft die Menschheit? Eine Reihe westlicher Ideologen, Journalisten und Naturwissenschaftler, darunter auch solche, die über die Zukunft der Menschheit ehrlich besorgt sind, ziehen - wie beispielsweise der amerikanische Soziologe B. Barber 2 , das französische Akademiemitglied L. Marlio®, der englische Biologe Ch. Darwin 4 , Sohn des berühmten Verfassers der „Entstehung der Arten", und der westdeutsche Zoologe A. Portmann 5 - aus der Tatsache, daß die Atombomben und andere moderne Massenvernichtungsmittel Ergebnis von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sind, die falsche Schlußfolgerung, daß die Verantwortung und die Schuld für die große Gefahr, die der Menschheit durch einen neuen Krieg droht, der Naturwissenschaft und ihren Resultaten zuzuschreiben sei. Sehr deutlich brachte diese Meinung der Theologe André George in seinem Referat auf der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen am 10.12.1958 zum Ausdruck, als er sagte: „Die Wissenschaft ist die Ursache der Zerstörungen und bedroht das Menschengeschlecht und den gesamten Planeten;... die Wissenschaft selbst scheint in einer totalen Barbarei zu enden." ® Die Auffassung von der Wissenschaft als einer supersozialen Kraft, als einer dämonischen Erscheinung, die sich angeblich nach uns unbekannten Gesetzen und Prinzipien oder überhaupt ohne jegliche Gesetze entwickelt, vertritt auch der Leiter des Münchener Max-Plank-Instituts für Physik und Astrophysik, Prof. Dr. Werner 2 3 4 5

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B. Barber: „Science and the Social-Order" Glencoe, Illionois, 1952. L. Marli o, Le cercle infernal, Paris 1951. Ch. Darwin, The Next Million Years, London 1952. A. Portmann, Biologische Perspektiven, in: Wo stehen wir heute, Gütersloh 1960. A. George, Der Humanismus und die Krise der Welt von heute, Köln u. Opladen 1958, S. 10.

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Heisenberg, der in einem im April 1961 veröffentlichten Artikel schreibt: Der Prozeß der technischen Zivilisation hat „die Lebensbedingungen auf der Erde von Grund auf verändert; und ob man ihn billigt oder nicht, ob man ihn Fortschritt oder Gefahr nennt, man muß sich darüber klar werden, daß er längst einer Kontrolle durch menschliche Kräfte entwachsen ist." 7 Diese Ansichten von einem angeblich antihumanen und antisozialen Charakter der modernen Wissenschaft werden in den kapitalistischen Ländern nicht nur von Ideologen und Wissenschaftlern vertreten, sondern auf die vielfältigste Art und Weise über Romane, utopische Erzählungen und phantastische Filme auch in breite Kreise der Volksmassen hineingetragen.8 In der Tat, während des zweiten Weltkrieges und insbesondere in den Nachkriegsjahren ist vor allem infolge der Ausnutzung der Atomenergie für Kriegszwecke die Rolle der Wissenschaft in der Kriegsführung so gewaltig gewachsen,9 daß heute das Wissenschaftspotential eines Staates zu einem der bestimmenden Faktoren im Militärwesen und in der Kriegsführung geworden ist. Waren es früher nur einige, wenn auch wichtige Zweige der Wissenschaft, die in den Dienst der Kriegstechnik gestellt wurden, so bemächtigte sich der moderne Militarismus fast aller Wissenschaftszweige, der Mathematik, Physik, Chemie, Geologie und Medizin ebenso wie der Psychologie, Philosophie, Ökonomie und der Geschichtswissenschaft, um imperialistische Kriege vorzubereiten und zu führen. Diese neue Rolle der Wissenschaft für die Kriegführung ergibt sich nicht allein auf Grund ihrer Bedeutung für die Waffenproduktion, sondern auch auf Grund ihres Anteils an der Ausarbeitung strategischer Pläne sowie der Koordinierung und Planung von Kriegsoperationen u. ä. m. 7

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n

W. Heisenberg, Die Rolle der modernen Physik in der gegenwärtigen Entwicklung des menschlichen Denkens, in: Universitas, Heft 4, April 1961, S. 365. So wurde z. B. in der weitverbreiteten wissenschaftlich-phantastischen Zeitschrift „Astounding Science Fiction" eine Erzählung »Brenne, Zauberer, brenne!" veröffentlicht, in der mit außergewöhnlicher Dramatik die Verprügelung der Gelehrten, die Zerstörung der Universitäten, die Bücherverbrennung als notwendige Voraussetzung für die Organisation des Lebens auf der Erde beschrieben wird. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts übten die Ergebnisse der Naturwissen schaft kaum einen direkten unmittelbaren Einfluß auf die Kriegsführung aus.

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All das erfordert heutzutage die Anwendung der Errungenschaften der Wissenschaft von der Waffentechnik bis zur militärischen Planung mit Hilfe von Elektronengehirnen. Dennoch ist die Schlugfolgerung falsch, dag die Entwicklung und die Resultate der Wissenschaft an der tödlichen Gefahr schuld seien, die ein zukünftiger Krieg für die Menschheit in sich birgt. Es entspricht dies weder den historischen Tatsachen noch den Gegebenheiten unserer Zeit. Nicht die Wissenschaft bedroht - wie es viele bürgerliche Ideologen behaupten - den Frieden und das Leben der menschlichen Gesellschaft, sondern die militaristischen und imperialistischen Kräfte der kapitalistischen Staaten bedrohen ebenso wie die friedliche Existenz der Menschheit überhaupt auch die Entfaltung der modernen Wissenschaft im Interesse des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts. Lägt sich ein größerer Gegensatz denken als der zwischen friedlicher Wissenschaft und imperialistischem Krieg? Stehen sich das Werk des Forschers und das Handwerk des Militaristen nicht gegenüber wie Leben und Tod? Es ist wahr, die Wissenschaften sind in den vier Jahrhunderten ihrer modernen Geschichte trotz ihrer hohen Bestimmung, „die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern" (Brecht), immer wieder zum Zwecke des organisierten Mordens migbraucht worden. Aber die gleiche kybernetische Maschine kann bekanntlich sowohl friedliche Raketen zur Erforschung des Weltraumes steuern als auch Raketen mit todbringenden und alleszerstörenden Atombomben. Die Gefahr, in der sich die Menschheit heute befindet, ergibt sich nicht aus der Entwicklung der Wissenschaft, sondern aus den inneren Widersprüchen einer Gesellschaftsordnung, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht, aus den sich immer mehr verschärfenden Widersprüchen des Imperialismus. Die theoretische Grundlage der modernen Kernphysik entstand vor knapp einem halben Jahrhundert, der Krieg als gesellschaftliches Phänomen dagegen existierte bereits zu einer Zeit, als sich die Naturwissenschaft noch in ihren allerersten Anfängen befand, d. h. seit mehreren Jahrtausenden. Augerdem ist es eine unbestreitbare Tatsache, dag die gleichen Zweige der Naturwissenschaften, die mit ihren theoretischen Erkenntnissen den Ausganspunkt zur Produktion von A-B-C-Massenvernichtungsmitteln darstellen, der Menschheit in den letzten Jahr2

Scheler, D i e Wissenschaft

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zehnten mit ihren Forschungsergebnissen grandiose, selbst von den kühnsten Utopisten und genialsten Träumern nicht einmal erahnte Perspektiven zur Schaffung einer unbegrenzten Menge von Gütern zur allseitigen Befriedigung aller materiellen und kulturellen Bedürfnisse sämtlicher Völker, Rassen und Nationen eröffneten. Die wahrhaft faszinierenden und umwälzenden Resultate der Entwicklung der Naturwissenschaften in den letzten zwanzig, dreißig Jahren haben durch eine Reihe neuentdeckter Gesetzmäßigkeiten der Natur den Menschen unbegrenzte Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktion in die Hand gegeben. Durch die Erforschung des Atoms wurde die Ausnutzung der in ihm enthaltenen, bis dahin siebenmal verschlossenen und versiegelten ungeheuren Energie möglich; durch die Sputniks und die kosmischen Raumschiffe als den ersten Abgesandten der Erde in den Kosmos wurde der Weg der Menschheit in die Weiten und die Unendlichkeit des Weltalls gebahnt; infolge der Enthüllung vieler Geheimnisse der lebenden Materie ist die Zeit nicht mehr fern, wo der Mensch die Entwicklung vieler Lebensprozesse regulieren und in die Richtung lenken kann, die für ihn, sein Leben und Glück am vorteilhaftesten ist. Die Naturwissenschaft hat sich heute längst nicht nur in der Produktion, die in unserer Epoche ohne Automatik und Telemechanik, ohne Radioelektronik und Biochemie, ohne Kybernetik und Radiophysik völlig undenkbar wäre, ihren festen Platz erobert, sondern auch in der allgemeinen Verwaltung, im staatlichen Administrationsapperat und anderen Institutionen, wo mit Hilfe von Elektronenrechenmaschinen heute bereits viele Berechnungen, Operationen usw. durchgeführt, geplant, geleitet und kontrolliert werden. Im letzten Jahrzehnt hörte man häufig den Vorschlag, die Entwicklung der Naturwissenschaft oder wenigstens derjenigen Zweige, die der Menschheit Unglück bringen könnten, aufzuhalten. Selbst solch ein bedeutender Gelehrter wie der Mitunterzeichner der Deklaration der Göttinger Achtzehn, Max Born, zweifelt an der Berechtigung der Kernforschung, weil er in ihr die Verkörperung von Militärinteressen sieht. In seiner Broschüre „Physik und Politik" schlägt er vor, vorläufig von den Forschungen auf dem Gebiet der Kernphysik abzusehen. 10 Ähnlich der bekannte Publizist Robert 10

M. Born, Physik und Politik, Göttingen 1960.

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Jungk, der in seinem Buch „Die Zukunft hat schon begonnen" gegen die Forschungen auf dem Gebiet der Raumforschung auftritt und dies damit begründet, daß es für den Menschen besser sei, anstatt über den Flug auf einen anderen Planeten nachzudenken, auf dem eigenen Planeten Ordnung zu schaffen. 11 So berechtigt Jungks Forderung ist, auf dem eigenen Planeten Ordnung zu schaffen, so unreal und unberechtigt ist andererseits sein Aufruf, die Entwicklung der Wissenschaft abzubremsen. Die wachsende Erkenntnis, das Vordringen des Menschen in die Zusammenhänge und Gesetze der Natur aufhalten zu wollen, ist keine Lösung und kann auch keine Lösung der Probleme bringen, sondern sie gegebenenfalls nur verschärfen. Der Versuch, den wissenschaftlichen Fortschritt bewußt aufzuhalten, ist eine unwiderruflich zum Scheitern verurteilte menschenfeindliche Utopie. Es ist hier mit der Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Fortschritt ähnlich wie mit der Gesellschaft und dem gesellschaftlichen Fortschritt. Beide entwickeln sich im ständigen Vorwärtsschreiten vom Niederen zum Höheren. Der gesellschaftliche Fortschritt - z. B. der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus - kann durch bestimmte Maßnahmen, wie reaktionäre Politik, Terror usw., zwar eine gewisse Zeit gebremst, aber nicht aufgehalten werden. Letzten Endes setzt er sich trotz entgegenwirkenden Maßnahmen und Faktoren durch, denn die Geschichte der Gesellschaft wie der Wissenschaft entwickelt sich auf der Grundlage der objektiven Gesetzmäßigkeiten und schreitet zu immer neuen, höheren wissenschaftlichen Erkenntnissen, zu neuen, höheren Formen der gesellschaftlichen Organisation fort. Fügt man all dem noch hinzu, daß in allen Zeiten der Menschheitsgeschichte nicht) die Wissenschaft und die Wissenschaftler, sondern stets die Politik und Politiker der jeweils herrschenden Klassen über Krieg und Frieden entschieden, daß Kriege nicht von den Wissenschaftlern, sondern von den Regierungen und Staatsmännern erklärt werden, und die Armeen nicht von Physikern, Biologen und anderen Naturwissenschaftlern, sondern von den Militärs befehligt werden, so ist ganz offensichtlich, daß die gegenwärtig die Menschheit bedrohenden Gefahren nicht von der Wissenschaft, sondern von anderen gesellschaftlichen Kräften herrühren. 11

2*

R. Jungk, Die Zukunft hat schon begonnen, Stuttgart 1957, S. 314 f.

19

Die Frage, die es daher im Kampf um den Frieden zu entscheiden gilt, ist: Wer sind diese Kräfte, die den imperialistischen Krieg hervorrufen, und woran liegt es, daß viele ideologische Vertreter der bürgerlichen Welt nicht in ihnen, sondern in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft die Quelle des Übels und des Unglücks sehen? Im Prinzip sind die obengenannten falschen Ansichten bürgerlicher Wissenschaftler, so unterschiedlich ihre "Beweggründe und die individuelle Haltung der einzelnen Autoren auch sein mögen, auf ein Nichtbegreifen der Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge der gesellschaftlichen Entwicklung und eine sich logisch daraus ergebende unrichtige Auffassung von der Rolle und dem Platz der Naturwissenschaft in der Geschichte zurückzuführen, was sowohl soziale als auch gnoseologische Ursachen hat. 12 Unter den Bedingungen des Kapitalismus gerät die Wissenschaft in einen unversöhnlichen Widerspruch zum privatkapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln. Die Kapitalisten verfügen über die Resultate der Wissenschaft und benützen diese zur Vergrößerung ihres Profits. Sie sind überhaupt an der Entwicklung und Anwendung der Wissenschaft in der Produktion nur dann interessiert, wenn dies für sie von Nutzen ist, d. h. Profit bringt. Die Wissenschaft ist im Kapitalismus vom Volke getrennt. Die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion vertieft unter den Bedingungen der Existenz des Privateigentums häufig die Ausbeutung der Arbeiter und aller Werktätigen. Sie führt zur Erhöhung der Arbeitsintensität, zur Herausbildung der industriellen Reservearmee der Arbeitslosen. Im Kapitalismus steht daher die Wissenschaft überall dort, wo sie im Arbeitsprozeß angewandt wird, dem Werktätigen als eine feindliche Kraft des Kapitals gegenüber. 13 12

13

Von den falschen Auffassungen, die um politischer Ziele willen ganz bewußt vertreten und verbreitet werden, um die eigentlichen Ziele zu verbergen und die Völker zu betrügen, wird hier abgesehen. Darauf wies K. Marx, die Worte W. Thompsons - eines bedeutenden wissenschaftlichen Vertreters des Owenschen Kommunismus - zitierend, bereits im »Kapital" hin: „ . . . die Wissenschaft, statt in der Hand des Arbeiters seine eigenen Produktivkräfte für ihn selbst zu vermehren, hat sich fast überall ihm gegenübergestellt... Kenntnis wird ein Instrument, fähig von der Arbeit getrennt und ihr entgegengesetzt zu werden" (K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1957, S. 379).

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Dieser Gegensatz zwischen der kapitalistischen Ausnutzung der Wissenschaft und dem Interesse der Werktätigen an ihrer Verwendung für friedliche Zwecke hat im Imperialismus durch den direkten Einsatz der Wissenschaft für die Schaffung von Massenvernichtungsmitteln im Interesse aggressiver Ziele seine größte Zuspitzung erfahren. Die obengenannten Soziologen, Journalisten und Wissenschaftler verstehen infolge ihrer Klassenbeschränktheit das Wesen dieses Gegensatzes nicht. Das, was für die kapitalistische Gesellschaft charakteristisch ist, dehnen sie schlechthin auf die ganze Gesellschaft aus. In Wirklichkeit ist aber das, was den Werktätigen gegenübersteht, nicht die Wissenschaft an sich, sondern das Kapital und die kapitalistische Ausnutzung der Wissenschaft. Im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise kann der Mensch die antihumanen Folgen .der Ausnutzung der Wissenschaft nicht voll beseitigen, er kann sie jedoch eindämmen, da es ein sozialistisches Lager gibt, das den Kampf der antiimperialistischen Kräfte gegen den Mißbrauch der Wissenschaft wirksam unterstützt. Er kann ihnen entgegenwirken, indem er durch den Kampf um den Frieden, für die Ausschaltung des Krieges aus dem Leben der Gesellschaft die imperialistischen herrschenden Kreise zwingt, die aggressive Politik der Kriegsvorbereitung abzubauen. Aber die antihumanen Folgen der Anwendung der Wissenschaft in der Produktion bleiben unter den Bedingungen der Existenz des privatkapitalistischen Eigentums bestehen. Nur in der sozialistischen Gesellschaft, wo das privatkapitalistische und monopolkapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum verwandelt wird, hört die Trennung und der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Arbeit auf. Damit verschwinden auch die sozialökonomischen Wurzeln der Auffassungen von der Wissenschaft als einer die Menschheit bedrohenden Kraft. In den Händen der Werktätigen ist die Wissenschaft im Gegenteil eine schöpferische Kraft im Dienste des Wohles der Menschen. Neben sozialen Wurzeln haben diese unrichtigen Auffassungen von der Rolle und dem Platz der Naturwissenschaft in der Gesellschaft auch gnoseologische Wurzeln. Die theoretische, gnoseologische Wurzel liegt in der Überbewertung bzw. Verabsolutierung der relativen Selbständigkeit der Entwicklung der Wissenschaft, in ihrer meta21

physischen Trennung vom System der sozialökonomischen Beziehungen. Die Wissenschaft als Produkt des menschlichen Denkens ist eine gesellschaftliche Erscheinung, sie existiert und entwickelt sich nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Menschen und ihrer materiellen und geistigen Tätigkeit in der Produktion der verschiedensten zum Leben der Gesellschaft notwendigen Güter und Bedingungen. Aber selbstverständlich kann eine solche, im Prinzip richtige allgemeine Feststellung nicht die ganze Dynamik der Entwicklung einer solchen komplizierten gesellschaftlichen Erscheinung, wie es die Naturwissenschaft ist, erklären. Ihre Entwicklung wird auch von einer Reihe anderer Faktoren, vor allem von den Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins (Politik, Moral, Religion, Philosophie usw.) beeinflußt. Mehr noch, die Naturwissenschaft hat, wie auch die anderen Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins, in ihrer Entwicklung gegenüber der Produktion eine gewisse relative Selbständigkeit, eine eigene innere Logik; und indem sie sich dieser Logik unterwirft, macht sie manchmal Entdeckungen, die im gegebenen Moment keine unmittelbaren Verbindungen zur Produktion haben und demzufolge, wie es scheint, völlig „unerwartet" und „plötzlich" auftreten. Diese Tatsache wird u. a. sehr anschaulich durch das Beispiel der Einsteinschen Relativitätstheorie belegt. Die damals durchgeführten Versuche über die Bewegung materieller Körper und elektromagnetischer Felder zeigten, daß es eine Reihe von Rätseln gibt, die mit Hilfe der alten Newtonschen klassischen Physik nicht erklärt werden konnten. Die Theorie Einsteins war die Lösung dieser Rätsel. Weder Einstein noch seine Zeitgenossen sahen damals eine praktische Nutzanwendung der neuen Theorie. Sie betrachteten ihre Gleichungen als reines Gedankenspiel, die keine Anwendung in der Praxis finden werden. Nach einigen Jahrzehnten erwies sich jedoch die Einsteinsche Theorie als Kern der neuen Epoche der Kernphysik und Raumforschung. Die Grundlagenforschung kennt mehrere analoge Beispiele. Aus dieser relativen Selbständigkeit zieht das bürgerliche Bewußtsein die Schlußfolgerung, daß sich die Wissenschaft aus sich heraus entwickelt, in keinerlei Beziehung zu den Bedürfnissen der Menschen stehe oder sogar unabhängig vom und gegen den menschlichen Willen wirke. Das ist jedoch ein Irrtum. Die Naturwissenschaft als gesellschaft22

liehe Erscheinung ist ein Produkt der allgemeinen historischen Entwicklung der Menschheit. Sie entwickelt sich auch nicht spontan, sondern in enger Verbindung mit der menschlichen Praxis, und ist in erster Linie ein Resultat der Bedürfnisse der Produktionspraxis der Menschheit. Die Produktion spielt bei der Entwicklung der Wissenschaft eine entscheidende Rolle, vor allem deshalb, weil sie der Naturwissenschaft die Aufgaben stellt, die einer Lösung bedürfen und damit die Entstehung bestimmter wissenschaftlicher Theorien notwendig machen. Diese Grundwahrheit von der entscheidenden Rolle der Produktion - schon in der Antike waren Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft durch die Produktion bedingt - lägt sich an Hand der Entwicklung der einzelnen Wissenschaftszweige genau nachweisen. Das beweist überzeugend z. B. die Kybernetik, die als eine der jüngsten Naturwissenschaften aus der Notwendigkeit zu automatisieren, zu steuern und zu leiten entstanden ist - d. h. aus Bedürfnissen der Produktion. Im übrigen zeugen unzählige Tatsachen davon, dag früher oder später alle Erfindungen, auch die, die der Entwicklung der Produktion ursprünglich weit vorausgeeilt und zunächst bis zu einem gewissen Grade aus der inneren logischen Entwicklung der Wissenschaft hervorgegangen sind, in der Produktion ihre Anwendung finden.14 Heisenberg geht in der Überbewertung der Rolle der modernen Naturwissenschaft, besonders der Kernphysik, sogar so weit, dag er behauptet, „die Erfindung der neuen Waffen, insbesondere der thermonuklearen Waffen, hat offensichtlich die politische Struktur der Welt von Grund auf verändert". 15 Gewig ist die Naturwissenschaft, die den Ausgangspunkt zur Produktion dieser modernen Waffen bildet, heute eine starke Kraft, die fest in den Sphären der praktischen Tätigkeit der Menschen verankert ist und auch alle Sphären des menschlichen Denkens durchdringt. Wie nie zuvor in der jahrtausendealten Geschichte der Menschheit spielt sie heute eine große aktive Rolle in der Entwicklung der Gesellschaft und 11

15

Wir stellen uns hier nicht die Aufgabe, die Rolle der Produktion bei der Entwicklung der Wissenschaften zu analysieren. W. Heisenberg, Die Rolle der modernen Physik . . . . in: a. a. O., S. 366. 23

kann, richtig angewandt, für die Lösung der brennenden Probleme der Menschheit von entscheidender Bedeutung sein. Aber daraus, wie Heisenberg es tut, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß sie die politische Struktur der Welt von Grund auf verändert hat, ist falsch. Eine solche Behauptung widerspricht sowohl den gegenwärtigen Tatsachen in der Welt als auch sämtlichen geschichtlichen Erfahrungen. Bekanntlich war und ist die Wissenschaft zu allen Zeiten vom Stand der allgemeinhistorischen Entwicklung abhängig. Sie existiert und entwickelt sich immer unter bestimmten konkreten historischen Bedingungen, im Rahmen bestimmter sozialökonomischer Verhältnisse und gesellschaftlicher Formationen. Das aber, was den Stand und die Entwicklung dieser Bedingungen, was die jeweilige gesellschaftliche Formation in erster Linie bestimmt, sind nicht die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung oder die Waffen, über die eine Gesellschaft verfügt, sondern die materiellen Bedingungen dieser Gesellschaft, die Produktionsverhältnisse, die ökonomische Struktur. Wieviele grundlegende wissenschaftliche Entdeckungen in der Physik, Chemie und in anderen Zweigen wurden in den letzten 100 bis 150 Jahren allein in den Ländern USA, England und Frankreich gemacht, wieviele neue Waffen wurden in dieser Zeit entwickelt - und doch haben sich diese Länder in ihrer grundlegenden politischen Struktur kaum und in ihrer sozialen überhaupt nicht geändert. Sie sind heute, wenn auch in einem anderen Entwicklungsstadium, genau wie vor 100 bzw. 150 Jahren kapitalistisch. Die Naturwissenschaften können, insbesondere durch die Einführung ihrer Resultate in die Produktion, die Entwicklung der Produktivkräfte und durch sie den Gang des gesellschaftlichen Lebens in hervorragender Weise beeinflussen. Aber wie stürmisch sich auch die Naturwissenschaften entwickeln, wie groß die wissenschaftlichen Entdeckungen auch sein mögen, die Naturwissenschaft und die Erfindung neuer Waffen können direkt weder die „politische Struktur der Welt" verändern noch die Politik bestimmen. Die Anwendung von Waffengewalt zwischen den Staaten ist immer die Fortsetzung der Politik der herrschenden Klassen dieser Staaten mit anderen Mitteln. Die Politik dieser Klassen aber wird grundlegend durch die ökonomische Struktur, durch die Produktionsverhältnisse dieser Staaten bestimmt. Die Naturwissenschaften als 24

Produktivkraft, die Erfindung neuer, z. B. thermonuklearer Vernichtungswaffen beeinflußt die Politik eines Staates immer nur auf dem Wege über die jeweiligen Produktionsverhältnisse. Natürlich kann die Erfindung neuer Waffen der herrschenden Klasse eines Staates neue gewaltige Mittel zur Durchsetzung ihrer Politik in die Hand geben, der Inhalt dieser Politik aber wird durch die Waffen nicht bestimmt. Auch das politische Kräfteverhältnis in der Welt wird nicht in erster Linie von der Erfindung neuer Waffen bestimmt, sondern umgekehrt, die Erfindung und Produktion neuer Waffen ist vor allem vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der entsprechenden Produktionsverhältnisse abhängig. Neben vielen anderen Faktoren wird das politische Kräfteverhältnis in der Welt von der ökonomischen Entwicklung des sozialistischen auf der einen und des kapitalistischen Weltsystems auf der anderen Seite grundlegend bestimmt. Die militärische Bedeutung neuer Waffen hängt daher vor allem von der gegebenen Gesellschaftstruktur ab. Die Gesellschaftsstruktur bestimmt nicht nur, für welche Ziele und Zwecke eine neue Waffe gebraucht werden soll, sie setzt ihrer militärischen Bedeutung auch die Grenzen der Wirksamkeit. So besiegte z. B. die Rote Armee in den Jahren des Kampfes gegen die militärische Intervention des kapitalistischen Auslandes und gegen die innere Konterrevolution ohne Einführung neuer technischer Kampfmittel einen waffentechnisch weit überlegenen Gegner. Nicht die Waffenproduktion bestimmt die Politik, sondern die Politik bestimmt die Waffenproduktion. Beide aber wurzeln sie in den ökonomischen Verhältnissen eines Landes, in den ökonomischen Interessen seiner herrschenden Klasse. Durch diese Verhältnisse und Interessen werden sowohl die Entwicklung der Wissenschaft als auch die Ausnutzung ihrer einzelnen Resultate im Interesse des Krieges oder des Friedens bestimmt. Unsere Zeit, die Epoche des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus, ist dafür der beste Beweis. In dem neuen aufstrebenden System des Sozialismus, das entsprechend dem Wesen seiner Gesellschaftsordnung der Hauptexponent und konsequenteste Verfechter des Friedens in der Welt ist, entwickelt sich die Wissenschaft, großzügig gefördert und gelenkt von den Regierungen der Arbeiter-und-Bauern-Staaten, zum Wohle 25

des Menschen, im Dienste des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts. Im alten absterbenden System des Kapitalismus dagegen, dessen Ausbeuterordnung gegenwärtig die einzige Quelle der Kriegsgefahr ist, wird die Entwicklung der Wissenschaft von den-Profitinteressen und der Politik der herrschenden reaktionären Kreise des Monopolkapitals bestimmt. Sie kann sich deshalb nur in den Zweigen und in Richtungen entfalten, die der Politik und den Interessen der Imperialisten dienen.

D i e Naturwissenschaft im Dienste der Militarisierung als charakteristisches Merkmal der Entwicklung der Naturwissenschaft im Imperialismus Die Ausnutzung der Naturwissenschaft zur Kriegsvorbereitung und im Kriege ist keine neue Erscheinung. Schon im Altertum dienten bestimmte wissenschaftliche Erfindungen zur Herstellung von Waffen. Da aber die Wissenschaft selbst damals erst in den Anfängen steckte, war auch ihre Rolle bei der Kriegsvorbereitung und Kriegführung unbedeutend. Das änderte sich erst im Kapitalismus, wo mit der wachsenden Rolle der Wissenschaft in der Produktion auch deren Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung von Kriegen ständig wuchs. Jedoch besteht zwischen der Ausnutzung der Wissenschaft zu Kriegszwecken in der Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Stellung in den modernen militaristisch-imperialistischen Staaten ein grundlegender, nicht nur quantitativer Unterschied. Heute wird unter der für alle imperialistischen Länder charakteristischen staatsmonopolistischen Entwicklung die Wissenschaft genauso wie die Ökonomie, Politik, Ideologie und das öffentliche und gesellschaftliche Leben direkt der Militarisierung untergeordnet. So zeigt sich der Einfluß des Militarismus auf die Wissenschaft nicht nur in der Ausnutzung ihrer Ergebnisse für Kriegszwecke, sondern große militärische Zweckforschungen verfälschen den Entwicklungsweg vieler Forschungseinrichtungen, und schließlich verbiegt der Militarismus die Bewegungsrichtung ganzer Wissenszweige und schafft sich in ihnen ein Monopol. 200000 amerikanische Wissen26

schaftler arbeiten unmittelbar im Dienste der Kriegsvorbereitung. In dieser Zahl sind die Inhaber von Lehrstühlen für systematischen Antikommunismus, die Professoren der Rechts-, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften nicht einbegriffen. 16 Die Wissenschaft geht mehr und mehr in die Hände des historisch zum Absterben verurteilten reaktionären, imperialistischen Staates über, der den größten Teil der wissenschaftlichen Forschungen organisiert, finanziert, leitet und kontrolliert. Der staatsmonopolistische Kapitalismus, der, wie der Imperialismus überhaupt, durch die Militarisierung des gesamten öffentlichen Lebens charakterisiert wird, tritt heuchlerisch als Gönner und Förderer der Wissenschaft und der Wissenschaftler auf. Sowohl der Staat als auch die Industriekreise erhöhen ständig die Fonds für die wissenschaftliche Forschung. Das Anwachsen der Assignation für die Wissenschaft in den USA kann man an der folgenden Tabelle verfolgen: Ausgaben iür wissenschaftliche Forschung (in Millionen Dollar)

Quelle der Finanzierung Regierung Industrie Universität

1941 Summe

1958 Prozent

370 510 20

41 57 2

Summe

Prozent

4430 5600 200

43 55 2

Die 510 bzw. 5600 Mill. Dollar, die nach diesen Angaben die Industrie für die wissenschaftliche Forschung gab, sind jedoch übertrieben, denn diese Summen enthalten auch die Mittel, die zur Verbesserung der Industrietechnik und zur Modernisierung der Fließbänder ausgegeben wurden. 17 Die Finanzierung der Wissenschaft von Seiten des Staates wirkt sich für die Monopole sehr vorteilhaft aus. Die Regierung bezahlt aus dem Staatshaushalt, dessen Mittel zum größten Teil durch die Steuern der Werktätigen 19

17

Vgl. Hubert Schardin, Naturwissenschaft und Wehrforschung in gegenseitiger Beeinflussung, Bonn 1957. Nach .Statistical Abstract of the United Staates 1960" Washington 1960, S. 538.

27

aufgebracht werden, die wissenschaftlichen Forschungen, und bei Einführung neuer Entdeckungen in die Produktion erhalten die Monopole den Profit. So z. B, finanzierte die USA-Regierung im Jahre 1957 4 6 % der gesamten wissenschaftlichen Forschung. Aber nur 17 % aller Fonds wurden in Institutionen ausgegeben, die sich unter der Kontrolle der Regierung befinden. Dagegen wurden, obwohl die Industrie nur 5 2 % der wissenschaftlichen Forschungen finanzierte, in den Laboratorien der Monopole 76 % des Gesamtfonds verbraucht. 1 8 Der Löwenanteil der Assignation für die wissenschaftliche Forschung kommt den Forschungsinstituten zugute, die von Interesse für die Kriegführung sind. Die Zeitung New York Times vom 23. Januar 1961 veröffentlichte folgendes Diagramm: Ausgäben für die Forschung und Entwicklung iür 1962 (voraussichtlich) 15,5 Milliarden Dollar VonJndustrie und Kulturinstitutionei

Von Bundesregierung für militärische Zwecke

Von Bundesregieru, für sonstige Zweck

Die hohen Staatsausgaben für die Forschung betreffen hauptsächlich die Rüstung. 80 % der Staatsausgaben für die Wissenschaft sind für Kriegszwecke bestimmt. Noch niemals wurden die Forschungen zu Kriegszwecken so intensiv betrieben. 1 9 Mit dem Amtsantritt Kennedys wurde die Kriegsmaschine noch verstärkt und die Rüstungsausgaben dementsprechend forciert. Auch an der Stellung der Wissenschaft hat sich nichts geändert. In der 18 19

Ebenda. Nach „Atomzeitalter", Nr. 2/1961, S. 45.

28

Stellungnahme zum Budget der Vereinigten Staaten vor dem Kongreß am 24. 3. 61 unterstreicht Kennedy, daß seine Regierung die Ausgaben für die Wissenschaft erhöhen wird. 20 Aber wie selbst der Präsident sagt, sollen diese Mehrausgaben vor allem den Disziplinen zugute kommen, an denen das Pentagon interessiert ist. Es ist vorgesehen, die Ausgaben für solche wissenschaftlichen Forschungen zu erhöhen wie: Ozeanographie,Hochfrequenzphysik,Umwandlung von Salz- und Brackwasser u. a. Zusätzliche Fonds wurden der Luft- und Raumforschung zur Verfügung gestellt (85 Mill. Dollar). In Westdeutschland bietet sich uns ein etwas anderes Bild dar. Obwohl in den letzten zehn Jahren Westdeutschland für Kriegsziele ungefähr dieselbe Summe ausgab, die Hitler von 1933 bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges brauchte, nahm die Militarisierung der Wirtschaft in Westdeutschland nicht solche Ausmaße an wie in den USA, in England und Frankreich. Dies alles erleichterte die wirtschaftliche Reorganisation auf der Grundlage der modernsten Technik und förderte die Umwandlung Westdeutschlands in einen erstrangigen, gefährlichen wirtschaftlichen Konkurrenten Englands, Frankreichs und sogar der USA. Für den westdeutschen Staat sind kaum zusammenfassende Daten über den Stand der Kriegsproduktion und der „Wehrforschung" vorhanden, da sich der deutsche Imperialismus noch zu vielerlei Tarnungen gezwungen sieht. So kaufte z. B. Kriegsminister Strauß einen großen Teil des Kriegsmaterials im Ausland, statt es bei westdeutschen Monopolen in Auftrag zu geben (1957 z. B. 3,2 Milliarden Inlandaufträge gegenüber 5,4 Milliarden DM Auslandsaufträge). Bereits 1957 hatte die Abteilung „Wehrtechnik, Forschung und Entwicklung" im Strauß-Ministerium 83 Forschungsverträge und 329 Entwicklungsverträge abgeschlossen. Damals betrug der Posten für „wehrtechnische Forschung, Entwicklung und Erprobung" im Haushalt dieses Ministeriums 162,8 Millionen DM. Obwohl die Finanzierung für die Wissenschaft - besonders einige ihrer Disziplinen - bei weitem nicht zufriedenstellend muß man bemerken, daß sie im ganzen bedeutend gewachsen So gaben Bund, Länder und Gemeinden von 1948/49 bis 1959 für 20

für ist, ist. die

Nach „Europa Archiv", Folge 8 . - 2 5 . April 1961, D. 248. Quelle: The Budget of the United States Government for the Fiscal Year June 30, 1962 u. S. Government Pinting Office, Washington 1961.

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Wissenschaft 8700 Millionen DM aus (davon gaben die Länder 6592 Mill., der Bund 1873 Mill., die gewerbliche Wirtschaft 379 Mill.) 2 1 Der Hauptanteil dieser Mittel wurde in den letzten 5 - 6 Jahren ausgegeben, also gerade in der Zeit, als einige Beschränkungen der Forschung für Kriegszwecke aufgehoben wurden. So z. B. hat sich der Beitrag der Bundesländer für Wissenschaft und Forschung in vier Jahren fast verdoppelt. Er betrug 1956 - 643 Mill. DM, 1960 - 1200 Mill. DM. 2 2 Der größte Teil der Ausgaben für Wissenschaft und Forschung dient der militärischen Forschung (einschließlich der Kernforschung). Im Bonner Bundeshaushalt sind für rüstungstechnische Forschung und Entwicklung 350 Mill. DM vorgesehen. 23 In kurzer Zeit wurden viele Institute geschaffen, die sich mit Kriegsforschung befassen. Es wurden Maßnnahmen getroffen, um den Rückstand Westdeutschlands auf dem Gebiete der Kernphysik im Vergleich zu anderen kapitalistischen Ländern aufzuholen. Rund ein Viertel des Betrages, den der Bund zwischen 1956 und 1961 für Forschung und Entwicklungsarbeiten aufgewendet hat, entfielen auf diesen Forschungsbereich. Es wird natürlich nicht offen zugegeben, daß dies Kriegszwecken dient. Es wäre naiv zu glauben, daß die westdeutschen Militaristen, die bestrebt sind, die Verfügungsgewalt über Atombomben zu erhalten, die Atomindustrie nur für friedliche Zwecke entwickeln. Dies kommt offen in der Erklärung des ehemaligen Bundesministers für Atomenergie S. Balke zum Ausdruck: „Unsere Leistungsfähigkeit für übergeordnete Aufgaben, die uns aus der politischen Situation gestellt werden, beruht auf der Bewahrung der Grundsätze, die unsere Wissenschaft und Lehre auf ihrem Weg durch die Jahrhunderte über Höhen und Tiefen getragen haben."2'4 Die westdeutschen Imperialisten und Militaristen sind eifrig bestrebt, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Die Ausrüstung 21

23 24

Nach „Atomzeitalter" Nr. 5/1961, S. 105 - Originalquelle: Angaben des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft im deutschen Atomforum. Schriftenreihe der deutschen Gesellschaft für Atomenergie. „Die Welt', 27. Juli 1961. „Wehr und Wirtschaft", Frankfurt a. M., Nr. 7, Juli 1961. Balke, S„ Grenzschichtprobleme in Wissenschaft und Politik, Girardet 1958, S. 11.

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Westdeutschlands mit Atombomben ist jedoch selbst für die USA und die NATO-Partner Westdeutschlands nicht ungefährlich. Die westdeutschen Revanchisten bemühen sich daher, ihre Pläne mit Hilfe der NATO, in der die faschistischen deutschen Generale entscheidende Positionen innehaben, zu verwirklichen. Das Bestreben, die Wissenschaft stärker für Kriegszwecke auszunutzen, kommt auch in den Diskussionen über die Schaffung eines wissenschaftlichen Instituts der NATO zum Ausdruck. Westdeutschland als Mitglied der NATO könnte dadurch offiziell an der Herstellung neuer Vernichtungsmittel teilnehmen. 25 Dem steht ein bedeutender Teil der fortschrittlichen Wissenschaftler Westdeutschlands entgegen, die sich weigern, für diese Ziele zu arbeiten. Der negative Einfluß der Militaristen in den kapitalistischen Staaten äußert sich auch darin, daß die Finanzierung vor allem den wissenschaftlichen Forschungen zugute kommt, die unmittelbare Ergebnisse bringen. Die Monopole fordern, daß ihre Institute „produzieren", und können nicht dulden, daß Kollektive in wissenschaftlichen Instituten Fonds erhalten, ohne unmittelbaren Profit zu bringen. Das ist die wesentliche Ursache dafür, daß die Grundlagenforschung im Hintergrund bleibt. 26 Sogar die Universitäten, die doch das Zentrum der wissenschaftlich-theoretischen Arbeit sein müßten, gaben für die Grundlagen25

Die Schaffung eines solchen wissenschaftlich-technischen NATO-Instituts zur Erarbeitung mathematischer, physikalischer und anderer Arbeitsgrundlagen wurde im November 1961 auf der Pariser Konferenz der NATOParlamentarier vorgeschlagen... an dem Institut sollen aus den NATOMitgliedstaaten 400 Professoren sowie 1000 Assistenten und 1000 Studenten arbeiten. Die westdeutschen Delegierten im wissenschaftlich-technischen Ausschuß der Konferenz haben angeregt, als Sitz für das Institut München, den Raum Freiburg, Straßburg oder das Gebiet zwischen Aachen und Löwen zu wählen. (ADN Information I, vom 15. Nov. 1961).

26

So wurde z. B. in den USA für die Grundlagenforschung ausgegeben: 1956 - 201 Mill. Dollar 1959 - 487 Mill. Dollar 1957 - 254 „ „ 1960 - 494 „ 1958 - 331 . Nach „Statistical Abstract of the United States 1960", Washington 1960, S. 540.

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forschung weniger als die Hälfte ihrer Mittel aus. Daraus ist ersichtlich, daß die Kapitalisten nicht gewillt sind, große theoretische Aufgaben zu finanzieren, von denen man nicht genau sagen kann, ob und wann sie jemals gelöst werden. Die Grundlagenforschung leidet in den kapitalistischen Ländern nicht nur an Geldmangel, sondern auch daran, daß die qualifiziertesten Kader in den Kriegsinstituten oder in den sogenannten „einkommenslosen" Organisationen, die auch für das Pentagon arbeiten, konzentriert sind. Die Beziehung der militaristischen Staaten zur Grundlagenforschung ist eine der Ursachen des Zurückbleibens der Wissenschaft in den imperialistischen Ländern. In der Sowjetunion, schreibt Balke, muß es »eine gewisse Freiheit der Grundlagenforschung, also der nicht zweckgebundenen Forschung" geben, „weil sonst - nach unseren Erfahrungen wenigstens - die Leistungen der angewandten Wissenschaften in der UdSSR nicht erklärlich wären."27 Negativen Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaft hat die Geheimhaltung der wissenschaftlichen Forschungen, die für das Pentagon von Interesse sind. Damit wird in der Wissenschaft eine anormale Lage geschaffen. Der Militärforschung sind die wissenschaftlichen Informationen zugänglich, die von den Universitäten und anderen wissenschaftlichen Institutionen kommen. Aber ein umgekehrter „Fluß" der Information findet nicht statt. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Militärforschung werden nicht publiziert, so daß andere Zweige der wissenschaftlichen Forschung keinen Zugang zu ihnen haben. Besonders heute, da die enge Spezialisierung der verschiedenen Wissenschaftszweige die Entwicklung der Wissenschaft erschwert, sind solche künstlich auferlegten Beschränkungen (oft innerhalb eines Wissenschaftszweiges) schädlich. Einige bürgerliche Gelehrte, Soziologen sehen zwar die schädlichen Folgen der Militarisierung in den kapitalistischen Ländern, behaupten aber, daß das ein unvermeidlicher, ja sogar notwendiger Prozeß sei. Die Wissenschaft, sagen sie, solle ihre Freiheit zugunsten der Freiheit des Menschen und der Menschheit opfern. Sie ist aufgerufen, wie Balke sagte, „Opfer zu bringen, um den poli27

Balke, S„ Grenzschichtprobleme in Wissenschaft und Politik, Girardet 1958, S. 11.

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tischen Kräften zu ermöglichen, die Freiheit des Individuums zu verteidigen. Hierzu ist, wenn auch nicht erst in der Gegenwart der Atomkernspaltung und der Raketentechnik, auch die Wissenschaft aufgerufen. Sie wird dieses Opfer nicht zuletzt als sacrificium intellectus darzubringen haben."28 Um welche Freiheit handelt es sich hier? Die Geschichte hat gezeigt, daß die einzige Freiheit, die der Kapitalist nicht missen möchte, darin besteht, maximalen Profit aus dem Wettrüsten zu erhalten und eine aggressive Politik zu führen. Sowohl für die Wissenschaft als auch für das Individuum heißt Freiheit letztlich Befreiung von Konzernen und von der Kontrolle der Militaristen. Ohne diese Befreiung kann es keine wirkliche Freiheit des Individuums und der Wissenschaft geben. Freiheit der Wissenschaft heißt immer und ausschließlich, dem Menschen und der Erleichterung seines Lebens zu dienen und alle Gesetze der Natur dem menschlichen Fortschritt dienstbar zu machen.

Die Rolle der Wissenschaft im Kampf um den Frieden und die Verantwortung des Wissenschaftlers Wirkliche Freiheit der Wissenschaft kann, wie es der historischen Notwendigkeit und dem Interesse der ganzen Menschheit entspricht, erst mit dem Übergang zum Sozialismus verwirklicht werden. Mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft werden die Ursachen des Krieges, d. h. das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, beseitigt. Es gibt in der sozialistischen Gesellschaft auf der Grundlage des sozialistischen Eigentums an Produktionsmitteln keine an einem Krieg interessierten sozialen Kräfte mehr. Das bedeutet, daß der Frieden im Sozialismus eine objektive Gesetzmäßigkeit ist. Die marxistisch-leninistische Wissenschaft, die das theoretische Fundament des Sozialismus ist, entdeckte die Wurzel und den historischen Charakter des Krieges und zeigte bereits Jahrzehnte vor der Enstehung des Sozialismus die Unhaltbarkeit des Mythos von der Ewigkeit des Krieges. Der Marxismus-Leninismus hat die Auf28

Ebenda, S. 8.

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Schelet, Die Wissenschaft

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fassung von der Ewigkeit und Naturnotwendigkeit des Krieges nicht nur zurückgewiesen, sondern auch den Weg zur Beseitigung seiner Ursachen gezeigt. Der Sozialismus ist die erste Gesellschaftsordnung, in der dieser uralte Traum der Menschheit von einem dauernden Frieden Wirklichkeit wird und nicht mehr nur ein Versprechen für eine noch ferne Zukunft ist. Es gibt bereits heute unter den Bedingungen des noch in einem Teil der Welt existierenden Imperialismus die reale Möglichkeit, den Krieg für immer aus dem Leben der Gesellschaft auszuschließen. Dies ist möglich, weil der Sozialismus dem Streben der Imperialisten, einen neuen Weltkrieg auszulösen, nicht mehr nur als wissenschaftliche Weltanschauung, sondern als eine gesellschaftliche Realität, als eine materielle Kraft gegenübersteht. Der Sozialismus ist heute der entscheidende Faktor in der Entwicklung der Gesellschaft. Die Imperialisten können trotz ihres Hasses gegen den Sozialismus nicht übersehen, daß ein Drittel der Menschheit den Sozialismus und Kommunismus errichtet, hunderte Millionen Menschen sich vom Kolonialismus befreit haben und aktiv gegen die aggressive imperialistische Politik auftreten. Die Existenz des sozialistischen Weltsystems ist die Garantie dafür, daß die Epoche der Atomenergie und Kybernetik sowie die Epoche der Erschließung des Kosmos nicht den Untergang der Menschheit bedeutet, sondern den Beginn ihres höchsten sozialen Fortschritts. Die sozialistische Gesellschaft, die selbst eine Verkörperung wissenschaftlicher Erkenntnisse darstellt, bietet der Wissenschaft und besonders der Naturwissenschaft ungeheuere Entwicklungsmöglichkeiten. Von entscheidender Bedeutung dabei ist, daß die Ziele der wissenschaftlichen Forschung im Sozialismus und die Art der Ausnutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse dem humanistischen Wesen der Wissenschaft selbst entsprechen. Die Anwendung wissenschaftlicher Entdeckungen in der Produktion führt nicht wie im Kapitalismus zur Intensivierung der Ausbeutung und zum Wachsen der Profite weniger Monopole. Sie dient im Gegenteil der Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen des ganzen Volkes, das Besitzer der Produktionsmittel ist. Selbstverständlich muß auch der sozialistische Staat sein militärisches Potential ausbauen, solange die Imperialisten noch den Sozialismus durch Krieg zu vernichten planen. Die militärwissen-

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schaftliche Forschung brachte große Erfolge z. B. im Hinblick auf die Herstellung von Kernwaffen, die eine Explosivkraft von 100 Megatonnen TNT erreichen. Dennoch besitzt die militärwissenschaftliche Forschung in den sozialistischen Ländern weder absolut noch relativ ein solches Gewicht wie in den kapitalistischen Ländern. Wesentlich ist dabei jedoch nicht der Umfang der militärwissenschaftlichen Forschung, sondern die Tatsache, daß der Sozialismus seiner inneren Natur gemäß keine aggressiven Pläne hegt und nicht an einem neuen Weltkrieg interessiert ist. Das Wettrüsten mit nuklearen Waffen wurde, wie selbst bürgerliche Wissenschaftler zugeben, nicht durch den Sozialismus und die Sowjetunion begonnen, sondern durch die imperialistischen Länder mit den USA an der Spitze. Die Sowjetunion braucht auf Grund ihrer inneren Gesellschaftsstruktur weder eine Armee noch Vernichtungswaffen. Die Mittel des Staatshaushalts, die in der Sowjetunion heute noch für militärwissenschaftliche Zwecke ausgegeben werden müssen, könnten der Verwirklichung friedlicher Zwecke dienen. Dies würde es ermöglichen, das Tempo beim Aufbau des Sozialismus-Kommunismus bedeutend zu erhöhen. Gegenwärtig ist das jedoch noch nicht realisierbar. Solange die vom Imperialismus drohende Kriegsgefahr nicht beseitigt ist, muß die wissenschaftliche Forschung mit dem Ziel, die Verteidigungskraft des Sozialismus zu festigen, fortgesetzt werden, da sie die Garantie für die Erhaltung des Friedens in der Welt darstellt. Die unterschiedliche Rolle und Funktion der Wissenschaft im Sozialismus und Kapitalismus und ihre Beziehung zu den wesentlichen Klassenkräften erklärt die unterschiedliche gesellschaftliche Position des Wissenschaftlers in beiden Gesellschaftssystemen. Die sozialistische Gesellschaft schenkt der Wissenschaft und den Wissenschaftlern besondere Aufmerksamkeit. Die Wissenschaftler sind hier berufen, nicht nur die sozialistische Ökonomie zu entwikkeln, sondern an der Lösung aller Fragen von gesellschaftlichem Interesse aktiv mitzuwirken. Es gibt keine Entschließung der Kommunistischen Partei und der Regierung der Sowjetunion, angefangen von dem Plan für die Elektrifizierung des Landes (GOELRO) bis zu dem vom XXII. Parteitag der KPdSU angenommenen Programm des Aufbaus des Kommunismus, die nicht unter aktiver Mitarbeit 3»

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von Wissenschaftlern der verschiedensten Fachgebiete entstanden wäre. Die sozialistische Gesellschaft besitzt hohe Achtung vor der Arbeit der Wissenschaftler. Diese Tatsache erkennen auch viele Wissenschaftler kapitalistischer Länder an. In dieser Hinsicht ist die Deklaration des Präsidenten der Carnegie-Foundation, des Chefs der US-Forschung im zweiten Weltkrieg, Prof. Dr. Varnevav Bush, von Interesse, der über die Aufmerksamkeit, die der Sowjetstaat den Angehörigen der Intelligenz entgegenbringt, folgendes feststellt : „Ihnen wird von der Allgemeinheit Achtung entgegengebracht, sie werden als angesehene Männer betrachtet." Leo Brandt schreibt, diese Erklärung kommentierend: »Die Situation in unserem Erziehungswesen ist zweifellos anders als in Amerika, aber das M a i an Achtung und Wertschätzung, das dem Lehrer im weitesten Sinne, vom Volksschullehrer bis zum Lehrer an der Universität und an der Hochschule, in Rußland entgegengebracht wird, gibt es bei uns nicht." 29 Die wachsende Bedeutung des Wissenschaftlers in der sozialistischen Gesellschaft hat nichts mit der verbreiteten bürgerlichen Theorie gemein, nach der eine neue soziale Klasse von .Technokraten" entstanden ist, eine Klasse, die sich angeblich über die Gesellschaft stellt und sie ausbeutet. Diese Theorie des bürgerlichen Ideologen J; Burnham, die von anderen bürgerlichen (Gurwitsch) und revisionistischen (L. Blum, K. Renner und F. Löwenzahn) Ideologen propagiert wird, hat keinerlei reale Grundlage. Unter den Bedingungen des Sozialismus sind die Produktionsmittel in den Händen des Volkes konzentriert und werden vom Volk genutzt, d. h., sie sind sozialistisches Eigentum. Die sowjetischen Wissenschaftler sind wie die gesamte sowjetische Intelligenz aus dem Volk hervorgegangen, und ihre Interessen unterscheiden sich nicht von den Interessen der gesamten sowjetischen Gesellschaft. Die sozialistische Intelligenz unterstützt sowohl durch ihre fachliche als auch gesellschaftliche Tätigkeit aktiv die Friedenspolitik von Partei und Regierung. Selbstverständlich muß sich ein Teil der sowjetischen Wissenschaftler mit der Herstellung und Vervollkommnung von Raketen und Präzisionsgeräten beschäftigen, um das militärische Verteidigungspotential zu verstärken. Die Erfolge auf 29

Zitiert nach Leo Brandt, Wissenschaft in Not, Köln u. Opladen 1957, S. 73.

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diesem Gebiet festigen die ihrem Wesen nach friedliebende Sowjetmacht und tragen damit zur Festigung des Friedens in der ganzen Welt bei. Auf dem XXII. Parteitag sagte N. S. Chruschtschow: „Gestatten Sie mir, den Wissenschaftlern, Ingenieuren, Arbeitern, die für die Sowjetarmee die modernsten Waffen geschaffen haben, im Namen des Parteitages herzlichen Dank auszusprechen. Ihre Verdienste um die gesamte Menschheit sind groß! Jetzt können die Imperialisten die friedliebenden Länder schon nicht mehr ungestraft militärisch erpressen: In den Händen des Sowjetvolkes, das den Kommunismus -aufbaut, dient die Atom- und Wasserstoffwaffe zuverlässig der Sache des Friedens." 30 Auf das ihnen entgegengebrachte Vertrauen und die Wertschätzung antworteten die Wissenschaftler mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft für das Wohl und das Glück der Menschen. Die Wissenschaftler stehen in der ersten Reihe der Erbauer einer Gesellschaft, die auf ihr Banner die Losung geschrieben hat: Alles im Namen des Menschen, alles zum Wohle des Menschen! Nobelpreisträger Akademiemitglied N. N. Semjonow sagte, als er über die Aufgaben sprach, die den Wissenschaftlern aus dem Programm des Aufbaus des Kommunismus erwachsen: »Wir werden die ganze Kraft unseres Verstandes, das ganze Feuer unserer Herzen für die Lösung dieser edlen humanistischen Aufgaben einsetzen und die Überlegenheit unserer Wissenschaft auf allen wichtigen Wissensgebieten erringen . . . Die Ideale des Kommunismus begeistern uns. In der Arbeit und der Freude über die Erfolge und, wenn es nötig ist, auch in schweren Prüfungen waren und bleiben wir eine Kampftruppe, auf deren Kräfte sich unser Volk und unsere Partei voll und ganz verlassen können." 31 Ganz anders sind die Beziehungen der bürgerlichen Wissenschaftler zur kapitalistischen Gesellschaft. Die Untersuchung dieser Beziehungen ermöglicht eine richtige Analyse der gesellschaftlichen Funktionen des Wissenschaftlers, seiner sozialen Verantwortung, seiner Stellungnahme in bezug auf die politischen Probleme der 30

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Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXII. Parteitag, „Neues Deutschland" v. 18. 10. 61, S. 6. Presse der Sowjetunion vom 9. 11. 61, Nr. 134, S. 2958.

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Gegenwart, vor allem seiner Haltung zum Kampf um die Sicherung und Festigung des Friedens. Die Intelligenz bildet in der kapitalistischen Gesellschaft eine inhomogene soziale Schicht. Ein Teil der Intelligenz ist auf Grund seiner Herkunft unmittelbar mit der Bourgeoisie verbunden. Die ökonomischen und politischen Interessen dieses Teils der Intelligenz unterscheiden sich nicht von den Interessen der herrschenden Klasse. Er ist ein erbitterter Gegner der Arbeiterklasse und ihres Kampfes für Frieden und sozialen Fortschritt. Ein anderer Teil der Intelligenz steht der Arbeiterklasse näher, da er keine Produktionsmittel besitzt und genötigt ist, von seiner eigenen Arbeit zu leben. Die soziale und ökonomische Inhomogenität der Intelligenz ist die objektive Grundlage für die tiefen Unterschiede zwischen den verschiedenen Wissenschaftlern der kapitalistischen Gesellschaft in bezug auf ihre Stellung zu den aktuellen politischen Fragen, wie etwa zu der Frage Krieg oder Frieden. Viele Wissenschaftler der kapitalistischen Länder schließen sich dem Kampf der Arbeiterklasse zur Umgestaltung der Gesellschaft an, andere unterstützen diesen Kampf nur in gewissere Beziehung. Immer kleiner wird jedoch der Kreis der Wissenschaftler, der die Isoliertheit aufrechterhalten will. Bis vor einigen Jahrzehnten hatten die Wissenschaftler in der kapitalistischen Gesellschaft den Ruf, einsame Forscher im Elfenbeinturm zu sein, die sich mit weltfremden Abstraktionen befassen und sich von politischen und sozialen Problemen fernhalten. Die Politiker verhielten sich den Wissenschaftlern gegenüber gleichgültig und behandelten sie herablassend und zum größten Teil zugleich auch mit einem gewissen Wohlwollen, wie man es einem „Sonderling" gegenüber auszudrücken pflegte. Obwohl es niemals eine „reine" Wissenschaft gab, waren doch viele Wissenschaftler bestrebt, sich vom Leben zu isolieren und sich aus den Kämpfen und den Entscheidungen der Politik herauszuhalten. Heute hat sich die Situation wesentlich geändert. Die wissenschaftliche Forschung erfordert gegenwärtig große finanzielle Mittel, die nur von den Monopolen und vom Staat aufgebracht werden können. 32 • 32

Der Physiker Prof. Walter Weizel berichtet, dafj f ü r die Laboratoriumseinrichtungen von Faraday, mit deren Hilfe er die Grundsätze der Elek-

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Außerdem ist bei dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Wissenschaft die abgeschiedene Arbeit eines einzelnen Wissenschaftlers in seinem Laboratorium nicht mehr möglich. Die Lösung der auf der Tagesordnung stehenden wissenschaftlichen Fragen erfordert nicht nur eine große Konzentration der Mittel, sondern auch die Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler der verschiedensten Spezialgebiete. Diese Veränderung im Charakter der wissenschaftlichen Forschung haben viele Wissenschaftler in den kapitalistischen Ländern verstanden. „Als ich jung war", schreibt M. Born, „konnte man noch ein reiner Wissenschaftler sein, ohne sich um die Anwendungen, die Technik, viel zu kümmern. Heute ist das nicht mehr möglich. Denn die Naturforschung ist mit dem sozialen und politischen Leben unentwirrbar verstrickt. Sie braucht große Mittel, die sie nur von der Großindustrie oder vom Staat bekommen kann, und ihre Resultate können darum diesen Organisationen niemals vorenthalten werden." 33 Nach der Entdeckung der Atomenergie und ihrer Verwendung zu Kriegszwecken wurde klar, daß die wissenschaftlichen Entdeckungen nicht nur dem Profit der Kapitalisten dienen, sondern auch auf das Schicksal der Menschen einwirken. Bei dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft und Technik kann man fast jede Entdeckung und Erfindung für Kriegszwecke nutzbar machen. Heute können sogar Forscher, die sich mit sehr abstrakten Gegenständen beschäftigen und nicht willens sind, Vernichtungswaffen zu produzieren, unbewußt doch dazu beitragen. Die Regierungen der kapitalistischen Länder, die monopolistischen Kreise haben begriffen, daß der Wissenschaftler mit dem Entstehen

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trizitätslehre entdeckte, heute 1 0 0 , - DM aufzuwenden wären. Die Versuchsgeräte von Heinrich Hertz, die ihm die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen ermöglichten, verlangten 10 000 DM, ein physikalisches Laboratorium der dreißiger Jahre kostete 300 0 0 0 , - DM; heute ist ein physikalisches Universitätsinstitut mit 5 Mill. DM zu erstellen, und ein Materialprüfreaktor, wie ihn manche Technische Hochschule braucht, erfordert 50 Mill. DM. Die Kosten der gemeinsamen Atomforschungsanlage des Landes Nordrh. -Westf. sind mit 170 Mill. DM veranschlagt und entsprechen etwa dem Aufwand für eine neu zu gründende Hochschule (nach .Atomzeitalter" Nr. 5/1961, S. 104). M. Born, a. a. O., S. 45.

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der Atomphysik aufhört »neutral" zu sein. Da die Kapitalisten vom Nutzen eines Bündnisses mit den Wissenschaftlern überzeugt sind, betrachten sie die Wissenschaftler mit anderen Augen und behandeln sie entsprechend. Sie holen ihre Meinung ein, stellen ihnen finanzielle Mittel zur Verfügung, verschaffen ihnen moderne Arbeitsbedingungen und behalten sich dabei selbstverständlich die Kontrolle vor. Aber nicht nur die Regierungen der kapitalistischen Länder begreifen die Veränderung der sozialen Lage der Wissenschaftler, sondern auch die Wissenschaftler selbst. Sie beschäftigen sich mehr und mehr nicht nur mit abstrakten Forschungen, sondern auch mit politischen Problemen. Sie tun das selbstverständlich in sehr verschiedener Weise, d.h., zwischen den Positionen der verschiedenen Wissenschaftler gibt es Unterschiede und Besonderheiten. Viele Wissenschaftler der kapitalistischen Länder sehen sich vor Konfliktsituationen, Zweifel und Fragen gestellt. Diese Frage der Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers für die Folgen der Anwendung seiner Entdeckungen ist eines der aktuellsten Themen, das in Kreisen der bürgerlichen Intelligenz diskutiert wird. Die fortschrittlichen Wissenschaftler der kapitalistischen Länder fürchten daher zu Recht, daß die Früchte ihrer Arbeit, wie Einstein sagt, von einer die gesamte ökonomische und politische Macht besitzenden Minderheit mißbraucht werden. „Die Physiker sind sich bewußt, daß es ihre Arbeit war, durch die die Menschheit an diesen Wendepunkt gebracht worden ist. Darauf beruht das Gefühl der Verantwortung, das viele von ihnen bewegt." 34 Man muß W.Heisenberg zustimmen, wenn er in dem schon erwähnten Artikel schreibt, der Physiker müsse entweder aktiv an der Verwaltung seines Landes teilnehmen, da die Bedeutung der Wissenschaft für die Gemeinschaft eine solche Möglichkeit nahelege - damit sei er unter Umständen gezwungen, die Verantwortung für Entscheidungen von größtem Gewicht mit zu übernehmen, die weit über den kleinen Kreis von Forschung und Universitätsarbeit hinausgingen, an den er sich bisher gewöhnt habe oder, wenn er sich freiwillig von jeder Teilnahme an politischen Entscheidungen zurückziehe, wäre er trotzdem für falsche Entscheidungen mitverantwortlich, die er möglicherweise hätte ver31

Ebenda, S. 57.

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hindern können, wenn er nicht das ruhige Leben eines Gelehrten vorgezogen hätte. 35 Es ist selbstverständlich, daß die Hauptverantwortung für die Herstellung von Vernichtungswaffen die kapitalistische Gesellschaft und besonders die soziale Gruppe trägt, die die Macht in ihren Händen konzentriert. Daraus darf man aber niemals die Schlußfolgerung ziehen, daß der Wissenschaftler nicht für seine Arbeit veranwortlich sei. Die erste moralische Pflicht jedes Wissenschaftlers besteht darin, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um den Mißbrauch seiner Forschungen zu verhindern. Die Wissenschaftler haben im Vergleich zu anderen Menschen bessere Möglichkeiten, sich die Gefahren vorzustellen, die der Menschheit im Falle eines nuklearen Krieges drohen. Der Wissenschaftler kann unter diesen Bedingungen nicht „reine Wissenschaft" betreiben und forschen, ohne auf diese Gefahr aufmerksam zu werden. Die Wissenschaftler müssen im Kampf gegen die Kriegsgefahr in der ersten Reihe stehen. Die Gefahr des Krieges wird klarer und nimmt stärkeren Einfluß auf die Psychologie der Völker, wenn darüber Wissenschaftler, d. h. kompetente Leute, sprechen. Festigt doch das Verständnis der Kriegsgefahr den Willen der Massen im Kampf gegen einen Krieg. „Ich glaube, daß wir Physiker das Recht und die Pflicht haben, diese aus unseren Forschungen hervorgegangenen Probleme auf unsere einfache illusionslose Weise durchzudenken und zu versuchen, die öffentliche Meinung aufzuklären." 3 6 Diese Notwendigkeit und Pflicht begriffen die hervorragendsten Wissenschaftler der ganzen Welt, die Assoziationen und Organisationen gründeten, die sich das Ziel gestellt haben, die Aufmerksamkeit der Völker und Regierungen auf die Gefahr eines neuen Krieges zu lenken. In den USA wurde die Fédération of American Scientists (F. A. S.), in Großbritannien die „British Atomic Scientists Association" (BASA) und in Westdeutschland die „Vereinigung Deutscher Wissenschaftler" (VDW) gegründet. Im internationalen Maßstab wurde eine Bewegung der Wissenschaftler, die Pugwash35

W.Heisenberg, Die Rolle der modernen P h y s i k . . . , in: a . a . O . , S. 367.

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M. Born, a. a. O., S. 48.

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Bewegung ins Leben gerufen, die in ihren Reihen berühmte und einflußreiche Gelehrte aus vielen Ländern der Welt vereinigt. In der sogenannten Wiener Erklärung der dritten Pugwash-Konferenz heißt es: »Wir glauben, daß es die Pflicht der Wissenschaftler aller Welt ist, zur Erziehung und Bildung der Menschen dadurch beizutragen, daß sie ihnen ein gutes Verständnis für die Gefahren und Möglichkeiten geben, die aus dem beispiellosen Wachstum der Wissenschaft entstehen... Auf Grund ihrer Sachkenntnis sind die Wissenschaftler in der Lage, die Gefahren und auch die Verheißungen, die sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben, frühzeitig zu erkennen. Sie haben daher eine besondere Kompetenz und tragen aber andererseits auch eine besondere Verantwortung hinsichtlich des dringendsten Problems unserer Zeit." Aber nicht alle Wissenschaftler erkennen ihre moralische und soziale Verantwortung vor der Gesellschaft. Einer der Gelehrten, der mit an der Herstellung von Atombomben in den USA arbeitete, Edward Teller, spricht sich gelassen darüber aus, daß in einem zukünftigen Krieg nur 20 Millionen Amerikaner sterben würden. Die Ziffer von 20 Millionen Toten scheint auf ihn keinen großen Eindruck zu machen. Rogar Conall, ein Spezialist für Fragen der Aufrüstung im Institut Stanford, spricht zynisch darüber, daß die Alten sowieso sterben, bevor das Strontium 90 in ihre Knochen eingedrungen ist. Richtig sagt er, daß die Lebensdauer der Kinder und Erwachsenen bis zu 30 Jahren um 10 bis 15 Jahre verkürzt wird. Da die Lebensdauer der Menschen sich in den letzten 50 Jahren sowieso um 10 bis 15 Jahre verlängert habe, gleiche sich das wieder aus. Diese Zeilen bedürfen keines Kommentars, sie sprechen für sich selbst. Die Tatsache, daß eine Reihe von Wissenschaftlern unablässig behaupten, daß Wissenschaft und Politik nichts miteinander zu tun hätten, zeigt nur ihre innere Unruhe. Wir sind mit R. Jungk einverstanden, wenn er sagt, daß das Berufsethos des Wissenschaftlers in unserer Zeit nicht mehr nur in der Frage bestehen kann, „was produziere ich", sondern daß gefragt werden muß, »wozu produziere ich" oder „für wen produziere ich" und schließlich „welche Wirkung hat meine Arbeit? Ist sie gut? Ist sie böse?" 8 7 37

R. Jungk, Die Zukunft hat schon begonnen, Stuttgart 1960, S. 319.

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Einige Wissenschaftler möchten die Frage der politischen und moralischen Verantwortung umgehen, sie behaupten, daß es in der Moral keine eindeutige Methode und keine klaren Kriterien wie beispielsweise in der Naturwissenschaft gebe. Es wird behauptet, daß Moralurteile keinerlei Wahrheitswert hätten. Die Moral wird für etwas subjektiv Emotionales gehalten, das nichts mit der Wissenschaft gemein hat. Diese Argumente halten einer Kritik nicht stand. Moralurteile drücken mehr als Emotionen aus. Sie widerspiegeln die Interessen großer Gruppen von Menschen, Klassen und Völkern. Damit haben Moralurteile sozialen Inhalt. Sie sind nicht primär subjektiv, sondern objektiv, durch objektive Bedürfnisse und Erfordernisse der gesetzmäßigen gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. Der Wissenschaftler kann als Glied der menschlichen Gesellschaft nicht die Frage umgehen, wem seine Forschungen nützen. Bestimmend ist nicht der emotionale, sondern der soziale Aspekt. »Gut" ist das, was den gesellschaftlichen Kräften dient, die um den gesellschaftlichen Fortschritt und damit zugleich für die wissenschaftliche, technische und kulturelle Entwicklung der Menschen kämpfen. Die elementarste Voraussetzung, das zu verwirklichen, besteht vor allem darin, die Menschheit vor einem vernichtenden Krieg zu bewahren. „Böse" ist, was den Interessen der reaktionären Klassen dient, den Klassen, die den sozialen Fortschritt bremsen und bereit sind, die Menschheit in einen neuen Weltkrieg zu stürzen. Selbstverständlich bedeutet nicht die Atomenergie an sich eine Gefahr für die Menschheit, sondern ihr Mißbrauch durch bestimmte monopolistische Kreise, die sie zu einem Mittel ihrer aggressiven Politik machen. Nicht die Atomwissenschaftler sind amoralisch, sondern Menschen wie Teller und Conall, die fordern, daß diese Entdeckungen der Vernichtung der Menschheit dienen sollen. Ein Teil der Intelligenz kommt zu der Schlußfolgerung, daß die Gelehrten, um den Schrecken des Krieges abzuwenden, selbst die Kontrolle über Wissenschaft und Zivilisation ausüben sollten. So schlägt der bekannte Mathematiker N.Wiener den Gelehrten vor, nicht eine Zeile zu veröffentlichen, die eventuell dem Militarismus dienen könnte (er selbst vernichtete einige eigene Arbeiten). Den43

selben Vorschlag unterbreitet E. Rüssel in seinem Buch „Dämonische Wissenschaft". 38 Das ist natürlich eine Utopie. In der kapitalistischen Gesellschaft befinden sich die gesamte Wissenschaft und alle wissenschaftlichen Institutionen in den Händen der Monopole und des bürgerlichen Staates, der die Interessen dieser Monopole verteidigt. Das ermöglicht dem Kapitalismus eine uneingeschränkte Kontrolle der Wissenschaft und aller Sphären ihrer Anwendung. Außerdem würde ein solcher Vorschlag von den Wissenschaftlern fordern, sich völlig von theoretischen Schlußfolgerungen aus ihren eigenen Arbeiten loszusagen. Das hieße aber für die Wissenschaftler, am Ende überhaupt auf die wissenschaftliche Betätigung zu verzichten. - Wenn der Wissenschaftler seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden will, muß er gegen den Mißbrauch der Wissenschaft für die verbrecherischen Ziele des imperialistischen Atomkrieges an der Seite aller friedliebenden gesellschaftlichen Kräfte kämpfen. Daher ist es vor allem erforderlich, daß der Wissenschaftler den engen Zusammenhang der Entwicklung der Wissenschaft mit der Entwicklung der materiellen Produktion und mit den diese Produktion beherrschenden Klassen begreift. Die Wissenschaft steht also als gesellschaftliche Erscheinung nicht außerhalb der Beziehungen der Klassen zueinander. Wenn sie ihre humanistische Aufgabe erfüllen und die „Mühseligkeit der menschlichen Existenz erleichtern" wollen, dann müssen die Wissenschaftler auch selbst für das Leben, für den Frieden und für den Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt Partei ergreifen und sich in der Abwehr des Mißbrauchs ihres schöpferischen Schaffens auf die Kräfte stützen, die an der freien Entwicklung der Wissenschaft im Dienste der Menschheit am stärksten interessiert sind. Das sind aber in unserer Zeit die Arbeiterklasse und die Massen des werktätigen Volkes überhaupt. Anders bleibt der aufrichtige Wunsch aller anständigen Wissenschaftler, die Menschheit vor Unheil, hervorgerufen durch den Mißbrauch der Schöpferkraft wissenschaftlichen Denkens, zu bewahren, unreal. Es geht also nicht um irgendeine Kontrolle über die Wissenschaft, sondern um die Kontrolle über jene gesellschaftlichen Kräfte, die mit Hilfe der Wissenschaft zynisch das Leben von Millionen ver38

Rüssel, E. J „ Dämonische Wissenschaft, München 1956.

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nichten wollen, um ihre Herrschaft, die Herrschaft der Ausbeutung, der Profitmacherei zu erhalten und den Sozialismus zu beseitigen. An der Seite der friedliebenden Volksmassen können auch die Wissenschaftler in den kapitalistischen Ländern die Regierungen zwingen, von der Politik der Kriegsvorbereitung und der Militarisierung des gesamten Lebens und somit auch der Wissenschaft abzulassen. Auch unter der Bevölkerung Westdeutschlands wächst die Einsicht in die Gefahren, die der deutschen Nation durch die Abenteurerpolitik der westdeutschen und Westberliner Ultras erstehen. Im Kampf gegen eine Politik des „Letzten Risikos" und der Vorbereitung des Atomkrieges stehen die ehrlichen westdeutschen Wissenschaftler nicht allein. In der Deutschen Demokratischen Republik sind nicht nur die Voraussetzungen für eine friedliche, im Interesse einer glücklichen Zukunft der deutschen Nation liegende Entwicklung der Wissenschaft errichtet worden, in der Deutschen Demokratischen Republik besitzt die deutsche Nation zugleich einen Staat, auf den sich alle ihre anständigen, friedliebenden und fortschrittlichen Kräfte im Kampf gegen den verbrecherischen westdeutschen Militarismus und seine wissenschaftsfeindlichen Zwecke stützen können.

Gerd Irriti^

Über den Einfluß der Ideologie des Militarismus auf die Gesellschaftswissenschaften in Westdeutschland

In Westdeutschland ergießt sich zur Zeit eine wahre Sturzflut militaristischer Ideologie über die Wissenschaft. Sie reicht von regierungsamtlichen wissenschaftspolitischen Maßnahmen über ein nie gesehenes Aufblühen traditioneller preußischer und faschistischer Staatsdisziplinen, wie z. B. der Ostforschung, bis zur militaristischen Ausrichtung ganzer Wissenszweige, etwa der Geschichtsund Rechtswissenschaften, und der Verfälschung philosophischer Ergebnisse der Naturwissenschaften, wie es besonders an der Atomphysik demonstriert wird. Durch diese Tendenzen wird die durch den militärischen, politischen und geistigen Bankrott des Faschismus kaum unterbrochene reaktionäre militaristische Linie der preußischdeutschen Wissenschaftsentwicklung fortgesetzt. Speziell in unserem Jahrhundert beherrscht der Widerspruch zwischen der humanistischen progressiven und der preußisch-militaristischen Linie die deutsche Wissenschaftsgeschichte. Die deutsche imperialistische Bourgeoisie, von Haus aus besonders militaristisch, bindet die deutsche Wissenschaft auch besonders eng an ihre reaktionären Klassenziele und erpreßt von vielen Wissenschaftlern die bewußte oder unbewußte Mitarbeit an der militärischen Ausbeutung ihrer theoretischen oder technischen Leistungen. Die militaristische Linie der deutschen Wissenschaft, die in Westdeutschland fort- und auflebt, will die Verantwortlichkeit der Wissenschaft auch der „neutralen" Naturwissenschaften - und ihrer Träger für den Frieden und den sozialen Fortschritt der Nation zerstören. Jedoch gab es in Deutschland stets und gibt es auch heute in Westdeutschland eine große Zahl von Wissenschaftlern, die ihre wissenschaftliche Arbeit mit der Parteinahme und dem Kampf für ein Deutschland des Friedens und des sozialen Fortschritts verbinden. Von einer »einheitlichen" deutschen Wissenschaft kann deshalb keine Rede sein. Das gilt um so mehr für die Gegenwart, da

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sich in der DDR die Wissenschaften der neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung entwickeln, die in wachsendem Maße bewußt von der weltanschaulichen Grundlage des dialektischen Materialismus ausgehen. Im Folgenden soll der Einfluß der militaristischen Ideologie auf die Gesellschaftswissenschaften in Westdeutschland an einigen Beispielen nachgewiesen werden. Das soll zugleich zur Erkenntnis beitragen, daß man unter den heutigen Bedingungen der Entwicklung der beiden deutschen Staaten nicht schlechthin von einer einheitlichen deutschen Wissenschaft reden kann, ohne die einander widersprechenden Entwicklungstendenzen der westdeutschen vom Militarismus beherrschten und entstellten und der in der Deutschen Demokratischen Republik vom Einfluß des Imperialismus und Militarismus befreiten und dem friedlichen Leben in einer sozialistischen Gesellschaft dienenden Wissenschaft zu berücksichtigen. Der Mißbrauch und die Entstellung der Wissenschaft im Interesse der reaktionären, historisch überlebten Kräfte Westdeutschlands fordert um so gebieterischer von allen deutschen Wissenschaftlern, denen das humanistische Anliegen echter Wissenschaft teuer ist, ihrer großen nationalen Verantwortung gerecht zu werden und sich energisch für die Entwicklung einer dem Leben, dem Glück und dem Frieden des deutschen Volkes dienenden Wissenschaft einzusetzen. i Der führende Vertreter der militaristischen Weltanschauung des Imperialismus nach dem zweiten Weltkrieg und philosophischer Leitstern bei der Militarisierung der westdeutschen Wissenschaft und Intelligenz ist Karl Jaspers. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich Jaspers gerade in den letzten Jahren mit Schriften, Rundfunkansprachen und anderen Vorträgen aktuellen politischen Themen zugewandt hat. Im Prozeß der Militarisierung der westdeutschen Außen- und Innenpolitik ist der deutsche Militarismus auch auf die philosophische Formulierung und Rechtfertigung der Politik des kalten Krieges angewiesen. In Erfüllung dieses reaktionären sozialen Auftrags erschien 1958 in München Jaspers Buch »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen". Es ist, um im existenzphilosophischen Jargon zu bleiben, die wahre „Fundament-Ontologie" des Antikommunismus. 48

Jaspers schrieb im zweiten Band seiner „Philosophie", daß der „letzte Einsatz" im Sinne der existentiellen „Kommunikation" immer ein „Wagnis" sei, man könne mißverstanden und dann verhöhnt werden. Wir mißverstehen Jaspers' „letzten Einsatz" allerdings nicht und müssen ihn doch verhöhnen. Der Grundgedanke seines Buches lautet: Verkauft unsere Nation an die NATO 1 , rüstet um jeden Preis 2, unterwerft euch den USA 3 und sprengt, wenn es sein muß, mit Atomwaffen den ganzen Erdball in die Luft - nur haltet um Himmels willen den Sozialismus auf. Es ist klar, daß dieses dürftige antikommunistische Rezept nicht den Stoff für ein Buch von 500 Seiten hergibt. Jaspers versucht es dennoch, und so ist eigentlich nur ein einziger wahrer Satz darin zu finden: „Viele Intellektuelle des Abendlandes denken schwammig..." 4 Selten wurde ein so raffiniertes, reaktionär-scharfmacherisches Buch in einen solchen Mantel geistiger Leere und philosophischer Verschwommenheit gehüllt, wie es Jaspers hier tat. Urteile finden sich darin, die in der Tat so falsch sind, daß nicht einmal das Gegenteil von ihnen wahr ist. Bei der Bestimmung der Begriffe Europa 1

„Das Nationale innerhalb Europas behauptet sich mit Recht nur noch als . . . überlieferte Anschauung . . . Als Machtprinzip eines Staates aber hat es nicht nur sein Recht verloren, sondern wird zum Widersacher der abendländischen Einheit." Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958, S. 140. 2 „Dagegen steht die Freiheit der Völker nur dann fest, wenn ihre F r e i h e i t . . . v e r m a g . . .: Das grofje Opfer an materiellem Gut, an Lebensstandard und nichtigem V e r g n ü g e n . . . " Ebenda, S. 142. 3 „Die große Weltpolitik kann nicht durch Mehrheitsabstimmung verschiedener Staaten bestimmt werden. Die Solidarität fordert, sich zu fügen. Daher hat im Konfliktsfall Amerikas Wille, selbst wenn er unrecht hat, im jeweiligen Augenblick den Vorrang." Ebenda, S. 141. * Ebenda, S. 151. Als eine ausführlichere Analyse des Buches vergl. „Philosophie des Verbrechens", Berlin 1959, S. 205 f. Dort wird besonders die Bedeutung der Jasperschen Thesen im Rahmen der westdeutschen Aufrüstung dargestellt.

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Scheler, Die Wissenschaft

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und politische Freiheit etwa: „Europa hat die Freiheitsidee in seiner Wurzel. Europa gilt, wo drei Jahrtausende in der Seele sprechen als Wirklichkeit, auf die die gegenwärtige Wirklichkeit gegründet ist..." 5 Der abgeschmackteste und abgestandenste bourgeoise Unsinn wird aufgesammelt und, mit neuer militaristischer Weihe versehen, dem staunenden Abendländer „erhellt": „Die ungehemmte Vermehrung . . . ist als solche schon ein potentieller Eroberungsakt." 6 „Der Eindruck der Massen Ostasiens und Indiens, hungernd und unruhig, sich gewaltig vermehrend wie eine wachsende Flut, die über den Erdball rasen kann, wenn diese Massen im Besitz von Technik und Waffen sein werden, ist überwältigend." 7 Der geistige Mittelpunkt des Buches ist der alte existentialistische Gegensatz von Geschichte und Geschichtlichkeit. Der objektiv-reale Geschichtsprozeß wird zum unwesentlichen äußeren Vorgang gegenüber dem „inneren Handeln" eliminiert, das den Sprung in die Geschichtlichkeit wagt. Seine Geschichtskonzeption formuliert Jaspers so: „Der Weg geht von dem Leben der Arbeit aus ursprünglicher Initiative... zu einem Zustand wachsender Unerträglichkeit vielfacher Zwangsläufigkeiten, der als chaotisch empfunden w i r d . . . bis er von dem absoluten Zwang des Terrorapparates totaler Herrschaft aufgefangen w i r d . . . " 8 Es ist einer der Grundzüge der Existenzphilosophie, daß sie der Verselbständigung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, die sich im Kapitalismus über die Köpfe der Menschen hinweg vollzieht, vom Standpunkt des bürgerlichen Bewußtseins aus philosophischen Ausdruck gibt. Jaspers sieht das Unheil des Menschen in dessen eigener historischer Objektivierung durch den Arbeitsprozeß. Er nennt es eine 5

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Ebenda, S. 134. Interessant ist dagegen, was die dreitausendjährige Seele als die Wirklichkeit Nicht-Europas ausspricht. .Es ist auch ein Unheil, durch .Wirtschaftshilfe' einzugreifen, wo sie nur Geschenk bleibt. Die Völker werden nur immer begehrlicher... Aber es ist ihnen ihr Raum zu lassen, auf ihre Weise zu leben, zu hungern, in Massen geboren zu werden und hinzusterben. Sie haben das Recht zu ihrer Freiheit." (Ebenda, S. 132 f.) Ebenda, S. 241. Ebenda, S. 240. Ebenda, S. 401.

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„unermeßliche Glücklosigkeit, die mit der Technik in die Welt k o m m t . . . " 9 „Aber auf die Rationalisierung und Technik ist das Leben nicht zu gründen", 10 weil dann der Mensch nicht er selbst bleibe. Das Auseinanderfallen von Subjekt und Objekt, das im spätbürgerlichen Denken mit der Existenzphilosophie seine Spitze erreicht, erhält nur ein neues Moment: Der aller Kontrolle entrückte Daseinsapparat droht den Menschen nach Jaspers in doppelter Gestalt zu verschlingen: als „totalitäre Herrschaft" (=Sozialismus), die die objektive Welt auf Kosten der Freiheit des Menschen ordnet und derart der Gegenpol des „Mensch-Seins" überhaupt ist n , und als totale Vernichtung der Menschheit im eventuellen Atomkrieg. Die Atombombe wird nicht objektiv historisch als Produkt der imperialistischen Machtpolitik erklärt, sondern sie wird als letzte Konsequenz der unheilvollen „rationalistischen" Entwicklung der Menschheit im Werdegang der Technik mystifiziert. Die Frage des Atomtodes ist in diesem existenzphilosophischen Sinne „die Daseinsfrage überhaupt, die Frage nach Sein oder Nichtsein". 12 Der traditionelle romantische Antikapitalismus ist hier endgültig zum phantasielosen Antikommunismus geworden. Jaspers stellt die Menschheit vor die Alternative: Entweder atomare oder „totalitäre" Katastrophe, entweder verliert sie das Leben überhaupt oder das „lebenswerte" Leben. Mit seinem irrationalen Schema der verfehlten rationalistischen, technischen Entwicklung des Menschen schiebt er die zwei verschiedenen Fragen in eine Ebene. Nötig sei die wahre Besinnung des Menschen auf seine eigentliche Existenz. Von dieser her müßten alle politischen Urteile gefällt werden. Am Beispiel des Totalitarismus-Begriffes ist deutlich zu sehen, wie sich der militaristische Antikommunismus in die irrationalistischen weltanschaulichen Modelle der spätbürgerlichen Ideologie (Geschichte - Geschichtlichkeit, Dasein - Existenz) einfügt. Er gibt ihnen ihre objektiv-inhaltliche Bedeutung und besondere historische Aktualität. Bevor wir zu dem kommen, was Jaspers aus der Besinnung auf seine Existenz heraus zu verkünden hat, müssen wir 9 11

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1 0 Ebenda, S. 264. Ebenda, S. 167. Der „Totalitarismus" ist „die künstliche Entsetzlichkeit totalen Verzehrtwerdens durch den technischen Verstand der Menschen selber." (Ebenda, S. 229). Ebenda, S. 30.

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die Methode betrachten, mit der er die existentielle Urteilsfähigkeit herzustellen sucht. Er entwickelt zu diesem Zweck seine Unterscheidung von Verstand und Vernunft weiter. Der Verstand ist abstrakt und an das Objekt verloren, er distanziert Mensch und Ding und gräbt nur im äußerlich Daseienden. Die Vernunft dagegen geht auf die Erfahrung der Existenz. Sie ist nicht eine „Summe klarer Gedankenakte", sondern eine „das Leben tragende Grundstimmung". 13 Sie ist alles Nicht-Rationale, das nur „zu erwecken, aber nicht zu erkennen" ist. Sie allein ist das „umwendende Denken" 1 4 , das den Menschen wirklich mit einbezieht. Jaspers verwirft von daher jedes rationale historische Handeln. Das verstandesgemäße Suchen rationaler Erkenntnisse in Psychologie, Soziologie und Politik, um etwa Mittel zur Lenkung der Geschichte in die Hand zu bekommen, sei bloßer Trug. Alles verstandesmäßige „Machen" führt nur zur „existentiellen Konfusion". Die Vernunft erst nimmt das Subjekt zum Gegenstand: Sie führt den einzelnen auf sich als einzelnen zurück. Dessen existentiale Erfahrung ist erst die wirkliche „innere" Veränderung der Geschichte. „Aus der Existenz heraus" erst könne der Mensch im Interesse seiner Freiheit handeln. Diese Beziehung von Verstand und Vernunft ist der letzte ideologische Ausdruck dessen, was Marx einmal die Entfremdung der kapitalistischen Sachwelt vom Menschen nannte. Jede rationale Fragestellung, die auf das objektive gesellschaftliche Dasein des Menschen und dessen Gesetzmäßigkeiten gerichtet ist, wird als sinnlos verleugnet. (Vgl. Jaspers „Verleumdung eines .Totalwissens' der Geschichte", wie er es in „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" ausführt.) Schon die Art des Fragens „Welche Anwendbarkeit hat es? Was soll ich tun?" entspringe aus der verkehrten „Gewohnheit rational-zweckhaften Denkens". 15 Wir sehen hier den Gipfel der Ausweglosigkeit des bürgerlichen Denkens angesichts der objektivgesetzmäßigen Dialektik in der Geschichte. Die Dialektik der historischen Entwicklung geht dem bürgerlichen Denken tatsächlich über den „Verstand", und es versucht sie nun hintenherum, durch völlige Abkehr vom Objekt, von der Geschichte, wieder einzufangen. Diesen Versuch stellt Jaspers Scheindialektik von Verstand und Vernunft 13 u

Ebenda, S. 300. Ebenda. S. 285.

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Ebenda, S. 284.

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dar. Er will den Gegensatz, in dem die imperialistische Bourgeoisie zu den objektiven historischen Gesetzmäßigkeiten steht, ideologisch beseitigen. Der irrationale Begriff der Vernunft soll die reaktionäre Politik der Bourgeoisie mit den Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Wirklichkeit vereinigen. Diese Scheindialektik einer Subjekt-Objekt-Einheit ist für die bürgerliche Ideologie um so notwendiger, als sich von ihrem Standpunkt aus die Geschichte tatsächlich als „tote", nämlich von ihr nicht gewollte und überschaute, dämonische Kraft über sie hinwegbewegt. Im Begriff der existentialen Vernunft sucht Jaspers die Herrschaft des bürgerlichen Subjekts über die Geschichte der objektiven „Planungen und Ziele" 16 für das bürgerliche Bewußtsein wieder herzustellen. Aber diese Herrschaft ist, wie dieser Vernunftbegriff selbst, völlig subjektiv und zunächst auch völlig passiv. Die Vernunft kann nur der einzelne als einzelner haben. „ . . . eine organisatorische Förderung moralischer Erneuerung ist nicht möglich. Ihre Organisation wäre schon ihre Selbstaufhebung" 17 . Der von Vernunft Ergriffene »sucht das dem Denken verbundene innere Handeln". 18 Mit der Vernunft des existentialen Ich, das ohnehin nur ein spekulatives Phantom ist, wird eine Subjekt-Objekt-Einheit auf der Grundlage des extremsten Subjektivismus konstruiert. Diese Methode ist die Basis für eine systematische Ableitung der militaristischen westdeutschen Politik. Das bezeichnete Problem stand vor der Existenzphilosophie der 30er Jahre nicht in diesem Umfange. Erst auf der Basis der parasitären Hochkonjunktur der kapitalistischen Wirtschaft, die auf einmal wieder einen „totalen Einsatz" lohnend macht, und der Panzerung des antikommunistischen „freien Abendlandes" in der NATO, die ja eine aktive, objektive Politik treiben will, entsteht für die Existenzphilosophie die Aufgabe, „geschichtskräftig" zu werden. Sie kann nicht dabei stehenbleiben, den Menschen von der objektiven Wirklichkeit zurückzustoßen, ihn in der „punktualen Daß-Erfahrung" seiner „Existenz" auf sich zurückzuwerfen. In den Vordergrund tritt vielmehr der Heraustritt des Individuums aus seinem existentiellen Ich in die Wirklichkeit. Zugleich macht die militaristische Ideologie den praktischen Gehalt der imperialistischen Weltanschauung aus. 16 17

Ebenda, S. 283. Ebenda, S. 310.

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Ebenda, S. 293.

Der antiwissenschaftliche Charakter des imperialistischen Weltanschauungsbedürfnisses wird besonders an Jaspers' Begriff des „philosophischen Glaubens" deutlich. Er sagt: »Philosophischer Glaube ist nicht gegenständliche Erkenntnis. Philosophie ist nicht W i s s e n s c h a f t . . 1 9 Diese antiwissenschaftliche Weltanschauung wird nun aktiv, und es heißt deshalb in immer verschiedenen Varianten: „Philosophischer Glaube ist nicht Inhalt, an den geglaubt wird, sondern ein Tun, mit dem geglaubt wird." 20 Es ist klar, daß der extreme Subjektivismus des »vernünftigen Einzelnen" nur der Gegenpol der rücksichtslosen, eben der von allem Gewissen menschlicher Vernunft entleerten Machtpolitik der bürgerlichen Klasse ist. Deshalb schließt Jaspers auch sofort an, daß es „Tollheit" wäre, so zu handeln, als ob die Menschen die „Umkehr" zur Vernunft schon vollzogen hätten.21 »Die Welt wird nicht durch Vernunft unmittelbar erobert... Politisches Handeln und Denken heißt gerade Eintreten in die Welt - der Listen und Geschicklichkeiten."22 »Politik ist Eroberung und Behauptung der Macht durch Gewalt und durch alle Mittel der Ordnung."23 usw. usf. Ganz genau besehen wird aus der Politik des vernünftigen Einzelnen eine heillose Unvernunft der Politik. Der große „vernünftige Einzelne" entpuppt sich als - Konrad Adenauer. Jaspers sieht die politische Vernunft in nichts anderem als der »bewunderungswürdigen, einfachen, geduldigen, hartnäckigen, erfinderischen Außenpolitik des Bundeskanzlers".24 Mit der Reduzierung der geschichtlichen Wirklichkeit auf die „Vernunft" des Einzelnen gelingt es, scheinbar philosophisch begründet, alle praktisch-politischen Versuche und Bewegungen zur Erhaltung des Friedens als unexistentiell abzutun und als verfehlt zu denunzieren. Das abstrakte Denken im Bereich des Verstandes gäbe nur den falschen Schein der Lösung. Er entwickelt eine sehr zielsichere antikommunistische Praxisauffassung. Verfehlt seien z. B. die Versuche zur Definition des Aggressors oder das Suchen nach irgendwelchen Mitteln, um die Einstellung der Kernwaffenversuche 19 20 21 24

2 2 Ebenda, S. 334 Ebenda, S. 367. 2 3 Ebenda, S. 343. Ebenda, S. 366. Ebenda, S. 392. Vgl. Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung, München 1960, S. 19.

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zu erzwingen.25 »Auf dem Wege der wissenschaftlichen Denkungsart, die zur Entdeckung der Atomenergie geführt hat, ist eine Lösung der durch das Dasein der Atombombe aufgeworfenen Probleme nicht möglich."26 Wie dann? »Wenn die Umkehr der Politik geschehen sollte, so jedenfalls nicht durch einen objektiv-erkennbaren soziologisch-politischen Prozeß. Der Weg geht über die Umkehr der einzelnen Menschen."27 Aus dieser subjektivistischen philosophischen Position heraus führt Jaspers einen rücksichtslosen politischen Angriff auf die achtzehn Göttinger Physiker. Er diffamiert ihr Auftreten als „unterpolitische substanzlose Intellektualität und Selbstbetrug".2» Der Apell der Göttinger Achtzehn vom 12.4.1957 an Bevölkerung und Regierung Westdeutschlands war ein Akt der Ehrenrettung der deutschen Wissenschaft, der für immer in ihre Geschichte eingehen wird. Wie sehr der deutsche Militarismus davon getroffen war, beweist, dafj kein Ideologe der Reaktion darauf verzichtet, über die Physiker herzuziehen. Bei Jaspers finden wir alle ihre Argumente in weltanschaulich-systematischer Form: 1. Der Atomtod könne durchaus humaner sein als der Tod auf dem Feld der Ehre an Durst oder Wundfieber, da er schneller sei. Das inhumane Problem am Atomtod liege nicht darin, daß er Massenmord sei, sondern darin, dafj der Tötende durch die Technik, nicht unter Einsatz seines Lebens töte. Insofern würden die Physiker die „wahre Gefahr" der menschlichen Situation verkennen. 2. Die Physiker hätten kein politisches Urteilsvermögen aus ihren Fachkenntnissen heraus.29 Hiergegen ist dem, was Prof. von Weizsäcker (der Physiker) schon 1957 sagte, nichts zuzufügen: Die Folgen der technischen Anwendung von Atomwaffen müssen gerade Physiker (natürlich auch Biologen, Mediziner u. a.) beurteilen, sie sind deshalb zum politischen Urteil gegen die Atomwaffen berufen und gezwungen.30 Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958, S. 291. 2« Ebenda, S. 281. 2 8 Ebenda, S. 64. 27 Ebenda, S. 323. M Vgl. ebenda, S. 270. 3 0 Vgl. Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957.

25

55

3. Der Vorschlag auf Neutralität Deutschlands wird strikt abgelehnt. 31 Wie wir sehen, ist die existentiale »Vernunft des Einzelnen" nur Wort für Wort die Sprache der Unvernunft des kollektiven Militaristenverstandes. Dessen Widersacher werden sogar mit der Exkommunikation aus der 3000jährigen Wurzel der europäischen Freiheitsidee bedroht. 4. Sein militaristisches Staatsideal verteidigt er schließlich folgendermaßen: „Die Bundesrepublik, die wenig Autorität und nur ein begrenztes Ansehen bei der deutschen Bevölkerung hat (,hört, hört' selbst von rechts - G. I.) wird ohne Gefahr diskreditiert." Dabei ist Herr Jaspers so frei, sich insbesondere über die »Gefahrlosigkeit des Appells für seine Urheber zu empören, wie seine alles enthüllende Bemerkung beweist, unter Hitler hätte sich keiner der Physiker pazifistisch zu mucksen gewagt... Im Anschluß an diese Passagen spricht Jaspers offen die Wissenschaftsauffasung aus, wie sie sich aus der militaristischen imperialistischen Weltanschauung ergibt. Die Wissenschaft, die nicht selbst ihren Sinn begründen könne, könne von sich aus keinen Weg zum Humanismus zeigen. Sie sei „weder menschlich, noch vernünftig, sondern von neutraler Gleichgültigkeit... Die Motivation des Wissenschaftsbetriebes ist keineswegs notwendig verbunden mit der Humanität im Ursprung des eigentlichen Wissenswollen." 32 Wer denkt da nicht an Brechts „Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können"? Offenbar werden sie von der imperialistischen Reaktion an Stelle verantwortungsbewußter Wissenschaftler nach dem Vorbild der Göttinger Achtzehn gebraucht. Jaspers' nicht minder scharfe Angriffe gegen den religiösen Pazifismus in Westdeutschland übergehen wir. Wichtig ist abschließend noch Jaspers' positives politisches Programm, das er aus seinen philosophischen Prämissen konstruiert. Die Haltung der „umwendenden Vernunft" geht auf die alte „heroische Haltung" zurück, die die Existenzphilosophie überhaupt ausspricht. Nur entwickelt Jaspers jetzt aus ihr ein klares politisches Programm. Er leitet es aus der „Idee des Opfers" ab. „Das Opfer aber ist unumgänglicher Grund des Menschseins."33 31 32

33

Vgl. Karl Jaspers, a. a. O., S. 272. Ebenda, S. 279.

56

Ebenda, S. 92.

Der Kern des Opfers besteht heute darin, „ . . . daß in einem kommenden Augenblick die Entscheidung getroffen werden müßte: Entweder totalitäre Herrschaft oder die Atombombe." 34 Dabei ist nun jedes Opfer und auch der Atomtod „immer noch besser, als insgesamt die Freiheit zu verlieren". 35 Hiermit geht Jaspers zur zügellosen Apologie der aggressiven Machtpolitik des westdeutschen Monopolkapitals über. Nur das Wagnis des letzten Risikos, also der Atomrüstung und notfalls der Auslösung des Atomkrieges, sei nicht Kapitulation vor dem Sozialismus. „Darum kann das Leben als Dasein, wie das einzelne Leben, so alles Leben, eingesetzt und geopfert werden um des lebenswürdigen Lebens willen." 36 Die politische Gewalt wird jetzt zur ersten „Grenzsituation", die die Existenzphilosophie kennt. Die allgemeinen Kategorien Leiden oder Schuld treten in den Hintergrund. Er zieht die militaristische Konsequenz des Kosmopolitismus und fordert ein Weltrecht, die Aufgabe der einzelstaatlichen Souveränität und schließlich die militärische Einmischung der westlichen Welt überall da, wo „die Menschenwürde", also die „Würde" des Großkapitals, verletzt wird. Jaspers fordert vom Menschen im Westen, daß er grundsätzlich der existentialistische Nihilist werde, um dadurch blind alles auf die Karte des Antikommunismus zu setzen. Das alte existenzphilosophische „Nichts", das „Sein im Scheitern" wird nun aktuell zum waffenstarrenden Sein angesichts des „Nichts" des Sozialismus oder des Atomkrieges. Wenn Jaspers meint, daß das „Reich der Freiheit" das Reich des Menschen sei, so wissen wir, daß er völlig zu Recht das Reich der bürgerlichen Freiheit als das der Kapitalistenklasse versteht. Wenn der Kommunismus ihm das Reich ist, „wo der Mensch aufhört, er selbst zu sein" 37 , so sagt er nur, daß der Sozialismus das Nichtsein des Bourgeois ist. Das mag für ihn tatsächlich eine „künstliche Entsetzlichkeit" sein 38 , ist aber kein Grund für die atomare Vernichtung der Menschen überhaupt. Insgesamt hat Jaspers mit diesem Buch am großen historischen Gegenstand gezeigt, was die Existenzphilosophie vermag. Sie ist 31 35 38

Ebenda, S. 107. Ebenda, S. 141. Ebenda, S. 231.

37 38

Ebenda, S. 228. Ebenda, S. 229.

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hervorragend geeignet, wesentliche Momente des reaktionär gewordenen bürgerlichen Denkens ideologisch zu formulieren und ist damit zugleich in der Lage, die Ideologie der militaristischen Reaktion Westdeutschlands auf die Wissenschaft zu übertragen. Vernunft und Wissenschaft, »des Menschen allerhöchste Kraft", sollen zersetzt und der Mißbrauch der Wissenschaft im Dienste der atomaren Strangulierung des sozialistischen Weltsystems und damit der friedlichen Zukunft der Menschheit philosophisch-theoretisch gerechtfertigt und begründet werden. ii In den gegenwärtigen westdeutschen Gesellschaftswissenschaften überbietet man sich in dem Bekenntnis zur abendländischen Treue, zur geistigen Verteidigung des Abendlandes. Der mit reaktionärem Inhalt erfüllte Begriff des Abendlandes ist ein zentraler Punkt bei der wisenschaftlichen Systematisierung des Antikommunismus; dem geschlagenen deutschen Nationalismus soll er zur Kraft neuer Jugend verhelfen. Diese ideologische Tendenz erklärt sich aus der Orientierung des Bonner Staates auf die USA und die „westeuropäische Gemeinschaft". Die militaristische Linie in der deutschen Wissenschaft äußerte sich bis zum Jahre 1945 u. a. gerade in der nationalistischen Widerspiegelung der Besonderheiten der staatlichen Entwicklung Deutschlands. Die historische Zurückgebliebenheit des deutschen Staates wurde als Moment seiner Einmaligkeit, ja seiner europäischen Bestimmung aufgefaßt. Für die offiziellen deutschen Historiker war seit Ranke die Ablehnung der westeuropäischen politischen Entwicklung, besonders der Idee der Volkssouveränität, des Naturrechts und des Parlamentarismus obligatorisch. Daraus entwickelte sich eine spezielle „deutsche Geschichtsideologie", die den Staat als organische Individualität verabsolutierte, die Lehre vom „Primat der Außenpolitik" und die Verherrlichung des Krieges zu ihren wesentlichen Momenten hatte. Diese militaristische Geschichtsideologie wuchs dann mühelos in die faschistische Gesellschaftslehre hinüber bzw. kulminierte in ihr. Sie stand aber in den Jahren nach 1945 jenen ideologischen Aufgaben im Wege, die sich aus der neuen, internationalen Etappe der militaristischen und antikommunistischen Politik der deutschen 58

Bourgeoisie ergaben. Der germanische Mythos wurde zum abendländischen Mythos. Die deutsche militaristische Ideologie unterzieht sich mit der Entwicklung der Bundesrepublik einer abendländischen Verwandlung. Diese abendländische Metamorphose Westdeutschlands ist gleichsam sein ideologischer Marshallplan. Das völlig unwissenschaftliche ideologische Wesen des Abendlandbegriffs ist gerade an der späten Bekehrung der deutschen militaristischen Ideologie zu ihm leicht zu durchschauen. Der Begriff des Abendlandes offenbart besonders deutlich die Tendenz in der Entwicklung der bürgerlichen Weltanschauung, sich allen objektiven Inhalts völlig zu entleeren, um zugleich einen pseudowissenschaftlichen antikommunistischen Gehalt aufzunehmen. Dieser Begriff, wie er in der westdeutschen Geschichtsschreibung verwandt wird, ist tatsächlich bar jeden rationellen wissenschaftlichen Wertes. Er eignet sich nicht zum methodischen Prinzip exakter Geschichtsforschung, sondern taugt nur zum Vehikel unwissenschaftlicher Geschichtskonstruktion. Es ist schon schwer möglich, das Abendland geographisch zu lokalisieren. Wenn das getan wäre, welcher einheitliche „Geist" ließe sich aus diesem Raum abstrahieren? Ein staatlich einheitliches Abendland hat es nie gegeben, auch nicht im frühfeudalen Staat Karl I. und Otto I. In Jaspers' genanntem Buch finden wir z. B. bei der Bestimmung des abendländischen Typs der Geschichte die Feststellung: „Spanien lebt unter einer Diktatur, aber ist keineswegs totalitär." Es „kennt die Freiheit und Würde des einzelnen Menschen". 39 Wir sehen, ein faschistischer Staat paßt durchaus in das dreitausendjährige Abendland. Der Sozialismus in Osteuropa und der DDR ist wahrhaftig das geistige und politische Gegenteil des durch Franco sehr ehrenvoll repräsentierten „Freien Abendlandes". Der Abendlandbegriff als ein Höhepunkt der irrationalistischen Mythenbildung, die der imperialistischen Ideologie überhaupt eigen ist, macht auf der Basis seiner Unwissenschaftlichkeit in der imperialistischen Ideologie eine negative Entwicklung durch. Die alte Lebensphilosophie z. B. nahm den Europabegriff noch als reine „Idee". Diese Idee war noch nicht mit dem direkten politischen Kosmo39

Ebenda, S. 179.

59

politismus verschmolzen, der in der großen Krise der europäischen Bourgeoisie nach dem ersten Weltkrieg auflebte. Simmel z. B. verurteilte den „Internationalismus" als »wohlklingende Übertäubung der Entwurzeltheit" gegenüber der „Idee Europas".40 Freilich war dieser Begriff bereits damals alles andere als wissenschaftlich. Immerhin wird die Idee Europas noch getrennt von anderen geistigen „Typen", etwa der griechisch-römischen Kultur des Altertums oder der katholischen Weltidee des Mittelalters usw. Bei Spengler steht der Begriff des Abendlandes im Zeichen des „faustischen Menschen", der die Technik hervorbrachte. Heute ist sein hauptsächlicher und ausschließlicher „objektiver" Inhalt der „Nicht-Sozialismus". Der Begriff des Abendlandes schafft die geistige Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. 41 Seine beste Charakterisierung gab wohl der demokratische englische Historiker Barraclough, als er sagte, daß die Idee der Einheit der europäischen Kultur zu einem „Hilfsmittel für politisch organisierte Mächte geworden ist. Sie ist zu ihrem Recht gekommen als eine ideologische Nebelwand, hinter der die kriegerischen Verteidiger der abendländischen Tradition sich darauf vorbereiten, die Artillerie der Atombombe in Stellung zu bringen." Der Abendlandmythos habe speziell die Funktion, den Antisowjetismus mit einem ideologischen Fundament zu versorgen. 42 Für die konkrete Analyse des Übergangs der reaktionären deutschen Geschichtswissenschaft auf das abendländische Gleis ist es nicht unwichtig, zuvor den gleichen Vorgang aus dem Munde nüchterner deutscher Militärs zu vernehmen. Der Nachfolger Hitlers, Großadmiral Dönitz, hinterließ ein Redemanuskript aus den Maitagen des Jahres 1945. In diesem Manuskript setzte er seine ganze 40

41

4a

Vgl. Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München 1917, S. 67 ff. Eine interessante Kritik des Abendlandbegriffs als „wirklichkeitsfremdes Schlagwort gedankenloser Politiker" gibt der Schweizer Ökonom Richard F. Behrend in „Problem und Verantwortung des Abendlandes in einer revolutionären Welt". Er steht etwa auf der Position, die uns von Baades „Wettlauf zum Jahre 2000" bekannt ist. Geoffroy Barraclough, Geschichte in einer sich wandelnden Welt, Göttingen 1957, S. 40 f.

60

Autorität für die Westorientierung der deutschen Armee ein. Er sagte, er wisse nicht, was die Sieger mit „uns" tun, aber wohl, was „wir" zu tun haben: „Es ist klar, dag wir mit den Westmächten zusammengehn und mit ihnen in den besetzten Westgebieten zusammenarbeiten müssen, denn nur durch Zusammenarbeit mit ihnen können wir hoffen, später unser Land von den Bussen wiederzuerlangen." Den gleichen Standpunkt formulierte noch umfassender der letzte Generalstabschef der faschistischen Luftwaffe, General Koller, am 24. Mai 1945 vor den in Strubb (Bayern) stationierten Offizieren des OKL. Er sagte vor allem, dag die Deutschen als »ein Kernvolk des Abendlandes" wieder Bedeutung erlangen werden. „Die Grenzen der europäischen Nationalstaaten sind überholt...", „ . . . es mufj daher ein vereinigtes Europa geschaffen werden..." usw. Das ganze Programm des deutschen Militarismus im Rahmen der NATO ist hier bereits enthalten. 43 Heute ist Franz Joseph Strauf}' „Atlantische Union" die Grundlage der abendländischen Erleuchtung in der westdeutschen reaktionären Wissenschaft. 44 Die Umbildung der faschistischen Ideologie in ein Bestandteil des abendländischen Mythos ist die erste Nachkriegsaufgabe der westdeutschen Historiker. Es kommt z. B. besonders darauf an, die imperialistische deutsche Ostbewegung vom Geruch des Nationalsozialismus zu befreien, um den deutschen Revanchismus, die Grogdeutschlandideologie und die Blut- und Bodenlehre in die „neue" abendländische Weltanschauung hinüberretten zu können. 43

44

Vgl. „Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere", Heft 5/60. Vgl. den programmatischen Artikel Straufj' in den .Wehrtechnischen Monatsheften" 3/61, „Die Atlantische Union": „Die Zeit der absoluten Nationalstaaten mit angeblich unbegrenzter Souveränität ist heute endgültig vorbei.. . Wir müssen über den Rahmen der Vereinigten Staaten von Europa hinaus zu einer Atlantischen Gemeinschaft kommen. Wir müssen eine Atlantische Union schaffen, mit dem mare atlanticum dazwischen, dem Mittelmeer der modernen Zeit. . ." Der „Atlantische Raum" müsse zu einer „politischen, technischen, militärischen und vor allem geistig-kulturellen Realität werden.". . . „Was wir heute brauchen, ist die Atlantische Union als großes mitreißendes Zukunftsprogramm." (S. 93 f.).

61

Hans Rothfels, einer der führenden westdeutschen Historiker, trat 1953 unter dieser Aufgabe an. 4 5 Übrigens interessanterweise in Polemik gegen den Engländer Arnold Toynbee, der mit einigen Erinnerungen an die Allianz der Westmächte im zweiten Weltkrieg hervorgetreten war. Die westdeutsche Geschichtswissenschaft aber ist objektiv gezwungen, alle Reste der antifaschistischen Ideologie ,auch in Westeuropa zu vernichten, da sie sonst ihren ideologischen Auftrag nicht zum Ziele führen kann. Die abendländische Ideologie des deutschen Faschismus bedeutet zugleich eine Faschisierung der traditionellen westeuropäischen antikommunistischen Ideologie. Der Angriff Rothfels' entzündet sich an einer Stellungnahme Toynbees zur Umsiedlerfrage. Toynbee hatte keinesfalls gesagt, die Umsiedlung sei eine Schutzmaßnahme gegen eine Wiederholung der faschistischen deutschen Verbrechen. Er sagte lediglich, die Umsiedler erlitten die schwere Strafe des Verlustes ihrer Heimat, weil sie keinen Erfolg in der Kontrolle ihrer Regierung hatten. Aber bereits das genügt. Was das bedeuten solle, fragt Rothfels, und er eröffnet die Auseinandersetzung durch einige Geschichtsfälschungen. Die Hitlerbewegung kam doch nicht aus dem Osten, sondern aus Österreich und Bayern, belehrt er Toynbee. Nur ein Preuße gehörte ihr führend an - und der ging bald in Opposition: Herrmann Rauschning. Im Gegenteil: Die pommerschen Junker, überhaupt der ganze Osten, war schon immer in „christlicheuropäischer Opposition" gegen Hitler. Rothfels verschweigt mit „nordischer List" Hitlers 5. Kolonnen. Er weiß das ostpreußische Bauerntum nur als „latente Massenbewegung oppositioneller Art" zu vermelden. 46 Von den „Vertriebenen" seien überhaupt „alle ohne Einfluß... auf die Entscheidungen des nationalsozialistischen Regimes" gewesen, und kaum einer habe persönlich an Verbrechen teilgenommen. 47 Toynbee hatte behutsam festgestellt, daß es die „preußische Expansion" gewesen sei, die machthungrigen Herrschern die Möglich45

Alle Zitate im folgenden aus: Hans Rothfels, Ostdeutschland und die abendländische politische Tradition, eine Antwort an Prof. Toynbee, in: Der deutsche Osten und das Abendland, München 1953, hrsg. von Hermann Aubin.

46

Hans Rothfels, „Deutschland und die abendländische politische Tra47 Ebenda, S. 203. dition . . i n : a . a . O . , S. 194.

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keit gab, „ein unverantwortlich gehorsames deutsches Volk" gegen seine Nachbarn zu hetzen. War Hitler früher für die deutsche Geschichtswissenschaft die Vollendung einer uralten Tradition, so wird jetzt jede Verbindung zwischen Faschismus und Preußentum geleugnet. Hitler wird historisch wurzellos gemacht. Das geht sehr leicht mit einer psychologisierenden Betrachtungsweise. 48 Hitler ist der Anführer einer Horde von „Verbrechern", deren Verbrechertum eben nicht in ihrer politisch-sozialen Basis, sondern in ihrem Machtwillen, ihrem Zynismus oder was sonst für inneren Dämonen seine Wurzeln hat. Derart kann die militaristische Tradition mühelos aus der Geschichte Deutschlands herauspsychologisiert werden. Über den preußischen Staat sagt Rothfels geradezu, daß die „spezifischen bürokratischen und militärischen Institutionen des werdenden Großstaates weitgehend französische Importwaren gewesen" seien. Er verschweigt hier nur die Kleinigkeit - die Richtigkeit der Behauptung einmal hypothetisch unterstellt daß Preußen im 19. und 20. Jahrhundert, von jeder Revolution ungehindert, französische „Waren" importierte und konservierte, die in Frankreich bereits durch die Revolution 1789 verdorben waren. Viele preußische Offiziere und Beamte seien Hugenotten gewesen, und überhaupt sei ein „bodenständiger Liberalismus für Altpreußen bis über die Jahrhundertmitte" charakteristisch. Im übrigen sei die Verwandtschaft des preußischen Königtums mit dem westeuropäischen Absolutismus ein hinreichendes Zeugnis der echt abendländischen Tradition des Preußentums. Alle diese Argumentationen sind natürlich nur auf der Grundlage des totalen Verfalls des historischen Denkens, den die imperialistische Bourgeoisie herbeiführte, möglich. Jede objektive Periodisierung der modernen Geschichte wird vermieden. Im Grunde enthüllt aber Rothfels selbst das reaktionäre Wesen des preußischen Staates zur Genüge: Das Preußentum, das nach ihm bis in die Gegenwart der angeblich echte Gegenspieler Hitlers ist, ist bei ihm der Bundesgenosse einer westeuropäischen Tradition, die im Westen selbst schon vor durchschnittlich 200 Jahren von großen nationalen 48

Die gleiche Methode benutzt Ritter zur Ehrenrettung des wiederbenötigten deutschen faschistischen Generalstabes. Vgl.: „Der 20. Juli 1944", „Die Wehrmacht und der politische Widerstand gegen Hitler", „Schicksalsfragen der Gegenwart", Bd. 1, Tübingen 1957.

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Revolutionen unterbrochen wurde. Wenn das keine Empfehlung des Preußentums an die „atlantische Union" des »freien Abendlandes" ist... Der zweite Hauptpunkt in Rothfels' Auseinandersetzung mit Toynbee betrifft die Spaltung Deutschlands. Toynbee hatte eine „englische" Auffassung von der Teilung Deutschlands und ihrer Überwindung vertreten. Er sagte, die Spaltung nach dem Kriege sei nur eine Offenbarung der langen inneren Teilung Deutschlands in „Potsdam und Weimar". Sie bringe im übrigen drei Vorteile: Westdeutschland kann restlos zum „geeinten" Westeuropa geschlagen werden, die beträchtliche Anzahl der Umsiedler wird zu „Demokraten" umerzogen, und die parlamentarische Entwicklung Westdeutschlands in Abhängigkeit von einer klugen Politik der Westmächte bietet die Gewähr dafür, daß die Wiedervereinigung nicht durch Krieg, sondern durch Verhandlungen zustandekommt. Rothfels wehrt sich gegen den Gedanken eines „West-Ost-Gefälles" in Deutschland. Ganz Deutschland, selbstverständlich einschließlich Schlesiens, Ostpreußens gehörten zum „Abendland". Rothfels begründet hier das „abendländische" Interesse (das NATO-Interesse) an der Annexion der DDR. Indem er Toynbee und den westeuropäischen Verbündeten Bonns weiszumachen sucht, daß die ehemaligen deutschen Osteuropäer bessere Abendländer seien als die eigentlichen Westeuropäer selbst4®, spricht Rothfels nicht mehr und nicht weniger als das Programm der Vorherrschaft des deutschen Imperialismus und seiner Ideologie im Rahmen der NATO aus. Die Schrift stammt aus dem Jahre 1953. Wir sehen, daß die ideologische Entwicklung kein mechanischer Reflex der politisch-ökonomischen ist, sondern als deren logischer Ausdruck ihr oft die eigene Zukunft weist. Bonn hatte damals noch kein so offenes Regierungsprogramm wie heute, keine Truppen in England, keinen General in Fontainebleau. Rothfels antizipierte Grundprobleme, die sich aus dem Bündnis der Westmächte mit dem wiederaufgerüsteten Westdeutschland ergeben, z. B. auch den Gegensatz, der bei der Lösung der Westberlinfrage zwischen England und Westdeutschland ans Tageslicht kommt. 49

Vgl. ebenda, S. 2 0 4 - 2 0 8 .

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Ein Artikel von Hermann Aubin, dem Wortführer der Ostforscher, zeigt die volle Funktionstüchtigkeit des Abendlandmythos in der militaristischen Geschichtsideologie. Er veröffentlichte den Aufsatz „Abendland, Reich, Deutschland und Europa" an besonders repräsentativem Ort: Im ersten Band des „Handbuchs für politischhistorische Bildung", herausgegeben vom Kriegsministerium selbst. 50 Seine brillante Konzeption zur Legalisierung der »alldeutschen" preußischen und der faschistischen Epoche spricht er schlicht so aus: „Nicht die Tatsachen berechtigten, aber Worte gaben Anlaß, den Deutschen das Streben nach Vorherrschaft in Europa zuzuschreiben." 51 Deutschland sei z. B. nur durch die Verbindung zu Österreich in den ersten Weltkrieg „hineingezogen" worden. Vom zweiten läßt Aubin kein Wort fallen. Er behandelt im einzelnen: Deutschland und das Abendland überhaupt, Nazideutschland und schließlich die Bundesrepublik im Verhältnis zum Abendland. Sein Grundanliegen ist der „Nachweis", daß die Deutschen das Wurzelvolk des Abendlandes sind, immer waren und unbedingt bleiben müssen, wenn der Westen vor der „russischen Weltrevolution" bewahrt werden soll. Der Begriff des Abendlandes sei zunächst nicht geographisch bestimmbar, er sei nur ein besonderer geistiger Teil Europas ohne den Balkan. Das „Abendland" beinhalte den „volleren Inhalt" des Europäischen. 52 Genauer: Sein wichtigstes Erbstück ist die „Lehre Christi in dem Gefäß der Kirche". 5 a Wie diese Behauptung zu der anderen paßt, daß das Abendland seinen Ausgang in der „griechischen Antike" habe, die doch „heidnisch" war, läßt er im Dunkel des „volleren Inhalts". Aber schon im Mittelalter bildeten nach Aubin die Germanen die Oberschicht, die auch die Stagnation Roms überwunden habe. So einheitlich und stark sei das Abendland leider nie wieder gewesen wie zur Zeit, als es „von der Kraft der Franken auf die Schultern genommen" wurde. 54 Deutschland habe damals mit dem zentralen Kaisertum die wichtigste Grundlage des Abendlandes geschaffen, die Reichsidee. Die deutschen Kaiser und Könige 50

51 52

5

.Abendland, Reich, Deutschland und Europa", in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd. 1, Tübingen 1957, hrsg. von Hermann Aubin. 5 3 Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 55 . 5 1 Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 30. Scheler, Die Wissenschaft

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waren es, die den Sieg über die Magyaren erfochten, die Italien den Frieden brachten und die Westslawen jenseits von Elbe und Oder „eingemeindeten" usw. usf. Gegenstand besonderen Stolzes für Aubin bildet das historische Glanzstück der Donaumonarchie, seit dieser „Staatsleistung des deutsch geführten Österreich" 5 5 datiere überhaupt erst die Ausweitung des Abendlandes zu Europa. Wir sehen an diesen Passagen deutlich, wie Aubin die alte faschistische These von der Bestimmung Deutschlands zur Vorherrschaft in Europa nur in ein neues ideologisches Gewand kleidet. Da er jedoch die vielen Eroberungskriege Deutschlands gegen seine Nachbarn nicht vergessen machen kann, sucht er sie mit psychologisierenden Phrasen zu rechtfertigen. Das abendländische Grundproblem der Geschichte Deutschlands sei seine Existenz als „Wellental zwischen" einstiger Vormachtstellung im Mittelalter und „einem späten Aufstieg zu neuer politischer Geltung". 56 Daraus resultiere eine politische „Unausgeglichenheit" (!) im schwankenden „Bekenntnis zu Idealen und reiner Realpolitik". 57 Deutschland habe die Erinnerung an die universale Herrschaftszeit der Karolinger im „harten Niedergang" geschmerzt. Aus dieser Ausgangsstellung heraus geht er an die „Bewältigung" der faschistischen Vergangenheit. Die „Erhebung des Herzlandes von Europa" im Faschismus konnte sich nicht vollziehen, „ohne nach allen Seiten mehr oder minder als Druck wirksam zu werden". 58 Das Münchener Abkommen sei aber der Beweis, da§ die deutschen Ansprüche auf „internationale Ausgleichung" berechtigt waren. „Das nationale Bekenntnis, mit dem auch der Nationalsozialismus angetreten ist, bedeutet... mit der Bejahung des eigenen Volkstums . . . zugleich die Anerkennung aller anderen Volkstümer". 59 Solche Sätze sind wahrhaftig „des Lesens zweimal wert". Das wagt ein deutscher Historiker zu sagen, nur 15 Jahre, nachdem der völkermordende deutsche Faschismus über alle seine Nachbarn hergefallen war und sie mit einer in der Geschichte einzig dastehenden Bestialität auszurotten versucht hatte. Heute stellt das „Westeuropa" der NATO, Euratom und Montanunion das „reine Abendland" dar, nachdem die sozialistischen Re55 56 57

Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 42.

Ebenda, S. 58. 59 Ebenda, S. 59.

66

volutionen in Osteuropa und in der DDR die „großeuropäische Gemeinschaft" zerbrochen haben. Nun bestehen wieder die Abendlandgrenzen Karls des Großen, und Deutschland ist wieder berufen, die abendländische Reichsidee „auf die Schultern" zu nehmen. Quod erat demonstrandum - was zu beweisen war. 60 Wir haben diesen ganzen, gerade vom fachhistorischen Standpunkt aus kompletten Unsinn nur so ausführlich besprochen, um vor allem zwei allgemeine Schlußfolgerungen, das Verhältnis von militaristischer Ideologie und Wissenschaften betreffend, dokumentarisch zu belegen. Die militaristische Ideologie zersetzt und zerstört jegliche echte Wissenschaftlichkeit in den von ihr befallenen Wissenschaften restlos. Nicht mehr Geschichtsforschung, sondern die scheinhistorische Geschichtslüge ist das Panier. Die inhaltliche Wendung der bürgerlichen Ideologie zu einer aktiven imperialistischen Weltanschauung, die sich in der imperialistischen Periode vollzieht, hat zur ideologischen Verdampfung jeglichen echten wissenschaftlichen Inhalts, jeglicher Wahrheit und allen wissenschaftlichen Gewissens geführt. Wie heißt es im Umschlagstext des „Handbuchs"? Es „folgt der Tradition einer unbestechlichen, die freie Wahrheitsfindung erstrebenden Forschung". Etwas sehr frei, sind sie, diese „Findungen". 61 Zum zweiten zeigt sich, welchen Einfluß die militaristische Ideologie auf die Bewegungsrichtung der Wissenschaft hat. Wohin führt 60

Es ist gut zu wissen, daß Aubin mit Gerhard Ritter der Initiator der Provokation auf dem westdeutschen Historikertag 1957 war, als man die Historiker der DDR mit der Begründung nicht zu den Diskussionen zuließ und so ihre Abreise erzwang: sie verträten eine untragbare Bindung der „reinen Wissenschaft" an die Parteipolitik.

61

Im Text ist kein Raum, die faschistische Vergangenheit des einstigen Naziprofessors von Breslau zu würdigen. Im Vorwort zu dem schon zitierten Sammelband .Der deutsche Osten und das Abendland" hebt Aubin die abendländische Einheit „von der Adria bis zur Ostsee" hervor, deren „bestimmende Komponente das Deutschtum darin gewesen sei" (S. 14). Über die faschistische „Abendlandpolitik" geht er elegant mit der Bemerkung hinweg, dies habe auch Geltung dafür, daß „in der Zeit des Nationalsozialismus zumeist das Einzelvolk die Teilnahme fesselte" (S. 13). Das ist schön gesagt zur faschistischen Eroberungspolitik. Doch: vor Tische las man's anders. Aubin hielt z. B. 1936 vor der „Schlesisehen Gesellschaft

5*

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dieser Einfluß die westdeutsche Geschichtswissenschaft? Was kann sie unter diesen Umständen zum wirklichen Fortschritt, zur echten Belehrung unserer Nation beitragen? Die offizielle westdeutsche Geschichtswissenschaft verrät getreu ihrer alten preußischen Tradition die Zukunft der Nation an den deutschen Militarismus. Sie tut alles, was sie nur tun kann, um die Lehren, die unser Volk aus den bitteren Erfahrungen, die es mit der Herrschaft des Militarismus gemacht hat, ziehen muß, zu verdunkeln und den Irrweg der Nation unter Führung der Militaristen zu verklären. Ihren Anspruch, nationale deutsche Wissenschaft zu sein, hat sie verwirkt. Sie trägt nichts zur Rettung der Nation vor dem Militarismus und dem von ihm vorbereiteten neuen Weltkrieg bei und sucht mit allen Kräften die einzige Lösung der nationalen Frage in Deutschland, die eine wirkliche Lösung bedeutet, die Führung der Nation durch die Arbeiterklasse und den Sieg des Sozialismus in ganz Deutschland, zu verhindern. III

Der Einfluß der militaristischen Ideologie auf die westdeutsche Rechtswissenschaft kommt in drei ihrer zentralen Anliegen zum Ausdruck. Sie steht erstens und vor allem vor der Aufgabe, ein autoritäres Staatsbild unter Beibehaltung der parlamentarischdemokratischen Phraseologie und möglichst auch parlamentarischer Institutionen zu formulieren. Die beiden anderen Probleme sind ihr durch die Niederlage des faschistischen deutschen Staates im zweiten Weltkrieg entstanden. Sie muß die demokratischen Maßfür vaterländische Kultur" einen Vortrag mit dem Thema: „Wehrkraft, Wehrverfassumg und Wehrmacht in der deutschen Geschichte". Darin werden die Deutschen, „dieses Volk, so waffenfroh, seit seinem ersten Auftreten in der Geschichte", als tragische Figuren behandelt, weil sie sich durch alle großen Epochen ihres Daseins unter einen Widerspruch zwischen ihrem „naturgegebenen militärischen Vermögen" und der jeweiligen

„staatlichen

Wehrhaftigkeit"

zu

beugen

hatten. Doch

nun,

1936, kommt nach der tragischen endlich die heroische Zeit Gennaniens. „Heute, da der Bann der Wehrlosigkeit von uns genommen ist, da das Gesetz des 16. 3. 1935 über den Wiederaufbau der Wehrmacht. . . der nie erloschenen Wehrkraft unseres Volkes die voll ausschöpfende Verfassung zurückgegeben hat, heute fühlen wir uns auch innerlich freier. . ."

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nahmen der Jahre 1945/46 als unrechtmäßig nachweisen und die Bonner Aufrüstung in allen ihren Etappen und Erscheinungen legalisieren. Erich Kaufmann, langjähriger völkerrechtlicher Berater der Bonner Regierung, begleitete und unterstützte durch Völker- oder staatsrechtliche Gutachten, durch eine Unzahl juristischer Schriften und Vorträge wie auch durch rechtsphilosophische Abhandlungen das Wiedererstehen des deutschen Militarismus in Westdeutschland. Seit seiner ersten Schrift nach dem Kriege, „Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung", ebnete er mit juristischen Mitteln der Militarisierung der Bundesrepublik auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens den Weg. Sein staatsrechtliches Problem ist die Dialektik von „Autorität und Freiheit". Mit seinem Kampf gegen die demokratischen Elemente der westdeutschen Verfassung steht Kaufmann in der allgemeinen Linie der imperialistischen Politik und Ideologie, die auf die Abkehr von der bürgerlichen Demokratie und auf die Faschisierung des imperialistischen Staates gerichtet ist. „Die Zeit des liberalen Staatsideals mit seiner Beschränkung der Staatstätigkeit... ist unwiederbringlich vorbei." 62 Die imperialistische Bourgeoisie braucht gegen die wachsende Arbeiterbewegung einen starken Staat. Der Staat des Kapitalismus der freien Konkurrenz erscheint ihr daher als „Nachtwächterstaat", und ihre Ideologen definieren nicht mehr „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates", sondern suchen die bürgerliche parlamentarische Ordnung durch monarchische Prinzipien zu zersetzen. In einem Vortrag vom Jahre 1950 formulierte Kaufmann sein autoritäres Staatsbild.63 Als erstes Glied steht der „Monarch oder Präsident". Er ist „politisch nicht verantwortlich" und muß auch von jeder konstitutionellen Verantwortung frei sein. „Die Regierungen kommen und gehen, der Herrscher bleibt." 64 02

63

61

Erich Kaufmann, Gesammelte Werke in drei Bänden, Göttingen, Bd. 1, S. 48 f. Kaufmanns Dissertation, „Studien zur Rechtslehre des monarchischen Prinzips", 1906. Erich Kaufmann, a. a. O., Bd. 1, S. 482.

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Herrscht der Monarch oder Präsident aus Autorität, so gebührt der Regierung als dem nächsten Glied die potestas, die Macht. Sie hat eine „integrierende, aktivierende und dirigierende Aufgabe", wobei „grundsätzlich keine Rechtsnormen den Inhalt ihrer Tätigkeit finden".65 Erst die Verwaltung, als dritte Stufe, die allein organisatorische Aufgaben hat, ist rechtsverantwortlich. Die Freiheit des einzelnen besteht gut preußisch in der Autorität des Staates. Nur in einem autoritär regierten Staat „können Gesellschaft und Individuum ein Gefühl der Geborgenheit und der Gewährleistung ihrer Freiheit haben." 6 6 Das Volk kommt in Kaufmanns Gliederung nicht vor. Kaufmann trägt auch keine Bedenken, den praktischen Nutzeffekt seiner „Freiheit zur Selbstdisziplinierung", die er von den westlichen Staaten verlangt, offen auszusprechen. Die autoritäre Staatslehre ist die Antwort auf die Frage: „Wie können wir mit rechtlichen Mitteln die Freiheit vor den Feinden der Freiheit schützen und sichern?" 6 7 Kaufmann formuliert hier den Angriff des Staates der Großmonopole auf die kommunistische Partei, auf Organisationen des Friedenskampfes und alle demokratischen Bewegungen. Er konstruiert einen Unterschied zwischen „entziehbaren" und „unentziehbaren" Grundrechten. Zum Zwecke der Erhaltung der „freiheitlichen Grundordnung" müsse sie sich selbst teilweise aufheben. Das Koalitionsrecht, das Recht der freien Meinungsäußerung und das Eigentumsrecht gehören nach Kaufmann zu den „entziehbaren" Rechten. Auf die verbleibenden „unentziehbaren" Rechte kann die „freie Welt" allerdings stolz sein. Die gleiche faschistische Tendenz findet sich in Kaufmanns Auffassung des Verfassungsrechts. Es hat nach Kaufmann „vor allem Ermächtigungsnormen" in sich. 68 Die Regierung sei zu einem dauernden Rückgriff auf das ungeschriebene Recht der „natürlichen Staatsaufgaben" gezwungen. 69 Als aktuelle „natürliche Staatsaufgabe" nennt er 1950 bereits „die Frage des Militärwesens und der militärischen Dienstpflicht". 70 Als völkerrechtlicher Sachverständiger der Bonner Regierung trug Kaufmann im KPD-Verbotsprozeß seinen Teil zur Verfolgung der 65 68 67

Ebenda, Bd. 1, S. 505. Ebenda, Bd. 1, S. 486. Ebenda, Bd. 1, S. 517.

68 89 70

70

Ebenda, Bd. 1, S. 510. Ebenda, Bd. 1, S. 511. Ebenda, Bd. 1, S. 511.

führenden und leitenden Kraft im westdeutschen Widerstand gegen die Remilitarisierung bei. Seine rechtsphilosophische Basis für das Verbot der KPD finden wir in dem Vortrag über „Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit". 71 Kaufmann verurteilt die „Jurifizierung der Politik" und die „Politisierung der Justiz".72 Diese Trennung von Politik und Justiz verfolgt den Zweck, der imperialistischen Regierungspolitik alle moralische und rechtliche Verantwortlichkeit zu nehmen und die Justiz zu einem formalen Jasageapparat der Regierung herabzuwürdigen, sie also in Wahrheit in die Abhängigkeit gerade von der reaktionärsten, willkürlichsten Politik zu bringen. Der Wille zum Verbot der KPD ist nach Kaufmann die freie politische Entscheidung der Bundesregierung. Das politische Wesen der zu verbietenden Partei habe das Bundesverfassungsgericht nicht zu beurteilen. Es hat für den politischen Entschluß der Bonner Regierung nur die rechtliche Begründung zu liefern. „Das Bundesverfassungsgericht" hat „die Verantwortlichkeit dafür zu tragen, dafj diese politische Entscheidung rechtlich begründet und nicht willkürlich war." 73 Diese „rechtliche Begründung" ist nichts anderes als eine juristische Systematisierung eines reaktionären politischen Regierungsauftrages. Die objektive Wahrheit fällt aus dem Recht heraus, indem dem höchsten westdeutschen Gericht die selbständige Urteilsfähigkeit über das politische Wesen einer in der deutschen Geschichte tief verwurzelten demokratischen Partei abgesprochen wird. Kaufmann betätigt sich durch seine völkerrechtlichen Gutachten auch unmittelbar als juristischer Wegbereiter des Militarismus. Er war besonders durch sein Gutachten zum Eintritt der Bundesrepublik in die EVG hervorgetreten. Kaufmann schrieb damals, der westdeutsche Staat müsse „aus dem Wesen des Staates materielle Hoheitsrechte herleiten, die in dem geschriebenen Text keinen Ausdruck gefunden haben".74 (Gemeint ist der Verfassungstext.) Die „einheitliche Staatsgewalt" bedürfe daher zur Wiederaufrüstung und zum Eintritt in die EVG keiner verfassungsurkundlichen Legitimation. Gegen die damalige Opposition der SPD und gegen deren Gutachter Löwenstein, der darauf hinwies, da§ der Anschluß an die 71 72

Ebenda, Bd. 1, S. 500 Ebenda, Bd. 1, S. 509.

ff.

73 71

Ebenda, Bd. 1, S. 504. Ebenda, Bd. 1, S. 575. 71

EVG die Wiedervereinigung Deutschlands erschwere, argumentierte Kaufmann: Da die Bundesrepublik mit dem deutschen Reich und dem späteren Gesamtdeutschland identisch sei, würden die Verträge der Bundesrepublik auch für das einheitliche Deutschland gelten. Er beruft sich u. a. auf Art. 146 des Grundgesetzes, der die Eingliederung des zukünftigen Deutschlands in die »Europäische Gemeinschaft" fordert. Wir sehen hier das Programm der militaristischen Lösung der deutschen Frage in juristischer Formulierung. Selbst die ungenügenden bürgerlich-demokratischen Mechanismen will Kaufmann bei lebenswichtigen Fragen mit der Wiederaufrüstung Westdeutschlands ausgeschaltet wissen. So lehnte er z. B. ein Normenkontrollverfahren zur Prüfung der Zulässigkeit des EVGBeitritts, das die SPD gefordert hatte, mit der formalistischen Begründung ab: Der Beitritt zur EVG enthält „keine generellen materiellen Rechtsnormen... er begründet weder Rechte und Pflichten für die Individuen, noch enthält er eine Ermächtigungsnorm für ein Bundesorgan..." 7 5 Die politische Bedeutung von Kaufmanns objektivem Idealismus und seiner formalisierenden Methode tritt mit unüberbietbarem Zynismus aus seinen Arbeiten zur Entlastung der faschistischen Kriegsverbrecher hervor. Hier lautet sein Motto: „Über das, was im zweiten Weltkrieg geschehen ist, kann man nur sein Haupt verhüllen." 76 In seinem Vortrag vor Offizieren der Bundeswehr, „Warum konnte der Krieg zum Verbrechen erklärt werden?", geht Kaufmann von der Behauptung aus, dag politische Taten nicht justitiabel seien. Der faschistische Angriffskrieg sei aber eine politische Erscheinung, und es könne deshalb niemals so etwas wie ein faschistisches Verbrechen gegen den Frieden geben. Die Nürnberger Prozesse seien deshalb kein Recht und dürften es nicht sein.77 Um das Recht auf eine Politik des extremen Unrechts zu begründen, spricht er dem antifaschistisch-demokratischen Bewußtsein, das sich nach 1945 die Massen erobert hatte, die juristische Urteilskraft ab. „Kein Verbrechen, keine Strafe ohne verletztes Gesetz". Zur Zeit des Faschismus war aber nach faschistischem Gesetz das Planen und Führen 75 76 77

Ebenda, Bd. 1, S. 598 ff. Ebenda, Bd. 2, S. XVI. Ebenda, Bd. 2, S. 464.

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eines Angriffskrieges (Art. 6 der Nürnberger Anklageschrift) kein Verbrechen - also sind die Nürnberger Prozesse illegal. Völkerrechtlich strafbar seien nur die Verletzungen bestehender Kriegsgesetze, etwa der Haager Landkriegsordnung. Diese Verletzung träfe aber alle Kriegsteilnehmer gleichermaßen. Kaufmann stützt sich in seiner Argumentation gerade auf die Schwächen des Völkerbundes und des Briand-Kellog-Paktes. Der Völkerbund hatte trotz der intensiven Bemühungen der Sowjetunion nie eine Definition des Aggressors angenommen. Im Briand-KellogPakt war zwar der Krieg als Mittel der Lösung internationaler Streitfragen verurteilt worden, doch fehlten ihm reale Sanktionen gegen einen tatsächlichen Aggressor, vor allem Schritte zur internationalen Abrüstung. Es ist natürlich keineswegs zufällig, daß Kaufmann gerade zu Beginn der 50er Jahre mit diesen Sophismen hervortrat, um den alten nazistischen Kriegsverbrechern ihre völkerrechtliche Ehrbarkeit zu bescheinigen. Der deutsche Militarismus beginnt sich in verstärktem Maße zu rehabilitieren, und die Westmächte können auf ihn als Bollwerk im kalten Krieg nicht mehr verzichten. In allen sozialistischen Verfassungen wird das Verbrechen gegen den Frieden als strafbare Handlung definiert. Der Argumentation Kaufmanns bei der Trennung von Recht und Politik liegt nichts als die Spitzfindigkeit zugrunde, die einzelnen Glieder des gesellschaftlichen Bewußtseins, die Momente einer Einheit sind, voneinander zu isolieren und sie gegeneinanderzukehren. Eine andere Manier der Entlastung alter Faschisten und Kriegsverbrecher baut Kaufmann auf einem objektiv-idealistischen Schematismus der Schuldbegriffe auf. In Nürnberg, so sagt er, seien verschiedene Schuldbezirke, der juristische, der historisch-politische, der moralische und der theologische miteinander vermengt worden. Judizierbar sei nur die juristische Schuld, 78 so daß nach Kaufmann Kriegsverbrecher nur der Deutsche ist, der 1 9 3 9 - 1 9 4 5 bestehende deutsche Gesetze verletzte. Das ist genau die ideologische Linie, die heute an westdeutschen Gerichten bei der Zusammenstellung von Fahndungslisten zugrundeliegt - man denke etwa an den Fall Vracaric. 78

Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 459.

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Faschistische Verbrechen waren für Kaufmann bereits 1950 eine Frage der moralischen und theologischen Schuld. Der einzelnen Persönlichkeit müsse „die Entscheidung im Konflikt der Pflichten" vorbehalten bleiben. „Unter einer solchen Schuld werden feine Naturen mehr und tiefer leiden als unter einer Rechtsschuld." 7 9 Hans Maria Globke entlastete seine „feine Natur" 1945 durch eine Beichte in einem Eifelkloster . . . Kaufmann nutzt die der bürgerlichen Ideologie überhaupt eigene Mystifizierung der Subjekt-Objekt-Dialektik zur Apologie des Faschismus aus, etwa, wenn er die Kriegsverbrecher von aller politischen Schuld freispricht, da politische Schuld subjektiv-individuelle Schuld vorraussetze. Dazu müsse die Person „alle Tatbestandselemente, einschließlich der politischen nicht nur kennen, sondern auch beurteilen und in ihren subjektiven Willen aufnehmen". 80 Da es natürlich unmöglich ist, als einzelner „alle Tatbestandselemente" zu kennen, gibt es das „tatsächliche Planen und Führen eines Krieges . . . ohne individuelle subjektive Schuldhaftigkeit". 81 Diese Auffassung wurde durch die ganze bürgerliche Philosophiegeschichte der imperialistischen Periode mit ihrer irrationalistischen Auflösung der objektiven Wirklichkeit theoretisch vorbereitet. So kann Kaufmann fragen, „ . . . ob die schicksalhafte Verstrickung des einzelnen in ein großes Gesamtgeschehen, dessen Wurzeln zum Teil unsichtbar . . . bei dem Schuld und Schicksal untrennbar verwoben sind, einer strafgerichtlichen Beurteilung unterworfen werden dürfen?" 8 2 Wie soll man in der Tat eine Persönlichkeit beurteilen, wenn ihre Existenz in unwirkliche Gesetze eingebettet wird, die ihrerseits zum irrationalen Schicksal verdreht werden! Die imperialistische Ideologie hält für die Apologie des Militarismus zwei Manöver parat. Sollen verbrecherische militaristische Individuen wissenschaftlich, politisch oder juristisch dingfest gemacht werden, so werden sie durch die Berufung auf die schicksalhafte Verstrickung des einzelnen in ein Gesamtgeschehen entlastet. Die objektiv-historische Welt wird für unerkennbar erklärt. Sollen aber die objektiven Bedingungen der Entwicklung des deutschen Militarismus und Faschismus wissenschaftlich begriffen werden, 79 80

Ebenda, Bd. 2, S. 459. Ebenda, Bd. 2, S. 456

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Ebenda, Bd. 2, S. 456. Ebenda, Bd. 2, S. 459.

so verlegt man sich auf die verhängnisvolle Großmannssucht des Kaisers, auf die Dämonie Hitlers usw. Das historisch handelnde Subjekt wird für unerkennbar erklärt. Wir sehen am Beispiel Kaufmanns, wie der Einfluß der militaristischen Ideologie die Grundbegriffe der Rechtswissenschaft und mit ihnen die Begriffe der Freiheit, der Persönlichkeit und ihrer Verantwortung vor dem Leben des Volkes zerstört. Wir gehen zu den beiden anderen Aufgaben, die sich die westdeutsche Rechtswissenschaft gestellt hat, über. Eine juristische „Korrektur" der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges muß sich besonders mit der Oder-Neiße-Grenze des Potsdamer Abkommens und der Umsiedlerfrage beschäftigen. Einer der prominentesten Ostforscher, der Jurist Herbert Kraus, seines Zeichens Präsident des „Göttinger Arbeitskreises", nahm die Gelegenheit wahr, sich hervorzutun. In dem Sammelband des Arbeitskreises „Deutschlands Ostproblem" 83 schrieb er den juristischen Teil. 1959 veröffentlichte er eine spezielle Studie: „Die Oder-Neiße-Linie".84 In dieser Studie werden ohne viel Federlesens die politischen Forderungen der Bonner Regierung juristisch systematisiert. Kraus leugnet zunächst den völkerrechtlichen Charakter des Potsdamer Abkommens. Es waren „persönliche Abreden der drei damaligen Regierungschefs",85 diese müssen zudem als „drei selbstherrliche alte Männer" qualifiziert werden. Insbesondere Stalin habe Roosevelt und Churchill durch „Schläue und Energie" übers Ohr gehauen. Das ist schon ein bestechendes wissenschaftliches Niveau bei der Beurteilung historischer Dokumente. Die Chefs dreier Siegermächte „machen" am Ende des größten Krieges aller Zeiten die Grundsätze ihrer gemeinsamen weiteren Deutschlandspolitik „persönlich ab". Die selbstverständliche Regel, daß die internationalen Verträge einer Regierung automatisch auch die folgende Regierung binden, entfällt ganz. Und überdies wird der objektiv demokratische Charakter des antifaschistischen zweiten Weltkrieges, dessen zentraler juristischer Ausdruck das Potsdamer Abkommen ist, auf die 83 84

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Deutschlands Ostproblem, Würzburg 1947. „Die Oder-Neifje-Linie", Hefte des Göttinger Arbeitskreises, Göttingen 1959. Ebenda, S. 47.

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privaten Charakterzüge und das Alter verantwortlicher Politiker reduziert. Die psychologisierende Methode erweist sich auch in der Rechtswissenschaft in ihrem vollen Glorienschein und als recht konstruktiv. Nachdem Kraus die Westmächte für ihre Teilnahme an der Antihitlerkoalition gerügt hat („Sie übersahen die natürliche Mission Deutschlands als eines Bollwerks gegen den Bolschewismus, dem sie Polen auslieferten"), 86 greift er die Oder-Neiße-Grenze von zwei Seiten an. (Die Kritik an den Westmächten für ihre Teilnahme am antifaschistischen Kampf findet sich überall in der reaktionären westdeutschen Literatur. So gibt Aubin in dem genannten Aufsatz den westlichen Verbündeten zu bedenken, ob nicht die faschistische Politik Deutschlands „zu einer höheren und friedlicheren Ordnung" des Balkans hätte führen können. 8 ') Kraus argumentiert gegen die Oder-Nei§e-Grenze wie folgt: 1. Unter Berufung auf die UNO-Charta, Art. 2, Ziff. 4, konstruiert er ein völkerrechtliches Annexionsverbot. Dieses Verbot der UNO sei für Polen und die Sowjetunion seinerzeit verbindlich gewesen, und die Grenze stehe deshalb mit dem Völkerrecht in Widerspruch. Zu diesem Sophismus ist zu sagen, daß die Maßnahmen des Potsdamer Abkommens erst die Voraussetzungen für die völkerrechtliche Wirksamkeit der Atlantik- und später der UNOCharta schufen. Das Potsdamer Abkommen ist selbst ein historischer Faktor dieser Dokumente, denn es hatte den Zweck, endgültig den Schlußstrich unter die systematisch völkerrechtswidrige Politik Deutschlands zu ziehen. Es steht daher logisch vor der UNO-Charta, und diese kann deshalb zur Beurteilung jenes weder herangezogen noch mit ihm gar in Widerspruch gebracht werden. Kraus vertauscht Ursache und Wirkung und kehrt die Wirkung noch gegen ihre eigene Ursache. Es ist dies eine treffliche Operation aus der Großen Logik für Kriegshetzer. Uns kann sie nicht imponieren. 88 86 87 88

Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 59. Die normale menschliche Logik beherzigte auch Churchill noch im Jahre 1944. Im Memorandum vom 11. Januar an das Englische Kabinett erklärte er: »Unter bedingungsloser Kapitulation verstehe ich, dafj die Deutschen kein Recht auf irgendeine bestimmte Behandlung beanspruchen können. Die Atlantik-Charta beispielsweise ist kein Rechtstitel für sie."

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2. Kraus behauptet, die Oder-Neiße-Grenze und die Umsiedlung verletzten das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Es hätte ein Plebiszit vorliegen müssen; da dieses nicht vorhanden war, sei die Grenze und die Aussiedlung völkerrechtswidrig. Kraus unterschlägt hier kurzerhand einen gewissen historischen Vorfall, der ihm freilich unangenehm sein mag, aber darum nicht aus der Welt zu schaffen ist: die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches vom l . u n d 8.5.1945. Danach übten die drei Besatungsmächte die Regierungsgewalt auf dessen Territorium aus. Doch die Kapitulationsurkunde enthält nach Kraus keine Vollmacht für die Alliierten, über deutsches Gebiet zu verfügen. Er treibt die kontinuierliche Rechtssubjektivität Deutschlands so weit, daß die Alliierten vielleicht bei den Resten der entmachteten faschistischen Regierung und des Generalstabs die Zustimmung zu ihren antifaschistischen Maßnahmen einholen sollten. Offenbar wiederum ein logischer Unsinn in sich: die Folgerung hebt die Prämisse auf. Worum es Kraus faktisch geht, spricht er in dem genannten Sammelband offen aus. Es sind »leider im westlichen Ausland Stimmen laut geworden", die die deutsche Wiedervereinigung „allein auf das Gebiet zwischen der Westgrenze der Bundesrepublik und der gegenwärtigen Oder-Neiße-Grenze beschränkt wissen wollen".89 Wir sehen als des schwarzen Pudels Kern wieder nur den Anspruch des deutschen Militarismus auf eine Revision der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges. Müssen wir noch besonders darauf hinweisen, daß auch im Bezirk der Rechtswissenschaft die unwissenschaftliche Ideologie zur Vernichtung des wissenschaftlichen und logischen Denkens führt? 90 Ein entscheidender Gradmesser für das Bewußtsein der moralischen und intellektuellen Verantwortung, die eine deutsche Rechtswissenschaft vor der Nation zu tragen gewillt ist, ist ihre Stellungnahme zum Krieg als einer Form internationaler Politik. Die westdeutsche Rechtswissenschaft denkt nicht daran, die Kriegsgefahr mit den Mitteln des Völkerrechts zurückzudrängen und 89 90

Ebenda, S. 5 f. Den frappanten Gesinnungswandel des Prof. Kraus gerade in der Frage der Annexionen enthüllt uns ein Blick auf sein Pamphlet vom September 1918, man beachte das Datum, »Es ist nicht wahr". Kraus meint damit 77

die Kraft des internationalen Rechts zur Ächtung des imperialistischen Krieges, dieses Schandmals der Kultur, einzusetzen. Im Gegenteil! Allen offiziellen juristischen Untersuchungen des Krieges ist gemeinsam, daß nicht seine grundsätzliche Beseitigung, sondern vielmehr eine Korrektur, eine „Modernisierung" des Kriegsrechts als die zeitgemäße Aufgabe angesehen wird. Wir sind nicht gegen bestimmte kriegsrechtliche Grundsätze, aber die ausschließliche Richtung der juristischen Bemühungen erinnert nicht nur an Brechts Kennzeichnung von Leuten, die untergehende Schiffe mit Stilleben bemalen, sondern bringt klar die ungebrochene preußische und faschistische Linie in den bürgerlichen deutschen Wissenschaften zum Ausdruck: die Verherrlichung des Krieges. Freilich ist man heute nicht mehr so offen wie der alte General von Moltke, der sagte, daß der ewige Frieden ein Traum sei und daß die Menschheit ohne Krieg aller höheren Tugenden verlustig ginge. Aber man sagt z. B.: Frieden und Abrüstung sind in einer Welt unmöglich, „in der die westlichen Ideen und die Anschauungen der bisherigen Völkergemeinschaft nicht auf eine uneingeschränkte Annahme seitens aller Nationen rechnen können . . . " 9 1 Das heißt: Schuld an der Kriegsgefahr trägt allein der Sozialismus, im Grunde schon durch seine Existenz. Ungenannt liegt dem der historische Schwindel zugrunde, als beschlössen die kapitalistischen Staaten ohne die Existenz der Sowjetunion sofort die totale Abrüstung. Es fragt sich nur, warum sie es früher nie getan hatten. 1959 erschien die repräsentative Stellungnahme der evangelischen Kirche zur Atomwaffenfrage. Professor Ulrich Scheuner schrieb dazu den juristischen Teil „Krieg und Kriegswaffen im heutigen Völkerrecht". Sein Grundgedanke lautet: „Ohne Krieg vermögen

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nicht den Inhalt seines kommenden Lebenswerkes, sondern die Behauptungen, dafj Deutschland einen Angriffskrieg führe. Schuld sei das „verbrecherische Serbien". Es sei auch nicht wahr, dafj das wilhelminische Deutschland einen Zuwachs an Macht wolle. Damals war Kraus noch Dozent Dr. jur. in Leipzig und in der Blüte seiner Schaffenskraft, deshalb hat er eine positive Einstellung zum Beispiel zu Grenzverletzungen und Annexionen: Der Einfall Deutschlands in Belgien war nicht völkerrechtswidrig, sondern diktiert vom „ehernen Gesetz der Selbsterhaltung*. Ulrich Scheuner, Krieg und Kriegswaffen im heutigen Völkerrecht, in: Atomzeitalter, Krieg und Frieden, Berlin 1959, S. 79.

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die Staaten, vermag keine dauerhafte internationale O r d n u n g . . . auszukommen, will sie nicht durch Starrheit zu untragbaren Spannungen führen." 92 Nach Scheuner können Abrüstung oder die Beseitigung der Atomwaffen „die fundamentalen Probleme der heutigen Weltlage nicht in der erforderlichen umfassenden Umgestaltung lösen".93 „Umfassend" genug wäre offenbar letzten Endes nur die Vernichtung des Sozialismus. Zunächst begnügte sich Scheuner mit einer „Fortentwicklung des Kriegsrechts". Wir betrachten, was er über die Atomwaffen im System des Völkerrechts zu sagen hat. Er ist nicht für ein Verbot, sondern für eine juristisch „beschränkte Verwendung atomarer Waffen". Ein Verbot sei nach dem geltenden Kriegsrecht unmöglich. So wagt er z. B. folgenden Gedanken auszusprechen: „Nach Art. 23 der Haager Landkriegsordnung vom 18.10.1907 sind alle Waffen auszuschalten, die unnötige Leiden verursachen. Es müßten aber die Militärs beurteilen, ob die Leiden durch die Atomwaffe noch .notwendig' im Verhältnis zum militärischen Zweck sind." Wie dieses Urteil bei alten Nazigeneralen ausfällt, sehen wir an der Forderung Strauß' nach Verfügungsgewalt über Atomwaffen für die Bundeswehr. Das Verbot der militärischen Giftgasverwendung nach der Deklaration vom 29.7.1899 treffe die Kernwaffen ebenfalls nicht; da die Gaswirkung nicht ihr einziger Zweck sei, „.. .erscheint die Ausdehnung dieses Verbots auf Strahlungswirkungen nicht zwingend".94 Wer gegen die Atomwaffen die Genfer Rotkreuzkonvention vom 11.9.1949 anführe, „übersieht jedoch, daß die Nebenwirkung der militärischen Waffenverwendung nicht ihre Unzulässigkeit begründet". 95 Scheuner hält die Atomwaffen für legitim zur Heranziehung bei „Repressalien" und „die Vorbereitung eines atomaren Krieges völkerrechtlich für zulässig".98 Er betont selbstverständlich, daß der Atomverzicht der Bundesrepublik nur das Verbot der Herstellung umfaßt. Sie darf Atomwaffen also lagern und auch damit drohen. Die völkerrechtliche Verneinung der Illegalität der Atomwaffen nach den bisherigen internationalen Verträgen ist natürlich nur ihre juristisch bemäntelte Legalisierung. 92 93

Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 80.

91 95

Ebenda, S. 94. Ebenda, S. 94.

79

96

Ebenda, S. 97.

Das bürgerliche Denken kann auf die Rechtsordnung des Krieges offenbar nicht verzichten. Imperialistische Völkerrechtler sehen die Aufgabe der historischen Vernunft und Moral nicht in der Abschaffung der Kriege überhaupt, sondern in ihrer juridischen Klassifikation und vor allem ihrer juristischen »Normalisierung". Den westdeutschen Historikern ist der zweite Weltkrieg, mit dem der deutsche faschistische Staat Millionen Menschen umgebracht oder Zeit ihres Lebens ins Unglück gestürzt hat, nicht mehr als ein fatales historisches Mißverständnis sowohl Hitlers als auch der Westmächte. Sie hätten schon 1941 einen gemeinsamen Feldzug gegen die Sowjetunion unternehmen sollen. Ein Krieg nicht mehr als ein Kavaliersdelikt - das sagt die westdeutsche reaktionäre Wissenschaft unserer Nation und den gepeinigten Völkern Europas. Kann die Menschenfeindlichkeit des imperialistischen Klassendenkens offener zutage treten? Die Überwindung des Krieges als ein Mittel, internationale Probleme zu lösen, eine dauerhafte friedliche Völkerordnung - dieseIdee vermag erst die Ideologie des Sozialismus der Menschheit zu schenken. Es tritt aber noch etwas anderes aus dieser Betrachtung zur westdeutschen Rechtswissenschaft hervor. Die ideologischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtsdenkens führen in der Wissenschaft zu einem idealistischen Formalismus. Da über die Schranken der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ideologisch nicht hinausgegangen wird, führen die bürgerlichen Rechtsnormen ein von der objektiven geschichtlichen Praxis losgelöstes Eigendasein, und jeder neue historische Inhalt tritt zu ihnen in nur quantitative Beziehung. Zugleich erscheinen diese Normen als ihrer historischen Besonderheit entkleidete allgemeinmenschliche Gesetze. Sie werden nicht als die Gesetze einer spezifischen vergänglichen Entwicklungsform der Gesellschaft, sondern als die Verhaltensweise des Verstandes zum „Phänomen" des Krieges überhaupt gesehen. Es ist klar, daß sich daraus dann das nur technische, praktizistische Verhältnis der bürgerlichen Rechtswissenschaft zu neuen Inhalten ihrer internationalen juristischen Satzungen ergibt, das wir an den Beispielen der „Erneuerung des Kriegsrechts" usw. gesehen haben. Die bürgerlichen ideologischen Grundlagen der Rechtswissenschaft zwingen diese zu historischer Blindheit. Das heißt aber nichts ande80

res, als daß die Erfordernisse der menschlichen Praxis die formale Methodik dieser Wissenschaft selbst aufheben; dag der historische Fortschritt der Gesellschaft und ihrer Vernunft in der Tat die Aufhebung dieser Wissenschaft erfordert. Notwendig wird eine neue Grundlage des wissenschaftlichen Denkens, und sie besteht in den Erfordernissen des geschichtlichen Fortschritts zum Frieden und zum Sozialismus; die Wissenschaft mu§ um ihrer selbst willen in direkte Beziehung zur sozialen Praxis, zur Moral, zum humanen Bedürfnis des modernen Menschen treten. Notwendig wird eine neue menschliche Wissenschaft. Diese neue Wissenschaft ist diejenige, die aus der. sozialistischen ideologischen Grundlage des Marxismus-Leninismus erwächst. Alle echte wissenschaftliche Begriffsbildung und alle Humanität gehen auf diese sozialistische Wissenschaft über.

Hans Schulde

Zur Grundlagenkrise der westdeutschen Geschichtswissenschaft

„Faßt man die Hauptergebnisse der Entwicklung in der Welt zusammen, so kann man sagen: Die Geschichte bewegt sich so, wie es Marx und Lenin vorausgesagt haben. Die Kräfte des Sozialismus, alle Kräfte des weltweiten Fortschritts erstarken, die Völker brechen immer entschiedener mit dem Imperialismus. Der Untergang des Imperialismus und der Triumph des Sozialismus im Weltmaßstab sind unausbleiblich." 1 Es kann in der Gegenwart niemandem mehr schwerfallen, sich an Hand der Tatsachen des Lebens von der Richtigkeit dieser Feststellung zu überzeugen, wie sie N. S. Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag getroffen hat. Dessenungeachtet lassen die Verteidiger des von der Geschichte zum Untergang verurteilten imperialistischen Systems in ihren Anstrengungen nicht nach, vor den Völkern einen „Nachweis" für die Rechtmäßigkeit und Unerschütterlichkeit dieses Systems zu führen. Ja, sie sind gezwungen, ihre Anstrengungen in dem Maße zu verstärken, wie das Leben selbst ihre Thesen widerlegt, wie sich die tiefe Wahrheit des Marxismus-Leninismus in der ganzen Welt durchsetzt. Eine der ideologischen Waffen, deren sich die imperialistische Reaktion dabei bedient, ist die Geschichtswissenschaft. Sie soll die imperialistische Politik der Unterdrückung aller fortschrittlichen Kräfte im eigenen Machtbereich historisch rechtfertigen, eine historische Begründung für die angeblich notwendige Aufgabe der staatlichen Selbständigkeit aller kapitalistischen Staaten und deren Unterordnung unter die amerikanischen und deutschen Imperialisten geben und die Vorbereitung eines atomaren Aggressionskrieges 1

N. S. Chruschtschow, Über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 18. Oktober 1961. In: Der Triumph des Kommunismus ist gewiß, Berlin 1961, S. 179. 82

gegen die sozialistischen Staaten als für die Erhaltung der Zivilisation angeblich notwendig nachweisen. Die der bürgerlichen Geschichtswissenschaft übertragene Aufgabe, nachträglich die historischen Prämissen ausfindig zu machen, die den obigen Behauptungen den Anschein historisch begründeter Schlußfolgerungen geben sollen, ist jedoch nicht zu lösen, weil es in der Wirklichkeit keine solche Prämissen gibt. Für eine Wissenschaft - und die bürgerliche Historiographie erhebt Anspruch auf diesen Rang - mufj schon der Versuch, derartige haltlose Behauptungen zu beweisen, das Ende ihrer Wissenschaftlichkeit bedeuten. Diese Gefahr beunruhigt allerdings die imperialistischen Auftraggeber der bürgerlichen deutschen Historiographie und ihre reaktionären Ideologen herzlich wenig. Sie schrecken, wie Vergangenheit und Gegenwart hinlänglich beweisen, im Interesse ihrer politischen Ziele nicht einmal vor der bewußten Fälschung der Geschichte zurück. Als gefährlich erachten sie vielmehr alle jene Erscheinungen, die nach ihrer Meinung geeignet sind, die bürgerliche deutsche Geschichtswissenschaft an der Erfüllung des ihr nach 1945 erteilten neuen politischen Auftrags zu hindern: So die trotz aller nach 1945 in Umlauf gesetzten Geschichtslegenden auch heute noch von zahllosen bürgerlichen Historikern bezeugte tiefe Ratlosigkeit gegenüber den Fragen der jüngsten Vergangenheit und den Fragen der Zukunft, die in „Nebel gehüllt" 2 scheint, die Furcht vor der Zukunft, das Schwinden des bereits unter dem Eindruck der Revolution von 1848 und der Pariser Kommune erstmalig erschütterten Glaubens an die Stabilität und Dauerhaftigkeit der bürgerlichen Ordnung 3, der Zweifel an dem wissenschaftlichen Wert aller • Siehe Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: HZ, Bd. 189, S. 68; Grundfragen der neueren deutschen Geschichte, in: HZ, Bd. 192, S. 2. 3 So gesteht z. B. Jakob Baxa ein: „Man fühlt förmlich den Boden unter sich wanken, auf dem man steht; denn dieser Umsturz (der Sieg des Sozialismus in den europäischen Volksdemokratien und die Befreiung der Mehrzahl der ehemals kolonial versklavten Völker - H. Sch.) hat eruptive, vulkanische Formen angenommen." (Jakob Baxa, Die romantische Soziallehre im Weltbild der Gegenwart, in: Die Ganzheit in Philosophie und Wissenschaft, Othmar Spann zum 70. Geburstag, hrsg. von Walter Heinrich, Wien-IX 1950, S. 87). 6»

83

bislang angewandten Methoden der historischen Forschung, der Zweifel an dem wissenschaftlichen Wert der mittels dieser Methoden erzielten Ergebnisse, das Schuld- und Schamgefühl über das eigene Versagen in den Lebensfragen der deutschen Nation usw. Eine Geschichtswissenschaft, in der derartige Stimmungen vorherrschen, dürfte zweifellos wenig geeignet sein, ein optimistisches historisches Gemälde von der Zukunft des Imperialismus zu entwerfen. Gerade diese Stimmungen aber sind in der bürgerlichen Historiographie der Gegenwart weit verbreitet, wohl am stärksten in der deutschen Historiographie, was sich aus dem Zusammenbruch des imperialistischen deutschen Geschichtsbildes faschistischer Prägung im Jahre 1945 erklärt, aus der Tatsache, daß die bürgerlichen deutschen Historiker in ihrer Mehrzahl damit ihre nationale und politische Perspektive verloren haben, die sie, wie auch im ersten Weltkrieg, bewußt oder unbewußt mit dem Sieg des deutschen Imperialismus verknüpft hatten. Es ist daher verständlich, wenn über alle diese Fragen seit 1945 unablässig diskutiert wurde, wenn die reaktionären, auf den deutschen Imperialismus eingeschworenen Historiker alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen mußten, diese Stimmungen und Zweifel (die sie, so zum Beispiel Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter, unmittelbar nach 1945 selbst mitgeschürt und verbreitet hatten, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken und eine Ausgangsposition für die auf die Rettung des deutschen Imperialismus berechnete Herstellung einer Alliance mit den imperialistischen Westmächten zu gewinnen) nicht überhandnehmen zu lassen, ihre unerwünschte Ausweitung und Verstärkung zu verhindern. Wenngleich nun auch im Zusammenhang mit diesen Diskussionen oftmals von bürgerlichen deutschen Historikern auf die Existenz einer Krise der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft hingewiesen wurde, so ist doch die Frage nach dem Wesen dieser Krise, nach ihren Ursachen, nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens in keinem Fall richtig beanwortet worden. Man würde daher entschieden fehlgehen in der Annahme, daß ein bürgerlicher Historiker, der den Terminus „Krise" oder auch „Grundlagenkrise" auf den derzeitigen Zustand der bürgerlichen Geschichtswissenschaft anwendet, darunter dieselbe Erscheinung versteht wie ein marxisti84

scher Forscher, sich gar die marxistische Auffassung v o m W e s e n und von den Ursachen dieser Erscheinung zu eigen g e m a c h t hätte. In eine Krise geraten sind nach Auffassung bürgerlicher Historiker lediglich die alten, vor 1 9 4 5 herrschenden Vorstellungen v o m Verlauf des Geschichtsprozesses und bis zu einem gewissen G r a d

-

darüber gehen die Meinungen auseinander - auch die theoretischen und methodologischen Voraussetzungen, mit deren Hilfe diese Vorstellungen gewonnen wurden. 4 Sofern im Zusammenhang mit dieser Krise überhaupt

gesellschaftliche

Ursachen

in Betracht

gezogen

werden, reduziert man sie auf die im Ergebnis des zweiten Weltkriegs

stattgefundenen

welthistorischen

Veränderungen

und

den

dadurch verursachten Zusammenbruch der Illusionen, die sich die bürgerliche Geschichtswissenschaft in der Periode v o r dem zweiten 4

So ignoriert der westdeutsche Geschichtsphilosoph O. F. Anderle, von dem des weiteren in diesem Zusammenhang noch eingehend zu sprechen ist, heute die Tatsache, daß es bereits um die Jahrhundertwende und in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg ein bürgerliches Krisenbewußtsein gegeben hat. Das Buch des deutschen Historikers Karl Heussi, „Die Krisis des Historismus", Tübingen 1932, scheint für Anderle nicht zu existieren. Gerhard Ritter, führender westdeutscher Historiker, läßt sich im Hinblick auf die Zeit nach dem ersten Weltkrieg zwar zu dem Eingeständnis herbei: •Man sprach damals viel von einer .Krisis' der Wissenschaft (der Geschichtswissenschaft - H. S c h . ) . . . " (G. Ritter, Die Idee der Universität und das öffentliche Leben. Eröffnungsvortrag zur Ersten öffentlichen Vortragsreihe der Freiburger Universität nach dem Kriege, 18. Oktober 1945, in: Lebendige Vergangenheit, München 1958, S. 296), versucht jedoch dies Krisenbewußtsein als Folge einer irrigen Auffassung von Wesen und Aufgabe der Geschichtswissenschaft hinzustellen. Ebenso verfährt Ernst F. Zahn, wenn er über die methodologischen Diskussionen der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die einen lebendigen Beweis für die Existenz bürgerlichen Krisenbewußtseins bereits in jener Zeit liefern, wie folgt urteilt: „So war es denn - streng genommen - nicht die Wissenschaft selbst, welche in eine Krise geriet, sondern das sie tragende Weltverständnis, eine bestimmte Weise, wissenschaftlich zu denken, ein Wissenschaftsbegriff und eine Vorstellung von Erkenntnis (nämlich die noch heute und heute erst recht gültige, die von einer Wissenschaft die Aufdeckung der Gesetze der objektiven Wirklichkeit verlangt - H. Sch.), die der Geisteshaltung eines endenden Zeitalters entsprachen." (Ernst F. J . Zahn, Toynbee und das Problem der Geschichte, Köln und Opladen, 1954, S. 6.) 85

Weltkrieg und noch während des Krieges vom zukünftigen Verlauf der Geschichte gemacht hatte. Wo daher die Existenz einer Krise der Geschichtswissenschaft eingestanden wurde, da lief dieses Eingeständnis im besten Falle auf eine Anerkennung der ohnehin deutlich sichtbaren Tatsache hinaus, daß sich die bisherige Auffassung vom Verlauf des Geschichtsprozesses, seine bisherige Erklärungsweise auf Grund des tatsächlichen Geschichtsverlaufs als unhaltbar und revisionsbedürftig erwiesen hatte. Die Anerkennung einer solchen Art von Krise war Ausdruck der bewußt gewordenen Notwendigkeit, eine neue Erklärungsweise der Geschichte zu entwickeln, neue Methoden der Interpretation geschichtlicher Tatsachen zu praktizieren, sofern man nicht vor der einzig wissenschaftlichen Geschichtsauffassung, dem historischen Materialismus, kampflos das Feld räumen wollte. Eine derartige Auffassung vom Wesen der Krise der bürgerlichen Geschichtswissenschaft läßt durchaus die Möglichkeit ihrer Überwindung offen. Denn dazu bedarf es dann eben nur einer Revision des alten „Geschichtsbildes" und seiner theoretischen und methodologischen Voraussetzungen. Ist über Art und Umfang der Revision Einigkeit erzielt, hat sich die neue „Erklärungsweise" der Geschichte eingebürgert, kann die Krise als überwunden betrachtet werden. Andererseits bleibt aber auch die Möglichkeit offen, daß die neu bezogenen Standpunkte - da im offensichtlichen Widerspruch zu neuen, unvorhergesehenen historischen Ereignissen - wieder verlassen werden müssen, d. h. in eine neue Krise geraten. Sowenig allerdings die bürgerlichen Krisentheoretiker der Tatsache Rechnung tragen, daß die so interpretierte derzeitige Krise kein Novum darstellt, sondern bereits einige Vorläufer hat - es sei nur an die methodologischen Auseinandersetzungen in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und die Krisendiskussion nach dem ersten Weltkrieg erinnert - , sowenig berühren sie auch die eigentliche Kernfrage, nämlich, wie es überhaupt dazu kommt, daß die „Grundlagen" der bürgerlichen Geschichtswissenschaft periodisch von ihren eigenen Vertretern in Frage gestellt werden, worin sich eben nach ihrer Meinung das Wesen der Krise erschöpft. Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage kann nur lauten, daß die bürgerliche Geschichtswissenschaft in Wahrheit noch zu keiner Zeit 86

eine echte Wissenschaft gewesen ist, daß sie den Weg der Entwicklung zu einer Wissenschaft aus politischen Gründen bereits vor mehr als hundert Jahren verlassen und seither aus eben denselben Gründen ständig weiter von diesem Weg abgegangen ist. Daß sich die fortschrittlichen Historiker und Geschichtsphilosophen der aufstrebenden Bourgeoisie einst auf dem richtigen Weg der Verwandlung der Geschichtsschreibung in eine Wissenschaft befanden, unterliegt keinem Zweifel. Die Entdeckung der Klassen und des Klassenkampfes als Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung stellen zwei der wichtigsten Marksteine auf diesem Wege dar. Keinem Zweifel unterliegt jedoch auch die Tatsache, daß das Streben nach Erfassung der großen Zusammenhänge zwischen den historischen Einzeltatsachen und nach ihrer Verallgemeinerung zu Gesetzen, d. h. das Streben nach Verwandlung der Geschichte in eine Wissenschaft, in dem Maße nachließ und schließlich gänzlich gebrochen wurde, wie die Klasseninteressen der Bourgeoisie angesichts der aufsteigenden Arbeiterklasse im Widerspruch zur historischen Wahrheit die Begründung und Rechtfertigung einer ewigen Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung erheischten. Unbestreitbar ist auch die Tatsache, daß bereits gewonnene Einsichten eingedenk der politisch gefährlichen Konsequenzen, die sich aus ihrer Anwendung auf die gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Entwicklung ergaben - wie etwa die Theorie vom Klassenkampf als Triebkraft der Geschichte oder die Idee einer notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung vom Niederen zum Höheren - , später einfach negiert und verworfen wurden. Als entscheidender Wendepunkt, der die endgültige Abkehr der bürgerlichen Historiker vom Weg der Entwicklung der Geschichte zu einer Wissenschaft kennzeichnet, kann insbesondere für Deutschland die Revolution von 1848 angesehen werden, nach der, wie Engels feststellte, „auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften, die Philosophie eingeschlossen, . . . mit der klassischen Philosophie der alte theoretisch-rücksichtslose G e i s t . . . verschwunden (ist); gedankenloser Eklektizismus, ängstliche Rücksicht auf Karriere und Einkommen bis herab zum ordinärsten Strebertum sind an seine Stelle getreten. Die offiziellen Vertreter dieser Wissenschaft sind die unverhüllten Ideologen der Bourgeoisie und des bestehenden 87

Staats geworden - aber zu einer Zeit, wo beide im offenen Gegensatz stehn zur Arbeiterklasse." 5 Aus diesem Siechtum, das die bürgerliche Geschichtswissenschaft noch in der Zeit ihrer Blüte befallen hat, kann es keine Erlösung geben. Im Gegenteil, die - in Deutschland von Ranke ausgehende Bewegung der Loslösung vom progressiven Erbe der Vergangenheit, d. h. die Preisgabe aller annähernd wissenschaftlichen Elemente der alten bürgerlichen Geschichtsauffassung, mu§ sich mit Notwendigkeit in dem Maße verstärken, wie sich die allgemeine Krise des Kapitalismus verschärft, wie die ständig wachsende Reaktion auf politischem Gebiet auch die bürgerlichen Historiker zu immer reaktionäreren, menschenfeindlicheren, unsinnigeren Ideen und Theorien zwingt und wie vor allem auch die Abwehr des MarxismusLeninismus zur Zuflucht zu den ältesten und von der Bourgeoisie einst selbst widerlegten ideologischen Argumenten der vor ihr herrschenden Ausbeuterklassen nötigt. Es findet, mit anderen Worten, eine ständige Vertiefung der Krise der bürgerlichen Geschichtswissenschaft statt. Und jede Mystifikation der Geschichte, jede der Bourgeoisie aus politischen Interessen notwendig erscheinende Geschichtslüge mufj diese Krise zwangsläufig vertiefen, indem sie in den Sumpf des Irrationalismus führt, aus dem es keine Rettung gibt. 6 Diese Krise - und das mufj besonders betont werden - ist objektiv vorhanden, d. h. ihre Existenz ist nicht davon abhängig, ob sich die Vertreter der bürgerlichen Historiographie der ausweglosen 5

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Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Ausgewählte Schriften, Berlin 1955, Bd. 2, S. 374. Die Krise der bürgerlichen Geschichtswissenschaft ist allerdings, wie der sowjetische Autor I. S. Kon in seinem Buch „Der philosophische Ideedismus und die Krise des bürgerlichen historischen Denkens", Moskau 1959, nachgewiesen hat, nicht nur von ihren gesellschaftlichen Ursachen her, als Moment der allgemeinen Krise der bürgerlichen Ideologie, zu begreifen, sondern mufj auch unter dem Aspekt eines notwendigen Ergebnisses der inneren Entwicklung der Geschichtswissenschaft selbst und schließlich als ein Moment der Krise des alten mechanischen Determinismus in der Naturwissenschaft und in der Geschichte gesehen werden. Auf diese komplizierten Zusammenhänge kann jedoch an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

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Lage bewußt sind, in der sie sich mit ihrer Wissenschaft befinden. So macht die Tatsache, daß verschiedene bürgerliche deutsche Historiker am wissenschaftlichen Wert ihrer Theorien, Methoden und Arbeitsergebnisse zweifeln, nicht das Wesen der gekennzeichneten Krise aus, sondern zeigt uns lediglich, dafj die Vertiefung der Krise bereits einen Grad erreicht hat, bei dem die verantwortungsbewußtesten bürgerlichen Wissenschaftler angesichts der von ihren reaktionärsten Kollegen betriebenen bewußten Mystifizierung und Fälschung der Geschichte aufzubegehren beginnen. Der Prozeß der ständigen Vertiefung der Krise der bürgerlichen Geschichtswissenschaft verläuft nun eben in der Weise, daß bei einer Verschärfung der gesellschaftlichen Krise, in der sich der Kapitalismus befindet, die Notwendigkeit entsteht, die zur Rechtfertigung der imperialistischen Politik eines kapitalistischen Staates angewandten Methoden, gesellschaftlichen Theorien und „Geschichtsbilder" durch andere, reaktionärere zu ersetzen. Das heißt, die alten Methoden und Theorien geraten infolge ihrer offensichtlichen Untauglichkeit, fernerhin als Waffen im ideologischen Kampf zu dienen, in eine Krise, die sich darin äußert, daß sie anfangs in Frage gestellt und schließlich „kritisch überwunden" werden. In der Konsequenz führt jede dieser zeitlich begrenzten einzelnen Krisen zu einer weiteren Vertiefung der allgemeinen Krise der bürgerlichen G eschichtswissenschaf t. Eben eine solche zeitlich begrenzte Einzelkrise, wenn man sie so nennen will, machten die imperialistischen deutschen Geschichtsauffassungen faschistischer Prägung nach der Niederlage des deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg durch. Im Ergebnis dieser Krise wurden die faschistischen Geschichtsauffassungen bekanntlich durch eine Neuauflage des Antikommunismus, durch den AbendlandMythos, die Europa-Idee, die These von der Überlebtheit der Nation, die Legende vom Widerstand der deutschen Großbourgeoisie und der Generalität gegen den Faschismus, durch die Lüge, daß Hitler der Alleinschuldige sei und die faschistische Diktatur keinen kapitalistischen Auftrag gehabt hätte, „kritisch überwunden" und ersetzt. Die Folge davon konnte nur eine weitere Vertiefung der Krise der Geschichtswissenschaft als Ganzes sein. Im Verlauf dieser „Überwindung" der faschistischen Geschichtsauffassungen wurden aber auch zahlreiche Stimmen laut, die eine 89

gründliche Revision sowohl des „Geschichtsbildes" als auch seiner zum großen Teil bereits von Rickert, Windelband, Dilthey, Max Weber u. a. geschaffenen theoretischen Vorraussetzungen forderten und die anläßlich des offensichtlichen Versagens bekannter deutscher bürgerlicher Historiker, die das deutsche Volk nicht rechtzeitig vor der Gefahr des Faschismus gewarnt haben, die Frage nach der Verantwortung des Historikers vor der Nation stellten. Mit einem Wort, es waren Ansätze antifaschistisch-demokratischer Auffassungen bemerkbar, deren Vertreter, wie Renate Riemeck, Arnold und Anneliese Peters, Rantzau u.a., richtige Lehren aus der Geschichte ziehen wollten, um eine Wiederholung der Katastrophe des zweiten Weltkriegs zu verhindern, und die sich darüber hinaus bewußt waren, daß sich die traditionelle bürgerliche deutsche Geschichtswissenschaft von methodologischen und theoretischen Voraussetzungen leiten ließ, die, wie die gesellschaftliche Praxis bewiesen hatte, keinerlei wissenschaftlichen Wert besaßen und eine richtige Orientierung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht erleichterten, sondern sie im Gegenteil erschwerten, ja unmöglich machten. Der Gefahr, daß im Ergebnis dieses Strebens alle seit Ranke von Geschichtstheoretikern wie Dilthey, Rickert, Windelband usw. erarbeiteten theoretischen und methodologischen Voraussetzungen bürgerlichen deutschen Geschichtsdenkens aufgegeben werden — wie die Leugnung der Existenz historischer Gesetze, die Leugnung des gesellschaftlichen Fortschritts, die Negierung der Rolle der Volksmassen, die Verherrlichung großer Persönlichkeiten, die Lehre vom Primat der Außenpolitik, die Unterbewertung materieller Interessen, die individualisierende Methode, das Diltheysche „Verstehen" usw. - , traten die führenden reaktionären imperialistischen Geschichtsideologen, wie Meinecke, Dehio, Valentin, Ritter u. a„ sofort nach Beendigung des zweiten Weltkriegs entgegen. Mit allen Mitteln, insbesondere dem der Täuschung, verteidigten sie diese zutiefst wissenschaftsfeindlichen Elemente bürgerlichen deutschen Geschichtsdenkens, die sie stets - und so auch nach dem zweiten Weltkrieg - für die größten Errungenschaften des Geschichtsdenkens überhaupt gehalten haben. Gewisse „Verdienste" erwarb sich dabei auch der heutige Senior der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft, Gerhard Ritter. 90

Seine Taktik bestand darin, mittels einer Scheinkritik an verschiedenen der oben genannten „Errungenschaften", a u s der aber nie entscheidende Schlußfolgerungen g e z o g e n wurden und die letzten E n d e s immer wieder auf eine Rechtfertigung dieser «Errungenschaften" hinauslief, j e d e echte Kritik an ihnen a b z u f a n g e n . 7 Auf diese Weise versuchte er, den Zweiflern in den eigenen Reihen den G l a u b e n an die wissenschaftliche Würde der traditionellen bürgerlichen deutschen Fachhistoriographie wiederzugeben, gleichzeitig aber auch d a s V e r s a g e n der bürgerlichen Historiker in den L e b e n s f r a g e n der deutschen Nation zu entschuldigen 8 , jeden - in Ritters e i g e n e m F a l l e zu Recht bestehenden - Verdacht einer ideologischen Kollaboration mit den N a z i s zu zerstreuen, d a s erschütterte Vertrauen des eigenen 7

„Kritisch" äußert sich Ritter z. B. über Historiker, die eine »generalisierende Geschichtsbetrachtung" scheuen, weil sie das „Einmalig-Unwiederholbare" nicht „in seiner Besonderheit" zu erfassen gestatte (vgl. G. Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, in: HZ, B. 170, S. 9); über die Gewohnheit, nur „auf die berühmten ,Heroen' des Menschengeschlechtes (zu blicken), ohne den Hunderttausenden und Millionen mehr als einen Seitenblick zu gönnen" (G. Ritter, Geschichte als Bildungsmacht, Stuttgart 1946, S. 13); über die sich aus der Anwendung der „verstehenden Methode" ergebende Versuchung, „auch alles zu verzeihen" (ebenda); über die Rankesche These vom „Primat der A u ß e n p o l i t i k " , vom Krieg als „Wettkampf sittlicher Energien", als „Element des zivilisatorischen Fortschritts" (vgl. G. Ritter, Gegenwärtige Lage . . ., in: a. a. O., S. 3 f).

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Ritter versuchte bewußt, den Eindruck hervorzurufen, als seien diese „methodischen Schwächen" dafür verantwortlich, daß er und seinesgleichen in den großen Lebensfragen der deutschen Nation versagt haben. Diese Version befindet sich aber im offensichtlichen Widerspruch zu zwei anderen, gleichfalls von Ritter zur Rechtfertigung reaktionärer bürgerlicher deutscher Historiker verbreiteten Versionen, wonach a) die Geschichte prinzipiell unerkennbar, keinerlei Gesetzmäßigkeiten unterworfen, eine wissenschaftliche Voraussicht der Zukunft (etwaiger Katastrophen) folglich unmöglich sei und wonach b) Ritter und seinesgleichen schon lange vor der Schlacht von Stalingrad gewußt hätten, was die Herrschaft des Faschismus für historische Folgen zeitigt, sie allerdings „keinen ganz offenen Protest wagen durften". (Vgl. G. Ritter, Geschichte als Bildungsmacht, Stuttgart 1946, S.17.) Die Widersprüchlichkeit und Verlogenheit dieser Argumentation, der das Bestreben zugrunde liegt, die Kollaboration mit den Nazis 91

Volkes w i e auch der Fachkollegen des westlichen Auslands zu der Aufrichtigkeit der bürgerlichen deutschen Historiker wiederherzustellen und obendrein die deutschen Imperialisten von ihrer Schuld am zweiten Weltkrieg reinzuwaschen. D i e s e Scheinkritik hatte aber noch einen weiteren Zweck, den Ritter 1946 selbst angab: „Wir werden niemals in ein fruchtbares Gespräch mit unseren Nachbarn, insbesondere mit der geistigen Welt des Westens gelangen, w e n n wir nicht bereit sind, auf g e w i s s e Lieblingsvorstellungen zu verzichten, von denen die deutsche Historie als politische Bildungsmacht bisher gelebt hat." 9 N a c h d e m dieses „fruchtbare Gespräch" in der W e i s e angeknüpft war, dafj Westdeutschland z u m Juniorpartner des amerikanischen Imperialismus in Europa avanciert war, sah Ritter keinerlei Veranlassung mehr, auf „gewisse Lieblingsvorstellungen" zu verzichten. 1 0 D a s b e w i e s vor allem sein Referat „Zur Problematik gegenwärtiger Ge-

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in einen versteckten Kampf gegen sie umzufälschen, wird vollends offenbar, wenn man Ritters publizistische Tätigkeit in der Zeit der Herrschaft des Faschismus in Deutschland näher untersucht, wie es Werner Berthold in seinem Buch „ . . . grofjhungern und gehorchen", Berlin 1960, getan hat. Hier sei nur auf Ritters unveröffentlichten Vortrag aus dem Jahre 1943 verwiesen, der sodann als „Lehrbrief der philosophischen Fakultät Freiburg" für Freiburger Studenten in der faschistischen Wehrmacht unter dem Titel „Das Rätsel Rußland. Geschichtliche Betrachtungen über das Verhältnis Rußlands zum Abendland" vervielfältigt und 1958 (!) in „überarbeiteter" Form von Ritter in seinem Buch „Lebendige Vergangenheit, Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung", München 1958, veröffentlicht wurde. Vor jedem älteren Leser muß beim Lesen dieses Pamphlets unwillkürlich im Geiste die Gestalt seines Nazi-Geschichtslehrers und seines NS-Führungsoffiziers auftauchen, die sich derselben von Ritter gebrauchten Terminologie bedienten. Ritter leistete mit diesen gemeinsam wissenschaftlich verbrämte ideologische Beihilfe zum Mord an sowjetischen Kommissaren, Partisanen und Kommunisten. Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht, Stuttgart 1946, S. 51. „Es zeugt. . . vom inneren Zusammenhang zwischen Geschichte und Politik", so muß selbst ein bürgerlicher Wissenschaftler eingestehen, „daß die Neigung zur kritischen Betrachtung der deutschen historischen Tradition desto schwächer wird, je mehr Deutschland wieder zum umworbenen Partner im internationalen Kräftespiel aufsteigen konnte." (Walther Hofer, Geschichte zwischen Philosophie und Politik, Basel 1956, S. 20.) 92

schichtsschreibung" auf dem X.Internationalen Historikerkongreß im Jahre 1955 in Rom. In diesem Referat maßte er sich das Recht an, allen jenen Historikern der westeuropäischen NATO-Partner Lehren zu erteilen, die nach seiner Auffassung mit ihren Ansichten in bedrohliche Nähe des historischen Materialismus geraten. Sein Angriff, hinter dem sich der chauvinistische deutsch-imperialistische Hegemonieanspruch in Westeuropa verbirgt, richtete sich vor allem gegen die Versuche der französischen Schule der Geschichtszeitschrift „Annales", eine Geschichtssynthese größeren Stils bei Abkehr von der traditionellen politischen Geschichte, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Faktoren und der Suche nach kausalen Abhängigkeiten zustandezubringen. Ritter verteidigte gegenüber solchen Versuchen in herausfordender Weise das Primat der Staatspolitik: „Aber man rede mir nicht von .deutschem Etatismus', wenn ich behaupte, daß es zum nüchternen Tatsachensinn des Historikers gehört, sich über die primäre Rolle des Politischen im Leben der modernen Nationen keine Illusionen zu machen." 1 1 Ebenso nachdrücklich verurteilte Ritter Versuche, historische Fakten kausal zu erklären und Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses aufzudecken: „Der Historiker v e r m a g . . . keine Tatsachen im Sinne der Naturwissenschaft .kausal' zu erklären . . . " 1 2 „Geschichte interessiert uns in erster Linie als Reich der schöpferischen Spontaneität des Menschen, also der Freiheit im Gegensatz zur Gebundenheit der Natur." 1 3 Seine Verachtung der Volksmassen bringt Ritter zum Ausdruck, indem er eine Geschichtsauffasung ablehnt, bei der „im Zentrum des Interesses . . . offenbar doch mehr die .Gesellschaft' als der schöpferisch handelnde Mensch, die historische Persönlichkeit" steht. 14 Arrogant und militant tritt Ritter gegen all jene Historiker auf, die diese „Lieblingsvorstellungen" deutscher Historie aufgeben bzw. sich nicht zu eigen machen wollen. Die Geschichte ist nach Ritter in erster Linie staatspolitische Geschichte, das politische Leben wird 11

12 13 14

Gerhard Ritter, Zur Problematik . . . . in: Lebendige Vergangenheit, Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München 1958, S. 269. Ebenda, S. 265. Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 262.

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nicht von wirtschaftlichen Interessen bestimmt, die politische Geschichte hat sich auf eine Beschreibung der politischen Ereignisse zu beschränken, die Hauptrolle in der Geschichte spielen die aktiven Persönlichkeiten, ihr Wille ist frei und unfrei zugleich, wobei die apologetische Absicht darüber entscheidet, wann das eine und das andere in den Vordergrund gestellt wird, daher lassen sich im politischen Geschehen auch keine Gesetzmäßigkeiten nachweisen. Auf diese Thesen reduziert sich im wesentlichen die von Ritter vorgetragene Geschichtsauffassung. Mit der Behauptung, daß der Geschichtsverlauf streckenweise „sinnvoll", streckenweise aber »sinnlos" sei, daß die Geschichte eine Einheit von „blindem Zufall" und „sinnvollem Zusammenhang" bilde 15 , versuchte Ritter, alle jene Historiker, die das Versagen der bürgerlichen Historiographie in den Lebensfragen der Nation zum Anlaß nehmen wollten, die weltanschaulichen Grundlagen ihrer Wissenschaft zu überprüfen, von diesem Vorhaben abzubringen, ihre Annäherung an die marxistische Geschichtsauffassung zu verhindern und vor allem die Verantwortung der deutschen Imperialisten für die im zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen zu leugnen. Er versuchte, jedes aufrichtige Streben bürgerlicher Historiker, aus der Katastrophe, in die der deutsche Imperialismus das deutsche Volk und man kann sagen die Welt - gestürzt hatte, richtige Lehren zu ziehen, mit der Behauptung, daß eben hier ein blinder Zufall gewaltet habe 16, im Keim zu ersticken. Ritter selbst aber stand nicht an, auf seine Art, vom Standpunkt der deutschen Imperialisten, „Lehren" aus deren verbrecherischem Abenteuer zu ziehen, wie, daß es, um mit den Worten eines Strauß zu reden, z. B. in einem künftigen Krieg des deutschen Imperialismus, wie er heute von der AdenauerClique vorbereitet wird, nur noch einen „Fall Rot" geben dürfe. Auf diese Weise gelang es Ritter und seinesgleichen unter Ausnutzung des Adenauerschen Staatsapparates, zu verhindern, daß die traditionellen weltanschaulichen Grundlagen des bürgerlichen deutschen Geschichtsdenkens im Prozeß der notwendig gewordenen Revision des alten imperialistischen „Geschichtsbildes" faschistischer Prägung von demokratisch gesinnten bürgerlichen deutschen Histo15 16

Vgl. Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht, Stuttgart 1946, S. 23 f. Vgl. ebenda, S. 12 u. 15.

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rikern ernsthaft erschüttert wurden. Es gelang ihnen, die bürgerliche deutsche Geschichtswissenschaft in ein ideologisches Instrument für die Wiederaufrichtung des deutschen Imperialismus und Militarismus zu verwandeln, bestimmte Geschichtslegenden weit zu verbreiten und der antikommunistischen christlich-abendländischen Geschichtskonzeption zur Herrschaft zu verhelfen. Nicht gelingen konnte es ihnen allerdings, zu verhindern, dag der Geschichtsverlauf auch nach Beendigung des zweiten Weltkrieges den anschaulichsten Beweis dafür erbrachte, daß sich die Geschichte so bewegt, wie es Marx und Lenin vorausgesagt haben. Nicht verhindern konnten sie, dag ihre nach 1945 verbreiteten Auffassungen und Vorstellungen vom Wesen des Geschichtsprozesses durch seinen tatsächlichen Verlauf erneut ad absurdum geführt wurden und der Kapitalismus, wie N. S. Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag feststellen konnte, „im Verlauf des friedlichen Wettbewerbs der beiden Systeme... in den Augen aller Völker eine schwere moralische Niederlage" erlitt.17 Sie konnten und können es auch fernerhin nicht verhindern, daß „die einfachen Menschen... sich täglich davon (überzeugen), dag der Kapitalismus augerstande ist, auch nur ein einziges der herangereiften Probleme zu lösen, die vor der Menschheit stehen", dag »es immer offensichtlicher (wird), dag man nur auf den Wegen des Sozialismus eine Lösung dieser Probleme finden kann", und dag .das Vertrauen zur kapitalistischen Ordnung und zum kapitalistischen Entwicklungsweg... immer geringer (wird)".18 Es ist daher auch nicht möglich, dag die bürgerlichen Historiker in ihrer Gesamtheit vor all den Tatsachen, die die Feststellungen N. S. Chruschtschows rechtfertigen, die Augen verschließen können. Es ist unausbleiblich, dag sie sich bei der Erfüllung des ihnen erteilten sozialen Auftrags einer Rechfertigung der Adenauer-Politik und einer Widerlegung des Marxismus-Leninismus bis zu einem gewissen Grade bewugt werden müssen, dag sie mit der historischen Wahrheit in Konflikt geraten. Die Folge davon kann nur sein, dag die Zweifel 17

N. S. Chruschtschow, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXII. Parteitag der KPdSU, in: Der Triumph des Kommunismus ist gewilj, Berlin 1961, S. 9 f.

18

Ebenda, S. 10.

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am wissenschaftlichen Wert der von den führenden reaktionären imperialistischen deutschen Historikern wie Ritter, Heimpel, Dehio, Schieder u. a. vertretenen Auffassungen über Fragen der Theorie und Methode der Geschichtswissenschaft sowie der „Lehren" der Geschichte, der „Geschichtskonzeption" nicht verstummen können, sich sogar verstärken müssen. Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, daß das in der Tat der Fall ist. So halten die Diskussionen um die „unbewältigte Vergangenheit" bis heute an, zahlreiche Historiker vertreten nach wie vor die Auffassung, daß die Tragödie, die der deutsche Imperialismus über das deutsche Volk heraufbeschworen hatte, keine zufällige gewesen i s t 1 9 ; immer wieder sehen sich führende reaktionäre Philosophen und Historiker genötigt, verantwortungsbewußte Wissenschaftler zum endgültigen Verzicht auf kritische Betrachtung der bürgerlichen deutschen Historiographie aufzufordern 2 0 , sich angesichts der deutschen Geschichte (genauer gesagt: angesichts des Schicksals des deutschen Imperialismus) nicht vom Gefühl des Pessimismus überwältigen zu lassen 2 1 ; immer wieder wird schließlich der wissenschaftliche Wert der theoretischen und methodologischen Voraussetzungen des traditionellen bürgerlichen deutschen Geschichtsdenkens in Zweifel gezogen, insbesondere das Primat der Politik 19

Heftigen Angriffen von Seiten militanter imperialistischer Ideologen wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, erst in jüngster Zeit der Hamburger Professor Fritz Fischer gelegentlich des Erscheinens seines Buches „Griff nach der Weltmacht", Düsseldorf 1961, ausgesetzt, weil er in seinem Buch die aggressive, räuberische Politik des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg entlarvte und dabei nachwies, dafj diese Politik im wesentlichen von den Faschisten im zweiten Weltkrieg fortgesetzt worden ist.

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„Die historische Wissenschaft hat die immense Aufgabe, das historische Denken aus dem Teufelszirkel von Selbstrechtfertigung und Selbstanklage herauszuführen . . . " , schreibt 1961 (!) Theodor Schieder. (Th. Schieder, Grundfragen der neueren deutschen Geschichte, in: HZ, Bd. 192, S. 7).

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„Worauf es für uns in der heutigen Situation ankommt", erklärt Landesbischof Lilje auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum im Jahre 1956 zu der Klage Prof. Stöckls, dafj der „Westen" kein Geschichtsbild besitze, „aber ist dies: Wir müssen uns hüten, daß wir den Verfall beklagen und zu der Meinung kommen, wir befänden uns in einem desolaten Zustand." („Die Welt", Hamburg, vom 15. 6. 1956.)

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angegriffen, der Europazentrismus verurteilt und überhaupt eine kritische Überprüfung der reaktionären Traditionen der deutschen Geschichtsschreibung gefordert. Die Tatsache, daß sich die Fachhistoriker selbst in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß an der Diskussion um „geschichtsphilosophische Fragen" beteiligen, beweist, daß das Interesse an der Theorie erwacht ist; sie zeugt davon, daß sie sich allmählich der tiefen Krise bewußt zu werden beginnen, in der sich ihre Wissenschaft befindet, daß sie vor allem auch die Gefahr zu erkennen beginnen, die ihrer Wissenschaft droht, wenn sie zur historischen Rechtfertigung der reaktionären Adenauer-Politik mißbraucht wird. Es kann unter diesen Umständen nicht verwundern, wenn andererseits um das Schicksal des deutschen Imperialismus bangende Historiker und Philosophen in dem Bestreben, dieser sich mit dem Eintritt des Kapitalismus in die dritte Etappe seiner allgemeinen Krise verstärkenden Stimmungen Herr zu werden, zu der Auffassung gelangen, daß in der Gegenwart eine erneute Revision der theoretischen und methodologischen Voraussetzungen des bürgerlichen deutschen Geschichtsdenkens notwendig ist. Offen zum Ausdruck kommen diese Revisionsbestrebungen unter anderem in dem Auftreten des westdeutschen Geschichtsphilosophen Othmar F. Anderle. Unter Berufung auf die unter bürgerlichen Historikern weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Zustand der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft - und darüber hinaus der bürgerlichen Geschichtswissenschaft überhaupt erbot er sich, einen Weg zur Verwandlung der Geschichtswissenschaft aus einer PseudoWissenschaft in eine echte Wissenschaft zu weisen. Damit sollte sie aus ihrer „Grundlagenkrise" erlöst werden, die für Anderle im oben dargelegten Sinne darin besteht, daß alle bisherigen theoretischen und methodologischen Voraussetzungen heute ins Wanken geraten sind. Bei dem Versuch, diese Aufgabe zu lösen, schlägt Anderle folgende Taktik ein: Im Gegensatz zu den führenden westdeutschen Historikern erkennt er die Existenz einer „Grundlagenkrise" offen an. Alle Historiker, die an der Wissenschaftlichkeit ihres Gewerbes zweifeln, bestärkt er in ihrem Zweifel. Im Gegensatz zum herkömmlichen bürgerlichen deutschen Geschichtsdenken erkennt er die Existenz von Gesetzen des Geschichtsprozesses formell an und 7

Scheler, Die Wissenschaft

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erklärt ihre Aufdeckung zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Die Argumente, die von den Vertretern der traditionellen Historiographie gegen die Möglichkeit einer Aufdeckung angeführt werden, widerlegt er jedoch nicht, sondern schließt sich ihnen an, um auf diese Weise mit rationalen Methoden zu beweisen, daß nur die Anwendung irrationaler Methoden, wie der Intuition, eine Aufdeckung der „Gesetzmäßigkeiten" ermögliche. Auf diese Weise versucht Anderle, die Fachhistoriker von der rationalen Erforschung der gesellschaftlichen Erscheinungen abzuhalten (in deren Ergebnis sie, wie gesagt, auf die Widersprüche zwischen der auch von Anderle verteidigten christlich-abendländischen Geschichtskonzeption und der historischen Wahrheit stoßen müßten) und die Wissenschaft der Religion unterzuordnen. Um dieses Ziel zu erreichen, eröffnet Anderle einen - wie sich zeigen wird - Scheinangriff gegen eine streng individualisierende, jegliche Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses leugnende Geschichtswissenschaft. So erklärt er, daß der von Ritter und anderen vertretene Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ihres Gewerbes ungerechtfertigt ist, da die bürgerliche deutsche Geschichtswissenschaft „ihrem öffentlich proklamierten methodologischen Programm wie dem Gros ihrer faktischen Leistungen nach bisher über das bloß beschreibende Stadium, das die Naturwissenschaft schon mit Galilei verlassen hatte, nicht hinausgekommen ist und daß man ihr aus diesem Grund mit Recht den Vorwurf der Rückständigkeit... machen kann." 22 Den Grund für diese „Rückständigkeit" sieht er darin, daß die bürgerliche Geschichtswissenschaft „ihre Klassiker noch nicht gehabt" habe. 23 Er betrachtet das Problem, warum gerade in der Gegenwart stärker als je zuvor die theoretischen und methodologischen Voraussetzungen der bürgerlichen Historiographie ins Wanken geraten sind, als ein Wachstumsproblem und bezeichnet die „Grundlagenkrise" demgemäß als eine „Pubertätskrise" 24 . Die Begriffe „Rückständigkeit" und „Pubertätskrise" spiegeln den wahren Sachverhalt nicht im entferntesten richtig wider. Denn erstens ist es nicht wahr, daß die bürgerliche Historiographie noch 22

23

Othmar F. Anderle, Theoretische Geschichte, Betrachtungen zur Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft, in: HZ, Bd. 185, S. 28. 24 Vgl. ebenda, S. 32. Vgl. ebenda, S. 31.

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zu keiner Zeit „über das bloß beschreibende Stadium" hinausgekommen ist. Ihre fortschrittlichsten Vertreter waren bereits, wie wir eingangs zeigten, zu beachtlichen theoretischen Einsichten gelangt, von denen sie sich bei der Erforschung der Geschichte leiten ließen. Die „Kanonisierung der idiographischen Methode" 25 , von der Anderle spricht, war demgegenüber ein Rückzug, von der Furcht vor den den unausweichlichen Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft bezeugenden gesellschaftlichen Gesetzen diktiert. Zweitens hat sich auch die reaktionäre bürgerliche deutsche Historiographie nie auf eine Beschreibung von Tatsachen allein beschränkt. Sie hat diese Tatsachen kausal zu erklären versucht, und zwar von idealistischen philosophischen Positionen aus. Obwohl sie Gesetzmäßigkeiten öffentlich ablehnte, hat sie doch Pseudogesetze formuliert, um bestimmte Erscheinungen in einem für die Bourgeoisie politisch günstigen Sinne zu erklären. Der Begriff „Rückständigkeit" ist also völlig fehl am Platze und kann nur zur Verschleierung des wahren Sachverhalts dienen. Dasselbe trifft auch für den Begriff „Pubertätskrise" zu, mit dem sich Anderle der Notwendigkeit entheben will, die wahren gesellschaftlichen Ursachen für die derzeitige Unzufriedenheit bürgerlicher Historiker mit dem Zustand ihrer Wissenschaft zu untersuchen. Die „Erklärung" für die von Anderle festgestellte Tatsache, daß die bürgerliche Geschichtswissenschaft sich bis heute nicht zu einer Wissenschaft entwickelt hat - worin man ihm vorbehaltlos zustimmen darf - , ist erstens nicht originell, denn eines ähnlichen Arguments bediente sich bereits Wilhelm Windelband im vorigen Jahrhundert. 26 Zweitens ist die Behauptung, daß die bürgerliche Geschichtswissenschaft „ihre Klassiker noch nicht gehabt habe", unwahr und obendrein eine Beleidigung für die wahren Klassiker des bürgerlichen historischen Denkens wie etwa Guizot, Thierry und Mignet. Drittens kommt in dieser „Erklärung" die für die heutige Bourgeoisie typische Leugnung ihrer fortschrittlichen Traditionen auf philosophischem Gebiet deutlich zum Ausdruck. Anderle betrachtet das Problem der Krise der bürgerlichen Geschichtswissenschaft losgelöst von den sozialen Verhältnissen, die 25 26

7*

Vgl. ebenda, S. 28. Vgl. Wilhelm Windelband, Präludien, Bd. 2, Tübingen 1911. S. 149

99

zur Krise geführt haben. Obgleich er von einer »Krise unserer Zeit" spricht, worunter er, wenn auch aus bürgerlicher Sicht gesehen, schließlich keine anderen Erscheinungen begreifen kann als jene, die die allgemeine Krise des Kapitalismus kennzeichnen, stellt er jedoch zwischen der Krise der Geschichtswissenschaft und der allgemeinen Krise des Kapitalismus keinen kausalen Zusammenhang her. Einen Zusammenhang sieht er nur insofern, als nach Überwindung der „Pubertätskrise" der Geschichtswissenschaft Hoffnung bestände, daß eine wahre Wissenschaft von der Geschichte - im Gegensatz zur jetzigen PseudoWissenschaft - „auch für die Krise unserer Zeit fruchtbar zu machen" sei. 27 Die allgemeine Krise des Kapitalismus stellt für ihn nur jenes Moment dar, das in der Gegenwart zur Überwindung der angeblichen Wachstumsschwierigkeiten der bürgerlichen Historiographie anspornt. Bei dem Versuch einer solchen Überwindung geht Anderle von der richtigen Feststellung aus, daß eine Zweiteilung von Natur und Gesellschaft im Hinblick auf die Existenz von Gesetzen, wie sie von Rickert vorgenommen wurde, ungerechtfertigt ist. 28 Für Anderle scheint das Problem demnach nicht darin zu bestehen, ob es Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsverlaufs gibt, sondern, wie man zu ihrer Aufdeckung gelangt. Wie man erwarten müßte, setzt sich Anderle jedoch in diesem Zusammenhang nicht mit den Argumenten auseinander, die die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Aufdeckung von Gesetzen bestreiten, sondern schließt sich ihnen vielmehr an. So wendet er gegen die Verallgemeinerung historischer 27

28

Othmar F. Anderle, Die Geschichtswissenschaft in der Krise; in: Festgabe Joseph Lortz, Bd. 2, Glaube und Geschichte, Baden-Baden 1957, S. 492. Vgl. ebenda, S. 5 1 5 - 5 1 7 . Welche Tatsache es Anderle geraten scheinen läßt, sich zu diesem Eingeständnis zu bequemen, verrät er uns an anderer Stelle: „Vor allem dürfen wir unsere Augen nicht vor der Tatsache verschlie5en, dafj die gesamte sowjetische Historiographie, die direkt das Weltbild von über 200 Millionen Menschen und indirekt nahezu dasjenige von der fünffachen Anzahl - bald der Hälfte der Menschheit - beherrscht, die Scheidung von Natur- und Geisteswissenschaften überhaupt nicht kennt, sondern die Geschichte von vornherein als Natur- und Gesetzeswissenschaft behandelt." (Das Integrationsproblem in der Geschichtswissenschaft, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, Band 15/1957, S. 215.)

100

Erscheinungen, gegen das Generalisieren, wie er es in Anlehnung an Rickert nennt, ein, daß das Ergebnis „das Bild der ,Welt als Natur', ein Bild genereller Züge, sich wiederholender Gleichförmigkeiten, allgemeiner Gesetze" ist. 29 Er unterstellt, daß der Forscher, der auf diese Weise den Gesetzmäßigkeiten auf die Spur kommen will, das Besondere, Spezifische an den historischen Erscheinungen vernachlässigen muß. In Wahrheit aber kann natürlich das Besondere an einer Erscheinung erst festgestellt werden, wenn man jene Momente entdeckt hat, die diese Erscheinung mit anderen gemeinsam hat. Und andererseits setzt ein zum Zweck der Verallgemeinerung angestellter Vergleich von Erscheinungen voraus, daß ihre einzelnen Elemente untersucht werden, bevor man sie vergleicht. Anderle ist offensichtlich mit Rickert der Meinung, daß wissenschaftliche Abstraktionen von der Wahrheit wegführen. 30 Aber dadurch, „daß das Denken vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt es sich wenn es richtig i s t . . . - nicht von der Wahrheit, sondern kommt ihr näher. Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln", wie Lenin sagt, „die Natur tiefer, getreuer, vollständiger wider."31 Dasselbe trifft natürlich auch auf die Gesellschaft zu, wie Lenin an anderer Stelle überzeugend nachgewiesen hat: „Erst diese Verallgemeinerung (der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse in den verschiedenen Ländern - H. Sch.) bot dann die Möglichkeit, von der Beschreibung der gesellschaftlichen Erscheinungen (und ihrer Beurteilung vom Standpunkt des Ideals) zu ihrer streng wissenschaftlichen Analyse überzugehen, die beispielsweise das hervorhebt, was das eine kapitalistische Land von einem anderen unter29 30

31

Ebenda, S. 516. „Um so vollkommener wir unsere naturwissenschaftlichen Theorien ausbilden", erklärte Rickert, „um so weiter entfernen wir uns von ihr (der Natur - H. Sch.), und um so sicherer geht sie uns bei der Arbeit unter den Händen verloren" (H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen u. Leipzig 1902, S. 238). W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1954, S. 89.

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scheidet, und das untersucht, was ihnen allen gemeinsam ist." 32 Nachdem Anderle bestritten hat, dag eine Verallgemeinerung historischer Erscheinungen notwendig ist, versucht er darüber hinaus auch noch anhand zweier Argumente zu beweisen, dag eine solche Verallgemeinerung gar nicht möglich sei. So erklärt er im ersten Argument, dag eine solche Verallgemeinerung voraussetze, dag sich in der Geschichte „Elementarfakten", „letzte Elemente", „Ureinheiten" finden lassen, die, da untereinander qualitativ gleichartig, „induktiv-generalisierend" zu erfassen wären. Da es solche „Elementarfakten" nach Anderle nicht gibt, zieht er den Schlug, dag „jeder Versuch, die Geschichte induktiv-generalisierend zu behandeln, endgültig scheitern (mug), auch wenn sich .Gleichförmigkeiten' der einen oder der anderen Art der Beobachtung aufdrängen sollten. Es fehlt einfach die Basis, auf die diese Gleichförmigkeiten zu beziehen wären, und damit die einheitliche Dimension, die jede Induktion voraussetzt." 33 Ähnlich wie die Subjektivisten in der Soziologie, gegen die Lenin einst stritt, behauptet Anderle im Grunde also, dag das allgemeinwissenschaftliche Kriterium der Wiederholbarkeit auf die gesellschaftliche Form der Bewegung nicht anwendbar sei. Mit dem Anspruch des Marxismus aber, gerade „die .Basis" entdeckt zu haben, „auf die diese Gleichförmigkeiten (nämlich der ideologischen Verhältnisse, d. h. der Verhältnisse, die vor ihrer Herausgestaltung durch das Bewugtsein der Menschen hindurchgegangen sind H. Sch.) zu beziehen wären", wagt er sich nicht direkt auseinanderzusetzen. Denn eines der grogartigsten Verdienste von Marx besteht bekanntlich darin, dag er die Existenz einer solchen Basis in der ökonomischen Struktur, in den Produktionsverhältnissen der Gesellschaft entdeckt und die Anwendbarkeit des Kriteriums der Wiederholbarkeit auf diese Verhältnisse nachgewiesen hat. Für Anderle, der die von Marx getroffene Unterscheidung zwischen materiellen und ideologischen gesellschaftlichen Verhältnissen ein321

33

W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? In: W.I.Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 131. Othmar F. Anderle, Die Geschichtswissenschaft in der Krise, in: a.a.O., S. 523.

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fach ignoriert, trifft daher in vollem Umfang zu, was Lenin, an die Adresse der subjektiven Soziologen gerichtet, erklärte: „Solange sie sich auf die ideologischen gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkten ..., konnten sie die Wiederholung der Regelmäßigkeit in den gesellschaftlichen Erscheinungen der verschiedenen Länder nicht entdecken, und ihre Wissenschaft war bestenfalls eine bloße Beschreibung dieser Erscheinungen, eine Zusammenstellung von Rohmaterial. Die Analyse der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse (d. h. der Verhältnisse, die entstehen, ohne durch das Bewußtsein der Menschen hindurchgegangen zu sein: indem die Menschen ihre Produkte austauschen, gehen sie Produktionsverhältnisse ein, sogar ohne sich der Tatsache bewußt zu werden, daß es sich dabei um ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis handelt) - die Analyse der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse bot sofort die Möglichkeit, die Wiederholung und Regelmäßigkeit festzustellen..." 34 Nachdem Anderle die Existenz einer .Basis" zu leugnen, versucht hatte, auf die „Gleichförmigkeiten" zu beziehen wären, leugnete er schließlich die Möglichkeit der Aussonderung einzelner Fakten und Erscheinungen mit dem Hinweis auf die „Unauflöslichkeit ihres Gewebes" 35 (der Wirklichkeit - H. Sch.). Somit gibt es keine historischen Tatsachen, keine gesellschaftlichen Erscheinungen als solche, da alle so eng miteinander zusammenhängen, daß sie sich nicht isolieren lassen. Aus der Tatsache, daß es in der Wirklichkeit keine festen Grenzen gibt, daß alle Erscheinungen wechselseitig miteinander verbunden sind, schließt Anderle fälschlicherweise, daß man keine Einschnitte in die Wirklichkeit machen dürfe, da man ihr in diesem Falle Gewalt antue. Ließen sich gesellschaftliche Erscheinungen tatsächlich nicht miteinander vergleichen und gemeinsame Merkmale abstrahieren, so müßten in der Endkonsequenz allerdings alle Allgemeinbegriffe, wie Produktionsverhältnis, Revolution, Krieg, Klasse, Wirtschaftskrise usw. liquidiert werden. An ihre Stelle müßten Rickerts berüchtigte „historische Begriffe" treten, die sich dadurch auszeichnen 31 35

W.I.Lenin, Was sind die „Volksfreunde"...? In: a.a.O., S. 130 f. Othmar F. Anderle, Die Geschichtswissenschaft in der Krise, in: a. a. O., S. 523. 103

würden, „daß sie nicht das einer Mehrheit Gemeinsame, sondern das nur an einem Individuum Vorhandene darstellen".36 Die Erkenntnis von Gesetzen erfordert eine Verallgemeinerung von Erscheinungen und Tatsachen. Das geht aus der Natur des Gesetzes selbst hervor, denn eines seiner wichtigsten Merkmale ist die Allgemeinheit. Wenn Anderle also gegen die Möglichkeit einer Bildung von Allgemeinbegriffen auftritt, so leugnet er damit die Existenz von Gesetzmäßigkeiten, die in den Begriffen widergespiegelt werden. Seine Auffassung teilt er in dieser Hinsicht mit vielen anderen bürgerlichen Soziologen und Philosophen, die die Begriffe zu bloßen Konventionen erklären, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht. Danach nimmt es nicht weiter wunder, wenn Anderle nunmehr die Auffassung, daß ein Verständnis des Geschichtsprozesses als Ganzes nur vermittels der Aufdeckung der diesen Prozeß beherrschenden Gesetze zu erlangen ist, als irrig und die „leider" weit verbreitete Annahme, daß nur rationale Methoden als wissenschaftlich zu gelten haben, zu einem „Vorurteil" erklärt. Er behauptet dagegen, daß „die Forderung einer theoretischen Behandlung der Geschichte noch nicht die Annahme von Gesetzen... (präjudiziert). Es ist eine Geschichtstheorie auch auf einer individualisierenden, streng indeterministischen Basis durchaus denkbar." 37 Mit Bedauern stellt er fest, „ . . . es hat sich aber doch das Vorurteil eingenistet, daß mit dem Generalisieren auch eine Synopsis zumindest mit wissenschaftlichen Mitteln nicht erreichbar sei".38 Anderles Versuche, dieses „Vorurteil" zu überwinden, kann man nur als kläglich bezeichnen. Zur sicher nicht geringen Bestürzung der führenden Vertreter der bürgerlichen deutschen Historiographie, die ihren Anspruch, Wissenschaft zu betreiben, gerade von einer angeblich rein rationalen Erforschung der historischen Tatsachen herleiten, beruft er sich dabei ausgerechnet auf sie. Anhand von Äußerungen Hermann Heimpels, Friedrich Meineckes, Georg von Belows und vor allem Gerhard Ritters weist er nach, daß sie im Grunde selbst Anhänger einer „intuitiven Schau" der großen Zu36 37 38

Heinrich Rickert, a. a. O., S. 337. Othmar F. Anderle, Theoretische Geschichte, in: a . a . O . , S. 33. Ebenda, S. 12.

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sammenhänge sind.39 Wenn er dann gleichzeitig feststellt, da§ „die professionelle Historiographie" . . . von Intuition „nichts wissen" 40 will, so versucht er, mit der Aufdeckung dieser widersprüchlichen Haltung die Lebenden unter den Obengenannten dazu zu zwingen, sich offen zur Intuition als wissenschaftlicher Methode zu bekennen. Anderle bestätigt damit nur, was von marxistischer Seite seit langem festgestellt w.urde, nämlich, daß der Irrationalismus in der Epoche des Imperialismus ein charakteristisches Merkmal der bürgerlichen Weltanschauung insgesamt ist, unabhängig davon, ob das von den einzelnen bürgerlichen Gelehrten offen eingestanden wird oder nicht. Die Berufung auf diese Tatsache kann natürlich nicht den von Anderle erhobenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Intuition begründen. Ebensowenig überzeugend ist Anderles zweites Argument, wonach ein Genie, wie er ohne weitere Begründung behauptet, ein Mensch sei, der über „transsensorische" und „transrationale" Fähigkeiten verfüge und die Wahrheit damit intuitiv erfasse, und dessen Fähigkeiten - sofern man das Genie als Wissenschaftler anerkenne eben auch als wissenschaftlich zulässig gelten müsse.41 Bereits auf dem Rückzug 42 aber befindet sich Anderle mit dem dritten Argument, wenn er, dem bereits erwähnten „nüchternen Tatsachensinn" der Fachhistoriker Rechnung tragend, nicht jener Intuition das Wort reden will, „die weder sinnlich zur Anschauung noch rational zur Einsicht gebracht werden kann." 4 3 Das „Geschichtsbild" müsse „auf einem soliden empirischen Fundament 39

40 4a

43

Vgl. Othmar F. Anderle, Die Geschichtswissenschaft in der Krise, in: a. a. O., S. 529-534. 41 Ebenda, S. 534. Ebenda, S. 534. In seinem Buch „Das universalhistorische System Arnold Joseph Toynbees," Frankfurt a. M., Wien, 1956, hatte Anderle noch die Notwendigkeit einer Übereinstimmung der historischen Tatsachen mit den Ergebnissen einer „intuitiven Schau" geleugnet und dadurch die schärfste Kritik von Seiten verschiedener Fachhistoriker herausgefordert. So fragt Franz Hampl in seiner Rezension des obengenannten Buches: „Wohin kämen wir, wenn es einer solchen Anschauung gelänge, sich durchzusetzen? Wäre es nicht der Bankrott unserer Wissenschaft?" (Historische Zeitschrift, Bd. 183, S. 339). Othmar F. Anderle, Die Geschichtswissenschaft in der Krise, in: a.a.O., S. 536.

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ruhen, . . . nach rationalen und logischen Prinzipien entwickelt sein, . . . in einem jedermann nachprüfbaren Verhältnis zur Wirklichkeit stehen". 44 Wie aber kann vom Ruhen auf einem empirischen Fundament die Rede sein, wenn die „Wahrheit" bereits vor der Untersuchung dieses Fundaments intuitiv erfaßt und erst nachträglich durch die Tatsachen der Wirklichkeit untermauert werden soll? Schließlich ist auch die Forderung der Nachprüfbarkeit unerfüllbar. Selbst bürgerliche Historiker wiesen gelegentlich der vor einigen Jahren stattgefundenen Diskussion über Toynbees Geschichtsauffassung - der gerade Anderle anfangs vorbehaltlos zustimmte - darauf hin, daß sich dessen intuitiv erfaßte „Wahrheiten" nicht mit den historischen Tatsachen in Deckung bringen lassen. Das Ergebnis einer solchen „intuitiven Schau" kann nur ein spekulatives System sein, das jeglicher empirischer Grundlage entbehrt. Anderles Versuche, die Intuition für die wissenschaftliche Methode auszugeben, deren Anwendung die bürgerliche Historiographie in den Rang einer echten Wissenschaft erheben und sie aus der Krise erlösen könnte, muß man insgesamt als völlig mißlungen betrachten. Bereits diese Versuche lassen deutlich erkennen, daß sich Anderles Ausführungen vor allem und zu allererst gegen den historischen Materialismus und seine Auffassung von der Geschichte als einem gesetzmäßigen Prozeß richten. Obgleich Anderle in diesem Zusammenhang verspricht, alle Möglichkeiten einer Überwindung der „Grundlagenkrise" der bürgerlichen Geschichtswissenschaft in Erwägung zu ziehen, geht er auf den historischen Materialismus bezeichnenderweise nicht näher ein, kämpft aber unausgesetzt gegen ihn, wobei er sich schamlos der Argumente seiner vorgeblichen Hauptgegner, wie Rickert, Windelband u. a., bedient. Diese Tatsache sowie seine gleichzeitigen Versuche, die bürgerlichen Historiker zum völligen Verzicht auf eine rationale Erforschung der historischen Tatsachen zu bewegen, ihnen eine mystische „intuitive Schau" zu offerieren, lassen deutlich genug erkennen, daß Anderle die Bedeutung einer philosophischen Grundlegung der Fachwissenschaften durch die sogenannte Ganzheitsphilosophie gerade darin erblickt, daß sie, um mit den Worten eines Anderle Gleichgesinnten zu 44

Ebenda, S. 500.

106

reden, die Fachwissenschaftler vor der Auslieferung an den Materialismus bewahrt. 45 Noch deutlicher treten Anderles politisch-philosophische Absichten zutage, wenn man die Frage untersucht, was, wenn nicht Gesetze, wie Anderle eingangs versprach, mittels der Intuition erkannt werden soll. Gegenstand der Erkenntnis müssen nach Anderle Kulturen oder, wie Toynbee sie auch nennt, Zivilisationen sein. Mit diesen Zivilisationen verbindet er die Vorstellung „ganzheitlich strukturierter, einer Formalgesetzlichkeit unterliegender Gebilde".46 Er behauptet, daß der Ablauf des historischen Geschehens (worunter in erster Linie das politische zu verstehen sei) im Rahmen jeder sogenannten Zivilisation formal gleich verläuft und damit einer bestimmten Gesetzmäßigkeit unterliegt. Diese Formalgesetzlichkeit gilt es zu erkennen. Da es, wie Anderle in Übereinstimmung mit den Anhängern der sogenannten Ganzheitsphilosophie erklärt, „zum Wesen einer Strukturgesetzlichkeit gehört, ein ganzes Feld auf einmal von einem gewissen ideellen Zentrum aus und in allen seinen Teilen gleichzeitig zu bestimmen" 47, kann man diese Gesetzlichkeit auf zweierlei Weise erkennen: auf rationale Weise durch einen Vergleich des äußeren Ablaufs der historischen Ereignisse, die sich im Rahmen der verschiedenen Zivilisationen vollziehen, und auf irrationale Weise durch eine direkte, intuitive Erfassung des „ideellen Zentrums" oder der „Idee", die den Ablauf der historischen Ereignisse bestimmt. Welche Bewandtnis es mit dem „ideellen Zentrum" hat, erhellt aus Anderles Aufforderung, sich auf die Vorstellung „einer von göttlicher Hand geordneten und im Gleichgewicht gehaltenen Welt" 48 zu besinnen. 45

46

47 48

„Ohne philosophische (natürlich idealistische - H. Sch.) Grundlegung aber ist jede Fachbildung der Verflachung und dem Materialismus ausgeliefert." (Die Ganzheit in Philosophie und Wissenschaft, hrsg. von Walter Heinrich, Wien-IX 1950, Vorwort, S. VII.) Othmar F. Anderle, Giambattista Vico als Vorläufer einer morphologischen Geschichtsbetrachtung, in: Die Welt als Geschichte, Heft 2, 1956, S. 91. Ebenda, S. 91. Othmar F. Anderle, Die Geschichtswissenschaft in der Krise, in: a. a. O., S. 550.

107

Anstelle echter Gesetze der Geschichte gilt es demnach, göttliche Ideen intuitiv zu erfassen, die im nachhinein durch Tatsachen belegt werden sollen, denn eine echte Verallgemeinerung historischen Geschehens lehnte Anderle bekanntlich ab. Wenn er dennoch von einer rationalen und einer irrationalen Methode zur Aufdeckung von „Strukturgesetzlichkeiten" spricht, so kann man darin schließlich nicht mehr als eine bewußte Irreführung erblicken. Auf die Frage, was denn eigentlich eine Zivilisation sei und wo man demzufolge die göttliche Idee zu suchen habe, weiß Anderle so wenig eine wirkliche Antwort zu geben wie sein Idol Toynbee. So erklärt er kurzerhand die zu erfassende Idee unter der Bezeichnung „Sinn" zur Grundlage der Ganzheit „Zivilisation". „Sinn ist nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache ganzheitlichen Strukturiertund Eingeordnetseins." 4 9 Danach müßte dieser „Sinn" vom Forscher bereits intuitiv erfaßt sein, bevor ihm überhaupt klar ist, an welcher Art von Ganzheit er ihm nachspüren soll: an einer einzelnen Nation, an Nationen mit ein und derselben Produktionsweise, an einem geographisch begrenzten Kreis von Nationen oder einem Kreis von Nationen gleichen religiösen Glaubens usw. usf. An dieser knappen Darlegung werden Anderles Absichten bereits deutlich offenbar. Es geht ihm in der Hauptsache darum, dem marxistischen Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation einen mystischen Begriff der „Zivilisation" entgegenzustellen, der zutiefst wissenschaftsfeindlichen christlich-abendländischen Geschichtskonzeption 50 eine „theoretische Grundlage" zu geben, sie in eine „philosophisch begründete" Weltanschauung zu verwandeln, die im ideologischen Kampf mit der einzig wissenschaftlichen Weltanschauung, dem dialektischen und historischen Materialismus, zu bestehen vermag. Die tasächlich vorhandenen Schwierigkeiten bei der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Prozesse versucht Anderle auszunutzen, um den für ihn selbst kennzeichnenden blinden Glauben an die Existenz übernatürlicher Kräfte, an die Existenz eines per49

Othmar F. Anderle, Giambattista Vico . . . , a. a. O., S. 86.

50

Vgl. Ernst Hoffmann, Zur Entwicklung und Rolle der westdeutschen Geschichtsschreibung,

in:

Zeitschrift

VIII. Jg., 1960, S. 1 8 1 1 - 1 8 3 1 .

108

für

Geschichtswissenschaft,

Heft

8,

sönlichen, außerweltlichen Gottes, nach dessen Plan angeblich die Geschichte verläuft, auch allen Fachhistorikern zu suggerieren, um schwankend gewordene Gläubige zur Religion zurückzuführen. Nur zum Schein knüpft Anderle an die fortschrittlichen Traditionen der Ideologen der revolutionären Bourgeoisie an, indem er der Geschichtswissenschaft die Aufdeckung von Gesetzen zur Aufgabe macht. Denn statt auf dem einzig gangbaren Weg, den diese Ideologen bereits zu ihrer Zeit beschritten hatten, als sie sich der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse widmeten, dabei die Existenz von Klassen aufdeckten, die Rolle des Klassenkampfes annähernd begriffen usw., fortzuschreiten, empfiehlt Anderle die „Schau" göttlicher Ideen. Gelänge es, ihrer ansichtig zu werden, so wäre nach Anderle das Mittel gefunden, mit dessen Hilfe der Kapitalismus aus seiner allgemeinen Krise zu erlösen sei. Bemerkenswert an Anderles Auftreten ist sein Eingeständnis, daß die führenden reaktionären bürgerlichen deutschen Historiker unfähig sind, die Geschichte richtig zu begreifen, daß ihr Anspruch, echte Wissenschaft zu betreiben, zu Unrecht von ihnen erhoben wird, daß ihre etwaigen Beteuerungen, Gegner irrationaler Methoden zu sein, unglaubwürdig sind, und daß sich ihrer eine tiefe Unruhe und Unzufriedenheit über den derzeitigen Zustand der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, über ihre ausweglose Lage bemächtigt hat. Sein selbst von den reaktionärsten Absichten bestimmtes Vorhaben, der gesamten bürgerlichen Historiographie eine gemeinsame philosophische Grundlage für die Ausarbeitung einer einheitlichen Geschichtsauffassung zu liefern, die dem Abendlandmythos, der Legende von der abendländischen Zivilisation den Anschein der Wissenschaftlichkeit verleihen soll, wurde allerdings nicht in erster Linie wegen obiger Feststellungen abgelehnt. Maßgeblich dafür war auch nicht Anderles Bekenntnis zur Anwendung irrationaler Methoden, obgleich das auch im Vordergrund der an ihm geübten Kritik zu stehen schien. Entscheidend war vielmehr die pessimistische Grundhaltung Anderles, die Tatsache, daß er - die Untergangsstimmung gewisser Teile der Bourgeoisie theoretisch reflektierend gerade gegen jenes bereits zitierte Gebot eines Landesbischofs Lilje verstieß, wonach niemand zu der Meinung gelangen darf, daß sich das kapitalistische System - und mit ihm seine gesamte Ideologie 109

einschließlich der Geschichtswissenschaft - in einem „desolaten Zustand" 5 1 befindet. Entscheidend war ferner, daß Anderle ebensowenig wie sein Idol Toynbee den Führungsanspruch des westdeutschen Imperialismus in Europa betont hat. Ein Ausweg aus der Krise des bürgerlichen historischen Denkens, den Anderle vergeblich suchte, ist nur durch eine Auflösung der Bindung an die imperialistische Ordnung, durch die Aufgabe des bürgerlichen Klassenstandpunktes, durch Anerkennung der Arbeiterklasse als führender Kraft und damit durch eine allmähliche Annäherung an die marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung, an den historischen Materialismus und in letzter Konsequenz durch einen vollständigen Anschluß an diese Auffassung möglich. Dies von bürgerlichen Historikern zu erwarten, ist, wie die Tatsachen beweisen, durchaus nicht utopisch (wenngleich es sich bei dieser Annäherung, wie I. S. Kon in seinem Buch „Der philosophische Idealismus und die Krise des bürgerlichen historischen Denkens" 5 2 zeigte, auch um einen sehr komplizierten und widersprüchlichen Prozeß handelt). Darauf wiesen zu ihrer Zeit bereits Karl Marx und Friedrich Engels hin, als sie erklärten: „In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben." 5 3 Gerade dieser Zeitpunkt, da der Klassenkampf sich im Weltmaßstab der Entscheidung nähert, der Sieg des Proletariats in der ganzen

51

Vgl. S. 18, Anm. 3.

521

I. S. Kon, Der philosophische Idealismus und die Krise des bürgerlichen historischen Denkens, Moskau 1959, S. 3 8 2 - 4 0 0 . Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 471 f.

53

110

Welt in greifbare Nähe gerückt ist, ist nunmehr mit der Verwandlung des sozialistischen Weltsystems in den dominierenden Faktor der Entwicklung der Menschheit und den großartigen Erfolgen der nationalen und antikolonialen Befreiungsbewegung gekommen. Für den einzelnen bürgerlichen Historiker ist es dennoch trotz aller augenscheinlichen Beweise für die Richtigkeit und Fruchtbarkeit der materialistischen Geschichtsauffassung nicht leicht, sich zu ihrer Anerkennung durchzuringen. Erfordert das doch nicht nur die Preisgabe bestimmter Denkgewohnheiten und Vorurteile, die Aufgabe jener „Lieblingsvorstellungen", die von reaktionären Historikern wie Ritter so verbissen verteidigt werden, sondern auch großen persönlichen Mut und echte, tiefe Liebe zu den werktätigen Menschen, einen unerschütterlichen Glauben an deren schöpferische Kraft, die Zukunft im Geiste wahrer Menschlichkeit zu gestalten. Einige der wichtigsten Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zur materialistischen Geschichtsauffassung sind folgende: Erstens muß sich jeder Historiker, der sich den Glauben an die Kraft der menschlichen Vernunft bewahrt hat, von dem Vorurteil befreien, daß die Frage „nach dem geschichtlichen Wesen der Menschheit, nach ihrem Woher und Wohin", eine rein metaphysische und theologische sei, daß man mit dieser Frage „an den Grenzen der Wissenschaft anlangt" und „eine Antwort nur noch aus dem Glauben" geben könne. 54 Wer so denkt, muß die Beantwortung dieser Fragen religiösen Mystikern und Irrationalisten wie Anderle überlassen, die ihre Antworten obendrein noch als wissenschaftlich begründet ausgeben möchten. Zweitens ist Voraussetzung die Befreiung von dem Vorurteil, daß die Menschen ihre Geschichte willkürlich machen können, daß die Ideen, von denen sie sich leiten lassen, keinerlei materielle Grundlage besitzen. Voraussetzung ist ferner, daß sich der bürgerliche Gelehrte von Furcht befreit, daß der Untergang des Kapitalismus „den wirklichen 54

Vgl. Franz Hampl, Grundsätzliches zum Werke Arnold F. Toynbees, in: HZ, Bd. 173, S. 449.

111

Zusammenbruch allen menschenmöglichen Lebens" 55 bedeute, wie sich die militanten Antikommunisten in Ermangelung eigener positiver Ideale tagtäglich in Westdeutschland nachzuweisen bemühen. Ja, Voraussetzung ist darüber hinaus, daß der ehrlich um die historische Wahrheit Ringende die seelischen Beziehungen zur alten, menschenfeindlichen Welt des Kapitalismus abbricht, wie sich A. T. Twardowski in seinem Diskussionsbeitrag auf dem XXII. Parteitag ausdrückte. 56 Es ist daher auch keine Phrase, wenn von marxistischer Seite immer wieder betont wird, dafj die Wahrheit nur der erkennen kann, der für die Sache der Arbeiterklasse als der fortschrittlichsten Kraft und der Führerin aller Schichten des Volkes im Kampf um Frieden, Demokratie und Sozialismus Partei ergreift. Wer umgekehrt von der Rechtmäßigkeit des Standpunktes überzeugt ist, den die Bourgeoisie gegenüber den Werktätigen und den von ihr noch unterjochten kolonialen und halbkolonialen Völkern einnimmt, der wird, weil er all die Ursachen, die die einfachen Menschen und ganze Völker im Interesse der Erhaltung ihres Lebens zwingen, für eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse zu kämpfen, nicht als solche Ursachen gelten lägt, nichts von den Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses und von seinen Triebkräften begreifen und immer wieder erneut vom Lauf der Dinge überrascht werden. Die Befreiung aus der Krise des bürgerlichen historischen Denkens - die natürlich nie für die bürgerliche Geschichtswissenschaft insgesamt, sondern immer nur für eine Anzahl ihrer fortschrittlichsten Vertreter möglich sein wird - auf dem Wege einer allmählichen Annäherung an den historischen Materialismus setzt jedoch nicht nur die Aufgabe bestimmter philosophischer und politischer Vorurteile voraus, sondern auch Furchtlosigkeit „vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten", wie sich Marx einmal ausdrückte. 57 Denn die imperialistische Bourgeoisie verläßt sich in ihrem Bemühen, die Gesellschaftswissenschaftler von der Erforschung der Wahrheit abzuhalten, nicht nur auf die ihr treu ergebenen Ideologen vom 65

5G

57

Gerhard Krüger, Grundfragen der Philosophie, Frankfurt a. M. 1958, S. 72. A. T. Twardowski, Rede auf dem XXII. Parteitag der KPdSU, in -. Presse der Sowjetunion, Nr. 136, S. 3 0 0 9 - 3 0 1 3 Vgl. MEGA, Erste Abteilung, Bd. 1, 1. Halbband, S. 573.

112

Schlage eines Ritter oder Anderle, auf deren Versuche, alle sichtbar werdenden Ansätze seitens bürgerlicher Historiker, sich der materialistischen Gesellschaftsauffassung anzunähern, im Keime zu ersticken: Dem Geiste wahrhaft freier wissenschaftlicher Forschung hohnsprechend, scheut sie sowenig wie zu Marx' Zeiten, auch heute, im XX. Jahrhundert, nicht davor zurück; die Verbreitung jener Forschungsergebnisse bürgerlicher Gesellschaftswissenschaftler polizeilich zu verbieten, die - da mit der Wahrheit in Übereinstimmung befindlich - auch nur im entferntesten die Grundlagen ihres Staates erschüttern, den Einbruch der „dünnen Decke", auf der die westdeutschen Imperialisten nach Adenauers Eingeständnis stehen, beschleunigen könnten. So verbietet es die sogenannte „Treueklausel" des Artikels 5, III, 2 des Grundgesetzes des Bonner Staates jedem Wissenschaftler, Lehren vorzutragen, die die »freiheitlich demokratische Grundordnung" 58 negieren oder untergraben könnten, das heißt, die das von den deutschen Imperialisten für sich in Anspruch genommene Recht auf ewige Existenz ihrer seit langem zum Untergang verurteilten Ordnung in Zweifel ziehen könnten, die den menschenfeindlichen Charakter dieser Ordnung enthüllen und die von den Repräsentanten dieser Ordnung gehegten Pläne des Versuches einer gewaltsamen Revidierung der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges als wahnwitzig und verbrecherisch qualifizieren könnten. „Die Freiheit der Lehre", so besagt diese Klausel, „entbindet nicht von der Treue zur Verfassung" 59 - das heißt, daß die Erforschung der Wahrheit nicht über den Rahmen der bürgerlichen Ordnung hinausführen darf, daß z. B. die Entstehung des sozialistischen Weltsystems nicht als gesetzmäßig anerkannt werden darf. Ja, mit der „Treue zur Verfassung" kann auf Grund dieser Klausel sogar die Anerkennung der Rechtmäßigkeit des Klassenkampfes der Arbeiterklasse, des Kampfes der Volksmassen gegen die Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges als unvereinbar erklärt werden. Für diese „Treueklausel", bei der das hehre Wort „Treue" nicht weniger zynisch und berechnend mißbraucht wird wie bei dem Kernspruch der berüchtigten Waffen-SS „Unsere Ehre ist die Treue", 58

Herbert Wehrhahn, Lehrfreiheit und Verfassungstreue, Tübingen 1955, 59 S. 10. Ebenda, S. 9.

8

Sclleler, Die Wissenschaft

113

bei der das Substantivum „Treue" an die Ehrbarkeit des Bürgers appellieren soll, gilt, was Marx seinerzeit für die „neueste preußische Zensurinstruktion" 60 nachwies, nämlich daß, wer die Erforschung der Wahrheit nur in bescheidenen Grenzen - die in diesem Falle durch die Verfassung gezogen sind - gestatten will, ihre Erforschung überhaupt verbietet, da das Eigentümliche der Erforschung der Wahrheit in der Beseitigung jeglicher Grenzen, in der unbeschränkten Vorurteilslosigkeit besteht. Diese „Treueklausel" droht allen Wissenschaftlern, die sich keine Grenzen in der Erforschung der Wahrheit vorschreiben lassen, nicht nur mit Repressivmaßnahmen des Verfassungsschutzamtes, sondern auch mit der Ruinierung ihres wissenschaftlichen Rufes. „Keine Treuwidrigkeit ohne Wissenschaftswidrigkeit" - so lautet die „Faustregel" dieser Klausel, was auf gut Deutsch heißen soll, daß alle Lehren, die die „freiheitlich demokratische Grundordnung" oder, anders ausgedrückt, die Herrschaft des Privateigentums negieren oder untergraben könnten, unwissenschaftlich, ihre Anhänger folglich Dilletanten, Staatsfeinde, politische Verbrecher, aber keine Wissenschaftler sind. Eben darum setzt der Wille zur Erforschung der Wahrheit nicht nur den Glauben an die Kraft der menschlichen Vernunft, tiefe Menschenliebe und Optimismus voraus, sondern auch großen persönlichen Mut, durch den sich gerade die Mehrzahl der wirklich großen Wissenschaftler in der Geschichte ausgezeichnet hat. Der einzige Ausweg aus der Krise der bürgerlichen deutschen Geschichtswissenschaft kann folglich nur darin bestehen, daß alle bürgerlichen Historiker, die sich den Glauben an die Kraft der Vernunft und an die Möglichkeit einer friedlichen und glücklichen Zukunft des gesamten deutschen Volkes bewahrt haben, ihre Anstrengungen zur kritischen Überwindung der idealistischen philosophischen Vorurteile verstärken, in ihrem Streben, aus der jüngsten deutschen Vergangenheit Lehren zu ziehen, nicht nachlassen, sich vom wissenschaftsfeindlichen Antikommunismus lossagen und um die Herstellung der Freiheit der Wissenschaft in Westdeutschland kämpfen. Auch für sie und ihre Perspektive als Wissenschaftler 60

Karl Marx, Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 1, S. 3 - 2 5 .

114

haben die Worte Walter Ulbrichts volle Gültigkeit: „Wer sein Schicksal mit dem aggressiven Imperialismus, mit den westdeutschen Imperialisten, Militaristen und Ultras verbindet, gleicht einem Menschen, der sich ausgerechnet ein sinkendes Schiff als Beförderungsmittel aussucht." 61 Einem solchen sinkenden Schiff gleicht nicht nur das gesamte imperialistische System, sondern auch seine gesamte Ideologie, die alle, die sich nicht rechtzeitig von ihrem Einflu5 freimachen, erbarmungslos in die Tiefe des Mystizismus und Irrationalismus hinabzieht. Nur wer es wagt, dieses sinkende Schiff ungeachtet aller Verleumdungen, Schmähungen und Verfolgungen seitens der imperialistischen Ideologie und ihrer Herren zu verlassen und sich auf die Seite aller derer zu stellen, die für Frieden, Demokratie und Sozialismus kämpfen, wird als Wissenschaftler und als Patriot vor seinem Volk bestehen können. 61

Walter Ulbricht, Der XXII. Parteitag der KPdSU und die Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1961, S. 25.

Hein% Pepperle

Der antihumane Charakter der neuthomistischen Wissenschaftsauffassung

D e r N e u t h o m i s m u s über Sinn und A u f g a b e n der W i s s e n s c h a f t

Vierhundertfünfzig Jahre sind vergangen, seit der große deutsche Humanist Ulrich von Hutten mit seinem Ausspruch „O Wissenschaft, o Jahrhundert! Welche Lust zu leben!" sein begeisterndes Bekenntnis zur Wissenschaft ablegte. Seither gehörte es zu den besten Traditionen in 'der Geschichte der deutschen Wissenschaft, daß ihre hervorragendsten, fortschrittlichen Vertreter den tiefen humanistischen Sinn ihrer Arbeit nie aus den Augen verloren haben. Dieser humanistische Sinn besteht darin, daß die Wissenschaft zu allen Zeiten ihrem ganzen Wesen nach ein Mittel war, die Herrschaft des Menschen über die Natur auszudehnen, sein Leben zu erleichtern und seinen gesellschaftlichen Reichtum zu mehren. Zwar war es unvermeidlich, daß in der Klassengesellschaft mit dem für sie unüberwindlichen Gegensatz von körperlicher und geistiger Arbeit immer wieder auch die Illusion aufkam, als würde die Wahrheit um ihrer selbst willen gesucht, als müsse die Frage nach dem Wozu des Wissens im Sinne des „science pour la science" beantwortet werden. Wie aber die Reflexionen gerade der fortschrittlichsten Wissenschaftler über das Wesen ihrer Arbeit zeigen, war auch diejenige Anschauung nicht auszutilgen, die in der Wissenschaft in erster Linie ein Instrument zur ständigen Höherentwicklung und Vervollkommnung des materiellen, kulturellen und geistigen Lebens des Menschen sah. Das gilt für die lange Geschichte der Wissenschaften von ihren Anfängen in der Antike bis auf unsere Tage. In diesem Sinne nannte es schon der große griechische Materialist Epikur pure „Eitelkeit", Wissen um des Wissens willen anzustreben. Vor allem aber war diese Anschauung ein fester Bestandteil in dem neuen Wissenschaftsideal, das mit der Renaissance und dem folgenden gewaltigen Aufschwung der Wissenschaften aufkam. Niemand hatte es deutlicher 116

ausgesprochen als Francis Bacon in seinem „Neuen Organon", der „Großen Erneuerung der Wissenschaften". Mit ausgesprochener Frontstellung gegen den scholastischen Geist in der Wissenschaft hatte er geschrieben: „Es zeigt sich noch eine andere bedeutsame und wichtige Ursache, warum die Wissenschaften so wenig vorwärts gekommen sind. Sie liegt in folgendem: Es ist unmöglich, im Lauf richtig voranzukommen, wenn das Ziel selbst nicht recht gesteckt und festgemacht ist. Das wahre und rechtmäßige Ziel der Wissenschaften ist kein anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern." 1 „Wissen ist Macht", eine Macht, die es in den Dienst der Menschen zu stellen gilt!. So hatte es Bacon formuliert, und so scholl sein Ruf aus dem fortgeschritteneren England auch in die anderen Länder Europas. Er wurde auch in Deutschland verstanden. Hier war es vor allem Leibniz, der für die humanistische Bestimmung der Wissenschaft eintrat und sie seiner ganzen Arbeit zugrunde legte. Das menschliche Leben zu veredeln galt ihm als der höchste Zweck der Wissenschaften. In seinen Plänen und Denkschriften zur Gründung einer deutschen Sozietät der Wissenschaften und ähnlicher Gesellschaften in anderen Ländern war der Grundgedanke: sie müssen Zentren sein, deren Leistungen und intellektuelle Wohltaten der Verbesserung der Kulturzustände, der Hebung der Industrie, der Landwirtschaft und des Handels dienen. In diesem Zusammenhang kritisierte Leibniz in seiner Denkschrift vom 25. Mai 1700 die Pariser und Londoner Akademie, die, wie er sagte, sich zuviel mit „curiosa" und „Bagatellen" beschäftigen, während die zu gründende Berliner Akademie sich in erster Linie mit den „utilia", d. h. der Beförderung vaterländischer und gemeinnütziger Zwecke widmen soll. Für eine lange Zeit blieb dieser Geist in der deutschen Wissenschaft vorherrschend. Wir erinnern nur an Herder, der die schönen Worte schrieb: „Auch in den abergläubigsten, dunkelsten Zeiten erinnerte der Name humaniora an den ernsten und schönen Zweck, den die Wissenschaften befördern sollten; diesen wollen wir, da wir menschliche Wissenschaften doch nicht wohl sagen können, mit und ohne dem Wort Humanität, nie vergessen, nie aufgeben" 2 - oder an 1 2

F. Bacon, Das Neue Organon, hrsg. v. M. Buhr, Berlin 1962, S. 87. J. G. Herder, Werke, hrsg. v. H. Düntzer, Berlin o. J „ Bd. 13, S. 127.

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Fichte, der wie kein anderer in unserer Wissenschaft vor Marx und Engels die Einheit von Wissenschaft und Humanismus, von Theorie und praktischem Handeln herausgestellt hat. Fichte hielt alle Philosophie und alle Wissenschaft für nichtig, die nicht auf die Förderung der Kultur und die Erhöhung der Humanität ausgeht. Oftmals die Rolle der Wissenschaften direkt überschätzend, sagte er in seinen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten vom Jahre 1794: „Der Zweck aller dieser Kenntnisse nun ist der oben angezeigte: vermittelst derselben zu sorgen, daß alle Anlagen der Menschheit gleichförmig, stets aber fortschreitend, sich entwickeln: und hieraus ergibt sich denn die wahre Bestimmung des Gelehrtenstandes: es ist die oberste Autsicht über den wirklichen Fortgang des Menschengeschlechtes im allgemeinen, und die stete Belörderung dieses Fortgangs." 3 Schlechthin jede Wissenschaft, sagte er, hat eine praktische Tendenz und ist tatbegründend. „Das rein Theoretische zeigt die Mittel an zur Realisierung eines noch entlegenen Ziels; das rein Praktische geht auf den absolut nächsten Zweck. Die Wissenschaftslehre durchdringt beides in seinem Verhältnis zu einander... sie gibt eben die Unterweisung für den wissenschaftlichen Verstandesgebrauch für das Leben. Also: 1) Alle Wissenschaft ist tatbegründend; eine leere, in gar keiner Beziehung zur Praxis stehende gibt es nicht..." 4 Ähnlich ist Wilhelm von Humboldt für die Einheit von Wissen und Handeln eingetreten und hat scholastische und lebensfremde Schulweisheit verurteilt. So vertrat er in seiner Denkschrift „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Lehranstalten in Berlin", die er anläßlich der geplanten Gründung der Berliner Universität verfaßte, die Auffassung, daß es dem Staat „... ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun" ist. 5 Viele ähnliche Zeugnisse wären noch anzuführen. In ihnen allen findet die große humanistische Tradition unserer Wissenschaft ihren beispielhaften Ausdruck. Nichts ist hier zu spüren von einer Wissen3

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J. G. Fichte, Sämtliche Werke, hrsg. v. J. H. Fichte, Berlin 1845/46, Bd. 6, S. 328. Ebenda, Bd. 4, S. 394. W. v. Humboldt, Eine Auswahl aus seinen politischen Schriften, Berlin 1922, Klassiker der Politik, Bd. 6, S. 82. 118

schaft als Selbstzweck, von Kontemplation oder von irgendeinem Gegensatz der Wissenschaft zur Praxis. Im Gegenteil. Aus allen diesen Zeugnissen spricht die unerschütterliche Überzeugung von der wesenhaften Hinordnung der Wissenschaft auf die Praxis, auf das menschliche Leben. Alles in ihnen zielt ab auf das ureigenste Anliegen der Wissenschaft: den Dienst am Menschen. An dieser guten und positiven Tradition in der Geschichte unserer Wissenschaft versuchten die fortschrittlichen Wissenschaftler auch in der Folgezeit festzuhalten. Selbst noch in jener Periode der Krise des Kapitalismus, in der die Ideologen der Bourgeoisie mehr und mehr dazu übergegangen waren, diese humanistische Tradition zu zerstören und sie über die verschiedensten Formen anzugreifen sei dies nun über die Lehre vom sogenannten Selbstzweck der Wissenschaft oder über die ihr entgegengesetzte des Pragmatismus mit seiner auf die brutale Unterordnung der Wissenschaft unter die Interessen der Profitwirtschaft des Imperialismus und des Militarismus gerichteten Tendenz - , haben sich immer wieder bedeutende Wissenschaftler gefunden, die das große humanistische Anliegen der Wissenschaft hochhielten und es gerade gegen diese zersetzenden Anschauungen verteidigten. Helmholtz, Ernst Haeckel, Otto Hahn, Albert Einstein und viele andere sind hier zu nennen. Sie alle zählen zu den Würdigsten in der Geschichte unserer Wissenschaft, nicht nur wegen ihrer großen wissenschaftlichen Leistungen, sondern vor allem auch wegen der humanistischen Gesinnung, mit der sie ihre Arbeit betrieben. In diesem Zusammenhang ist aus unserer jüngsten Vergangenheit das leuchtende Beispiel der Göttinger Achtzehn zu rühmen, die gerade auch aus der tiefen humanistischen Bestimmung ihrer Arbeit gegen den Mißbrauch der Wissenschaft durch die herrschenden Kreise Westdeutschlands protestierten. Überschauen wir die Entwicklung der Wissenschaft in den letzten hundert Jahren, von der Aufdeckung der Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung durch Marx und Engels, der Lehre Darwins, die den Schlüssel zum Verständnis der organischen Entwicklung lieferte, den gewaltigen Umwälzungen im Bereich der Physik und Chemie zu Beginn unseres Jahrhunderts mit allen ihren mittelbaren und unmittelbaren Folgen bis hin zur friedlichen Ausnutzung der Atomenergie und den erfolgreichen Anstrengungen zur Erforschung und Eroberung des Kosmos durch den Menschen, so 119

ergibt das ein Bild eines wissenschaftlichen Fortschritts, wie ihn keine frühere Zeit kennt. Nie, scheint es, war Huttens Ausspruch zutreffender als für unsere Zeit. Und doch ist es eine Tatsache, dafj es seitdem auch nie eine Zeit gab, in der die Wissenschaft so viele Widersacher gefunden, so vielen Anfeindungen ausgesetzt war wie in unserem Jahrhundert. Gerade in einer Periode, die sich durch einen unvergleichlichen Aufschwung der Wissenschaft auszeichnet und ihr unter sozialistischen Entwicklungsbedingungen ungeahnte Perspektiven eröffnet, mehren sich im imperialistischen Lager in zunehmendem Mafje Stimmen, die von einer »Krise der Wissenschaften" sprechen, die die „Fragwürdigkeit" des gesamten menschlichen Wissens hervorheben und sich mit großen Anstrengungen um die „Grenzen der Wissenschaften" bemühen. Diese angebliche Krise der Wissenschaft setzt um die Jahrhundertwende ein. Sie beginnt mit der sogenannten „Krise in der Physik", deren eigentümliches Wesen bereits Lenin 1908 in seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus" gründlich analysierte und deren wesentlicher Gehalt in der Preisgabe der objektiven Realität und damit der Preisgabe der materialistischen Grundlagen der Erkenntnis bestand. Mit dieser Preisgabe, zunächst neukantianisch und positivistisch motiviert, war der Weg frei für die Wissenschaftskritik, die seitdem von den verschiedensten Schattierungen der bürgerlichen Weltanschauung vorgetragen wurde und die sich sehr bald auf die Wissenschaft überhaupt ausdehnte. Der Prozeß dieser Kritik, der sich besonders nach dem ersten Weltkrieg verstärkte 6 und nach dem zweiten Weltkrieg abermalig in ein neues Stadium trat, hat eine Unzahl Betrachtungen zu diesem Thema hervorgebracht und in letzter Konsequenz alle nur zu dem Zweck, die Wissenschaft zu erniedrigen und ihre Stellung im Lebensganzen der Gesellschaft zu erschüttern. Dabei wurde die Tendenz dieser Kritik zusehends wissenschaftsfeindlicher und reaktionärer. 7 Wurden diese Angriffe zu Beginn 6

Die Situation nach dem ersten Weltkrieg findet ihre Widerspiegelung sehr anschaulich in M. Webers Vortrag „Wissenschaft als Beruf", München 1919, und in: E. v. Kahler, Der Beruf als Wissenschaft, Berlin 1920.

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Dieser Sachverhalt wird deutlich, wenn wir diesen Angriff auf die Wissenschaft von seinen Anfängen, z. B. bei H. Poincaré, Der Wert der Wissenschaft, 1906, und seinen Anhängern bis hin zu den Dunkelmännern unserer

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oft nur versteckt geführt, zum Teil wissenschaftlich verbrämt und oft auch unter Vorgabe der Verteidigung echter Wissenschaft, so wird heute die Feindschaft zur Wissenschaft unverhüllt und oft mit einem Zynismus ohnegleichen zur Schau getragen. Fanatischer Ha§ beziehungsweise ein bedauerndes Lächeln begegnet dabei all jenen als „fortschritts- und wissenschaftsgläubig" Diffamierten und Verdammten, die die Ansprüche der Vernunft und der Wissenschaft hochhalten wollen. Wissenschaftskritik in diesem reaktionären Sinne ist heute ein untrennbarer Bestandteil jeder bürgerlichen Ideologie. Sie ist entsprechend ihren verschiedenen Strömungen nicht einheitlich. Trotz allem lassen sich eine Reihe gemeinsamer Grundzüge herausstellen. Als erster ist hier der tiefe Erkenntnispessimismus zu nennen, der alle jene Betrachtungen trägt, die seit sechs Jahrzehnten zu diesem Thema geschrieben wurden. Wenn Hegel noch vor etwa mehr als hundert Jahren schrieb: „Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es mufj sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genüsse geben" 8 und mit diesem erkenntnistheoretischen Optimismus ein Stück bester progressiver und humanistischer deutscher Wissenschaftstradition zum Ausdruck brachte, so ist das heute anders geworden. Überall und allerorts soll es angeblich Schranken der Erkenntnis geben. Wird nicht vielfach die Erkenntnis überhaupt bestritten und ein totaler Agnostizismus und Irrationalismus vertreten, so soll es doch in verschiedenen Wissenschaftszweigen Bereiche geben, die unserer Vernunft unzugänglich sind. Das gilt im besonderen auch für den großen und für das Leben der Menschen so bedeutungsvollen Bereich der Geschichte, indem entweder jede Gesetzmäßigkeit überhaupt geleugnet oder doch ihre Erkenntnis bestritten wird. Mit diesem Pessimismus untrennbar verbunden ist die Leugnung der Möglichkeit einer wissenschaitlichen Weltanschauung als ein

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Tage vom Typ eines P. Jordan (»Der gescheiterte Aufstand", 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1957) und Lecomte du Nouy („Der Mensch vor den Grenzen der Wissenschaft", Stuttgart 1952) verfolgen. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe, Leipzig 1940, Bd. 15a, S. 6. 121

weiterer Grundzug. Denn namentlich den großen Weltanschauungsfragen soll die Wissenschaft hilflos gegenüberstehen. Völlig unhaltbar und verworren ist in der bürgerlichen Wissenschaftsauffassung weiter auch das Verhältnis von Theorie und Praxis. In dieser entscheidenden Frage schwanken die Anschauungen nach wie vor zwischen den beiden Extremen: Wissenschaft als Selbstzweck und der pragmatischen Einstellung, wo der Wert und Unwert des Denkens, die wissenschaftliche Wahrheit einzig und allein vom praktischen Nutzen abhängt. Mit der Unklarheit über dieses Verhältnis wiederum ist eng verbunden die Leugnung der Tatsache, daß die Wissenschaft immer auch eine Anleitung zum Handeln darstellt, wie dies am deutlichsten Max Weber zum Ausdruck brachte, wenn er behauptete, daß Wissenschaft sich immer auf die Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge beschränkt und auf die Führung des Menschen verzichte.9 Ein anderer Zug, der in verstärktem Maße die bürgerliche Einstellung zur Wissenschaft charakterisiert, ist die These von ihrer angeblichen bedrohlichen Lebensieindlichkeit. Unter diesem Aspekt wurde bereits von der Lebensphilosophie der Angriff auf die Wissenschaft geführt, insofern sie die Behauptung aufstellte, daß die angeblich starre Begriffswelt der Wissenschaft das Lebendige der Wirklichkeit vergewaltigt und ertötet. Aber erst in jüngster Vergangenheit und Gegenwart gewinnt diese These ständig mehr an Einfluß, indem bürgerliche Ideologen sich nicht scheuen, dazu überzugehen, für die großen gesellschaftlichen Katastrophen in Gestalt der beiden Weltkriege, die der Imperialismus über die Menschheit heraufbeschworen hat, die Wissenschaft verantwortlich zu machen. Schließlich ist ein entscheidendes Merkmal der bürgerlichen Wissenschaftskritik die fortschreitende Theologisierung der Wissenschaften. In ihr kommt die reaktionäre Tendenz der modernen 9

„Und wenn nun wieder Tolstoi in ihnen aufsteht", sagte er in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf", „und fragt: ,Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? und: wie sollen wir unser Leben einrichten?' oder in der heute abend hier gebrauchten Sprache: .welchem der kämpfenden Götter sollen wir dienen? oder vielleicht einem ganz anderem, und wer ist das?' - dann ist zu sagen: nur ein Prophet oder ein Heiland" (ebenda, 3. Aufl., München, Leipzig 1930, S. 33). 122

bürgerlichen Wissenschaftskritik am deutlichsten zum Vorschein. Mit der Aufrichtung von Schranken für die Erkenntnis soll überall neben das Wissen der Glaube, neben die Wissenschaft der Mystizismus treten. Unübersehbar sind die Schriften geworden, die sich mit der angeblichen Übereinstimmung von Glauben und Wissen beschäftigen, die nachweisen wollen, daß die Wissenschaft den Glauben zur Ergänzung nötig hat usw. Dabei ist diese Kritik in allem von einem fanatischen Antikommunismus durchdrungen, der sich besonders darin äußert, daß sie ihre Angriffe auf die Wissenschaft in ihrer Gestalt des Marxismus-Leninismus richtet. In allen diesen Zügen offenbart sich die negative Einstellung der Bourgeoisie zur Wissenschaft, zeigt sich die Zerstörung einer progressiven und rationalen Wissenschaftsauffassung durch die bürgerliche Ideologie. Wo liegen die Ursachen für diese Erscheinung? Sie liegen in der Ausweg- und Perspektivlosigkeit der vom Untergang bedrohten Bourgeoisie. Ihre tiefsten Ursachen sind darin zu suchen, daß der Imperialismus, jenes System, das diese Klasse repräsentiert, sich in einer unheilbaren allgemeinen Krise befindet und in seinen Untergang die Wissenschaft mit hineinzuziehen versucht. Die feindselige Einstellung der Bourgeoisie zur Wissenschaft hat ihre Ursachen darin, daß sie die Ansprüche von Vernunft und Wissenschaft nicht mehr gelten lassen kann, ohne sich selbst das Todesurteil zu sprechen. Ihr Angriff auf die Wissenschaft verfolgt daher letzten Endes kein anderes Ziel, als die wissenschaftliche Einsicht in ihren unvermeidlichen Untergang zu verdunkeln, Zweifel zu säen und damit auch Passivität in die Reihen der Arbeiterklasse zu tragen. Er ist darauf gerichtet, über die Erhebung des Irrationalismus Platz zu schaffen für den Glauben, für den Mystizismus, den politischen Mythos und die verschiedensten unwissenschaftlichen Theorien, mit denen die Bourgeoisie ihre Herrschaft, die Militarisierung des gesamten Lebens und die Vorbereitung des Atomkrieges unter gleichzeitigem Mißbrauch der naturwissenschaftlichen Errungenschaften zu rechtfertigen und zu stützen versucht. Und so ist auch die sogenannte „Krise der Wissenschaft", von der Ideologen der Bourgeoisie heute so viel reden, in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Was sie als „Krise der Wissenschaft" ausgeben, ist nichts anderes als die Weltanschauungskrise einer überlebten 123

gesellschaftlichen Klasse. Und aus ihr allein erwachsen auch alle jene Züge, die heute die Einstellung der bürgerlichen Ideologie zur Wissenschaft charakterisieren, wie die scheinbaren Schwierigkeiten, vor die sich die Wissenschaft in unserer Zeit gestellt sieht. Die hier kurz umrissene Situation der bürgerlichen Wissenschaftskritik muß man berücksichtigen, wenn es um die Behandlung und Auseinandersetzung mit der neuthomistischen Wissenschaftsauffassung und um ihr Verhältnis zur humanistischen deutschen Wissenschaftstradition geht. Denn es ist unübersehbar, dag zwischen dem Wiedererstehen der aus dem Geist des Mittelalters lebenden klerikalen Wissenschaftsauffassung, vor allem ihrer Verbreitung in der Gegenwart, und der Zerstörung und Zersetzung einer progressiven und rationalen Wissenschaftsauffassung durch die bürgerliche Philosophie in den letzten Jahrzehnten ein enger Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang besteht nicht nur darin, daß die Vertreter des Neuthomismus von Anfang an den vor sich gehenden Prozeß sehr sorgfältig beobachtet haben und sich jederzeit in den Streit einzuschalten versuchten, 10 sondern vor allem darin, daß der Prozeß dieser Zersetzung die Voraussetzung bildet für die Ausbreitung der neuscholastischen Wissenschaftsauffassung, die selbst wiederum in vieler Hinsicht nur den Höhepunkt dieses Prozesses darstellt. Mit dem Zurückgreifen auf eine Wissenschaftsauffassung, wie sie im 13. Jahrhundert durch Thomas von Aquino entwickelt wurde, hat die bürgerliche Wissenschaftskritik nicht nur endlich das Niveau erreicht, das am vollständigsten dem allgemeinen Verfall der bürgerlichen Ideologie entspricht, sondern auch auf das deutlichste demonstriert, daß die Bourgeoisie mit der progressiven und humanistischen Tradition in unserer Wissenschaft gebrochen und auch auf diesem Gebiete das nationale Erbe verraten hat. In welchem Tempo sich dabei ihre Einstellung zu dieser extrem wissenschaftsfeindlichen Anschauung - das Tempo und der Zeitraum sind aufschlußreich für die Ursachen - gewandelt hat, zeigt 10

Vgl. die Diskussion der Görresgesellschaft mit den Vorträgen von P. Simon: „Die Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs seit dem Beginn der Neuzeit"; M. Grabmann: „Der Wissenschaftsbegriff des hl. Thomas von Aquino und das Verhältnis von Glaube und Theologie zur Philosophie und weltlichen Wissenschaft"; J. Engert: „Der Begriff der Geschichte als Wissenschaft". (Jahresberichte der Görresgesellschaft, 1932/1933.)

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sich, wenn wir daran erinnern, daß noch vor fünfzig Jahren von ihr selbst ein heftiger Kampf gegen sie geführt wurde. So ging noch in den Jahren nach der Jahrhundertwende eine Welle der Entrüstung durch die deutschen Universitäten, als an der Universität Strasburg eine Professur für einen Anhänger der katholischen Wissenschaftsauff assurigen vergeben werden sollte. Wir können auch verweisen auf den nicht gerade fortschrittlichen und durch seinen Kampf gegen Haeckel unrühmlich bekannt gewordenen Philosophen F. Paulsen, der damals in derben Worten gerade gegen diese Wissenschaftsauffassung zu Felde zog und der herrschenden Stimmung Ausdruck verlieh.11 Das Hauptargument, das damals vorgebracht wurde, bestand darin, daß die Anhänger der Neuscholastik mit ihrer Auffassung vom Wesen der Wissenschaft nicht in den Rahmen der Universität passen, zu dem dort herrschenden Wissenschaftsbetrieb im Gegensatz stehen und ihre Grundprinzipien schließlich das Wesen der Wissenschaft zerstören. Das traf zweifellos den Kern der Sache. Nur gilt das auch heute noch, denn die klerikale Anschauung hat sich bis heute in ihrem Wesen nicht geändert. Radikal geändert haben sich seither aber die Klasseninteressen der Bourgeoisie, die in der Gegenwart gerade eine solche Konzeption braucht, die in der Konsequenz auf die vollständige Knechtung und Zerstörung der Wissenschaft hinausläuft. Deshalb wird diese Konzeption und mit ihr natürlich der ganze Neuthomismus, der sich auch in anderer Weise vorzüglich zur Apologie der imperialistischen Verhältnisse eignet, von der Bourgeoisie in der Gegenwart bevorzugt, steht hinter ihm heute die ganze Macht der Kirche und ihre Orden, die großen Monopole, die klerikalen Parteien und in Ländern, wo diese Parteien an der Macht sind, auch der imperialistische Staat. Auf die große Gefahr, die daher von dieser Ideologie und dem ganzen System des Klerikalismus ausgeht und im besonderen auch die Wissenschaft bedroht, weist deshalb auch das neue Programm der KPdSU mit 11

F. Paulsen, Philosophia militans, 4. Auflage, Berlin 1908. Es sei auch an das radikale Gebaren während einiger Jahre früher erinnert, wo z. B. Virchow so weit ging, daß er die theologischen Fakultäten von der Universität verbannt wissen wollte, weil dann endlich die Schwierigkeiten beseitigt sein würden, „welche immer wieder auftreten, indem ein gewisser Teil der Menschen behauptet, dafj sie allein die Träger der göttlichen Wahrheit seien". 125

aller Entschiedenheit hin, wenn es dort heißt: »Eine ständig wachsende Bedeutung kommt im politischen und ideologischen Arsenal des Imperialismus dem Klerikalismus zu. Er beschränkt sich nicht mehr darauf, die Kirche und ihren weitverzweigten Apparat auszunutzen. Er verfügt über eigene große politische Parteien, die in vielen kapitalistischen Ländern an der Macht sind. Indem der Klerikalismus eigene Gewerkschaften, Jugend-, Frauen- und andere Organisationen aufzieht, spaltet er die Reihen der Arbeiterklasse, die Reihen der Werktätigen. Die Monopole finanzieren freigebig die klerikalen Parteien und Organisationen, die die religiösen Gefühle der Werktätigen, ihren Aberglauben und ihre Vorurteile mißbrauchen." 1 2 Betrachten wir nun die neuthomistische Wissenschaftsauffassung im Hinblick auf die progressiven Tendenzen der Wissenschaftstradition, so müssen wir feststellen, daß sie in der Frage nach dem Sinn und der Aufgabe der Wissenschaft einen Bruch darstellt. Worin sieht der Neuthomismus den Sinn und die Aufgabe der Wissenschaft? Einer der führenden Neuthomisten schreibt dazu: „Als einen besonderen Vorzug der theoretischen Erkenntnis überhaupt, vor allem der Weisheit, hat Aristoteles herausgestellt, das sie die Wahrheit um ihrer selbst willen sucht. Auch Thomas wiederholt diesen aristotelischen Satz und will die Wahrheitserkenntnis von jeder praktischen Nützlichkeitserwägung, von jedem Utilitarismus und Pragmatismus freihalten. Aber eine selbstzweckliche Wissenschaft im Sinne der Griechen, die jede Ordnung um ihrer selbst willen suchten, kennt Thomas so wenig wie das übrige Mittelalter. Der auf Pilgerschaft befindliche Erdenbürger strebt seinem jenseitigen Endziele, der Vereinigung mit Gott, der höchsten Wahrheit zu. Alles Wissen steht in Beziehung zu Gott, jede Wissenschaft steht im Dienste der Erkenntnis des Göttlichen. Wer in anderer Absicht Wissenschaft treibt, perversus est in intentione, nisi necessitate detineatur..." 1 3 Sehen wir hier ab von der Irreführung im Hinblick auf die Bedeutung der Wissenschaft bei den Griechen, die nach unserer 121 13

Programm und Statut der KPdSU, Berlin 1961, S. 5 0 - 5 1 . Hans Meyer, Die Wissenschaftslehre des Thomas von Aquino, Fulda 1934, S. 169.

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Meinung in erster Linie Wissenschaft betrieben, um zu wissen, wie man im Leben richtig handelt, so ist folgendes ganz deutlich sichtbar. Der Neothomismus wendet sich gegen das vor allem in der spätbürgerlichen Periode vorherrschende reaktionäre Dogma von der Wissenschaft als Selbstzweck, des „science pour la science". Nicht aber, um der Wissenschaft den richtigen Sinn zu verleihen und ihre wirkliche Aufgabe hervorzuheben, die im Dienst an der Gesellschaft und am Menschen besteht, sondern, um die wissenschaftliche Forschung in einen Gottesdienst zu verwandeln. Denn wie wir hier sehen, ist die Aufgabe der Wissenschaft nach dem Neothomismus ernsthaft nur die eine: die Glaubenslehren zu stützen und die religiösen Dogmen vor der Vernunft zu rechtfertigen. Dazu hat der Philosoph, wie es Thomas v. Aquino bereits detailliert dargelegt hat, a) Gott mit Hilfe rationeller Methoden zu beweisen und eine „natürliche Religion" zu entwickeln, b) die undurchdringlichen Glaubensmysterien verständlich zu machen und c) den Glauben gegen feindliche Angriffe zu schützen. Dazu hat der Forscher auf dem Gebiete der Gesellschaft ihre Geschichte als eine „Heilsgeschichte" zu studieren, und dazu muß schließlich auch der Naturforscher sich als „Gottsucher" betätigen und darf nicht im Vorletzten, in der Welt der Materie und ihrer Gesetze, steckenbleiben. So zeigt sich von der Seite der Frage nach dem Sinn und dem Zweck der Wissenschaft die Zerstörung der Wissenschaft durch den Neothomismus. Denn indem hier der Wissenschaft die Erkenntnis eines Objekts zur Aufgabe gemacht wird, das es in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt, für dessen Existenz die Wissenschaft in ihrer langen Geschichte nicht die geringsten Anzeichen finden konnte, wird nicht nur der Gegenstand der Wissenschaft völlig verfälscht, sondern vor allem das ureigenste und zugleich tief humanistische Anliegen der Wissenschaft mit ihrem Dienst am Menschen zerstört. Was die Verfälschung des Gegenstandes der Wissenschaft angeht, so ist dieser Sachverhalt ganz offensichtlich. Es gehörte auch dies stets zur positiven Tradition in unserer Wissenschaft, daß der überwiegende Teil der Wissenschaftler, vor allem der Naturwissenschaftler, den Gegenstand ihrer Forschung in der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten erblickten. Marx und Engels haben dann hier erstmals völlige Klarheit geschaffen. Sie haben diesen Gegenstand exakt bestimmt in der Materie und den Gesetzmäßigkeiten ihrer 127

einzelnen Bewegungsformen. 14 Der Neothomismus dagegen, wie wir sehen, sieht diesen Gegenstand in letzter Konsequenz in Gott; genauer, in Gott und der Welt als dessen freie Schöpfung. Um diese Spekulation aufrechtzuerhalten, wird der Welt idealistisch ein immaterielles, intelligibles Wesen angedichtet, das es in der Forschung unmittelbar aufzusuchen gilt. „Für Plato", schreibt Meyer, »war Wesenswissen gleichbedeutend mit Ideenwissen. Das ändert sich, als Aristoteles den Ideengehalt in die Dinge hinein, als das sie von innen heraus gestaltende Formprinzip verlegte. Diese Form und Wesengehalte gilt es in den Wissenschaften aufzusuchen und zum Ziel der Forschung zu machen." 15 Wir sehen also das Aufwärmen des alten Platonischen Idealismus bzw. der idealistischen Seiten der aristotelischen Philosophie, die, nun im Thomismus mit christlichem Gedankengut vermengt, eine besonders reaktionäre Spitze erhalten, da diese „Wesenheiten" als universalia ante rem hier auch noch eine besondere Existenz im „göttlichen Geiste" erhalten, während die Wesenheit in der geschöpflichen Welt nur als eine Manifestation dieser göttlichen Urbilder bzw. Gedanken zu betrachten ist. Wissenschaft betreiben heißt also demnach, den „göttlichen Gedanken" in der Schöpfung nachspüren und allmählich zur Erkenntnis Gottes direkt aufzusteigen. Eigentlich ist damit nur die Philosophie gemeint. Denn nur ihr kommt diese „Wesenserkenntnis" zu. Den Einzelwissenschaften, darunter auch den Naturwissenschaften, ist es dagegen grundsätzlich verwehrt, zum Wesen der Dinge vorzudringen. Diese Wissenschaften sind nur „Erfahrungswissenschaften", die sich „... auf die Fiunktionsbeziehungen der Erscheinungen" beschränken. 16 Das ist wichtig zu betonen, weil diese Trennung von philosophischem und einzelwissenschaftlichem Wissen erst eine der Voraussetzungen für diese ganze Spekulation bildet. Die Einzelwissenschaften werden will11

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F. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1958, S. 257 ff. Damit wurde zum erstenmale auch eine Grundlage gelegt für eine wissenschaftliche Klassifizierung im System der Wissenschaften. H. Meyer, a. a. O., S. 165. L. de Raeymaeker, Einführung in die Philosophie, Philosophia Lovaniensis, Bd. 1, Einsiedeln, Zürich, Köln 1949, S. 37. Vgl. ebenfalls Mercier/Renoirte, Philosophie der exakten Wissenschaften, Philosophia Loreniensis, Einsiedeln, Zürich, Köln 1955, Bd. 7, S. 174 u. 151. 128

kürlich auf den Bereich der Erscheinung eingeschränkt, damit die Philosophie im „Reich der Wesenheiten" desto besser und ungestörter ihr Unwesen treiben darf. Noch verhängnisvoller als diese Verfälschung des Gegenstandes der Wissenschaft ist die aus dieser Aufgabenstellung sich ergebende völlige Zerstörung des eigentlichen Anliegens der Wissenschaft. Indem der Neothomismus der Wissenschaft die Erkenntnis eines spekulativen Objekts wie Gott zur Aufgabe macht, muß natürlich der Dienst an der Gesellschaft und am Menschen vollständig in den Hintergrund treten. Das um so mehr, als dieses Objekt in der spekulativen Vorstellung von einer derartigen Bedeutung und Erhabenheit ist, dem gegenüber alles andere verblagt. Für die Wissenschaft wird es danach auch nicht mehr von Wichtigkeit sein, inwieweit sie dazu beiträgt, eine Frage zu beantworten, die das Leben der Menschen stellt, sondern wie sie hilft, die Glaubenslehren zu stützen und die thomistische Spekulation auszubauen. In der Konsequenz muß das den Tod der Wissenschaft bedeuten. Das wird auch ganz deutlich, wenn wir es von der Seite der Triebkräfte des wissenschaftlichen Fortschritts aus betrachten, die durch diese Auffassung vollkommen verschüttet werden. Es ist seit Marx und Engels zu einer unumstößlichen Wahrheit geworden, daß die Wissenschaft nichts mit irgendeiner spontanen Schöpfung des menschlichen Geistes zu tun hat, sondern im Gegenteil in erster Linie ein Produkt gesellschaftlicher und industrieller Kräfte ist, denen sie dient und mit deren Entwicklung sie untrennbar verbunden ist. So sagten sie schon in der „Deutschen Ideologie", als sie die Frage nach dem entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Naturwissenschaften stellten: „... wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? Selbst diese ,reine' Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen." 17 Und ähnlich hat noch Engels im späten Alter anschaulich auf die wirklichen Triebkräfte verwiesen, wenn er schreibt: „Wenn die Technik, wie Sie sagen, ja größtenteils vom Stande der Wissenschaft abhängig ist, so noch weit mehr diese vom Stand und den Bedürfnissen der Technik. Hat die Gesellschaft ein technisches Bedürfnis, so hilft das der Wissenschaft 17

Marx/Engels, Werke, Berlin 1957 ff., Bd. 3, S. 44.

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Scheler, Die Wissenschaft

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mehr voran als zehn Universitäten." 18 Wie wir sehen, sind es Bedürfnisse, die aus dem materiellen Leben der Gesellschaft erwachsen, in denen Marx und Engels die entscheidenden Triebkräfte für den wissenschaftlichen Fortschritt erblickten. Gerade aber von diesen Triebkräften, die zugleich von den humanistischen Grundlagen der Wissenschaften zeugen, lenkt der Neuthomismus mit seiner Aufgabenstellung für die Wissenschaft vollkommen ab. Die thomistische Einstellung zur Wissenschaft erweist sich daher auch von dieser Seite nicht nur als völlig unhaltbar, sondern auch als direkt asozial und inhuman. Die klerikalen Ideologen werden hier natürlich einwenden, daß dieser Vorwurf unbegründet ist und daß auch sie nicht den Wert leugnen, den die Wissenschaft für Industrie und Handel, für die Wirtschaft und das materielle Leben der Menschen besitzt. Sie werden dazu auf die Vielzahl der päpstlichen Enzykliken verweisen, in denen Beteuerungen in dieser Hinsicht bis zur Ermüdung zu finden sind. Sie werden sich vor allem mit dem bekannten Bibelwort „Machet Euch die Erde Untertan" herauszureden versuchen, das angeblich einen Auftrag enthält, zu dessen Erfüllung die Wissenschaft unentbehrlich ist. Doch wird sich dadurch niemand täuschen lassen. Und zwar nicht nur, weil die Praxis in Vergangenheit und Gegenwart etwas anderes lehrt, sondern weil auch die Berufung auf jenes Wort nicht über den grundsätzlichen reaktionären Gehalt der Religion hinwegtäuschen kann, wie er ihr mit der Orientierung auf das Jenseits und der Vernachlässigung des Diesseits wesenseigen ist und sich daher auch unvermeidlich auf die Aufgabenstellung der Wissenschaft auswirken muß. Nicht nur, weil eine sich über Jahrhunderte erstreckende Geschichte der katholischen Kirche die Berufung abgesprochen hat, die wissenschaftliche Forschung zu leiten, sondern weil es auch für die Wissenschaft gilt, daß im Prinzip der Dienst am Menschen mit dem Dienst an Gott unvereinbar ist. Das eine schließt das andere aus. Freilich wird niemand bestreiten, daß auch die klerikale Ideologie den Wissenschaften eine gewisse Rolle in bezug auf „irdische" Anliegen einräumen muß. Das ist schon aus äußerlichen Rücksichten unumgänglich und ebenso richtig, als wir auch 18

F. Engels, Brief an H. Starkenburg vom 25.1.1894, in: Marx/Engels, Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Berlin 1955, Bd. 2, S. 474.

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im Hinblick auf das Verhältnis von Glauben und Wissen werden sagen können, daß hier das Denken in Lappalien frei ist. Denn daß zwei mal zwei vier ist, braucht auch die katholische Kirche nicht zu bestreiten. Es geht aber nicht um solche Lappalien und auch nicht darum, ob bei der thomistischen Aufgabenstellung für die Wissenschaft aus äußerlichen Rücksichten oder Inkonsequenz etwas abfällt für die Bedürfnisse der Gesellschaft, sondern danum, worauf die Wissenschaft dem Wesen nach gerichtet ist. Stellen wir die Frage so, ist der Standpunkt der katholischen Kirche unzweideutig festgelegt. Der Neothomismus will die Wissenschaft in den Dienst des Göttlichen stellen und muß daher ihr menschliches Anliegen zerstören.

Die neuthomistische Wissenschaftsauffassung und das Verhältnis von Glauben und Wissen Die Kernfrage der Wissenschaftsauffassung des Neothomismus ist die behauptete Übereinstimmung von Glauben und Wissen. So wurde es von M. Grabmann in seinem Vortrag „Der Wissenschaftsbegriff des hl. Thomas v. Aquino und das Verhältnis von Glaube und Theologie zur Philosophie und weltlichen Wissenschaft" klar formuliert, und so vertreten es einstimmig alle seine Anhänger seit dem Wiederaufleben des Thomismus in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bis auf unsere Tage. Halten wir uns an den Beschluß des Vatikanischen Konzils von 1870, dem für alle diese Anhänger noch heute wichtigsten Dokument, so können wir dort dazu folgendes lesen: „Wenngleich der Glaube über der Vernunft steht, so kann doch niemals zwischen Glauben und Vernunft ein wirklicher Widerspruch stattfinden, weil ebenderselbe Gott, welcher die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt hat; Gott aber kann nicht sich selber ableugnen, und das Wahre dem Wahren nie widersprechen." 19 Das soll heißen, Offenbarungswahrheiten und durch die Wissenschaft gewonnene Wahrheiten können sich nicht widersprechen, 19

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Das Vatikanische Konzil, München 1933, S. 433.

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weil sie beide ihre letzte Quelle in Gott haben und sich nur in der Form der Mitteilung unterscheiden. Dieser Anschauung, die Voraussetzung als richtig unterstellt, wird niemand die Konsequenz absprechen. Das ändert sich jedoch sofort, wenn auch nur im geringsten diese Voraussetzungen in Zweifel gezogen werden. In Anbetracht des jahrhundertealten Widerstreits zwischen Glauben und Wissen dürfte dieser Zweifel jedoch wohl mindestens sehr naheliegen. Es ist sicher, jegliche Berufung auf die Wahrhaftigkeit Gottes, um die innere Entsprechung von Glauben und Wissen nachzuweisen, hat nur dann Beweiskraft, wenn es feststeht, daß wirklich Gott existiert und es eine göttliche Offenbarung gibt. Geht es aber gerade um die Wahrheit dieser Voraussetzungen, wer ist dann der Richter? Wer hat darüber zu befinden, ob dem Inhalt der christlichen Offenbarung Wahrheit zukommt, ob wirklich beide Wahrheiten ihre letzte Quelle in Gott haben? In der katholischen Philosophie niemals die Wissenschaft! Und sie kann es nie sein, weil diese Philosophie es von vornherein nicht zulägt, indem sie alle Aussagen der Wissenschaft für falsch erklärt, die dem Glauben widersprechen. In diesem Sinne heißt es denn auch in dem Beschluß des Vatikanischen Konzils weiter, nachdem erklärt wurde, daß der falsche Schein eines solchen Widerspruchs nur daraus entsteht, daß die Glaubenssätze nicht im Sinne der Kirche ausgelegt bzw. Erdichtungen für Ansprüche der Wissenschaft ausgegeben werden: „Darum erklären Wir, daß jede Behauptung, welche der Wahrheit des erleuchteten Glaubens widerspricht, durchaus falsch sei." 1 Im gleichen Sinne sprach sich auch Thomas von Aquino aus: „Was nämlich in andern Wissenschaften als widerstreitend mit der Wahrheit dieser heiligen Wissenschaft (d.h. der Theologie - H. P.) befunden wird, ist insgesamt als falsch zu verwerfen." 2 Und auch in dem für den Neothomismus der Gegenwart wichtigsten philosophischen Kompendium der „Philosophia Lovaniensis" heißt es dazu: „Es scheint aber auch, daß ein vollständiges philosophisches System, das sich in keiner Weise für die Rolle einer Hilfswissenschaft der Theologie eignen würde, schon damit den Beweis liefern würde, daß es der Wahrheit nicht entspricht." 22 20 21

Ebenda, S. 433 £. Summe der Theologie, Hrsg. v. J. Bernhart, 3. durchges. u. verbess. Auflage, Bd. I, Stuttgart 1954, S. 12. 132

Auf einen Nenner gebracht heißt das also, daß die Wissenschaft dem Glauben nie widersprechen kann, weil derselbe alles für Irrtum erklärt, was dem Glauben widerspricht. Mit anderen Worten: Wissenschaft und Glaube können einander nicht widersprechen, weil der Glaube der Wissenschaft von vornherein vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen hat. In der Konsequenz bedeutet das daher die völlige Unterwerfung und Unterordnung des Wissens unter den Glauben. Natürlich werden die katholischen Philosophen nicht müde zu wiederholen, daß die Wissenschaft selbst die Vernünftigkeit des Glaubens beweist. Die Wissenschaft und vor allem die Philosophie hat ja nach ihrer Anschauung gar keinen Beruf als nachzuweisen, daß das Christliche vernünftig und das Vernünftige christlich ist. Was hat aber ein wissenschaftlicher Beweis für einen Wert, dessen Ergebnis im Grunde bereits von vornherein feststeht? Wer wird diese „Beweise" und eine solche Wissenschaft ernst nehmen, wenn er offen erklärt bekommt, daß die Theologie für sie ein „negatives Kriterium" bildet, »eine Art Oberaufsicht über sie" 2 3 führt und daß die Philosophie „eine durch den Glauben normierte Philosophie" 24 darstellt usw.? Es ist schon eine eigenartige und auch einmalige Auffassung vom Wesen und der Würde der Wissenschaft: Die Wissenschaft beweist die Grundlagen des Glaubens, zugleich aber bestimmt der Glaube, was Wissenschaft ist! Um das Groteske der katholischen Wissenschaftsauffassung vollends hervortreten zu lassen, muß noch an ein Weiteres erinnert werden. Was als sogenannte „Offenbarungswahrheit" anzusehen ist, steht natürlich nicht von vornherein fest. Dies zu deuten obliegt der katholischen Kirche, so daß nun die Unterordnung der Wissenschaft unter den Glauben sich in eine Unterordnung unter die Kirche und ihre Lehrautorität verwandelt. Wir sehen also, daß das erste Prinzip der neuthomistischen Wissenschaftslehre zu einer vollständigen Unterordnung der Wissenschaft unter den Glauben führt und selbst eine Spekulation darstellt, für die es eine zwingende Begründung, wie sie in jeder echten Wissenschaft möglich ist, nicht gibt. Das geben die Anhänger des Neutho22 23 21

De Raeymaeker L., a. a. O., S. 41 H. Meyer, a. a. O., S. 145. Ebenda, S. 167. 133

mismus gelegentlich indirekt selber zu. So z. B., wenn v. Hertling, einer der Vorkämpfer der Restauration der mittelalterlichen Scholastik, in seinem Buch „Das Prinzip des Katholizismus und die Wissenschaft" zu dem Eingeständnis kommt, daß man die Pflicht, die Freiheit und Überzeugung des Forschers den Lehransprüchen der Kirche zu unterwerfen, niemals denen wird klarlegen können, „... welche in Abrede stellen, was die notwendige Voraussetzung bidet". 25 Das hindert selbstverständlich die Vertreter des Thomismus in keiner Weise, im weiteren dennoch alles aufzubieten, um ihr barbarisches, allein von glaubensmäßigen Entscheidungen getragenes Prinzip zu stützen. Da wird auf die geschichtliche Forschung verwiesen, um die Tatsache der göttlichen Offenbarung zu rechtfertigen, als ob jene nicht unwiderleglich bewiesen hätte, daß es sich bei den Evangelien um eine ganz natürlich entstandene Form des gesellschaftlichen Bewußtseins in der untergehenden Sklavenhaltergesellschaftsordnung handelt. Da werden die Ergebnisse der Naturwissenschaft verfälscht, und da gibt es schließlich den riesigen spekulativen Bau dieser „normierten Philosophie", der kein anderes Ziel verfolgt, als zu beweisen, daß Gott existiert und zwischen Glauben und Wissen die einträchtigste Harmonie besteht. Auf die Unhaltbarkeit derartiger Bemühungen ist von marxistischer Seite schon vielfach verwiesen worden.26 An dieser Stelle wollen wir uns daher nur mit einer Argumentation auseinandersetzen, die in der Regel direkt zur Begründung dieses Prinzips vorgebracht wird. Es geht darum, daß seine Anhänger behaupten, daß jedes Wissen seine glaubensmäßigen Voraussetzungen habe. Alles Wissen, wird gesagt, ist umgeben und wird getragen von Annahmen, welche selbst nicht gewußt werden. Eine voraussetzungslose Wissenschaft, wie sie gegen das thomistische Prinzip ins Feld geführt wird, gibt es überhaupt nicht. So schreibt dazu F. Dessauer: „Damit ergibt sich die Tatsache, daß der ganze erhellte Raum der Naturwissenschaft von unbekannten Faktoren durchsetzt ist, und die weitere, daß alles 25

26

G. Freih. v. Hertling, Das Prinzip des Katholizismus und die Wissenschaft, Freiburg i. B., 1899, S. 33. Vgl. Klaus, G., Jesuiten, Gott, Materie, Berlin 1958; Albrecht, E„ Der dialektische Materialismus und seine theologischen „Kritiker*, in: Beiträge zur Erkenntnistheorie und das Verhältnis von Sprache und Denken, Halle 1959.

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menschliche Naturwissen von unentbehrlichen Glaubenskomponenten begleitet ist. Es gibt kein Naturwissen ohne diese Komponenten. Der Akt des Erkennens ist stets auf (oft unbewußten) Glaubensakten gegründet, und das Wissen ruht auf einem Glaubensgerüst. Ohne diese Verknüpfung gibt es weder Erkennen noch Verstehen." 27 Es ist interessant zu erfahren, welcher Art diese „Glaubenskomponenten" sind. Bei v. Hertling finden wir sie alle zusammengetragen. Da ist als erstes, „... daß die Wissenschaft für den Einzelnen immer nur zum kleinen und kleinsten Teile wirkliches, selbsterzeugtes Wissen bedeutet. Das gilt selbst von dem Gelehrten ... In größerem oder geringerem Umfange nimmt er und nehmen alle andern die Ergebnisse fremder wissenschaftlicher Arbeit auf Treu und Glauben an".28 Da ist die Tatsache, daß alle Erfahrung zum großen Teil nur eine mittelbare und zudem jeweils mit der stillschweigenden Voraussetzung verbunden ist, daß unsere Mitmenschen genau so organisiert wird wie wir. Da ist die Voraussetzung der ersten mathematischen Axiome, die der Gesetzmäßigkeit, die wir überall bei der Forschung unterstellen, der Glaube an die Vertrauenswürdigkeit unseres Denkens überhaupt, das Problem der wissenschaftlichen Hypothesen usw. Es ist hier nicht wichtig, wieviel von dem Angeführten tatsächlich das Problem der Voraussetzungen im System der Wissenschaften trifft. Wichtig aber ist die Tatsache, daß die klerikalen Ideologen auf Täuschung ausgehen, wenn sie damit beweisen wollen, daß alle Wissenschaften ihre glaubensmäßigen Voraussetzungen haben. Denn das hier Erwähnte hat in keiner Weise etwas mit jenen Voraussetzungen zu tun, die mit Recht der katholischen Wissenschaftsauffassung zum Vorwurf gemacht werden. Sicher, keine Wissenschaft ist vollkommen voraussetzungslos. Auch die marxistische Weltanschauung betont dies. Die Wissenschaft hat nicht nur Voraussetzungen, wie sie im materiellen und ökonomischen Leben der Gesellschaft bestehen, sondern sie muß auch mit irgendeinem Ansatz beginnen, muß Hypothesen und Theorien unterstellen, die keineswegs völlig gewiß sind. Die Wissenschaft besteht 27

28

F. Dessauer, Am Rande der Dinge. Über das Verhältnis von Glauben und Wissen. Frankfurt a. M. 1952 (2. Aufl.), S. 25. G. Freih. v. Hertling, a. a. O., S. 18.

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nicht nur aus apodiktischem Wissen. Das weiß jeder, und eine Belehrung durch die katholische Philosophie ist in dieser Hinsicht überflüssig. Nicht überflüssig aber ist herauszustellen, daß zwischen den Voraussetzungen im System der Wissenschaften und der Voraussetzung, wie sie der Wissenschaft in der thomistischen Wissenschaftsauffassung mit dem Glauben gesetzt ist, ein grundlegender Unterschied besteht. Wenn die Wissenschaft mit Annahmen und Voraussetzungen arbeiten muß, so sind das Voraussetzungen, die sie sich selbst gibt und die sich im Prozeß wissenschaftlicher Forschung laufend neu bestätigen oder sich als unberechtigt herausstellen, und dann wird jede echte Wissenschaft sie aufgeben oder korrigieren. Ganz anders ist es um das Dogma des Glaubens bestellt. Hier werden der Wissenschaft von äugen unumstößliche .Wahrheiten" als Satzungen aufgezwungen, die sie in ihrer Forschung behindern und so ihr ureigenstes Wesen zerstören. Nicht darum geht es also, ob auch die Wissenschaft Voraussetzungen macht, sondern ob sie die Befugnis besitzt, dieselben zu ändern, wenn es die Sache selbst erfordert. Jede Wissenschaft, die wirklich diesen Namen verdient, hat diese Befugnis, und wie ihre Entwicklung zeigt, ist die stete Selbstkritik ihrer Grundlagen sogar eines ihrer wichtigsten Kennzeichen. Deshalb charakterisierte Feuerbach auch einmal sehr treffend den Geist der Wissenschaft seit ihrer Befreiung von der Herrschaft des Glaubens, wenn er gegen den scholastischen Dogmatismus schrieb: „Die neuere Philosophie erst gab sich ein wahres Fundament, eben weil sie sich kein bestimmtes Fundament gab, welches stets nur ein Dogma sein könnte." 2 9 Ein ganz anderer Geist ging dagegen von der katholischen Kirche aus. Sie hat überall, wo es in ihrer Macht stand, ein System der Unduldsamkeit, der geistigen Unfreiheit und des Terrors errichtet und war mit allen Mitteln bestrebt, den wissenschaftlichen Fortschritt aufzuhalten. Völlig getreu ihrem ersten Wissenschaftsprinzip, wonach die Wissenschaft dem Glauben nie widersprechen kann, wurde über Jahrhunderte alles verfolgt, was nur im geringsten von den Lehren der Kirche abwich. Nur allzu bekannt ist das Schicksal solcher Neuerer in der Wissenschaft wie Giordano Bruno, Vanini, Campanella 29

L. Feuerbach, Sämtliche Werke, hrsg. v. Bolin u. Jodl, Stuttgart 1903-1911, Bd. 5, S. 256. 136

und Galileo Galilei. Die Verurteilung Galileis wird für ewig das Symbol der wissenschaftsfeindlichen Einstellung der katholischen Kirche und ihrer scholastischen Philosophie bleiben. Mit der Verdammung des neuen kopernikanischen Weltsystems hat sie sich schon damals endgültig das Recht abgesprochen, die wissenschaftliche und philosophische Forschung zu leiten. Keine Entschuldigungen, wie sie heute so zahlreich angestellt werden, können an dieser Tatsache etwas ändern.3® Denn es ging dabei nicht um Zufälle, nicht um ein Versehen aus menschlicher Fehlbarkeit, sondern um die notwendigen Folgen ihrer der Wissenschaft fremden und feindseligen Einstellung. Und auch in der darauffolgenden Zeit wurde es nicht besser. Wohin man sieht, in allen europäischen Ländern ist die Verfolgung der neuen Gedanken an der Tagesordnung. Mühsam und nur gegen den hartnäckigsten Widerstand, ausgeschlossen von den öffentlichen Anstalten und tyrannisiert von den Inhabern der approbierten Philosophie und Wissenschaft, mußten sich die neuen Lehren den Weg bahnen. Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Buffon gezwungen, die wichtigsten Thesen seiner „Naturgeschichte" zu widerrufen. Unerbittlich und in blindem religiösem Fanatismus wurden die größten Leistungen der Wissenschaft in dieser Periode verdammt und ihre Schöpfer, wie Grotius, Descartes, Spinoza, Hobbes, Locke, Rousseau und Kant, auf den Index gesetzt. Selbst Denker wie Leibniz wurden als ungläubige Irrlehrer verfolgt. Wenn dabei die katholische Kirche in dieser Zeit nicht mehr wie früher zur Einkerkerung und physischer Vernichtung schreiten konnte, so nicht deshalb, weil sich ihr Geist gewandelt, sondern weil durch die Aktionen des revolutionären Bürgertums und der Volksmassen - gipfelnd in der Französischen Revolution - ihre Macht allmählich gebrochen wurde. Erst etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in den meisten europäischen Ländern die fort30

Es zeugt von der Unredlichkeit der klerikalen Ideologen, wenn z. B. B. R. Karisch die Version zu verbreiten sucht, Galilei habe in der so »kritischen Zeit" (!) keine überzeugenden Beweise erbracht, außerdem sei ja „alle unnötige Härte" vermieden worden (Naturwissenschaft und Glaube, Donauwörth 1958, S. 13), oder wenn F. Dessauer aus dem Fall Galilei einen Konflikt zwischen Fortschritt und Tradition allgemein zu machen versucht (Der Fall Galilei und wir, Frankfurt a. M. 1951).

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schrittlichen Kräfte so stark, daß sie auch auf geistigem Gebiet den herrschenden Einfluß der katholischen Kirche und ihrer philosophischen Apologeten, die vor allem auf den öffentlichen Anstalten das geistige Leben bestimmten, zurückdrängen konnten. Nur diesem ihrem Einfluß war es zu danken, wenn endlich nach rund 200 Jahren 1822 die Werke Galileis vom Index gestrichen wurden. Keineswegs aber hatte sich die grundsätzliche Einstellung der katholischen Kirche zur Wissenschaft geändert. Das sollte sich recht bald zeigen. Als sie ihre Zeit wieder gekommen sah, als die Zeit kam, wo die Bourgeoisie das Proletariat drohend hinter sich erblickte und zu dessen Niederhaltung auf die Kirche und ihre Ideologie nicht mehr verzichten wollte und so gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bewegung zur Restauration der mittelalterlichen Scholastik einsetzte, war einer der ersten Akte dieser wiederauflebenden Ideologie die herausfordernde Kampfansage an die wissenschaftliche Bewegung der Neuzeit. So schrieb 1880 der Jesuit Cornoldis: „Die Geschichte der modernen Philosophie ist nichts anderes als die Geschichte der intellektuellen Irrungen des dem Schwindel seines Stolzes überlassenen Menschen, so daß diese Geschichte ,die Pathologie der menschlichen Vernunft' heißen könnte." 3 1 Wie wir sehen, galt der Haß natürlich in erster Linie der Philosophie. Doch waren davon auch die anderen Wissenschaften nicht ausgenommen. Ihnen gegenüber war man lediglich etwas vorsichtiger geworden. Der ständig zunehmende Erkenntnisfortschritt gerade in diesen Wissenschaften und vor allem ihr Wert für die menschliche Gesellschaft zwang die katholische Kirche zu einem geschickteren Vorgehen. Die offenen Angriffe auf die Wissenschaft werden seltener, dafür aber die Tendenz immer stärker, die Glaubenslehren so zu „deuten", daß ihr Gegensatz zur Wissenschaft an Schärfe verliert. Es wird mehr und mehr zur Methode, die Ergebnisse der Wissenschaften nicht offen zu negieren, sondern sie im Sinne der thomistischen Philosophie zu interpretieren und, wenn es not tut, zu verfälschen. Dies ließ sich scheinbar um so besser verwirklichen, je mehr sich die eigenen Anhänger in die Forschung ein31

Zitiert nach Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 5, 13 Aufl., Tübingen 1953, S. 234.

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schalteten, und wenn dieses weite Gebiet nicht brüsk wie früher dem Gegner überlassen wurde. Die Losung dafür hatte v. Hertling schon frühzeitig ausgegeben. Ein einziger Gelehrter, der erfolgreich in die Forschung eingreift und sich gleichzeitig als treuer Sohn der Kirche bewährt, wiegt ganze Bände der Apologetik auf. Das war eine neue Taktik. An der grundsätzlichen Einstellung gegenüber der Wissenschaft wurde jedoch unverändert festgehalten. Deshalb mußte auch in unserer Zeit der unversöhnliche Gegensatz zwischen Glaube und Wissenschaft immer wieder mit unverminderter Wucht hervorbrechen, mußten trotz aller Manöver die klerikalen Ideologen in die unhaltbarsten Situationen geraten, wie sich dies am anschaulichsten in ihrem hoffnungslosen Kampf gegen den Darwinismus zeigt. Es ist hier nicht der Ort, sich mit all jenen Argumenten auseinanderzusetzen, mit denen die klerikalen Ideologen bis in die letzten Jahre gegen die Deszendenztheorie anrennen. 32 Wir wollen hier nur darauf verweisen, daß die Neothomisten entgegen den Anschauungen nahezu aller bedeutenden Biologen bis heute eine durchgehende Entwicklung im Tierreich ablehnen. 33 Eine Änderung ihrer Haltung ist unter dem Druck der wissenschaftlichen Forschung nur in der Hinsicht eingetreten, als etwa seit den vierziger Jahren die Forschung auf diesem Gebiet überhaupt offiziell zugelassen, wenigstens eine gewisse Entwicklung zugestanden und die natürliche Abstammung des „menschlichen Körpers" als eine mögliche Hypothese eingeräumt wird. Die maßgebende Enzyklika „Humani generis" von 1950 drückt dabei diesen Rückzug in folgender Weise aus: Das Lehramt der Kirche verbietet nicht, daß „.. .die Entwicklungslehre Gegenstand der Untersuchungen und Besprechungen der Fachleute beider Gebiete sei, insoweit sie Forschungen anstellen über den Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits beste32

33

Vgl. dazu das Buch von H. Wessel, Viren, Wunder, Widersprüche, Berlin 1961. „Eine durch Abstammung bedingte Abänderung der Arten ist wahrscheinlich bis zu der Stufe, die nach Linné Ordnung heißt (z. B. zwischen den Raubtieren); sie ist aber nicht sicher nachgewiesen zwischen den Klassen (z. B. Säugetiere u. Vögel) und noch weniger zwischen den Stämmen (z. B. Wirbeltiere und Wirbellose)*. (Brugger, Philosophisches Wörterbuch, 7. Aufl., Freiburg 1959, S. 1.)

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henden, lebenden Materie - daß die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen sind, daran festzuhalten, verpflichtet uns der katholische Glaube".34 Die Änderung in ihrer Haltung, wie sie sich hier zeigt, ist natürlich immer noch ein Hohn auf die moderne Wissenschaft, und zwar der verschiedensten Zweige. Sie ist nur interessant, wenn wir daran erinnern, daß die klerikalen Philosophen bis dahin unbeirrbar die Auffassung vertraten, dafj die Arten ewig und unveränderlich sind, und den entgegengesetzten Gedanken wütend und mit den schändlichsten Methoden bekämpften. Noch 1909 wurde durch einen Entscheid der päpstlichen Bibelkommission das Festhalten an einer besonderen Erschaffung des Menschen zu einer undiskutablen Bedingung gemacht. Von welcher Einstellung zur Wissenschaft zeugt es jedoch, wenn man nahezu 100 Jahre entgegen allen Beweisen eine vom Glauben her diktierte Auffassung verteidigt, um dann endlich doch in so schmachvoller Weise den Rückzug anzutreten ! Ähnlich ist die Lage auch in bezug auf andere Wissenschaftszweige. Die Anhänger der scholastischen Wissenschaftsauffassung reden zwar zur Beruhigung sehr häufig davon, daß es viele Wissenschaften gibt, die sich überhaupt nicht mit dem Glauben berühren, und daß so der Umkreis der Probleme, für den die Theologie als Norm Bedeutung gewinnt, recht eng ist, die Praxis der Gegenwart zeigt jedoch etwas anderes. Der christliche Glaube ist eine ausgebildete Weltanschauung, deren Lehren in dieser oder jener Form jede Wissenschaft berühren. Wir finden daher ihre Einmischung in die wissenschaftliche Forschung fast überall. 35 Recht anschaulich haben dies die allerjüngsten Stellungnahmen zu Problemen der Psychologie und Medizin deutlich gemacht. 36 u

Pius XII., Humani generis, Wien 1950, S. 37. Dabei werden gleichzeitig diejenigen verurteilt, die selbst diesen natürlichen Ursprung des „menschlichen Körpers" als sicher bewiesen annehmen. (Ebenda, S. 38/39). 35 Auf die Größe dieses Bereichs verweist allein schon Pius XII., wenn er in der Enzyklika „Humani generis" generell gegen den Entwicklungsgedanken auftritt, der heute als Fundament jeder Wissenschaft gilt, und dort alle Lehren verworfen werden, die als höchste Norm für Wahr und Falsch, Gut und Böse nicht unveränderliche Gesetze annehmen, s« Wir verweisen hier auf die beiden Reden, die Pius XII. 1953 vor Teilnehmern des 5. Kongresses für Psychotherapie und klinische Psychologie

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So wird ersichtlich, welche große Gefahr der weiteren ungehinderten Entwicklung der Wissenschaft durch die von der Bourgeoisie geförderte Klerikalisierung und Ausbreitung scholastischen Gedankenguts droht. Das gilt namentlich für die Wissenschaft in Westdeutschland, wo der Prozeß dieser Klerikalisierung bereits weit vorangeschritten ist und es den herrschenden Kreisen gelang, ein geistiges Klima zu erzeugen, in dem die Wissenschaftler mehr und mehr zu Dienstboten des reaktionären Klerus und der mit ihm verbündeten Monopolbourgeoisie erniedrigt werden sollen. Die Bedrohung der Wissenschaft ist dabei um so größer, als die klerikalen Ideologen den reaktionären Inhalt ihrer Wissenschaftsauffassung und vor allem den aus ihrer »Lösung" des Verhältnisses von Glauben und Wissen sich ergebenden krassen Agnostizismus und Irrationalismus zu verbergen suchen und sich heuchlerisch als Verfechter echter Wissenschaft ausgeben. Das ist jedoch eine grobe Täuschung. Ihre ständig wiederholten Beteuerungen über den Wert der Wissenschaft, die Würde der Vernunft, wie ihre mit großem Aufwand in Szene gesetzte Kritik am Irrationalismus der anderen bürgerlichen Modephilosophien ist nicht prinzipieller Natur, sondern nur darauf berechnet, Wissenschaftler und Intellektuelle anzuziehen, die sich von dem schreihälslerischen Irrationalismus dieser Strömungen abgestoßen fühlen und denen der Neothomismus als Zufluchtsort erscheint, an dem die Vernunft noch nicht völlig über Bord geworfen ist. und 1958 vor Teilnehmern des 13. Kongresses für angewandte Psychologie gehalten hat (vgl. Herderkorrespondenz, Jg. VII, S. 353 ff. und Jg. XII., H. 11). In diesen Reden wurde nicht nur die thomistische Philosophie zur Grundlage der Psychologie erhoben, die katholische Moral als ethische Norm für die psychologische Diagnostik aufgestellt, sondern auch bestimmte Seiten des Seelenlebens des Menschen überhaupt diesem Wissenschaftszweig entzogen und der Seelsorge der katholischen Kirche überantwortet. Auf dem Gebiet der Medizin wiederum werden Forscher und Ärzte auf Grund für sie verbindlicher dogmatischer und spekulativer Lehren zur Ablehnung bzw. fruchtloser Diskussion über die ethische Vertretbarkeit der Anwendung moderner medizinischer Apparaturen getrieben, die in bestimmten Fällen allein noch die Lebensfunktionen des menschlichen Lebens aufrechterhalten, insofern hier angeblich gegen den Willen Gottes verstoßen werde.

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Aus jeder ihrer Schriften geht jedoch hervor, daß ihre Weltanschauung nicht weniger erkenntnispessimistisch und irrationalistisch ist als jene anderen philosophischen Strömungen. Denn sowohl Glaube als auch Wissenschaft, wird gelehrt, sind unvollkommen. »Ins Geheimnis führen beide Wege." 37 »Dem auf Messen beruhenden menschlichen Erkennen ist eine Schranke gesetzt", schreibt Karisch, „... die materialistische Auffassung, daß es in der Welt nur ,noch nicht erkannte Dinge', aber keine .unerkennbaren Dinge' gebe, ist schon von der Physik her zu bestreiten, sie ist grundsätzlich falsch." 38 „Wie klein und armselig", meint schließlich auch der Jesuit Cathrein, „müßte auch das Reich der Wahrheit sein, wenn wir es mit der winzigen Elle unseres Verstandes ausmessen könnten!" 39 Wir haben schon darauf verwiesen, daß die Bourgeoisie mit ihrem Zurückgreifen auf die scholastische Wissenschaftsaiuffassung am vollkommensten den Bruch mit der progressiven und humanistischen Tradition in der deutschen Wissenschaft vollzogen hat. Dieser Bruch ist dabei in keiner Weise offensichtlicher als gerade im Hinblick auf das Kernstück der katholischen Wissenschaftsauffassung, das Verhältnis von Glauben und Wissen. Denn betrachten wir unter diesem Blickwinkel die Entwicklung der Wissenschaft seit der Neuzeit, so ist ihre Geschichte wesentlich die der Loslösung von der Vorherrschaft des Glaubens. Nicht Unrecht haben deshalb jene katholischen Philosophen, die diesen Prozeß als einen „Abfall von Gott" deuten. Unrecht haben sie nur, wenn sie seine Ursachen verschweigen. Das neue Wissenschaftsideal, das mit der Renaissance aufkam und in der Folge über der gewaltigen wissenschaftlichen Arbeit der nächsten Jahrhunderte stand, enthielt neben dem Glauben an die Allmacht der Vernunft, neben dem neuen Verhältnis zur Erfahrung und den materiellen Erfordernissen der Gesellschaft, neben der Überzeugung, daß Wissenschaft kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Erweiterung der Herrschaft des Menschen über die Natur, der Vervollkommnung der Persönlichkeit und des ganzen Menschen37

38 39

J. Bemhart, Einleitung zur Ausgabe der Summe der Theologie des Thomas von Aquino, a. a. O., Bd. I, S. LIV. R. Karisch, a. a. O., S. 26/27. V. Cathrein, Glauben und Wissen, Freiburg i. B. 1911, S. 242.

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geschlechts ist, stets auch die Forderung nach Freiheit der Forschung und Unabhängigkeit der Wissenschaft vom Glauben. So war auch die ganze wissenschaftliche Bewegung seit dem Ausgang des Mittelalters, repräsentiert in Deutschland durch ihre besten Vertreter von Thomasius bis Ernst Haeckel, von der Überzeugung durchdrungen, daß Glaube und Wissenschaft, wenn schon nicht gänzlich unvereinbar, so doch so zu trennen sind, daß keine Einmischung von Seiten des Glaubens in die Wissenschaft stattfindet. Das gilt für alle Zweige der Wissenschaft. Wir haben schon gesehen, mit welchen Methoden die katholische Kirche und ihre Ideologie dem naturwissenschaftlichen Fortschritt entgegentrat. Alle seine großen Leistungen wurden nur gegen ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt. Und so ist es auch nur dieser Widerstand wie natürlich die eigene Sterilität, die geeignet sind, das ganze Ausmaß des Hasses und der Verachtung verständlich zu machen, die der scholastischen Denkweise und der klerikalen Wissenschaftsauffassung einhellig von den Vertretern der Naturwissenschaft über einen Zeitraum von Jahrhunderten hinweg entgegengebracht wurden. „Man hatte mit Galilei die Naturforscher verscheucht" 40 , schreibt F. Dessauer, er hat Recht. Die Ablehnung und Abneigung gegen die scholastische Denkweise war so allgemein und in der deutschen Wissenschaftstradition so fest verwurzelt, daß unter den Großen der Naturwissenschaft in dieser langen Periode kaum mehr einer zu finden ist, der auf ihrem Boden stand. Noch ärger erging es der scholastischen Wissenschaftsauffassung in der Philosophie. Hier wurde der Konflikt zwischen Glauben und Wissen bewußt ausgetragen und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht. Wir finden sie schon bei den Humanisten, wo der scholastische Geist mit Spott und Hohn gegeißelt wird, später bei den Philosophen der Aufklärung. Recht derb ging es dabei manchmal zu. So wenn Thomasius einmal sagte, daß der Rausch des Jenseits-Göttlichen in den Wissenschaften, wo es nichts zu suchen hat, nicht anders beschaffen ist als die Wirkung von einem Glas Wein oder Branntwein. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die philosophische Kritik jedoch erst in der Philosophie Kants. Kant war der erste, der den 40

F. Dessauer, a. a. O., S. 89.

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riesigen spekulativen Bau der scholastischen Philosophie bis auf seine Grundlagen zerstörte. Hier geschah es zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Wissenschaft, daß die Philosophie den Dienst, den die katholische Kirche von ihr erwartete, offen verweigerte. Denn Kant versuchte zu beweisen, daß das Christentum vom Standpunkt der Vernunft unmöglich ist, daß der Gottesbegriff eine reine Fiktion darstellt und alle Beweise für die Rationalität des Glaubens Blendwerk sind. Damit war der entscheidenden Grundlage der katholischen Wissenschaftsauffassung, nämlich der Lehre von der letzten inneren Entsprechung von Glaube und Vernunft, zum erstenmale offen der Kampf angesagt. 41 Wir wissen, daß Kant mit alledem nicht den Glauben überhaupt angegriffen wissen wollte. Eigentlich noch mehr, der Glaube sollte gerettet werden, allerdings nicht auf der alten scholastischen Grundlage der inneren Entsprechung von Glauben und Wissen, sondern im Gegenteil durch ihre Trennung. Dazu sollte der Glaube ein Gebiet erhalten, das jenseits der Vernunft liegt. Das war wiederum nur möglich um den Preis eines bestimmten Agnostizismus, den Kant selber dann auch in die bekannten Worte kleidete: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen..." 42 So kam es, daß Kant den religiösen Glauben in seiner »Kritik der reinen Vernunft" hinauswarf, um ihn in der »Kritik der praktischen Vernunft" als sittliches Postulat hintenherum wieder einzuführen. Doch ist das ein Problem der inneren Zwiespältigkeit der Kantischen Philosophie, das aber in keiner Weise die Verdienste schmälert, die Kant, gerade wenn wir die Zeitumstände und seine unmittelbare Wirkung im Auge behalten, im Kampf gegen die scholastische Wissenschaftsauffassung und die ganze thomistische Methaphysik zukommen.43 Seine Inkonsequenz und sein Kompromiß in dieser Frage ist nur ein Ausdruck dessen, daß auch der 41

42

43

Wir verstehen aus diesem Grunde, weshalb neben den konsequenten Materialisten Kant derjenige Philosoph ist, den die klerikalen Ideologen am erbittertsten bekämpfen. I.Kant, Sämtl. Werke, hrsg. v. K. Vorländer, Leipzig 1920-1930, Bd. I, S. 28. Damit wird nicht der negative Einfluß übersehen, der gerade von Kant ausgeht, indem seine Anschauung später zur theoretischen Grundlage der protestantischen Lehre über das Verhältnis von Glauben und Wissen wird.

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Prozeß der Emanzipation der Wissenschaft vom Glauben kein gradliniger, sondern ein komplizierter und widersprüchlicher gewesen ist. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns dem Hegeischen Beispiel zuwenden. Zunächst könnte es vielleicht sogar erscheinen, als ob eine Berufung auf Hegel in diesem Zusammenhang überhaupt fehl am Platze ist. Denn war er es nicht gerade, der dem Zeitbewußtsein entgegentrat, das im Anschlug an Kant grundsätzlich Glauben und Wissen geschieden wissen wollte? War er es nicht, der in seiner Religionsphilosophie die Anschauung vertrat, daß Gott nicht erkennen zu wollen, die letzte Stufe der Erniedrigung des Menschen bedeutet? Und war es nicht der große Idealist Hegel, der in seinem System Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft so harmonisch in sich vereinigte, wenn er die Welt als Geist betrachtete, als Entwicklung und Selbsterfassung des Geistes, wo die „absolute Idee", d. h. Gott in der Form der Anschauung als Kunst, in der der Vorstellung als Religion und in der des Denkens als Philosophie zu sich selbst kommt und sich bewußt wird? Wenn also Philosophie und Religion denselben Inhalt haben und sich nur in der Form unterscheiden? Es ist richtig, daß keiner der neueren Philosophen so viel unternommen hat, um Religion und Wissenschaft zu versöhnen, wie Hegel. Und doch war Hegel ein erbitterter Gegner der katholischen Wissenschaftsauffassung, wie der Scholastik überhaupt. Davon zeugt das vernichtende Urteil, das Hegel in seinen Vorlesungen zur „Philosophie der Weltgeschichte" über den Katholizismus gefällt hat. Er zeigt dort offen seine Abneigung gegen die katholische Kirche und ihre wissenschaftsfeindliche Einstellung, die sich, wie er sagt, „ . . . von der aufblühenden Wissenschaft, von der Philosophie und humanistischen Literatur . . t r e n n t e , so daß die katholische Welt . . . . in der Bildung zurückgeblieben und in die größte Dumpfheit versunken . . . " 4 4 ist. Hegel spricht dabei mit Abscheu von den Unterdrückungsmaßnahmen der Kirche gegenüber der Wissenschaft und geht auch auf die Verurteilung Galileis ein. „Alle denkenden Menschen", sagt er hier, „haben sich nach solchen Vorgängen von der Kirche entfernt." 4 5 **• G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, Kritische Ausgabe, Bd. IX, Teil IV, (3. Aufl., 45 Ebenda, S. 913. Leipzig 1944), S. 884/85. 10

Schelei, Die Wissenschaft

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Auch in anderen Teilen seines Werkes ist Hegel zu unzweideutigen Einschätzungen gekommen. So verurteilt er die katholische Wissenschaftsauffassung, wenn er in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie die auf dieser Auffassung beruhende scholastische Philosophie als „... eine ganz barbarische des Verstandes, ohne realen Stoff, Inhalt..." nennt,46 die eigentlich gar nicht in die Philosophiegeschichte gehört. 47 Er hat entschieden den der Scholastik eigenen Geist verurteilt, weil sie kein freies Denken kennt und nicht kennen kann, „... da diese ihren Inhalt... als einen gegebenen und zwar von der Kirche gegebenen aufnahm". 48 Wie tief dabei in Hegel die Abneigung gegen den Katholizismus und seine ganze Geisteshaltung verwurzelt war, geht daraus hervor, daß er - zwar unter Verkennung ihrer tieferen Wurzeln - im Katholizismus die wesentlichsten Ursachen für die von ihm als „herrlicher Sonnenaufgang" gefeierte Französische Revolution erblickte. 49 Und wenn wir schließlich selbst die riesige Spekulation als Ganzes nehmen, ergab das keine Unterordnung des Wissens unter den Glauben in dem Sinne, wie es aus der scholastischen Wissenschaftsauffassung folgt und wie sie dort den Tod der Wissenschaft bedeutet. Denn bei Hegel steht die Vernunft über dem Glauben, wie denn die „absolute Idee" in ihrer Entwicklung im „objektiven Geist" die Religion als ein niederes Stadium hinter sich läßt. 50 Deshalb war auch Hegel nicht inkonsequent, wenn er grundlegend über das Verhältnis von Religion und Wissenschaft folgendes schrieb: „Die Wissenschaft bildet... ein Universum der Erkenntnis, das für sich Gottes nicht bedarf, außerhalb der Religion liegt und mit ihr direkt nichts zu schaffen hat." 51 46 47 18 49 50

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G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, Jubiläumsausgabe, Bd. 19, S. 198. Ebenda, Bd. 17, S. 124. Ebenda, Bd. 8, S. 105. Vgl. G.WF. Hegel, Sämtl. Werke, Kritische Ausgabe, ebenda, S. 924-926. Indem Hegel hier den Gedanken der Entwicklung auch auf die Religion anwendet, eine Historisierung dieser Erscheinung vornimmt, war er sogar der erste, der überhaupt den richtigen Weg der Überwindung der Religion und damit auch der einzig konsequenten Lösung des Verhältnisses von Glauben und Wissen wies. G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, Jubiläumsausgabe, Bd. 15, S. 32.

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Dieser der katholischen Einstellung zur Wissenschaft fremde und feindliche Geist wurde von ihren Anhängern sogleich erkannt und auch bekämpft. In diesem Sinne trat F. von Baader, einer der ersten Vorkämpfer der Restauration der scholastischen Philosophie im 19. Jahrhundert, auch gegen die klassische deutsche Philosophie auf, die schon der lieben Jugend, wie er sagte, den radikalen Irrtum einzuimpfen bestrebt ist, „daß die Religion in ihrem Wesen unvernünftig, die Vernunit in ihrem Wesen irreligiös sei". 52 Es läßt sich also zusammenfassend sagen, daß selbst die größten Idealisten gegen die katholische Wissenschaftsauffassung aufgetreten sind. Daß sich dabei unhaltbare Inkonsequenz zeigt, ist eine andere Sache. Sie ist auf dem Boden des Idealismus nicht zu vermeiden, der, wie Marx einmal treffend sagte, in der Konsequenz selbst nichts anderes ist als in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion 53 und daher sich stets in irgendeiner Form um die Versöhnung zwischen Glauben und Wissen bemühen muß. Das höchste aber, was auf diesem Boden unter bestimmten Bedingungen erreicht werden kann, wurde von ihren besten Vertretern angestebt. Das hat Feuerbach in bezug auf P. Bayle einmal deutlich herausgestellt: „Es steht hier der Glaube - wohl nicht dem Gleichnis, aber der Bedeutung desselben nach - in demselben Verhältnisse zur Vernunft, wie dort die Vernunft zu dem Glauben . . . " 54 Soweit diese Inkonsequenz in Betracht kommt, war sie also nur von materialistischer Seite zu überwinden. Und in dieser Hinsicht kommt in der progressiven und humanistischen Tradition unserer Wissenschaft die größte Bedeutung nach Karl Marx und Friedrich Engels Ludwig Feuerbach zu. Feuerbach hat sich mit der Leidenschaft eines streitbaren Materialismus gegen die klerikale Unterjochung der Wissenschaft und des menschlichen Denkens gewandt. Er hat gezeigt, daß sich zwischen Glauben und Vernunft auch nicht im entferntesten eine Verwandtschaft nachweisen läßt. Mit einer Gründlichkeit wie bisher keiner vor ihm hat er bewiesen, daß das Dogma dem Begriff und dem Wesen der Wahrheit widerspricht. Das Dogma des 52

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F. von Baader, Philosophische Schriften und Aufsätze, Münster-Würzburg 1831-1847, Bd. II, S. 119. K. Marx/F. Engels, Die Heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, Berlin 1953, S. 75. L. Feuerbach, a. a. O., Bd. 5, S. 251. 147

Glaubens, das in der thomistischen Lehre in den Rang einer Wahrheit erhoben wurde, und zwar einer gewisseren als die jeder Wissenschaft, war ihm nichts anderes als eine willkürliche Schranke des Geistes, ein »ausdrückliches Verbot zu denken". 55 „ W o . . . dem Geiste Satzungen als Wahrheiten aufgenötigt werden", schrieb er, „da ist dem Wesen nach die Wissenschaft anathematisiert." 56 Denn unter der Herrschaft solcher Satzungen kann keine Wissenschaft gedeihen. Was unter solchen Bedingungen wächst, kann stets nur ein unterdrücktes, armseliges, verkrüppeltes Pflänzchen sein. Keine geschäftige Gelehrsamkeit wird an diesem Zustand dann noch etwas ändern. Denn wenn auch im Mittelalter weltliche Gelehrsamkeit geschätzt wurde, sagte Feuerbach, so . . . . blieben doch immer die Wissenschaften eine untergeordnete Nebenbeschäftigung des menschlichen Geistes, hatten nur eine kümmerliche, beschränkte Bedeutung und mußten sie solange haben, als der religiöse Geist die oberste gerichtliche Behörde, die Legislativgewalt, und die Kirche seine Executivgewalt war".57 Feuerbach hat aus dieser Einsicht in seinem ganzen Lebenswerk mit aller Eindringlichkeit vor den Gefahren gewarnt, die den Wissenschaften und damit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung drohen, wenn der Geist der katholischen Wissenschaftsauffassung zur Herrschaft gelangt. Wir werden daher heute unmittelbar an seine mahnenden Worte erinnert, wenn wir sehen, wie dieser Geist in einer Reihe kapitalistischer Länder und vor allem in Westdeutschland sich wieder ausbreitet, wenn wir sehen, wie, gestützt und gefördert durch ein verfaulendes gesellschaftliches System, all das wiederkommen soll, gegen das die größten Denker unseres Volkes immer gekämpft haben. Erkennen wir, rief Feuerbach aus, daß „... die Religion wenn sie . . . die Vernunft beherrschen will, die Menschheit in die barbarischsten, greuelvollsten, irrigsten, grundverderblichsten Lehren stürzt; denn das Dogma vom Gewissenszwang hebt alle Begriffe, alle Gesetze der Sittlichkeit und Gerechtigkeit auf, rechtfertigt jedes Verbrechen . . . Erkennen wir, daß gerade die Ungläubigen, die Freigeister, kurz Diejenigen, welche die unter55

Ebenda, S. 254. Ebenda, S. 254. « Ebenda, Bd. 3, S. 5.

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drückte Macht der Vernunft wieder zu heben suchten, es waren, welche der Menschheit die Unterschiede zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gut und Schlecht wieder offenbarten! Erkennen wir, daß es kein Heil für die Menschheit außer der Vernuidt gibt! Der Glaube mag den Menschen beseligen, beruhigen; aber so viel ist gewiß: er bildet, er bessert, er erleuchtet nicht den Menschen; er löscht vielmehr das Licht im Menschen aus, um angeblich ein anderes, übernatürliches Licht an seine Stelle zu setzen. Aber es gibt nur Ein Licht - das Licht der N a t u r . . . Wer dieses Eine Licht verläßt, begibt sich in die Finsternis." 58 Fassen wir das Ergebnis zusammen, so ergibt sich, daß die thomistische Wissenschaftsauffassung mit allen ihren grundlegenden Zügen, vor allem ihrem tiefen Erkenntnispessimismus und der angestrebten Irrationalisierung der Wissenschaft, einen festen Bestandteil des seit Jahrzehnten von der bürgerlichen Ideologie auf die Wissenschaft geführten Angriffs bildet und ein deutliches Symptom darstellt für den Niedergang der Wissenschaften unter den Bedingungen des Imperialismus. Es hat sich dabei gezeigt, daß die thomistische Auffassung vom Wesen und Sinn der Wissenschaft einen besonders reaktionären und extrem wissenschaftsfeindlichen Charakter trägt. Mit ihrer auf die vollständige Unterwerfung der Wissenschaft unter den Glauben und auf die Beraubung ihrer sozialen Funktion gerichteten Tendenz gehört sie zum Reaktionärsten, was die bürgerliche Wissenschaftskritik in den letzten Jahrzehnten in ihrem Angriff auf die Wissenschaft hervorgebracht hat. Diese Tendenz entspricht heute am besten den ideologischen Bedürfnissen der Bourgeoisie, die diese Auffassung daher auch mit allen Mitteln fördert und so eine ernste Gefahr für die Wissenschaft und das gesamte geistige Leben der Menschen heraufbeschwört. Dies um so mehr, als der Neothomismus seine wissenschaftsfeindliche Einstellung mit einem Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit umgibt und in Worten offene Ausfälle gegen Wissenschaft und Vernunft meidet. Unsere Untersuchung hat schließlich gezeigt, daß die Bourgeoisie mit dem Zurückgreifen auf die thomistische Wissenschaftsauffassung aus dem Mittelalter radikal mit der progressiven und 58

Ebenda, Bd. 5, S. 317 ff.

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humanistischen Tradition in der Geschichte unserer Wissenschaft gebrochen hat. Es hat sich dabei gezeigt, daß der scholastische Geist über Jahrhunderte aus der Wissenschaft und dem geistigen Leben unseres Volkes verbannt war und dag seine hervorragensten Vertreter die scholastische Anschauung vom Wesen der Wissenschaft nicht nur gehafjt und verachtet haben, sondern ihr auch ein progressives und humanistisches Wissenschaftsideal entgegengestellt haben. Das hat angedauert bis zu jenem Zeitpunkt, als die Bourgeoisie aus ihren egoistischen Klasseninteressen heraus von den Idealen ihrer eigenen Jugend abrückte und das nationale Erbe auch auf dem Gebiete der Wissenschaftstradition verriet.