Die Wiederholung und die Bilder: Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins 9783787318469, 9783787320943

Stephan Otto unternimmt eine Analyse der Theoriekontexte, in denen die Frage nach Gedächtnis und Erinnerung entweder bea

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German Pages 444 [446] Year 2019

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Die Wiederholung und die Bilder: Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins
 9783787318469, 9783787320943

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Stephan Otto ist Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der er den Lehrstuhl für Philosophie sowie für Geistesgeschichte des Humanismus innehatte und das Institut für Philosophie und Geistesgeschichte der Renaissance leitete. Seine weit ausgreifenden ideengeschichtlichen Forschungen folgen dem Konzept einer Kritik der historischen Vernunft, das er in Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey erarbeitete. Die hier vorgestellte Philosophie des Erinnerungsbewußtseins folgt diesem Entwurf und verknüpft mit der Frage nach den Bildern im Bewußtsein Überlegungen zum Verhältnis von Darstellbarkeit und Darstellung.

Stephan Otto

Die Wiederholung und die Bilder Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1846-9

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2007. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlagabbildung: Carolus Bovillus, Arbor cognitivarum animae virium, Liber de intellectu, Paris 1510. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

– Für meine Frau –

Homo, intendendo mentem, modos rerum, earum imagines et verum humanum gignit. Giambattista Vico

Anstelle eines Vorwortes möchte ich dem Leser dieses Buches von einer Begegnung berichten, an die ich mich lebhaft erinnere. Vor vielen Jahren traf ich auf dem Weg zu meiner Vorlesung einen Kollegen, der mich erstaunt fragte, was für ein sonderbares Thema ich da angekündigt hätte: »Philosophie der Erinnerung« – wo es doch eigentlich Sache der Psychologen sei, sich mit dem Erinnern zu befassen! Seit der Antike haben sich Philosophen sehr aufmerksam und eindringlich mit memoria und reminiscentia, mit Gedächtnis und Erinnerung beschäftigt. Erst in der Neuzeit und insbesondere in der Moderne ist das Thema »Erinnerung« zu einem Problemtitel geraten, und zwar wegen der Bilder, in denen unser Erinnern sich veranschaulicht. War es doch kein Geringerer als Immanuel Kant, der behauptet hat: »wenn man den Begriff nicht von Bildern ablösen kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«. Seitdem fällt es den Philosophen schwer, in und mit Bildern zu denken, und manche, zum Beispiel Edmund Husserl, wollten darum die Bilder aus der Erinnerung vertreiben. Das aber hat bedenkliche Folgen für unser Verständnis von Bewußtsein, Subjektivität und Personalität. Die Rede einiger Kulturwissenschaftler von der Erinnerungsvergessenheit der Philosophie ist jedenfalls nicht unbegründet – deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Und ich habe mich bemüht, es so zu schreiben, daß es auch für denjenigen noch lesbar bleibt, der im »Fach Philosophie« nicht zuhause ist; denn wer ein bewußtes Leben führen will, muß das im flüchtigen Strom seiner Erinnerungsbilder tun. Dennoch wird es gar nicht so einfach sein, dieses Buch zu studieren, denn es ist kein schlichter doxographischer Bericht, es ist keine Erzählung von der Geschichte des Wortes »Erinnerung«. Der Leser möge mir mithin erlauben, einige wenige Hinweise zu formulieren, die für seine Lektüre hilfreich sein dürften. Ich habe eine Analyse der Theoriekontexte unternommen, in denen die Frage nach Gedächtnis und Erinnerung entweder beantwortet werden kann oder aus denen sie verschwindet – und warum sie aus ihnen verschwindet. Dem Gedächtnis, insoweit es neurophysiologisch bedingt ist, mag die Hirnforschung auf die Spur kommen; der Erinnerung und | 7

dem Sicherinnern fällt auch der Philosoph nicht mit der Tür ins Haus, und wie er sich in deren Haus zurechtfindet, das hängt von mancherlei Voraussetzungen ab: von den Prämissen, die er setzt, von der Methode, der er folgt, und schließlich von seiner Vorstellung von Philosophie als »Wissenschaft« oder gar als »System«. Das sind die »Theoriekontexte«, an denen mein Buch sich orientiert, Kontexte, die dem Nachdenken über Erinnerung entweder hinreichend großen Spielraum lassen oder diesen Spielraum einengen – bis hin zu einer »Erinnerungsvergessenheit«. Um diese Kontexte vorzustellen, habe ich Vico mit Hegel, Aristoteles mit Plotin und diesen wiederum mit Augustinus konfrontiert, habe ich die Transzendentalphilosophie Kants der Phänomenologie Husserls, Schelers und Ricœurs gegenübergestellt, die Wittgensteinsche Philosophie der normalen Sprache, den französischen Neostrukturalismus und die deutschsprachige Theorie der Subjektivität im Hinblick auf ihr »Erinnerungsdefizit« untersucht und mich mit der Neurowissenschaft auseinandergesetzt, die am »Erinnerungsbewußtsein« an ihre Grenzen stößt. Dabei erwies sich das »Erinnerungsbild« immer wieder als Schnittpunkt der Kontexte und Probleme. Den Leser, der diesen Schnittpunkt, das »Bildproblem«, immer im Auge behält, werden die sich überkreuzenden Linienführungen in meinem Buch nicht verwirren. Er mag sich zudem jene Kapitel zur Lektüre auswählen, die ihn vorrangig interessieren – mit Querverweisen möchte ich ihm das Weiterblättern in anderen Kapiteln erleichtern. Auch in einem philosophischen Buch, meine ich, soll man blättern dürfen. Deutlich machen will ich: daß wir »uns selbst«, unsere Personalität, ohne die Erinnerung mit ihren Bildern niemals »finden« können, daß wir in unserem Erinnern das Vergangene auch nicht »wiederholen«, sondern es uns bildlich »veranschaulichen«. Und ebenso wie mit den »Bildern« hat die Philosophie ja auch mit der »Anschaulichkeit« ihre begrifflichen Probleme. Diese Zusammenhänge freizulegen und zu zeigen, wie die Frage nach dem Erinnerungsbewußtsein durch Theorien, Methoden und »systemisches Denken« oftmals verdeckt wird, das war meine Absicht. Es versteht sich von selbst, daß die Anlage dieses Buches eine Beschränkung auf die wichtigste Forschungsliteratur erforderlich machte. München, im Frühjahr 2007

Inhalt

Einleitung Gedächtniskult und Philosophie der memoria . . . . . . . . . . . . .

13

Erstes Kapitel Der Konflikt zwischen »Bildern« und »Wörtern« . . . . . . . . . .

23

I.

Die Option Vicos: memoria und ingenium oder vom Vorrang der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Option Hegels: memoria und Intelligenz oder vom Vorrang der Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ingenium und Intelligenz, Subjektivität und Personalität oder: wie stellen »Erinnerungsbewußtsein« und »Selbstbewußtsein« sich dar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Erinnerung als »Bild«, als »Schrift« und als »geometrische Figur«. Zur memoria-Lehre der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Zweites Kapitel »Ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe«. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins zwischen reiner Transzendentalphilosophie und reiner Phänomenologie . . . . .

79

I. II. III. Iv. v. vI.

25 34

51

»Einerseits intellektuell, andererseits sinnlich«. Kants Theorie der »reinen« und der »möglichen« Bilder . . 83 Anschaulichkeit, Gestalt, Figur. Kant und der manieristische »disegno« . . . . . . . . . . . . . . . . 90 »Figürliche Synthesis«: Kants Probleme mit der Anschaulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Kants »Hypotypose« als »Versinnlichung« von Begriffen . . 110 Husserl versus Kant: »Anschauung« und »Anschaulichkeit« 113 »Primäre« und »sekundäre« Erinnerung: Husserls Entdeckung der »Retention« . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 | 9

vII. »Mittelbare« und »unmittelbare Erinnerung«: Schelers phänomenologische Auslegung des Satzes »ich erinnere mich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 VIII. Ein Fazit. Die Bilder der memoria oder von der Falte im Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Drittes Kapitel Ein Rückblick auf Augustinus und die Antike . . . . . . . . . . . . . . 141

I. Ii.

Augustins memoria als »geistiges Bild« . . . . . . . . . . . . . . . Was Aristoteles »vor Augen stellt« oder Erinnerung und theoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das »Bilderrätsel« in der memoria-Philosophie des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iv. Memoria und phantasia oder wie Aristoteles dem Gedächtnis ein »Sichtfeld« eröffnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . v. Reminiscentia: Aristoteles vergleicht die Erinnerung mit einer »Jagd« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vI. Aristoteles erfragt die Gründe aller »Versichtbarung« . . . VII. Das »Siegel« und das »Sehen«: Plotin versus Aristoteles oder Aristoteles versus Plotin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Erinnerung und Zeit: Augustins Auseinandersetzung mit Plotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ix. In regione dissimilitudinis: Augustins Bilddenken im »Reich der Unähnlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 151 155 161 166 169 173 178 189

Viertes Kapitel »Erkenntnisrelevante Anschaulichkeit«. Die Bilder im Erinnerungsbewußtsein zwischen Anschauung und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

I. Ii. III. Iv. v.

Veranschaulichung als »sprachbewegte Form« . . . . . . . . . »Anschauliches Denken« oder »erkennendes Anschauen«? Veranschaulichung als »Wertgefüge« . . . . . . . . . . . . . . . . . Das »innere Wort« des Erinnerungsbewußtseins im Konflikt mit der Philosophie der »normalen Sprache« . . Wahrnehmungsbewußtsein, Erinnerungsbewußtsein, Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 | inhalt

197 200 213 216 232

vI. Vom »Mythos des Subjektiven« und vom Ich als »Konstrukt des Gehirns«: sind wir unsere Synapsen? . . . 236 VII. Erkenntnisrelevante Veranschaulichung und »visual mental imagery« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Fünftes Kapitel Die Bilder der memoria: »Repräsentationen« oder »Wiederholungen«? Zur Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

I.

Die Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins und der neostrukturalistische Diskurs über »Differenz«: eine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida und Gilles Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ii. Das »Theater« der »unglücklichen«, der »nackten« und der »verkleideten Wiederholung«: Deleuze und Kierkegaard als Dramaturgen eines Theaters ohne Bilder . . . . . III. Über Bergsons »Universum der Bilder« und über die Differenz einer mémoire die »vorstellt« und einer mémoire die »wiederholt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iv. »Repräsentation im Begriff« und »Repräsentanz im Bild«

261

282

294 307

Sechstes Kapitel Erinnerungsbewußtsein, Bildbewußtsein, Personalität . . . . . . 325

I. Erinnerungsbewußtsein und »Theorie der Subjektivität« 326 Ii. Erinnerungsbewußtsein und Bildbewußtsein . . . . . . . . . . 352 III. Erinnerungsbewußtsein und Personalität . . . . . . . . . . . . . 358

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

inhalt | 11

Einleitung Gedächtniskult und Philosophie der memoria

»Wir sind stets Aktaion in dem, was wir betrachten. Immer muß etwas anderes betrachtet werden, das Wasser, Diana oder die Wälder, damit man von einem Bild seiner selbst erfüllt wird«. (Gilles Deleuze)

Den Knoten im Taschentuch – wer kennt ihn nicht, aber wer knüpft ihn noch, um sich gegen das Vergessen zu wappnen und seinen eigenen Bewußtseinshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen? Gedenken und Erinnern, in die Anonymität eines öffentlichen Kultes ausgewandert, haben gegenwärtig im Modeatelier der Kulturwissenschaften eine neue, jedoch nur trügerische Heimstatt gefunden, trügerisch deshalb, weil hier die einzelne Person von der Mühe der Selbstfindung durchs Erinnern nur dem Schein nach entlastet wird. So beugt man sich lieber und leichter über die Landkarte der »Gedächtnisorte« des Pierre Nora1 als über die Erinnerungsspuren in der eigenen Seele, über diese plötzlich auftauchenden, plötzlich vergehenden und ebenso plötzlich wiederkehrenden Bilder in der memoria, die vergangenes Leben in subjektive Gegenwärtigkeit herüberretten. Der philosophische Preis dieser Auslieferung der Selbsterinnerung an den öffentlichen Gedächtniskult ist hoch, und ob er einen gesellschaftlichen Mehrwert erbringt, bleibt fraglich. Eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, wozu könnte sie dienen, wenn nicht wiederum zu einem Kult, einem Kult der Individualität? Und was kann sie sein? Ein Nachdenken über die memoria als »besonderes Vermögen« des menschlichen Geistes zwischen Einbildungskraft und Verstand? Die Mischung eines Gegengifts gegen das Vergessen von Geschichte? Der anachronistische Versuch, der längst gestorbenen ars memoriae noch einmal Leben einzuhauchen? Oder gar ein Gang zum Altar der Göttin Mnemonsyne, der Mutter der Musen? Mit der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, wie sie in die| 13

sem Buch skizziert werden soll, ist derartiges nicht gemeint. Denn alles derartige ist weder schon Philosophie noch kommt es den wesentlichen Fragen auf die Spur, die hinter dem Rücken der von Aristoteles getroffenen Unterscheidung zwischen mneme und anamnesis, zwischen memoria und reminiscentia sich verstecken. Und auch diese Unterscheidung gibt noch keine Auskunft darüber, wie ein modernes philosophisches Denken mit dem Gedächtnis und der Erinnerung umgehen soll. Denn zum einen steht – aus einer philosophischen Sicht, die Ausschau hält nach Gründen und Begründungen – alles Gedenken und Erinnern zunächst einmal in Beziehung zur »Vergessenheit«: zu einer Vergessenheit, die nicht verwechselt werden darf mit unserem alltäglichen »Vergessen«. Wenn wir nämlich alltäglich und immer wieder vergessen (was durchaus hilfreich sein kann für unser Leben), dann vergessen wir »etwas«; dieses »etwas« entschwindet uns und wir müssen fragen, wohin es denn entschwindet. Zu antworten ist: es entschwindet in eine rätselhafte »Vergessenheit« – aber diese »Vergessenheit« darf nicht als bloßer Gegensatz zum Gedenken und Erinnern betrachtet werden; sie muß in den Blick genommen sein als jener dunkle Grund, aus dem die Helle unseres Gedenkens und Erinnnerns herkommt. Eine scharfe Kontur vermögen wir allerdings solch dunklem Grund, vermögen wir dieser »Vergessenheit« nicht zu geben; genau gesprochen: wir können die Vergessenheit nicht in Verstandesbegriffen denken. Deshalb nahm Platon in seiner Anamnesislehre Zuflucht zu dem Mythos eines schlicht »Vorgängigen«, an das wir uns »wiedererinnern«. Wenn wir aber nun schon die Vergessenheit nicht »denken« können, wie sollte es dann, zum einen, möglich sein, Gedächtnis und Erinnerung zu »denken«? Und zum anderen droht alles Denken, allein schon dadurch, daß es zugreift auf sie, die Inhalte unseres Gedächtnisses ebenso wie alles, dessen wir uns erinnern, zu etwas »Gedachtem« zu machen, es gleichsam unter der Hand in Gedachtes zu verwandeln. An uns selber erfahren wir indes, daß weder dasjenige, dessen wir uns in Glück oder Schmerz erinnern, noch auch jenes, was wir gänzlich unbeteiligt in unserem Gedächtnis nur aufbewahren, »bloß Gedachtes« sind. Nicht nur die memoria, die lediglich aufbewahrt, und die reminiscentia, die darüber hinaus das Aufbewahrte sich zueigen macht, nicht also nur Gedächtnis und Erinnerung sind verschieden und zu unterscheiden; verschieden und 14 | einleitung

zu unterscheiden von beiden ist auch das »reine Denken«. Trotzdem können wir gar nicht denken ohne Gedächtnis und Erinnerung: jeder »reine« Gedanke, den wir denken, wird alsbald (wie der Gedanke »Dreieck«) zu einer von unserer Einbildungskraft affizierten »Figur« oder gerät (wie der Gedanke »Hund«) zu einem »Bild«, und solche Figuren und Bilder sind es, derer wir uns erinnern. Würden beide zu »bloß Gedachten«, dann hätte das »Denken des Gedachten« die figurierenden ebenso wie die bildschöpferischen Leistungen der memoria und der reminiscentia verzehrt und verschlungen, auch unser Bewußtsein wäre dann nurmehr »rein gedacht« – und unser bewußtes Leben geriete zu einem »nur gedachten« Trug. Niemals haben deshalb aufmerksam beobachtende Philosophen die memoria und die reminiscentia von der imaginatio abgetrennt; selten genug jedoch haben sie untersucht, was den »Figuren« und den »Bildern« im Bewußtsein gemeinsam ist und was sie unterscheidet. Dies ist der Problemstand, den eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins in ihren Blick nimmt – um damit jedoch zugleich vor ein neues Problem zu geraten. Denn auch die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins muß Denken von Gedanken und Gedachtem sein, wenn sie Philosophie »der Erinnerung« werden und nicht ein ungefähres Nachdenken »über Erinnerung« bleiben soll: ein Nach-denken, das stets zu spät käme und der Erinnerung nur hinterherliefe. Soviel vorerst einmal zur Beantwortung der einen Frage, die ich eingangs stellte: Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, was kann sie sein? Zu sagen bleibt noch einiges zu der anderen Frage: wozu könnte sie dienen, wenn nicht zu einem neuen »Kult des Selbst«? Kein Wunder, daß der Problemtitel »Erinnerung« – als einer der Brennpunkte alles Fragens nach dem bewußten Leben – aus der Philosophie ausgewandert ist, nicht nur aus der an »gesellschaftlichen Bedürfnissen« orientierten, sondern auch aus der »akademischen« der universitären Lehre. Anders gewendet: kein Wunder, daß das Thema »Erinnerung« im Erlebnispark der Kulturwissenschaft, der auf den Ton der Zeit hörenden Erbin der »Geisteswissenschaften«, seinen Platz erhielt; denn die Philosophie selber hat dieses Thema ins Exil geschickt. Ein Blick auf die Literatur der letzten Jahrzehnte kann über das geringe Interesse belehren, welches die philosophische Zunft den Theorieproblemen entgegenbringt, die mit dem Thema »Erinnerung« sich verknüpfen. Da gibt es zwar eine gedächtniskult und philosophie der ›memoria‹ | 15

Hermeneutik der Geschichte als Erinnerung, da gibt es bei Herbert Marcuse gesellschaftskritische Verweise auf Erinnerung und Phantasie als Mittel der Befreiung, da stößt man auf Theodor Adornos Sätze über Tradition als unbewußte Erinnerung, Sätze, die auf Marcel Prousts mémoire involontaire zurückweisen, und da findet sich schließlich manch anderes dieser Art. Aber Erinnerung als selber aufzuklärende, der theoretischen Erschließung bedürftige Bewußtseinsgestalt hat keine Konjunktur, und wissenschaftliche Diskurse über Edmund Husserls Phänomenologie der »Retention« und »Protention« lassen sich, natürlich, in publikumswirksame Reden über postmodernes oder »nach-metaphysisches« Denken nicht einbringen. Selbst da, wo Analysen des Erinnerungsbewußtseins doch zu erwarten wären, auf dem Feld nämlich der an Kant und Fichte sich anschließenden »Theorie der Subjektivität«, kommt Erinnerung bestenfalls als Epiphaenomen, wenn nicht gar als Widerpart des epistemischen »Selbstbewußtseins« ins Bild. Paradigmatisch für diese tristesse ist das umfangreiche Buch von Charles Taylor Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, eine Beschreibung der Genesis des Selbstverständnisses des Menschen der Moderne auf neunhundert Seiten, publiziert im Jahr 1989; das Wort memory taucht hier, trotz mancher Überlegungen zu Augustinus, nur ein einziges Mal auf, und das auch lediglich in einer Fußnote. Und um mit der memory abzuschließen: in der anglo-amerikanischen Analytischen Philosophie scheint sie noch einmal zu Ehren zu kommen – aber zu doch sehr bescheidenen Ehren, denn hier fungiert sie lediglich als möglicher oder bestreitbarer Indikator individueller Identität im Kontext gesprochener Sprache. Wohin also soll man reisen, in welches Exil kann man der Erinnerung folgen? Zwei Länder haben ihr Zuflucht geboten: das schon genannte Land der Kulturwissenschaft – und das Land der Literatur. Daß memoria und reminiscentia in einer »Semiotik der Kultur als Gedächtnisraum«2 bestens aufgehoben sind, darf zumindest insofern bezweifelt werden, als die strukturell-philosophischen Fragen, die an Gedächtnis und Erinnerung gestellt werden müssen, in einer lediglich kulturhistorischen Zeichenlehre zur Verhandlung gar nicht kommen können; wenn hinwiederum Kulturwissenschaftler, mit Recht, feststellen müssen, daß die Philosophie »noch immer« durch eine »eigentümliche Erinnerungs-Vergessenheit sich aus16 | einleitung

zeichnet«3, dann bringen sie damit nur zum Ausdruck, daß sich ihr Forschungsfeld tatsächlich als Aufnahmeland der von den Philosophen exilierten memoria verstehen darf. Aber es bleibt auch das Land der Literatur zu durchwandern, und hier werden wir nun wirklich fündig. In den Romanen und Autobiographien eines Primo Levi, eines Jorge Semprún und eines Imre Kertész ist der Erinnerung ein ihr gemäßer Ort zugewiesen. In den Texten dieser Autoren kämpft die Erinnerung an erlittenes Leid mit der Hoffnung, dieses Leid zu vergessen; in ihnen erfährt der Kampf zwischen Erinnerung und der sie bedingenden »Vergessenheit« – Kertész bezeichnet sie in seinem Galeerentagebuch als von der Erinnerung an erfahrenes Schicksal abzuhebende »Schicksallosigkeit« – eine Darstellung in geschriebenen Wörtern und zugleich in anschaulichen Erinnerungsbildern. Die Philosophie, die »Vergessenheit« ja nicht in Begriffen denken kann und deshalb nicht weiß, wie sie das aus solcher Vergessenheit herkommende Erinnern denken soll, muß darum zu dieser Literatur in die Schule gehen – nicht um literarisch zu werden, sondern um zu lernen, daß Denken sich nicht erschöpft in einem »Denken des Gedachten«, des »bloß Gedachten«, sondern daß es sich weiten kann zu einem Denken des in der Erinnerung »darstellbar Gedachten«.4 Hier sehe ich den Zugang zu einer Philosophie des »figurierenden« und »in Bildern arbeitenden« Erinnerungsbewußtseins sich öffnen. Denn das Erinnerungsbewußtsein ist jener Raum, in dem Denken und Gedachtes ihre Abstraktheit abstreifen, um zu konkreter, »anschaulicher« Darstellung zu kommen – und hieran dürfte deutlich werden, wozu die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins dienen kann, nämlich: dem philosophischen Denken Anschaulichkeit und anschauliche Darstellbarkeit zurückzuerobern. Aus diesem Grund stehen die Überlegungen im ersten Kapitel dieses Buches unter dem Motto »der Konflikt zwischen Bildern und Wörtern«, man dürfte auch sagen »zwischen Bildern und Zeichen«. Denn Wörter sind, semantisch betrachtet, nichts anderes als Zeichen. Sie können möglicherweise Anschaulichkeit vermitteln, an sich selber sind sie indes nur Zeichen »für etwas«, für einen Gedanken, für eine Sache, auf die sie lediglich verweisen. Bilder hingegen sind figurierte Anschauung; insofern auch sie »für etwas« stehen, für einen Gedanken oder für eine Sache, bleiben sie zwar Zeichen – aber ihre Bezeichnungsweise ist eine gänzlich andere als die der bloßen gedächtniskult und philosophie der ›memoria‹ | 17

Wörter, denn sie bringen das durch sie Bezeichnete unmittelbar in eine anschauliche Figur. Unbeschadet des den Wörtern und den Bildern gemeinsamen Zeichencharakters läßt sich sagen: im Bild ist die Verweisungsfunktion des Wortes »auf« Gedanken oder Dinge in eine anschauliche Darstellung »von« Gedanken und Dingen verwandelt. Daher rührt der Konflikt zwischen Wörtern und Bildern – ein Konflikt, der bis in unser Bewußtsein hereinreicht und den zumal das Erinnerungsbewußtsein auszutragen hat. In ihm stoßen, unablässig, erinnerte Wortzeichen und anschauliche Erinnerungsbilder aufeinander. Auszutragen hat das Erinnerungsbewußtsein diesen Konflikt auch dann und gerade dann noch, wenn es sich als Bewußtsein eines mit sich identischen »Selbst« – als Selbstbewußtsein also und als Kristallisation von »Subjektivität« – zu verstehen sucht. Mit dem Wort »Subjektivität« ist jetzt ein Stichwort gefallen, dem wir im Kontext einer Philosophie der memoria angespannte und kritische Ausmerksamkeit schenken müssen: Aufmerksamkeit, die auf ein nicht leicht zu entwirrendes Problemfeld sich richtet, das wiederum erst vor dem Hintergrund der unterscheidenden Rede über memoria und reminiscentia sich auftut. Auf diesem Problemfeld ist die Frage zu verorten, wie Subjektivität – als auf sich zentriertes »Selbstbewußtsein« – zu einem »Erinnerungsbewußtsein« sich verhält, das zwar als »subjektiv« sich erfährt, aber in der Flut seiner erinnerten Wörter und Bilder eher zu versinken droht als »zu sich selbst« zu finden vermag. Auf diesem Problemfeld ist ferner die Frage zu stellen, in welcher Weise Subjektivität in einem Erinnerungsbewußtsein aufscheint, dessen »bleibende« Form im »bewegten« Fluß eines retentiven und protentiven »Bewußtseinsstroms«, wie Husserl ihn beschrieben hat, sich zeigt. Und auf diesem Problemfeld ist schließlich und vor allem ein Kantischer Gedanke zu prüfen: der Gedanke eines »stehenden und bleibenden Ich«, der Gedanke eines transzendentalen Subjekts, eines vom Philosophen erdachten »Ich denke«. Von ihm sagt Kant: »das Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können«, und zur Erklärung dieses Satzes fügt er umgehend hinzu: »denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte« (KrV, B 131 f.). Kaum einem Leser des zweiten Satzes ist bislang aufgefallen, daß er einen Schlüssel birgt zum Verständnis der Exilierung der memoria aus dem »reinen« philosophischen Denken. Es ist hier 18 | einleitung

noch nicht der Ort, diesen Satz ausführlich zu kommentieren, aber es ist unverzichtbar, bei ihm schon jetzt kurz zu verweilen. Erstens, um die Konturen einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins etwas genauer abzustecken; zweitens, um klar zu machen, warum Kant das »vorgestellt werden« und das »gedacht werden«, warum er die Vorstellung und das Denken derart eng zueinander rückt; und drittens, um wenigstens eine jener Wurzeln auszugraben, aus denen die Probleme herausgewachsen sind, welche die Philosophie mit dem Gedächtnis und mit der Erinnerung bis heute hat. Figuren und Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind gewiß auch »Vorstellungen«, Vorstellungen allerdings ganz besonderer Art. Sie zeigen nämlich, wie der römische Hausgott Janus, ein doppeltes Gesicht: eines, das zurückblickt nicht nur auf geistige, sondern auch auf sinnliche, erlebte Erfahrungen; und zugleich ein anderes, das vorausblickt auf eine Instanz, welche die mannigfaltigen Erinnerungsvorstellungen ordnen und zu einer Einheit derart fügen kann, daß man sagen darf »ich erinnere mich«. Das Ich in diesem Satz »ich erinnere mich« ist dann diese Instanz, die die zahlreichen, noch nicht miteinander verbundenen Vorstellungsbilder im Erinnerungsbewußtsein zu einem Sich-erinnern dieses Ich versammelt und eint, also zu einer »Synthesis« bringt. Von welcher Art muß dieses ordnende, versammelnde und einende Ich nun sein? Kann es ein Ich im Erinnerungsbewußtsein bleiben, oder muß es als ein reines, transzendentalisiertes »ich denke« begriffen werden, welches alles Vorstellen und Erinnern nur »begleiten« kann, aber auch begleiten »können muß«? Von der Unschärfe und Polysemie des Kantischen Vorstellungsbegriffes kann die Rede hier nicht sein. Aber gesagt muß werden, daß Vorstellungen im Erinnerungsbewußtsein nicht solche sind, wie nur ein transzendentales »ich denke« sie vor sich bringt und vor sich hinstellt, damit sie von ihm »gedacht werden« können.5 Denn sie zeigen dem Denken und insbesondere dem »stehenden und bleibenden Ich« des transzendentalen Denkens nur eines ihrer beiden Gesichter. Sie sind deshalb nicht geradewegs in »Gedachtes« zu verwandeln. Kants theoretisches Interesse bleibt beschränkt auf Vorstellungen, die von einem transzendentalen »ich denke« zu einer »gedachten Einheit« gebracht werden »können«, seine transzendentale Philosophie ist aus diesem Grund vor der memoria und vor der Eigenart der Erinnerungsvorstellungen zurückgewichen. Sie gedächtniskult und philosophie der ›memoria‹ | 19

hat auch vor der Rede »ich erinnere mich« die Flucht ergriffen und jene Seite der Erinnerungsvorstellung, die auf sinnliche Erfahrung zurückverweist, schlicht einem »empirischen Bewußtsein« überantwortet. Schon damit sind Kant die Theorieprobleme der memoria – und zumal die Strukturprobleme eines Erinnerungsbewußtseins, von dem in der Kritik der »reinen« Vernunft ja auch nie die Rede ist – entglitten. Darüber hinaus war Kant der »kritischen« Überzeugung, daß erst eine transzendentale Subjektivität, daß erst das reine »ich denke« jenseits aller Sinnlichkeit die »gedachten« Vorstellungen zu »meinen« Vorstellungen macht. Doch triftig ist solche Überzeugung nur dann, wenn man einzig die Verbindung dieses transzendental gedachten »ich denke« mit »gedachten« Vorstellungen als »ursprüngliche Verbindung« (KrV, B 133) versteht – und damit den Erinnerungsvorstellungen mit ihrem doppelten Antlitz jede »Ursprünglichkeit« abspricht. Wenn wir aber ohne Erinnerungsvorstellungen, ohne die Wörter, Figuren und Bilder der memoria – und damit ohne die veranschaulichende »Phantasie«, wie Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele betont – niemals denken können: sind dann unsere Erinnerungsbilder nicht noch viel »ursprünglicher« als jene nur gedachten Vorstellungen, die Kant der »transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins« unterwirft? Vom transzendentalen und spekulativen Idealismus – der »klassischen« deutschen Philosophie – wurde das Thema »Subjektivität« maßlos übersteigert, bis hin zum Begriff einer »absoluten Subjektivität«, und Hegel setzte in seiner Wissenschaft der Logik alles daran, diesen »Begriff« noch einmal zu übertrumpfen, ihn nämlich in die »Idee« als »die Einheit des Begriffs und der Realität« zu erheben.6 Aber in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dem Aufriß seines »Systems«, arbeitet sein Denken an dieser Realität sich nun auch ab: hier findet die »reale« Subjektivität des Menschen, und mit ihr die Erinnerung, eine subtile Darstellung. In der letzten Fassung dieses Werkes aus dem Jahr 1830, und zwar in den »Zusätzen«, die auf Mitschriften seiner Hörer beruhen, lesen wir den Satz: »Hier, in der Erinnerung, fassen wir unsere Subjektivität, unsere Innerlichkeit, ins Auge und bestimmen das Maß der Zeit nach dem Interesse, welches dieselbe für uns gehabt hat« (§ 452, Zusatz).7 20 | einleitung

Damit sind wir bei einem der beiden Texte angelangt, um welche die Überlegungen des ersten Kapitels dieses Buches über die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins kreisen. Der andere Text, den ich dem Hegelschen gegenüberstelle, steht in Giambattista Vicos Neuer Wissenschaft und lautet: »Die memoria ist memoria, wenn sie die Dinge wiedererinnert; sie ist fantasia, wenn sie die Dinge verändert und nachschafft; sie ist ingegno, wenn sie den Dingen eine neue Einfassung gibt und sie in eine taugliche, zu errichtende Ordnung bringt« (SNS § 819).8 Um mögliche Mißverständnisse von Anfang an auszuschließen: es geht hier nicht um einen historischen Vergleich Vicos mit Hegel. Hegel hat die Neue Wissenschaft vermutlich gar nicht gekannt, jedenfalls hat er sich niemals mit ihr auseinandergesetzt.9 Im Rahmen einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ist hier auch einzig eine Sachfrage von Interesse: die nach den die beiden Texte beherrschenden Leitbegriffen, also »Subjektivität« und »ingenium«. In der deutschen Geistesgeschichte hat die Philosophie des »ingenium«, wie sie in der Renaissance, im Barock und dann noch von Vico erörtert wurde, ihre Verkürzung zu einer Ästhetik des »Genies« erfahren. Die Triade memoria-fantasia-ingegno ist indes noch strikt philosophisch-methodologisch konturiert, Vico will mit ihr die Einheit des menschlichen Geistes in der Differenz von drei »Grundoperationen« zur Darstellung bringen. In moderner Sprache: unter der Direktive des im Bewußtsein »Ordnung« schaffenden ingegno sollen das vom Gedächtnis imprägnierte Erinnern an Dinge und das imaginative Vorstellen, dieses »Nachschaffen« von Dingen, zu einer »Synthese« kommen.10 Unterläuft eine solche »ingeniöse Synthese« denn nicht die sematologische Differenz zwischen erinnerten Sprachzeichen – Wörtern also, die Anschaulichkeit bestenfalls vermitteln – und erinnernden Vorstellungsbildern in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit? Anders gesagt: vermag Vicos ingenium-Konzept den »Konflikt zwischen Wörtern und Bildern« im Erinnerungsbewußtsein zu steuern? Macht Vicos Begriff des ingegno, dieser Leitbegriff seiner metafisica della mente umana, einen solchen Konflikt vielleicht sogar vermeidbar? Das Gewicht dieser Frage wird spürbar, wenn wir Vicos »ingeniöse Geistestrinität« memoria-fantagedächtniskult und philosophie der ›memoria‹ | 21

sia-ingegno mit Hegels in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften entworfenen Lehre vom »theoretischen Geist« konfrontieren; denn diese Lehre lebt geradezu vom Streit zwischen Bildern und Zeichen oder »Namen«, sie basiert auf der »sematologischen Differenz« von Bild und Wort – und rückt damit die Rede von »unserer Subjektivität« als einer »Innerlichkeit«, die wir »in der Erinnerung ins Auge fassen« sollen, in ein oszillierendes Licht. Der »Mnemonik der Alten«, welcher er den Vorwurf macht, »die Namen in Bilder zu verwandeln« und damit den Geist »auf die Folter gesetzt« zu haben, stellt Hegel den Satz entgegen: »Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken« (Enz § 462). Sollte tatsächlich erst ein »bildloses Verstehen« uns zum »Denken« bringen? Wer unser Denken lösen wollte von den Bildern der Welt, die wir betrachten und erinnern, der käme auch niemals – Gilles Deleuze sagt das sehr treffend, und er folgt damit der Erzählung des Giordano Bruno vom Bilderjäger Aktaion – zu einem »Bild seiner selbst«.11

22 | einleitung

Erstes Kapitel Der Konflikt zwischen »Bildern« und »Wörtern«

Kants Entwurf einer transzendentalen Philosophie des »Ich denke überhaupt« ebenso wie die an Kant (wenngleich kritisch, nämlich an der Idee eines monistischen »Systems« orientierten) Philosophien Hegels, Fichtes und Schellings haben in die europäische Geistesgeschichte einen tiefen Schnitt eingetragen, der nicht lediglich aus der Optik auf den durch diese Zäsur ermöglichten Gewinn betrachtet werden darf, sondern auch mit einem Blick auf die solchen Gewinn begleitenden Verluste. Denn neben dem von der »klassischen« deutschen Philosophie hell – und sogar bis zur Blendung überhell – ausgeleuchteten Weg zum »Selbstbewußtsein«, zur »absoluten Subjektivität« und zum »spekulativen Begriff« mußten andere Pfade des Denkens ins Dunkel geraten: nicht zuletzt die Pfade einer Reflexion über die memoria und ihre die erlebte Welt erinnernden Bilder, einer Reflexion mithin über unser Erinnerungs- und Bildbewußtsein. Schon Kant hatte derartige Pfade nicht verfolgen wollen, weil sie seiner Meinung nach (davon wird im zweiten Kapitel die Rede sein) nur in die »Psychologie« und zurück zur »Empirie« führen konnten. Mit welchen Schritten der Kantkritiker Hegel diese Pfade nun doch wieder betrat, aber zugleich als Zugänge zu seinem »System« neu kartographierte, soll in diesem ersten Kapitel untersucht werden: entlang den beiden in der Einleitung vorgeführten Sätzen Vicos und Hegels über memoria und Erinnerung im Gefälle der sematologischen Differenz zwischen Bild und Wort. Am Vorrang des Bildes vor dem Wortzeichen, an dem Giambattista Vico festhält (im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben) und demgegenüber am Vorrang der Zeichen und Wörter vor allen Bildern, für den Hegel votiert (im zweiten Abschnitt dargestellt), läßt sich nicht nur ein Ergebnis jener Zäsur abnehmen, mit der sich die klassische deutsche Philosophie von der (wie man um 1800 sagte) »vormaligen Metaphysik« distanzierte; darüber hinaus läßt sich an diesem Ergebnis verdeutlichen, welche neuen Fragestellungen eine philosophische Erkundung des Erinnerungsbewußtseins mit seiner | 23

Bilderwelt von nun an als für die philosophische »Theorie« irrelevant erscheinen ließen. Ich werde die These formulieren und begründen, daß mit der von Hegel vollzogenen »Aufhebung« der in Bildern arbeitenden memoria in ein von jedweder Bildlichkeit befreites, Er-Innerung genanntes »In-sich-gehen des Geistes« das Thema »veranschaulichendes Erinnerungsbewußtsein« zu einem Trauma der Philosophie geraten ist – und das für lange Zeit. Im Ausgang von der Konfrontation des Vicoschen Denkmodells mit demjenigen Hegels wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels die Grundlegung einer Philosophie des personalen Erinnerungsbewußtseins skizziert (das sechste und letzte Kapitel des Buches knüpft an diese Grundlegung an). Der umgangssprachliche Satz »ich erinnere mich« – strikt zu unterscheiden von dem Satz »ich habe Erinnerungen«, welcher der Analytischen Philosophie als Paradigma dient – soll im Hinblick auf seine philosophische Relevanz geprüft werden. Dabei gerät ein Darstellungsproblem in den Blick, insofern nämlich zu untersuchen ist, ob und wie das Ich in der Aussage »ich denke« im Ich derAussage »ich erinnere mich« darstellbar sein und zur Darstellung kommen kann – und zwar einzig im umgreifenden Gesamtgefüge der Person. Weder Kants transzendentales »Ich denke überhaupt« noch Hegels Konzept einer Er-Innerung als Insichgehen »des Geistes« eröffnen eine Perspektive auf die Darstellbarkeit ichbezüglichen »Selbstbewußtseins« im personalen Erinnerungsbewußtsein, im Sich-erinnern einer Person. Die Frage nach dem Modus, in dem die Aussage »ich denke« zu der Aussage »ich erinnere mich« sich verhält (oder die Frage, in welcher Weise das Denken einer Person, die sich als »Ich« bezeichnet, sich auf das »Ich« in dem von Bildern durchzogenen Sicherinnern dieser Person bezieht) wird damit zu einer für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins basalen Frage. * * *

24 | erstes kapitel

I. Die Option Vicos: memoria und ingenium oder vom Vorrang der Bilder Ebenso wie Hobbes seinem Leviathan hat Vico der Neuen Wissenschaft ein Bild vorangestellt: die berühmte »dipintura« der Metaphysik, der »Frau mit den geflügelten Schläfen« (SNS § 2). Aber der Text, den Hobbes schrieb, ist lesbar und verständlich, ohne daß man sein Frontispiz betrachten müßte; denn der abgebildete Leviathan »illustriert« lediglich die Überlegungen, die Hobbes in geschriebene Wörter längst gekleidet hat. Ganz anders Vicos »dipintura«: wer sie nicht aufmerksam betrachtet, dem muß die Scienza Nuova unverständlich bleiben. Deren Idee ist nämlich mit dem Bild der »Dame Metaphysik« nicht zusätzlich und nachträglich erläutert; vielmehr gründet sich die gesamte Textur des von seinem Verfasser immer wieder überarbeiteten Buches auf dieses von allem Anfang an in den Blick zu nehmende Bild. Vico selber betont das, schon in seinen ersten Sätzen: das Bild »soll dem Leser helfen, die Idee dieses Werkes vor der Lektüre zu erfassen, um sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter im Gedächtnis zu behalten« (SNS § 1). Wir horchen auf: einmal, weil memoria und fantasia die Bühne der Neuen Wissenschaft schon in der ersten Szene betreten, und sodann, weil Vico doch nichts anderes sagt als: am Anfang aller lesbaren geschriebenen Wörter steht ein Bild. Und daß artikulierte Wörter von anschaulichen Bildern auch immer herkommen, gerade dies will Vicos »neue« Wissenschaft ja dartun. Man denke nur an die universali fantastici, an jene Bildschöpfungen des Mythos, in denen die Scienza Nuova den Urgrund aller rationalen Sprache mit ihren zu Texten geronnenen Wörtern erblickt. Am Anfang aller Wörter, die wir hören oder sprechen, stehen Bilder, die wir malen und sehen – wie das Bild des donnernden Jupiter, das in der Geschichte der Kultur allererste vom menschlichen Geist »erfundene« Bild (SNS § 377). An den Vorrang der Bilder will Vico erinnern, und seine eingangs zitierten Sätze über die memoria zunächst als Wiedererinnerung, dann als bildschaffende Phantasie und schließlich als ordnendes Ingenium werden überhaupt nur anhand dieser Führungslinie wirklich verständlich. Wir müssen darum dieser Führungslinie aufmerksam folgen – zurück zur »dipintura« und weiterschreitend zu ihrer Auslegung in Vicos ganzem Werk – , um der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 25

seiner Philosophie der Erinnerung und der erinnernden Bilder auf die Spur zu kommen. Das Frontispiz der Scienza Nuova ist nicht lediglich ein Bild, das »etwas« darstellt: die Gestalt der Metaphysik in ihrer »ekstatischen Haltung«; das Auge Gottes »mit dem Blick seiner Vorsehung«; die Statue des Homer, des »wahren« Homer, der für Vico keine historische Person ist, sondern wiederum ein Bild, ein Bild nämlich, in welchem die in der memoria der Griechen aufbewahrten Erzählungen von den Heroen Achill und Odysseus sich spiegeln, Erzählungen, die von Mund zu Mund gingen, weil die Wörter der Schrift noch gar nicht erfunden waren. Erst Vicos »Metaphysik des menschlichen Geistes« vermag diesen »wahren Homer« zu sehen, und von ihr erst wird gesehen, wer und was der »wahre« Homer wirklich war. Ein Bild nun, das Dinge und Figuren darstellt, ist die »dipintura« zwar auch, aber nicht nur. Denn darüber hinaus ist sie ein »Bild der Bilder« oder ein Bild, das jene zwei Momente enthält, aus denen die »Bildlichkeit« eines jeden Bildes besteht: aus dem Sehen und dem Gesehenwerden – aus der »Reflexivität« mithin des Bildes. Man muß dieses Frontispiz nur genauer betrachten als es üblicherweise geschieht: da können die philosophischen Blicke der Metaphysik dem Vorsehungsblick Gottes entgegensehen, weil der Lichtstrahl aus dem alles übersehenden göttlichen Auge längst den »konvexen Edelstein« getroffen hat, mit dem die Dame Metaphysik »ihre Brust schmückt« (SNS § 5). Und dieser Edelstein reflektiert jetzt den ewigen Blick des göttlichen Vorhersehens gebrochen in die Zeit und die Menschengeschichte hinein – auf Homer, das Spiegelbild des »heroischen Zeitalters« (SNS § 808). Vicos Frontispiz ist das Bild eines »Denkens in Bildern«, wie die Neue Wissenschaft es nicht minder deutlich vorführt, indem sie in die Mitte ihrer Geistestriade memoria-fantasia-ingegno ein Vermögen rückt, das Bilder erzeugt. Genauer noch: das Bilddenken Vicos in der Scienza Nuova ist ein Denken der Reflexivität des »Sehens« und des »Gesehenwerdens«, und als solches trägt es auch seine metafisica della mente umana. »Der menschliche Geist«, so lautet ein Axiom im ersten Buch der Neuen Wissenschaft, das deren »Prinzipien« enthält, »neigt wegen der Sinne natürlicherweise dazu, sich selbst draußen, im Körper zu sehen, und nur unter großen Schwierigkeiten mittels der Reflexion sich selbst zu begreifen« (SNS § 236). Was hier mit »Reflexion« ge26 | erstes kapitel

meint ist, hat nichts zu tun mit jenem Streit um die »Reflexionsphilosophie«, den die »klassischen« deutschen Philosophen austrugen. Vicos Axiom erklärt sich aus seinem »Denken in Bildern« und besagt: der menschliche Geist begreift sich selbst einzig dann, wenn er das »natürliche Sehen« des von Platon gemalten Bildes seiner Gebanntheit in den Leib »zurückwendet« zu einem Hinsehen auf sich selber, zu einem »Sehen«, in dem dieser Geist im Bild der Triade memoria-fantasia-ingegno »gesehen werden« kann. Diese Triade transportiert sehr wohl eine »Theorie« der Einheit des Geistes in seinen voneinander zu differenzierenden Vollzügen, in welchen er »sich selbst begreift«; aber die Vicosche »Theorie« schöpft ihr Leben aus dem Bild, in dem sie sich selber veranschaulicht. »Theoretisches« Denken an Bilder zu binden oder gar »in Bildern« zu denken, das gilt »kritischen« Philosophen als Verwechslung von »Reflexion« und deren »Darstellung«, als unkritische Vermischung gänzlich verschiedener Diskurse. Es ist ja auch nicht leicht zu begreifen, wie ein Denken in anschaulichen Bildern von einem »reinen« Denken »gedacht« werden soll – und so erklärt sich, warum Philosophen immer wieder, geradezu verzweifelt, aus Kants Konzept der Darstellung oder »Hypotypose« als der »Versinnlichung« von Begriffen (KdU § 59) eine Antwort auf diese Frage heraushören möchten. Aber Begriffe lassen sich nicht »versinnlichen« ohne etwas ganz anderes zu werden als »Begriffe«; deshalb bleibt auch Kant in der bildlosen Rede stecken, daß der »schematischen« Darstellung ein sinnlicher Anschauungsinhalt »a priori gegeben« und der »symbolischen« Darstellung die sinnliche Anschauung »untergelegt« werden muß. Kants Darstellungsdenken bleibt – er sagt es selber – »demonstrativ« und »analogisch«, den Bildern »im« Denken und Erinnern hält es nicht stand. Der »Theorieblick« solcher Art Philosophie verhindert, daß dem »Bild« die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wird wie dem »Wort«, dem bloßen »Zeichen« des Gedankens. Angesichts des kartesischen Wortzeichens »ego cogito« hat Vico solche Weise zu philosophieren eine »Barbarei der Reflexion« genannt, eine Barbarei »der abstrakten Wörter« (SNS § 699), die noch verhängnisvoller sei als eine »Barbarei der Sinne« (SNS § 1106) – und deshalb hat er seine Geistestriade in Bildern anschaulich beschrieben: die Phantasie oder Imagination ist nichts anderes als ein »Wiederhervorspringen« von Erinnerungen und das der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 27

Ingenium nichts anderes als ein »Arbeiten« an den Dingen, derer man sich erinnert (SNS § 699). Für Vico ist »Reflexion« anschauliche, in Sicht nehmende Darstellung und »Darstellung« die anschaulich gemachte Reflexion, die in anschauliche Sicht genommene Theorie. Schon in seinem Metaphysischen Buch, lange Jahre vor dem Entwurf der Neuen Wissenschaft, hatte Vico die Phantasie »das Auge des ingenium« genannt1 und von ihr als dem »gewissesten« Vermögen unseres Geistes gesprochen, weil wir mit ihr »uns Bilder machen« (LM 118/119). Bereits in dieser Schrift hatte er zudem die memoria und die reminiscentia mit der Phantasie oder Imagination identifiziert und dazu erklärt: »wir können uns nichts anderes vorstellen als dasjenige, woran wir uns erinnern« (LM 124/125); dem ingenium hatte er dabei die Aufgabe zugewiesen, das Zusammenmaß der Dinge zu sehen«, das Zusammenmaß mithin auch der Einbildungskraft und der Erinnerung. Das ingenium gilt ihm darum als »das Vermögen, Getrenntes und Verschiedenes zu einer Einheit zu verbinden« (LM 126/127). Auch hier spricht Vico also von einer »Synthesis« – aber nicht in der abstrakten Gestalt einer »transzendentalen Apperzeption«, sondern in der konkreten Figur eines verknüpfenden Grundes für das Sehen und Gesehenwerden von anschaulichen Bildern, die wir uns vorstellen und derer wir uns erinnern. Die Dignität, die schon im Liber metaphysicus dem Bild und dem »Denken in Bildern« zugesprochen wird und die in der »dipintura« ihre Bekräftigung findet, ist ablesbar auch an Vicos erstaunlicher Überlegung: »das göttliche Wahre ist ein umfassendes, gleichsam plastisches Bild der Dinge; das menschliche Wahre ist nur eine zeichenhafte Skizze, ein flächiges Bild, sozusagen ein Tafelbild« (LM 36/37). Dem entspricht, daß Vico alle menschliche Erkennntnis mit einem Sehen vergleicht, welches den Zusammenhang der Dinge leicht aus seinem Gesichtskreis verliert (LM 86/87), und darum vermag er auch scharf zu unterscheiden zwischen einem Bild und einem bloßen Zeichen: »das erkennende Denken« – so argumentiert er gegen Descartes – »ist nicht der Grund dafür, daß ich vernünftiger Geist bin; es ist lediglich dessen Zeichen« (LM 52/53). Das »Bild« der Vernünftigkeit des menschlichen Geistes ist aus Vicos »Sicht« die Verknüpfung des ingenium mit der memoria und mit der phantasia – eines ingenium, das selber »Ordnung« im Bewußtsein schafft und dazu nicht erst der kartesischen Regulae ad directionem ingenii bedarf. 28 | erstes kapitel

Die beiden entscheidenden Texte der Scienza Nuova Seconda, die sich mit der Trias memoria-fantasia-ingegno befassen, lenken nun den Blick des Lesers auf die Anfänge aller Kultur, auf die mythischpoetische »Vorzeit« der Menschengeschichte. An sie zu erinnern macht Vicos Buch sich ja zur Aufgabe, und damit wird sofort klar, daß die memoria zu den tragenden Säulen des Vicoschen Theoriegebäudes gehört – aber immer nur in inniger Verbindung mit der Imagination und dem Ingenium. Ein Jahrhundert vor Vico hatte ein anderer Wissenschaftslehrer, nämlich Francis Bacon von Verulam, zwar ebenfalls von der Funktion der memoria für die Wissenschaft gesprochen und erklärt: »historia ad memoriam refertur, poesia ad phantasiam, philosophia ad rationem2; aber gerade diesen Sätzen ist abzulesen, inwiefern die Scienza Nuova jetzt wirklich »neu« ist. Denn Bacons memoria soll lediglich die geschriebene Historie aufbewahren; die memoria Vicos will hingegen an eine ungeschriebene Geschichte erinnern, an eine »Geschichte vor der Geschichte«, an eine Geschichte vor dem vertexteten Wort – an eine »phantastische« Geschichte mythischer Bilder. Deshalb darf Vico, anders als Baco von Verulam, die phantasia mit der memoria verknüpfen und die Darstellung der »phantastischen Geschichte« des mythischen Zeitalters einem inventiven Zugriff der »Poesie« zuordnen. In der Architektonik der Neuen Wissenschaft wird der Phantasie oder Imagination ebenso wie der Poesie und der ars poetica ein ganz neuer Stellenwert zugebilligt. Mehr noch: Vico ersetzt die von Francis Bacon geforderte »Festschreibung« philosophischer Theorie – die Verweisung der philosophia allein an die ratio – durch ein wesentlich flexibleres Denkmodell, nämlich durch die Einbindung alles philosophischen Denkens in den ingeniösen Geist, der fähig ist, »Neues zu finden«. Die Scienza Nuova folgt damit jener Überlegung, die Vico bereits im Jahre 1712 in der zweiten Risposta niedergeschrieben hatte: »das ingenium ist die Fähigkeit zum Auffinden neuer Sachverhalte, und die Phantasie oder Einbildungskraft ist die Mutter der poetischen Erfindungen. Die Grammatiker, die dies nicht zur Kenntnis nehmen, sagen vieles über die memoria, die Göttin der Dichter, aber wenig Wahres; und ob Lernen nichts anderes sei als sich wiedererinnern, wie Sokrates und Platon fälschlicherweise annahmen, das lasse ich offen. Denn ich wollte in meinem kleinen Buch nicht die Probleme anderer abhandeln« (LM 216/217). »Wenig der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 29

Wahres« über die memoria sagt auch, wer lediglich im Duktus der Mnemotechnik, der ars memoriae, über sie spricht; denn die memoria wird sich »technischen« Vorschriften niemals unterwerfen. Vico nennt sie darum eine dem Geist »eingeborene Kraft«, eine in-genita virtus, womit er sie noch einmal mehr in unmittelbare Nähe zum in-genium rückt.3 Auf diese Weise gewinnt die Erinnerung auch Anteil am Ingenium als dem »ritrovatore di cose nuove«, und Vicos grundlegendes, »topisches« Konzept der inventio, des Auffindens und Wiederfindens, kann an die Stelle der anamnesis, der platonischen »Wiedererinnerung« treten. Die Trias memoria-fantasia-ingegno, derart auf die inventio fokussiert, trägt mithin den Anlauf der Neuen Wissenschaft auf ein Wiederfinden der bildhaft-mythischen Anfänge der Kultur, die durch die geschriebenen Wörter der homerischen Epen »entstellt« und »verdorben« wurden (SNS § 808). Im dritten Buch der Scienza Nuova Seconda, das Vicos Entdekkung des »wahren« Homer beschreibt – also der noch nicht zu geschriebenen Texten geronnenen Dichtung des Altertums – stellt der § 819 dem Leser jene Phase der Kulturentwicklung vor Augen, in der »die gewöhnliche Schrift noch nicht erfunden«, das geschriebene Wort noch nicht zur Herrschaft gekommen war und die Menschen folglich über ein »bewundernswertes Gedächtnis« verfügen können mußten, über eine memoria noch bar jeglicher »Reflexion«, aber geführt von einer starken, Vorstellungsbilder erzeugenden Phantasie und einem die Imagination »schärfenden« Ingenium. Nur dann nämlich, so erläutert Vico, wenn memoria, fantasia und ingegno zu einer Einheit sich fügen, vermag der menschliche Geist sich auch an Einzelnes zu erinnern, mit der Phantasie das Erinnerte festzuhalten und ihm Bedeutung zu geben, vor allem aber kraft seines Ingeniums das Einzelne auf ein Allgemeines zu beziehen – aber nicht etwa auf einen abstrahierten »Allgemeinbegriff«, sondern auf einen vom Ingenium »gezeichneten Charakter«, der in ikonischer Relation zum Erinnerten und Vorgestellten steht.4 Die Einheit der drei Geistesvermögen, so fügt Vico umgehend hinzu, ist darin gegründet, daß sie »ihre Wurzeln im Körper haben« und »ihre Kraft aus dem sinnlichen Leib beziehen«. Vico nimmt mit diesen Sätzen jene »rationale und abstrakte« Philosophie aufs Korn, »die heute diejenige der Gelehrten ist«: in Opposition zu den in Neapel einflußreichen Kartesianern plädiert er für eine »aus sinnlicher Empfindung herrüh30 | erstes kapitel

rende und von der Imagination geprägte« Philosophie, wie sie bei den ersten Menschen entstehen mußte, »die noch keine rationale Urteilskraft besaßen, wohl aber kräftige Sinne« (SNS § 375). Mit derartigen Äußerungen hat sich Vico schon unter den Denkern des 18. Jahrhunderts keine Freunde erworben und noch heute dürften sie befremden – solange man nicht beachtet, in welcher Absicht sie formuliert sind. Die Neue Wissenschaft bettet nämlich ihre Rede von der Einheit der memoria, der phantasia und des ingenium in eine den Rationalismus bekämpfende »Aitiologie des Geistes« ein, in ein Denkmodell seiner »sinnlichen Anfänge«, die »wieder aufgefunden« werden müssen, weil sie nach Vicos Überzeugung in den philosophischen Systemen des Descartes und des Spinoza zu Verlust gegangen sind. Vicos Aitiologie des Geistes ist eine »Systemkritik«, die aus dem Kontext der »Irrationalitätsprobleme« des 18. Jahrhunderts5, des »age of reason and sentiment«, nicht herausgelöst werden darf; aber dem Vicoschen Rückverweis auf die »sinnlichen Anfänge« allen Geistes und aller Kultur wird man nur dann gerecht, wenn man auch darauf hört, wie die Scienza Nuova von den »ersten Menschen« der mythischen Vorgeschichte spricht: sie werden »blöde, stumpfsinnige und schreckliche Bestien« genannt (SNS § 374), insofern sie »die Sinnlichkeit des Menschengeschlechts« verkörperten und noch »kein Denkvermögen besaßen« (SNS § 375), während die »modernen« Philosophen dessen »Intellekt« zum Ausdruck bringen (SNS § 363). Noch einmal mehr ist nicht zu verkennen: Vico denkt in Bildern. Seine Aitiologie des Geistes ruht also ganz offensichtlich einer »Historiogenesis« der Kulturentwicklung auf. Verliert sie damit nicht ihren Wert für eine theoretisch geführte Philosophie der memoria und des Erinnerungs-Bewußtseins, wie wir sie skizzieren wollen? Um diese ernstzunehmende Frage beantworten zu können, müssen wir uns in der Denklandschaft Giambattista Vicos noch genauer umsehen. Ohne die historiogenetische Aitiologie preiszugeben, ohne von der Idee abzulassen, daß nur aus der Wurzel der mythenbildenden Phantasie der ersten Menschen die Zweige einer zum »Intellekt« hinführenden Kulturentwicklung herauswachsen konnten, stilisiert Vico den Satz »die Phantasie ist nichts anderes als ein Wiederhervorspringen von Erinnerungen und das Ingenium nichts anderes als der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 31

die Arbeit an den Dingen, derer man sich erinnert« zu einem Axiom mit genereller Geltung. Die Trias memoria-fantasia-ingegno bleibt der Leitsatz der Historiogenesis und gerät gleichzeitig zu einem Methodensatz »theoretischen« philosophischen Forschens: »der menschliche Geist übt seine ganze Kraft in diesen drei sehr schönen Vermögen, die ihm vom Körper kommen; und alle drei gehören zu der ersten Tätigkeit des Geistes, deren regelnde Kunst die Topik ist. Sie ist die Kunst des Findens, und wie zuerst das Finden der Dinge und erst danach das Urteilen über die Dinge kommt, so war es der Kindheit der Welt angemessen, sich in der ersten Tätigkeit des Geistes zu üben« (SNS § 699). Für eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ist gerade dieser methodologische Aspekt der Vicoschen Geistestriade von Interesse und Gewicht. Es dürfte hilfreich sein, den Methodensatz Vicos in klares Licht zu rücken. Was ist denn eigentlich gesagt, wenn das phantasiegetragene Vorstellen, das Erinnern sowie das ingeniöse Ordnen des Vorgestellten und Erinnerten als »erste Tätigkeiten« des menschlichen Geistes bezeichnet werden, die gleichwohl von den körperlichen Sinnen herkommen? Und was ist gemeint, wenn diese drei geistigen Operationen der »regelnden Kunst der Topik« unterstellt sein sollen? Wir können uns das am besten verdeutlichen, wenn wir einmal Kants Essay Was heißt: sich im Denken orientieren? aufschlagen, wo nachzulesen ist, wie der Begriff ingenium auf die romantische Schwundstufe eines »Genies in seinem kühnen Schwunge« sich herabgesetzt sieht, auf die Schwundstufe eines Ingenium, das den verbindenden »Faden« zur Vernunft längst »abgestreift« hat.6 Anders als das von Kant vorgeführte »bezaubernde« Genie lebt Vicos »findendes« ingenium durchaus noch von seiner Vernünftigkeit. Gegenüber Matteo Peregrini, der behauptet hatte, das auf dichterischer Begabung beruhende ingegno sei lediglich dem Schönen zugewandt und einzig der intelletto dem Wahren7 , aber auch gegenüber Emmanuele Tesauro, der unter dem ingegno nur eine Begabung zum metaphorischen Sprechen verstehen wollte8, erklärt Vico kategorisch: »ohne die Ausrichtung auf Wahrheit hat die Schärfe des ingenium keinen Bestand«, und geradezu absurd nennt er die Meinung, das ingenium »liege mit der Wahrheit im Kampf«.9 Für Vico ist das Ingenium ein »veritatives« Vermögen des Geistes, durchaus nicht eines, das den Faden zur Vernunft »abgestreift« hätte; und weil 32 | erstes kapitel

es »vom Körper herkommt«, weil es auch durch sinnliche Erfahrung bedingt ist, vermag es sogar die Sinnlichkeit an einen vernünftigen, »veritativen«, nämlich die sinnliche Erfahrung »wahr machenden« Faden zu heften. Zudem faßt Vico das ingenium als Vermögen des »Findens« auf. Aber was meint nun dieses Finden? Im topischen Gefälle der Vicoschen Methodologie meint es ein »Sich-zurechtfinden« in der erfahrbaren Welt, in der »Lebenswelt«, wie Husserl sagt; und im Konstruktionsgefälle der Neuen Wissenschaft meint es das »Wiederfinden« der phantasiereichen, anschaulichen Vorstellungsweise der »poetischen« ersten Menschen. Bleiben wir vorerst bei der Topik des Sich-zurecht-findens unter den Dingen der Welt. Da geht es schlicht um ein Sich-orientieren in der »Lebenswelt«. Vico will sich nicht erst, wie Kant, im Denken orientieren, sondern er fragt, der topischen Methode gemäß, wie man sich wohl zum Denken hin orientieren, wie man urteilende Denkakte wohl vorbereiten könne. Aus diesem Grund müssen die drei »ersten« Tätigkeiten des Geistes aus der sinnlichen Dingwahrnehmung »herkommen« – und insofern sind diese drei Tätigkeiten nicht nur »erste«, sondern »grundlegende«; auf sie gründet sich die Wahrheitskompetenz des ingenium. Daß das Erinnern von Vico den grundlegenden Operationen des menschlichen Geistes zugerechnet wird, ist erstaunlich genug; noch erstaunlicher aber ist, daß die memoria am »veritativen« Status des ingenium teilhaben darf. Und die Bilder, ihr »Vorrang« vor den Wörtern? Mit ihnen gerät die zweite Bedeutung der inventio, das »Wiederfinden« oder ritruovare, in den Blick – und damit das konstruktivistische Verfahren der Neuen Wissenschaft. Der Anfang der Kulturgeschichte ist historiogenetisch und die »Grundlegung« des menschlichen Geistes ist aitiologisch in der poetischen Metaphysik wiederzufinden, weil diese in anschaulichen Bildern – zuallererst im erfundenen Bild des donnernden und Blitze schleudernden Jupiter – zur Darstellung kam: in »poetischen Charakteren, die später mit gewöhnlichen Redeweisen ausgedrückt und schließlich in gewöhnlichen Schriftzeichen geschrieben wurden« (SNS § 456), also in gesprochenen und geschriebenen Wörtern. Damit sind wir wieder bei der »dipintura« der Scienza Nuova angelangt und bei der »Idea dell’opera«, die uns nichts anderes bedeuten will als: »am Anfang war das Bild«.

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II. Die Option Hegels: memoria und Intelligenz oder vom Vorrang der Wörter Eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins will etwas anderes sein als die alte, mit der Rhetorik verknüpfte ars memoriae; denn sie verlangt nach begriffsscharfer »Theorie«, nicht nur nach sprachgeschärfter »Kunst«. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins kann deshalb auch eine lediglich psychologisch geführte Hermeneutik der memoria nicht bleiben – und dennoch: sobald sie sich anschickt, ihren Erwägungen »theoretische« Kontur zu geben, gerät sie vor eine schwer zu öffnende Schranke. Denn das Erinnern gleicht einem strömenden Fluß von Vorstellungsbildern, der die Dämme einer mit fest-stellenden Begriffen arbeitenden »Theorie« immer wieder zu unterspülen droht. Das Erinnern und das Sich-erinnern: beide stehen auf einer Grenzscheide; auf deren einer Seite sind sie der begrifflichen »Theorie« bedürftig, auf deren anderer Seite bleiben sie gleichwohl auf eine »Kunst« sprachlicher und bildsprachlicher Darstellung angewiesen. Kein Wunder also, daß die »Gedächtniskunst« ihre Herkunft aus der Rhetorik nie verleugnen konnte, ja nicht einmal durfte. Kein Wunder aber zudem, daß auch eine »theoretisch« geführte Philosophie des Erinnerungsbewußtseins noch für eine »Kunst« sich offenhalten muß: für eine Kunst der Darstellung ihrer selbst. Der alte Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie, zwischen ars und scientia, flammt in einer Philosophie des sich erinnernden Bewußtseins wieder auf. Der Grund dieses Konfliktes liegt in der memoria selber: insofern sie nämlich »denkbar« werden soll in philosophischer Theorie und zugleich »darstellbar« bleiben muß durch eine Kunst der Bilder und eine Kunst der Wörter. Über die Erinnerung und das Erinnerungsbewußtseins nachzudenken heißt mithin, darüber zu reflektieren, was »Denkbarkeit« und »Darstellbarkeit« voneinander unterscheidet und, vielleicht, miteinander eint. Damit steht der Philosoph des Erinnerungsbewußtseins vor einem diffizilen epistemologischen Problem. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins gleicht deshalb dem Wagnis einer Entdeckungsreise mit dem Ziel, die memoria als einen solchen zweipoligen »Grund« und das Erinnern als einen »Grundvollzug« des Denkens und des Darstellens freizulegen, als ein inventives Unternehmen also, das einem »Grundbegriff« nach34 | erstes kapitel

forscht, und zwar einem »offenen« Grundbegriff: offen nämlich zum einen für die Darstellung erinnerter Erfahrungsbilder und offen zum anderen für die Signaturen vernünftig-theoretischen Denkens. Eben damit aber auch offen für die Frage, wie denn mit jenem selten durchschauten Antagonismus umzugehen ist, der zwischen der griechischen anamnesis und der christlichen memoria besteht, dem von Platon skizzierten Paradigma einer Wiedererinnerung an »apriorische« Voraussetzungen jedweder Erkenntnis10 und dem von Augustinus entworfenen Modell einer »Erinnerungserzählung«, das heißt: der Erzählung von einem Bewußtsein, welches noch im Schatten seiner Zeitlichkeit des ewigen göttlichen Lichtes und seiner Wahrheit gedenkt – einem Modell also weniger der Erkenntnisbegründung als einer »innerlichen« Selbstbesinnung, einer Entdekkung der Innerlichkeit als »unserer Subjektivität«, wie Hegel dann in seiner Enzyklopädie (§ 452 Zusatz) formuliert. Die im platonischen Menon (81 d) gezeichnete Figur einer vor-gewußten Wahrheit, die »suchend und lernend« immer wieder erinnert werden soll, und die in Augustins Confessiones mit höchster rhetorischer Kunst geführte Schilderung eines »Abgrunds im menschlichen Bewußtsein« (X, 2), wo Vergangenheitserfahrung und Zukunftshoffnung zu einer Gegenwärtigkeit sich verknüpfen, in welcher der Erinnernde »sich selber begegnen« (X, 8) und das Erinnerte »als wahr erkennen« (X, 10) will: beide Denkbilder haben die europäische Ideengeschichte geprägt, und es sieht nun so aus, als hätten sie in der Philosophie Hegels die überzeugende Vermittlung ihrer Gegensätzlichkeit gefunden. Doch dieses Aussehen trügt, und zur Triftigkeit einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins gehört, sich über diesen Trug Rechenschaft zu geben. Hegels Satz, demzufolge in der Erinnerung »unsere Innerlichkeit« als »unsere Subjektivität« ins Auge zu fassen sei, ist zwar ein Grund-Satz der christlich-augustinischen memoria-Lehre. Aber Hegel fügt ihn seinem System nur ein, um ihn einer Methode des »Übergriffs« zu unterwerfen: dem Übergriff des »Denkens« oder der »Intelligenz« (Enz § 465), einem Übergriff des Denkens über die ihm lediglich »vorangehenden Stufen der Anschauung und der Vorstellung« (Enz § 467 Zusatz). Und weil in Hegels Systematik die Vorstellung »die drei Stufen der Erinnerung, der Einbildungskraft und des Gedächtnisses umfaßt« (Enz § 445 Zusatz), deshalb gerät auch die der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 35

memoria-Lehre Augustins, in ihrer alten Gestalt als Erzählung von einem seines Gottes gedenkenden Erinnerungsbewußtsein, jetzt unter die neue Gestalt einer Herrschaft der gar nicht mehr »erzählenden«, sondern »methodisch denkenden« Vernunft – unter die Herrschaft eben der »Intelligenz«, die in der Anschauung, in der Vorstellung, in Erinnerung und Gedächtnis allein sich selber »wiedererkennt« (Enz § 465) und gerade darum sich wiedererkennen kann, weil sie diese als ihre bloßen Vorstufen »übergriffen« hat. Anders und einfacher gesagt: die christlich-augustinische memoriaPhilosophie ist zwar grundsätzlich aufgenommen in Hegels Philosophie des »theoretischen Geistes«; aber methodisch wird sie gleichwohl »aufgehoben«, nämlich transformiert in das System einer Vernunft, die in ihrer eigenen memoria nur mehr sich selber wiederfinden will. Und auch Platons anamnesis, kraft der die unsterbliche Seele dasjenige in ihre Erinnerung zurückruft, »was sie früher schon gewußt hat« (Menon 81 c), wird von Hegel »aufgehoben« in den »nächtlichen Schacht der Intelligenz«, die in ihrer »freien Existenz« sich der Unfreiheit der an Anschauungen, an Vorstellungen und damit an »Bilder« gefesselten memoria erinnert (Enz § 453). Leistet also die Hegelsche Philosophie wirklich eine »Versöhnung« der platonischen anamnesis und der christlichen memoria, wie man oftmals lesen und hören kann? Öffnet sich nicht eher ein Abgrund zwischen der Anamnesis Platons, die ein mythisch Vor-gewußtes »suchend und lernend« erinnern will, und der anamnetischen Methode Hegels als der Methode einer »Systematisierung der Intelligenz« (Enz § 464), und zwar der Intelligenz als Statthalterin der Freiheit des »Denkens«? Zu fragen bleibt schließlich auch, ob der Hegelschen Idee, alle Philosophie »als Er-Innerung« zu begreifen, nicht eine andere Idee entgegengestellt werden muß: die Idee einer Philosophie »der« und »aus« Erinnerung, der Erinnerung mithin als eines »Grundvollzuges« bereits des alltäglichen Bewußtseins und deswegen als eines Grundbegriffes »für« das Philosophieren? Hegel hatte schon seine Phaenomenologie, diese Analyse der Gestaltungen des Bewußtseins, auf das Ziel eines »absoluten Wissens« hin entworfen und den Weg zu diesem Ziel ein »Insichgehen« des Geistes genannt, einen Weg der Philosophie »als« Er-innerung alles dessen, was dem absoluten Wissen »vorhergeht« und in ihm »aufgehoben« werden soll (WW Bd. 3, 590 f.) – sein Begriff der Er-innerung ist also 36 | erstes kapitel

von Anfang an und bis hinein in das System der Enzyklopädie die Chiffre methodisch geführter »Aufhebung«. Diese Philosophie »als« Erinnerung bleibt der Widerpart einer Philosophie »aus« Erinnerung und »aus« einem Erinnerungsbewußtsein. Vor geraumer Zeit ließ ein italienischer Gelehrter sich hören mit der Mahnung, »Vico ohne Hegel« zu lesen.11 Angesichts der neoidealistischen Vicolektüren Benedetto Croces und Giovanni Gentiles war diese Mahnung berechtigt; wer sie indes zur Forschungsmaxime machen wollte, wäre nicht gut beraten. Denn die Schluchten, die zwischen Vicos metafisica della mente umana und Hegels System des absoluten Geistes sich auftun, sind zwar abgrundtief, aber einem unverstellten Blick kann nicht verborgen bleiben, was den letzten Humanisten und den letzten Idealisten dennoch verbindet: ihr »Denken der Anfänge« nämlich, ihre dringlichen Hinweise auf »erste« Gedanken, ihre »Aitiologie«. Und die wiederum abgrundtiefe Verschiedenheit ihres »Denkens der Anfänge« liefert einem klugen Philosophieren hinreichend Stoff zum Nachdenken: zu einem Nachdenken über Alternativen, denen der Philosoph nicht ausweichen kann. Für Vicos Aitiologie gilt: die »ersten Gedanken« der Menschen sind in anschauliche Bilder der angeschauten Welt gekleidet, und die Philosophie hat zu solcher Anschaulichkeit zurückzufinden. Hegel hingegen weiß zwar sehr wohl von dem »Ringen der Seele mit dem Endlichen«, mit den auftauchenden und wieder vergehenden Vorstellungen oder anschaulichen Bildern im »endlichen Geist« (Enz § 441 Zusatz), aber für sein System bergen diese Bilder keine »ersten Gedanken«; dieses System »absoluter« Subjektivität setzt seinen »Anfang« in ein Denken, das »für sich selber ist und sich hiermit seinen Gegenstand selbst erzeugt«, es setzt seinen Anfang in einen »freien Akt« des Denkens (Enz § 17), einen Akt der »Intelligenz«, der die Anschaulichkeit der Bilder »aufhebt«. Damit sind auch die Vicoschen Lehren vom »findenden ingenium« und von der topischen »Kunst des Findens« als einer »ersten Tätigkeit« des Geistes »aufgehoben« in die »Tätigkeit der Intelligenz«, von der Hegel sagt, sie habe zwar auch »die Vernunft zu finden«, aber das sei nur ein »Schein«, der darin seine »Widerlegung« hat, daß die Intelligenz »das Gefundene als ihr eigenes« setzt (Enz § 445), Vernunft also immer schon besitzt. Und wenn die Intelligenz nun die »gefundene« Vernunft »als ihr eigenes gesetzt« hat, ist sie zu der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 37

einem »bestimmten und begriffsgemäßen Wissen« (ebd.) gelangt: »sie weiß, daß, was gedacht ist, ist; und daß, was ist, nur ist, insofern es Gedanke ist« (Enz § 465). Das ist Hegels »Denken der Änfänge«, das ist seine Aitiologie der in einem »freien« Denken »gefundenen« – und nicht mehr aus anschaulich-endlichen Bildern erst »herauszufindenden« – Vernünftigkeit und Vernunft.12 Selbst wenn Hegel Vicos Philosophie des Geistes gekannt hätte – er hätte mit ihr nichts anfangen können und sicherlich auch nicht wollen: eben das aber ist ein Grund, Vico nicht »ohne Hegel« zu lesen, sondern den »letzten Humanisten« mit dem letzten Idealisten zu konfrontieren. Er-innerung unter der spekulativen Chiffre eines In-sich-gehens des Geistes, das ist die »anfängliche«, stets vorausgesetzte und immer wieder neu ausgefaltete Theoriefigur im Denken Hegels; sie trägt seine in die Form einer Logik gebrachte Metaphysik ebenso wie seine Philosophie der Geschichte. Demgemäß heißt es in der Wissenschaft der Logik, daß »das Wissen sich aus dem unmittelbaren Sein erinnert« (WW Bd. 6, 13), und in der Phänomenologie des Geistes, daß das Schicksal uns mit den Werken vergangener Kunst – »Werken der Muse«, denen »die Kraft des Geistes fehlt« – eine »eingehüllte Erinnerung« an ihre frühere Wirklichkeit schenkt, nämlich »die Er-innerung des in ihnen noch veräußerten Geistes« (WW Bd. 3, 547 f.). Schon für den frühen Hegel ist das Wissen des Geistes, seine Vollendung, »sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt« (ebd., 590). Und auf der Linie seiner kritischen Überhöhung der Metaphysik des Spinoza denkt Hegel eine Bewegung des Geistes aus seiner »Substanzialität« zu einer »Subjektivität«, die alle ihr vorausgehenden Gestalten des Geistes »zugrunde« gehen läßt oder in den »Grund« des Geistes »aufhebt« – eine Bewegung des Insichgehens des Geistes, die wiederum »nur durch die Darstellung des Systems« zu »rechtfertigen« ist (ebd., 22 f.). Er-innerung bleibt bei Hegel die Aufhebung und das »Zugrundegehen« dessen, was vor-idealistische und Vichianische memoria einmal war: anschauliches und bildhaftes Erinnerungsbewußtsein. So erklärt sich, warum in der Enzyklopädie die »Subjektivität« zu einer herrscherlichen »Macht« gerät (Enz § 463), zu einer Macht auch über die in der Vicoschen Trias memoria-fantasia-ingegno aufbewahrten Bilder. 38 | erstes kapitel

Ganz anders konturiert sich Giambattista Vicos Denken des »Anfänglichen«. Vor dem Hintergrund seiner Geistestriade kann dieser Philosoph notieren: »Ebenso wie die elementaren Größen der Geometrie zu durchlaufen sind, wenn man ein geometrisches Wort erstellen, das heißt: wenn man irgendein Größenverhältnis beweisen will, genauso muß man die Elemente des Alphabets durchgehen, um ein beliebiges stimmliches Wort zusammenzusetzen, damit man das gesprochene Wort aus allen und allein denjenigen Elementen zusammenfügen kann, derer es bedarf, und damit niemand mehr, weniger oder andere Buchstaben schreibt und ausspricht als für dieses Wort erforderlich. Wenn Kinder sich längere Zeit mit solchen einfachen und kleinen Formen befassen, um zu lernen schnell und richtig zu lesen, dann beginnen sie, ihren Geist von der Leiblichkeit der Sinne zu reinigen, und sie werden fähig, reine Gedanken zu begreifen«.13 Diese schlichten Sätze sind nicht aus der Feder eines »kritischen« Philosophen geflossen, der wie Kant nur »gedachte« Vorstellungen als »ursprüngliche« gelten läßt, und schon gar nicht aus jener eines »spekulativen« Denkers wie Hegel, der nur das, was »ursprünglich gedacht« ist, auch »sein« lassen will; diese Sätze bekräftigen vielmehr das Eingeständnis eines angesehenen Zeichentheoretikers: »Semiotik ist die theoretische Reflexion über das, was Semiose ist – mithin ist Semiotiker der, der nie genau weiß, was Semiose ist, der aber sein Leben darauf verwetten würde, daß es sie gibt«.14 Denn Vico nimmt in seinem Text ja tatsächlich, ohne erklären zu können, was eine »Semiose« ist (aber auch er wettet offensichtlich darauf, daß es sie gibt) das »Anfängliche« alles Erkennens und Denkens aus einer semiotischen Zeichenperspektive in den Blick; und in dieser Perspektive verschränkt er die »ersten Tätigkeiten« des menschlichen Geistes miteinander: das topische Finden mit dem anschaulichen Vorstellen und mit dem Ordnen der erinnerten Vorstellungen. Damit skizziert unser Philosoph die Linie einer Semiose, einer »Zeichengeschichte«, die aus anfänglichen Elementen der Geometrie und der Sprache zum »reinen Gedanken« allererst hinführt. Für die Einfügung der Geometrie in eine solche Semiose hat Vico triftige Gründe. Der mit algebraischen Ziffern arbeitenden »analytischen« Geometrie des Descartes deshalb abhold, weil sie nicht anschaulich verfährt, greift er auf die »synthetische« Geometrie Euklids zurück, die auf der Betrachtung von Linien, Dreiecken der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 39

und Kreisen beruht, auf eine figurale Geometrie, die Leibniz als »geometria imaginaria« bezeichnet hatte15; hier beginnt das wissenschaftliche Denken nicht mit den Kürzeln der Algebra, sondern mit der Anschauung von gezeichneten »Bildern«. Und Vico fährt nun fort: erst wenn alle elementaren geometrischen Figuren »durchlaufen« sind, erst wenn jene Figur gefunden ist, die einen geometrischen Beweis zu stützen vermag, könne man auch ein geometrisches »Wort«, einen Beweissatz, formulieren. Wiederum beginnt der von Vico gewiesene Weg bei der anschaulichen Bildfigur, um zu den »abstrakten« Wortzeichen der Sprache hinzuführen: als Weg einer »Semiose« vom vorgestellten Bildzeichen zu einer »Signatur« im reinen Denken. Dieselbe Fährte beschreitet Vico als Sprachphilosoph: in einem topischen Suchlauf »durch das Alphabet« sollen jene Buchstabenelemente gefunden werden, derer ein »Wort« wirklich bedarf und aus denen es »zusammenzusetzen« ist: Vico überträgt also das Strukturgesetz der anschaulich geführten geometrischen »Synthesis« auf die »Zeichengeschichte« der Sprache. Und mit dem Hinweis auf die Kinder, die nur dann, wenn sie sich zunächst »mit solchen einfachen und kleinen Formen befassen« auch »fähig werden, reine Gedanken zu begreifen«, erinnert Vico nicht nur an die »Kinder des Menschengeschlechts«, die noch »kein Denkvermögen besaßen, wohl aber eine äußerst starke Phantasie« (vgl. SNS § 375), aus welcher der intelletto, die Vernunft der Philosophen, sich erst entwickeln mußte; indem er überdies auf das alte philosophische Axiom zurückgreift »nichts ist in der Vernunft, was nicht vorher in den Sinnen war« (SNS § 363) erhebt er die sinnliche Anschauung auch zu einer Bedingung, ohne die es Vernunft und sogar »reine Gedanken« niemals geben kann. Vicos Denken des »Anfänglichen« hält diese Bedingung fest: am Anfang jeden Denkens und jedes Wortes steht ein anschauliches Bild – das ist Vicos »Theorie der Semiose«.16 Wer nun – mit Recht – darauf verweisen möchte, daß doch auch für Hegel das Anschauen, Vorstellen und Sich-erinnern »Momente« sind, in denen die Intelligenz sich »realisiert« (Enz § 445), der darf dabei nicht übersehen, daß Hegel diesen »Momenten« einen ihnen »immanenten Sinn« schon deshalb weder zusprechen kann noch zusprechen darf, weil er sie in einen »freien« Akt des Denkens »aufheben« will. Die »Reinigung« des Geistes von der »Leiblichkeit der Sinne«, von welcher Vico spricht, beläßt der An40 | erstes kapitel

schauung, Vorstellung und Erinnerung durchaus einen ihnen selber innewohnenden »Sinn«; diese Rede nimmt lediglich den antiken Gedanken der katharsis, der Mühe um einen »unbefleckten« Geist wieder auf und meint daher etwas gänzlich anderes als Hegels Formel vom »zu Grunde gehen« des Anschauens, Vorstellens und Sicherinnerns in einem Denken, welches zu wissen glaubt, daß »das,was ist, nur ist, insofern es Gedanke ist«. Hegels Denkmodell eines In-sich-gehen des Geistes, diese idealistische Antwort auf die Frage nach dem Erinnerungsbewußtsein einer konkreten und gelebten Subjektivität, diese Transformation der memoria in ein spekulatives Theorem, gibt Anlaß zu wiederholen: die Philosophie selber, nicht zuletzt die klassische deutsche Philosophie, hat die memoria und die reminiscentia als der theoretischen Aufklärung bedürftige Tatsachen des Bewußtseins in die Verbannung geschickt. Das erste Exilierungsdekret unterschrieb Kant, als er die Erörterung des Themas »was dem Gedächtnis hinderlich oder förderlich sei« einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht überließ und den befremdenden Satz notierte: »wer den Naturursachen nachgrübelt, worauf z. B. das Erinnerungsvermögen beruhen möge, kann über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und her (nach dem Cartesius) vernünfteln; muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht, mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist«.17 Fichte erhebt dagegen zwar Einspruch: »das Erinnerungsvermögen ist nicht etwa ein zufälliges Phänomen im Bewußtsein, das man der Psychologie unter der Benennung eines Gedächtnisses überlassen müßte, sondern es ist ein notwendiger und unabtrennlicher Bestandteil des Bewußtseins […] ohne dieses Vermögen wäre das Bewußtsein das in einzelne Momente ohne Zusammenhang zerrissene, und es käme nicht einmal zu einem Bewußtsein des Ich als des Bleibenden im Wechsel der Zustände« – aber er hüllt sich in Schweigen, sobald die Rede von einer »Aufbewahrung der Bilder« im Erinnerungsbewußtsein ist: Bilder im Bewußtsein, das wäre »krasser Materialismus«.18 Und einen solchen »Ikonoklasmus« setzt auch Schelling noch in Szene, der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 41

wenn er in seinen späten Münchner Vorlesungen erklärt, angesichts des transzendentalen Ich sei alle Philosophie »nichts anderes als eine Anamnese«, »nichts anderes als eine Erinnerung« an das, was dieses Ich einmal war, bevor es »zu sich selbst gekommen« ist, nichts anderes als eine Erinnerung an die »transzendentale Vergangenheit« des Ich und an das, was es in dieser Vergangenheit »getan und gelitten« hat.19 Von Bildern, die ein »Getan- und Gelittenhaben« im Bewußtsein aufbewahren, von Bildern, die ein in wirklicher Vergangenheit, in erlebter Zeit geschehenes »Getan- und Gelittenhaben« anschaulich erinnern, will auch Schelling nicht sprechen. Mit der Ausmerzung dieser Bilder weisen Fichte und Schelling auf das entscheidende Motiv für die Exilierung der memoria aus der klassischen deutschen Philosophie. Wenn wir uns jetzt in jene von Hegel selber verfaßten oder von Hörern seiner Vorlesungen mitgeschriebenen Abschnitte der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften vertiefen, die unter dem mißverständlichen Rubrum »Psychologie« mit dem Titel »Der theoretische Geist« versehen sind, dann erwartet uns eine Überraschung: diese Texte arbeiten sich ab an den im Bewußtsein aufbewahrten anschaulichen Bildern der räumlichen und zeitlichen Dinge, ja, auch Hegel stellt seinem Leser eine Semiotik der Bilder und Zeichen im Bewußtsein vor, vermittels derer die »uns scheinbar fremden« Dinge der sinnlich erfahrenen Welt »die Form eines Erinnerten, Subjektiven und Vernünftigen« erhalten (Enz § 443 Zusatz). Die zwanzig Paragraphen über den »theoretischen Geist« – deren »semiotischer« Grundzug von der Forschung bislang nicht hinreichend gewürdigt wurde – dokumentieren in »signifikanter« Weise, worum es Hegel in seinem Philosophieren geht: um ein »mit wahrhaftem Inhalt angefülltes Wissen« (Enz § 445 Zusatz), das zustande kommen soll durch ein »Tun der Intelligenz«, deren »Momente« das Anschauen, Vorstellen, Phantasieren und Erinnern bleiben müssen als »von Verstand und Geist durchdrungene« Momente, in denen die Erkenntnisarbeit der Intelligenz sich »realisieren« kann (Enz § 445). Hegel ist überzeugt: einzig dann, wenn die Intelligenz sich zusammen-tut mit Anschauung, Vorstellung, Phantasie und Erinnerung, wenn sie alle sich fügen müssen zu einer »Totalität des Erkennens«, wird denkbar, daß der Geist die »Äußerlichkeit« der angeschauten Dinge zu einem ihm »Innerlichen« macht. Das nennt er die »Erin42 | erstes kapitel

nerung des Geistes« (Enz § 445 Zusatz). Hegel besteht aber auch darauf, daß allein die »Intelligenz« die einzelnen Schritte eines solchen In-sich-gehens des Geistes »bestimmt«, daß allein sie es ist, die zwischen den angeschauten Objekten und dem anschauenden Subjekt zu unterscheiden vermag, und daß folglich auch nur sie (dies ist der Kantische »Rest« in seiner Philosophie des Geistes) eine »Objektivierung« der Welt leisten kann, die jetzt eine Er-innerung der Dinge der Welt – ihre »Aufhebung« ins Innere des Geistes – möglich werden läßt. »Anschauung« im Hegelschen Sinn ist mithin nicht lediglich ein sinnliches Betrachten oder Wahrnehmen der Dinge, sondern in einem ganz spezifischen Verständnis der »Beginn des Erkennens«, der erste Schritt der in-sich-gehenden Intelligenz selber (Enz § 449 mit Zusatz). »Der Geist«, so heißt es nachdrücklich, »setzt die Anschauung als die seinige, durchdringt sie, macht sie zu etwas Innerlichem«, ja, er »erinnert sich in ihr« (Enz § 450 Zusatz). Diese Idee einer »Totalität« des theoretischen Geistes, die das Anschauen, Vorstellen und Erinnern »übergreift«, ist bestechend. Sie besticht insofern, als sie einer Isolierung der Erinnerung zu einem besonderen Vermögen der Seele keinen Anhalt mehr bietet. Die Rede von zu unterscheidenden »Vermögen der Seele« nennt Hegel denn auch »vernunftlos«, weil sie den Geist zu einer »verknöcherten, mechanischen Sammlung macht« (Enz § 445). Mit anderen Worten: Hegels Idee einer Totalität des Geistes besticht, weil sie das Erinnern als wesentlichen Geistvollzug wieder zu philosophischen Ehren bringt. Andererseits stellt sich mit dieser Hegelschen Idee aber auch die heikle Frage, was denn ein vom »theoretischen« Geist, von der Intelligenz als »einfachem Begriff des Erkennens«, als Begriff des »wahrhaften Erkennens«, ja sogar als »Gewißheit der Vernunft« (Enz § 445) übergriffenes Erinnerungsbewußtsein an sich selber noch bleiben darf. Denn Hegel spricht ja nicht nur der Anschauung und der Vorstellung, er spricht auch der memoria jedweden »immanenten Sinn« ausdrücklich ab – und er tut das, um alle drei in den Begriff eines »wahrhaften Erkennens« aufheben zu können: »reinige« doch einzig solches Erkennen die angeschauten, vorgestellten und erinnerten Dinge von allem, was an ihnen »äußerlich, zufällig und nichtig sich zeigt« (Enz § 445 Zusatz). Dem Begriff des »wahrhaften Erkennens« hinwiederum liegt der logische Begriff mit seinem Urteils- und Schluß-Moment »zu Grunde«, und erst der der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 43

»Schluß« der spekulativen Logik, dieser Zusammenschluß der Begriffsmomente, ist auch der »Grund« der Hegelschen Idee einer »Totalität des Geistes« (Enz § 467).20 Gewiß: Hegel bringt die Erinnerung wieder zu philosophischen Ehren – aber zugleich »verurteilt« er sie zu einer Verehrung der »Schluß«-Bewegung seines spekulativen Systems. Erst ein »gereinigtes« und von »spekulativer« Logik dominiertes Erkennen also gilt Hegel als freies Erkennen, und jenen Denkern, welche die Erinnerung »isolieren« oder gar die »Befriedigung« rühmen, die sie gewähren kann, stellt er die »wahre Befriedigung« vor Augen, die das Erinnern schenkt, wenn es »Moment der Totalität« des Geistes bleibt (Enz § 445). Doch Anschauung, Vorstellung und Erinnerung gewähren keine unwahre Befriedigung, wie Hegel unterstellt, und die memoria mit ihren Erinnerungsbildern, das ist Hegel zu antworten, birgt durchaus einen ihr »immanenten Sinn«: gerade unsere Unfreiheit ist ihr abzulesen, unsere Verstrickung in Schicksal und Geschichte – unser Einbehaltensein in Kontingenz, in jene »Nichtigkeit«, der Hegel stets aus dem Wege ging. Eben diese Kontingenz kommt in Bildern des Erinnerungsbewußtseins zur Darstellung, und die plötzlich auftauchenden und versinkenden Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind es zumal, die jene »Signatur« der Subjektivität zu verwischen scheinen, die den Titel »Selbstbewußtsein« trägt.21 »Aufhebung« der Erinnerungsbilder in vom vorstellungsfreien Denken gesetzte Zeichen, Ersetzung dieser Bilder durch Wörter und Namen, Übersetzung bildlicher Anschaulichkeit in rein sprachliche Signifikanz, das ist tatsächlich die Option Hegels, das ist die sematologische Binnenstruktur seiner spekulativen Philosophie eines In-sich-gehens des Geistes, die von der »alten« memoria nurmehr den Namen einer »Er-innerung« bewahrt. Anders als Giambattista Vico, dessen Trias memoria-phantasia-ingenium auf den Vorrang anschaulicher Bildlichkeit sich stützt, plädiert Hegel für den Vorrang einer einzig vom Denken beherrschten Wörtlichkeit, und hohe Berge scheinen sich zu türmen zwischen Vicos Kommentar zu seiner »dipintura« – »wir zeigen hier ein Bild, das dem Leser helfen soll, die Idee der Neuen Wissenschaft vor der Lektüre, vor dem Entziffern ihrer Wörter zu erfassen, und sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter in der Erinnerung zu behalten« – und dem so 44 | erstes kapitel

ganz anderen Satz Hegels: »bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes […] es ist in Namen, daß wir denken« (Enz § 462). Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins hat diese beiden fluchtartig auseinanderstrebenden Perspektiven in einem ihnen gemeinsamen Augenpunkt miteinander zu verbinden: durch den Versuch, eine »Sematologie« zu entwerfen, die einsichtig machen kann, wie anschauliche Erinnerungsbilder und Wortzeichen des Denkens sich »ineinander reflektieren«, ohne daß die einen in die anderen »aufgehoben« werden müßten. Auch unter diesem Aspekt geben Vico und Hegel dem Philosophen Anlaß zum Nachdenken. Unbestreitbar bleibt ja doch, daß beide Denker von der Anschauung ausgehen, und Anschauung ist nun einmal der Entstehungsgrund der Bilder im Bewußtsein. Hegel wendet da allerdings ein, diese Bilder seien schließlich »noch nicht gedacht« (Enz § 453 Zusatz), denn sie bleiben an äußere Dinge gefesselt und werden deshalb niemals »frei«. Aber das für den Philosophen des »theoretischen« Geistes unfreie Bild, das in die freie Intelligenz aufgehoben werden soll, holt diesen Philosophen sehr schnell wieder ein. Denn Hegel malt ja nun selber das berühmte Bild der Intelligenz als »nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtsein wären« (Enz § 453), und das heißt doch wohl: auch Name, Wort und Begriff der Intelligenz bedürfen eines Bildes, wenn dargestellt sein soll, was eigentlich von der Intelligenz zur »Aufhebung«, was von ihr »übergriffen« wird und was sie denn »er-innert«. Ohne ihre Verbildlichung als »nächtlicher Schacht« bliebe »Intelligenz« ein leeres, zwar denkbares, niemals aber darstellbares Wort. Hegels Rede von der Intelligenz als einem Schacht, der die in unserer Innerlichkeit »schlafenden Bilder« (Enz § 453 Zusatz) »bewußtlos aufbewahrt«22, muß unsere ganz besondere Aufmerksamkeit auf sich lenken; denn die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ist nicht allein einer »Kunst« bildsprachlicher Darstellung bedürftig, sie kann sich überdies auch nicht umstandslos mit der »theoretischen« These Hegels abfinden, Erinnerungsbilder würden in der memoria oder gar in der reminiscentia aufbewahrt, »ohne daß sie im Bewußtsein wären«. Zu fragen ist nämlich: sind das Bilder, die in unserem Geist lediglich schlummern, um vom Denken aufgeder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 45

weckt zu werden – oder sind es vom Denken vergessene Bilder? Will Hegel der Intelligenz, dem freien Denken zugestehen, sogar über das Vergessen und die »Vergessenheit« zu herrschen? Vergessen als »Schlaf«: das ist ein eindringliches Bild in der großen Literatur, Hegel dürfte mit ihm vertraut gewesen sein. Bei Vergil schon können wir lesen: »die Seelen, denen das Fatum andere Leiber bestimmt, schöpfen aus Lethes Welle heiteres Naß – so trinken sie langes Vergessen«, die schlafend ihrer Wiederverkörperung harrenden Seelen laben sich an ihrer Vergessenheit. Baudelaire wird dieses Bild sich zueigen machen und von einem »alcôve obscure des souvenirs« sprechen, Valéry wird sagen: »s’endormir c’est oublier«.23 Hegels »schlafende Bilder« zeigen jedenfalls ein Dilemma an: der »theoretische« Geist, der sich selber »zur Wahrheit der Seele und des Bewußtseins bestimmt« (Enz § 440), kommt nicht umhin, die in eine solche Wahrheit noch nicht »aufgehobenen« Bilder des Erinnerungsbewußtseins« gleichsam in den Schlaf zu wiegen. Und wenn Hegel unentwegt betont, diese schlafenden Bilder seien »noch nicht gedacht«, dann heißt das im Umkehrschluß: in ihnen ist jenes theoretische Denken noch vergessen, das sie »aufheben« möchte in Zeichen und Namen. Hinter Hegels von anschaulichen Bildern zu gedachten Zeichen führenden Semiose verbirgt sich »in Wahrheit« der Konflikt zwischen Erinnerung und Vergessenheit. Zu fragen ist aber auch, ob eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins anknüpfen darf an Hegels Bild des »nächtlichen Schachts«, der Angeschautes und Erinnertes »bewußtlos« aufbewahrt. Zu antworten ist: sie darf das schon deshalb nicht, weil Hegel selber dem »schlafenden Bild« zugestehen muß: dieses Bild »ist das Meinige, es gehört mir an« (Enz § 453 Zusatz). Wie könnte aber ein Erinnerungsbild »das meine« sein, wie könnte es wohl »mir« angehören, ohne daß ich seines Aufscheinens, in welcher Weise auch immer – und sei es »nur auf formelle Weise«, wie Hegel einschränkend erklärt – bewußt wäre? Im Duktus seines Vernunftsystems wiederholt er lediglich den Refrain seiner Philosophie des »theoretischen Geistes«: »das Bild ist noch nicht gedacht« und: »daher habe ich noch nicht die volle Macht über die im Schacht meiner Innerlichkeit schlafenden Bilder« (ebd.); um der Bedrohlichkeit der Erinnerungsbilder eine solche Macht entgegensetzen zu können, entscheidet Hegel sich dazu, die memoria, diese mit Bildern angefüllte »Erinne46 | erstes kapitel

rung«, von einem »Gedächtnis«, das dem »wahren Denken« verwandt ist, abzutrennen. Genau hier liegt indes das Problem, dem Hegel mit seiner Philosophie des »freien« Denkens der bildaufhebenden Intelligenz schlicht aus dem Wege geht: das Problem, wie Bilder im endlichsubjektiven Geist, die Erinnertes anschaulich darstellen (und oft genug, jeden Widerstand unseres Denkens verhöhnend, das Bewußtsein beherrschen), denn selber denkbar werden können, ohne immer schon der »Macht« eines »spekulativen Denkens« unterworfen zu sein, das sich anmaßt, sogar über »schlafende Bilder« zu herrschen – in Worten zumal, die auf ihre Darstellbarkeit in Bildern verzichten sollen. Solchen Verzicht fordert Hegel jedoch ein: »das reproduzierende Gedächtnis hat und erkennt im Namen die Sache und mit der Sache den Namen, ohne Anschauung und Bild«, und eben darum hat zu gelten: »bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes«. Eine ganze Kaskade von Fragen muß da den kritischen Leser Hegels beunruhigen. Bringt denn die Transformation des Bildes vom Löwen in das Sprachzeichen »Löwe«, geleistet von einem »reproduzierenden« Gedächtnis, tatsächlich eine »Aufhebung« anschaulicher Bildlichkeit im Sinne ihrer von Hegel behaupteten »Aufbewahrung in umgestalteter Form« (Enz § 462 Zusatz) zuwege? Einfacher gefragt: läßt Anschaulichkeit sich in unanschaulich-sprachliche Signifikanz derart »umgestalten«, daß sie in dieser auch wirklich »aufbewahrt« bleibt? Muß man nicht antworten, daß Hegel mit dem Begriff der »Aufhebung« die von ihm selber gesetzte semiotische Differenz zwischen dem Bild und dem Zeichen oder Wort unterläuft, wenn nicht gar vernichtet? Und wenn die »Aufhebung« der Bewußtseinsbilder zugleich deren »Aufbewahrung« meinen soll – sei es auch »in umgestalteter Form« – : warum darf Hegel dann behaupten, das »reproduktive« Gedächtnis habe »nichts mehr mit dem Bilde zu tun«? Seine Begründung für diese Behauptung lautet: das aus der sinnlichen Anschauung stammende Bild ist aus einem »ungeistigen Bestimmtsein der Intelligenz hergenommen«, während das (schon dem Wortstamm nach) dem »Denken« nahestehende »Gedächtnis« überhaupt nur mit einem »Produkt der Intelligenz« umzugehen vermag wie mit einem »Auswendigen, welches in das Inwendige der Intelligenz eingeschlossen bleibt«; einzig das Wortzeichen oder der der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 47

Name darf deshalb die »auswendige Seite« des »Inwendigen der Intelligenz« sein. Mithin können für Hegel erst das Wort, das Zeichen und der Name, vom »produktiven« Gedächtnis »erschaffen« (Enz § 458) und »vom wahrhaften Denken gebraucht«, »zu einem vom Gedanken belebten Dasein« gelangen (Enz § 462 Zusatz). In einer Systemphilosophie des In-sich-gehens des Geistes als Er-innerung dürfen solche Überlegungen Gültigkeit beanspruchen. Der Philosoph des Erinnerungsbewußtseins muß hingegen nach jener verschlüsselten Intention fragen, die Hegel in seine Semiose vom Bild zum Zeichen übersetzt. Er muß herausfinden, welche Pointe sich in der Option für einen Vorrang der »vom wahrhaften Denken gebrauchten« Zeichen vor den die Intelligenz »ungeistig bestimmenden« Bildern versteckt. Hegels Fingerzeig auf dasjenige, was an vorgestellten und erinnerten Dingen »äußerlich, zufällig und nichtig sich zeigt«, seine Rede von einem »Abstreifen« ihrer »Form der Zufälligkeit« durch die Intelligenz (Enz § 445 Zusatz) läßt ihn diese »Pointe« auch alsbald entdecken. Es ist Hegels tantalischer Schrecken vor der »Nichtigkeit« des Kontingenten, ein Schrecken, der schon seine Polemik gegen Jacobi angefeuert hatte; denn der habe »die Vernunft auf die Form der Endlichkeit einschränken« wollen, nach dem »Nichtigen« der Endlichkeit »in seiner ganzen Länge und Breite« verlangt und ein »ungebärdiges Zetergeschrei über die Vernichtung dieser Nichtigkeit« erhoben.24 Die Bilder der memoria »wiederholen« aber nicht nur immer von neuem die Nichtigkeitserfahrungen endlicher Subjektivität; sie lassen sich auch nicht »vernichten« und ketten das Erinnerungsbewußtsein selber an die Kontingenz der »zufälligen und nichtigen« Zeit. Die philosophische »Pointe« der Hegelschen Option für einen Vorrang der »vom wahrhaften Denken gebrauchten« Zeichen ist die Flucht vor der »nichtigen« Zeitlichkeit der Erinnerungsbilder.25 Eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins darf und wird diesen Fluchtweg nicht beschreiten. Doch Hegels Philosophieren erschöpft sich nicht in »Pointen«, es geht »aufs Ganze«. Was im Blick auf die semiosische Binnenstruktur des theoretischen Geistes eine »Flucht aus den Bildern« genannt werden darf, gerät unter Hegels spekulativem Zugriff »aufs Ganze« zu einem Vorlauf nicht lediglich auf die »Totalität des Geistes«, sondern auf eine reale Totalität, in der alles Einzelne und Besondere im 48 | erstes kapitel

Denken und in der Welt zu einem Allgemeinen zusammengeschlossen ist.26 Die Begriffsform dieser Totalität ist der »Schluß«, dessen Mittelterm die jeweils entgegengesetzten Terme miteinander verknüpft.27 Darum kann Hegel auch von »jener Verknüpfung« sprechen, »die das Zeichen ist« (Enz § 461), das Zeichen also als eine Mitte denken, welche die einzelnen Bilder der memoria mit dem Allgemeinen des Denkens »zusammenschließt«. Im »reinen Denken« des Begriffs hat dann die »Flucht« aus der Bilderwelt das Endziel der Entwicklung des theoretischen Geistes erreicht: im Begriff »ist das Allgemeine als sich selber besondernd und aus der Besonderung zur Einzelheit zusammennehmend (Kursivsetzung von mir, S. O.) erkannt« (Enz § 467 Zusatz). Der Fluchtweg aus den kommenden und gehenden einzelnen Bildern kehrt sich somit um in einen Rückweg, auf dem das Allgemeine alles Einzelne »übergreift«. Hegel will sagen: erst durch das wahre Denken des Allgemeinen werden die anschaulichen einzelnen Bilder bewahrheitet, und jetzt lassen sie sich auch »verstehen«. Das ist Hegels Weg von der semiotischen Theorie der Bilder und Zeichen zur »aufs Ganze« zielenden Theorieform der »Spekulation«. Zeichen besitzen für Hegel eine größere »Allgemeinheit« als Bilder, weil Bilder stets an angeschaute »Einzelheiten« der sinnlichen Wahrnehmung zurückgebunden bleiben, und je allgemeingültiger ein Zeichen ist, als desto »wahrer« gilt es dem Denken. Hegel mag zwar nicht bestreiten, daß Erinnerungsbilder »schon allgemeiner« – also auch »wahrer« – sind als die sinnlichen Anschauungen, aus denen sie herkommen (Enz § 456 Zusatz). Weil sie jedoch »noch nicht gedacht« sind, bedürfen sie der Aufhebung in eine umfassendere Allgemeinheit und bestimmtere Wahrheit. Deshalb setzt Hegels Philosophieren jetzt einen weiteren Schritt, der vorführen soll, wie die Wahrheit der Bilder zu einer Wahrheit des Vorstellens selber gesteigert werden kann. Dieser Schritt gründet in der Überlegung, daß die Vorstellung einzelner Bilder der allgemeinen Vorstellung als einem dem Geist »Innerlichen« immer noch »äußerlich« bleibe. Hegel nennt diese »allgemeine Vorstellung« ein »konkretes Allgemeines, wie zum Beispiel an der Rose die rote Farbe«; er definiert sie als Vorstellung, die von der »Intelligenz« geführt ist und den »empirischen Zusammenhang der mannigfaltigen Bestimmungen« des einzelnen vorgestellten Bildes »auflöst«. Das bedeutet: die »konder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 49

krete« Form der Allgemeinheit entsteht durch die »Zerlegung der konkreten Einzelheit des Bildes«. Wieder ist es das »wahre« Denken der »Intelligenz«, das sich der Anschaulichkeit der einzelnen Bilder bemächtigt, sie »zerlegt« und in eine »allgemeine« Vorstellung »auflöst«. Einzig diese Vorstellung ist dem Geist »innerlich«, weil allgemein – das einzelne anschauliche Bild bleibt ein »Äußerliches«. Darum muß jetzt eine Einheit des Innerlichen und Äußerlichen hergestellt werden, die nur eine dialektisch verfaßte sein kann: Hegel nennt sie »die Einheit der Verallgemeinerung des Bildes und der Verbildlichung des Allgemeinen« (ebd.). Daß ein verallgemeinerndes Vorstellen die vereinzelt kommenden und gehenden Bilder der Erinnerung »bewahrheitet«, das hält Hegel also nur dann für möglich, wenn dieses »allgemeine« Vorstellen sich selber verbildlicht, und sein Leser könnte daraus wohl folgern, auch die Philosophie des »theoretischen« Geistes wolle auf dessen »Veranschaulichung« schließlich nicht verzichten. Doch tatsächlich ist Hegels dialektische Einheitsformel die Bloßlegung des wohl empfindlichsten Nervs seiner Theorie, denn die brisante Frage, wie eine vom »wahren« Denken der »Intelligenz« beherrschte allgemeine Vorstellung mit der sinnlich bedingten Anschaulichkeit einzelner Erinnerungsbilder sich innerlich verbinden könne, vermag sie nicht zu beantworten; auch die konkret allgemeine Vorstellung bleibt dem einzelnen anschaulichen Bild äußerlich. Hegel setzt die ganze Kraft seines Denkens daran, eine »Einheit des Innerlichen und Äußerlichen, der Vorstellung und der Anschauung« zur Darstellung zu bringen; aber wie »äußerlich« die von ihm gesuchte Einheit einer »Verallgemeinerung des Bildes« und der »Verbildlichung des Allgemeinen« bleibt, das zeigen die Schlußsätze des § 456 der Enzyklopädie: »diese Einheit kommt dadurch zustande, daß die allgemeine Vorstellung sich als die substanzielle Macht über das Bild betätigt«, sich das Bild »als ein Akzidentelles unterwirft« – und »in ihm sich selber manifestiert«. Hier stoßen wir auf den neuralgischen Punkt der Hegelschen Philosophie der Er-innerung als In-sich-gehen des Geistes: was heißt und was meint denn »Manifestation«? Hegels Verständnis von »Manifestation« entfernt sich meilenweit von Kants Theorie einer »hypotypotischen Darstellung« als entweder schematischer oder symbolischer »Versinnlichung« von Begriffen. Sein Konzept von Darstellung oder Manifestation beruht 50 | erstes kapitel

auf seiner spekulativen Logik des Begriffs, die sich zu einer Logik des »Übergreifens« und des »Zugriffs« ausdifferenziert: mit seiner Allgemeinheit übergreift der Begriff seine eigenen Momente, die Besonderheit und die Einzelheit; dadurch vermag sich der Begriff auch zu einem Zugriff auf Einzelnes zu artikulieren, um dieses in die Bewegung des Begriffs »aufzuheben« und solchermaßen im Denken des Begriffs »darzustellen«. Will man diesen komplexen Sachverhalt kurz und bündig wiedergeben, dann darf man formulieren: »Darstellung« oder »Manifestation« ist für Hegel die Bewegung des Begriffs, die dessen Momente übergreift und vermittels des Übergreifens der Einzelheit auch auf wirkliches Einzelnes zugreift, um es im wahren und verallgemeinernden Denken darstellbar zu machen.28 Es ist also immer nur der Begriff, der sich darstellt oder sich selber manifestiert – und in diese Bewegung des »Sich-selber-manifestierens« des Begriffs bleibt Hegels Semiotik der Bilder und sogar der vorrangigen Zeichen eingefügt. Den Konsequenzen aus diesem Begriff der »Manifestation« als »Darstellung« ist nunmehr nachzugehen.

III. Ingenium und Intelligenz, Subjektivität und Personalität oder: wie stellen »Erinnerungsbewußtsein« und »Selbstbewußtsein« sich dar? Daß »die Welt zum Bild« und gleichzeitig »der Mensch zum Subjekt« wird, darin wollte Martin Heidegger »das Wesen der Neuzeit« erkennen: die »Eroberung der Welt als Bild« setze nämlich voraus, daß der Mensch kraft der »Freiheit der Subjektivität« sich ein »Weltbild« entwerfen kann. Heidegger hat diese These in seinen Holzwegen29 vorgetragen und mit ihr tatsächlich einen Holzweg beschritten. Wollte man seiner Neuzeitlegende Gehör schenken, dann dürfte man weder Giambattista Vico zur Neuzeit rechnen noch könnte man sich über die Neuzeitlichkeit der Scienza Nuova in angemessener Weise verständigen. Denn Vico sieht einerseits durchaus die Welt »im Bild« – die »dipintura« schon stellt das vors Auge – , und andererseits kann er auf dieser »Welt im Bild« eine »Metaphysik des menschlichen Geistes« aufbauen, ohne deren letzten Grund in einer erdachten Theorie der Subjektivität zu suchen. Daß Vico, anders als Descartes, niemals einer Ich-Idee als »unbezweifelbarem« und erstder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 51

lich »wahrem« Gedanken gefolgt ist, dies trug ihm allerdings – nicht zuletzt in der deutschen Kathederphilosophie – Geringschätzung ein, es ließ ihn als philosophierenden Literaten, als »letzten Humanisten« erscheinen. Das Motiv solcher Geringschätzung läßt sich ohne allzu große Mühe entdecken: es liegt in der romantischen Abwertung des philosophischen ingenium-Begriffes zu einem nur noch ästhetisch interpretierten Geniekonzept.30 Vicos Philosophie des ingegno gewinnt aber nun gerade auf dem Wege einer Einholung des ästhetisch »Schönen« in das kognitiv »Wahre« die ihr eigene Kontur. Erst vor dem Horizont der »Wahrheitsfindung« gerät deshalb auch die Vicosche Trias memoria-phantasia-ingenium in die ihr gemäße Optik. Mit wenigen Strichen soll das skizziert sein. Descartes’ ego cogito, dieses »wahre und unbezweifelbare« Fundament seines Philosophierens, ist nach Vicos Überzeugung lediglich ein Zeichen, ein Hinweis auf vernünftiges Denken; es indiziert, daß ich mir meines Denkens bewußt bin, es ist der Index einer conscientia, niemals vermag es jedoch eine scientia und das wissenschaftliche Denken zu begründen. Denn wissenschaftlich etwas wissen heißt »Erkenntnis zu haben von der Gattung oder der Art, innerhalb derer ein Sachverhalt zustande kommt« (LM 48/49-52/53). An die Stelle der kartesischen »Subjektivität« der conscientia rückt Vico darum zunächst eine scientia des menschlichen Geistes, eine wissenschaftliche Analyse des Bewußtseins. Sie übersieht nicht, daß Menschen nun einmal zuallererst sinnliche Wahrnehmungen machen, sich diesen dann aufmerksam zuwenden und schließlich »mit reiner Vernunft reflektieren« (SNS § 218); eine wissenschaftliche Betrachtung unterschlägt auch nicht, wie »in der Gattung oder Art« des menschlichen Geistes die Trias memoria-phantasia-ingenium »zustande kommt«: durch imaginierendes »Nachschaffen« und »ingeniöses Ordnen« der zu erinnernden Dinge (SNS § 819). Das ist Vicos Antwort auf die Philosophie des ego cogito, von dem Descartes nicht sagen konnte, wie es »zustande kommt«, galt es ihm doch als unmittelbar »evident«. Welche Rolle das ingenium in der »Metaphysik des menschlichen Geistes« spielt, ist indes mit der »wissenschaftlichen« Beobachtung, wie es »zustande kommt«, noch längst nicht erklärt. Vico weiß die Wissenschaft von der menschlichen Natur unter deren individuellen und geschichtlichen Bedingungen einerseits und die metafisica della mente umana andererseits auseinanderzuhalten; 52 | erstes kapitel

seine Scienza Nuova setzt schon da ein, wo die Menschen begannen, »menschlich zu denken«, seine Metaphysik des menschlichen Geistes macht sich sodann diese Wissenschaft zu einer Grundlage, »auf der sie voranschreitet« (SNS § 347). Ein ingenium, das sich von der memoria und der phantasia aufgrund seiner »Ordnung schaffenden« Funktion zwar unterscheiden aber nicht trennen läßt, bleibt »offen« für das Vergangensein des Erinnerten und »offen« für das Kommen und Gehen der Erinnerungsbilder; es verschließt sich nicht dem Fluß vergangener oder erlebter Zeit. Eben deshalb ist es nicht rückführbar auf eine Idee zeitloser Subjektivität – und schon gar nicht auf eine transzendentale »Spontaneität«, welche die wiederum zeitlose Vorstellung eines bloß gedachten »Ich denke« (KrV, B 132) hervorbringt. Vicos ingenium-Begriff gründet demgegenüber (und damit wird er zum Fundament der Metaphysik des »menschlichen« Geistes) in einer natürlichen Spontaneität dieses Geistes, in einer facilitas oder solertia faciendi, in einer schöpferischen, stets aktualisierbaren »Gewandtheit zum Handeln« (LM 118/119), die sich ausfaltet zum »Finden von Neuem« (LM 216/217) und zu einem Spürsinn, der den »Zusammenhang der Dinge erblicken läßt« (LM 126/127) – das ingenium trägt inventive Geisteshandlungen. Um den commensus, den Zusammenhang und das Zusammenmaß von memoria, phantasia und ingenium herzustellen, bedarf es der »Gewandtheit zum Handeln« und des im Bewußtsein »Ordnung schaffenden« Ingeniums, und weil der ingeniöse Geist sich fähig zeigt, »Auseinanderliegendes und Verschiedenes zu einer Einheit zu verbinden« (ebd.), also eine Synthesis zu erzeugen, kann er zur Basis der »Metaphysik« des menschlichen Geistes werden. Denn Synthesen schaffen ist ein kognitiv und intellektuell strukturiertes Handeln, am Finden von Wahrheit orientiert. Vico selber formuliert das, wenn er sagt: »Ohne Wahrheit hat die Schärfe des Ingenium keinen Bestand«, »ingenii acumen sine veritate stare non potest«. Vico stellt dem ego cogito des Descartes kein »ingeniöses Ich« entgegen. Angesichts der »unbegrenzten Natur des menschlichen Geistes« (SNS § 120) muß ihm jeder forcierte Ich-Gedanke zu einem unwahren Gedanken geraten – unwahr nicht nur, weil er Geist und Bewußtsein in Schranken legt, sondern unwahr vor allem, weil mit einem derartigen Gedanken nicht mitgedacht ist, wie es denn zu einem Handeln dieses Geistes kommen kann. Das Handeln des der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 53

Geistes ist für Vico ein unumstößliches Wahrheitskriterium.31 Vicos ingenium ist als Handlungsgrund gedacht, und als sogar wahrheitsfähiger Handlungsgrund ausgewiesen durch die »transzendentale« Konvertibilität von wahrem Denken und wahrem Handeln.32 Erst durch diesen Ausweis wird auch die Trias memoria-phantasia-ingenium »bewahrheitet«. Mit ihr kommt zum Ausdruck, daß das Ingenium nicht in der Kontur eines »Ich«, wohl aber in der Figur einer operativen Subjektivität des Geistes auftritt. »Mit« der memoria und »mit« der phantasia arbeitend, stellt das ingenium »im« Erinnerungsbewußtsein und »inmitten« der Flut der erinnernden Bilder sich selber dar als der subjektive, Ordnung schaffende und alle Erinnerungen beglaubigende Handlungsgrund des menschlichen Geistes. Dieses Denkmodell Vicos ist nicht nur von historischer, »antikartesischer« Relevanz. Es ist relevant auch für den gegenwärtigen Diskurs über »Repräsentation«, denn es bleibt vorbildlich für eine Philosophie der Darstellung operativer Subjektivität im Erinnerungsbewußtsein. Von diesem Vichianischen Denkmodell her eröffnet sich eine erhellende Perspektive auf paradigmatische Theorielagen der klassischen deutschen Philosophie, die das Thema »Subjektivität« maßlos übersteigerte. Bei genauerem Licht besehen endet diese Übersteigerung in einem geradezu unheimlichen Oszillieren des Subjektbegriffes, in einem Hin und Her nämlich zwischen »begründender« und »begründeter« Subjektivität, in einem Austausch der Gesichtswinkel, der jeden unvoreingenommenen Blick auf den Problemtitel »memoria und reminiscentia« verstellt und verstellen muß. Vico hatte mit seiner Trias memoria-phantasia-ingenium und mit seinem geistmetaphysischen Begriff des Ingeniums als »operativer Subjektivität« die kartesische Nobilitierung des »ich denke« zu einer einzig erkenntnisbegründenden Subjektivität triftig (wenngleich ideengeschichtlich wirkungslos) unterlaufen. Indem dann Kant das kartesische cogito ergo sum als lediglich »empirischen Satz« (KrV, B 428) entlarven wollte, um das reine »Ich denke« zum transzendentalen und »bestimmenden« Subjekt (ebd., 407) erheben zu können, wobei die memoria als subjektives Erinnerungsbewußtsein über die Klinge springen mußte, verhalf er einerseits der »begründenden Subjektivität« zu noch leuchtenderem Glanz; andererseits aber kam er nicht umhin, deren Strahlenkranz auch wieder zu verdunkeln. Denn er 54 | erstes kapitel

mußte ja zugeben, daß das »Ich denke« als begründender »Grund des Denkens« und als Grund einzig des bewußten Denkens alles dasjenige »beiseite setzt«, was ihm als Anschauung (und als anschauliche Erinnerung) »bloße Erscheinung« bleibt (ebd., 429). Anders ausgedrückt: die »begründende« Subjektivität geriet ihm zu einer gänzlich leeren Form, die in ihre »abgesonderte Existenz« (ebd., 430) anschauliche und anschaulich erinnerte »Daten der Erscheinung« nicht aufzunehmen vermag. Hier setzt die Hegelsche Kantkritik an, und das ist ihr unbestreitbares Verdienst. Diese Kritik unterläuft indes die Idee »begründender« Subjektivität nicht mehr, so wie Vico mit dem ingenium das ego cogito des Descartes unterlaufen hatte, sondern sie überbietet sie: mit der Figur einer »begründeten« Subjektivität, begründet durch den »Begriff«, der kraft seiner »absoluten« Subjektivität alle endliche und sogar die transzendentale Subjektivität ebenso »übergreift« wie die memoria und die Erinnerungsbilder endlicher Subjekte. Memoria und reminiscentia dürfen nun zwar die idealistische Szene wieder betreten, aber in anderer Schrittfolge und in neuem Kostüm. Denn auf dem Weg zum begründenden Begriff, auf dem Weg des in-sich-gehenden Geistes, läuft das »Gedächtnis« – dem »Denken« doch sprachlich schon so nah – der »Erinnerung« mit ihren »noch nicht gedachten« Bildern voran, und das neue Gewand, in das beide jetzt gekleidet sind, ist das des »freien und wahrhaften Denkens«. Erinnerung ist nicht mehr mit der spontanen »Handlungsgewandtheit« eines ingenium verbündet, sondern wird zum »Moment eines Ganzen«, zu einem Moment der »Freiheit des Ganzen«, zum Moment in einem »System wahrhafter Philosophie«, von dem alle »subjektive Gewißheit« erst ihre »Rechtfertigung« erfährt (Enz § 14). Auf der einen Seite verleiht Hegel der Erinnerung höchste Würden, indem er sie aufnimmt in ein System der Freiheit – und auf der anderen Seite richtet er sie »zugrunde«, insofern er sie in den »Grund« der Absolutheit eines »wahren« Denkens »aufhebt«. Und von nun an ist »Erinnerung« ein Trauma der spekulativen Philosophie. Wird dieser Befund den Intentionen Hegels gerecht? Gewiß: von Vicos Metaphysik des menschlichen Geistes weiß Hegel nichts, und von der vor-kritischen Philosophie des ingenium kennt er nur die anglophone Schwundstufe des »wit«, des geistesschnellen »Witzes, der Vorstellungen verbindet, die in der Tat einen inneren Zusamder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 55

menhang haben, obgleich sie weit auseinanderliegen« (Enz § 455 Zusatz). Doch der Satz, daß »in der Erinnerung unsere Innerlichkeit, unsere Subjektivität« in den Blick kommt, bleibt erstaunlich. Mindert es denn sein Gewicht, wenn Hegel die memoria der Macht einer »freien Intelligenz« als dem »Subjekt« der Anschauung, der Vorstellung und der Erinnerung unterstellt (Enz § 453)? Entscheidend ist hier, daß in Hegels System auch die »freie Intelligenz« noch einmal befreit werden muß, nämlich zu ihrer Wirklichkeit im »absoluten Geist«, zu ihrer Realität »im Begriff« (Enz § 553). Wir schlagen darum das Kapitel »Vom Begriff im allgemeinen« in der Wissenschaft der Logik auf, in dem es ja tatsächlich heißt: »im Begriffe hat sich das Reich der Freiheit eröffnet« (WW Bd. 6, 251). »Eröffnung« ist »Anfang« – wir stoßen also wiederum auf Hegels »Aitiologie«: auf »das Absolute« und den absoluten Begriff als Anfang und Grund jedweder Freiheit. Sollte ein eiliger Leser bisher nur Verdacht geschöpft haben, daß Hegels »Psychologie« von noch ganz anderen Prämissen abhängig sein könnte als von jenen, welche die Philosophie des »theoretischen Geistes« bedingen, dann wird solcher Verdacht jetzt zur Gewißheit: auch Hegels »Semiose« vom Bild zum Zeichen ist gesteuert von seiner spekulativen Logik des Absoluten. Und auf die Frage, wie denn »das Absolute« selber nun zu denken oder darzustellen sei, antwortet Hegel: »wir können es nicht auslegen«, denn es »erscheint nur als die Negation aller Prädikate« und zugleich muß es »als die Position aller Prädikate ausgesprochen werden« (ebd., 187). Wenn dargestellt werden soll, »was das Absolute ist«, dann kann folglich eine dem Absoluten »äußere Reflexion« solche Darstellung nicht leisten – die Darstellung des Absoluten muß dessen Selbstauslegung sein. »Das Absolute legt sich selber aus«, es ist die »Manifestation« seiner selbst (ebd., 201). Zu denken ist für Hegel das Absolute nur so, daß es selber im anderen seiner selbst, im Endlichen mithin, sich seiner selbst bewußt wird – und einzig als es selbst sich im Endlichen darstellt. Hegels tantalischer Schrecken vor dem Endlichen wird »aufgehoben« einzig und allein durch die Selbstauslegung des unendlichen Absoluten im Endlichen: das ist der Sinn des Begriffs der »Manifestation«. Was aber bedeutet das für das Endliche, für endliche Subjektivität, für das sich erinnernde endliche Bewußtsein? Sie können den begründenden Grund ihrer Freiheit und Wahrheit nur im unendlichen Absoluten 56 | erstes kapitel

finden – und sie müssen es sogar: weil das Absolute sich in ihnen ebenso »manifestiert« wie der absolute Begriff sie »übergreift«. Hegel formuliert das glasklar: »darin, daß es zugrunde geht, beweist das Endliche, auf das Absolute bezogen zu sein oder das Absolute an ihm selbst zu enthalten« (ebd., 189). Wenigstens ein Hinweis auf den gegenwärtigen »repräsentationskritischen« Diskurs ist hier am Platz, auf eine Debatte, die sich nicht zufällig immer wieder an Kant und Hegel entzündet. Die Stichworte dieses Diskurses – gleichgültig, ob auf die Formel »Repräsentation als Wiederholung« des Gilles Deleuze gebracht33 oder auf das Kürzel »Darstellung des Undarstellbaren«, dessen Autor Jean-François Lyotard ist34 : diese Stichworte mögen in manchen Ohren provozierend klingen; doch sie artikulieren ernst zu nehmende Einwände gegen die von Kant und Hegel geübten Verfahren philosophischer Darstellung: gegen Kants Theorie »hypotypotischer Darstellung«, die Begriffe »versinnlichen« will, in Wahrheit aber alles daran setzt, mit Hilfe einer »Schematisierung« und »Symbolisierung« das Sichdarstellen von Begriffen in der sinnlichen Erfahrung selber zu untergraben, und gleichermaßen gegen Hegels spinozistisch geführte »Manifestation« des Absoluten, die alles Kontingente und Zufällige in den Begriff des absoluten »Wesens« aufhebt. Hegel, das ist wohl wahr, hat auf seine Weise das Thema »Darstellung« radikal zu Ende gedacht – aber zu welchem Ende? Schon Ludwig Feuerbach hat dieses Ende beschrieben: in Hegels Philosophie darf »die Darstellung nichts voraussetzen«, »sie soll einen absoluten Anfang machen«, soll alles »antizipieren«; doch damit bringt diese Philosophie »die Realität der Darstellung« zur Aufhebung in das nurmehr sich selber darstellende spekulative System.35. Die Kritik Feuerbachs bedarf indes noch einer Verschärfung: Hegels absolute »Manifestation« ist das eigentliche »An- und Fürsich« seiner spekulativen Methode – einer Methode, in welcher das Problem, was philosophische Darstellung leisten kann und was nicht, in einem nun gar nicht mehr Hegelschen Verständnis »zugrunde« geht. Diese Durchgänge durch das Denken Vicos und Hegels dürften die Aufmerksamkeit auf die Dringlichkeit und Eigenart der philosophischen Frage nach dem Erinnerungsbewußtsein im flüchtigen Strom seiner Bilder geschärft haben. Der »Vergleich« Vico – Hegel wurde der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 57

insoweit auch nicht aus einem philosophiehistorischen Interesse unternommen – »historisch« gibt es da wenig zu vergleichen; er wurde vielmehr als Methodenschritt36 gesetzt, der zur Erörterung der Darstellungsprobleme dienen soll, die mit den Titeln »Selbstbewußtsein«, »Subjektivität« und »Ingenium« sich verbinden. Zu klären ist, wie »ichzentrierte« Subjektivität und Selbstbewußtsein im Erinnerungsbewußtsein »denkbar« bleiben, aber auch »darstellbar« werden. Damit ist die Diskursebene gekennzeichnet, auf welcher ein nicht lediglich »kultursemiotisch«, sondern theoretisch geführtes Nachdenken über memoria und reminiscentia seinen Ort hat. Prinzipiell behält die Einsicht Hegels, die im »Zusatz«37 zum § 452 der Enzyklopädie festgehalten ist – »hier, in der Erinnerung, fassen wir unsere Subjektivität, unsere Innerlichkeit, ins Auge« – , zweifellos ihre Gültigkeit. Herausgelöst aus dem nicht mehr überzeugenden System einer Selbstdarstellung des Absoluten bedarf sie indes der Einbettung in einen neuen und gänzlich anderen Kontext. Dieser Kontext verbirgt sich bereits in der umgangssprachlichen Formulierung »ich erinnere mich«; von ihr, nicht schon von transzendentalen oder spekulativen Systemen des »Selbstbewußtseins« nehmen wir Ausgang. Wer und was ist denn dieses »ich«, das »sich« in seinem Erinnern »reflektiert«? Sicherlich nicht jenes Ich, vor dem Gottfried Benn schauderte, als er notierte: »nun steht es da, dies Ich, Träger alles erlebten Inhaltes, allem erlebbaren Inhalt präformiert, Anfang und Ende, Echo und Rauchfang seiner selbst, Bewußtsein bis in alle Falten, Apriori experimentell evakuiert […], nirgends mehr Person, immer nur das Ich«.38 Das Ich als Echo und Rauchfang seiner selbst – ist dieses Bild ein Plädoyer für »ichloses« Bewußtsein, muß Gottfried Benn den »Partisanen der Subjektivitätstheorie«39 zugezählt werden? Bleiben wir bei der umgangssprachlichen »ich-Rede«: welches Gewicht hat sie für eine Untersuchung des Erinnerungsbewußtseins? Die erste Frage, die da beantwortet werden muß, lautet: bleibt das »ich« in dieser Rede denkbar und wie wird es in gültiger Weise darstellbar, wenn wir sprechen »ich begreife und verstehe mich in meinen Erinnerungen, in den Bildern meines Erinnerungsbewußtseins«? Diese erste Frage läßt eine zweite aufkommen: ist es denn ein und dasselbe »ich«, das da sagt »ich erinnere mich«, oder das den Satz ausspricht »ich habe Erinnerungen«? Läßt dieses »ich« sich »ins Auge fassen« im Blick auf Erinnerungen, die »ich habe«, 58 | erstes kapitel

oder gerät dieses »ich« nicht eher dadurch in den Blick, daß »ich mich erinnere«? Ist ein Ich, das Erinnerungen »hat«, identisch mit einem Ich, das »sich« erinnert, das in den Bildern des Erinnerungsbewußtseins sich »auf sich selber bezieht«? Und diese zweite Frage führt weiter zu einer dritten: zur Frage nämlich nach der Weise, nach dem Modus, in welchem ein »Ich« sich darstellt, indem es im Erinnern sich auf sich selber bezieht – also zu der Frage nach der Modalität der Selbstrepräsentation des Ich im Fluß der aufsteigenden und vergehenden Bilder der Erinnerung. Auf diese Frage antworten heißt, Erinnerung als einen »Grundbegriff« zu verstehen, der »offen« ist für die gelebte Erfahrung von Subjektivität, und das erfordert, einen Grundbegriff unseres bewußten Lebens zu denken, der die Konturen einer nur epistemischen Transzendentalität sprengt. Darum ist es nicht dasselbe, von einem »ich« zu sprechen, das Erinnerungen nur »hat« wie man auch Zahnschmerzen hat, und von einem »ich«, das im Sich-erinnern »auf sich selber« Bezug nimmt. Darf man dann nicht Vicos Triade memoria-phantasia-ingenium als das Paradigma einer Selbstdarstellung des nicht »ichzentrierten«, wohl aber »selbstbezüglichen« ingenium in den Bildern des Erinnerungsbewußtseins verstehen? Im Hinhören auf die »ich-Rede« sind zwei Theoriemodelle zu unterscheiden: eines der »Vergegenständlichung des Ich« gegenüber dem Erinnerungsbewußtsein und ein anderes des »Aufscheinens des Ich« im Erinnerungsbewußtsein.40 Das erste Theoriemodell beschreibt ein Ich, das sich »an etwas« erinnert, auf das es sich wie auf »Objektives« bezieht: die Wiederholung des Erinnerten im Erinnerungsbewußtsein bleibt dabei etwas ihm »Äußerliches«. Diesem Modell entspricht die Aussage »ich habe Erinnerungen« als Aussage von propositionaler Struktur, dergemäß das Ich nur der Referent gehabter Erinnerungen sein kann. Die Referenzbeziehung, die den propositionalen Satz »ich habe Erinnerungen« trägt, erzeugt nun unvermeidlich eine zweifache »Vergegenständlichung«: zum einen geraten die Inhalte des Erinnerungsbewußtseins dem Ich zu Gegenständen, die es »hat«; zum anderen schlägt die Vergegenständlichung der Erinnerung um in eine Vergegenständlichung auch des Ich, insofern Erinnerungen jetzt keine Kriterien für ein »Sich-erinnern« des Ich mehr sein dürfen, denn das extrinsische »Haben« von Erinnerungen schließt die intrinsische »Selbstbezüglichkeit« des der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 59

sich erinnernden Ich aus.41 Im Duktus dieses Theoriemodells muß es folglich heißen: Erinnerungen gehören nicht zum Kern ichzentrierter Subjektivität, sie sind dem Ich (mit Hegel gesprochen) niemals »innerlich«; das Ich verharrt vielmehr in formaler Identität und wird nie durch Erinnerungen »bewegt«. Das »Haben« der Erinnerungen bestärkt sogar die Identität des Ich – ohne daß allerdings Erinnerungen diese Identität noch »kriteriell« zu beglaubigen vermöchten. Vergegenständlichung und Objektivierung der Erinnerung, das ist ein Strukturerfordernis vornehmlich solcher Philosophien, die sich auf das transzendentale Konzept eines »stehenden und bleibenden Ich« verpflichten. Diesen Philosophien gälte die »Ichheit« der Subjektivität als zersprengt und zerstört, könnte die Erinnerung mit ihrer Bilderflut in sie eindringen – die Explosivität der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins wird hieran schlagartig deutlich. Vor solcher Gefahr möchten Philosophien »starker« Ich-Identität sich schützen, und in der Stabilisierung des Gedankens eines mit sich identisch bleibenden Ich liegt zweifellos ihre Stärke – zugleich indes auch ihre Schwäche. Denn ein in seiner Identität verharrendes Ich, das Erinnerungen wie etwas ihm Äußerliches nur »hat«, kann erinnerte Welt und Geschichte nicht mehr in sich eindringen lassen; es bleibt ein statisches Ich, das sich der bewegten Welt nicht mehr zu öffnen vermag, die in den Bildern der memoria erinnert ist. So wird begreiflich, warum Vicos nicht »ich-zentriertes«, sondern »zum Handeln gewandtes« ingenium imstande bleibt, geschichtliche Erfahrungen wahrzunehmen und deren Erinnerungsbilder zu »ordnen«. Es gilt also, die »Identität des Ich« neu zu bedenken: als »bewegte« Denkfigur, an der abgelesen werden kann, wie ein Ich in seinen Erinnerungen sich selber darstellt und als sich-erinnerndes sich selber identifiziert. Mit dieser Denkfigur öffnet sich der Zugang zu einer Philosophie »konkreter«, personaler Subjektivität in ihrer doppelten Bewegung: einer vom »Ich als Ich« zu seinen Erinnerungsbildern verlaufenden und einer gegenläufigen aus diesen Bildern zu der in ihnen sich darstellenden »Ichheit« der Person. Mit seinem Bild eines In-sich-gehens des Geistes, der seine Anschauungen und Erinnerungen übergreift, hatte Hegel – wenngleich nur in spekulativer Systemform und jenseits aller Personalität – eine solche »gegenläufige« Bewegung bereits vorgezeichnet. Wir können jetzt 60 | erstes kapitel

das zweite Theoriemodell eines »Aufscheinens« des personalen Ich im Erinnerungsbewußtsein skizzieren. Man dürfte es auch als »Emergenzmodell« bezeichnen42, denn das lateinische Verbum emergere meint ein »Sichtbarwerden«, ein »Erscheinen«. Was erscheint, erscheint in einer Bewegung des Sichtbarwerdens. Das Ich einer Person, das in deren Erinnerungsbewußtsein »aufscheint«, »bleibt« nicht bei sich selber »stehen« und seine Erinnerungen »bleiben« ihm auch nicht äußerlich. Im Gegenteil: ein emergentes personales Ich ist – ähnlich dem Vicoschen ingenium – »zum Handeln« in und mit seinen Erinnerungen »gewandt« und dadurch imstande, im Fluß seiner Erinnerungsbilder, in denen es – wie gebrochen auch immer – sich darstellt, sich selber wiederzufinden. Dieses zweite Theoriemodell fußt auf dem Gedanken einer Differenz zwischen Denken und Darstellen, zwischen »reiner« Denkbarkeit und deren anschaulicher Darstellbarkeit in ihrer beider »Konvertibilität«43, es arbeitet mit der Differenz und Konvertibilität von Denkbarkeit und Darstellbarkeit als einer (nicht Kantisch zu verstehenden) »transzendentalen« Voraussetzung der Philosophie personaler Subjektivität. Das Theoriemodell eines »Aufscheinens« des Ich im Erinnerungsbewußtsein läßt nämlich einerseits eine Figur subjektiv-personaler Identität denkbar werden, die sich andererseits im Strom der Erinnerungsbilder immer wieder neu erzeugen und darstellen kann; es bringt ein »Selbstsein« des personalen Subjekts zur Darstellung, das einem Kräfteparallelogramm vergleichbar ist, dessen Diagonalen sich überschneiden. Die statische, extrinsische »Habensstruktur« des Theoriemodells einer Vergegenständlichung des Ich ist in diesem Parallelogramm durch eine intrinsische »Bewegungsstruktur« des Erzeugens und Erzeugtwerdens ersetzt, das Ich und seine Erinnerungen finden sich hier gleichsam »verflüssigt« – und denkbar wird auf diese Weise sogar eine Erzeugung von »Selbstbewußtsein« aus dem Erinnerungsbewußtsein heraus. Der Gedanke eines »Ich als Ich« in seiner Identität ist aus diesem Modell nicht getilgt: er bleibt »denkbar« und muß auch denkbar bleiben; »darstellbar« und in Bildern des Erinnerns gebrochen dargestellt wird er erst im Sich-erinnern des personalen Ich. »Denken« und »Darstellen« zu unterscheiden fällt jenen Philosophen nicht leicht, die das Denken bereits als ein »repräsentierendes« Darstellen auffassen. Die Kontroverse um den Darstellungsbeder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 61

griff »Repräsentation«, nicht erst von Deleuze und Lyotard, sondern angesichts der Differenz von Denken und Vorstellen schon von Bergson angestoßen und von Derrida aufgegriffen, bestätigt das nur allzu deutlich; nicht von ungefähr konnte Ricœur von dem »gewaltigen Nebelfleck des Wortes représentation« sprechen.44 Dieser Nebelfleck dürfte sich lichten, sobald wir einmal nach der Möglichkeit des Denkens und Darstellens fragen, also danach, was überhaupt »denkbar« und was »darstellbar« sein kann. Am Beispiel der von Kant stammenden und in der transzendentalen Schulphilosophie üblichen Unterscheidung von »unbedingt« und »bedingt« läßt sich das gut erläutern; denn da ist die Rede von dem Gedanken »unbedingter Freiheit«. Ein solcher Gedanke ist selbstverständlich »denkbar«, in unserer Erfahrung immer nur »bedingter« Freiheit ist er jedoch niemals »darstellbar«.45 Er ist es deshalb nicht, weil »Unbedingtheit« und »Bedingtheit« nur denkbare Gedanken sind. Wie könnte folglich der denkbare Gedanke »unbedingter Freiheit« Grund und Prinzip einer »bedingten« Freiheit sein? Wie nämlich kann der transzendentale Gedanke »unbedingter Freiheit« unter den Bedingungen wirklicher, niemals unbedingter Freiheit darstellbar werden? Was immer der Grund und das Prinzip bedingter Freiheit sein mag: darstellbar würde das Denken unbedingter Freiheit erst dann, wenn Denkbarkeit und Darstellbarkeit »konvertibel« gedacht werden, oder: wenn wir Gedachtes als darstellbar denken und Darstellbares auch denkbar sein lassen. An die Stelle eines Gegensatzgefüges, wie es im Denken von Unbedingtheit und Bedingtheit gedacht wird, rückt dann das Modalgefüge »denkbar-darstellbar«. Erst entlang solcher Strukturen der Modalität ist die epistemologische Dimension ausgeschritten, die im Nebel des Wortes »Repräsentation« so undeutlich bleibt. Der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins wird das »Ich« einer Person in seiner »Identität« denkbar »als« in der memoria und reminiscentia mit ihren Bildern darstellbar, und die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins sieht dieses »Ich« in solchen Bildern insofern auch dargestellt, »als« es in ihnen sich wiederfinden und – weil sich erinnernd – in ihnen sich selber identifizieren kann.

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Exkurs: Erinnerung als »Bild«, als »Schrift« und als geometrische »Figur«. Zur memoria-Lehre der Renaissance Ich füge meinem Buch diesen Exkurs aus mehreren Gründen ein. Erstens, weil er das »Klimagefälle« zwischen der mit Descartes beginnenden »Moderne« und der von der klassischen deutschen Philosophie als »vormalige« Metaphysik abgetanen Denkweise der frühen Neuzeit geradezu spürbar werden lassen kann. Zweitens, weil ich mit ihm zeigen möchte, wie und in welchem Ausmaß in den Schriften der Renaissance das Thema »Erinnerung« in ein von Bildern gesättigtes »figürliches« und anschauliches Denken eingebettet bleibt. Drittens, weil die Landschaft dieses Denkens in Deutschland nur noch selten durchwandert wird – und wenn das hier und da der Fall ist, dann mit zu engen Schuhen. Entweder nämlich pflegt man mit Renaissancetexten historistisch und »doxographisch« umzugehen, ohne die ihnen zugrunde liegende »Mentalität« sorgsam zu erkunden, oder man geht an diese Texte aus einem ihnen fremden Vorverständnis heran – und damit nehme ich die oftmals auch heute zu Rate gezogenen Renaissanceforschungen des hochzuachtenden Ernst Cassirer in den Blick. Dessen Arbeiten zum »Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit« folgen ja mißlicherweise dem Motto: »die analytische Aufgabe, die dem modernen Denken gestellt ist, findet ihren logischen Abschluß im System Kants« – und so wundert man sich denn auch nicht, daß dieser Gelehrte die Renaissance (wie das ein amerikanischer Kritiker formulierte) »hauptsächlich von Vorkantianern bevölkert sieht«, zaubere er doch aus den Werken dieser Epoche immer wieder einen »Ich-Gedanken« heraus, der da in der Tat nicht zu finden und der Renaissance auch gar nicht einzupassen ist. Deren Mentalität, die ich in meinem Exkurs vorzustellen versuche, liegt vielmehr (darauf hat schon der französische Ideenhistoriker Robert Klein in seinem Buch »La forme et l’intelligible« aufmerksam gemacht) in einer »tendance générale à identifier pensée et image« – und die memoria-Lehre der Renaissance folgt konsequent dieser generellen und stilbildenen Tendenz. * * *

der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 63

Ohne Ort und Datum, vermutlich in den Jahren 1671 oder 1672, richtet Leibniz an den Herzog von Braunschweig-Lüneburg ein Schreiben, in dem er sich »erkühnt«, mit »unterthänigstem respect« von seinen Studien zu erzählen. Ein Passus aus diesem Brief in seinem erheiternden lateinisch-deutschen Kauderwelsch sei hier vorgestellt. »In Theologia Naturali«, so notiert der Philosoph, könne er »demonstrieren«, »mentem consistere in puncto seu centro, ac proinde esse indivisibilem, incorruptibilem, immortalem; Gleichwie in Centro alle strahlen concurrieren, so lauffen auch in mente alle impressiones sensibilium per nervos zusammen, und also ist mens eine kleine in einem Punkt begriffene Welt, so aus denen ideis, wie centrum ex angulis bestehet, denn angulus est pars centri, obgleich centrum indivisibel, dadurch die ganze natura mentis geometrice ercläret werden kann«.1 Leibniz skizziert mit diesen Zeilen ein Modell seiner geometria imaginaria, mit deren Hilfe er »die Natur« des menschlichen Geistes nicht abstrakt definiert, sondern zu anschaulicher Darstellung bringt: in seiner Unteilbarkeit gleicht der Geist dem vom Geometer gezeichneten Punkt, und hieran wird seine Unsterblichkeit versichtbart; alle sinnlichen Wahrnehmungen laufen auf ihn zu wie die Radien eines Kreises zu dessen Mittelpunkt; und wie vom Kreiszentrum aus unzählige Winkel konstruiert werden können, deren Schenkel den Kreis in genau bestimmbare Sektoren aufteilen, so begreift der Geist den ganzen Kreis der Welt aus dem Gesichtswinkel seiner Ideen – die geometrische Veranschaulichung vermag folglich zu »demonstrieren«: der Geist ist »die in einem Punkt begriffene Welt«. Wenn unser Philosoph nun allerdings hinzufügt, er habe »diese und andere scientien« allein »mit Gottes Hülffe funden«, dann darf man über diesen kleinen Schwindel schmunzeln; denn daß »die ganze natura mentis geometrice ercläret werden« könne, dies war ein bereits der Philosophie der Renaissance bekannter Gedanke. Schon Nikolaus von Kues hatte überlegt2: wenn ein Mathematiker in seinem wissenschaftlichen Verstand sich Punkte, Linien, Winkel und Kreise ausdenkt, endliche, zunächst in einem Gegensatz zueinander stehende, sodann aber durch Konstruktion aneinander anschließbare geometrische »Figuren«, dann dürfe er in der auf dem Papier darstellbaren Genauigkeit und Wahrheit solcher endlichen Bilder eine Ähnlichkeit zur unendlichen und darum undarstellbaren Wahrheit erblicken, einer Wahrheit, die jetzt 64 | erstes kapitel

»absolute« Genauigkeit besitzt, weil in ihrer Unendlichkeit alle endlichen Gegensätze ineinanderfallen. Der verständig denkende Wissenschaftler setze dabei einen »Überschritt« von der endlichen Figur etwa eines Kreises zur fingierten Figur eines unendlich großen Kreises und schließlich einen Denkschritt der Vernunft hin zu einem unendlich Wahren, welches sich nicht mehr in eingrenzende Figuren bannen und figurativ veranschaulichen läßt. Der Begriff »Figur« und das Verfahren veranschaulichender geometrischer »Figuration« stehen beim Kusaner im Dienst einer Metaphysik des Unanschaulichen und an sich selber Undarstellbaren – eines Undarstellbaren indes, zu dem die veranschaulichende »änigmatische« Darstellung hinzuführen vermag. »Der Winkel deines Auges ist nicht von bestimmter Größe«, so hatte Cusanus zu seinem allessehenden Gott gesprochen; »unser Auge hingegen sieht immer nur in einem bestimmten, einschränkenden Winkel«. Deshalb kann unser Geist einzig »in Zahlen und geometrischen Figuren denken«.3 Dieser Verfahrensanweisung des Nikolaus von Kues folgend, richtet Charles Bouelles nun seine ganze Aufmerksamkeit auf die Verknüpfung von Denken und Erinnern. Die Vernunft oder den Intellekt beschreibt er einerseits als im Denken und Urteilen »tätig«, andererseits aber stets den Erinnerungen ausgesetzt und insofern passiv »erleidend« – denn die memoria zwingt den Geist, auf ihre Erinnerungsbilder zu schauen. Der Intellekt gleicht darum einem Auge, das auf die Erinnerung blickt wie in einen Spiegel, in welchem er mit den Erinnerungsbildern zugleich sich selber sieht.4 Menschlicher Geist erzeugt sich solchermaßen zu einem Ganzen aus denkender Vernunft und erlittenen Erinnerungen: Bovillus nennt deshalb den Intellekt »die Einheit aller Erinnerung« und die Erinnerung »die Zweiheit und die Zahl des Intellekts«.5 Alles dies wird von ihm in einer geometrischen Figur veranschaulicht. Der intellectus ist da als lotrecht nach unten sich öffnender spitzer Winkel gezeichnet, die memoria als nach oben geöffneter, dem spitzen untergelegter stumpfer Winkel, und der Philosoph erläutert: der spitze Winkel des Intellekts gleicht einem scharfen, durchdringenden Pfeil, eröffnet aber eine kleinere Perspektive als der stumpfe Winkel der Erinnerung; dieser jedoch »fängt alles auf«, alle erinnernden Bilder nämlich und zudem alles, was die denkende Vernunft in ihn hineinträgt: er bewahrt alles Gedachte und der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 65

Erinnerte vor dem Absturz ins Vergessen. Die Schenkel des stumpfen Erinnerungswinkels streben in der geometrischen Figur des Bovillus den Schenkeln des spitzen Winkels des Intellekts entgegen – und das ist ein Bild für die Einheit des menschlichen Geistes aus Vernunft und Erinnerung. Der Blick auf diese geometrische Figur läßt mithin eine anschaulich geführte Darstellung des Geistes entstehen, welche die Vernunft nicht von Gedächtnis und Erinnerung loslöst, sondern deren wechseitige Verweisung aufeinander sichtbar macht. Charles Bouelles definiert diese Darstellung als praesentatio, per quam intellectus et memoria in actu sunt, als »Präsentation« des tätigen Zusammenwirkens von Denken und Erinnern.6 Und schließlich Giordano Bruno, der den mathematisch-astronomischen Blick des Kopernikus auf einen »unermeßlichen« Kosmos überbietet mit einer Metaphysik des »unendlichen« Universums, dessen unanschauliche Infinität jetzt nurmehr in veranschaulichenden Bildern und Figuren dargestellt werden kann. Seit seiner ersten Schrift Über die Schatten der Ideen, gedruckt 1582, bis hin zu einem seiner letzten Werke mit dem Titel Von der Komposition der Bilder, der Zeichen und der Ideen, 1591 erschienen (nur knapp zehn Jahre philosophischer Reflexion waren diesem Verteidiger eines revolutionären Weltbildes vergönnt, dann fiel er in die Hände der Inquisition), von Anfang bis Ende also seiner schriftstellerischen Arbeit ging es Bruno um die versichtbarende Figuration des Unendlichen im Denken ebenso wie im Erinnern – und das nicht zuletzt mittels einer poetischen Sprache, die darstellt, wie alle Versuche des Menschen, die Fesseln seiner Endlichkeit allein mit den Kräften des Verstandes zu sprengen, zum Scheitern verurteilt sind und jetzt einer heroischen Sehnsucht nach der Unendlichkeit Raum geben müssen, die »aus dem Herzen Funken stieben« und »aus den Augen Tränen strömen« läßt.7 Die Metaphysik des Unendlichen bedarf der figurierenden Repräsentation: mit dieser Einsicht Brunos erreicht das anschauliche Philosophieren der Renaissance einen Höhepunkt, dabei immer wieder sich stützend auf die vom Kusaner ins Spiel gebrachte Symbolfunktion der Geometrie. Denn auch Giordano Brunos metaphysische Idee des einen und mit sich identischen Unendlichen ist in der anschaulichen Figur zweier rechter Winkel dargestellt, die durch das Fällen einer lotrechten auf eine horizontale Gerade entstehen, und die eine unendlich differente Vielfalt spitzer 66 | erstes kapitel

und stumpfer Winkel in sich bergen, welche bei der Transformation der beiden rechten in einen gestreckten Winkel (durch Drehung der lotrechten Geraden) konstruiert und dem Auge sichtbar gemacht werden können; als »Schatten« einer metaphysischen Idee gerät so der rechte Winkel zum änigmatischen Paradigma einer unendlichen Identität, die sich in unendliche Differenz zu entfalten vermag8 – in die Vielfalt der im unendlichen Universum unterscheidbaren Dinge. Der angulus rectus gilt den anschaulich denkenden Philosophen der Renaissance durchweg als symbolische Figur des »Zugleich« von Identität und Differenz und als die Versichtbarung der Möglichkeit eines Zusammenfalls von Gegensätzen. Schon Nikolaus von Kues, der Philosoph der coincidentia oppositorum, hatte den Weg seines Nachdenkens über das Unteilbare und Unendliche durch die Figuren des stumpfen, des spitzen und des rechten Winkels geführt und den Zusammenfall aller finiten Winkelmaße im Infiniten eine »Wahrheit« genannt, »die gesehen wird durch jede zugleich größte und kleinste Ähnlichkeit« der geometrischen Konstruktionen.9 Auf dieser kusanischen Fährte voranschreitend, bezeichnet Charles Bouelles den rechten Winkel als »die beste Figur«, an welcher der spitze ebenso wie der stumpfe Winkel »teilhaben«, indem sie ihn verkleinern oder vergrößern; und so möchte Bovillus denn den rechten Winkel als »Maß aller Dinge« begreifen, bringe er doch in geometrischer Verschlüsselung zur Darstellung, »wie fruchtbar alles Seiende nach innen und nach außen ist« – an der Rechtwinkligkeit sei »das Verhältnis abzulesen, das zwischen allen Gattungen und Arten besteht«.10 Damit ist die Brücke geschlagen zu der These, die Bruno, Leser und Kenner des Bovillus, aus seiner Zeichnung der spitzen und stumpfen, im rechten (als dem »Schatten« der metaphysischen Idee des Unendlichen) verborgenen Winkel herleitet: »Was wir zu der Differenz der Winkel gesagt haben, muß man auf die Unterschiede der Arten übertragen« – auf die Differenzen der Gattungen und Arten des Seienden in der »Identität« des unendlichen Universums; »von daher wird offenkundig, daß ein jegliches, in allem und durch alles hindurch, sich in Figuren anschaulich darstellen läßt«.11 Giordano Bruno – das kennzeichnet seine »Methode« und erklärt die Mißverständnisse, die seinen Werken bis heute widerfahren – ist ein Philosoph, der sein Denken konsequent an Anschauder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 67

lichkeit bindet. In dem Buch Über die Komposition der Bilder, der Zeichen und der Ideen notierte er: »Unsere Vernunft sieht nicht sich selbst in sich selber, sie sieht auch die Dinge nicht an sich selbst – sie sieht alles in einer sozusagen äußeren Sichtgestalt, im Schattenbild, in einer Figur oder einem Zeichen«.12 Und in Figuren oder Zeichen »sieht« Bruno auch das Gedächtnis und die Erinnerung veranschaulicht; seine ars memoriae beschreibt er nämlich als die Kunst der Erzeugung eines »inneren Bildes« und einer »inneren Schrift«; denn das Gedächtnis »schafft sich Bilder von den zu erinnernden Dingen«, und es arbeitet wie eine Schrift, »wenn es Gedanken oder Worte ordnet und ihnen Zeichen, Merkmale, Charaktere zuweist«.13 Mit dem Ausdruck »Charakter« führt Bruno seinen Leser jetzt wieder zur Geometrie zurück. Die Ideen- und Begriffsgeschichte kennt ja von altersher neben dem visuellen »Charakter der Grammatik«, einer niedergeschriebenen Grundfigur der Sprache, auch den »Charakter der Geometrie«, das anschauliche Grundelement einer geometrischen Zeichnung.14 Der »Charakter« der memoria als »innerer Schrift« gehört mithin zum Bedeutungsfeld der »Figur« und läßt sich vom geometrischen Figurationsverfahren Giordano Brunos nicht trennen, mit gutem Grund konnte darum von seiner »geometria della memoria« die Rede sein.15 Denn seine ars memoriae erschöpft sich keineswegs (wie ein schier unausrottbares Fehlverständnis behauptet) in einer »Mnemotechnik«; sie beruht auf der »diskursiven Architektur« des ganzen menschlichen Geistes, deren Fundament unser Philosoph in einer »Zuständlichkeit der denkenden Seele« erblickt, in einem habitus animae ratiocinantis, der herührt »vom Lebensprinzip der Welt, und der, durch alles und alles einzelne hindurch, nach diesem Lebensprinzip sich wieder ausstreckt«. In dieser weltorientierten Zuständlichkeit der denkenden Seele, also des Bewußtseins, sieht Bruno eine semiotisch geführte »Technik« der imaginatio, der Einbildungskraft, verwurzelt, die das »phantastische Chaos« der Bilder im Bewußtsein »in der Waage« zu halten vermag: die Figuren nämlich »alles Gesehenen und Gehörten« – aller Dinge also und Worte – in geometrisch angeordneten »Charakteren« fürs Wiedererinnern im Gedächtnis zu bewahren.16 Hier vorerst einmal innezuhalten, dürfte ratsam sein. Denn das »figurierende« Denken, das die zitierten Renaissancetexte vorfüh68 | erstes kapitel

ren, basiert auf einer Grundidee, der schon Descartes mißtraute17 und von der das Philosophieren der Gegenwart sich offenbar endgültig verabschieden möchte: der Idee der »Ähnlichkeit«. Für das postmoderne Denken gibt es ja Ähnlichkeiten nurmehr »als entstellte«, als »Trugbilder«, die »das Ähnliche simulieren«18, und für die Analytische Philosophie ist wohl kennzeichnend die Rede, daß es »gewiß nichts Grundlegenderes für das Denken und die Sprache gibt als unser Ähnlichkeitsgefühl«, daß aber der »Ähnlichkeitsbegriff«, seinem »metaphysischen Reiz« zum Trotz, ein »trüber Begriff« bleibe und erst dann, wenn er »gänzlich verschwindet«, ein »Paradigma für die Entwicklung von der Vernunftlosigkeit zur Wissenschaft« zu konstatieren sei.19 Dreht sich denn die »Ähnlichkeitsepisteme« der Renaissance – so wollte Michel Foucault die Denkform dieser Epoche beschreiben – nicht tatsächlich im Kreis einer »universalen Konvenienz« aller Dinge und Zeichen? Bleibt dieses »savoir des Ähnlichen« nicht einer »magischen« Form des Denkens verhaftet? Steht es, statt auf solidem Grund, nicht doch auf »sandigem Boden«, wenn es sogar die eherne Stabilität der geometrischen Wissenschaft ineins mit der vagen Flüchtigkeit der memoria und ihrer Vorstellungsbilder auf ein Wissenstableau projiziert, auf dem »das Ähnliche das Ähnliche umhüllt« und zuletzt auch das Unendliche dem Endlichen »ähnlich« macht?20 Ganz entgegen der Lehre des Kusaners, daß zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen »keine Proportion« bestehen kann?21 Die Philosophen der Renaissance gehen mit dem Wort »ähnlich« ebenso wie mit dem Begriff »Ähnlichkeit« durchaus besonnen um, und sie begnügen sich keineswegs mit der Beschreibung einer Episteme, die nur zusieht, wie »Zeichen und Ähnlichkeiten sich gegenseitig schneckenförmig und ohne Ende aufwickeln«. Weder einer archéologie du savoir noch einem »Denken vor dem Denken« gilt ihr Interesse. Was Foucault schlicht unterschlägt, ist ihre Arbeit an einer Epistemologie des Ähnlichkeitsdenkens selber22 – an einer Epistemologie, die auch die »Konfiguration« von geometrischen Bildern und Erinnerungsbildern erlaubt. Kritisch zu betrachten war da zuvörderst die gesprochene Sprache. Ein langes Kapitel seines in ganz Europa studierten Werkes Über die dialektische Findung widmet der Humanist und Sprachphilosoph Rudolf Agricola dem Wort »ähnlich«, um zu zeigen, wie man es geder konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 69

brauchen darf und wie nicht; denn kein anderer »Sprachort«, so erklärt er, kein anderer Sprachtopos besitzt so geringe Überzeugungskraft wie gerade dieses Wort. Es »beweist« nämlich nichts; dennoch erzeugt es im Hörer das Bild eines komplexen, nicht unmittelbar einsichtigen Sachverhalts, und das »Finden« von Ähnlichkeiten »vermittels eines Bildes und einer Figur« (imagine et figura) lenkt das Auge des Geistes auf »Neues«.23 Der Topos »ähnlich« fungiert hier als »offenes« Such- und Findungswort, das vielfältige Perspektiven eröffnet, aber zu einem »Begriff« noch nicht geronnen ist und jeder Definition von »Ähnlichkeit« vorausliegt. Läßt sich »Ähnlichkeit« aber überhaupt definieren? Zum Beispiel durch den Begriff der »Analogie«? Verkürzt der Analogiebegriff nicht die perspektivische Weite einer Rede vom »Ähnlichen«, eine perspektivische Weite, um derentwillen bereits Aristoteles sich damit begnügt hatte, von einem »Zusammen-sehen ähnlicher Dinge« zu sprechen?24 Den Weg vom Findungstopos »ähnlich« zu einer Metaphysik der »Ähnlichkeit«, der similitudo, beschritt dann Tommaso Campanella.25 Auch ihm ging es um ein Zusammen-sehen des Ähnlichen, aber nun nicht mehr nur auf der Ebene eines an der Sprache orientierten dialektischen Findens, sondern aus der Optik einer philosophischen Grundlagenreflexion über Ähnlichkeit als »Wurzel und Prinzip der Erkenntnis«.26 Den »Begriff« der Ähnlichkeit leitet dieser Philosoph aus der Idee einer absoluten Einheit her, die sich zu Ähnlichkeiten »depotenziert«, anders gesagt: die sich in Ähnlichkeiten »gebrochen« darstellt, sowohl in den Kategorien des Denkens als im Ähnlichsein der wirklichen Dinge. Auf der Grundlage dieser Überlegung wird die aristotelische »Topographie« des Ähnlichen jetzt einer harschen Kritik unterzogen: »Warum nur zählt Aristoteles das Ähnliche und das Unähnliche nicht zu den Kategorien«, den Ordnungsbegriffen des Denkens?27 Campanella stellt diese Frage, weil er in allen Kategorien eine »verborgene« Ähnlichkeit am Werk sieht: in der Kategorie »Substanz« die Ähnlichkeit alles Substanziellen, »Konsubstanzialität« genannt, und in der Kategorie »Zeit« die Ähnlichkeit einer »Gleichzeitigkeit«. Die ganze Kategorientafel des Tommaso Campanella wird durch den Ähnlichkeitsbegriff gesteuert28, und diese Tafel sieht darum anders aus als die aristotelische. Sie enthält nicht mehr die »Relation«, die Aristoteles als Beziehung eines Dinges einzig in der unumkehrbaren Richtung »auf ein ande70 | erstes kapitel

res« Ding verstanden hatte.29 Eine auf dem Ähnlichkeitsbegriff beruhende Kategorienlehre muß demgegenüber jede Relation in die Figur einer »Korrelation« übersetzen, in die Korrelation nämlich des sich »umkehrbar« oder »konvertibel« Ähnlichen.30 Damit bringt Campanella die Binnenstruktur der Ähnlichkeitsidee der Renaissance zum Vorschein: ihre Logik der Korrelationalität31, eine Logik, die alle Ordnungsbegriffe des Denkens und des Gedachten beherrscht, eine Logik folglich auch, die nun eine Kon-figuration der Bilder der Geometrie und der Bilder der Erinnerung erlaubt. Darum muß Campanella die memoria aus seiner Philosophie der Ähnlichkeit auch nicht exilieren, im Gegenteil: alle Erinnerung, so erklärt er, »besteht im Erinnern von Ähnlichkeit«, sei es eine »Ähnlichkeit der Zeit«, sei es eine »Ähnlichkeit der Figur«.32 Der von Cusanus, Bovillus und Bruno ausgeschrittenen Denklandschaft fügt sich schließlich Campanellas Verteidigung des Mathematischen ein, in der es heißt: die Geometrie leitet aus dem Punkt die Linie ab und aus der Linie die Fläche, »aber nicht, weil sich das in Wirklichkeit so verhielte, sondern weil die Verknüpfung der geometrischen Elemente als exemplarisch betrachtet werden muß und solchermaßen in der memoria festgehalten werden kann«.33 Aber nun betritt René Descartes die Bühne, und sein Rückblick auf das Ähnlichkeitswissen der Renaissance scheint diese farbenfrohe Denklandschaft in ein verlorenes Paradies zu verwandeln. Telesio, Bruno, Campanella, »alle diese Neuerer«, so schreibt er 1630 an seinen Freund Isaak Beeckmann, »wer von ihnen kann denn etwa nicht nur mich, sondern jeden um Weisheit Bemühten noch belehren?«34 In einem Brief an Huygens aus dem Jahr 1638 notiert er sodann, in den Schriften Campanellas habe er »si peu de solidité« gefunden, daß er sich an keine von ihnen erinnern wolle35, und zur selben Zeit läßt er den Pater Mersenne an der Sorbonne wissen, von eben diesem Campanella »wünsche er nichts mehr zu sehen«.36 Wenn dann schließlich Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dekretiert, Campanella, Bruno »und noch viele andere merkwürdige Männer« gehörten »nicht eigentlich der Philosophie, sondern der allgemeinen Bildung an«, hätten sie doch »nichts Fruchtbringendes zur Folge gehabt«, während wir bei Descartes nun endlich »zu Hause« seien, denn erst mit ihm beginne »eine selbständige Philosophie«37, dann sieht das so aus, als wären der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 71

die Akten des »verlorenen Paradieses« endgültig geschlossen. Besonnener indes als Hegel – und kenntnisreicher – urteilte Hans Blumenberg: »Descartes hat die Spuren seines geschichtlichen Hintergrundes sorgfältig verwischt und verleugnet, um den Mythos vom radikalen Anfang der Vernunft zu konstituieren.«38 Das ist nicht geradezu falsch, aber den neuralgischen Punkt trifft es noch längst nicht. Denn Cartesius hat seinen geschichtlichen »Hintergrund« – die Renaissance mit ihrer Epistemologie der Ähnlichkeit – nicht verwischt und schon gar nicht verleugnet, sondern er hat ihn in die Taxinomie eines neuen Ordnungsdenkens transformiert. Ganz deutlich abzulesen ist das an seinen Regulae ad directionem ingenii und an dem in diesem Werk so häufig gebrauchten Begriff der »Figur«. Er ist das unverkennbare Erbe der anschaulich denkenden Renaissancephilosophie – ein Erbe, das Descartes antritt, um es umzuformen in eine Kritik an der Darstellung von »Ideen« durch versichtbarende geometrische »Bilder«, in eine Kritik mithin, welche die Differenz zwischen einer denkbaren Idee und ihrer Darstellung durch anschauliche Figuren unterläuft und deshalb glaubt, auf den Gedanken einer »Ähnlichkeit« zwischen Idee und Figur verzichten zu dürfen. Wer die geschriebenen Texte des Cartesius und seine polemischen Sätze über die Denker der Renaissance lesen wollte, ohne ihrer Subtexte zu achten, der läse nur den halben Descartes; denn diesen Subtexten ist die Auseinandersetzung mit der anschaulich figurierenden Denkweise, wie Cusanus, Bovillus, Bruno und Campanella sie vorgestellt hatten, unauslöschlich eingeschrieben – so unauslöschlich, daß Descartes, selber ein »Neuerer«, dem Figurieren und Konfigurieren von Bildern der Erinnerung und Bildern der Geometrie jetzt eine Strategie der »Defiguration« gegenüberstellt, die darauf abzielt, die Komplexität von sinnlich-anschaulichen Bildern auf die Einfachheit von intelligiblen Begriffen zu reduzieren. Demgemäß heißt es in der 14. Regel ad directionem ingenii: »Wir stellen uns die Figur einer Krone, wenn sie silbern ist, nicht anders vor, als wenn sie golden ist«; auf diese Weise gewinnen wir eine idea communis, eine »gemeinsame Idee« von Kronen. Und weiter: »Propositionen«, philosophische Sätze, »müssen abstrahiert werden sogar von den Figuren, mit denen die Geometer arbeiten, und gleichermaßen müssen sie abstrahiert werden von jeder anderen Materie« (also 72 | erstes kapitel

auch von den Erinnerungsbildern in der memoria), »so daß nichts anderes zurückbleibt als geradlinige und rechteckige Oberflächen beziehungsweise gerade Linien, die wir nun ebenfalls Figuren nennen«.39 Das heißt: die Strategie der »Defiguration« übersetzt alle sinnlich wahrnehmbare »Qualität« – wie »silbern« oder »golden« – in exakt meßbare und insoweit intelligible »Quantität«; damit gibt sie dem alten renaissancistischen Konzept der Figur nur eine neue, jetzt freilich strikt »abstrakte« Kontur, die sich herleitet aus der Idee der extensio, der quantitativen Ausdehnung. Die kartesische »Figur« wird identisch mit dieser »Maßidee« – der Text der Regulae bringt das in der Formel figura vel idea zum Ausdruck40 – , und sie verliert zugleich die Komplexität ihrer sinnlichen Valeurs.41 In seiner Dioptrik hat Descartes diese Strategie der Defiguration schlicht, aber eindringlich illustriert. Ich führe den einschlägigen Abschnitt vor, weil er die Denkweise dieses Philosophen gut beschreibt, und weil er uns wieder heranführt an unsere Renaissancetexte über »Figur« und »Figuration«. Unsere Seele, schreibt Descartes da, bedürfe jener »Bilder« überhaupt nicht, von denen so viele Philosophen behaupten, sie würden zwischen den Dingen und unserem Denken vermitteln. Ihr Irrtum liege darin, daß sie nichts anderes im Kopf haben als die Idee einer »Ähnlichkeit« der Bilder und der Dinge – wobei sie noch nicht einmal erklären können, wie solche Bilder eigentlich zustande kommen. Diese Philosophen« – wir wissen jetzt, wer da gemeint ist – »beobachten offenbar nur, wie unser Geist durch ein Gemälde dazu angeregt wird, den gemalten Gegenstand zur Kenntnis zu nehmen, und so glauben sie, auf dieselbe Weise würden auch die wirklichen Dinge von uns begriffen: anhand ihrer Bilder in unserem Kopf. Doch dabei übersehen sie, daß es ja noch ganz anderes als derartige Bilder gibt: Zeichen nämlich und Wörter, die dem, was sie bezeichnen, nicht im mindesten ähnlich sind; und sie übersehen desgleichen, daß die Vollkommenheit von Bildern oft darin besteht, daß sie den Dingen, die sie repräsentieren, gar nicht so ähneln wie sie vielleicht müßten. Und das könne man doch nun anhand von farblosen Kupferstichen feststellen: wenn sie Wälder, Städte, Menschen, Schlachten und Stürme darstellen, dann heben sie aus den vielen »Qualitäten« immer nur ihre »Figur« heraus – und die sei den dargestellten Gegenständen eigentlich eher »unähnlich« als »ähnlich«.42 der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 73

Wollte man dazu nun sagen: lieber René, machst du es dir nicht ein wenig zu einfach mit deinem farblosen Kupferstich?, dann würde Descartes mit Sicherheit antworten: gerade um einen »einfachen Begriff der Figur«, um den simplex figurae conceptus, geht es mir ja43, weil die so kompliziert und mühsam figurierenden und konfigurierenden Herren in der Renaissance ihn nicht finden konnten! Eben deshalb habe ich doch von Campanellas mangelhafter »Gründlichkeit« gesprochen! Und ein gründlicher, »einfacher« Begriff der Figur kann durchaus auf eine »Philosophie der Ähnlichkeit« verzichten, er bedarf keiner Unterstützung durch »Bilder« mit ihren farbigen »Qualitäten«; er ist ein schlichter Maßbegriff, getragen von dem Gedanken der Ausdehnung, also ein der Kategorie der »Quantität« zuzurechnender Begriff! Meine Rede vom Kupferstich wollte dir das vor Augen stellen! Und nun hebt sich sehr schnell der Vorhang vor dem »Hintergrund« der kartesischen Strategie der Defiguration. Wir brauchen lediglich die Schrift des Giordano Bruno mit dem Titel Das Siegel aller Siegel aufzuschlagen, wo wir lesen können: »eine Figur ist keine Quantität ohne Qualität und keine Qualität ohne Quantität; sie ist Qualität in Quantität, weder reine Quantität noch reine Qualität, sondern ein Eines aus beidem und in beidem«.44 Hier ist »Figur« als ontologischer Modalbegriff gedacht, nicht lediglich als quantifizierender Maßbegriff, sondern als Begriff eines Modus von Sein, eines Modus, in dem Quantität und Qualität sich miteinander und ineinander verschränken.45 Die quantifizierende Seite dieses Figurbegriffes verweist auf die räumliche Ausdehnung der geometrischen Bildfiguren, die qualifizierende auf die das »gegenständliche Bewußtsein« gleichsam »färbenden« Bildfiguren der Erinnerung – und beide, die Bilder der Geometrie und die Bilder der memoria, sind einander ähnlich, weil in einem Figurbegriff verankert, der die »Konfiguration« von geometrischen Bildern und Erinnerungsbildern zu tragen vermag. Deshalb darf Bruno in seinem Buch Über die Komposition der Bilder, der Zeichen und der Ideen auch konstatieren: tanti momenti est figura, »von derart großem Gewicht ist die Figur«46, und darum kann Campanella, am Ausgang der Renaissance, noch einmal festhalten: »wir erinnern, was einander ähnlich ist«.47 Greift aber diese Denkweise nicht dennoch zu kurz, gerade weil sie der Vorstellung aufruht, die Bildfiguren der Erinnerung seien 74 | erstes kapitel

den geometrischen Basisfiguren »ähnlich«? Unterläuft diese Denkweise nicht geradezu eine entscheidende Differenz – diejenige nämlich zwischen der zeitlichen Kontingenz der Erinnerungsfiguren in unserem Bewußtsein auf der einen Seite und der Zeitenthobenheit der Figuren der geometrischen Wissenschaft auf der anderen? Das Erinnern an Basisbilder der Geometrie – von denen Descartes »abstrahieren« wollte – bleibt natürlich an ein Zeitbewußtsein gebunden; ist damit aber auch die Annahme einer »Ähnlichkeit« zwischen geometrischen »Charakteren« und den Figuren der Erinnerung selber schon gerechtfertigt? Geht die »Konfiguration« von memoria und Geometrie, möglicherweise, der brisanten Frage nach der zeitlichen Verfaßtheit unseres Denkens und Erinnerns aus dem Wege? So wird nicht nur fragen, wer den Hegelschen Satz im Ohr hat: »hier, in der Erinnerung, bestimmen wir das Maß der Zeit nach dem Interesse, welches dieselbe für uns gehabt hat«; so fragen wird nicht zuletzt auch der Leser von Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins mit ihrer Kritik an der Lehre von einer »Momentanität des Bewußtseinsganzen«, einfacher gesagt: mit ihrem Zweifel an der These, daß eine Folge verschiedener Vorstellungen »in einem einzigen und einigen« Wissensakt »gleichzeitig« bewußt werden könne.48 Geht mithin im kon-figurierenden Verfahren unserer Renaissancephilosophen die Erfahrung von Zeitlichkeit zugunsten einer »Gleichzeitigkeit im Wissen« verloren? Charles Bouelles und Giordano Bruno sind den Fragen nach der Zeitlichkeit des Erinnerns und nach der kontingenten »Wiederholung« der flüchtigen Bilder der memoria keineswegs ausgewichen; sie haben die Erörterung dieser Probleme aber auch nicht auf die Analyse eines »Bewußtseins«- und »Erlebnisstromes« zurückgeschnitten. Werfen wir also noch einmal einen Blick in den Liber de intellectu des Bovillus und in einen Text des Giordano Bruno zur ars memoriae. Traditionsbewußt verknüpft Charles Bouelles seine memoriaLehre mit der Zahlenphilosophie der Pythagoräer, um aber dieses antike Erbe umgehend in ein neues Gewand zu kleiden: er beschreibt den Intellekt – wie lasen es schon – als »die Einheit aller Erinnerung«, und er nennt die Erinnerung »die Zweiheit des Intellekts«. Die Zweiheit verdoppelt die Einheit und wiederholt sie, »Erinnerung ist deshalb Wiederholung«.49 Sie holt sich das vom der konflikt zwischen »bildern« und »wörtern« | 75

Intellekt Gedachte und Begriffene zurück.50 Der Intellekt, in seine intelligible Einheit mit sich selbst gleichsam eingeschlossen, vermag nicht zu wiederholen, er ist unfähig, zu erinnern, denn er begreift alle Figuren und Bilder instantan, in einem einzigen Zeitmoment; der Flut der Zeit ist er nicht ausgesetzt. Die Bilder, die er erkennt, finden in ihm keine Bleibe – er begreift sie jeweils neu, wie der intellectus agens des Aristoteles. Verharren können Bilder und anschauliche Figuren einzig in der memoria, sie allein ist die Zeitinstanz des menschlichen Geistes, in den Strom der Zeit sich erstreckend – Bovillus bringt das wiederum in einem geometrischen Charakter zur Darstellung – wie eine gerade Linie, an deren Ende »gemäß seiner Zeit und seinem Ort alles aufbewahrt ist«51, alles das nämlich, was die Erinnerung sich wieder-holt vom Intellekt, ihrer zeitlosen Einheit. In der Philosophie des Bovillus geht »die Intelligenz« nicht »in sich«, um die Bilder und Figuren der Erinnerung »aufzuheben« in eine »Totalität des Erkennens« und um so ihre »Form der Zufälligkeit« und »nichtigen« Zeitlichkeit »abzustreifen«. Der Renaissancephilosoph schlägt nicht die Fährte Hegels ein. Er läßt vielmehr den Intellekt sich entäußern, in die Erinnerung mit ihren anschaulichen Bildern, in die Welt mithin und ihre Zeit hinein: »wie die Welt dem Intellekt alles darbietet, was er durch sinnliche Wahrnehmung erfährt, so prägt auch der Intellekt alles, was er aus der Welt empfängt, der Erinnerung ein – am Ende aber ist es die Erinnerung, die dem Intellekt alles vergegenwärtigt«.52 Aber der »Bewußtseinsstrom«, der die Erinnerungsbilder heranträgt und wieder versinken läßt, dieser aller »Ähnlichkeit« mit zeitenthobenen geometrischen Figuren augenscheinlich so hohnlachende Fluß der Zeit in unserem Gemüt – muß Brunos »zuständliches« Bewußtsein in ihm nicht rettungslos ertrinken? Giordano Bruno hat niemals eine Philosophie des »Selbstbewußtseins«, das diesen Fluß anzuhalten oder gar zu beherrschen imstande wäre, konzipiert. Aber er hat sein Nachdenken über Erinnerung an den Gedanken einer »Identität« geheftet, von dem er sagte: »wenn du auf ihn dich stützt, wenn du ihn zu fassen vermagst, dann besitzt du etwas, womit du die Bilder in der Seele festhalten kannst«. Doch was für eine Identität mag das sein? Noch einmal zeigt sich, daß Bruno kein simpler »Mnemotechniker« war: »was identisch ist, verharrt und ist ewig; was ewig ist, verharrt und ist identisch; was verharrt, 76 | erstes kapitel

ist identisch und ewig« – Identität, Verharren und Ewigkeit »koinzidieren«.53 Das zuständliche Bewußtsein in seiner Kontingenz und Zeitlichkeit muß ausgreifen auf eine Metaphysik der Koinzidenz, wie Nikolaus von Kues sie entworfen hatte, um »sich selber«, als in den Strom der Zeit und der Bilder versunken, verstehen zu können. Husserls Phänomenologie des »inneren Zeitbewußtseins« ist das Wagnis eines derartigen metaphysischen Ausgriffs nicht mehr eingegangen. Eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins hingegen, darauf will der Renaissancedenker verweisen, hat den »Tod der Metaphysik« nicht zu fürchten.

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Zweites Kapitel »Ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe«. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins zwischen reiner Transzendentalphilosophie und reiner Phänomenologie

Dieses Kapitel zeichnet einen weit aufgespannten Bogen von Kants transzendentalphilosophischer »kopernikanischer« Wende (Abschnitte I – IV) bis hin zu den phänomenologischen Philosophien Husserls (Abschnitte V und VI) und Schelers (Abschnitt VII). Mit Max Scheler beende ich das Kapitel, weil dieser das Thema »Erinnerungsbewußtsein« – in den kurzen Satz »ich erinnere mich« gefaßt – in die Frage nach der Person einzubinden weiß und damit die leibhaft-anschaulichen Bilder im Sich-erinnern aus jenem Exil wieder zu befreien vermag, in das Kant und Husserl sie verbannt hatten. Die Führungslinie, der ich folgen werde, ist die berechtigte Kritik der Kulturwissenschaft an der Erinnerungs-Vergessenheit der modernen Philosophie. Will man diese Vergessenheit nicht nur konstatieren, dann sind ihre gleichsam »unter Tage« liegenden Gründe zu erfragen. Ich werde herausarbeiten, daß ein entscheidendes Motiv für das Erlöschen des philosophischen Interesses an dem Thema »Erinnerung und Erinnerungsbilder« in dem ja tatsächlich schwer aufzuschlüsselnden Problemkomplex »Anschaulichkeit und Veranschaulichung« zu suchen und zu finden ist. In die Kantische Philosophie mit ihrer strikten Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand als den »zwei Stämmen« der Erkenntnis und mit der ihr zugrunde liegenden Polarität von »Anschauung« und »Begriff« läßt das Thema »Erinnerung« sich nicht mehr eintragen. So erklärt sich, warum Peter F. Strawson in seinem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft sich geradezu dafür entschuldigt, »diesen wichtigen Faktor in der Erfahrung« nicht erörtert zu haben, um dann den Satz niederzuschreiben: »wie kann dieses Vermögen derart vernachlässigt werden?« (Die Grenzen des Sinns, aus dem Englischen von Ernst Michael Lange, Meisenheim 1981, 94). Einen »dritten Stamm« der Erkenntnis wird man die Erinnerung und das Erinnerungsbewußtsein weder nennen können noch wollen; beide sind vielmehr in | 79

einer zwischen »Anschauung« und »Begriff« vermittelnden Dimension unseres Geistes zu verorten, die Kants Philosophieren nicht ausschreiten mag: im Zwischenraum nämlich einer »Anschaulichkeit«, die von bloßer sinnlicher »Anschauung« sich unterscheidet, in einem Raum zwischen »Anschauung« und »Begriff«, in welchem unsere Erfahrungen in Erinnerungsbildern »veranschaulicht« sind. Bei Kant bleibt dieser Zwischenraum leer, behauptet er doch: »wenn man den Begriff nicht von Bildern absondern kann, so wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«. Um der »Vernachlässigung« des Erinnerns im Denken Kants auf die Spur zu kommen, werden wir mehrere Theoriestücke seines »bildkritischen« Philosophierens in den Blick nehmen. Zuvörderst sein Konzept eines »transzendentalen Schemas« und seine Rede von »möglichen« Bildern und einem »reinen« Bild (Abschnitt I). Sodann seine Überlegungen zu »Gestalt«, »Figur« und »Zeichnung«, wobei wir auf die Kritik der Urteilskraft Bezug nehmen, in deren ästhetischem Teil Kant auf den spät-renaissancistischen Manierismus verweist; hier bietet sich die Gelegenheit, den Kantischen Gedanken einer »reinen« oder »wesentlichen Zeichnung« mit der Theorie des Manieristen Federico Zuccaro über den »disegno« zu konfrontieren, um verständlich zu machen, warum für Kant die Bilder der Erinnerung bloße »Erscheinungen« bleiben müssen (Abschnitt II). Schließlich werden wir dem Theorem einer »figürlichen Synthesis« nachgehen, an dem Kants Probleme mit der »Anschaulichkeit« abgelesen werden können; einige Details der Kantkritik Friedrich Heinrich Jacobis und Rückverweise auf die Renaissance dürften geeignet sein, das Erfordernis einer Verknüpfung von »Veranschaulichung« und »Sinnlichkeit« zu verdeutlichen. Schlußendlich bleibt Kants Theorie der »Hypotypose« oder »Versinnlichung von Begriffen« zu prüfen – mit dem Resultat, daß dieses Theoriestück offenkundig auf die Idee einer transzendentalen Repräsentation von »Anschauung« und »Begriff« abzielt, die den Verzicht auf jedwede bildliche Veranschaulichung impliziert. Die Ausführlichkeit dieser Auseinandersetzung mit Kant ist zum einen dem Respekt vor diesem großen Philosophen geschuldet; zum anderen ist sie aber unumgänglich, wenn die tief liegenden Wurzeln der »Erinnerungsvergessenheit« in der modernen Philosophie aufgegraben werden sollen. In den Abschnitten V und VI wende ich mich der Philosophie Edmund Husserls zu, die einerseits Kants quasi-begriffliche »Anschau80 | zweites kapitel

ung« mit der phänomenologisch geführten Idee bewußt gemachter »Anschaulichkeit« überbietet, andererseits indes diese Anschaulichkeit von aller »Verbildlichung« ablöst. Es sind seine Analysen des Zeitbewußtseins, die Husserl dazu bringen – oder muß man sagen: verleiten? – , die Erinnerung von allen »wirklichen« Bildern abzutrennen und nur noch von »gleichsam-Bildern« zu sprechen. Die Fährte, die ihn dahin führt, will gleichwohl, anhand der von ihm beschrieben »Retention« und »Protention«, sorgsam abgeschritten sein (Abschnitt VI), damit Husserls als einigermaßen seltsam zu bezeichnende Philosophie einer »Anschaulichkeit ohne Bilder« deutlich vor Augen treten kann. Der Kreis der Untersuchungen in diesem Kapitel darf mit dem Blick auf Schelers »materiale Wertethik« sich runden (Abschnitt VII). Das »Erlebnis« – im Gegensatz zu Kant ein hervorstechender Topos aller Richtungen der Phänomenologie – wird von Scheler auf die auch das Sich-erinnern »erlebende Person« fokussiert; damit setzt Max Scheler, anders als Kant und anders auch als Husserl, den entscheidenden Akzent. Wenn er, eine von Husserl vorgenommene Unterscheidung aufnehmend, von »mittelbarer« und »unmittelbarer« Erinnerung spricht, so rückt er sich dennoch in eine Gegenstellung zu Husserls »Egologie«, insofern er die Differenz dieser beiden Erinnerungsmodi in die Ganzheit leibhafter Personalität einbehalten sein läßt. Im letzten Kapitel meines Buches werde ich auf Schelers personalistisches Erinnerungsdenken zurückkommen. In einem letzten kurzen Abschnitt (VIII) verweise ich auf John Locke, der das Erinnern als »höchst notwendige« Voraussetzung für das philosophische Denken versteht und zugleich die »Baukunst« der Philosophen, das Errichten von Systemen, ebenso harsch kritisiert wie Giambattista Vico. Am Beispiel Kants, Hegels und Husserls erweist sich solche Kritik als triftig: in eine an der Systemidee orientierte (wie Paul Ricœur sie nennt) »réflexion totale« läßt sich das Erleben des Erinnerns nicht mehr umstandslos integrieren. * * * Unser Ausflug in das vergessene und verlorene Paradies des memoria-Denkens der Renaissance war geplant: als Einübung nämlich in eine kritische Musterung der an Kants »Experiment der reinen Vernunft« sei es anknüpfenden, sei es sich abarbeitenden philosophischen Moderne. Das Ergebnis dieses, »kopernikanische Wende« genannten Experiments hat Kant selber in seinen Vorlesungen über »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 81

Metaphysik in den Satz gekleidet: »wenn man den Begriff nicht von Bildern absondern kann, so wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«.1 Wenn wir uns Kants Ausgangsthese ins Gedächtnis rufen, daß das reine »ich denke« alle unsere Vorstellungen müsse »begleiten« können, weil diese Vorstellungen sonst »gar nicht gedacht« würden – eine These, von der in der Einleitung unseres Buches bereits die Rede war, weil sie die Exilierung der anschaulichen Erinnerung aus der Transzendentalphilosophie einleitet – , dann kann uns die Formel »Absonderung des Begriffes von Bildern« nicht allzu sehr überraschen. Gleichwohl bleibt zu prüfen, welchen präzisen Sinn das Wort »absondern« transportiert. Denn Kants Sprache ist einerseits überaus bedacht und andererseits oftmals höchst abgründig, insbesondere dann, wenn sie delikate Sachverhalte zu Worte bringen will. Seine Erklärung und Ergänzung findet der zitierte Satz aus den Vorlesungen über Metaphysik nicht nur im § 59 der Kritik der Urteilskraft, in welchem Kant seine Idee der »Hypotypose« – der »schematischen« und »symbolischen Darstellung« von Begriffen – vorstellt (auf diesen Text wird eigens zurückzukommen sein), sondern auch in dem Kapitel »Vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe« der Kritik der reinen Vernunft, wo das »Schema« definiert ist als »Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (KrV, B 179 f.). Kants Ausdrucksweise ist auch hier überlegt und zugleich problemanzeigend: weil reine Verstandesbegriffe und anschauliche Vorstellungen »ganz ungleichartig« sind, soll es einer »transzendentalen Doktrin der Urteilskraft« bedürfen, die dem Begriff ein ihm entsprechendes Anschauungsbild »verschaffen« muß; einem von der sinnlichen Wahrnehmung unabhängigen »transzendentalen Schema« wird solches »Verschaffen« eines sinnlich anschaulichen Bildes zur Aufgabe gemacht (KrV, B 176 –179). Schon Kants Wortwahl ist verräterisch. Denn die vordergründig so harmlosen Vokabeln absondern und verschaffen stehen nicht nur in Korrelation, insoweit alle beide eine Distanz des Bildes zum Begriff anzeigen; sie entpuppen sich überdies als Redefiguren, mit denen das reine Denken seine Scheu vor einem Eindringen in die unreinen Bilder der wahrgenommenen Welt bekundet und zu verbergen sucht. Kants Sprache ist mithin im Verfolg seines »Experiments der 82 | zweites kapitel

reinen Vernunft« genau und ehrlich; rätselhaft und ungenau wird sie indes, sobald sie darstellen möchte, wie die mannigfaltigen Vorstellungsbilder der sinnlich angeschauten Welt – also auch die Bilder der Erinnerung – in das Experiment »reiner« Vernunft dennoch sollen eingeholt werden können. Eine aufmerksame Lektüre der Textur des Schematismuskapitels hat deshalb unsere Auseinandersetzung mit Kant einzuleiten; auch sie kann uns vor Augen führen, wo Voraussetzungen für die Exilierung der Erinnerung aus der Kantischen Transzendentalphilosophie zu suchen sind.

I. »Einerseits intellektuell, andererseits sinnlich«: Kants Theorie der »reinen« und der »möglichen« Bilder Weil Verstandesbegriffe und Anschauungsbilder »ganz ungleichartig« sind, sucht Kant nach einem Dritten, das einerseits mit diesen Begriffen oder »Kategorien«, andererseits mit den »Erscheinungen« in der sinnlichen Anschauung (das meint hier: mit den Vorstellungen, die wir uns vom wahrnehmbar »Mannigfaltigen« machen) »in Gleichartigkeit« steht; denn nur eine solche Gleichartigkeit erlaubt die »Anwendung« von Verstandesbegriffen auf Erscheinungen. Von diesem Dritten, dem »transzendentalen Schema«, sagt er, es »muß einerseits intellektuell, andererseits sinnlich« sein, aber zugleich »rein (ohne alles Empirische)« gedacht werden (KrV, B 177). Die Auszeichnung »rein« bedeutet: das Schema hat die Funktion einer metaempirischen »Regel« für die gedankliche Verarbeitung des empirisch Mannigfaltigen, das allererst unter Begriffe »subsumiert« werden muß, um zu einem »Gegenstand der Erkenntnis« werden zu können, und die »Sinnlichkeit« des Schemas wird nicht »den Sinnen abgeborgt«, sondern soll wiederum als »reine« Sinnlichkeit begriffen werden – oder, wie es an anderer Stelle einmal heißt, als »sinnliche Anschauung, welche übrig bleibt, wenn gleich alles Empirische (Sinnesempfindung Enthaltende) weggelassen wird«.2 Da Kant nun das »Mannigfaltige der Erscheinung« – die »Materie« alles Empfindens und Wahrnehmens – unter eine »Form der Erscheinung« (KrV, B 34) bringen will, muß sein Philosophieren sich auf den Begriff als »Zusammenstellung des Mannigfaltigen«3 fokussieren. Jetzt unterscheidet er aber auch zwischen »empiri»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 83

schen« und »reinen« Begriffen und setzt damit eine Differenz, die dem in transzendentales Denken nicht eingeübten Leser seltsam erscheinen mag, die jedoch aus Kants Prämisse, daß Sinnlichkeit und Verstand zwei verschiedene »Stämme der Erkenntnis« seien, mit Notwendigkeit folgt. »Reine« Begriffe oder Kategorien (z. B. »Kausalität«) können »niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden« (KrV, B 176), sie gehören weder zur Sinnlichkeit noch lassen sie sich in ein Bild bringen. Ein »empirischer« Begriff ist demgegenüber z. B. der Begriff »Hund«, unter den alle wirklichen Hunde, die uns in der sinnlichen Anschauung begegnen, »subsumiert« werden. Im Schematismuskapitel heißt es dazu (KrV, B 180): »Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein«. Der empirische Begriff fungiert mithin als regulative, allgemein bleibende, gleichsam farblose Vorzeichnung, in welche die vielfarbigen »möglichen Bilder« brauner, schwarzer oder weißer Hunde eingetragen werden sollen. Dieser Begriff bleibt eine Verstandesskizze, die durch Vermittlung des von der Einbildungskraft »produzierten« Schemas4 auf den Anblick wirklicher Hunde »angewandt« wird, und auch das Schema des Begriffs bleibt ein Strukturkonzept, das den sinnlichen Anblicken lediglich »Einheit« oder eben »Form« gibt und deshalb »vom Bilde zu unterscheiden« ist (KrV, B 179). Von einem schwarzen oder weißen Hund haben wir darum immer nur ein »mögliches Bild«, anders gesagt: das Bild eines wirklichen Hundes in unserer Vorstellung hat seinen eigentlichen Möglichkeitsgrund weder in einem Anblick dieses Tieres noch in einer Erinnerung an solchen sinnlichen Anblick, sondern in einem Vorblick der »reinen«, schematisierenden Einbildungskraft, die sich nicht »einschränken« läßt auf ein »besonderes« Vorstellungsbild – Kant spricht von einem »Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden« (KrV, B 181). Für eine Nacherzählung der langen und kontroversen Auslegungsgeschichte des Schematismustheorems ist hier nicht der Ort. Bedenkenswert dürfte indes sein, daß Kant mit diesem Theorem 84 | zweites kapitel

bereits auf eine Thematik verwiesen hat, die in der modernen, durch Christian von Ehrenfels 1890 begründeten Gestaltpsychologie erörtert wird. »Gestalt« wird da als Vorstellungsganzes verstanden, das nicht identisch ist mit der Summe einzelner Vorstellungselemente im Bewußtsein, und das als einheitsschaffendes Ganzes diese einzelnen Elemente in einem Gleichgewicht hält. Das Kantische Schema darf durchaus in Analogie zu diesem Gestaltkonzept interpretiert werden, und insoweit vermag Peter F. Strawsons heftige Kritik an Kants »Irrwegen« in dem »imaginären Fach der transzendentalen Psychologie«5 nicht durchgängig zu überzeugen. Aber Kant hat auch notiert: »Dieser Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele« (KrV, B 180) – es sollte eigentlich auffallen, daß er in diesem Satz sich ausschweigt über die (nicht auf eine bloße »Mnemotechnik« reduzierbare) ars memoriae, über die »verborgene Kunst« der Seele, sich erinnern und mit Erinnerungsbildern umgehen zu können. Das hat natürlich mit seiner Transzendentalisierung der Funktionen des Bewußtseins zu tun, die ihn zwingt, von »möglichen Bildern« zu sprechen, die dem Schema »nicht völlig congruieren« (KrV, B 181). Hier stoßen wir noch einmal mehr auf eine höchst abgründige Redewendung, die wiederum bekundet, daß Kant der Frage nach Bildern im Erinnerungsbewußtsein ausweicht – und im Duktus seiner transzendentalen Systematik auch ausweichen muß. Heidegger hat sein Kantbuch abgeschlossen mit der Bemerkung: »Um dem, was die Worte sagen, dasjenige abzuringen, was sie sagen wollen, muß jede Interpretation notwendig Gewalt brauchen«. Von Gewalt beherrscht ist jedenfalls Heideggers Auslegung des Kantischen Zeitbegriffs, erweist sie sich doch als von seinem eigenen Werk Sein und Zeit gesteuert. Zum Schematismuskapitel Kants notiert Heidegger jetzt zunächst zwei zutreffende – und gewaltlose – Sätze: »Das Bild hat […] das Angesicht eines Einzelnen«; das Schema demgegenüber hat zur Absicht »die Einheit der allgemeinen Regel vielfältig möglicher Darstellungen«. Von dem durch das Schema »ermöglichten« Bild aber erklärt er anschließend, daß es aus der in seiner Regelung vorgestellten »möglichen Darstellung herausspringt und so gleichsam die Regel in die Sphäre der möglichen Anschaulichkeit hineinhält«.6 Mit diesem dritten Satz hat Heidegger den »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 85

Worten und Gedanken Kants in der Tat etwas »abgerungen« – aber etwas, was sie weder sagen wollen noch sagen dürfen. Denn die transzendentale Einheitsregel wird in Kants Theorie auf jedwede »mögliche Anschaulichkeit« nur »angewandt«, keineswegs in diese selber »hineingehalten«, und das »mögliche Bild« bleibt der strukturierenden Regel (die dieses Bild allererst »ermöglicht« und also bedingt) unterworfen oder eben »subsumiert«; es darf mithin aus der transzendental geregelten »möglichen Darstellung« nie und nimmer »herausspringen«, nicht einmal »gleichsam« – sonst müßte Kant nämlich dieses Bild einem »empirischen Vermögen der produktiven Einbildungskraft« (KrV, B 181) anheimgeben (wie er es bei wirklichen Bildern der sinnlichen Wahrnehmung macht). Dennoch bleibt Heideggers Schematismusdeutung von Interesse: insofern nämlich, als auch sie die immer wieder an Kants Philosophie zu stellende Frage nach einer Anschaulichkeit und nach einer Sinnlichkeit evoziert, die möglicherweise noch vor ihrer transzendentalen Schematisierung oder Regulierung »möglich« ist – eine kritische, von Kant »unkritisch« genannte Frage, die gleichwohl für eine Erörterung des Charakters von anschaulichen Erinnerungsbildern unverzichtbar bleibt. Kants Texten etwas »abzuringen«, was sie wortwörtlich nicht sagen, sondern vielleicht – oder angeblich – »sagen wollen«, ist ein gewagtes Unternehmen. Insbesondere der Text des Schematismuskapitels fordert zu solchem Wagnis aber geradezu heraus, denn Kant hat hier zweifellos ein fundamentales Erkennnisproblem im Visier, ohne es in überzeugender Weise lösen zu können. Durchaus einsichtig ist da zwar seine Rede von der »gänzlichen Ungleichartigkeit« des Verstandesbegriffs mit der anschaulichen Vorstellung; seine These über eine »Gleichartigkeit« des transzendentalen Schemas »einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung« (KrV, B 177) bleibt aber demgegenüber zumindest insofern rätselhaft, als man sich ja fragen darf, wie diese »Gleichartigkeit« wohl zu denken ist. Müßte Kants Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit als zwei verschiedener Stämme der Erkenntnis denn nicht auch die Eintragung einer Differenz in diese »Gleichartigkeit« zur Folge haben, der Differenz nämlich zwischen der Gleichartigkeit des Schemas mit der Kategorie als Verstandesbegriff (insofern beide »Regelcharakter« besitzen) und der Gleichartigkeit des Schemas mit den Erscheinun86 | zweites kapitel

gen als sinnlich-anschaulichen Vorstellungen (insofern das bildermöglichende Schema den »Bildcharakter« der Vorstellungen des »Mannigfaltigen« bedingt)? Die Skizzierung einer derartigen Differenz würde allerdings das Kantische Konzept einer linearen »Gleichartigkeit« des transzendentalen Schemas »einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung« von innen her aufbrechen – und die Schematismuslehre bedarf nun einmal der Konstruktion einer ungebrochenen »Gleichartigkeit« von Verstandesbegriffen und sinnlich-anschaulicher Erscheinung, um »die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich« werden zu lassen (KrV, B 177). Und was heißt »Anwendung« von Verstandesbegriffen auf sinnlich-anschauliche Erscheinungen? Es heißt, daß Verstandesbegriffe auf Sinnlichkeit und sinnliche Anschauung sich lediglich beziehen, und dies wiederum bedeutet, daß mit dem Schematismustheorem und der mit ihm verknüpften Theorie der »möglichen« Bilder alle bildhafte Anschaulichlichkeit einer unanschaulichen logischen Funktion unterstellt wird. Eben dies ist das Binnenproblem der Schematismuslehre. »Kant hat selbst gesehen, daß die Entdeckung eines ursprünglichen Vermögens der Schemata und Bilder zu Folgerungen führen müßte, die mit der Vorherrschaft der logischen Funktionen, die seinen Systembegriff charakterisiert, unvereinbar sind«.7 Wenn wir also den Satz über die Einbildungskraft als einer »unentbehrlichen Funktion der Seele« angemessen verstehen wollen, dann dürfen wir erstens nicht übersehen, daß Kant es sich auch hier versagt, die memoria mit ihren Erinnerungsbildern zu erwähnen; ihm geht es ja einzig darum, daß wir ohne die Einbildungskraft »überall gar keine Erkenntnis haben würden«. Zweitens dürfen wir niemals außeracht lassen, daß Kant in seinem Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft die Rede von der »unentbehrlichen Funktion der Seele« korrigiert und durch die Formel »Funktion des Verstandes« ersetzt hat. Demgemäß heißt es denn an dieser Textstelle auch: die Synthesisleistung der Einbildungskraft ist »auf Begriffe zu bringen« – das aber ist »eine Funktion, die dem Verstande zukommt« (KrV, B 103). Kant mußte die bildschöpferische, »veranschaulichende« Funktion der Seele zu einer Funktion des Verstandes umfunktionieren, um sein Experiment der »reinen« Vernunft nicht zu gefährden. Das Schema der Einbildungskraft bleibt mithin »eine Regel der Bestim»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 87

mung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe« (KrV, B 180)8 – und ohne sich »bei einer trockenen und langweiligen Zergliederung dessen, was zu transzendentalen Schematen reiner Verstandesbegriffe überhaupt erfordert wird, aufzuhalten« (KrV, B 181), erdenkt der Königsberger Philosoph neben dem Konzept eines »möglichen« jetzt auch dasjenige eines »reinen Bildes«: »Das reine Bild aller Größen (quantorum) vor dem äußeren Sinn ist der Raum, aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt die Zeit«. Als »Form« jedweder Anschauung der Gegenstände der Sinne ist die Zeit für Kant »unwandelbar und bleibend« (KrV, B 183) – »die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist« (KrV, B 58) – , und darum soll sie »reines Bild« genannt werden dürfen. Was aber mag ein »reines« Bild wohl sein? Ist Kants »reines Bild« vielleicht ein transzendentaler Schein? Verdanken sich Bilder denn nicht immer einer sinnlichen Anschauung, bleiben sie mithin nicht – gerade für das transzendentale Denken – stets »unrein«? Und die Zeit, die Kant als »reines Bild« vorstellt: ist sie wirklich nur die »subjektive Bedingung, unter der alle Anschauungen in uns stattfinden«, die bloße »Form des inneren Sinnes«, die weder »zu einer Gestalt gehört« noch unseren Anschauungen »Gestalt gibt« (KrV, A 33)? Die Bilder der Erinnerung sind niemals »rein«, aber sie geben durchaus unseren Anschauungen und unserem Bewußtsein eine »Gestalt«. Und vor allem verweist ihr Kommen und Gehen auf die eigenartige »Zeitlichkeit« des Erinnerns. Unterliegt diese Zeitlichkeit tatsächlich einzig einem »reinen« Bild der »Zeit« als ihrer »unmittelbaren Bedingung a priori« (KrV, A 34)? »Zeit« ist ein Schlüsselbegriff der Kantischen Philosophie. »Zeit als Zeitlichkeit« ist ein zentrales Problem der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins. Denn gerade die Zeitlichkeit des Erinnerns gibt dem Bewußtsein eine es prägende Gestalt: vermittels der »Figuren« der memoria – von denen Kant nicht spricht. Unumgänglich wird also eine Konfrontation des von Kant erdachten »reinen Bildes« der Zeit mit dem in der philosophischen Tradition so intensiv erörterten Konzept der »Figuren« einer zeitlich verfaßten memoria. Eine derartige Konfrontation vermag noch einmal mehr zu verdeutlichen, warum Kant die Erinnerung aus seiner theoretischen Philosophie exilieren mußte. 88 | zweites kapitel

In dieser theoretischen Philosophie geht es Kant bei der Frage nach Zeit niemals um die spezifische Zeitlichkeit eines Erinnerungsbewußtseins, sondern um »Zeitbestimmungen a priori«, die er »reine Anschauungen« oder auch »Schemata« nennt; sie »bestimmen« und regeln »die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände« (KrV, A 145).9 Der Regelcharakter der Zeitbestimmungen vermag einigermaßen zu erklären, was Kant mit der unklaren Rede von einem »reinen Bild« sagen will: alle »zeitliche« Erfahrung ist dem reinen Bild der »Zeit« immer schon ein-gebildet, alle »zeitliche« Anschauungserfahrung ist im transzendentalen, von Erfahrung unabhängigen und deshalb reinen Anschauungsbild »Zeit« a priori vor-gebildet. Wie den Anblick der »möglichen Bilder« weißer oder schwarzer Hunde unter die farblose Vorzeichnung des Regelbegriffes »Hund«, so rückt Kant hier auch die mögliche Erfahrung von »Zeitlichkeit« unter das Schema einer reinen »Zeitbestimmung«, die jedes zeitliche Geschehen soll »regeln« können. Sucht man nach dem Motiv, das diese Strategie des Umgangs mit dem Zeitproblem steuert, dann muß man sich Kants praktischer Philosophie zuwenden. Deren Leitbegriff heißt »transzendentale Freiheit« – Freiheit, die ebenfalls unabhängig von erfahrbarer Freiheit und Unfreiheit gedacht ist. »Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch die Antriebe der Sinnlichkeit« (KrV, A 534) – ich darf den Leser dieses Satzes an die Bedenken erinnern, welche ich im ersten Kapitel dieses Buches auch Hegel gegenüber formulierte: daß nämlich die memoria mit ihren Erinnerungsbildern es ist, an der wir unsere Unfreiheit, unsere immer nur kontingente Freiheit ablesen können, deren Wurzel in der »Sinnlichkeit« liegt, von deren »Nötigung« wir schwerlich »unabhängig« sind. Kants »reines« Bild der Zeit korrespondiert seinem Fundamentalbegriff »reiner«, transzendentaler Freiheit: beide zielen gleichermaßen auf eine Überwindung von Zeitlichkeit und zeitlichgeschichtlicher Erfahrung, wie Erinnerung sie festhält. Und wiederum ist Kants Lehre von der Zeit als »reinem Bild« die Theorie einer Unterwerfung aller zeitlichen Erinnerungsfiguren unter Begriffe des Verstandes: der »Zeitreihe« unter den Begriff der Quantität, des »Zeitinhalts« (der Zeitlichkeit nämlich sinnlicher Erfahrung) unter den Begriff der Qualität, der »Zeitordnung« unter den »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 89

Begriff der Relation, und schließlich des »Zeitinbegriffs« (der umgreifenden Universalität der Zeit) unter den Begriff der Modalität (KrV, A 145). Wenn Kant jetzt auch noch ausdrücklich notiert, die »transzendentale Zeitbestimmung« als »das Schema der Verstandesbegriffe« ermögliche die »Anwendung« von Kategorien auf »Erscheinungen« (KrV, A 139), dann gibt er damit unverhohlen zu, daß Erinnerungsbilder für ihn nichts anderes sein dürfen als eben – »Erscheinungen«10, die einer transzendentalen Regelung unterworfen werden müssen. Der Königsberger Denker knüpft ein Strukturnetz aus transzendentaler Zeitbestimmung, transzendentaler Freiheit und transzendentaler Schematisierung von Erscheinungen, in das sich nur mehr »mögliche« und »reine« Bilder eintragen lassen; für »wirkliche« Erinnerungsbilder und ihre gänzlich eigenartige, geschichtlich bedingte »Zeitlichkeit« gibt es in diesem konsequent geflochtenen Netz keinen Ort.11

II. Anschaulichkeit, Gestalt, Figur: Kant und der manieristische disegno »Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein« (KrV, B 180). Dieser schon einmal zitierte Satz soll uns ein weiteres Mal beschäftigen – nicht entlang jener Fährte, auf der sich die akademische Kantforschung üblicherweise bewegt, sondern im Hinblick auf das Problem veranschaulichender Figuration, wie es sich in den hier kursiv gesetzten Formulierungen Kants anzeigt. Unser Philosoph gibt seinem Leser ja ein großes Rätsel auf: einerseits eröffnet er mit seiner Lehre von der reinen Anschauung ebenso wie mit seiner Theorie des transzendentalen, »bildermöglichenden« Schemas in genialer Weise eine spekulative Tiefendimension der Bilderwelt; andererseits unterwirft er, was der obige Satz bekundet, deren »mögliche« und »eingeschränkte« Bilder dem Dominat des erkennenden Verstandes und spricht ihnen damit das vitale Vermögen ab, aus sich selber eine erkenntnisrelevante Anschaulichkeit zu erzeu90 | zweites kapitel

gen.12 Dabei unterschätzt er keineswegs die Macht der Bilder über unser Gemüt. Den Zuhörern seiner Anthropologievorlesung erklärt er beispielsweise »das Heimweh der Schweizer« – das sie überfällt, »wenn sie in andere Länder versetzt werden« – mit einer »Zurückrufung der Bilder der Sorgenfreiheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 32), um indes sofort anzumerken, daß ein solches Erinnerungsvermögen, welches »das Vergangene zu vergegenwärtigen« vermag, nur »sinnlich« sei, nämlich lediglich eine »Assoziation der Vorstellungen des vergangenen Zustandes des Subjekts« (ebd., § 34), und um schließlich ein Gedächtnis, in das die Einbildungskraft sich »mischen« würde, als »untreu« zu apostrophieren. Wenn er sodann von den »Wundermännern des Gedächtnisses«, »die eine Ladung Bücher für hundert Kamele als Materialien für die Wissenschaften in ihrem Kopf herumtragen«, »nicht verächtlich sprechen« möchte, dann deshalb, »weil sie vielleicht die für das Vermögen der Auswahl aller dieser Kenntnisse zum zweckmäßigen Gebrauch angemessene Urteilskraft nicht besaßen« (ebd.). Aber mit diesen Sätzen gesteht Kant nur seine schiere Ahnungslosigkeit von der ars memoriae ein, die nicht nur eine Kunst des Umgangs mit den loci et imagines, den »Örtern und Bildern« in Gedächtnis und Erinnerung war, sondern auch ein Urteil über beide verlangte.13 Um Kants folgenreiches Fehlverständnis der ars memoriae und seine Scheu vor den Bildern der Erinnerung zu verstehen, die er schlicht unter seinen polysemischen Begriff der »Vorstellung« subsumiert, ist eine Spurensuche angezeigt. Der Königsberger Philosoph hat »Anschauung« für unverzichtbar erklärt: »Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe ein Erkenntnis abgeben können« (KrV, B 74). Der Text belegt, daß »Anschauung« für Kant das notwendige Korrelat des »Begriffes« ist und insofern selber einen – unscharfen – Begriffscharakter hat; sie kann in Kants kritizistischer Erkenntnistheorie gar nichts anderes sein als ein »reiner Grenzbegriff, eine Abstraktion von den Vermittlungen, in denen sich die menschliche Weltorientierung vollzieht«.14 Das Kantische Erkenntnismodell bleibt strukturiert durch den Spagat zwischen einer »Rezeptivität der Ein»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 91

drücke«, mit der »uns ein Gegenstand gegeben« wird, auf der einen Seite, und einer »Spontaneität der Begriffe«, durch die dieser Gegenstand »gedacht« werden soll, auf der anderen (ebd.). Und wenn es in der Kritik der Urteilskraft heißt, zur »Realität unserer Begriffe […] werden Anschauungen erfordert«, dann bedeutet das lediglich, daß dem Begriff die ihm »korrespondierende« Anschauung entweder »a priori gegeben« oder, als sinnliche Anschauung, »untergelegt« werden darf (KdU, § 59). Der vermittelnde Zwischenraum zwischen Anschauung und Begriff, in den die Analyse und Beschreibung einer erkenntnisrelevanten »Anschaulichkeit« eingepaßt wäre, bleibt bei Kant leer. Die Bilder und Figuren der Erinnerung transportieren aber nun eine solche Anschaulichkeit, die durchaus Relevanz für Erkenntnis besitzt: für die Erkenntnis nämlich eines »bewußten Lebens« und damit für Bewußtheit überhaupt.15 Mit dem Wort »Gestalt« – Übersetzung der »Figur« – hat Kant den vermittelnden Zwischenraum zwischen »Anschauung« und »Begriff«, den Raum also erkenntnisrelevanter Anschaulichkeit, zwar eingekreist – aber diesen Kreis sofort wieder in zwei Segmente zerschnitten. Denn von der »Gestalt« eines vierfüßigen Tieres, die man »allgemein verzeichnen kann«, trennt er die »besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet«, strikt ab. Im Zuge unserer Spurensuche stoßen wir da auf jenen in unserem »Exkurs« vorgeführten und dieser Kantischen Segmentierung entsprechenden Schnitt, den Descartes in den Figurbegriff der Renaissancephilosophie eingetragen hatte: einen Schnitt, der die farblose Skizze des simplex figurae conceptus – des »einfachen«, dem Kupferstich abgelesenen Gestaltbegriffes – von den Bildfiguren des Gemäldes und der »Qualität« seiner Farbgebung ablöst. Kants Theorem der »allgemein verzeichneten Gestalt« leistet der kartesischen Strategie der »Defiguration« qualitativ dargestellter Anschaulichkeit Gefolgschaft. Eine strukturinventive Spurensuche, die nicht nur Kants Rede von einer »Gestalt«, die man »allgemein verzeichnen« kann, sondern auch sein Konzept des »reinen« Bildes aufzuhellen vermag, führt aber noch hinter die »defigurierende« Strategie des Cartesius zurück. Diese in der Kantforschung seltsamerweise unbeachtete Fährte wollen wir jetzt beschreiten. In der Kritik der Urteilskraft von 1790 heißt es einmal: »In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Bau92 | zweites kapitel

kunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen; vielmehr werden sie durch das, was die schöne Form erfordert, mehrenteils gar sehr eingeschränkt und selbst da, wo der Reiz zugelassen wird, durch die erstere allein veredelt«; und weiter: »Der Reiz der Farben oder angenehmen Töne des Instruments kann hinzukommen, aber die Zeichnung in der ersten und die Composition in dem letzten machen den Gegenstand des reinen Geschmacksurteils aus« (KdU, § 14). Kant skizziert hier den kunsttheoretischen Hintergrund seines in der Vernunftkritik vorgetragenen Theorems der »allgemein verzeichneten Gestalt«: die »Zeichnung« ist das »Wesentliche«. Die »Farben« mögen zu ihr »hinzukommen«, doch »den Abriß illuminieren« sie nur; die gezeichnete »Form« wird durch sie sogar »eingeschränkt« (während die allgemein »verzeichnete« Gestalt, so lautet ja die These in der Vernunftkritik, dadurch charakterisiert ist, durch ein »mögliches Bild« nicht »eingeschränkt« zu sein). Was Kant hier ausführt, entspricht aufs Haar den Überlegungen, die Descartes in der Dioptrik niedergelegt hatte: der »einfache« Begriff der Figur bedarf keiner Unterstützung durch Bilder mit ihrer Farbqualität. Aber wie ist der starke Akzent zu verstehen, den Kant in der Kritik der Urteilskraft auf die »Zeichnung« setzt und in der Kritik der reinen Vernunft auf die allgemein »verzeichnete« Gestalt? Kant selber weist den Weg, auf dem die Antwort auf diese Frage gesucht werden muß, und zwar wiederum im ästhetiktheoretischen Teil der Kritik der Urteilskraft. Da spricht er nämlich von der »Manier« als einem modus aestheticus, dessen »Richtmaß« das »Gefühl der Einheit in der Darstellung« ist, und da hebt er diese »Manier« deutlich von einer »manieristischen« Kunst ab, die bloß auf »Sonderbarkeit« abstellt (KdU, § 49). »Zeichnung« im Kontext der vom »Manieristischen« abgehobenen und positiv eingeschätzten »Manier« – Kant hat offenkundig das Janusantlitz der Kunstepoche des Manierismus in ihrem Dilemma zwischen konziser Theorie und ornamentierender Manie durchschaut; unsere Spurensuche dürfte »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 93

sich darum in einer sachgemäßen Perspektive bewegen, wenn sie ihren Blick auf den spät-renaissancistischen Manierismus richtet und auf dessen bedeutendsten Vertreter, der ebenfalls die »Zeichnung« – den disegno – als »das Wesentliche« in jeder gedanklichen und künstlerischen Darstellung angesehen hat: auf Federico Zuccaro.16 Dieser Maler und Philosoph entwickelt in seinem Werk L’Idea de’pittori, scultori e architetti17 eine Theorie der »inneren Zeichnung«, des disegno interno, dem er den disegno esterno, die »äußere Zeichnung« zur Seite stellt, die malerische, plastische und architektonische Ausführung des disegno interno. Weil forma und regola spirituale, nennt er diese innere Zeichnung auch »Begriff«, concetto formato nella mente nostra (L’Idea I, 3), betont aber energisch, daß dieser Begriff »seinen tiefsten Ursprung in den Sinnen hat« (ebd., I, 7). Schon damit ist angezeigt, daß es Zuccaro um die Möglichkeit einer konkret anschaulichen und »einheitlichen« Darstellung im Gefüge ihrer intellektuellen und sinnlichen Bedingungen geht, wobei er die »innere Zeichnung« von der »äußeren« figura, »der Gestalt eines jeden wirklichen oder imaginierten Dinges« zwar unterscheidet (ebd., II, 1), aber keineswegs darauf abzielt, die eine von der anderen loszulösen. Um das zu verdeutlichen, wählt er – wie dann auch Hegel in der Enzyklopädie – das Beispiel »Löwe« und hält fest – ganz anders nun als Hegel – , daß der disegno interno »ebenso die Natur wie die Form des Löwen« repräsentiert, insofern die innere Zeichnung nämlich nicht einen »einfachen« Löwen, einen leone semplice, sozusagen das bloße Wortbild »Löwe« umschreibt, sondern tutti i leoni, alle wirklichen Löwen meint (ebd., I, 3). Der disegno ist mithin keine Zeichnung einer »rein« bleibenden Anschauung, sondern aufgrund seiner einerseits »innerlichen«, andererseits »äußerlichen« Struktur bezieht er sich »sowohl auf die Sinnlichkeit als auf den Intellekt« – al senso e all’intelletto – , ordnet also die Sinnlichkeit ebenso wie den Intellekt einer von allen beiden getragenen Veranschaulichungsdimension zu. Weil Zuccaro nun aber dem disegno interno das erste und dem disegno esterno das zweite Buch seiner Abhandlung gewidmet hat, glaubten manche Interpreten von einer kategorialen Differenz zwischen den beiden Zeichnungen sprechen zu dürfen – gleichsam in Analogie zu der Kantisch-transzendentalen Differenz von »Begriff« und »Anschauung«. Eine sorgsame Lektüre der Texte Zuccaros 94 | zweites kapitel

verbietet indes diese Auslegung. Und zwar nicht nur deshalb, weil für diesen Malerphilosophen beide Zeichnungen, die innere wie auch die äußere, sich zur Gemeinsamkeit eines segno-di-Dio miteinander verfugen (ebd., II, 16) und damit aus einem sie verknüpfenden metaphysischen Grund sich sollen ableiten lassen, sondern weil Zuccaro darüberhinaus ausdrücklich betont: jeder disegno, sei er ein disegno interno oder ein disegno esterno, ist »ein zugleich innerlich und äußerlich perspektivisch veranschaulichendes Licht und ein Führer in alle Wissenschaft und Praxis«.18 Mit anderen Worten: gerade in ihrer Zuordnung zueinander stellen »innere« und »äußere Zeichnung« (oder figura) die Anschaulichkeit aller Darstellung sicher – eine Anschaulichkeit mit kognitiver Relevanz, insofern sie nicht nur die künstlerische »Praxis«, sondern auch die »Wissenschaft« anleiten.19 Unser Rückblick von Kants »wesentlicher Zeichnung« auf Zuccaros (für den Problemtitel »Anschaulichkeit« nicht minder wesentlichen) disegno zielt weder auf einen »Vergleich« der beiden Konzepte noch unterstellt er, daß Kant von der Schrift L’Idea de’pittori Kenntnis gehabt haben muß. Texte und Theoreme, die sich unterschiedlichen epochalen Bedingungen und Motiven verdanken, sind als solche nicht vergleichbar; Problemstellungen hingegen werden sogar vergleichsbedürftig gerade dann, wenn sie sich in ihrem Aufriß und ihrer Strukturierung unterscheiden. In diesem Sinne bleibt die Spurensuche, die uns von Kant zu Zuccaro (oder Zuccari) führte, »strukturinventiv«: sie faßt die Ähnlichkeit einer Problemstellung ins Auge und erkundet die Differenz ihres strukturellen Aufrisses. Denn beiden, Zuccaro wie Kant, geht es um die Auslotung einer Tiefenschicht, aus der heraus Bilder »intelligibel« gemacht werden können, und für beide ist es die »Zeichnung«, die den Zugang zu dieser Tiefendimension eröffnen soll. Aber die »Zeichnung« hat bei Kant einen anderen Stellenwert als bei Zuccaro: für den Malerphilosophen liegt ihr Ermöglichungsgrund in einer Metaphysik, für den kritizistischen Denker ist sie abhängig von einer »transzendentalen Reflexion«, und schon dieser Unterschied hat eine gänzlich andere Sicht auf die Bilder der Welt und die Bilder im Bewußtsein zur Folge. Zuccaro leitet seine Theorie der »inneren« ebenso wie der »äußeren Zeichnung« von der Transzendenz des göttlichen Geistes her, der con uno solo sguardo, »mit einem einzigen Blick«, ein di»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 95

segno comprensivo di tutte le cose, eine »umgreifende Zeichnung sämtlicher Dinge« entwirft; der endliche Geist des Menschen entbehrt dieses »komprehensiven« Blickes, seine Zeichnung der Dinge faltet sich auseinander in deren disegno interno – ihren Begriff, ihr concetto – und ihr disegno esterno – ihre anschauliche Gestalt oder figura, doch der concetto im Intellekt und die anschauliche äußere figura bleiben eingefaltet in die Idee eines sie verknüpfenden segnodi-Dio (L’Idea I, 7). Die Dimension »figurierter Anschaulichkeit« – jener bei Kant ausgesparte Zwischenraum zwischen dem »Begriff« und dem Quasi-Begriff »Anschauung« – bleibt begründet durch die Metaphysik der »umgreifenden« Zeichnung und kann deshalb mit »wirklichen Bildern« gefüllt werden. Bei dem Kritizisten Kant tritt an die Stelle einer Metaphysik des disegno comprensivo die »transzendentale Reflexion«, die jede »wesentliche Zeichnung« in der Kunst, jede »allgemeine Verzeichnung« der Einbildungskraft und jedes »mögliche Bild« vermittels dessen schematischer Regel bedingt. Kant nennt diese »transzendentale Überlegung« eine »Pflicht, von der niemand sich lossagen kann, wenn er apriori etwas über Dinge urteilen will« (KrV, B 319), und er hat selber sein Vernunftexperiment dieser »Pflicht« einer »Vergleichung der Vorstellungen« unterworfen, nämlich: ob sie »zum reinen Verstand oder zur sinnlichen Anschauung gehören« (KrV, B 317). Die transzendentale Reflexion ist keine »Erkenntnis«, sie will nichts anderes sein als eine Abgleichung der längst gepflanzten Stämme der Erkenntnis, des Verstandes und der »Anschauung«; und das ganze Experiment der reinen Vernunft, das Kant in seinen drei kritischen Entwürfen unternimmt, ist nichts anderes als solche Vergleichung oder Abgleichung – aus welcher der spezifische »Gestaltbereich« einer aus sich selber erkenntnisrelevanten »Anschaulichkeit« wiederum herausfällt. Von daher rührt die Klarheit wie gleichermaßen die abgründige Unklarheit der Kantischen Sprache: die Klarheit, mit welcher er die von der Einbildungskraft »allgemein verzeichnete Gestalt« von der »besonderen Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet«, in »vergleichender« Absicht unterscheidet, und die Unklarheit andererseits in seinem Gebrauch des Wortes »Bild«. Denn die Rede von einem »möglichen Bild« überzeugt, insofern es vom transzendentalen Schematismus ermöglicht sein soll. Die Rede von einem »reinen 96 | zweites kapitel

Bild« hingegen bleibt widersprüchlich; sie ist nicht nur verwirrend, sondern im strengen Verständnis auch sinnlos. Hinter ihr steckt noch einmal die transzendentale Reflexion einer Abgleichung der Vorstellungen des »reinen« Verstandes und der sinnlich unreinen »Anschauung«, dieses polysemischen »Grenzbegriffs«. Vorstellungen des »reinen« Verstandes sind natürlich Begriffe. Wenn Kant jetzt seinen Begriff der »Zeit« – weil sie eine »Form des inneren Sinnes« ist – ein »reines Bild« nennt, dann denkt er, mutatis mutandis, einen Gedanken, der schon der Gedanke Zuccaros war: daß nämlich »reine Zeichnung« und Begriff oder concetto im disegno interno sich wechselseitig überschneiden. Nur: die »reine« oder »wesentliche Zeichnung« ist niemals ein reines »Bild« – ihr fehlen die qualitativen Valeurs der Farben. Der Maler Zuccaro kann auf sie nicht verzichten, eben darum ordnet er dem disegno interno den disegno esterno zu, und so darf er auch vom »zugleich innerlich und äußerlich veranschaulichenden Licht« des disegno sprechen. Für Kant, den Theoretiker des »reinen« Geschmacksurteils, sind Farben bestenfalls eine »reizende« Zutat, die »hinzukommen kann« – und darum hält der Philosoph der transzendentalen Reflexion, die den »reinen« Verstand mit der sinnlichen Anschauung lediglich »vergleicht«, denn auch an dem Selbstwiderspruch und dem tranzendentalen Schein eines »reinen« Bildes fest. Vor solchem »reinen Bild« müssen die »wirklichen Bilder« der Erinnerung, ganz folgerichtig, bloße »Erscheinungen« bleiben – denn »nur von diesen sind wir der Anschauung a priori fähig (KrV, B 151).20

III. »Figürliche Synthesis«: Kants Probleme mit der »Anschaulichkeit« Seine Rede von »Erscheinungen« begründet Kant mit dem Hinweis auf »eine gewisse Form der sinnlichen Anschauung a priori«, auf eine mithin von aller Erfahrung unabhängige Regelform jedweden Betrachtens, Anblickens und Anschauens; sie soll »die Bedingung« sein, »unter welcher alle Gegenstände unserer (der menschlichen) Anschauung nothwendiger Weise stehen müssen«, eine Bedingung also, welche die von uns mit unseren Augen sinnlich und »menschlich« angeschauten Dinge in »Erscheinungen« verwandelt und als »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 97

Erscheinungen einer »in uns a priori zum Grunde« liegenden Anschauungsform auch »bestimmt« (KrV, B 150). Diese transzendentale Optik, der es einzig um die »Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung« geht (KrV, B 151), bleibt blind für die »Anschaulichkeit« der in ihrer Mannigfaltigkeit angeschauten Gegenstände selber, sowohl der wirklichen Dinge in der Welt als auch der in der Erinnerung anschaulich vorgestellten Dinge. Und wenn Kant nun darauf besteht, daß diese »zum Grunde« liegende apriorische, also erfahrungsunabhängige Anschauungsform »auf der Rezeptivität der Vorstellungsfähigkeit (Sinnlichkeit) beruht« (KrV, B 150), dann gibt er damit seinem Leser eine harte Nuß zu knacken. Sie aufzubrechen kann nur heißen, an Kant die kritische Frage zu richten, welcher Spielraum einer sinnlich bedingten »Anschaulichkeit« des Mannigfaltigen und der Sinnlichkeit selber noch verbleibt, wenn alle »menschliche Anschauung« in »nothwendiger Weise« von der apriorischen Anschauungsform bedingt und bestimmt sein soll. Kant selber fordert diese heikle Frage heraus, erklärt er doch auch: unser Verstand »kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen« (KrV, B 135). Der Verstand muß das deshalb, weil er kraft seiner Spontaneität zwar Begriffe bildet, aber das mannigfaltig Gegebene nicht anzuschauen vermag. Die rezeptive Anschauung des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen bedarf darum einer anderen, von der transzendentalen Einbildungskraft geführten Begründungsinstanz: der »Form der sinnlichen Anschauung a priori«. Von dieser heißt es nun, sie »beruhe« auf einer vorstellenden Sinnlichkeit – einer Sinnlichkeit allerdings, der »keine Empfindung beigemischt ist« (KrV, B 74). Apriorische Anschauungsform und Verstand rücken die Sinnlichkeit in ein oszillierendes Licht. Die Kantischen Überlegungen transportieren somit zwei Probleme: das erste stellt sich mit dem kleinen Wort »suchen«, das zweite fokussiert sich auf das Thema »Sinnlichkeit«. Und obwohl Kant, axiomatisch und von vornherein, Sinnlichkeit und Verstand als die beiden »Grundquellen des Gemüths« bezeichnet (ebd.), dürfte eine abschließende Anfrage berechtigt sein: die Anfrage nämlich, ob das Experiment der »reinen« Vernunft sich nicht ganz von selber zu einer Suche nach Sinnlichkeit verurteilt. Warum muß unser Verstand in den Sinnen die Anschauung »suchen«? Und weiter: resultiert solches Suchen schließlich in einem 98 | zweites kapitel

»Finden«? Will Kant uns bedeuten, daß der Verstand zur sinnlichen Anschauung stets hinfindet, daß die Suche des Verstandes ihr Findungsziel mithin auch erreicht? Ist die Rede von einem die Anschauung in der Sinnlichkeit »suchenden« Verstand angesichts der These, daß Anschauung und Verstand »die Elemente aller unserer Erkenntnis« doch immer schon sind (ebd.), überhaupt eine sinnvolle Rede? Wenn gültig bleiben soll, daß weder Begriffe ohne Anschauung noch Anschauung ohne Begriffe »ein Erkenntnis abgeben können«, wenn Kant hinsichtlich der Spontaneität des Verstandes und der Rezeptivität der sinnlichen Anschauung zudem erklärt: »keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen« (KrV, B 75) – was kann dann die Formel, der Verstand »muß in den Sinnen die Anschauung suchen« noch meinen? Anders als Giambattista Vico hat Kant eine Theorie der inventio, eine Topik des Suchens und Findens, niemals entworfen; bekanntermaßen hat er einer solchen Findungstopik sogar eine »transzendentale Topik« entgegengestellt, eine gänzlich andersartige Topik, die nur prüft, »wo die Vorstellungen der Dinge hingehören«, nämlich wiederum entweder zum Verstand oder zur Sinnlichkeit (KrV, B 324 ff.). Und vor der Folie dieser transzendentalen Topik, die prüft und beurteilt, aber nichts mehr »finden« muß, spricht Kant jetzt von der Notwendigkeit, »Begriffe sinnlich zu machen«, was nur noch heißt: »ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen« und, in umgekehrter Richtung, die Anschauung »sich verständlich zu machen« (KrV, B 75), sie also zu Verstande zu bringen. Die »Suche« des Verstandes nach sinnlicher Anschauung erschöpft sich damit in einer »Beifügung« solcher Anschauung zum Verstandesbegriff; die »Grundquellen unseres Gemüths«, sinnliche Anschauung und Verstand, dürfen einander nur »korrespondieren« (sollen aber dennoch das schlüssige Ganze der Erkenntnis ausmachen), und die Bewegtheit sowohl der Spontaneität des Verstandes als auch der Rezeptivität der anschauenden Sinne bleibt einbehalten in eine dualistische Statik. Ein hellsichtiger Kommentator hat die Frage, warum denn der Verstand in der Sinnlichkeit die Anschauung »suchen muß«, trefflich beantwortet: weil bei Kant »dem menschlichen Denken, für sich genommen, das Moment der Anschaulichkeit fehlt«.21 Das ist nicht nur wahr, sondern überdies hilfreich für unsere eigene »Suche« nach den Gründen für Kants Enthaltsamkeit in puncto »Erinnerung«. »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 99

Denn die Erinnerung und das Erinnerungsbewußtsein im Strom ihrer flüchtigen Bilder entziehen sich dem Zugriff einer transzendentalen Topik des spontanen Verstandes auf der einen und der sinnlich-rezeptiven Anschauung auf der anderen Seite. Erinnerungsbewußtsein ist unabdingbar gepaart mit »Anschaulichkeit« – mit einer Anschaulichkeit, die weder mit der »Anschauung« eines sinnlich unvermittelt »Gegebenen« zur Deckung zu bringen ist noch von einem Verstandesdenken sich erschließen läßt, welches das in der Anschauung »Gegebene« sich nur »beifügen« möchte. Sein Zurückweichen vor der memoria und vor einer philosophischen Analyse der Erinnerung findet eine – wie ich denke: schlüssige – Erklärung darin, daß Kant den Zwischenraum zwischen Anschauung und Verstand, den Raum einer von der Sinnlichkeit abhängigen und zugleich erkenntnisrelevanten »Anschaulichkeit« nicht auszuschreiten wagte. Er beließ es bei der Unterscheidung eines »unteren« und eines »oberen« Erkenntnisvermögens: »jenes hat den Charakter der Passivität des inneren Sinnes der Empfindungen« und »gehört zur Psychologie«, »dieses (den Charakter) der Spontaneität der Apperzeption, d. i. des reinen Bewußtseins der Handlung, welche das Denken ausmacht und zur Logik […] gehört«, wie es in der oftmals vorgetragenen Anthropologievorlesung heißt.22 Im Zuge seiner Ausarbeitung der Kritik der reinen Vernunft hat Kant dieser Polarität einer der empirischen Psychologie überantworteten passiven Rezeptivität der Sinnlichkeit und einer zur Logik gehörenden Spontaneität des Verstandes aber nun eine neue und subtilere Kontur gegeben, und zwar im Kontext von Überlegungen zum geometrisch aufgefaßten Raum. Von der Synthesis des in der sinnlichen »Anschauung« gegebenen Mannigfaltigen, die der logisch arbeitende Verstand leistet, der synthesis intellectualis, unterscheidet er jetzt eine »transzendentale Synthesis der Einbildungskraft«, die er als synthesis speciosa oder »figürliche Synthesis« bezeichnet (KrV, B 151). Nachdem wir den Diskurs der Renaissancephilosophie über anschauliche »Figuren« bis hin zur kartesischen »Defiguration« verfolgt haben, evoziert dieses Kantische Konzept unsere Aufmerksamkeit in ganz besonderer Weise; denn Kant verbindet die »figürliche Synthesis« mit der Rede von einer »anschaulichen Vorstellung«, mit einer Rede also, die unserer These, daß im Experiment der »reinen« Vernunft die Anschaulichkeitsmitte zwischen dem Grenzbegriff der »An100 | zweites kapitel

schauung« und dem Verstandesbegriff zu Verlust gerät, zu widersprechen scheint.23 Kant spricht zum einen davon, daß wir uns »im Ziehen einer geraden Linie«, mithin in einer sinnlichen Tätigkeit, die »figürliche Vorstellung der Zeit« machen (KrV, B 154), und zum anderen betont er, daß Raum und Zeit »nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung« vorgestellt werden, »sondern als Anschauungen selbst« (KrV, B 160). Denn für den Geometer ist der Raum nicht lediglich eine »Form der Anschauung«, sondern geradezu eine »formale Anschauung«, welche die Einheit des Mannigfaltigen im Raum zu einer »anschaulichen Vorstellung« dieser Einheit selber transformiert. Hatte Kant in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft diese Einheit noch »bloß zur Sinnlichkeit gezählt« und vom Verstand »bestimmt« sein lassen (KrV, B 160, Anmerkung), so billigt er jetzt einer »anschaulichen Vorstellung« die Funktion zu, das mannigfaltig im Raum Gegebene zu einer Synthesis oder Einheit zu bringen: die anschauliche Vorstellung ist in sich selber eine Einheit, nämlich »figürliche« Synthesis. Jetzt soll somit nicht mehr die Spontaneität des Verstandes, sondern die in der transzendentalen Einbildungskraft gründende »anschauliche Vorstellung« eine Synthesis des Mannigfaltigen erzeugen. Kant setzt damit einen mutigen, für das Experiment der »reinen« Vernunft indes höchst gefährlichen Gedankenschritt; denn nun steht er von neuem vor dem Dilemma, welches schon das Binnenproblem seiner Schematismuslehre ausmachte: kann die Synthesis, die einer vorgestellten »Anschaulichkeit« sich verdanken soll, mit den »reinen« Synthesisleistungen des logisch operierenden Verstandes überhaupt vereinbar sein oder diese gar ersetzen? Im Gefälle seines kritizistischen Erkenntnisbegriffes, der von Anfang an auf die »Ungleichartigkeit« von Anschauung und Verstand, von sinnlicher Rezeptivität und einheitschaffender verständiger Spontaneität sich stützte, ist Kants jetzt unternommener Vorstoß zu der »Anschaulichkeit« einer »figürlichen Synthesis« ein erstaunliches Wagnis. Denn in der »formalen Anschauung«, die von der synthesis speciosa getragen wird, geraten auch Rezeptivität und Spontaneität in ein neues Verhältnis zueinander, in das Verhältnis einer »Verwandtschaft (affinitas)«, das Kant in der Anthropologie mit dem Satz beschreibt: »Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 101

Ungleichartigkeit doch so von selbst zur Bewirkung unserer Erkenntnis, als wenn eine von der anderen oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten« – so also, mit anderen Worten, »als wenn« rezeptiv-sinnliche Anschauung und spontaner Begriffsverstand in der Anschaulichkeit der figürlichen Synthesis ihre »Affinität« entdecken würden; was, wie unser Philosoph umgehend hinzufügt, »nicht sein kann«, weil es »für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus ein und derselben Wurzel entsprossen sein können«.24 Im Klartext heißt das: Kants Vorstoß zur »Anschaulichkeit« der figürlichen Synthesis, sein Überschritt von der rezeptiven »Anschauung« hin zu einer synthetisierenden und damit erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit – bleibt ein Wagnis und für den Kritizisten »unbegreiflich«. Daß Kant dieses Wagnis dennoch eingeht, zeigt gleichwohl an, daß er sich der engen Grenzen seines Erkenntnisbegriffs bewußt ist. Zu sprengen vermag er diese Grenzen jedoch nicht mehr: denn ein »Sichverschwistern« von Sinnlichkeit und Verstand in eine der Sinnlichkeit entsprungene und gleichzeitig erkenntnisrelevante »Anschaulichkeit« wäre der »Ungleichartigkeit« von Sinnlichkeit und Verstand zuwider. Kant ist weit entfernt davon, eine solche Anschaulichkeit zu seinem Quasibegriff der Anschauung »hinzutreten« zu lassen25, und den Grund dafür benennt er ausdrücklich: »alle Synthesis steht unter den Kategorien«, bleibt also Einheitsstiftung durch den Verstand, »nur auf unsere sinnliche Anschauung angewandt« (KrV, B 161). Zu wiederholen ist folglich die von uns schon einmal gestellte Frage: verurteilt das Experiment der »reinen« Vernunft denn nicht tatsächlich zu der Suche nach einer Sinnlichkeit, die noch etwas anderes sein könnte als der terminus ad quem einer Operation der »Anwendung« von Kategorien und Begriffen? Und kann, auf der Basis der »kopernikanischen Wende«, solcher Suche wirklich ein Erfolg beschieden sein? Friedrich Heinrich Jacobi, der erste scharfsichtige (und deshalb bei Kantianern bis heute unbeliebte) Kritiker Kants hat schon 1801 in seiner Schrift Über das Unternehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben darauf aufmerksam gemacht, daß bei dem Königsberger Professor die Sinnlichkeit »etwas blos Bestimmbares«, an sich selber »Unbestimmtes« bleibt, und deshalb der Verstand – »da 102 | zweites kapitel

er für sich allein weder bestehen, noch als bestehend gedacht werden kann« – erst als »Vermögen der Individuation des Sinnlichen« seine »eigentliche Bedeutung« erhält. Jacobi deckt auf, daß zufolge der Kantischen Bestimmungen der Sinnlichkeit und des Verstandes nicht nur »der Mensch« in einen »Widerspruch mit sich selbst« gerät, sondern daß es überdies jetzt auch »nichts wahrhaft Objectives für den Menschen« mehr geben kann: in seiner »subjektiven (= sinnlichen) Sinnlichkeit« sieht er sich selber »rein abgeschnitten« von allem »in sich Subsistierenden«, und diese subjektiv-sinnliche Sinnlichkeit gerät ihm zu einem nurmehr »nothwendig anschauenden« und darum »passiven« Teil seines Gemüts. »Er stellet sich allerley damit vor, siehet aber alles, was er sich damit vorstellt, nur blindlings an«.26 Mit anderen Worten: der subjektiv-sinnliche Gemütsteil hat für die Anschaulichkeit des »Objectiven« als eines »nothwendig« nur Angeschauten keinen tätigen Blick, und der verständige Gemütsteil »begreift nur mit Begriffen, was der andere nicht sieht; er ist mit sehenden Augen blind, wie der andere mit blinden Augen sehend«.27 Zur transzendentalen Einheit der Apperzeption, durch welche »alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einem Begriff vom Objekt vereinigt wird« (KrV, B 139 f.) bemerkt Jacobi sodann: »Vergebens ruft man das Unding eines Mannichfaltigen sinnlicher Anschauungen vor aller sinnlichen Anschauung, eine blos gedachte (!) sinnliche Anschauung zu Hülfe«28 – »wahr« wäre dies allein dann, »wenn sich nur ein isolierter reiner menschlicher Verstand als ursprünglich bestimmend denken ließe«, oder wenn die »reinen Anschauungen ein Mannichfaltiges a priori wirklich darstellten. Allein das eine Vorgeben ist so unbegründet als das andere«. Denn der Kantische Verstand erzeugt lediglich »die Handlung des Erzeugens; er gestaltet, ohne Gestaltung, nur das Gestalten«.29 Und die »allein anschauende« Sinnlichkeit, »den Verstand hinter sich habend, hat nichts vor sich – beim Lichte besehen – als sich selbst«.30 Jacobi überspringt den Kantischen Spagat zwischen dem »mit sehenden Augen blinden« Verstand und der »mit blinden Augen sehenden«, blind anschauenden Sinnlichkeit nicht, indem er – wie dann die Idealisten – zu einer »intellektuellen Anschauung« Zuflucht nimmt; er konzentriert sich auf den Kern des kritizistischen Dilemmas, auf das Verfehlen der Anschaulichkeit des »für den Men»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 103

schen wahrhaft Objectiven«, einer Anschaulichkeit, die erst einem nicht »isolierten« Verstand zusammen mit einer nicht »unbestimmt« bleibenden Sinnlichkeit sich offenbart. Und er folgert: wie die Kantische Sinnlichkeit, »den Verstand hinter sich habend, nichts vor sich hat: so hat der Verstand, die Sinnlichkeit vor sich habend und ihr angehörig, nichts hinter sich; auch nichts in sich, ausgenommen jenen motum peristalticum, jene transzendental wurmförmige Bewegung, womit er urprünglich und unaufhörlich zu sich selbst kommt« und »zugleich die Sinnlichkeit bekriecht«.31 Der Kantische Verstand, der immer nur wieder zu sich selbst zurückkommt (oder, wie wir es sagten, sich selber seine Fragen beantwortet32), bedarf am Ende auch keiner »sündlichen Erinnerung aus der Erfahrung« mehr33 – und darin findet Jacobis scharfzüngige Formel von der die Sinnlichkeit »bekriechenden« Verdauungsbewegung des Verstandes nur ihre nochmalige Bestätigung. Es sollte ja auch nicht vergessen werden, mit welcher Überlegung Kants Experiment der »reinen« Vernunft begann: daß nämlich »alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt«, aber »darum eben doch nicht alle aus der Erfahrung entspringt« (KrV, B 1). Wo schließlich Kant der Sinnlichkeit »keine Empfindung beigemischt« sein lassen will (KrV, B 74), da opponiert der Realist Jacobi: »Die Vollkommenheit der Empfindung bestimmt die Vollkommenheit des Bewußtseyns mit allen seinen Modifikationen. Wie die Rezeptivität, so die Spontaneität, wie der Sinn, so der Verstand«.34 »Wie die Rezeptivität, so die Spontaneität, wie der Sinn, so der Verstand«, an diesem Jacobischen Modell einer Synthesis als »Vollkommenheit des Bewußtseins« können wir uns orientieren, wenn wir die mit der kopernikanischen Wende dem philosophischen Blick entfremdete Landschaft des Erinnerungsbewußtseins von neuem kartographieren wollen: als Ausmessung einer die erinnerte Welt veranschaulichenden und selber eine erkenntnisoffene Anschaulichkeit erzeugenden memoria, in der sich die Rezeptivität unserer Sinne und die Spontaneität unseres Verstandes miteinander verknüpfen dürfen. Ein solches Denkmodell bewahrt uns vor der Fragilität eines Verstandesbegriffes, der keiner »sündlichen Erinnerung« aus sinnlich-geschichtlicher Erfahrung soll bedürfen müssen35, und die Akzeptanz solch »sündlicher Erinnerung« lenkt unser Augenmerk jetzt noch einmal zurück auf Kants »figürliche Synthe104 | zweites kapitel

sis« und auf sein Fehlurteil, die ars memoriae entbehre doch einer ihr »angemessenen Urteilskraft«.36 In unserem Exkurs zur memoria-Lehre der Renaissance haben wir verfolgt, wie in der »vormodernen« Philosophie das Denken und Erinnern zu einer eigenartigen »Synthesis« gebracht wurden. Dem Carolus Bovillus hatte der denkende Intellekt als die »Einheit aller Erinnerung« und die Erinnerung als die »Zweiheit des Intellekts« gegolten. Die Veranschaulichung dieser Synthese aus Einheit und Zweiheit hatte er in geometrischen »Figuren« erblickt: im spitzen, alles durchdringenden Winkel des intellectus, im stumpfen, alles aufbewahrenden Winkel der memoria, und im rechten Winkel als dem Zusammenfall des spitzen mit dem stumpfen. Sodann haben wir gelesen, wie Giordano Bruno, der diese Gedanken aufnahm, zu der Überzeugung gelangte, daß unsere Vernunft »alles« in veranschaulichenden »Figuren« betrachten, erinnern und erkennen muß; und in den Schriften des Tommaso Campanella sind wir schließlich auf die These gestoßen, alle Erinnerung stütze sich auf die Ähnlichkeit einzelner anschaulicher »Figuren« – auf eine »Synthesis des Ähnlichen« in der memoria. Erst die kartesische Methode der »Defiguration« führte zum Bruch mit einer »Kunst« des Denkens, die mit der »Figur« die Anschaulichkeit des Denkens verbunden hatte – und die Logique ou l´art de penser des Antoine Arnauld knüpfte dann an die Denkweise des Cartesius an, sprach nurmehr über eine »Idee, die ich mir von der Figur bilde« und hielt es für »ersichtlich, daß durch diese Art der Abstraktion die Ideen des Einzelnen allgemein und die allgemeinen noch allgemeiner werden«.37 Die »moderne« Abstraktion siegte über das »vormoderne« Denken in figürlichen und anschaulichen Synthesen. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund rückt das Kantische Wagnis, von einer »figürlichen Synthesis« und von »anschaulicher« Vorstellung zu sprechen, in klareres Licht – als riskantes Wagnis, das sich der kopernikanischen Wende, wenn sie konsequent vollzogen werden soll, nämlich nicht einpassen läßt. Kant hatte ja längst alle Synthesis auf eine spontane Leistung allein des Verstandes zurückgeführt; seinem scharfen Blick entgeht gleichwohl jetzt nicht, daß jede bildhafte Figürlichkeit eines besonderen Bestimmungsgrundes bedarf. Dieser Bestimmungsgrund konnte für ihn nur eine »transzendentale Synthesis« der Einbildungskraft sein, die alle »fi»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 105

gürliche Synthesis« steuert. Doch die Polarität von sinnlicher Anschauung und spontanem Verstand wird auch in dieser »figürlichen Synthesis« nicht vermittelt: insofern sie auf »Anschauung« beruht, bleibt sie der sinnlichen Rezeptivität zugehörig, insofern sie »Synthesis« sein soll, muß sie nach wie vor spontan sein – aber das heißt: Ausdruck einer »Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit« (KrV, B 151 f.). Durch Kants »figürliche Synthesis« zieht sich somit ein Riß: eine selber figurierende Synthese – wie jene der vormodernen Denker – darf sie nicht werden; folglich muß sie zu einer Synthese geraten, die einzig vom Verstand »bestimmt« und kraft eben dieser »Bestimmung« figuriert wird. Wenn nun aber Figuration mit Veranschaulichung einhergehen soll, wie könnte dann ein Verstand, der in den Sinnen die Anschauung erst »suchen« muß, jetzt anschaulich figurieren? Im Gefälle der kopernikanischen Wende findet die »figürliche Synthesis« keinen Selbststand und damit auch die »Anschaulichkeit« keinen eigenen Ort. Die Konsequenzen für das Thema »Erinnerung« – die immer Anschaulichkeit ins Bewußtsein trägt – liegen auf der Hand, und Jacobis Konzept einer »Vollkommenheit des Bewußtseins«, in welcher Sinn und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität sich wechselseitig durchdringen, bleibt eine triftige Kritik an Kants Idee einer allein durch den transzendental operierenden Verstand bewirkten »Einheit des Bewußtseins«. Die »Vollkommenheit« des »persönlichen« Bewußtseins, um die es Jacobi geht, diese Vollkommenheit aus »Sinn und Verstand«, lenkt unser Interesse jetzt noch einmal auf die Kantische reflexio transcendentalis. Sie wird von Kant »das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen« – also eines Verhältnisses entweder zur Sinnlichkeit oder zum Verstand – genannt und als jener »Zustand des Gemüths« beschrieben, »in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen auszumachen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können« – zu Begriffen, die das »Bewußtsein« als durch die Spontaneität des Verstandes bewirkte »Einheit« bestimmen sollen. Dieses Bewußtsein ist niemals ein individuelles oder gar »persönliches«, sondern der »Gemütszustand« eines »Subjektes überhaupt«, das fähig sein muß, über die ihm gegebenen Vorstellungen und deren Verhältnis zu den Sinnen oder zum Verstand »Urteile« zu fällen (KrV, B 316), Urteile, die sich auf »Erkenntnis 106 | zweites kapitel

überhaupt« beziehen (Kritik der ästhetischen Urteilskraft, § 9). Kant kommt es also darauf an, allen Umgang des Verstandes mit »gegebenen« Vorstellungen und alles Urteilen über sie der »transzendentalen Überlegung« zu unterstellen. Hieraus läßt sich seine in der Anthropologievorlesung aufgestellte Behauptung erklären, den »Wundermännern des Gedächtnisses« (und damit doch auch der ars memoriae selber) habe es an einer »angemessenen Urteilskraft« gefehlt.38 Das aber ist und bleibt ein ahnungsloses Fehlurteil – ganz abgesehen einmal davon, welches Wissen Immanuel Kant von der alten memoria-Lehre tatsächlich besaß: offensichtlich ein höchst spärliches. Giordano Bruno hatte die Erinnerung und ihre Vorstellungsfiguren eng mit einem Urteil verbunden. Ich übersetze seinen einschlägigen Text, der geradezu eine Strukturanalyse der Genesis eines veranschaulichenden und zugleich urteilsfähigen Erinnerungsbewußtseins enthält: »Beim Entstehen von Gedächtnis und Erinnerung spielen neun Momente zusammen. Eine vorlaufende Intention, kraft welcher ein äußerer oder innerer Sinn, weil von einem Objekt angeregt, zunächst einmal in Tätigkeit versetzt wird. Ein Wachrufen der Imagination, wobei der mittelbar oder unmittelbar in Bewegung gebrachte Sinn das Einbildungsvermögen gleichsam zum Leben erweckt. Eine passive Bewegtheit, die dieses Einbildungsvermögen zum Aufsuchen einer Spur anstößt. Eine Bewegung der Einbildungskraft, in der sie jetzt tätig aufspürt. Eine urteilende Auswahl, aufgrund welcher die Einbildungskraft, gestützt auf Intentionalität, erforscht. Ein Bild als erinnerliche Gestalt. Die Intentionalität dieses Bildes – der Grund dafür, daß dieses Bild und kein anderes vergegenwärtigt wird. Die Darstellung dieser Intentionalität, die auch diese selber repräsentiert. Und ein Urteilsakt, der von der Intentionalität des Bildes Besitz ergreift«.39 Bruno ist kein spröder Mnemotechniker, im Gegenteil: er versteht die ars memoriae als »diskursive Architektur« des Bewußtseins, als diskursives Gefüge, in dem Vernunft und Verstand sich ebenso mit dem Erinnern verknüpfen wie Einbildungskraft und sinnliche Wahrnehmung.40 Auf dieser Grundlage kann der Nolaner die Gedächtniskunst zur »Phänomenologie« eines Erinnerungsbewußtseins ausformen, dessen veranschaulichende Intentionalität »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 107

auf die Sinnlichkeit zugreift und sich nicht nur die Imagination mit ihren die wahrgenommenen Dinge vergegenwärtigenden Bildern integriert, sondern die Einbildungskraft auch an eine Urteilskraft heftet. Diese gemäß der zitierten Textpassage zur Genesis des Erinnerungsbewußtseins unabdingbar hinzugehörende Urteilskraft tritt zunächst als ein scrutinium, als sinnlich urteilende »Auswahl« auf den Plan, und sodann als von den Erinnerungsbildern »Besitz ergreifender« rationaler Urteilsakt, als iudicatio. Das scrutinium, das schon in der Sinnlichkeit »auswählende« Urteil, beschreibt Bruno in einem Gleichnis: es arbeitet so, »wie wir aus einem Haufen Eicheln eine Kastanie herausfischen«, ist also inmitten der Sinne tätig, bleibt aber gleichwohl der facultas cogitationis, dem Verstand, zugehörig.41 Für Bruno darf der Verstand nie »nackt«, er muß stets von einem Urteil der Sinnlichkeit begleitet sein42, und mit dieser These darf der Renaissancephilosoph sich sogar auf eine lange Denktradition berufen. Sie beginnt mit Aristoteles, der nicht nur den Sinnen ein das von ihnen Wahrgenommene unterscheidendes Urteilsvermögen zubilligte, sondern überdies die Wahrnehmung und Erfahrung mit dem Gedächtnis und der Erinnerung verknüpfte.43 Die Theorie der Rhetorik – die ja auf die ars memoriae tiefgreifenden Einfluß hatte – sprach dann, in Anknüpfung an das von Aristoteles beschriebene Urteilsvermögen der Sinnlichkeit, von einer »Kunst des Urteilens«, einer ars iudicandi, die mit der ars inveniendi, einer »Kunst der Auffindung« jener Erfahrungsinhalte, über die geurteilt werden soll, verbunden bleiben muß.44 Daß das iudicium von der inventio nicht abgetrennt werden darf, wird schließlich die beherrschende Ansicht der Denker der Renaissance, und mit seinem scrutinium, der »urteilenden Auswahl« aus den Sinnesdaten, übernimmt Giordano Bruno dieses Methodenkonzept, um sich zugleich wiederum an Aristoteles anzuschließen, indem er die äußere und innere Sinneswahrnehmung mit Gedächtnis und Erinnerung verfugt. Die solchermaßen an der Sinnlichkeit orientierte Philosophie des Giordano Bruno war dem 18. Jahrhundert, dem Saeculum der Aufklärung, zwar nicht geheuer, aber auch nicht unbekannt.45 Wenn nun darauf hingewiesen werden konnte, daß dieses Jahrhundert – insofern es eine moderne Ästhetik auszubilden begann – die wahrgenommene Welt als »in die sinnliche Erscheinung tretend« betrachtete und Kants Kritik der Urteilskraft deshalb »als ein gereinigtes 108 | zweites kapitel

Spiegelbild« des age of reason and sentiment gelesen werden müsse46, dann darf man sich fragen, warum Kant den Italiener niemals erwähnt und nicht einmal den »Wundermännern des Gedächtnisses« hinzuzählt. Sollte er von ihm wirklich nichts gewußt haben? Oder könnte es gerade Brunos Phänomenologie des Erinnerungsbewußtseins, diese discursiva architectura ratiocinantis animae47 gewesen sein, die sich in Kants Architektur der »reinen« Vernunft nicht mehr integrieren ließ? Wenn einerseits zutreffen soll, daß »in Kants Kritik der Urteilskraft das ästhetische 18. Jahrhundert seine Lieblingsbegriffe zu Ende denkt«48, nämlich »Sinnlichkeit«, »Verstand«, »Urteilsvermögen«, dann bleibt andererseits doch unbestreitbar, daß Brunos ars memoriae nun gerade mit diesen Begriffen operiert hatte. Aber dem »aufgeklärten« Jahrhundert und seinem »gereinigten Spiegelbild«, der dritten Kritik Kants, ging es jetzt um den logischen Konflikt zwischen reason und sentiment, oder, genauer noch, um die Frage: »was ist die Sinnlichkeit wert?«49 Und Kant hat auf diese Frage ja eine deutliche Antwort gegeben: daß nämlich Sinnlichkeit und Verstand »einander zwar nicht entbehren können, aber doch auch ohne Zwang und wechselseitigen Abbruch sich nicht wohl vereinigen lassen«.50 Dieser Satz liefert die Erklärung für Kants natürlich nicht ernst zu nehmende Behauptung, »eine Gedächtniskunst (ars mnemonica) als allgemeine Lehre giebt es nicht« (Anthropologie, § 34); und er liefert auch die Erklärung dafür, daß es sie vor allem in ihrem von Bruno ausgearbeiteten Profil (auch dann noch, wenn Kant dieses Profil gekannt hätte) nicht geben darf. Denn in diesem Profil »vereinigen« sich auswählend urteilende Sinnlichkeit und rational urteilender Verstand »ohne Zwang und wechselseitigen Abbruch« – weil beide in der memoria, der Mitte des Bewußtseins, in einer »Intention« auf die anschaulichen Bilder der Erinnerung sich treffen. Für Kant hingegen muß weiterhin gelten: »Wenn man den Begriff nicht von Bildern absondern kann, so wird man niemals rein und fehlerfrei denken können« – und darum sollen Begriffe ohne eine Vermittlung durch anschauliche Bilder »versinnlicht« werden.

»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 109

IV. Kants »Hypotypose« als »Versinnlichung« von Begriffen Das Thema »Darstellung« hat uns bereits im ersten Kapitel dieses Buches beschäftigt, als wir fragten, ob und wie ein »reiner« Ich-Gedanke – das transzendental gefaßte »ich denke« Kants – im Erinnerungsbewußtsein eines individuellen Ich, das da sagt »ich erinnere mich«, zur Darstellung kommen kann. Gegenüber jenen Philosophen, die alles bloße Denken immer schon als Darstellen verstehen, haben wir zunächst Denken und Denkbarkeit sowie Darstellen und Darstellbarkeit unterschieden und in das Verhältnis einer »Konvertibilität« gerückt, um sodann alle Darstellung, als Verwirklichung von Darstellbarkeit, mit einer Anschaulichkeit zu verbinden, die der Kantischen Bipolarität von rezeptiver »Anschauung« und spontanem »Begriff« offensichtlich entgleitet. Im § 59 der Kritik der Urteilskraft gibt nun Kant seinen Überlegungen zum Problemtitel »Darstellung« eine scharfe Kontur. Seiner transzendentalphilosophischen Denkweise, die von empirischer Erfahrung sich nicht abhängig machen darf, muß es darum gehen, »die Realität unserer Begriffe darzuthun«, das heißt: ihre objektive Gültigkeit für jedwede Erfahrung nachzuweisen. Kant bezeichnet diesen Nachweis als »Versinnlichung« der Begriffe – keineswegs also als deren »Veranschaulichung«; wenn er stattdessen erklärt, zur Versinnlichung von Begriffen »werden immer Anschauungen erfordert«, dann zeigt das nur, wie sehr seine Darstellungstheorie wiederum von seiner transzendental konstruierten bloßen »Kongruenz« der sinnlich-rezeptiven Anschauung einerseits und des verständig-spontanen Begriffs andererseits geführt bleibt. Ungeachtet dieser transzendentalen Struktur seiner kritizistischen Erkenntnisphilosophie nennt Kant diese »Versinnlichung« von Begriffen jetzt eine »Hypotypose« – und das muß jeden ideengeschichtlich informierten Leser stutzig werden lassen. Das substantivische Wort »Hypotypose« stammt aus der keineswegs transzendental verfahrenden ars rhetorica, und Kant weiß das auch. Wenn er nämlich die Hypotypose als subiectio ad adspectum beschreibt, dann zitiert er damit wortwörtlich eine Formulierung aus Ciceros Büchern Über den Redner, wo vom Rhetor gefordert wird, seine Worte den Zuhörern so zu »illustrieren« und »schwungvoll vorzutragen«, daß ihnen das Gesagte »gleichsam in den Blick 110 | zweites kapitel

gerückt« erscheint.51 In seinem Handbuch der Rhetorik spricht Quintilian dann von einem »Glanz des Ausdrucks«, der durch »Anschaulichkeit« (enárgeia) erreicht werden soll, und er mißt dieser Anschaulichkeit sogar einen höheren Stellenwert zu als der bloßen Klarheit oder »Durchsichtigkeit« (perspicuitas) der Rede, weil eine veranschaulichende Sprache »sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt« (oculis mentis se ostendit).52 Mit Kants »Versinnlichung von Begriffen« hat die rhetorische Hypotypose mithin so gut wie nichts zu tun, ganz im Gegenteil: Quintilian bemerkt ausdrücklich, daß die subiectio sub adspectum, von der Cicero spricht, eine »in Worten so ausgeprägte Gestaltung von Vorgängen« meint, daß »man eher glaubt, sie zu sehen als zu hören«.53 Kant, der die rhetorische Technik ja nur verächtlich betrachtet, geht es aber gar nicht um Anschaulichkeit – insofern ist sein CiceroZitat in höchstem Maße irreführend. Die Überschrift über dem § 59 der Kritik der Urteilskraft »Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« weist in eine andere Richtung: Kant interessiert die Ausdrucksfähigkeit der schönen Künste, eine Ausdrucksfähigkeit, in welcher »Gedanke, Anschauung und Empfindung« sich vereinigen (ebd., § 51), und dabei hat er die von der ars rhetorica zu unterscheidende schöne »Beredsamkeit«, die Dichtkunst und die bildenden Künste im Blick: sie bringen ästhetische Ideen zum »Ausdruck«. Kant greift mithin gar nicht auf Ciceros und Quintilians »Anschaulichkeit« zurück, er spielt vielmehr an auf das griechische Verbum hypotypoun, das »Erstellung eines Entwurfs« oder »Umrisses« bedeutet, z. B. bei Aristoteles, der mit diesem Verbum das Ausprägen einer Wesenheit, einer ousia bezeichnet.54 Nicht im Gefälle also einer »Veranschaulichung«, sondern im Sinne eines »Entwurfskonzepts« eignet der Kantischen Hypotypose ihre Kontur; deshalb soll im Text des § 59 auf eine »Verbildlichung« von Begriffen verzichtet werden. An ihre Stelle tritt eine entwurfsbedingte »Versinnlichung«, eine »Prägung der Sinnlichkeit«; ihre Aufgabe ist die Produktion der Bedeutung (Kant sagt: der »Realität« oder »Objektivität«) unserer Begriffe. Die Kantische Hypotypose arbeitet jetzt entweder »schematisch«, »wenn einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird«, oder sie verfährt »symbolisch«, wenn einem Begriff, »den nur die Vernunft denken und dem keine »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 111

sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird«. Kants Versinnlichung der Begriffe ist somit »ausschließlich die Darstellung reiner Begriffe des Verstandes und der Vernunft durch apriorische Anschauungen«55 – sie bleibt eine transzendentale Darstellungsform unter der Führung eines prägenden »Entwurfs« vermittels einer »Anwendung« von Begriffen auf apriori »gegebene« oder »untergelegte« Anschauungen. Noch einmal mehr handelt es sich damit um eine Operationalisierung der »transzendentalen Topik«, um einen Vergleich und Ausgleich von Verstand und Sinnlichkeit kraft eines Einsatzes der transzendentalen Urteilskraft oder »Regel der Reflexion«. Mit seiner Hypotypose zielt Kant auf die Idee einer transzendentalen Repräsentation von Begriff und Anschauung, einer Repräsentation, welche auf jede bildliche Anschaulichkeit verzichtet – die in einem apriorischen »Umriß« auch keinen Ort finden könnte. Und wir dürfen folgern: ein aus sinnlicher Wahrnehmung sich speisendes anschauliches und veranschaulichendes Erinnerungsbewußtsein mit seinen flüchtigen Bildern fände in Kants Darstellungstheorie gar keinen Halt. Damit können wir unseren Durchgang durch Kants kopernikanisch gewendetes Philosophieren beenden. Aber warum mußte dieser Durchgang so ausführlich geraten? Dafür sind zwei Gründe zu nennen. Der erste ist, daß aufzuzeigen war, warum Kant die Frage nach der memoria und ihren erinnernden Bildern seinem Experiment der »reinen« Vernunft nicht einpassen durfte. Daß er keinen Versuch unternahm, sie seinem kritizistischen Unternehmen dennoch zu integrieren, spricht für seine denkerische Konsequenz, die ihn folgerichtig dazu brachte, Gedächtnis und Erinnerung in die Psychologie und in die »pragmatische« Anthropologie zu exilieren. Der zweite Grund ist, daß nicht wenige Kantausleger – die hier nicht aufgezählt werden sollen – immer wieder behaupten, in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hätte Kant die Erinnerung doch im Auge gehabt: da nämlich, wo er von der »Synthesis der Reproduktion in der Einbildung« spricht, einer Reproduktion, die in der »Verknüpfung von aufeinanderfolgenden Vorstellungen« besteht »auch ohne die Gegenwart« des vorgestellten Gegenstandes (KrV, A 100 –102). Daß Kant selber es sich hier versagt, diese Repro112 | zweites kapitel

duktion von Vorstellungen auch wortwörtlich in einen Kontext mit dem Gedächtnis oder gar der Erinnerung zu bringen, wird dabei großzügig übersehen; daß Kant überdies in der Anthropologie (§ 34) ausdrücklich erklärt, das Gedächtnis sei von der reproduktiven Einbildungskraft »unterschieden«, weil es »die vormalige Vorstellung willkürlich zu reproduzieren« vermag, und daß er sofort hinzufügt, durch eine »Einmischung« der produktiven, »schöpferischen« Einbildungskraft müßte das Gedächtnis sogar »untreu« werden, wird von diesen Interpreten schlicht nicht beachtet – ganz zu schweigen davon, daß Kant zwischen »Vorstellungen« und Erinnerungsbildern gar nicht zu differenzieren vermag. Kants Sprache ist oftmals rätselhaft und auslegungsbedürftig – aber sehr genau dann, wenn es um die Aussparung der Theorieprobleme der Erinnerung und ihrer Anschaulichkeit geht. Und die Behauptung, daß Anschaulichkeit und Veranschaulichung »für die Rhetorik einer Erkenntnistheorie, nicht aber für sie selbst erheblich ist«56, mag für Kant gelten, kann aber zweihundert Jahre nach Kant nicht mehr überzeugen.

V. Husserl versus Kant: »Anschauung« und »Anschaulichkeit« »Die Vergangenheitsanschauung selbst kann nicht Verbildlichung sein. Sie ist ein originäres Bewußtsein« (Edmund Husserl) »Sous le titre Le souvenir et l’image nous atteignons le point critique de toute la phénomenologie de la mémoire« (Paul Ricœur)

Bereits in der Einleitung zu diesem Buch habe ich darauf hingewiesen, daß die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins dem philosophischen Denken Anschaulichkeit und anschauliche Darstellbarkeit zurückzuerobern vermag. Der kritische Blick auf Kants kopernikanische Wende ließ dann erkennen, daß und warum in der kritizistischen Transzendentalphilosophie der »Zwischenraum« zwischen dem Verstandesbegriff und dem Quasibegriff »Anschauung«, die Dimension erkenntnisrelevanter »Anschaulichkeit«, nicht ausgeschritten werden konnte und deshalb die memoria aus der Theorie »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 113

in eine pragmatische Anthropologie exiliert werden mußte. In dieser Perspektive kommt dem phänomenologischen Neuansatz Husserls unbestreitbar großes Gewicht zu, sucht der Phänomenologe doch den bei Kant ausgesparten Zwischenraum mit Analysen des Zeit- und Erinnerungsbewußtseins »anschaulich« zu füllen – wobei es jetzt aber gerade die Analysen des Zeitbewußtseins sind, die Husserl dazu nötigen, die Erinnerung von ihren Bildern abzulösen und diesen ihre kognitive Relevanz abzusprechen. Die in seinen Vorlesungen Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins aufgestellte These »die Vergangenheitsanschauung kann nicht Verbildlichung sein«57 – das heißt: die erinnernde Veranschaulichung von zeitlich Vergangenem hat mit dessen »bildhafter« Vergegenwärtigung nichts zu tun – steht mithin in einem seltsamen Mißverhältnis zu Husserls andauernden und angestrengten Bemühungen, die Anschaulichkeit des »Bewußtseinsstroms« in allen ihren »Abschattungen« und »Klarheitsstufen« darzutun. Ricœur verweist haargenau auf dieses seltsame Mißverhältnis, wenn er schreibt, mit dem Problemtitel »Erinnerung und Bild« sei der »kritische Punkt« jeder Phänomenologie der memoria berührt.58 Husserls phänomenologische Forschungen fokussieren sich von Anfang an auf die »Anschaulichkeit« von Bewußtseinsfiguren und auf die Möglichkeit einer Veranschaulichung »bewußten Lebens«. Die von ihm aus einem »reinen«, nämlich die Welt in ihrer vorfindlichen und geschichtlichen »Mundanität« einklammernden, methodisch »außer Geltung« setzenden und insofern »reinen« oder »extramundanen« Bewußtsein erschlossene »Anschaulichkeit« von Zeit- und Erinnerungserlebnissen soll zunächst jene Dimension ausleuchten, die in Kants Theorem einer »Korrespondenz« von sinnlicher Anschauung und kategorialem Verstandesbegriff der phaenomenologischen Aufklärung noch entbehrte. Den ersten kritischen Vorstoß gegen diese von Kant transzendentalphilosophisch begründete Korrespondenz von Anschauung und Begriff artikuliert Husserl mit dem Konzept einer selber »kategorialen Anschauung«, das will sagen: einer eigenartigen »Synthesis« von Akten des Anschauens und Akten der kategorialen Begriffsbildung.59 Im Fortgang seiner Überlegungen hat Husserl dann diese »kategoriale Anschauung« als »Wesenserschauung« interpretiert, genauer: als vom »reinen« Bewußtsein zu leistende »herausschauende aktive Identifizie114 | zweites kapitel

rung des Kongruierenden gegenüber den Differenzen«.60 Die spezifische Problematik solcher phänomenologischen »Wesensschau« bedarf im Zusammenhang unserer eigenen Untersuchungen keiner Erörterung – »Wesensschau« ist nur die neue Formel für eine Veranschaulichung, die auf jedwede »Verbildlichung« der ja längst »außer Geltung« gesetzten Außenwelt in der Innerlichkeit des Bewußtseins verzichtet. Mit einem Wort: Husserls phänomenologische »Anschaulichkeit«, diese Aufhebung der Kantischen Differenz von »Anschauung« und »Begriff«, ist in der schieren Innerlichkeit eines bewußten Lebens verortet, das sich der Bilder der memoria, die auf eine »mundane« Geschichte in der nicht »außer Geltung« gesetzten Welt zurückverweisen, nicht erinnern darf. Was dieser »Anschaulichkeit« entzogen und verborgen bleibt, »ist unser Werden und Vergehen, das wir nur über Erinnerung und Erwartung, über die Hilfsmittel der Erinnerung anderer und einer Welt von Bildern erschließen«.61 Husserl hat in seinen Logischen Untersuchungen nicht nur den »Gegensatz von Anschauung und Begriff« grundsätzlich ins kritische Visier genommen, sondern auch Kants Theorem einer dem Begriff »korrespondierenden Anschauung«: »sich eine entsprechende Anschauung von dem verschaffen, was bloß gedacht war«, das läuft in phänomenologischer Optik darauf hinaus, sich mit einer »sehr unzureichend veranschaulichten« Bedeutung des Gedachten zu bescheiden. Demgegenüber möchte der Phänomenologe nicht nur alles Gedachte, sondern überdies alle »ihm erscheinenden Objekte« im Bewußtsein »anschaulich gegenwärtig« haben, glaubt er doch davon ausgehen zu dürfen, »daß im phänomenologischen Wesen des Bewußtseins in sich selbst alle Beziehung auf seine Gegenständlichkeit beschlossen ist«, daß also im »reinen« Bewußtsein alles dasjenige eingeschlossen ist, was es sich in sich selbst gegenständlich macht. Dieses Bewußtsein »in sich selbst« soll darum auch auf »Bilder«, sei es von Gedanken sei es von gegenständlichen Dingen, verzichten dürfen, und Husserl scheut sich nicht, jedwede »Bildertheorie« einen »schier unausrottbaren Irrtum« zu nennen. Bilder im Bewußtsein und die Rede von einer Ähnlichkeit solcher Bilder zu der Sache, die sie verbildlichen – beides »bringt uns nicht weiter«. Selbst wenn eine derartige Ähnlichkeit in unseren Vorstellungen besteht, bedeutet dieses Faktum »für das Bewußtsein schlechterdings »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 115

nichts«; denn »im phänomenologischen Wesen des Bewußtseins in sich selbst« ist alles dieses ja »beschlossen«. »Anschaulichkeit« wird in den Logischen Untersuchungen also identifiziert mit der »Erschauung« einer wesentlichen Bewußtseinsimmanenz – für das phänomenologische Bewußtsein »in sich selbst« darf »Bildlichkeit« weder eine Funktion noch eine Geltung als »reales Prädikat« in Anspruch nehmen.62 Die Ideen zu einer reinen Phaenomenologie sind die Weiterführung und zugleich eine Korrektur der Logischen Untersuchungen. Husserl bleibt auch in diesem neuen Werk, das er während langer Jahre immer wieder überarbeitet, bei seinem (der »kategorialen Anschauung« ablesbaren) Vorhaben, die Erkenntnisphilosophie aus der Kantischen Bipolarität von »Anschauung und Begriff« zu befreien, setzt jetzt aber alles daran, den Erkenntnisprozeß zu verflüssigen und zu »verlebendigen«. Damit rückt das »Erlebnis« ineins mit den Modifikationen erlebter »Anschaulichkeit« in den Fokus der phänomenologischen Methode: die statische Synthesis der »kategorialen Anschauung« wird zur Genesis einer »Anschaulichkeit« umgeformt, die sich im Ausgang von Anschauungen oder Wahrnehmungen des Individuellen und Tatsächlichen über die Modi ihres Erlebtwerdens bis zur evidenten Einsicht in ihr »Wesen« soll steigern können. Die nunmehr »genetisch« genannte Phänomenologie will auf allen Stufen des Erkennens »das vor Augen Stehende sehen«, sie definiert dieses veranschaulichende Sehen als »Anschauung von prinzipiell eigener und neuer Art« und versteht sich dabei selber als Wissenschaft »aus originär gebenden Anschauungen«, was heißen soll: als Wissenschaft, die aus Gegenständlichem, Tatsächlichem und aus Erlebnissen deren »Wesen«, ihr »neuartiges« Eidos, »herausschaut« und auf diese Weise zu einer Anschaulichkeit bringen möchte, die allererst einem »originär gebenden Bewußtsein« – nicht also »Bildern« von Gegenständen und Tatsachen – sich verdankt. Mit anderen Worten: was das »reine« Bewußtsein »sieht«, ist immer durch seine eigenen Akte zu Anschaulichem konstituiert. Unverkennbar ist eine Affinität dieses »originär gebenden Bewußtseins« zu Kants »spontan« arbeitendem Verstand – wobei Husserl aber alle »bisherigen Denkgewohnheiten ausschalten« will und deshalb einerseits die Rede von »Erfahrung« durch das Wort »Anschauung« ersetzt und andererseits am »apriorischen Denken« kritisiert, es mache 116 | zweites kapitel

sich nicht klar, »daß es so etwas wie reines Anschauen gibt«. Der Phänomenologe diagnostiziert zwar zutreffend, daß die Kantische »reine Anschauung« jedweder »Anschaulichkeit« entbehrt; aber indem er den transzendentalphilosophischen – wie immer auch inkonsistenten – Gedanken einer »reinen Anschauung« gegen einen »erlebten« und »genetisch« zu beschreibenden Bewußtseinsstrom erzeugender und zugleich vom Bewußtsein erzeugter »Anschaulichkeit« austauscht63, verstrickt sich der Autor der Ideen in einer begrifflichen Antinomie, die noch sein Spätwerk über die Krisis der europäischen Wissenschaften auf unheilvolle Weise durchziehen wird. Diese Schrift ist bekanntlich durchherrscht von der Idee einer »Lebenswelt«, die auf der einen Seite der »anschauliche«, »in sinnlich erfahrender Anschauung« stets vorausgesetzte Boden alles wissenschaftlichen Denkens sein, auf der anderen Seite indes erst vermöge einer »reinen Erfahrung« des welterlebenden Bewußtseins zum »Reich der ursprünglichen Evidenzen« als zum Bereich der eidetisch »anschaulichen Wesen« gehören soll. Einfacher gesprochen: Lebenswelt muß »anschaulich« sein vor aller Theorie, obwohl erst in phänomenologischer Theorie »veranschaulicht« – einzig auf die »genetisch« beschreibbaren »Klarheitsstufen« dieses Regenbogens der »Anschaulichkeit« soll es ankommen, und innerhalb der phänomenologischen Theorie erscheint die Welt auch nicht so, »wie sie wirklich ist«, sondern immer nur als dem ihr Wesen »herausschauenden« Bewußtsein »jeweils geltende Welt«.64 Die Anschaulichkeit der vortheoretischen, »vorprädikativen« Lebenswelt ist aber mit der Anschaulichkeit des theoretisch erzeugten und phänomenologisch beschriebenen »Erlebnisses« dieser Welt in Wahrheit nicht zur Deckung zu bringen: Husserls Kant-kritisch konzipierte »Anschaulichkeit« bleibt nach wie vor antinomisch in sich selber. Mit gutem Grund hat Blumenberg von Husserls »Lebensweltmißverständnis« gesprochen: was durch die Epoche, durch die methodische Außergeltungsetzung der Welt, »als Residuum anfiel« – die »reine« Anschaulichkeit des »Wesens« der Lebenswelt – , sollte »den Vorrang« haben, »verlor ihn aber an das Reduktum«, an die nun ebenfalls durch Anschaulichkeit ausgezeichnete Lebenswelt.65 Kurz: Husserl darf zwar der Kantischen Philosophie ein Defizit an Anschaulichkeit vorwerfen, vermag aber seine eigene Phänomenologie der Anschaulichkeit vor begrifflichen Antinomien »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 117

nicht abzusichern, weil er seiner eidetisch geführten Theorie der »Veranschaulichung« durch »reine« und »originär gebende« Bewußtheit das mimetische Moment einer »Verbildlichung« von Welt im Bewußtsein längst entzogen hatte – die Probleme der Phänomenologie mit der memoria haben ihre Wurzel in dem Konzept einer »Anschaulichkeit ohne Bilder«, »in una sorta di epoche delle immagini«.66 Wenn man »den vieldeutigen Sinn« des Wortes beachte, so lautet jetzt eine bemerkenswerte Notiz Husserls, dann dürfe man sehr wohl sagen, daß »die Fiktion« geradezu »das Lebenselement« der Phänomenologie ausmacht; Fiktion sei nämlich »die Quelle, aus der die Erkenntnis der ewigen Wahrheiten ihre Nahrung zieht«.67 InWahrheit bedarf es indes keiner Anspielung auf ewige Wahrheiten, um die fiktiven Züge schon der phänomenologischen Methode selber in Sicht zu bringen: zum einen im Blick auf das Theorem einer »Anschaulichkeit ohne Bilder«, zum anderen beim Augenmerk auf die Rede von dem im reinen Bewußtsein »Beschlossenen« und dem aus ihm »Ausgeschlossenen«. Diese fiktiven Strukturzüge sind allererst zu markieren, denn aus ihnen werden sich die unauflösbaren Probleme der Husserlschen Philosophie der Erinnerung mit deren Bildern erklären lassen. Der in »natürlicher Einstellung« befangene Mensch darf noch an einem blühenden Baum sich erfreuen und sich ein Erinnerungsbild von ihm bewahren. Dem Phänomenologen ist das verwehrt: er hat sich an ein »reines« Bewußtseinserlebnis zu halten und muß die sinnliche Wahrnehmung des Baumes, dieses »wirklichen« Naturobjekts, »einklammern«. Folglich ist ihm auch ein »inneres Bild« des blühenden Baumes nicht mehr »gegeben«, und »hypothetisch« anzunehmen, daß ein solches Bild im Bewußtsein »wirklich« zu finden sei, das führe nur auf einen »Widersinn«. Widersinnig wäre es nämlich, wenn an die Stelle des »realen« Baumes dessen Bild als ein wiederum »Reales« und für »real« gehaltenes träte – Husserl will ja jedwede »Realität« oder Wirklichkeit auf »Sinngebungen durch das Bewußtsein« reduzieren68 – , und widersinnig wäre es aus phänomenologischer Optik desgleichen, die Intentionalität eines »reinen« Bewußtseins unvermittelt auf einen nicht »eingeklammerten«, also wirklichen Baum und auf ein wirkliches, »reales« Bild dieses Baumes auszurichten; auf derartige »Verirrungen« läßt der Phänome118 | zweites kapitel

nologe sich nicht ein.69 Zwar mag der wirkliche Baum im Garten stehen bleiben wo und wie er ist, zu einem »Bildobjekt« für das reine Bewußtsein darf er jedoch niemals werden; stattdessen soll er zum »Korrelat« einer »eidetischen Einsicht« geraten, die »nichts weiter in Anspruch« nimmt, »als was wir am Bewußtsein selbst, in reiner Immanenz uns wesensmäßig einsichtig machen können«.70 Und Husserl definiert geradewegs: ein wesenserschauendes, »Einsicht gebendes« Bewußtsein und ein »anschauliches« Bewußtsein, »das deckt sich«, um sodann fortzufahren, das »Sich-klar-machen« des Wesens eines blühenden Baumes bestehe aus zwei im reinen Bewußtsein sich miteinander verbindenden Prozessen: einem Prozeß der »Veranschaulichung« und einem Prozeß der »Steigerung der Klarheit des schon Anschaulichen«.71 Ein schillernder, alles Angeschaute überwölbender phänomenologischer Regenbogen der Veranschaulichung eidetischer Wesenseinsichten soll mithin vor jene immer noch am Himmel stehenden Gewitterwolken treten, in denen die drohende Frage nach dem »Wirklichen« sowie seiner Darstellbarkeit und Darstellung in Bildern sich verbirgt. Und gerade daran, daß die »Veranschaulichung« des Bewußtseinserlebnisses eines im Garten gewachsenen Baumes dessen wirkliches Dasein nicht negieren möchte, wohl aber davon absehen will, diese Wirklichkeit in Gedanken zu »vollziehen«72, zeigt sich die Fiktionalität der phänomenologischen Methode. Für Husserl bleibt das »Erlebnis« eines Gegenstandes der mundanen Welt die »schlichte Erschauung«73 seines Wesens, »beschlossen« in der Immanenz des Bewußtseins. Ist die eine Seite der phänomenologischen Fiktion an diesem sonderbaren Modell einer Veranschaulichung ohne Bilder ablesbar, so die andere an der basalen Operation der Epoche, dieser Einklammerung der ganzen »natürlichen Welt«, die vom reinen, in sich selbst »eingeschlossenen« Bewußtsein »prinzipiell ausgeschlossen« werden muß, die aber – »wenn es uns auch beliebt, sie einzuklammern« – dennoch »immerfort dableiben« soll, und zwar als »bewußtseinsmäßige Wirklichkeit«.74 Mit diesem zweiten fiktiven Strukturzug gibt sich die Phänomenologie das Janusantlitz einer Wissenschaft, »die nicht Welt voraus hat«, aber Welt »immerfort behält«, selbstverständlich wiederum einzig in eidetischer Herausschauung ihres Wesens und ohne auf die Welt zurückverweisende Bilder.75 Husserl »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 119

beschreibt die Motive dieses seines Reduktionsverfahrens in kompromißloser Deutlichkeit: »Alle auf diese natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften […] schalte ich aus, ich mache von ihren Geltungen absolut keinen Gebrauch. Keinen einzigen der in sie hineingehörigen Sätze, und seien sie von vollkommener Evidenz, mache ich mir zueigen, keiner wird von mir hingenommen, keiner gibt mir eine Grundlage«. Diese Wissenschaftsfiktion möchte sich begründen mit der »Einsicht, daß Bewußtsein in sich selbst ein Eigensein hat«, »sofern in ihm selbst, seinem Wesen nach, die natürliche Wirklichkeit bewußt wird« – mit einer Einsicht, der man wohl zustimmen könnte, wäre sie nicht verknüpft mit der These: »die Faktizität der Welt überhaupt entschwindet dabei unserem theoretischen Blicke«.76 Ein solcher Blick, darauf verengt, daß alle Erlebnisse, bewußten Akte und von diesen Akten intentional angezielten Gegenstände des reinen Bewußtseins in dessen Immanenz ihr »Beschlossensein« haben, veranlaßt Husserl zu dem Schluß: »Der Thesis der Welt, die eine zufällige ist, steht also gegenüber die Thesis meines reinen Ich und Ichlebens, die eine notwendige, schlechthin zweifellose ist«.77 Wo die Faktizität der natürlichen Welt zum »Entschwinden« gebracht ist, muß schließlich die Fiktivität eines »reinen« Bewußtseins »als für sich geschlossener Seinszusammenhang« die Theorieszene beherrschen, »als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann«78; und wo zudem die Thesis der doch nur »zufälligen« Welt der Thesis eines »notwendigen« reinen Ichlebens schroff »gegenüber« steht, da darf auch keine verknüpfende Mitte zwischen beide treten. Husserls »zwei Thesen« widersprechen nicht allein der dialektischen Wissenschaftslehre Hegels, dieser Logik der einenden und trennenden Mitte79; sie transportieren zugleich die Absage an jedwede erinnernde Verbildlichung von Welt – obwohl einzig die Bilder einer weltzugewandten memoria jenen »Abgrund des Sinnes zwischen Bewußtsein und Realität«80 überquerbar machen, den die phänomenologische Wissenschaft aufreißt. Die Fiktivität dieser Wissenschaft manifestiert sich in der Behauptung, jegliche »Bildertheorie« sei doch ihrerseits eine bloße Fiktion. Wer sich diese mise en scène vor Augen rückt, wird sich also entscheiden müssen, aus welcher der beiden »Fiktionen« er denn nun seine nicht mehr fiktive »Nahrung ziehen« möchte. 120 | zweites kapitel

Den »Abgrund des Sinnes« zwischen Realität und Bewußtsein, dieses – »abstrakte«, wie Hegel gesagt hätte – »Gegenüber« von zufälliger Welt und reinem, notwendigem Ichleben, das eine dialektische Vermittlung nicht zuläßt, sucht Husserl phänomenologisch zu überbrücken. Der operative Begriff, der solche Überbrückung leisten soll und dem der Husserl-Leser auf Schritt und Tritt begegnet, heißt »Modifikation«. Ricœur hat ihn, zutreffend, als die »Metakategorie« der phänomenologischen Methode bezeichnet, unter deren Mantel jegliche Polarität, auch die von faktischer Welt und reinem Bewußtsein, planiert und geradezu »erdrosselt« wird.81 Die zahllosen Spielarten von Modifikation, die Husserl vorführt, basieren alle auf einem paradigmatischen Grundmodell, das die Umwendung der »Erlebnisfakten in der Welt« zu ihrem »in der Ideation als pure Idee erfaßten Wesen« einfordert, damit der eidetisch »achtende Blick« jetzt zu einer »Hinwendung auf das vordem Unbeachtete«, zu einer Wesensschau also, geraten kann.82 In der Modifikation sollen sich eine Umwendung und eine Hinwendung miteinander assoziieren: die vom Bewußtsein auf den Weg zu bringende Umwendung eines »angeschauten« Wirklichen in dessen »Wesen« und die Hinwendung des »achtenden« Bewußtseinsblickes auf die »Erschauung« dieses Wesens. Die phänomenologische »Anschaulichkeit«, die Husserl der Kantischen Bipolarität von »Anschauung und Begriff« entgegenstellt, entpuppt sich mithin als Veranschaulichung des Operationsbegriffes »Modifikation«. Dessen Charakterisierung als »Metakategorie«, die das »Gegenüber« von Welt und Bewußtsein überbrücken soll, ist ohne Frage triftig; was solcher Charakerisierung jedoch noch entgleitet, ist der metakategoriale Status auch der phänomenologischen »Veranschaulichung«, die ebenfalls die Struktur einer umwendend-hinwendenden Modifikation und die Funktion einer Überbrückung hat: einer Überbrückung nämlich des »Abgrundes des Sinnes« zwischen der »angeschauten« faktischen Welt und dem ihr Wesen »herausschauenden« Bewußtsein. Fraglich indes bleibt am Ende, ob diese phänomenologisch konstruierte »Anschaulichkeit« die von Kant gesetzte transzendentale Differenz zwischen Anschauung und Begriff wirklich aus den Angeln zu heben vermag – ist denn das »Wesen«, das der Phänomenologe zu »erschauen« glaubt, nicht doch wieder nur ein durch Abstraktion gewonnener unanschaulicher Begriff? Hilft es hier weiter, wenn »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 121

Husserl behauptet: »Gewiß sind Wesen ›Begriffe‹ – wenn man unter Begriffen eben ›Wesen‹ versteht«?83 Der metakategoriale Begriff der Modifikation steuert nun Husserls in den Ideen zu einer reinen Phaenomenologie vorgetragene Analysen der Erinnerung. »Die Erinnerung«, so heißt es da, »ist eben in ihrem eigenen Wesen Modifikation von Wahrnehmung«, Modifikation nämlich der »gegenwärtig gewesenen« Wahrnehmung in den Zeitmodus »gegenwärtig«. Daneben, Husserl gesteht das zu, gibt es zwar auch eine andere »Modifikationsreihe«, die der »verbildlichenden Modifikation«; diese »neutralisiert« aber das Erinnerungsbild mit seinem spezifischen Bildwert, insofern sie das »gegenwärtig Gewesene« lediglich »in einem Bilde« vergegenwärtigt. »In einem Bilde«: Husserl setzt dieses Wortgefüge sogar in Anführungszeichen. Denn ein Bild im Erinnerungsbewußtsein gilt ihm ausschließlich »als Modifikation von etwas«, als Modifikation von »gegenwärtig Gewesenem«. Seine Rede von »verbildlichender Modifikation« dient damit wiederum einer Epoche vom Erinnerungsbild selber, dessen bildliche Valenz einer Einklammerung verfällt – auch hier noch macht Husserl Front gegen den »unausrottbaren Irrtum« der Bildertheorie. Erinnerung darf nichts anderes sein als eine die Bildvorstellungen neutralisierende »Vergegenwärtigungsmodifikation«, die das Vergegenwärtigte durch eine »wunderbare Reflexion« in den »erfassenden Blick« treten läßt. Dieser Blick richtet sich auf zeitliche Vergegenwärtigung in einem (schlechterdings nicht wegzuleugnenden) Bild, niemals aber auf das erinnernde Bild.84 Husserl mißt solcher Neutralitätsmodifikation einen hohen Stellenwert zu, und nur in ihrem Bann mag er auch Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel betrachten. Dieses »Bildobjekt« steht vor seinem eidetischen Auge gänzlich »neutralisiert«, nämlich »weder als seiend, noch als nicht-seiend« – es wird ihm vielmehr »bewußt als seiend«, genauer noch: »als gleichsam-seiend in der Neutralitätsmodifikation des Seins«.85 Der Phänomenologe möchte in sein »reines« Bewußtsein nichts anderes eintreten lassen als ein in seinem Bildsein neutralisiertes Bild, ein gleichsam-Bild, auf keinen Fall ein »Bild« des wirklichen »Bildobjekts« selber – und darum scheut er nicht davor zurück, der Neutralisierung der »Bilder« auf dem Fuße eine Neutralisierung von »Sein« folgen zu lassen. Auf der einmal eingeschlagenen Fährte phänomenologischer Fiktion ist das freilich 122 | zweites kapitel

nur konsequent: denn ebenso wie alles »wirkliche« Sein ist da auch alles »wirklich« Bildhafte zu reduzieren auf »Sinngebung durch Bewußtsein«. Erst anhand dieser Skizze seines fiktiven Theorems einer »Anschaulichkeit ohne Bilder« sind wir hinreichend gewappnet für die Lektüre von Husserls Vorlesungen Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins mit ihrer Unterscheidung zwischen »primärer« und »sekundärer« Erinnerung.

VI. »Primäre« und »sekundäre« Erinnerung: Husserls Entdeckung der »Retention« Das »Wesentliche« der Erinnerung, so heißt es in diesen Vorlesungen aus dem Jahr 1905, »liegt in der Einordnung der reproduzierten Erscheinung in den Seinszusammenhang der inneren Zeit« – der »immanenten« Bewußtseinszeit in ihrem in sich selber »Beschlossensein«, aus dem alle »reale« Zeit »ausgeschlossen« ist. Das Wesentliche der Erinnerung, so muß die Übersetzung dieser These in ihren Klartext lauten, ist also keineswegs in Erinnerungsbildern zu suchen, die auf vergangene und zu erinnernde Sachverhalte zurückverweisen; die von Husserl niemals aufgeklärte Verknüpfung von Erinnerung, Gedächtnis und Geschichte rückt schon hier in den kritischen Blick. Zwar kann auch der Phänomenologe das Kommen und Gehen von Erinnerungsbildern nicht gänzlich leugnen; er bestreitet aber, »daß wir im jetzigen Erinnern uns ein Bild machen« von Früherem und Vergangenem: dadurch würde der Seinszusammenhang des »inneren Zeitbewußtseins«, der sich auf das »aktuelle Jetzt des Bewußtseins« fokussiert, zerstört. Das nicht auszumerzende Bild, ein »Außen« des Bewußtseins erinnernd, droht das Gewebe der »inneren« Bewußtseinszeit zu zerreißen. Wie also ist mit ihm umzugehen? Das »Erinnerungsbild«, Husserl setzt das Wort in Anführungszeichen, »dient mir«; aber wozu kann und darf es noch dienen?86 Wieder tritt die »Neutralitätsmodifikation« auf die phänomenologische Szene einer »Anschaulichkeit ohne Bilder«; sie muß das Bild mit seiner imaginativen Valenz neutralisieren, sie muß es umwenden zu einer »reproduzierten Erscheinung«, zu einem »Angeschauten«, »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 123

»anschaubar« als »einfach das Erscheinende«, zu dem nun das reine, immanente Zeitbewußtsein sich hinwenden kann. Diesem »einfach« Erscheinenden »gibt« der Phänomenologe, »in der Weise der Erinnerung«, die Zuordnung zum »Jetzt«, zum »aktuellen Jetzt des Bewußtseins«, zur »Jetztauffassung«.87 Noch durch diese gewundene Sprache hindurch bleibt die Stoßrichtung des Husserlschen Philosophierens erkennbar, nämlich: die apriorische Zeit Kants, diese niemals anschaulich erscheinende »Form der inneren Anschauung« (KrV, A 37), im inneren Zeitbewußtsein anschaulich zu machen und sogar »erscheinen« zu lassen mit Hilfe einer Modifikation, welche die Bilder der memoria zu »Erscheinungen« in der Immanenz des Zeitbewußtseins transformiert. Mit anderen Worten: das Zeitproblem steuert die Analyse des Erinnerungsproblems, oder genauer noch: die memoria mit ihren auf das »Außen« von Vergangenheit, Geschichte und Welt verweisenden Bildern fällt der Freilegung einer »inneren« Zeit zum Opfer. An die Stelle verbildlichender Erinnerung tritt, phänomenologisch konsequent, eine »Vergangenheitsanschauung« mit dem Namen »Retention«, die der Bilder nicht mehr bedürfen soll. Was ist diese phänomenologische Retention – und was kann sie im Kontext einer »Anschaulichkeit ohne Bilder« nur bleiben? Zunächst einmal: wer da erwartet, das Thema »Vergangenheitsanschauung« würde anhand des Paradigmas »Sehen« erörtert, kann nur staunen; Husserl zieht das Paradigma »Hören« vor – und das muß ja unverzüglich die Frage evozieren, ob und wie Gehörtes überhaupt »veranschaulicht« werden soll. Er entwickelt sein Konzept der Retention am gehörten Ton als »Zeitobjekt«. Zeitobjekte werden von ihm definiert als »Einheiten in der Zeit«, die in sich selber eine »Zeitextension« enthalten, also dauern, und er fragt nun: hören wir bei der Wahrnehmung einer Melodie einen ersten, sodann einen zweiten und schließlich einen dritten Ton? Hören wir beim Anhören des zweiten den ersten Ton schon »nicht mehr«? Seine Antwort ist: jeder Ton hat seine eigene Zeitlichkeit, er erklingt und verklingt; beim Verklingen rückt er in eine Vergangenheit, doch beim Hören halten wir ihn »immer noch« fest, »haben wir ihn in einer Retention« – seine »Dauer« ist seine »Zeitlichkeit«. Sobald nun ein Ton erklingt, wird er uns »jetzt« bewußt; er bleibt uns bewußt, »solange« er dauert, und bei seinem Abklingen ist er uns re124 | zweites kapitel

tentional als »gewesener« Ton »immer noch« bewußt. Husserl nennt das »die Weise, wie das immanent-zeitliche Objekt in einem beständigen Fluß erscheint«: »der Ton ist derselbe, aber der Ton in der Weise, wie er erscheint, ein immer anderer«. »Eigentlich« wird das Andauern des Tons indes »stets in einem Jetztpunkt« wahrgenommen; ist seine Dauer abgelaufen, bleibt er in der Retention »noch bewußt«, und zwar in »absteigender Klarheit«, bis er »ins Dunkel verschwindet«. Das Zeitobjekt »Ton« wird mithin beim Hören zu einem »Objekt im Wie« modifiziert, das heißt: als gegenwärtig oder als vergangen bewußt. Im reinen Bewußtsein ist das Zeitobjekt »erlebt« in der »Erscheinung seines Wie«, im Wie seines Gewesenseins, im Wie seiner Gegenwärtigkeit und – wenn ich sein Fortklingen erwarte – im Wie seiner Zukünftigkeit, im Wie der »Protention«. Stetig wandelt sich das »Jetzt« des gehörten Tons in ein »Gewesen«, sein Gewesensein bleibt aber »festgehalten« in einer Retention, die sich fortlaufend zur »Retention von Retentionen« erweitern kann, nämlich einfließen in ein »retentionales Bewußtsein«, welches »in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der Vergangenheit in sich trägt«.88 Die Retention markiert darum kein punktuelles Jetzt, sondern eine Serie von Jetzt-Momenten, eine Ton-Kontinuität. Die »Urimpression« des Tons modifiziert sich zu immer neuen Jetzt-Gegenwarten. »Die Retention«, so kommentiert Ricœur, »ist eine Herausforderung an die Logik des Selben und Anderen« und zugleich – weil lediglich eine Modifikation des einmal gehörten Tons – dessen »erweiterte Gegenwart«, die Negation folglich seines »nicht mehr«.89 Darf man diesem Interpreten aber auch umstandslos folgen, wenn er erklärt, der »Anschauungscharaker« des urprünglich gehörten Tons, »auch wenn er allmählich schwächer wird«, teile sich allem mit, »was der Jetztpunkt« – des Hörens – »retentional in sich oder unter sich hat«?90 Ist denn ein Ton im exakten Verständnis des Wortes überhaupt »anschaulich«? Was Husserl, deskriptiv, »veranschaulichen« kann, ist einzig die Dauer des Tons im Fluß des Zeitbewußtseins, ist die Retention des Tons im »Wie« seines »gewesen« und seines »jetzt« – und diese »Veranschaulichung« transportiert wiederum die Absage an »Bildertheorien«. Man könnte ja auch, was Husserl strikt vermeidet, von einem nach-klingenden Ton-Bild »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 125

sprechen, das im Bewußtsein des Hörers als Nach-Bild des vokal oder instrumental erzeugten Tons entsteht (und dies im Rahmen einer musikästhetischen Überlegung, die sich nicht auf die Beschreibung eines inneren Zeitbewußtseins restringiert). Doch Husserl stellt eine derartige Überlegung gar nicht erst an, er hält fest: »Das Nachklingen selbst, die Nachbilder überhaupt […] haben mit dem Wesen der Retention nichts zu tun«.91 Retention soll ja nichts anderes sein als »die intentionale Beziehung von Bewußtseinsphase auf Bewußtseinsphase«, jenseits des dem Bewußtsein »transzendenten« Zeitobjekts »Ton«.92 Damit verstrickt der Phänomenologe sich nicht nur von neuem in ein Dilemma, sondern stellt sogar seine Methode des »Durchstreichens« alles faktisch-Natürlichen in Frage. Denn der »wirklich« erzeugte, dem inneren Zeitbewußtsein transzendente Ton soll nun auch das materiale Substrat des retentionalen Tonhörens sein; der in »objektiver Zeit« erklungene Ton soll durchaus, als »wahrgenommenes Zeitliches«93, die Materie oder Hyle der Tonretention in der Immanenz der Bewußtseinszeit bleiben. Husserl sucht diesem Dilemma auszukommen, indem er die objektive Zeit des transzendenten Tons in der Immanenz des inneren Zeitbewußtseins »erscheinen« lassen will – und verirrt sich damit in Zweideutigkeiten, die darin offenkundig werden, »daß trotz der durchstrichenen Intentionalität ad extra die Problematik des wahrgenommenen Dinges unterschwellig weiterlebt. Daraus erklärt sich die Paradoxie eines Unternehmens, das sich auf eben die Erfahrung stützt, die es selbst untergräbt«.94 In seinem letzten – und unvollendeten – Werk hat Merleau-Ponty das Retentionskonzept Husserls harsch kritisiert, und diese Kritik ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sie aus der phänomenologischen Schule kommt. Merleau-Ponty zeigt sich nicht nur skeptisch gegenüber jedem Versuch, das Tönen eines Tons an die Selbstgegenwart des immanenten Zeitbewußtseins anzuschließen; er sieht auch ganz klar, daß Husserls Retention die Frage nach dem Vergessen gänzlich offen läßt – »woher kommt das Vergessen«? Vor allem aber notiert er: »Tatsächlich haftet […] dem Gegenwärtigen das Vergangene an und nicht dem Bewußtsein des Gegenwärtigen das Bewußtsein des Vergangenen«, die Vergangenheit »erhebt selbst den Anspruch, wahrgenommen worden zu sein, und keineswegs ist 126 | zweites kapitel

es so, daß das Bewußtsein, wahrgenommen zu haben, das Bewußtsein des Vergangenen trägt«. Das Vergangene hat »massives Sein. Ich habe es wahrgenommen, weil es war«.95 Husserl nennt die Retention »primäre« Erinnerung nicht etwa deshalb, weil eine »sekundäre« Erinnerung – die »Wiedererinnerung« von zeitlich oder gar geschichtlich Vergangenem – ihr folgen könnte, sondern weil sie einen Primat über die Reproduktion von Vergangenheit soll beanspruchen dürfen. Schon dies läßt erkennen, daß auch die Repräsentation von Vergangenheit für ihn niemals deren »Verbildlichung« sein wird. An die Stelle solcher Verbildlichung rückt wiederum eine »Erschauung«: sei es doch nicht so, »als ob zum Wesen der Erinnerung gehörte, daß ein im Jetzt vorhandenes Bild für eine andere ihm ähnliche Sache supponiert würde«. »Erinnerung bzw. Retention ist nicht Bildbewußtsein«, sondern »ich erschaue in der Erinnerung, sofern sie primäre ist, das Vergangene, es ist darin gegeben, und Gegebenheit von Vergangenem ist Erinnerung«.96 Kann aber Vergangenes wirklich in der gegenwärtigen Retention »gegeben« sein? Bleibt das objektiv-zeitlich Vergangene denn der Immanenz eines »inneren Zeitbewußtseins« nicht notwendigerweise transzendent? Ist der »Abgrund« zwischen solcher Immanenz und der Transzendenz »objektiver Zeit« denn nicht tatsächlich einzig durch »Bilder« vom Vergangenen überbrückbar, wie Augustinus es sich dachte, als er schrieb: »Wenn wir Vergangenes wahrheitsgemäß erzählen, holen wir aus der Erinnerung nicht die Dinge selber hervor, die vergangen sind, sondern nur Worte, die die Bilder wiedergeben, die jene Dinge im Vorübergehen durch die Sinne dem Geist wie Spuren eingeprägt haben«?97 Und von Augustinus sagt doch auch Husserl: »Erheblich weiter gebracht als dieser große und ernst ringende Denker hat es die wissensstolze Neuzeit in diesen Dingen nicht«.98 Er selber freilich möchte die Dinge dennoch weiterbringen, indem er darauf besteht: auch die Wiedererinnerung, diese Re-präsentation der Vergangenheit, »ist gegenwärtig«, ja, die Retention, die »primäre« Erinnerung, »erfüllt« sich in der »sekundären« Reproduktion des Vergangenen.99 Worin besteht nun diese Erfüllung? Die sekundäre Erinnerung, so insistiert unser Phänomenologe, stellt »ein Objekt nicht selbst vor Augen«, sondern »vergegenwärtigt« es, stellt es »gleichsam im Bilde vor Augen, wenn auch nicht gerade in der Weise eines eigentlichen Bildbewußtseins«.100 Zu Hilfe gerufen »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 127

wird hier ein halbierter Augustinus, ein gleichsam-Augustinus, und die Modifikation des Vergangenseins zu einem Gegenwärtigsein in »innerer« Zeit bringt »jetzt« die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlicht zum Ersticken. »Im Jetzt schaue ich das Nicht-Jetzt«; das Erinnerte »erscheint als gegenwärtig gewesen, und zwar unmittelbar anschaulich; und es erscheint dadurch, daß intuitiv eine Gegenwart erscheint, die einen Abstand hat von der Gegenwart des aktuellen Jetzt«, und dann heißt es schließlich: »die intuitive Vorstellung des Nicht-Jetzt konstituiert sich in einem Gegenbild«.101 Husserl erläutert diese Überlegungen folgendermaßen: »Ich erinnere mich an das erleuchtete Theater – das kann nicht heißen: ich erinnere mich, das Theater wahrgenommen zu haben. Sonst hieße letzteres: ich erinnere mich, daß ich wahrgenommen habe, daß ich das Theater wahrgenommen habe usf. Ich erinnere mich an das erleuchtete Theater, das sagt: »In meinem Inneren« schaue ich das erleuchtete Theater als gewesenes. Im Jetzt schaue ich das Nicht-Jetzt. Wahrnehmung konstituiert Gegenwart. Damit ein Jetzt als solches mir vor Augen steht, muß ich wahrnehmen. Um ein Jetzt anschaulich vorzustellen, muß ich »im Bilde«, repräsentativ modifiziert, eine Wahrnehmung vollziehen. Aber nicht so, daß ich die Wahrnehmung vorstelle, sondern ich stelle das Wahrgenommene vor, das in ihr als gegenwärtig Erscheinende. Die Erinnerung impliziert also wirklich eine Reproduktion der früheren Wahrnehmung; aber die Erinnerung ist nicht im eigentlichen Sinne eine Vorstellung von ihr: die Wahrnehmung ist nicht in der Erinnerung gemeint und gesetzt, sondern gemeint und gesetzt ist ihr Gegenstand und sein Jetzt, das zudem in Beziehung gesetzt ist zum aktuellen Jetzt. Ich erinnere mich an das erleuchtete Theater von gestern, d. h. ich vollziehe eine »Reproduktion« der Wahrnehmung des Theaters, somit schwebt mir in der Vorstellung das Theater als ein gegenwärtiges vor, dieses meine ich, fasse dabei aber diese Gegenwart als zurückliegend in Beziehung auf die aktuelle Gegenwart der jetzigen aktuellen Wahrnehmungen auf. Natürlich ist jetzt evident: Die Wahrnehmung des Theaters war, ich habe das Theater wahrgenommen. Das Erinnerte erscheint als gegenwärtig gewesen, und zwar unmittelbar anschaulich; und es erscheint so dadurch, daß intuitiv 128 | zweites kapitel

eine Gegenwart erscheint, die einen Abstand hat von der Gegenwart des aktuellen Jetzt. Die letztere Gegenwart konstituiert sich in der wirklichen Wahrnehmung, jene intuitiv erscheinende Gegenwart, die intuitive Vorstellung des Nicht-Jetzt, konstituiert sich in einem Gegenbild von Wahrnehmung, einer »Vergegenwärtigung der früheren Wahrnehmung«, in der das Theater »gleichsam jetzt« zur Gegebenheit kommt. Diese Vergegenwärtigung der Wahrnehmung des Theaters ist also nicht so zu verstehen, daß ich, darin lebend, das Wahrnehmen meine, sondern ich meine das Gegenwärtigsein des wahrgenommenen Objektes«.102 Eines ist, über Husserls Philosophie zu räsonnieren; ein anderes, seinen sorgsamen und mühsamen Analysen Schritt für Schritt zu folgen. Es sind Analysen, die vorführen, wie phänomenologische Anschaulichkeit sich erzeugt und in welchem nicht etwa nur begrifflichen, sondern methodologischen Kontrast zu dem transzendental fundierten Kantischen Quasibegriff »Anschauung« sie steht. Husserls Rede vom »Bild«, von einem Vor-Augen-stellen »gleichsam im Bilde« und vom »Gegenbild«, als »Gegenbild von Wahrnehmung«, hat im Kontext phänomenologisch beschriebener Anschaulichkeit ihren guten Sinn – ich habe die lange Passage aus dem § 27 der Vorlesungen Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ungekürzt zitiert, damit das meinen Lesern im Blick bleibt.103 Problementscheidend ist indes eine Antwort auf die Frage, ob die phänomenologische Beschreibung eines »inneren« Zeitbewußtseins, ineins mit dessen Fokussierung auf die »Retention«, für eine Philosophie der memoria und deren imagines, diesen auf geschichtlich-objektive Zeit zurückverweisenden Bildern, wirklich hilfreich ist. Das »Erinnerungsbewußtsein« ist zwar die Schnittstelle, an der geschichtliche Zeit und Bewußtseinszeit aufeinanderstoßen; eben dies aber macht es unverzichtbar, auf das Janusantlitz der Bilder im Erinnerungsbewußtsein zu achten, das sowohl auf das Innen des Bewußtseins als auch auf das Außen der geschichtlichen Welt sich richtet. Weder Husserls beißende Kritik an den »Irrtümern« der »Bildertheorie« (im Klartext: an der Augustinischen Philosophie der memoria) noch sein phänomenologisches Theorem des »gleichsam-Bildes« im inneren Zeitbewußtsein helfen uns da auch nur einen einzigen Schritt weiter. »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 129

In seinem Buch Die erzählte Zeit, dessen französische Originalausgabe im Jahr 1985 erschien, hatte Ricœur notiert: Husserls »Theorie der Retention stellt auf jeden Fall einen Fortschritt dar gegenüber der Augustinischen Analyse des Bildes der Vergangenheit, das als ein ›im Geist haften gebliebener Eindruck‹ betrachtet wird. Die Intentionalität der Gegenwart ist die direkte Antwort auf das Rätsel einer Spur, die zugleich etwas Anwesendes und Zeichen für etwas Abwesendes sein soll«.104 Das war wohl ein noch ganz unter dem Bann der phänomenologischen »Anschaulichkeit ohne Bilder« stehender Befund. Ich erlaube mir, es einen zu begrüßenden Perspektivenwechsel zu nennen, wenn dieser Autor nun, fünfzehn Jahre später, notiert, die Gedankenführung der Vorlesungen Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins habe Ähnlichkeit mit dem »Pendeln eines Schaukelstuhls«, der sich von der mémoire mit ihrem »Objektbezug« hindreht zur Konstitution der Dauer eines Zeitflusses, aus dem jedwedes »Augenmerk auf Objektives« getilgt ist, und es dürfte auch dieser Perspektivenwechsel sein, der Ricœur jetzt sagen läßt, historische »Repräsentation« liefere sehr wohl ein »gegenwärtiges Bild« vom Vergangenen; denn Vergangenes ist zwar »verschwunden«, aber nichts vermag aus der Welt zu schaffen, daß es »gewesen ist«.105 Vor dem Gewesen-Sein des Vergangenen und dessen Darstellung in der Erinnerung – die einzig auf dem Wege der Verbildlichung eines darstellbaren Vergangenen möglich ist – muß die Phänomenologie endgültig die Waffen strecken. Schon Husserls Terminologie wird dem Problem einer historischen Ontologie nicht gerecht; denn da ist immer nur und immer wieder von »Reproduktion« oder »Repräsentation« die Rede, und auf die Frage, wie in solcher »Reproduktion die Evidenz des Zeitbewußtseins sich erhalten kann« ergeht die Antwort, dies sei »nur möglich vermittels einer Deckung« der Reproduktion mit der Retention, ja, da heißt es sogar, man könne diese »Deckung« von Retention und Reproduktion auch »umgekehrt nehmen«, weil doch die Reproduktion die Retention »anschaulich« mache.106 Husserl steht dem Geschichtsproblem, das ihm auch erst im Zusammenhang seiner Vertreibung vom Freiburger Lehrstuhl konkret spürbar wird, hilflos gegenüber. Noch seinem Werk über die Krisis der europäischen Wissenschaften, das die Geschichtlichkeit der anschaulichen »Lebenswelt« thematisiert, sind Gedankenlinien 130 | zweites kapitel

abzunehmen, die dem »Pendeln eines Schaukelstuhls« gleichen, Gedankenlinien nämlich, welche die Alternative zwischen »Phänomenologie und Geschichte« und »Phänomenologie statt (in der Erinnerung verbildlichter) Geschichte« nicht aufzulösen vermögen; auch hier noch wird alles Geschichtliche zurückgebunden an »urstiftende« Bewußtseinsevidenzen, auch hier noch sollen »Vergangenheiten in Selbstzeitigung konstituiert« sein.107 Husserl bleibt sogar nach der Zerstörung seiner eigenen Lebensgeschichte durch das nazistische Regime bei der in den Texten zum inneren Zeitbewußtsein formulierten »Erwägung« stehen, »welcher Art die Vergegenwärtigung« von Geschichte nur sein könne: »In Frage steht nicht eine Repräsentation durch ein ähnliches Objekt wie im Falle bewußter Bildlichkeit […] Diesem Bildbewußtsein gegenüber haben die Reproduktionen den Charakter der Selbstvergegenwärtigung«.108

VII. »Mittelbare« und »unmittelbare« Erinnerung. Schelers phaenomenologische Auslegung des Satzes »ich erinnere mich« Husserls Phänomenologie hat »das Wesen der Geschichtlichkeit des Menschen nicht eigens begriffen oder überhaupt zum Thema gemacht«.109 Im voraufgehenden Abschnitt VI habe ich verdeutlicht, daß der Subjektivismus, der Husserls Analysen des inneren Zeitbewußtseins steuert, in der Verknüpfung mit einer Exilierung der Bilder vergangener Geschichte die Thematisierung der »Geschichtlichkeit des Menschen« – des »ganzen Menschen«, um mit Dilthey zu sprechen – geradewegs ausschließt. Die Phänomenologie Max Schelers läßt demgegenüber weder die an Erinnerungsbilder sich heftende Erkenntnis von »Tradition und Geschichte« noch die »lebendige Geschichte« außeracht, die »von der Gegenwart zum Vergangenen zurück« führt, eine lebendige Geschichte, in welcher das »ich erinnere mich« zum »Erlebnis« der ganzen, leibhaften Person gerät.110 Schelers Philosophie ist eine personalistische Philosophie, sie stellt dem transzendentalen »ich denke« Kants ebenso wie dem transzendentalphänomenologischen »ego« Husserls das »individuelle Ich« entgegen, und zwar als »Erlebnisich«, in dem die Idee einer »Ichheit« sich jetzt »als seiend darstellt«.111 »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 131

Auch Husserl redet vom »ich bin« als einer »Urtatsache, der ich standhalten muß, von der ich als Philosoph keinen Augenblick wegsehen darf«112; den mundan-ontologischen Status dieses »ich bin« möchte er dann aber wieder einklammern oder »außer Geltung« setzen. Damit »modifiziert« sich das weltlich-geschichtliche »ich bin« zur Fiktion eines »ego sum bezw. cogitans«, und die Phänomenologie entpuppt sich endgültig als die »unerhört eigenartige […] Wissenschaft von der konkreten transzendentalen Subjektivität«.113 Das Wörtchen »beziehungsweise« zwischen dem ego sum und dem ego cogito soll zum Ausdruck bringen, daß Husserl vom »ich bin« nicht »wegsehen« möchte, in Wahrheit indiziert es indes die Äquivokation, der Husserl den Ichgedanken ausliefert. Und wenn im Duktus der »Wissenschaft von der konkreten transzendentalen Subjektivität« gesagt wird »ich bin, ego cogito«, dann heißt das jetzt nicht etwa »ich, dieser Mensch, bin«; denn Husserls ego cogito ist längst zum »Geltungsgrund« des ego sum stilisiert – und das ego cogito, dieses »reduzierte Ich«, darf ein »Stück der Welt« nicht bleiben.114 Wiederum dürfen wir das Pendeln eines phänomenologischen Schaukelstuhls beobachten: gerade diese »Egologie« zeigt ja an, wie wenig Husserl der »Urtatsache« des »ich bin« standzuhalten vermag; die mundane Individualität des ego sum soll zwar nicht negiert, muß aber »modifiziert« werden zu einer »empirischen Tatsächlichkeit des transzendentalen ego«.115 Und so behauptet unser Phänomenologe schließlich auch noch: »ich bin nicht mein Leib, sondern ich habe meinen Leib«, oder, »konstitutionslogisch« formuliert: »Ich als der Mensch bin Bestandstück der realen Umwelt des reinen Ich, das als Zentrum aller Intentionalität auch diejenige vollzieht, mit der sich eben Ich, der Mensch und die Persönlichkeit konstituiert«.116 Rechtfertigen möchte sich diese egologische Phänomenologie schlußendlich noch einmal mehr mit der Fiktion einer transzendentalen Verhüllung: »Verhüllt ist alles noch so Bekannte, auch das eigene Menschsein, die eigene Leiblichkeit und das eigene Ichsein«.117 Schelers phänomenologische Texte müssen vor diesem Husserlschen Hintergrund gelesen und verstanden werden. Sie »verhüllen« nämlich weder das »Menschsein« noch die Leiblichkeit des »individuellen« Ich und der Person. Darum können sie auch wieder von »leibhaften« Erinnerungsbildern sprechen, obwohl sie, in Analogie zu Husserls Unterscheidung von primärer und sekundärer Erinne132 | zweites kapitel

rung, eine Differenz von »unmittelbarer« und »mittelbarer« Erinnerung statuieren. »Das Sein der Person fundiert alle wesenhaft verschiedenen Akte« der Person, ihre Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen und Erwartungen. Mit diesem Denkansatz rückt Schelers Phänomenologie in eine fundamentale Opposition zu Husserls Egologie. In jedem ihrer Akte steckt »die ganze Person«; keineswegs lebt sie lediglich »innerhalb der phänomenalen Zeit«, dem »inneren« Zeitbewußtsein Husserls, und deshalb hat es auch »gar keinen Sinn, sie in den gelebten Erlebnissen erfassen zu wollen«. »Es ist die Person selbst, die, in jedem Akt lebend, auch jeden voll mit ihrer Eigenart durchdringt«.118 Scheler definiert: »Person ist die wesensnotwendige und einzige Existenzform des Geistes, sofern es sich um konkreten Geist handelt« und er präzisiert: »das mit Person Gemeinte hat dem Ich gegenüber etwas von einer Totalität, die sich selbst genügt«.119 »Totalität« der Person bedeutet für ihn die »wesenhafte Verknüpfung« des Ich mit seiner Leiblichkeit, und das hinwiederum heißt: erst aufgrund dieser Verknüpfung von Ich und Leib kann die »innere Anschauung« – mit der Husserl operiert – zu einer »vollen Anschauung« werden.120 Im Gegensatz zu Husserls »Leibhabe« formuliert Scheler: »Der Zusammenhang von Ich und Leib […] ist ein Wesenszusammenhang für alles menschliche Bewußtsein«, und: »nicht nur die äußere Anschauung, sondern auch die innere Anschauung (ist) an die Sinnlichkeit und die Bewegungsstruktur des Leibes in ihrer faktischen Ausübung gebunden«.121 »Leben im Leibe« – »das heißt nicht, ihn gegenständlich haben, […] es heißt: im inneren Erleben selbst ›in ihm sein‹«.122 Der weitschweifige Regenbogen der »Anschaulichkeit«, mit dem Husserl jedwedes Angeschaute überspannt, wird von Scheler in der Anschauungsleistung der Person »individualisiert«, und die Öffnung der Phänomenologie des Ichbewußtseins für das Sein wird von ihm im »Sein der Person« verankert.123 Eine solche ontologisch gewendete, am »Leibphänomen« orientierte Phänomenologie vermag das »ich« und das »mich« in der Aussage »ich erinnere mich« in neues Licht zu rücken. Scheler schreibt: »Erinnere ich mich an etwas, das seinerzeit gegenwärtig war, z. B. wie ich als Kind vor einem See stehe, so gehört das ›Gegenwärtigsein‹ dieses Gehalts selbst zum umfassenden Gehalt des »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 133

Erinnerns, der selbst ›als vergangen‹ gegeben ist«. Das meint: wenn ich in der Erinnerung mich leibhaftig vor einem See stehen sehe, dann ist das etwas anderes als wenn das Erinnern nur vergegenwärtigt, »daß ich vor dem See stand«; denn wenn ich mich vor dem See stehen sehe, dann »steckt das Leibphänomen immer als Teil in dem Erinnerungsgehalte drinnen«. Eine Erinnerung nur daran, » daß ich vor dem See stand«, bleibt demgegenüber nur die Erinnerung an die vergangene Gegenwärtigkeit eines Erlebnisses ohne Rücksicht auf dessen ontisch-leibliche Komponente. Eine solche Erinnerung ist noch längst nicht ein Sich-erinnern an den »umfassenden« Erlebnisgehalt in seiner Leibhaftigkeit. Das Sich-erinnern kann folglich auf ein lediglich »inneres Zeitbewußtsein« nicht reduziert werden; denn auch das Zeitbewußtsein ist in Wahrheit niemals ablösbar von seiner »Leibgegebenheit«, und wegen der »wesenhaften Verknüpfung« von Ich und Leib im »individuellen Ich« bleibt auch die innere Bewußtseinszeit, wenigstens indirekt, »der objektiven Zeit eingeordnet« – jener Zeit, in der »Menschen« und »Personen« leben. Mit anderen Worten: der Längsschnitt Husserls durch den Strom des inneren Zeitbewußtseins vermag den Sachverhalt »ich erinnere mich« nicht zu »voller Anschauung« zu bringen; zu solch voller Anschauung bedarf es eines Querschnitts, der die Momente des Bewußtseinsstroms mit dem sie fundierenden »Leibphänomen« verknüpft124, einem »Phänomen«, das mit der Formel von einer bloßen »Leibhabe« nicht ausgeschöpft ist. Wenn Scheler jetzt von einer »unmittelbaren« und einer »mittelbaren« Erinnerung spricht, mag da sofort die strukturale Entsprechung zu Husserls »primärer« und »sekundärer« Erinnerung in einen ersten Blick fallen. Die Substruktur, der Schelers Differenzierung zweier Erinnerungsmodi aufruht, ist indes nach wie vor in einer Opposition zu Husserls »Egologie« gegründet, denn nach wie vor gilt: »Es gibt so etwas wie ein ›Gegenwartsich‹ als phänomenologische Tatsache gar nicht«, »alles gegenwärtig Erlebte ist wesensnotwendig gegeben auf dem Hintergrund jener Totalgegebenheit, in der wiederum das Ganze des individuellen Ich […] intendiert ist«125 – jenes Ganze, das von Husserl durch die alle leibliche Faktizität einklammernde Epoche zerschnitten wird. Die Differenz zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erinnerung bleibt bei Scheler einbehalten in das Ganze des individuellen, konkreten Ich oder der leibhaften Person. 134 | zweites kapitel

Den Unterschied zwischen den beiden Weisen der Erinnerung will Scheler daran festmachen, daß für die unmittelbare Erinnerung, als reinem Bewußtseinsverhalt, die »Reproduktion« eines bestimmten Vergangenen »gar keine Bedeutung« hat. Unmittelbare Erinnerung erinnert einzig eine »Sphäre des Vergangenseins überhaupt«. Sie korrespondiert deshalb auch nicht der Husserlschen Retention eines bestimmten, abklingenden Tons. Denn in unmittelbarer Erinnerung »sehe ich mich wieder« als »Kind vor dem See«, doch die spezifische Qualität eines erinnernden Aktes wird dabei nicht erlebt; unmittelbares Erinnern vollzieht sich allein »vor dem immer mitgebrachten Zeithintergrund jeglichen Bewußtseins« – eben in der »Sphäre eines Vergangenseins überhaupt« – , und nichts sinkt oder klingt da ab in ein bestimmtes »Vergangensein«: in unmittelbarer Erinnerung ist lediglich die »Wesenheit« von Vergangensein gegeben.126 Das unmittelbare Erinnern folgt dabei durchaus einer »Zeitrichtung«, die vom »Vergangensein überhaupt« zu meiner erlebten Gegenwart führt. Das mittelbare Erinnern dagegen folgt der Zeitrichtung »von der Gegenwart zum Vergangenen zurück«; es setzt zwar das unmittelbare Erinnern als Bewußtseinsgeschehen, in welchem die »Wesenheit« von Vergangensein geschaut ist, voraus, bleibt aber stets durch die faktischen Erinnerungsmöglichkeiten des individuellen Ich eingegrenzt: unmittelbare Erinnerung eröffnet den »Spielraum« für die mittelbaren Erinnerungen des konkreten Ich. In diesem Spielraum findet dann auch das bestimmte, einzelne, erinnerte »Haus am See« seinen Ort. Allein die mittelbare Erinnerung nennt Scheler ein konkretes, wirkliches Erlebnis; »hier erst«, so betont er, ist das ›ich erinnere mich‹ im strengen Sinne auch erlebt«127 – und dieses »ich erinnere mich« läßt jetzt auch wieder »Erinnerungsbilder« zu. Auf ihnen baut sich das Wissen von »Tradition« und »Geschichte« auf, auf nämlich selber leibhaften Bildern, anhand derer das individuell verleiblichte Ich sich »mittelbar« an Vergangenes erinnert. Schelers Kant- und Husserlkritische »materiale Wertethik« ruft die Bilder des Erinnerungsbewußtseins aus ihrem Exil zurück. Damit schließt sich der Problemkreis, den ich in diesem Kapitel skizziert habe, und es ist an der Zeit, aus dieser Skizze einige – vorläufige – Folgerungen zu ziehen.

»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 135

VIII. Ein Fazit. Die Bilder der memoria oder von der Falte im Bewußtsein John Locke hat 1689 in seinem Essay concerning human understanding unterschieden zwischen der Erinnerung als einem Festhalten an »einfachen Ideen«, die wir durch sinnliche Wahrnehmung oder Reflexion gewinnen, und dem Gedächtnis, das er als Vorratskammer beschreibt, aus dem diese Ideen »ständig schwinden«, weil ihr Eindruck verblaßt. »Unser Geist gleicht dann einem Grab, an das wir herantreten und an dem zwar die Grabplatte und der Marmor noch erhalten sind, die Inschrift aber durch die Zeit ausgelöscht und die bildlichen Darstellungen verwittert sind«; denn »die unserem Geist eingezeichneten Bilder sind mit vergänglichen Farben aufgetragen, sie erlöschen und verschwinden, wenn sie nicht dann und wann wieder aufgefrischt werden«. Dennoch hält Locke fest: »Nächst der Wahrnehmung ist das Gedächtnis für ein denkfähiges Wesen am notwendigsten. Seine Bedeutung ist so groß, daß, wenn es fehlt, alle unsere übrigen Fähigkeiten großenteils nutzlos sind. Ohne die Hilfe unseres Gedächtnisses könnten wir in unserem Denken, Schließen und Erkennen nicht über uns gegenwärtige Objekte hinausgelangen«.128 Die memoria kann ein Grab sein, das sich längst geöffnet hat, während wir als endliche geistige Wesen noch leben, und das Bild der memoria als Grab ist das Inbild des Vergessens. Ebenso wie Giordano Bruno die memoria eine scriptura und eine pictura genannt hatte, eine »innere Schrift« und ein »inneres Bild«, spricht auch Locke von der »Inschrift« und von »bildlichen Darstellungen« auf der Grabplatte der Erinnerung: Schrift und Bild erlöschen und verschwinden – das Vergessen ist ein Verwittern der »unserem Geist eingezeichneten Bilder«. Der Versuch über den menschlichen Verstand bindet nicht nur Gedächtnis und Erinnerung an Schriftfiguren und figurierende Bilder; er verknüpft auch das Erinnern mit dem Vergessen durch den Hinweis auf Bilder und ihr Verlöschen. Und sofort wird uns klar, daß der Weg von Locke zu Merleau-Ponty zwar lang, aber schnurgerade ist, denn die von Merleau-Ponty an Husserl gerichtete Frage »woher kommt das Vergessen?«129 ist wohlbegründet: die phänomenologische Retention lebt ja von einer Außergel136 | zweites kapitel

tungsetzung der Bilder der Erinnerung – deren Erlöschen erst zu erklären vermag, was Vergessen ist. Erinnern und Vergessen, durch Bilder und deren Verschwinden eng miteinander verwoben, beide begründen oder begrenzen, wie Locke nun allerdings auch glaubt, die »Identität unseres Bewußtseins«.130 Dennoch: beide verweisen auf das Leben und das Sterben – auf das Leben, weil die Erinnerungsbilder »dann und wann wieder aufgefrischt werden« können. Lockes Sätze über die Schrift und das Bild auf der Grabplatte der Erinnerung sind niedergeschrieben an der historischen Grenzscheide zwischen dem verlorenen Paradies der Philosophen der Renaissance, die noch in Bildern oder veranschaulichenden Figuren denken durften, und der jetzt die beginnende Moderne bestimmenden art de penser, der es auf die »Idee« ankommt, die man sich von Bildern und Figuren machen soll, und die einen strikten Unterschied eintragen will »zwischen anschaulichem Vorstellen und reinem Begreifen«.131 Der Engländer blickt einigermaßen skeptisch auf solche »Baukunst« – an der es, wie er im Sendschreiben an den Leser seines Buches sagt – »in der Gelehrtenwelt gegenwärtig nicht fehlt«; und angesichts dieser »Baukunst« oder Systematik des Wissens will er der Unzeitgemäße bleiben, überzeugt nämlich, »daß der Umfang des Wissens nicht nur hinter der Realität der Dinge, sondern sogar hinter dem Umfang unserer eigenen Ideen zurückbleibt«.132 Diese Aufmerksamkeit auf die »Realität der Dinge« dürfte es sein, die ihm auch den Blick auf die Wirklichkeit der Bilder der memoria nicht verstellt, die – weil vom Vergessen bedroht – jeder »Baukunst« des Wissens sich entziehen. Kant hat diese Idee einer Baukunst des Wissens aufgegriffen und ihr in der Kritik der reinen Vernunft eine transzendentalphilosophisch überzeugende, für den Problemtitel »Erinnerung« allerdings verhängnisvolle Begründung gegeben. Die Frage, um die sein ganzes Denken kreist, ist: »ob wir überall bauen, und wie hoch wir wohl unser Gebäude […] aufführen können« (KrV, B 766). Den Schlußstein seines kritizistischen Gebäudes setzt er schließlich in der Transzendentalen Methodenlehre als einer »Architektonik aller Erkenntnis aus reiner Vernunft«, einer Vernunft, die »das Rationale dem Empirischen entgegen« stellt« (KrV, B 863), und wenn er nun im Kontext dieser Methodenlehre von der empirischen Psychologie spricht – der er ja das Erinnern zuordnet – , dann fügt er umgehend »ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 137

hinzu, deren »Prinzipien a priori« müsse jedenfalls »die reine Philosophie« festlegen. Daher ist es durchaus konsequent, wenn er dieser »empirischen« Psychologie die Rolle eines »Fremdlings« zumißt, dem man auf dem transzendentalen Baugerüst des Wissens »auf einige Zeit einen Aufenthalt vergönnt, bis er in einer ausführlichen Anthropologie […] seine eigene Behausung wird beziehen können« (KrV, B 876 f.). In Kants Architektonik aus reiner Vernunft finden demgemäß nur »reine« und durch den Schematismus »ermöglichte« Bilder einen Ort; für die lebendigen, wirklichen Bilder der memoria indes, von denen Locke noch sagte, daß sie »unserem Geist eingeschrieben« sind und dennoch »verlöschen«, gibt es in der transzendentalen Baukunst keinen Platz. Locke wird nicht nur von Kant zu den Empiristen gezählt, und dafür gibt es gute Gründe. Aber sogar Empiristen haben bisweilen scharfe Augen. Locke sah jedenfalls eines sehr klar: daß nämlich die aufs »System« zielende philosophische Baukunst mit der »Realität der Dinge« nur selten in Einklang sich bringen läßt – und schon gar nicht mit der Realität der »ständig schwindenden« Bilder der Erinnerung. So deutlich wie Locke hat das dann auch Vico gesehen, der Theoretiker (und mitnichten Empirist) der Trias memoria-fantasiaingegno, als er 1712 beklagte, daß man »heutzutage über allen einzelnen und besonderen wirklichen Dingen Systeme« erbaue, denen man die Realität der »cose umane« nicht mehr einpassen kann.133 So ist die Scienza Nuova denn auch als eine »neue« Wissenschaft konzipiert, nicht aber als ein »System«. Die Kritik von Aleida Assmann an der »eigentümlichen Erinnerungs-Vergessenheit« der neuzeitlichen und modernen Philosophie134 ist unbestreitbar triftig. Aber diese Erinnerungs-Vergessenheit hat tiefe und selber philosophische Gründe, denen auch eine Kultursemiotik der memoria so leicht nicht auf die Spur kommen dürfte. Sie sind aufzusuchen an dem von Locke angezeigten Konflikt zwischen der aufs »System« zielenden philosophischen Baukunst und der »Realität der Dinge«, der »cose umane«, auf der einen Seite und den aller Systematik des Wissens sich entziehenden Bildern der Erinnerung auf der anderen. Mit seinem Diktum »wenn man den Begriff nicht von Bildern absondern kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können« und zugleich mit seiner »Architektonik aus reiner Vernunft« hat Kant diesen Konflikt festgeschrieben. 138 | zweites kapitel

Hegels Transformation der »alten« memoria in ein spekulatives System des »Insichgehens« des Geistes ineins mit der »Aufhebung« der Bilder der Erinnerung in Zeichen des Denkens ist nur ein neues, jetzt »absolutes« Paradigma philosophischer Baukunst, und Husserls »reine« Phänomenologie erweist sich bei genauem Hinsehen ebenfalls als »eidetische« Architektonik übergreifender »Veranschaulichung« auf Kosten jeder »Verbildlichung« geistigen Erlebens. Die Erinnerungs-Vergessenheit der Philosophie hat ihre Wurzeln mithin in einer Ohnmacht der philosophischen Systemkunst vor der von ihr nicht beherrschbaren Bilderwelt der Erinnerung. Wenn Max Scheler den Bildern der memoria wieder Heimatrecht in einer »mittelbaren« Erinnerung gewährt, kann er das nur tun, weil sein phänomenologisches Philosophieren weder von einem transzendentalen »ich denke« ausgeht noch von der Evidenz einer Selbstzeitigung des Bewußtseins, sondern von der konkreten Person und ihrem »ich bin« in einem Leib – hier tritt »Personalität« an die Stelle formalistischer »Architektonik«, und ineins mit dem »Leibphänomen« dürfen nun auch Erinnerungsbilder, als geradezu leibhafte, wieder in den Blick kommen und »wirklich« erlebt werden. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins muß einen Weg ausschreiten, der bei der Person beginnt, die sich erinnert. Wie Leib und Bewußtsein, wie das »ich bin« und das »ich denke« in der Ganzheit der Person sich ineinanderfalten, so falten sich, wenn diese Person sagt »ich erinnere mich«, auch die Bilder der von ihr erinnerten Welt leibhaftig mit der Verbildlichungskraft ihres leibfundierten Erinnerungsbewußtseins zusammen – das Erinnerungsbewußtsein leistet mehr und anderes als bloße »Re-präsentation«: es »verbildlicht« sich Welt und Geschichte. Ohne verbildlichendes Sich-erinnern hätte keine Person ihre Welt und ihre Geschichte, und jede Person hat ihre eigene, unaustauschare Erinnerungserfahrung, die sich unter Kants transzendental-architektonisches Konstrukt einer anonymen »Erfahrung überhaupt« gar nicht subsumieren läßt: »Les phénomènes de mémoire, si proches de ce que nous sommes, opposent plus que d’autres la plus obstinée des résistances à l’ hubris de la réflexion totale«.135

»ich denke«, »ich erinnere mich«, »ich erlebe« | 139

Drittes Kapitel Ein Rückblick auf Augustinus und die Antike

»Nicht die sinnlich wahrgenommenen Dinge selber, sondern nur deren Bilder treten in die memoria ein, und hier sind sie des Denkens gewärtig, das sich ihrer erinnert. Wie aber diese Bilder enstanden sind, wer kann das sagen? Denn zutage liegt einzig, durch welche Sinne sie gewonnen und jetzt innerlich aufbewahrt sind«. (Augustinus, Bekenntnisse X, 8)

Erinnerung und Bild: in der »vormaligen« Metaphysik, von der Kants kopernikanische Wende sich abwandte, gehörten beide zueinander und wurde immer über ihr Miteinander nachgedacht. Auch eine Studie über das Erinnerungsbewußtsein, die sich im Kontext der »Erinnerungs-Vergessenheit« des modernen und gegenwärtigen Philosophierens bewegt, darf deshalb den Rückblick auf eine für die Verknüpfung von »Bild« und »Erinnerung« beispielhafte Epoche »vormaligen« Denkens nicht aussparen: auf Antike und christliche Spätantike, exemplarisch vertreten einerseits durch Aristoteles und Plotin, andererseits durch Augustinus. In dieser Epoche der Ideengeschichte treffen griechisches und christliches Denken aufeinander, unterscheiden sich indes voneinander zumal in ihren jeweiligen Denkweisen des »Ins-Bild-setzens« von Welt und Mensch, und in diese unterschiedlichen Weisen des Ins-Bild-setzens bleibt das Nachdenken über die memoria und ihre imagines stets eingebunden. Im folgenden dritten Kapitel werde ich einige Verbindungslinien und Trennungsstriche zwischen Aristoteles, Plotin und Augustin skizzieren, mit denen ich verdeutlichen möchte, warum die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins die Texte dieser drei Denker auch heute noch zur Kenntnis nehmen muß. Ich beginne mit den Schriften Augustins zur memoria in deren Spannweite, als »imago Trinitatis in anima«, zwischen vernünftigem Wissen und einem Glauben an den dreifaltigen Gott, einem Glauben, der jedoch die philosophische Reflexion über Erinnerung keineswegs überflüssig macht oder ausschließt, sondern sogar fordert | 141

(Abschnitt I). Sodann interpretiere ich (Abschnitte II–VI) das kleine, grundlegende Werk des Aristoteles »Über Gedächtnis und Erinnerung« anhand des aristotelischen Konzepts einer »theoria«, die mit einem modernen Theoriebegriff nicht deckungsgleich ist, sondern ein alles Denken führendes »Betrachten« oder »In-Sicht-nehmen« meint. »In Sicht« genommen wird da auch die Erinnerung mit ihren Bildern, und zwar vermittels der »phantasia«. Mit »phantasia« bezeichnet Aristoteles nicht einfach und schlicht (wie manche Übersetzer glauben) unsere »Vorstellung«, sondern die »Veranschaulichungsenergie« unserer Seele. Das entlang der »theoria« in Sicht genommene Erinnerungsbild wird durch die »phantasia« veranschaulicht, und das bedeutet: dem Thema »Anschaulichkeit und Veranschaulichung«, das wir in der Transzendentalphilosophie Kants vermißten, galt die Aufmerksamkeit schon des antiken Philosophen. Aristoteles stellt sich aber nun das Erinnerungsbild wie den »Siegelabdruck« einer äußeren sinnlichen Wahrnehmung vor, und dem widerspricht jetzt der Neuplatoniker Plotin. An die Stelle solcher »Siegelung« der Seele »durch ein Außen« rückt er das neue Paradigma eines »Sehens« der Seele aus ihrer Innerlichkeit »nach außen«: die Seele ist nämlich für ihn der Ursprung und Inbegriff aller Bilder von der erfahrbaren Welt (Abschnitt VII). Das ist ein gänzlich anderes Verständnis nicht nur des Erinnerungsbildes, sondern von »Bild« überhaupt – das »Bild« gerät zu einer Metapher. Aber gleichzeitig betritt Plotin den Weg in eine Innerlichkeit des Menschen, auf dem Augustinus weiterschreiten wird, allerdings unter dem Vorzeichen eines christlichen Einspruchs. Dieser Einspruch zielt auf den Problemtitel »Zeit«. Für Platon und Plotin sollte die Zeit ein »Bild der Ewigkeit« sein; für Augustin ist demgegenüber alle Zeit durch das Wort des »ewigen Gottes« erschaffen. Die Zeit kann darum vom christlichen Philosophen kein Bild der »Ewigkeit« mehr genannt werden; ihre Zeitlichkeit – vornehmlich in der Figur von Vergangenheit – muß jetzt aus den Bildern der memoria erschlossen werden (Abschnitt VIII). Mit Augustinus setzt die christliche Spätantike einen schicksalhaften Schritt über die griechische Antike hinaus: den Schritt in eine »regio dissimilitudinis«, in ein Reich der »Unähnlichkeit« zu der für das antik-griechische Philosophieren stets »vorbildlich« gewesenen »Ewigkeit«. Das Resultat konnte nicht nur, es mußte ein tiefgreifender Wandel im »Denken der Bilder« sein; von nun an steht der Akzent nicht mehr auf den Bildern einer dem 142 | drittes kapitel

Menschen jenseitigen Ewigkeit, sondern auf den zeitlichen Bildern menschlichen Erinnerns. * * * Philosophisches Nachdenken über das Erinnerungsbewußtsein mit seinen flüchtigen und wiederkehrenden Bildern darf jene problemeröffnende Debatte nicht außeracht lassen, die mit der kleinen Schrift des Aristoteles De memoria et reminiscentia anhebt und über einige aristoteleskritische Enneaden Plotins zu den Confessiones Augustins und zu seinem Werk De Trinitate führt. Nun kann es hier nicht darum gehen, diese Debatte in allen ihren Details vorzustellen, obwohl ein derartiges philosophiehistorisches Unternehmen aufzeigen könnte, welch großes Gewicht das Thema »Erinnerung« für das Philosophieren insgesamt hat – oder besser: schon einmal hatte, bevor Hegel es in die Systematik eines In-sich-gehens des Geistes »aufhob«. Ich konzentriere mich darum in diesem Kapitel auf eine philosophische Skizze des Bildproblems und wende mich zunächst einigen wenigen augustinischen Texten zu, an denen ablesbar ist, welch zentrale Bedeutung dem christlichen Denken in dieser Frage zukommt: nämlich mit dem Entwurf einer eigenartigen – keineswegs im Kantischen Sinne zu verstehenden – »Transzendentalität« der memoria, einer Transzendentalität, die in der Bildstruktur des sich erinnernden menschlichen Geistes gründet.

I. Augustins memoria als »geistiges Bild« Auf diesen Entwurf zielt schon die Frage, die Augustinus in seinen Confessiones stellt: auf welche Weise wohl die Bilder der sinnlich wahrgenommenen Dinge in der memoria entstanden sein könnten – quomodo fabricatae sint –, und desgleichen seine noch erst umrißhafte Rede, daß diese Bilder des Zugriffs eines Denkens, das sich ihrer erinnert, gewärtig sind – praesto cogitationi reminiscenti eas (X, 8). Wenn es dann weiter heißt »ich selber bin es, der sich erinnert« – ego sum, qui memini (X, 16), oder wenn Augustinus zu der schönen Formulierung greift, in der Erinnerung »begegne ich mir selber« – ibi mihi et ipse occurro (X, 8) , dann ist da in den Wortfiguren »ich selber« und »mir selber« auch schon die Frage nach der »Subjektivität« und »Identität« des Sicherinnernden angestoßen, sorückblick auf augustinus und die antike | 143

fort indes begleitet von dem nahezu verzweifelten Ausruf: »aber ich selber begreife nicht das Ganze, das ich bin« – nec ego ipse capio totum quod sum – , das Ganze aus dem Selbst und dem seine Identität bedrohenden Sich-erinnern an anderes (ebd.). Und wenn Augustinus sich schließlich fragt, was denn das Vergessen, die oblivio, sei, ob nämlich das tatsächliche Vergessen selbst oder lediglich sein Bild der memoria gegenwärtig ist – per seipsam oder per imaginem suam – , dann rückt er jetzt das Bildproblem in den Brennpunkt seiner Reflexion über Erinnerung. Sind es denn nicht immer wieder Bilder, die an sinnlich erfahrene Dinge erinnern oder vielleicht auch nur Bilder der Vergessenheit, die die Identität unseres Selbst gefährden? Und da notiert Augustinus, so als griffe er nach einem rettenden Strohhalm: »was ist mir denn näher als ich mir selber« – quid propinquius quam ipse mihi (ebd.)? Denn er will unbedingt festhalten, daß »ich selber« es bin, der sich erinnert. Doch das Selbst-Bewußtsein, das im Rahmen seiner memoria-Philosophie einzig thematisch werden kann, ist einbehalten in eine Bedrohung durch das Vergessen, ist aus dem Bilde einer möglichen Selbst-Vergessenheit gar nicht herauszulösen und muß darum ein Bewußtsein lediglich der »Nähe« des Selbst zu sich selber bleiben. Eben diese bloße »Nähe« macht die Not und die Mühe des Nachdenkens aus: »hier und in mir selber mühe ich mich ab« – laboro hic et laboro in meipso (ebd.). Kants neuzeitliche Mühe um ein kritizistisch konstruiertes transzendentales Selbstbewußtsein wird eine gänzlich andere sein: eine leichter zu schulternde, weil weder durch mögliches Vergessen irritiert noch gar von einem bedrohlichen »Bild des Vergessens« eingerahmt.1 Das Philosophieren Augustins eröffnet völlig neue Perspektiven. Denn mit der Rede der klassischen griechischen Philosophen vom Selbst ist eine Vorstellung oder gar ein Konzept von Subjektivität noch nicht verknüpft. Nachgedacht wird da über die Sorge für sich selbst, über die Erhaltung seiner selbst, über Selbstbeherrschung durch Vernunft, und in einem Text, der vielleicht aus der Feder Platons stammt, heißt es, was »das Selbst als solches« (auto to auto) sei, das müsse allererst »gefunden« werden (Alkibiades I, 130 d). Aristoteles bezeichnet in der Nikomachischen Ethik den Freund als »zweites Selbst« (1169 b 7), und Plotin spricht einerseits von einem Selbst, zu dem das Denken sich »hinwenden« kann (Enn IV, 4, 3), um dann andererseits dieses Selbst dann wieder in einem »Wir« (to 144 | drittes kapitel

hemeis) zu verstecken, »das die Natur uns verlieh, um über die Leidenschaften zu herrschen« (Enn II, 3, 9). Erst dem christlichen Denker Augustinus gelingt die Freilegung einer Selbstgegenwart des menschlichen Bewußtseins als eines »Innen« (intus) im Gegensatz zum »Außen« (foris) der Welt, und er ist auch der erste, der dieses Innen nicht allein anhand einer Analyse des Gedächtnisses und der Erinnerung ausleuchtet, sondern sogar in der memoria verankert sein läßt. Erstaunlich bleibt darum, daß der Kirchenvater in die Problemgeschichte der Philosophie als Entdecker der Subjektivitätsidee eingehen konnte2, daß aber die von ihm geleistete Zusammenbindung von »Selbstgewißheit« und Erinnerungsbildern dieselbe Anerkennung und Ausarbeitung kaum fand. Das dürfte nun gerade in Augustins Bildtheorie seinen Grund haben, genauer: in seinem Konzept des Bewußtseins als eines »geistigen Bildes«. Auf diesem Konzept beruht sein umfangreiches, in 15 Bücher unterteiltes Werk De Trinitate, das den Überlegungen zum Thema »Erinnerung« in den Confessiones erst ihr schlüssiges theoretisches Profil gibt. Augustinus begreift hier das Gedächtnis, die Vernunfteinsicht und den Willen – die Trias memoria, intelligentia, voluntas – als in sich selber »gebrochenes« Darstellungsbild der göttlichen Dreifaltigkeit im menschlichen Geist, als imago Trinitatis. Weil er sich mit diesem Denkmodell auf den biblischen Satz »Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und zu seiner Ähnlichkeit« (Genesis 1, 26) stützt, ist ihm oftmals vorgeworfen worden, weder allein aus natürlicher Vernunft zu argumentieren noch sich auf eine Auslegung des Offenbarungsglaubens zu beschränken, also über das Verhältnis von »Wissen« und »Glauben« sich nie klar geworden zu sein. Die Struktur der augustinischen Denkform ist mit derartigen Urteilen jedoch nicht im mindesten getroffen, und auch Hegels Schrift Über Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität3 hat – als polemische Auseinandersetzung mit Kant, Jacobi und Fichte – für sie weder Interesse noch Verständnis übrig. Karl Jaspers kommt ihr schon näher, wenn er beobachten will, daß da »das Bildsein wechselweise gedacht wird«: von der Triade memoria-intelligentia-voluntas, »die uns Bilder werden, steigen wir auf zu Gott«, und umgekehrt »zeigt sich Gott in der Wirklichkeit seiner Trinität« im triadischen menschlichen Geist als seinem »Abbild«.4 Richtig ist hier jedenfalls auf die basale Funktion des augustinischen rückblick auf augustinus und die antike | 145

Bilddenkens hingewiesen; aber dessen Binnenlogik bleibt ebenso undurchschaut wie es ungenau ist, die Trias Gedächtnis – Vernunfteinsicht – Wille schlicht ein »Abbild« Gottes »in der Wirklichkeit« seiner Dreifaltigkeit zu nennen. Augustinus betont nämlich mit allem Nachdruck, daß es sich hier um völlig »ungleiche« Bilder handelt, weil der menschliche Geist mit dem göttlichen niemals verglichen werden darf wie ein Abbild mit seinem Urbild (trin X, 12). Deshalb kann es auch nicht sein, daß der dreifaltige Gott in Gedächtnis, Vernunft und Willen »sich zeigt«. Der Kirchenvater geht vielmehr davon aus, daß memoria, intelligentia und voluntas bereits »eine in sich selber ruhende Wirklichkeit« darstellen ebenso wie die drei göttlichen Personen »die Wirklichkeit eines in sich ruhenden Wesens« ausmachen (trin X, 18). Was Augustinus eine imago Trinitatis in anima nennt, ist ein Relations- und Korrelationsgefüge. Wie im göttlichen Wesen Vater, Sohn und Geist »aufeinander bezogen« sind, so auch die drei Vermögen des menschlichen Geistes. Der Kern des »Bildargumentes« ist eben dieses jeweilige »Aufeinanderbezogensein«, ist diese jeweilige Korrelationsstruktur5 – keinesfalls das »Sichzeigen« eines Offenbarungsinhalts in der philosophischen Vernunft. »Ich erinnere mich nämlich«, so heißt es unmißverständlich, »daß ich Gedächtnis, Einsicht und Willen habe; ich sehe ein, daß ich einsehe, will und mich erinnere; ich will, daß ich will, daß ich mich erinnere und daß ich einsehe; und ich erinnere mich zugleich meines ganzen Gedächtnisses, meiner ganzen Einsicht und meines ganzen Willens« (trin X, 11). Die Analyse einer korrelativen Verflechtung der drei Grundkräfte des menschlichen Geistes ist es, von der aus Augustinus seinen »Überstieg« zur göttlichen Trinität unternimmt, von der wir einzig aus den Offenbarungsquellen wissen, wobei er die metaphysische Differenz nicht unterschlägt, die zwischen der Trias im menschlichen Geist und der Dreifaltigkeit des göttlichen Wesens besteht: während memoria, intelligentia und voluntas die Geistesvermögen »einer« Person sind (die diese Vermögen auch nur hat, und das ist ein philosophischer Befund), spricht der Glaube von Vater, Sohn und Geist als »drei« Personen, die überdies in Einheit mit dem göttlichen Wesen sind (trin XV, 7 und 22). Beim Überstieg zur göttlichen Trinität aus deren »gebrochenem« Darstellungsbild im menschlichen Geist – Augustinus spricht von einem »Emporsteigen« der philosophischen Vernunfteinsicht (trin 146 | drittes kapitel

X, 12) – handelt es sich nicht um das immer vorausgesetzte Bekennt-

nis zu einem Offenbarungsinhalt, sondern um eine Erkenntnis und Anerkenntnis seiner Glaubwürdigkeit, um seine credibilitas. Die augustinische Lehre darf deshalb nicht auf einen kruden Fideismus zurückgeschnitten werden; ihr Antriebsmotiv zielt auf die argumentativ zu gewinnende Intelligibilität des christlichen Dogmas. Ratio und fides als subjektive Glaubensleistung dürfen nicht voneinander getrennt werden, und deshalb kann Augustinus mit einem Gegensatz des »Wissens« zu dem von der Offenbarung dem Christen abgeforderten »Glaubensbekenntnis« sich nicht zufrieden geben. »Begreife mit Vernunft, damit du glauben kannst«, so insistiert er, und umgehend fügt er hinzu: »das ist mein Wort; Gottes Wort lautet: glaube, damit du begreifen magst«.6 Also: glaube das, was der Vernunft unbegreiflich ist, und begreife mit Vernunft, inwiefern es unbegreiflich ist; aber »schreite auch in suchendem Bemühen um die unbegreiflichen Dinge voran, um mit der Vernunft zu finden. Denn der Glaube sucht, die Vernunft findet« – fides quaerit, intellectus invenit (trin XV, 2). Oder es heißt: »So also wollen wir suchen: wie solche, die finden werden, und so wollen wir finden: wie solche, die suchen werden« (trin IX, 1). Vernünftige Einsicht arbeitet findend an der Glaubwürdigkeit des Zuglaubenden, an der credibilitas des credendum. Nicht Vernunft hier und Glaube dort – das wäre nicht augustinisch gedacht. Aller Glaube öffnet sich vielmehr für die Vernunft, wenn die Vernunft seiner Glaubwürdigkeit zustimmt: intellectui fides aditum aperit – denn »durch den Glauben werden wir mit Gott verbunden, von der Vernunft werden wir belebt«.7 Als geschulter Rhetor vermag Augustinus diesen Gedanken in immer wieder neue und faszinierende, bisweilen aber auch irritierende Sprachkleider zu hüllen. Sein manchmal vielleicht verwirrter Leser darf indes den zwei Sätzen vertrauen, mit denen Etienne Gilson, der gelehrte Erforscher des augustinischen Oeuvres, eine Leitlinie zum Verständnis des Kirchenvaters gezogen hat: »La question se pose tout entière à l’interieur de la foi. C’est la foi qui nous dit de ce qu’il y a à comprendre«.8 Doch ist diesen zwei Sätzen Gilsons, denke ich, ein dritter noch anzuschließen, ein Satz, der erklärt, warum man mit dem Glauben »suchen« kann, was die Vernunft dann »findet«, und warum wir »finden«, wenn wir »suchen« – und diesen dritten Satz halte ich für rückblick auf augustinus und die antike | 147

entscheidend: erst in dem »gebrochenen Darstellungsbild« der imago Trinitatis in anima können nämlich das gläubige »Suchen« und das vernünftige »Finden« zusammentreffen; so wie derjenige, der in einen Spiegel blickt, sich selber sieht, weil der Spiegel seinen Blick zurückwirft. Darum setzt Augustin seiner Rede vom Bild Gottes in der memoria, in der intelligentia und in der voluntas meistens das Wort speculum hinzu. Weil er den Geist des Menschen als Spiegelbild Gottes denkt, kann er den suchenden Blick des Glaubens und den findenden Blick der Vernunft in diesem Spiegelbild sich treffen lassen. Wer da an den Kantischen Satz sich hält »wenn man den Begriff nicht von den Bildern absondern kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«, der mag ruhig lächeln über Augustins »Bildargument« – aber über die memoria mit ihren Bildern wird er ebenso schweigen müssen wie Kant auch. Was in den Büchern Über die Dreifaltigkeit in aller Klarheit ausgeführt ist, deutet in den Confessiones sich schon an. »Damit ich dich, mein Gott, finde, will ich auch über meine memoria hinausschreiten. Wo indes finde ich dich? Fände ich dich nicht in meiner memoria, so dächte ich deiner nicht. Wie aber sollte ich dich finden, wenn ich deiner gar nicht dächte?« (X, 17). »So bleibst du mir in der memoria, und dort finde ich dich, wenn ich mich deiner erinnere« (X, 24). Die memoria gerät, jenseits aller Psychologie, zu einer memoria Dei, und das nicht in einem bloß »frommen« Glaubenssinn; denn das »Hinausschreiten« über die memoria ist ein Überstieg zur Transzendenz Gottes. Dieser Überstieg rückt die memoria in eine metaphysische Perspektive, und in diese Perspektive will Augustinus nun auch die Metaphysik Plotins integrieren. Hatte dieser Neuplatoniker in einer seiner wichtigsten Schriften – der Enneade über die erkennenden Wesen und über das Jenseitige, die Augustinus sehr genau vor Augen stand – denn nicht ebenfalls gelehrt, »daß wir in der Seele als einem Abbild dessen archetypisches Urbild betrachten« (Enn V, 3, 6)? Und hatte er nicht auch geschrieben, daß die Seele, dieses Abbild des »göttlichen Einen«, sich »geistiger Dinge erinnert« (Enn V, 3, 8)? Plotin deutete alle Wirklichkeit als einen Zusammenhang von Bildern des absoluten »Einen«9, und wir kommen deshalb nicht umhin, uns diese neuplatonische Bildmetaphorik zu vergegenwärtigen, wenn wir etwas von der Stoßkraft des augustinischen Bildarguments verstehen wollen. Denn Augustinus setzt zwar alles 148 | drittes kapitel

daran, die Metaphysik Plotins zu »verchristlichen«, aber mit seinem imago-Argument, das auf die »ungleichen Korrelationen« im trinitarischen Gott und in der Trias des menschlichen Geists sich stützt, hebt er sich deutlich von ihr ab. Der Relevanz dieses Sachverhalts müssen wir nachgehen, um Augustins Gedanken über Bildlichkeit und Erinnerung vor Mißverständnissen zu schützen. »Näher als die Platoniker ist uns niemand gekommen«, haben sie doch »den wahren Gott als Urheber der Dinge bezeichnet«, so notiert Augustinus im Gottesstaat (De civitate Dei VIII, 5), und von Plotin, »der von drei urspünglichen Substanzen spricht« – dem »Einen«, dem »Geist« und der »Seele« – , möchte er sogar behaupten, er habe mit dem »Geist« das bezeichnen wollen, »was wir den Heiligen Geist nennen«, um allerdings sofort hinzuzufügen, daß Philosophen ja »viel freier sprechen dürfen« und daß im Christentum nur der dreifaltig-eine Gott als »Urgrund« anerkannt wird, während »bei den Platonikern von Urgründen in der Mehrzahl« die Rede ist (ebd. X, 23; 24). Aus dem ersten Urgrund, dem göttlichen »Einen«, geht nach Plotin ein zweiter Urgrund hervor, der zeitfreie »Geist« als Ort der Ideen, und aus dem »Geist« wiederum die »Seele« der Welt, an der alle Einzelseelen Anteil haben: Plotins Philosophie ist eine Metaphysik des »Hervorgangs«, keine Philosophie der »Erschaffung« der Welt – das sieht Augustinus natürlich sehr klar. Und wenn Plotin den »Geist« als »Bild des Einen«, die »Seele« als »Bild des Geistes« und die Welt als beider »Bild« versteht, dann ufert sein Bildkonzept in eine Metaphernsprache aus, mit der jeweils ganz Verschiedenes gemeint sein kann: »Abbild«, »Ähnlichkeitsbild«, »Spurenbild«, »Spiegelbild« und sogar »Analogie«. Alle diese Wörter für den Plotinischen, »in einem weiten Sinne zu fassenden Begriff ›Bild‹«, kommen einzig darin überein, »daß sie nicht ein absolut Originäres meinen«.10 Augustins imago Trinitatis in anima ist demgegenüber semantisch eindeutig sowie, als Trias von memoria, intelligentia und voluntas, ein »ungleiches« und zugleich »korrelationslogisch« exaktes Darstellungsbild der göttlichen Trinität – ein überdies als »gebrochen« klar erkennbares Darstellungsbild, insofern es die uneinholbare trinitarische Transzendenz Gottes in einem der Vernunft einsichtigen Spiegel reflektiert. Desungeachtet will Augustinus seine Bewunderung dem Plotin nicht versagen, kommt er mit diesem doch darin völlig überein, daß »alle einzelnen rückblick auf augustinus und die antike | 149

Seelen aus geistigem Antrieb sich zurückwenden zu ihrem Ursprung« (Enn IV, 8, 4), und daß solche »Zurückwendung« nur in einem wie immer konturierten Bild vorgestellt werden kann.11 »Die Seele sieht nicht, was sie in sich trägt«, lesen wir nun bei Plotin: sie sieht auch nicht den »Geist«, aus dem sie hervorgeht; sie hat diesen »ja nicht selber erzeugt«, sie ist nur sein Abbild – und ein Abbild »hat überhaupt nicht Bestand«, es »bleibt nicht«. Was ein Bild ausmacht, ist, »daß es einem anderen zugehört« und »in diesem anderen gründet«; mithin sieht das Bild oder Abbild auch nicht »sich selber« (Enn V, 3, 7). Das ist die Plotinische »Definition« des Bildes; es ist eine gänzlich andere als diejenige Augustins, der die Trias aus memoria, intelligentia und voluntas in der Seele, dieses Bild der göttlichen Trinität, als »in sich selber ruhende Wirklichkeit« denkt, die »sich selber« in diesem »Eigenstand« auch zu sehen vermag. Die imago Trinitatis in anima besitzt eine »Bildsubsistenz«, die als argumentative Basis für das Emporsteigen zum transzendenten trinitarischen Gott fungiert. Plotins »Seele« hingegen »schaut die aus dem Geist herabkommenden Bilder«, »überwacht gleichsam nur deren Umrisse« – und darin besteht die Anamnesis, ihre »Erinnerung« (Enn V, 3, 2). Das in der memoria verankerte, »in sich ruhende Bild« in der Seele ist der Boden, von dem das Philosophieren Augustins sich abstößt in einen »Überstieg« zu Gott. Gottlieb Söhngen hat deshalb von einem »transzendental« geführten Aufbau der augustinischen Gedächtnislehre gesprochen12 – mit Recht, wenn man das Wort »transzendental« nicht im kritizistischen Sinne Kants verwendet. Anders als für Kant, dem Gott ein »Postulat« der praktischen Vernunft bleibt, ist der Gott Augustins, der Deus creator, der Anfang aller Metaphysik, ein Anfang allerdings, zu dem das metaphysische Denken »hinfinden« muß – aber auch kann, wenn es sich auf »Bilder« stützt. Die transzendentale Struktur der Philosophie Augustins ist wesentlich mit seinem »Bildargument« verknüpft, und dieses Bildargument hinwiederum zwingt sein Denken in einen transzendentalen Duktus: das Bild, weil »in sich selber ruhende Wirklichkeit«, muß überstiegen werden. Darum darf man dem Philosophen und Theologen Söhngen beipflichten, wenn er einschärft: »Wer die memoria-Lehre anders ansieht« – nämlich nicht in ihrem Aufbau und in ihrer Struktur – »mag als Psychologe oder vielmehr als Phä150 | drittes kapitel

nomenologe reichlich auf seine Kosten kommen; nur hat er Augustin nicht verstanden, er hat die Teile in der Hand – leider fehlt das geistige Band«.13 Der transzendental geführte Aufbau des augustinischen memoria-Denkens bleibt auch durch seine gläubige mise en scène hindurch unverkennbar; über die memoria im Suchen und Finden »hinausschreitend«, gelingt es Augustinus, sein Konzept des Bewußtseins als eines »geistigen Bildes« transzendental zu öffnen. »Mit einem empirischen Begriff von memoria und reminiscentia«, wie er sich bei Aristoteles finden lasse, »hätte Augustinus nichts anstellen können«, so lautet jetzt ein Resumé Söhngens.14 Dürfen wir auch diesem Befund zustimmen? Blättern wir also einmal die Schrift des Aristoteles Über die Seele und seine kleine Abhandlung Über Gedächtnis und Erinnerung auf – ohne Augustinus, zu dem wir zurückkehren werden, aus den Augen zu verlieren.

II. Was Aristoteles »vor Augen stellt« oder Erinnerung und theoria In dem kleinen Text des Aristoteles Über Gedächtnis und Erinnerung lesen wir die kurzen, aber gewichtigen Sätze: »Von der phantasia wurde bereits in der Schrift Über die Seele gesprochen; und es gibt kein Denken ohne phantasmata, weil sich im Denken dasselbe begibt wie beim Skizzieren einer geometrischen Figur: da zeichnen wir nämlich ein Dreieck von einer gewissen Größe, obwohl wir von einer bestimmten Größe gar keinen Gebrauch machen. Ebenso stellt sich, wer denkt – auch wenn er keine Größe denkt – eine solche vor Augen, aber er denkt sie eben nicht als groß« (de mem 1; 449 b 30 – 450 a 5). Zu achten ist hier zum einen auf die Wörter phantasia und phantasmata ineins mit dem diesbezüglichen Rückverweis auf die Bücher Über die Seele; wir werden uns sehr sorgsam überlegen müssen, wie diese beiden Wörter sinngemäß zu übersetzen sind, weil Aristoteles die mneme, das Gedächtnis, der phantasia, diesem veranschaulichenden Seelenvermögen und seinen Leistungen zuordnet. Zu achten ist zum anderen auf die Redewendung »vor Augen stellen«: sie ist aufschlußreich nicht bloß für den Zugriff des Aristoteles auf das Thema »Erinnerung«, denn sie gibt uns überdies einen Schlüssel zum Verständnis seines gesamten Philosophierens an die rückblick auf augustinus und die antike | 151

Hand. Mit anderen Worten: will man den lediglich zwei Kapitel umfassenden Text über das Gedächtnis und die Erinnerung ausloten, dann wird es unverzichtbar, sich auf dessen gedankliche Voraussetzungen einzulassen. Deren wohl entscheidenste sind die Konzepte der theoria und ihres Vollzugs, des theorein oder »sehenden Betrachtens«. Aristoteles notiert nämlich ausdrücklich: »Wer einen Akt des Gedenkens vollzieht, betrachtet sehend (theorei) dieses Geschehen und nimmt es sinnlich wahr (aisthanetai)« (de mem 1; 450 b 17 f.). Wenn Aristoteles über Gedächtnis und Erinnerung nachdenkt, geht er stets von der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis) und ihrer »Bewegung«, ihrem Geschehnis, aus; memoria und reminiscentia geraten ihm dabei aber keineswegs zu »empirischen« Begriffen. Schon Hegel hat die entstellende Behauptung, die Philosophie des Aristoteles sei Empirismus, mit aller Schärfe zurückgewiesen und demgegenüber festgehalten, daß dieser antike Denker »tiefe und lichte Blicke in die Natur des Bewußtseins« zu werfen vermochte.15 Daß dem Aristoteles solch »lichte Blicke« gelungen sind, hängt nun aber damit zusammen, daß er die phantasia nicht einfach als schlichte »Vorstellung« begriff, wie manche seiner Übersetzer wähnen, sondern geradezu als »veranschaulichende Rückstellung« eines vorgängigen Wahrnehmungsgeschehens – als »Rückstellung«16, die noch einmal etwas anderes ist als ein schier sinnliches Wahrnehmen einerseits oder ein gedanklich-vermutendes Vorstellen (hypolepsis) andererseits, und daß er dann auch die mneme, das mit der phantasia verknüpfte Gedächtnis, als anschaulich-bildhafte »Rückstellung« dieser verloschenen sinnlichen Wahrnehmung in die Seele beschreiben konnte. »Wir suchen die Natur und das Wesen der Seele zu betrachten (theoresai) und zu erkennen (gnonai)«, so leitet Aristoteles sein Werk über die Seele ein (de an I, 1; 402 a 7). Von entscheidender Bedeutung ist die Nuancierung, die der Philosoph hier vornimmt: die »Betrachtung« der Seele ist nämlich ein erster, sichteröffnender Blick auf ihre zu erkennende Natur, ein Blick, der jenem »Wahrnehmen mit den Augen« gleicht, welchem Aristoteles in dem seiner Metaphysik vorangestellten Eingangskapitel zugesteht, daß es uns »am meisten erkennend macht und viel Unterschiedliches offenbart« (Met I, 1; 980 a 26 f.). Das Betrachten oder theorein konnotiert immer ein ei152 | drittes kapitel

detisches Sehen. Die theoria, von der Aristoteles spricht, ist deshalb nicht einfach deckungsgleich mit unserem neuzeitlichen Begriff von Theorie, weil sie auf ein »anschauliches Denken« abhebt, nicht auf eine »reine«, der zusätzlichen Ergänzung durch »Anschauung« bedürftige Vernunft. So lesen wir denn auch, wiederum in der Metaphysik, einen Satz, der uns hilft, dem aristotelischen Verständnis von theoria noch näher zu kommen: »Wie sich nämlich die Augen der Eulen zum Licht nach Tagesanbruch verhalten, so verhält sich die Vernunft unserer Seele zu dem, was der Natur nach von allem am sichtbarsten ist« (Met II, 1; 993 b 9–11) – unserer Seele ist mit der Vernunft, dem nous, ein Auge eingesetzt, dessen Blicke zunächst einmal veranschaulichen, was, obwohl schon »sichtbar«, doch erst noch erkannt werden soll. »Von dem deutschen Wort Vernunft«, so hat man mit Recht gesagt, »unterscheidet sich der aristotelische nous durch seine Wahlverwandtschaft mit dem Sehen«.17 Diese Rede von einer »Wahlverwandtschaft« der Vernunft mit dem Sehen ist überlegt und treffend. Denn Aristoteles möchte keineswegs das vernünftige Denken mit dem eidetischen Sehen des Geistes identifizieren; er unterscheidet durchaus das wissenschaftliche Wissen aus vernünftiger Erkenntnis, die episteme, von dem »in Sicht nehmenden« geistigen Betrachten, dem theorein (de an II, 1; 412 a 10 f.). Während die episteme sich auf das Allgemeine und Allgemeingültige richtet, nimmt die theoria auch Einzelnes und Besonderes wie die eudaimonia, das menschliche Glück, in den Blick (Ethica Nicom X, 7; 1177 a 12–20), und desgleichen gilt ihre sichtende Betrachtung dem »Ähnlichen« – sei es das Ähnliche an einzelnen »weit auseinander liegenden Dingen«, wie die aisthesis sie uns darbietet (Rhet III, 11; 1412 a 12) , sei es das problematische Verhältnis von »wahr und wahrähnlich« (ebd. I, 1; 1355 a 14). Das Ähnliche an Einzelnem und Besonderem kann nicht begrifflich bestimmt, es muß vom Philosophen »gesehen« werden.18 Aristoteles verwendet hier nicht nur die Formel von einem »Sehen des Ähnlichen« (ta homoia horan, Top I, 17; 108 a 14), sondern er spricht auch von einer tou homoiou theoria, von einer »in Sicht nehmenden Theorie« des Ähnlichen (ebd. I, 18; 108 b 7). Der antike Denker bringt mithin die Differenz zwischen »sehend betrachtender« theoria und wissenschaftlich-epistemischer Vernunft nirgendwo zum Verschleif; er hält jedoch eisern daran rückblick auf augustinus und die antike | 153

fest, daß Philosophie »anschauend« sein muß, wenn sie zu einer beweisenden Wissenschaft werden will. Alles Sehen der Vernunft in der Seele setzt natürlich »Sichtbares« in der Welt voraus, und damit erweitert sich jetzt die »Wahlverwandtschaft« der Vernunft mit dem Sehen nicht nur zu einer Familienähnlichkeit der »in Sicht nehmenden« theoria mit der die Dinge der Welt erklärenden vernünftigen episteme, sondern darüber hinaus auch zu einer wiederum verwandtschaftlichen Beziehung zum »Sichtbaren« in der sinnenhaften Wahrnehmung von Welt, der aisthesis. Die Führungslinie, welche verhindert, daß aisthesis, theoria und episteme auseinanderdriften, wird von Aristoteles markiert durch ein vom Geist zu leistendes schöpferisches »Zusammensehen« des Ähnlichen am Unterschiedlichen, durch ein ta homoia synhoran (Top I, 17; 108 a 14) – und eben diese »Zusammenschau« nennt Aristoteles eine theoria (Rhet III, 11; 1412 a 12). In seiner eindringlichen Studie hat Bernhard Gruber gezeigt, daß diese theoria, diese »Insichtnahme von Ähnlichem«, in der Epistemologie des Aristoteles »kein eigenes Stadium« besetzt, also nicht regional eingeschränkt ist; »sie trägt vielmehr die Züge einer erkenntnisbedingenden Kraft, die mittelbar oder unmittelbar alle Erkenntnisstufen betrifft«.19 Das heißt: das aristotelische theorein meint ein sichtendes und erkenntnisleitendes »vor Augen stellen« sowohl des aisthetischen Wahrnehmungsgeschehens als auch der epistemischen Vernunfterkenntnis in ihrer ihre spezifische Differenz übergreifenden Ähnlichkeit – dies ist der Vollsinn der »Wahlverwandtschaft« aller Vernunft mit dem Sehen. Als Insichtnahme der aisthesis – von der Aristoteles sagt, daß sie ihre Wahrnehmungsvollzüge auf jeweils Einzelnes richtet, in sich selber aber schon ein das Einzelne verknüpfende Allgemeines verbirgt (Anal post II, 19; 100 a 16 ff.) – und desgleichen als Insichtnahme des nous als dem »Ursprung« der vernünftigen episteme des Allgemeinen (ebd. I, 33; 88 b 36) fungiert das theorein als die »veranschaulichende Mitte« der aristotelischen Epistemologie. Und von dieser Mitte aus, ich zitierte es bereits, »betrachtet« (theorei) und stellt der griechische Denker »vor Augen«, was in der mneme, der memoria, geschieht. Die Sprache des Aristoteles ist schwer ins Deutsche zu übertragen. Kommt man diesem Philosophen aber wirklich auf die Spur, wenn man phantasia mit dem polysemischen Wort »Vorstellung« übersetzt20 und unter theoria eine unspezifizierte »Betrachtung« 154 | drittes kapitel

versteht ? Aristoteles artikuliert sich selber viel präziser, und wenn er das theorein als ein »in-Sicht-nehmen« beschreibt und als ein »vor-Augen-stellen«, dann weist er uns damit auch einen Weg, auf dem wir zu einem sachgemäßen Verständnis seiner Rede von »Bildern« im Gedächtnis gelangen können.

III. Das »Bilderrätsel« in der memoria-Philosophie des Aristoteles Was ist und was leistet »sinnliche Wahrnehmung«? Für Aristoteles ist sie niemals ein vages »Spiel der Sinne«, sondern ein selber bereits »kognitives Vorspiel« aller Erkenntnis; denn mit jeder Sinnesempfindung »unterscheiden« wir schon, zum Beispiel zwischen süß und bitter oder schwarz und weiß. Deshalb bezeichnet der Philosoph in seiner Wissenschaftslehre die aisthesis als »Unterscheidungsvermögen« (dynamis kritike, Anal post II, 19; 99 b 35), und in seiner Schrift über die Seele notiert er die berühmte Formel »die Sinneswahrnehmung ist ein Logos« (de an III, 2; 426 b 7) – eine Formel, die sorgsam interpretiert werden will. Das griechische Wort logos meint nämlich nicht nur Erkenntnishaftes, sondern auch das »Wort« und schließlich sogar ein »Verhältnis« – und beim Nachdenken über das Gedächtnis hat Aristoteles in erster Linie dessen Verhältnis zur Sinneswahrnehmung »vor Augen«, sagt er doch unmißverständlich: wer etwas im Gedächtnis hat, »betrachtet sehend« (theorei) dieses Geschehen, und zugleich »nimmt er es sinnlich wahr« (aisthanetai, de mem 1; 450 b 17 f.). Das »und« in diesem Satz indiziert eben das »Verhältnis« der Sinneswahrnehmung zur memoria, wie es von dem griechischen Denker zunächst einmal »vor Augen gestellt« wird; doch wie ist dieses Verhältnis sodann »zu denken«? Die immer schon unterscheidende oder »kritische« Sinneswahrnehmung, so lesen wir im zweiten Buch Über die Seele (de an II, 12; 424 a 17–21), »ist das, was fähig ist, wahrnehmbare Formen ohne Materie so aufzunehmen, wie das Wachs das Zeichen eines Siegelringes aufnimmt: das Wachs nimmt das goldene oder eiserne Zeichen hin, aber nicht insofern es golden oder eisern ist«. Dementsprechend heißt es dann im Blick auf das Gedächtnis (de mem 1; 450 a 27 – 450 b 3): »Offenkundig muß man denken, daß ein derarrückblick auf augustinus und die antike | 155

tiges Geschehnis, welches vermittels der sinnlichen Wahrnehmung in der Seele und dem Teil des Leibes, der die Seele trägt, gewissermaßen eine Gemütsbewegung ist, die einem mit Leben erfüllten Gemälde (zographema) ähnelt – und die Beschaffenheit solcher Gemütsbewegung nennen wir Gedächtnis. Denn die derart entstandene Bewegung prägt ein Zeichen ein (ensemainetai), das ähnlich ist einem Abdruck (typos) dessen, was sich aus dem Wahrnehmen ergeben hat (tou aisthematos); so machen es auch diejenigen, die mit Fingerringen Siegelzeichen einprägen«. Die Sprachfiguren, die Aristoteles in diesen Texten verwendet, bedürfen einer einfühlsamen Erläuterung, will man – wie Hegel es ausdrückt – der »aristotelischen Manier« auf der Spur bleiben, welche »die ganze Anschauung vor sich hat«.21 Phantasia und phantasma, schon diese beiden von dem antiken Denker häufig gebrauchten Wörter transportieren sehr viel mehr Anschaulichkeit als der neuzeitliche Begriff »Vorstellung«, zumal im Gefälle transzendentalphilosophischen Denkens, auszudrücken vermag, und wenn Aristoteles von der sinnlichen Wahrnehmung sagt, sie nehme »Formen ohne Materie« (eide aneu tes hyles) auf, dann darf man bei der Übersetzung dieser Formulierung niemals vergessen, daß diese »Formen«, diese eide, von dem Verbum »sehen«, idein, hergeleitete »Sichtgestalten« sind, die von der aisthesis wahrgenommen werden. Die Lektüre aristotelischer Texte muß stets auf jene Führungslinie achten, der Aristoteles selber folgt, wenn er über die sinnliche Wahrnehmung, über das Gedächtnis und über das »Verhältnis« beider nachdenkt; sie ist im Einleitungssatz der Schrift über die Seele deutlich genug markiert: dem »Erkennen« der Natur der Seele muß deren »in Sicht nehmende Betrachtung« vorangestellt sein. Auf dieser Führungslinie geht der Philosoph auch das Thema »Gedächtnis und Erinnerung« an: zunächst soll »sehend betrachtet« werden, was in der memoria »geschieht« – was heißt, daß dieses Geschehen auch »sinnlich wahrzunehmen« ist. Anders gesagt: das »Verhältnis«, der logos, der Sinneswahrnehmung und Gedächtnis miteinander verknüpft, ist allerst einmal »vor Augen« zu rücken, oder: die »Bewegungen« in der Seele müssen beobachtet und anschaulich gemacht sein, wenn sie sich dem »erkennenden« Zugriff begrifflichen Denkens erschließen sollen. Den Schritt von einem ersten »Insichtnehmen« des durch die 156 | drittes kapitel

Leiblichkeit des Menschen bedingten engen »Verhältnisses« von Sinneswahrnehmung und Gedächtnis zum »erkennenden Denken« setzt Aristoteles in dem zweiten soeben zitierten Text, in dem er jetzt die »Gemütsbewegung« des Gedächtnisses als »einem mit Leben erfüllten Gemälde ähnlich« bezeichnet und als »ähnlich« jenem »Abdruck«, den das sinnliche Wahrnehmen in der Seele erzeugt, einem Abdruck, der mit der Einprägung eines »Zeichens« durch einen Siegelring verglichen werden kann. »Offenkundig muß man denken (noesai)«, daß die Ähnlichkeit der memoria zu einem mit Leben erfüllten Bild und zu einem Siegelzeichen »erkennbar« werden läßt, was im Gedächtnis geschieht – über das »in-den-Blicknehmen« dieses Geschehens hinaus. Die Ähnlichkeit der memoria mit einem Bild und einem Zeichen veranschaulicht das im-Gedächtnis-haben und provoziert zugleich eine Frage, die erst ein analysierendes Denken beantworten kann: die Frage nämlich, was im Gedächtnis »bleibt«. Dieser Frage geht Aristoteles in einer nun folgenden Textpassage nach (de mem 1; 450 b 11–27). »Bleibt« (menei) da im Gedächtnis nur eine erlittene Empfindung (pathos), die man früher erfahren hat, oder »bleibt« da auch dasjenige, was diese Empfindung auslöste? Woran also heftet sich die memoria? Wenn nur an die erlittene Empfindung in der Seele, dann ist dasjenige, was diese zustande kommen ließ, sozusagen »gar nicht mehr da«, also vergangen und dem Gedächtnis nicht gegenwärtig; und wenn dasjenige in der memoria »bleibt«, was die Empfindung überhaupt erst erzeugte – der Anstoß nämlich zum Erleiden der Empfindung – , »nicht mehr da« oder nicht mehr gegenwärtig ist, dann ist damit augenscheinlich jenes zunächst »in Sicht« genommene enge »Verhältnis« zerstört, das aisthesis und mneme, Sinneswahrnehmung und Gedächtnis, miteinander verbindet: weil jetzt dasjenige, was die Empfindung in der Seele entstehen ließ, gar nicht mehr sinnlich wahrgenommen werden kann – ist es doch schlicht »nicht mehr da«. Dem Dilemma, das er hier vorführt, begegnet Aristoteles mit einer neuen Frage: »Wenn die erlittene Empfindung nun ähnlich ist einem Abdruck (typos) oder einer Schrift (graphe) in uns«, in unserer Seele, »ist dann ihre sinnliche Wahrnehmung die memoria eines anderen und nicht der Empfindung selber?« Die kognitive Analyse der memoria erzeugt mithin eine Dialektik »des Selben« und »des rückblick auf augustinus und die antike | 157

Anderen«, eine Dialektik, die an dem Problem sich entzündet, was denn nun im Gedächtnis und was das Gedächtnis selber »bleibt«: bleibt die memoria noch »sie selber«, wenn die Empfindung, an die sie sich heftet, wie ein Abdruck oder wie die Nachschrift »eines anderen« gedacht wird? Bleibt »das Gedächtnis selber« überhaupt noch »im Blick«, wenn es vom Denken als nachgetragene Abschrift »eines anderen«, einer erlittenen Empfindung, eines pathos, begriffen wird? Aristoteles führt das Dilemma des »Selben« und des »Anderen« aber nur vor, um es zu entschärfen; er hält nämlich unverbrüchlich fest an seinem Konzept der theoria als eidetischer Insichtnahme: »Wer mit dem Gedächtnis tätig ist« – wer also die memoria nicht mißversteht als nur passive Hinnahme von Erinnerlichem – , »der nimmt die erlittene Empfindung in einen geistigen Blick (theorei to pathos touto) und er nimmt sie zugleich sinnlich wahr«. Gleichwohl weicht Aristoteles der dringlichen Frage nicht aus, ob und wie solchem In-den-Blick-nehmen der aus dem sinnlichen Wahrnehmen entstandenen Empfindung ein »Sehen« des Vergangenen – das ja »nicht mehr da« ist – wohl integriert werden kann. Darum fragt er von neuem: »In welcher Weise hat man Vergangenes im Gedächtnis?« – und die Sätze, mit denen er diese Frage beantwortet, enthalten jetzt das »Bilderrätsel«, das bis heute die Aristotelesforscher umtreibt. Diese Sätze lauten: wir haben Vergangenes im Gedächtnis »ähnlich wie ein auf einer Wachstafel Eingeritztes (gegrammenon), das ein Lebewesen darstellt und zugleich ein Bild (eikon) ist – obwohl diesen beiden nicht dasselbe Sein zukommt; und eben dies ist in sichtende Betrachtung zu nehmen (theorein): als Lebewesen gleichermaßen wie als Bild« (de mem 1; 450 b 21–24). Ohne daß der Philosoph es noch einmal ausdrücklich formulieren müßte, wird klar, daß es hier wiederum um ein »Zusammensehen« geht, eines Bildes nämlich mit dem seinsmäßig »anderen«, das es abbildet, und eines wirklichen Lebewesens in seinem es »verandernden« und gleichwohl ihm ähnlichen Bild. Dazu bedarf es eines Vermögens der Seele, das nicht nur etwas Bestimmtes geradehin »vorstellt«, sondern in ein und denselben veranschaulichenden Blick zu bringen vermag, was seinem Sein nach gänzlich verschieden bleibt – dazu bedarf es der phantasia, die ontologisch Differentes »als ein selbes und eines, das zugleich beides ist« (ebd., 450 b 22) vor das geistige 158 | drittes kapitel

Auge »hinstellen« kann. Aristoteles spricht darum umgehend und sehr behutsam sowohl von der phantasia als auch von dem, was sie in Zeichen oder Bildern »hinstellt«, dem phantasma, und er unterzieht jetzt das derart »Hingestellte« einer Prüfung in Hinsicht »auf es selber« und in Hinsicht »auf anderes«. Ein weiteres Mal kommt mithin die Dialektik »des Selben und des Anderen« ins Spiel – und damit auch die Auflösung des »Bilderrätsels«, das viele Aristotelesausleger so beunruhigt und das darin bestehen soll, »daß Aristoteles Gedächtnisvorstellungen nicht mit Abbildern identifiziert, sondern nur vergleicht«, weshalb man sich davor hüten müsse, ihm »eine Bildtheorie des Gedächtnisses zu unterstellen«.22 Sollte Aristoteles tatsächlich nicht wahrhaben wollen, daß unser Gedächtnis und unsere Erinnerung von »Bildern« gar nicht abzulösen sind? »Unterstellen« wir ihm eine prekäre »Bildtheorie des Gedächtnisses«, wenn wir das nicht für möglich halten? Um uns hierüber Klarheit zu verschaffen, müssen wir bei dem phantasma verweilen, dem von der phantasia »vor das Auge« eines Betrachters »Hingestellten«. In der Hinsicht »auf es selber« nennt Aristoteles dieses phantasma ein »Theorem« (theorema) – und das ist wiederum nicht im Sinne eines neuzeitlichen Gedanken-Entwurfes zu verstehen, sondern meint ein »Geschautes«, eine im Betrachten, im theorein, aufscheinende »Versichtbarungsfigur«. In der Hinsicht »auf anderes« bestimmt Aristoteles hingegen das phantasma als »Bild« dieses »anderen« und als »Gedächtnisinhalt« (eikon kai mnemoneuma, de mem 1; 450 b 25–27). Eben diese Hinsicht »auf anderes« ist diejenige auf Vergangenes; sie setzt, im Unterschied zum »Theorem«, das Vergehen von Zeit voraus, so daß der Philosoph jetzt auch lehren darf: »alle Lebewesen, die Zeit wahrnehmen, haben Gedächtnis« (de mem 1; 449 b 29 f.). Aristoteles gibt ein Beispiel: »obwohl man den Koriskos nicht mehr sieht«, weil die Zeit der Begegnung mit ihm vergangen ist, »betrachten wir den Koriskos im Gedächtnis wie in einem Bild«; weil dieses Bild jedoch »einer früheren Sinneswahrnehmung entstammt«, sind wir nicht sicher, ob es sich hier wirklich um ein Gedächtnisbild handelt oder um einen »bloßen Gedanken« (de mem 1; 450 b 32 – 451 a 1). Im Klartext gesprochen: dem Denker liegt es völlig fern, »Bilder« – oder sogar als »Abbilder« betrachtete Bilder – in der memoria zu leugnen; er blickt vielmehr achtsam auf die Kontingenz dieser Bilder und Abbilder, auf ihre rückblick auf augustinus und die antike | 159

Flüchtigkeit, auf ihr Kommen und Gehen, das wir niemals beherrschen. Und er bleibt dabei: was zeitlich »nicht mehr da«, was nicht mehr gegenwärtig ist, kann nur als »Bild« oder »Schrift« in der memoria »bleiben« – wie ein rätselhafter Rest einer »früheren Sinneswahrnehmung«. Rätselhaft sind dem Aristoteles nicht die Bilder im Gedächtnis und in der Erinnerung; rätselhaft bleibt ihm, und nicht nur ihm, einzig ihr Bezug zu jener Wahrnehmung, ohne die es sie nicht gäbe. Noch Augustinus wird bekennen: »wie diese Bilder entstanden sind, wer kann das sagen?« – aber weder Aristoteles noch Augustinus nehmen vor dieser Frage Reißaus, um in einer phänomenologischen »Retention« ihre Zuflucht zu suchen. Das Bilderrätsel, das Aristoteles seinem Leser angeblich aufgibt, reduziert sich damit auf einen kleinen, allerdings auch neuralgischen Punkt, nämlich auf das allein entscheidende Problem, wie seine Redefiguren »als Bild«, »wie ein Bild«, und schließlich »ähnlich einem Bild« verstanden werden wollen. Und da gilt es festzuhalten: die Verrätselung der aristotelischen »Bildtheorie des Gedächtnisses« hat ihren Grund nicht in einer unentschiedenen oder gar unklaren Gedankenführung des Philosophen, sondern in der niemals zu unterschätzenden Flexibilität der griechischen Sprache, die in jenen Begriffen ihren Widerhall findet, mit denen Aristoteles Wahrnehmungsphänomene beschreibt. Zum Verständnis seiner Redefiguren ist deshalb ein Passus aus der Metaphysik heranzuziehen, in welchem Aristoteles erläutert: »Ähnlich (homoia) nennt man Dinge, die in Ansehung ihres Eidos (kata to eidos) selbig sind«. »In Ansehung ihres Eidos« meint: bei Betrachtung ihrer sichtbaren Gestaltung; der Philosoph verweist darum auf die anschauliche Ähnlichkeit eines größeren und eines kleineren Vierecks: »sie sind einander ähnlich, nicht schlechthin dieselben«. Umgehend fügt er hinzu: ähnlich ist, »was dieselbe Form des Aussehens (to auto eidos) hat, wenngleich in größerem oder geringerem Maß«. Und schließlich gelten ihm als ähnlich jene Dinge, »die in ihrer anschaulichen Ausgestaltung miteinander eins sind (hen to eidei)«, beispielsweise »in ihrer weißen Farbe, die stärker oder schwächer ausgeprägt sein kann« (Met X, 3; 1054 b 3–11).23 In allen drei von Aristoteles aufgeführten Fällen ist der Sprachort »ähnlich« mit dem eidos-Konzept verknüpft, das auf die Sichtbarkeit, die Anschaulichkeit und das Aussehen einer Ähnlichkeit anzeigenden »Form« verweist. Der Topos »ähnlich« 160 | drittes kapitel

gerät dabei weder zu einem »Begriff« noch leitet er einen begrifflich durchgeführten »Vergleich« ein: er fungiert lediglich als Veranschaulichungstopos 24, stellt ein »in Sicht zu nehmendes« eidos »vor Augen« und erlaubt das »Zusammen-Sehen« von Sachverhalten auch über deren Binnendifferenzen hinweg. Kurz: »eidos« heißt bei Aristoteles nicht einfach »Form«, sondern »versichtbarende Form«. Wenn der Philosoph dann im Werk Über die Seele von der aisthesis sagt, sie sei »fähig, wahrnehmbare Formen ohne Materie aufzunehmen« (de an II, 12; 424 a 18), dann versteht er auch hier diese »Formen« als dasjenige, was nach Abzug aller Stofflichkeit der sinnlichen Dinge dem Wahrnehmungsorgan »sichtbar« bleibt – wie das Zeichen eines Siegelringes im Wachs. »In der Wahrnehmung wird das Sinnliche erst ansichtig«25 – allerdings muß ein eidetisches Sehen sie »in Sicht genommen« haben – , und im Gedächtnis wird durch das Eingreifen der phantasia ein Wahrnehmungseidos zur Insichtnahme »hingestellt«. Die zitierten Sätze des Aristoteles liefern uns den Schlüssel zum »Bilderrätsel« seiner memoria-Philosophie. Dem Philosophen geht es mit der eidetischen In-sicht-nahme von Gedächtnisinhalten »als Bilder«, »wie Bilder« oder als »bilderähnlich« um ein ZusammenSehen dessen, woran sie erinnern, mit einem Bild und in einem Bild. Weder sein Problem noch überhaupt seine Frage ist, wie »Bilder von Dingen« in die memoria hineingelangen könnten – stattdessen ist seine These, daß wir im Gedächtnis Bleibendes »sehend betrachten«, sobald wir uns sein eidos, seine anschauliche Bildgestalt, »vor Augen stellen«. Daß eine bildliche Nachschrift im Gedächtnis auf Vergangenes zurückverweisen, daß sie »als Abbild« einer früheren Wahrnehmung in Sicht genommen werden kann, ohne deren kopiertes Abbild zu sein, ist damit niemals ausgeschlossen.26

IV. Memoria und phantasia oder wie Aristoteles dem Gedächtnis ein »Sichtfeld« eröffnet Den modernen Leser der Schrift De memoria et reminiscentia – nicht zuletzt jenen, der sich mit Hegels Philosophie der Er-innerung als einem In-sich-gehen des Geistes vertraut gemacht hat – mag es befremden, daß Aristoteles das Gedächtnis so eng mit der sinnlichen rückblick auf augustinus und die antike | 161

Wahrnehmung, der aisthesis, und mit einer phantasia verknüpft, die wiederum auf sinnlicher Wahrnehmung beruht und diese gleichsam fortschreibt (de mem 1; 450 a 15–26). In der Tat ist auf den ersten Blick befremdlich, daß der antike Philosoph der memoria keine noetischen oder intellektuellen Strukturen einzeichnen möchte; aber Gedächtnis, so betont er, haben ja nicht nur Menschen, »die Meinung und Klugheit besitzen«, sondern auch viele Tiere (ebd.). Was nun aisthesis, phantasia und mneme in der menschlichen Seele aneinanderbindet, ist eine kinesis, eine Bewegung, die niemals nur passive »Hinnahme« von Sinneseindrücken ist, sondern stets deren aktive »Aufnahme«. Aristoteles spricht darum von der aisthesis »in einem zweifachen Verständnis«: die Sinne – zunächst »in der Möglichkeit«, Dinge wahrzunehmen – nehmen »in Wirklichkeit« wahr, sobald ihnen ein Anstoß dazu widerfährt. Die Bewegung des sinnlichen Wahrnehmens von seiner Möglichkeit zu seiner Verwirklichung hat ihren Quellgrund nämlich in der energeia, in der tätigen Kraft des Wahrnehmungsvermögens selber (de an II, 5; 417 a 10–17). Sinnliche Wahrnehmung wird von Aristoteles mithin verstanden als eine Art Inter-aktion zwischen dem wahrzunehmenden Gegenstand und den wahrnehmenden Sinnen – das Wahrnehmungsgeschehen hat dabei die Struktur eines »Erfassens« alles dessen, was sich den Sinnen darbietet; es läßt sich auf eine äußerlich bleibende »Erregung« der Sinne nicht reduzieren: im Wahrnehmen wird das Wahrgenommene präsent und nicht lediglich re-präsentiert. Diesem Befund fügt der Philosoph jetzt einen Satz hinzu, der alle Aufmerksamkeit verdient (und selten eine der Denkweise des Aristoteles adäquate Übersetzung gefunden hat); er sagt nämlich, daß man von der verwirklichten Wahrnehmung »in ähnlicher Weise spricht« wie von einem »in Sicht nehmenden Betrachten« (de an II, 5; 417 b 19: homoios legetai to theorein). Die sinnliche Wahrnehmung in ihrer Wirklichkeit rückt damit in den Horizont eines »vorAugen-stellens« des wahrgenommenen Gegenstandes, und dies nun vermittels der phantasia, deren Leistung es ist, in den von ihr erzeugten Figuren und Gestalten27, den phantasmata, das sinnlich Erfahrene zu einer anschaulichen Darstellung in der Seele zu bringen. Die energetische Bewegung, die von der verwirklichten aisthesis ausgeht, wird von der Darstellungsleistung der phantasia aufgegriffen und in die flüchtigen phantasmata gelenkt, die jetzt das »fi162 | drittes kapitel

gürliche« Material sind, mit dem und an dem das mnemeuein, das memoriale Gedenken, arbeitet. Bereits dieser kurze Aufriß der von Aristoteles viel ausführlicher beschriebenen seelischen Energetik läßt die vermittelnde Rolle der phantasia zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Gedächtnis (sowie schließlich auch dem Denken) erkennbar werden.28 Doch selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Texte des Aristoteles über Seele, Gedächtnis und Erinnerung mancherlei sprachliche und gedankliche Unklarheiten transportieren, wird man festhalten dürfen, daß insbesondere das aristotelische phantasia-Konzept höchst unscharf »definiert« bleibt. Man hat es deshalb auch mit einem »Familienbegriff« verglichen, der mehrere Verwandtschaftsgrade übergreift.29 Das »Bilderrätsel« in der aristotelischen memoria-Philosophie ist jedenfalls nicht von der Frage zu trennen, wie man das Wort phantasia übersetzt – und zwar im Kontext der Triade aisthesis-phantasia-mneme. Ist dieses Wort überhaupt übersetzbar? Ist es sinnvoll, es im Rekurs auf Kants Unterscheidung von produktiver und reproduktiver Phantasie zu interpretieren und zu behaupten, »daß Aristoteles so ganz auf die reproduktive Phantasie setzt und die produktiven Leistungen weitgehend unterbelichtet läßt«, um diese Behauptung sodann zu der These gerinnen zu lassen, die phantasia sei »kein eigenständiges und wirklich schöpferisches Vermögen«, sondern lediglich »die Selbstfortsetzung der Wahrnehmung«?30 Und wie weit kongruiert das phantasia-Konzept des Aristoteles mit dem Begriff »Einbildungskraft«?31 Deckt schließlich der Terminus »Vorstellung« alles dasjenige ab, was das Wort phantasia konnotiert? Ist es hilfreich zu sagen: »Die Übersetzung Vorstellung ist Einbildung deswegen vorzuziehen, weil letztere es nahelegen könnte, daß die phantasia wesentlich oder ohne weiteres mit Bildern zusammenhängt«?32 Der Polysemie des Vorstellungsbegriffes korrespondiert in gewisser Weise das aristotelische phantasia-Konzept als »Familienbegriff«, aus welchem Imagination oder Einbildungskraft indes niemals herauslösbar sind, schon gar nicht, weil Einbildung »mit Bildern zusammenhängt« und »Bildertheorien« angeblich, anstatt Probleme zu lösen, nur neue Probleme schaffen. Aber auch die der »phantasia« und der »Vorstellung« gemeinsame Polysemie rechtfertigt noch längst nicht die Übersetzung des griechischen Wortes mit rückblick auf augustinus und die antike | 163

diesem deutschen Begriff. Denn Aristoteles gibt der phantasia ihren Ort in einem viel breiter aufgespannten Verstehensgefälle. Es mag genügen, das an drei Texten nachzuweisen. In seinem Werk Über die Sinnestätigkeit erklärt der Philosoph, sinnliches Wahrnehmen folge nicht dem Modell des Lernens, sondern dem eines »sichtenden Betrachtens« (de sensu 4; 441 b 19–23: kata to theorein esti to aisthanestai). Mit anderen Worten: bereits die aisthesis wird durch eine »Insichtnahme« wahrzunehmender Gegenstände gesteuert. In der Schrift Über die Seele lesen wir sodann den Satz: »Mit den Phantasiegestalten oder mit dem vernünftig Gedachten in der Seele geht man abwägend um, gleichsam sehend« (de an III, 7; 431 b 7: logizetai hosper horon). Das logizetai meint hier ein Abwägen im Sinne eines »in-Verhältnis-setzens« – der logos, das »Verhältnis« von Figuren der phantasia zu gedachten Gedanken muß »gesehen« werden. Wiederum mit anderen Worten: wie Figuren der phantasia und vernünftige Gedanken sich zueinander verhalten, ist nur durch die »Insichtnahme« beider zu bestimmen. Und schließlich notiert Aristoteles in demselben Buch: »phantasia ist etwas anderes als sinnliche Wahrnehmung und verständiges Denken«, ihr Vollzug »liegt bei uns, so oft wir wollen«; und er fügt an: »denn wir können uns etwas vor Augen stellen (pro ommaton poiesastai) wie diejenigen, die sich auf die Gedächtniskunst stützen und etwas in Bildern darstellen« (de an III, 3; 427 b 14; 17–20). Noch einmal anders gesagt: die phantasia ist, erstens, von der aisthesis zu unterscheiden, obwohl sie ohne sinnliche Wahrnehmung kein Arbeitsfeld hätte und kein Material, das sie in eine »Gestalt« bringen könnte, um diese jetzt »vor Augen« zu stellen. Solches »vor-Augenstellen« ist mithin die spezifische Aufgabe der phantasia, noch nicht der aisthesis; darum schreibt der Philosoph an anderer Stelle auch: wenngleich das Vermögen zu sinnlicher Wahrnehmung dasselbe ist wie das Phantasievermögen, so bleiben beide doch »hinsichtlich ihres Seins verschieden« (de insomn 1; 459 a 15–17: to d’ einai phantastiko kai aisthetiko heteron). Und, zweitens, steht es »bei uns«, mittels der phantasia uns etwas vor Augen zu rücken: wir müssen es »wollen«; das heißt: Aristoteles legt hier eine Schranke zwischen die sinnliche Wahrnehmung und die Tätigkeit der phantasia, eine Schranke, die auf eine volitive und »subjektive« Verfaßtheit der phantasia hinweist. In Anbetracht dieser Überlegungen des Philo164 | drittes kapitel

sophen ist es mehr als abwegig, die phantasia als schlichte »Fortsetzung« der aisthesis zu beschreiben. Drittens endlich bezieht Aristoteles in das »vor-Augen-stellen« auch die ars memoriae ein, die »in Bildern darstellt«, also imaginierend verfährt – und damit schließen sich seine Überlegungen zu einem Gedankengang zusammen, dessen Führungslinie das theorein, das »in Sicht nehmende Betrachten«, ist und bleibt. Die aristotelische phantasia darf mithin als der energetische Mittelpunkt auf dieser Führungslinie gelten, als der Schnittpunkt, an dem das aisthanestai und das mnemeuein, die verwirklichten Sinneswahrnehmungen und die Gedächtnisleistungen aufeinandertreffen. Sprachlich ist das Substantiv phantasia von dem Verbum phainestai, »erscheinen«, abgeleitet. Insoweit ist die Rede anglophoner Aristotelesausleger von der phantasia als »perceptual and post-perceptual appearance«33 gerechtfertigt: die phantasia bringt sinnlich Erfahrenes zu einer an die Sinneswahrnehmung sich anschließenden Erscheinung in der Seele – ohne freilich diese »Erscheinung« schon zu einem »mentalen Bild« verwandeln zu können. In »theoretischer« Perspektive bleibt die Tätigkeit der phantasia darauf beschränkt, das sinnlich Wahrgenommene in die Seele zurückzustellen und ihre Figuren vor das Gedächtnis und das Denken hinzustellen; sie rückt dem theoron, dem »in Sicht nehmenden Betrachter«, das Wahrnehmungswiderfahrnis der Sinne anschaulich »vor Augen«. Phantasia meint bei Aristoteles die »Veranschaulichungsenergie« der Seele – sie reicht darum über den engen Rahmen bloßen »Vorstellens« weit hinaus, ist auch nicht geradewegs mit der »Einbildungskraft« identisch, die sie lediglich konnotiert. Ihre Rolle im Seelenhaushalt besteht darin, die Anschaulichkeit des Vorstellens und Einbildens zu sichern, eine Anschaulichkeit, die sich aufgrund ihrer Fundierung in der Sinnlichkeit von der intentional geführten »Anschaulichkeit« der Husserlschen Phänomenologie deutlich abhebt. Noch einmal mehr zeigt sich, wie konsequent der antike Denker die »Bewegungen« der Seele aus der Optik einer theoria als »in Sicht nehmender Betrachtung« untersucht, wie konsequent er die Energetik der Seele nicht etwa »definiert«, sondern »vor Augen stellt«. Und aus diesem Blickwinkel nur kann er sagen, daß auch Gedächtnisinhalte »wie Bilder« oder »als Bilder« früherer Wahrnehmungen »betrachtet« werden dürfen und sogar betrachtet werden müssen: denn rückblick auf augustinus und die antike | 165

von zeitlich vergangenen sinnlichen Wahrnehmungen bleiben uns ja tatsächlich nur »gesehene« Erinnerungsbilder, nicht jedoch »Abbilder« oder Kopien der früher wahrgenommenen Dinge selber. In diesem Sinne entwickelt auch Aristoteles eine »Bildertheorie« – aber eine, die jede Festlegung auf Begriffe wie »mental image«, »representational image«, »sense-image«, »after-image« (so die anglophonen Deutungskonzepte) oder gar »Vorstellung« (so die übliche deutsche Lesart) von allem Anfang an unterläuft, weil sie sich auf die kinetische Energie der phantasia stützt, die sinnliche Erfahrung zu veranschaulichen vermag. Erst dasjenige, was durch die phantasia veranschaulicht ist und als phantasma »Gestalt« gewonnen hat, kann dann auch »wie ein Bild« oder »als Bild« in Sicht genommen und betrachtet werden. Aristoteles entzieht damit alle Bilder, nicht nur die Bilder der memoria, dem gewaltsamen Zugriff sezierender Begrifflichkeit und kommt auf diesem Wege der piktorialen Phänomenalität von Bildern ungleich näher als jedes auf »Definitionen« abstellendes Verfahren es vermöchte. Die Bildertheorie des antiken Philosophen fußt auf der phantasia als einer »Veranschaulichungsenergie«, die mit ihren Figurationen der memoria ein »Sichtfeld« eröffnet, in das die »gesehenen« Erinnerungsbilder eingetragen werden können. Die nicht lediglich »vorstellende«, sondern Anschaulichkeit erzeugende Leistung der phantasia liegt darin, vor das Gedächtnis und vor die Erinnerung ein Blickfeld, ein »field of vision« hinzustellen34, auf dem das theorein, das »in Sicht nehmende Betrachten«, sich bewegen kann.

V. Reminiscentia: Aristoteles vergleicht die Erinnerung mit einer »Jagd« Tiere und Menschen, »alles, was sich ernährt«, schreibt Giordano Bruno, »hat von Natur her Urteil und Gedächtnis (mente e memoria) hinsichtlich seiner Speise«: »das erklärt den Eifer, mit dem jedes Lebewesen seine Nahrung sucht, auf welche Weise auch immer es sie erjagt« – und »dementsprechend besitzt die menschliche Seele Licht, ingeniösen Geist und geeignete Mittel für ihren Jagdzug«.35 Der »Mnemotechniker« Bruno nennt das Erinnern eine Jagd nach geistiger Nahrung. Als gründlicher Kenner des Aristoteles spielt er damit 166 | drittes kapitel

nicht nur auf dessen Rede vom »Erinnernden und Erjagenden« (anamimneskomenos kai thereuon) an, sondern teilt er überdies die Meinung des antiken Philosophen, daß alles Wieder-erinnern einem zeitlich früheren Erleidensgeschehnis (pathos) folgt und Erinnerung deshalb eine »Suche« (zetesis) sein muß: eine suchende Jagd auf dem Feld der flüchtigen phantasmata, in denen unsere sinnlichen Erfahrungen veranschaulicht werden (de mem 2; 453 a 15–22). Gedächtnis (mneme) und Erinnerung (anamnesis): beide setzen eine Wahrnehmung von Zeit oder von dem, »was man früher sah oder erfuhr«, voraus; Gedächtnis und Erinnerung, so sagen wir heute, sind bedingt durch »Geschichte« und »Geschichten«. Dennoch unterscheiden sie sich. Denn Erinnerung, re-miniscentia, ist keineswegs eine Wiederholung oder Fortsetzung des Gedächtnisses als solchem, sondern das Wiedergewinnen jener Sachverhalte, die man einmal in der memoria hatte – sie ist ein Gegengift gegen das Vergessen. Darum lehrt Aristoteles, daß man etwas im Gedächtnis haben kann, ohne sich dessen »im Augenblick« zu erinnern, daß einem indes ein Sachverhalt »wieder« ins Gedächtnis rückt, sobald man sich seiner »wieder-erinnert«(de mem 2; 451 a 20 – 451 b 6).36 Wie die memoria ist auch die reminiscentia an »Bewegung«, an seelische Energie gekoppelt. »Wenn wir uns nun erinnern, werden wir durch eine Bewegung bewegt«, durch eine Erinnerungsbewegung, die jener Bewegung »in natürlicher Weise folgt«, die von den sinnlichen Wahrnehmungen zu den sie veranschaulichenden »Gestalten« in der Seele hinführt. Wie ist diese Bewegung des Erinnerns zu erklären und zu denken? Es mag sein, daß die seelische Energetik Erinnerungen unvermittelt zustande kommen läßt. Im Falle des Vergessens aber müssen wir den Willen haben, uns zu erinnern, »und wenn jemand sich erinnern will, dann soll er es so machen: er wird nach einem Anfang (arche) fahnden, an den die Bewegung des Wiedererinnerns anschließen kann«. Auch Aristoteles unterstellt mithin die anamnesis einem – wenngleich nicht platonischen – »Methodensatz«: einer praktischen Regel nämlich des »Suchens« auf dem Feld der phantasmata (oder der die Sinneswahrnehmungen veranschaulichenden Figuren in der Seele), die auf die zu erinnernden Dinge zurückverweisen; entscheidend ist dabei, daß man auf diesem Feld »einen Anfang zu fassen bekommt«, daß man also ein »Prinzip« für diese Suche »erjagt« (de mem 2; 451 b 11 – 452 a 12). rückblick auf augustinus und die antike | 167

Und jetzt entwirft der Philosoph ein Modell für solchen Jagdzug; er zählt die ersten acht Buchstaben des griechischen Alphabets auf, die eine Reihe von phantasmata darstellen sollen. Wer sich erinnern will, soll aus dieser Folge von Buchstaben einen beliebigen auswählen, der »in der Mitte« von zwei oder mehreren anderen steht, um von ihm aus einen erinnerlichen Zusammenhang herzustellen; der ausgewählte Buchstabe fungiert dabei als der erjagte »Anfang«, von dem aus das Erinnern sich bewegen kann. So wird aus dem Wieder-erinnern »gleichsam eine Art Schlußfolgerung (syllogismos): »wer sich erinnert, kommt zu dem Schluß, daß er früher etwas gesehen, gehört oder erfahren hat« (de mem 2; 452 a 17 – 453 a 14). In moderner Terminologie heißt das ganz schlicht: das aristotelische Buchstabenmodell chiffriert die Abfolge und den zu erschließenden Kontext von Assoziationen, die ein Wieder-erinnern ermöglichen können. Aber warum wählt Aristoteles überhaupt ein »Buchstabenmodell«? Im Griechischen heißt der Buchstabe charakter. Dieses Substantiv ist gebildet aus dem Verbum charassein, »einritzen«, auf der Schreibtafel »einprägen«, und das bedeutet: dem Leser einen zu Wort gebrachten Gedanken durch »Charaktere« vor Augen zu stellen. Wiederum führt uns die griechische Sprache in eine Dimension des Visuellen. Der Buchstabe, für sich selbst vorerst nur ein »Zeichen«, rückt in eine »bildähnliche«, ikonische Relation zum Leser, der ihn »in Sicht« nimmt. Noch heute sprechen wir, wenn wir die Verfassung der Seele eines Menschen kennzeichnen wollen, von seinem »Charakter« – oftmals ohne zu wissen, wovon wir reden; schon den Griechen war es nämlich ganz selbstverständlich, die Seele eine wächserne Schreibtafel zu nennen, in die sich Affektionen und phantasmata wie »Gestalten« oder »Figuren« einprägen. Und jetzt darf ich den Leser dieses Buches bitten, noch einmal in den Seiten zu blättern, die ich der memoria-Philosophie der Renaissance gewidmet habe. Dante hatte Aristoteles den maestro di coloro chi sanno genannt, den »Meister der Wissenden«, und das blieb der griechische Philosoph auch, bis hin zu seinem Kritiker Giordano Bruno. Ich erwähne dies, weil man die Ideengeschichte der Aristotelesauslegung kennen muß, wenn man in die Gedankenwelt dieses Philosophen wirklich eindringen und vermeiden will, ihm nicht nur ein »Bilderrätsel«, sondern vielleicht auch noch ein »Buchstabenrätsel« anzudichten.37 Die Renaissancehumanisten 168 | drittes kapitel

waren an der Sprache des griechischen Denkers deshalb so interessiert, weil sie begriffen hatten, daß das mittelalterliche Latein nicht imstande gewesen war, dessen Denkweise adäquat wiederzugeben. Und so erlebt denn in der frühen Neuzeit das griechisch-aristotelische Wort charakter geradezu eine Wiederauferstehung: bei Charles Bouelles in der Rede, daß »unser Geist in Figuren denkt«; bei Bruno in den Sätzen: »unsere Vernunft sieht in Figuren oder Zeichen« und »unsere memoria ordnet Gedanken oder Worte, sie weist ihnen Zeichen, Merkmale, Charaktere zu«. Vico schließlich, auch er Aristotelesleser, notiert: »der Buchstabe ›a‹ ist ein Charakter der Grammatik ebenso wie das Dreieck ein gezeichneter Charakter der Geometrie«. Immer geht es dabei um Veranschaulichung, sei es des Denkens, sei es des Erinnerns – und zwar in ähnlicher Weise wie bei der von Aristoteles vorgestellten Buchstabenfolge als einer Reihe von »Charakteren«: die Tore dieses »verlorenen Paradieses« anschaulichen Denkens zu schließen war erst Descartes vorbehalten, als er lehrte, philosophische Sätze und Gedanken müßten »abstrahiert werden von den Figuren« – mithin auch von den griechisch-aristotelischen »Charakteren«.

VI. Aristoteles erfragt die Gründe aller »Versichtbarung« An den Anfang meiner Untersuchung der Schrift Über Gedächtnis und Erinnerung hatte ich den Satz des Aristoteles gestellt: »wer einen Akt des Gedächtnisses vollzieht, betrachtet sehend dieses Geschehen«; zugleich wies ich darauf hin, daß dieser Satz uns einen Schlüssel zum Verständnis des »ganzen« Aristoteles an die Hand geben könne. Die Frage ist nämlich: bindet dieser Philosoph seine Rede vom »vor Augen stellen« der sinnlichen Wahrnehmungen durch die phantasia, deren Veranschaulichungsleistung für die memoria unverzichtbar ist, in ein übergreifendes Denkgefälle ein? Zu erkunden bleibt deshalb, welchen »systematischen« Stellenwert Aristoteles dem »in Sicht nehmenden Betrachten«, dem theorein, zumißt. Die »sichtende Betrachtung«, die theoria, darf mit der episteme, dem vernünftig-wissenschaftlichen »Wissen«, nicht identifiziert werden, obwohl beide nicht unverbunden nebeneinander stehen38; was aber begründet die Besonderheit der aristotelischen theoria? rückblick auf augustinus und die antike | 169

Das erste Kapitel im 6. Buch der Metaphysik enthält eine Überlegung, die darüber Auskunft gibt. Aristoteles sagt da: es gibt eine philosophia theoretike, eine sichtend-betrachtende Philosophie, die auch »theologisch« (theologike) heißt; sie betrachtet jene von aller Stofflichkeit »abgetrennten« und in sich selber »unbewegten« – das meint: ewigen – Gründe, welche die Ursachen alles dessen sind, »was vom Göttlichen sichtbar in Erscheinung tritt« (1026 a 17 f.: aitia tois phanerois ton theion). Die »theologische« philosophia theoretike blickt also über alles an materiellen Stoff Gebundene und in Stofflichem sich Bewegende hinaus; sie nimmt unstoffliche und unbewegliche Gründe »in Sicht«, welche ihrerseits »göttliche« Ursachen der materiellen und bewegten »Erscheinungen« sind und in diesen Erscheinungen »sichtbar« werden. Anders gesprochen: »Seit Parmenides knüpften sich an die Begriffe der Körperlichkeit und Bewegtheit die Kategorien der Vieldeutigkeit, Flüchtigkeit, Unbegrenztheit und Unerkennbarkeit; das Bemühen des Aristoteles geht dagegen auf die Ordnung des scheinbar Ungeordneten und auf das Hereinnehmen des Vollkommenen in die Sichtbarkeit«.39 Und wenn Aristoteles jetzt notiert, es gebe »drei betrachtende Philosophien« (philosophiai theoretikai), die theologische, die mathematische und die naturkundliche, dann fügt er sofort hinzu: »offensichtlich ist: wenn es irgendwo das Göttliche gibt, dann in einer solchen Natur«, wie sie von der mathematischen Wissenschaft und der Wissenschaft von der Natur untersucht wird (1026 a 20 f.). Darum sind auch Mathematik und Physik insofern »theoretische«, sichtend-betrachtende Philosophien, als die erste zumindest einige von Materie und stofflicher Bewegung »abgetrennte« Sachverhalte, und die zweite »stofflich Seiendes« gemäß den Prinzipien von »Unbewegtheit und Bewegung« in den Blick nimmt und vor Augen rückt: das theorein wird in diesen Wissenschaften »epistemologisch« operationalisiert. Und wenn die Untersuchung der Seele sowie ihrer Erinnerungsbewegungen nun zur naturkundlichen Philosophie gehört (und darum in den Parva naturalia abgehandelt ist), dann muß in solcher Untersuchung auch die theoria als »Insichtnahme« ihren Platz erhalten. Eben deshalb steht zu Beginn der Schrift Über die Seele: »wir suchen die Natur und das Wesen der Seele in sichtende Betrachtung zu nehmen (theoresai) und zu erkennen (gnonai)«. In der Nikomachischen Ethik findet die in der Metaphysik skiz170 | drittes kapitel

zierte Überlegung, daß die »Erscheinungen« ewiger Gründe »sichtend betrachtet« werden können, breite Ausfaltung – das EthikKonzept des Aristoteles folgt konsequent der »Norm« eines In-sichtnehmens der Verfassung der menschlichen Seele, des menschlichen Handelns und des menschlichen Glücks; insoweit ist es ein Gegenmodell zur »normativen« Ethik Kants, die an einem »kategorischen Imperativ« sich ausrichtet. Die Seele, so führt Aristoteles aus (VI, 2; 1139 a 4–12), wird von einem rationalen und einem irrationalen Element beherrscht, und das rationale enthält wiederum zwei Teile: einen, mit dem wir Seiendes »betrachtend in Sicht nehmen« (theoroumen), das wegen seiner Ursachen und Gründe »unveränderlich« ist, und einen anderen, mit dem wir Seiendes »sichtend betrachten«, das sich stetig »verändert«.40 Diese fundamentale Differenz zeigt sich allein einer theoria, die sich die »unveränderlichen Gründe« alles Seienden vor Augen stellt. Sodann unterscheidet der Philosoph das »herstellende Können« (techne) des Menschen von dessen sittlichem Handeln (praxis), und dies wiederum in der Perspektive eines theorein. Die menschliche techne läßt etwas entstehen, sie »produziert«, aber die theoria stellt auch hier vor Augen, wie das geschieht, nämlich: daß der Grund für das Herstellen nicht im Hergestellten zu suchen ist, sondern im Menschen als Hersteller (VI, 4; 1140 a 10–14). Vom sittlichen Handeln sagt Aristoteles: zum Zustandekommen menschlicher praxis »bedarf es vieler Dinge, und desto mehr, je bedeutender und edler dieses Handeln ist. Demjenigen indes, der sehend betrachtet (theorounti), ist fürs Handeln nichts davon notwendig; denn für das reine Tun, so möchte man sagen, ist alles Äußerliche sogar ein Hindernis« (X, 8; 1178 b 1–8) – dem antiken Denker geht es darum, gutes Handeln schlicht »in Sicht zu nehmen« (theorein, IX, 9; 1170 a 2 f.). Und weil sie »Anteil an der theoria haben«, können, anders als die übrigen Lebewesen, auch »nur Menschen glücklich sein (X, 8; 1178 b 27–32), ja, »wie umfassend die theoria sich gestaltet, so umfassend auch das Glück, und je eindringlicher das sichtende Betrachten (theorein), desto intensiver das Glücklichsein – und zwar nicht beiläufig, sondern genau gemäß der theoria, denn diese hat ihren Wert in sich selber. Deshalb darf man sagen: das Glück ist eine theoria«, eine in Sicht nehmende »Schau«.41 rückblick auf augustinus und die antike | 171

Aber jetzt kehren wie noch einmal zum Thema »Gedächtnis und Erinnerung« zurück. Aristoteles bettet es nämlich ein in seine Lehre von der epagoge, vom »Hinaufführen« alles Denkens und in Sicht nehmenden Betrachtens zu den ersten Ursachen, Gründen und »Prinzipien« oder zum endgültigen »Anfang«. Im Schlußkapitel seiner Analytica posteriora schreibt er: »aus sinnlicher Wahrnehmung, wie wir sagen, entsteht das Gedächtnis, und aus dem Erinnern ein und derselben Sache – wenn es oft zustande kommt – entsteht Erfahrung (empeiria). Aus Erfahrung hinwiederum oder aus jeglichem Umfassenden (katholou), das in der Seele zur Ruhe gelangt […] entsteht herstellende Kunst (techne) und vernünftiges Wissen (episteme)« – »bis man den Anfang (arche) erreicht« (II, 19; 103 a 3–13), »den Anfang alles Wissens, der sogar der Anfang jedweden Anfangs (arche tes arches, 10 b 15 f.) sein dürfte«. Die memoria spielt eine konstitutive Rolle für dieses »Hinaufführen« der Seele zum »Anfang«: sie hat eine epagogische Funktion. Wie unser Durchgang durch die Schriften Kants mußte auch unsere Lektüre des Aristoteles so ausführlich geraten. Denn ebenso wie darzutun war, daß der Königsberger Philosoph aufgrund seiner transzendentalen Lehre über »Anschauung« und »Begriff« den Zwischenraum erkenntnisrelevanter »Anschaulichkeit« nicht auszuschreiten vermochte, war nun zu zeigen, daß der antike Denker solche Anschaulichkeit aus seinem Philosophieren nicht aussparen wollte und nicht auszusparen brauchte – sein Insistieren auf der veranschaulichenden phantasia und sein »theoretisches« Leitmotiv »in Sicht nehmenden Betrachtens« machten es ihm auch möglich, dem Gedächtnis und der Erinnerung, angesiedelt in einem veranschaulichenden »Zwischenraum«, das ihnen gebührende philosophische Gewicht zuzumessen. Aber »wer« ist es, der die anschaulichen Figuren der phantasia betrachtet? »Wer« ist es, der die »Bewegungen« der memoria und der reminiscentia – als »ihm selber« zugehörige – betrachtend in den Blick nimmt? »Wer« also ist der theoron, dieser »im eigentlichen Sinne Wissende«? Aristoteles kann es nicht sagen, er will es auch gar nicht; der Gedanke an ein »Selbst« im neuzeitlichen Sinne von »Subjekt« (oder an einen »Bewußthaber«, der ein »Bewußtgehabtes« sich zu eigen macht) ist ihm fremd. Seine theoria bleibt sichtende Betrachtung und denkende Schau der Idee einer »unbewegten« Ordnung, die im »bewegten« Wandel des 172 | drittes kapitel

»guten Lebens« sichtbar werden soll. Zu diesem guten Leben gehört der Freund, dem man Gutes erweist; denn niemand wird es wohl vorziehen, »nur für sich selbst« das denkbar Gute zu besitzen, er wird es teilen wollen mit dem Freund als einem »anderen Selbst« (Nikom Ethik IX, 9; 1169 b 6 f.; 17 f.). Freunde sind für den antiken Denker aber keine »Subjekte« – ihr jeweiliges »Selbstsein« bleibt ein »für-den-Anderen-sein«: es bleibt in die Ordnung eines guten Lebens der menschlichen Gemeinschaft eingebunden. Solches »Selbstsein« trägt noch keine Züge eines »Selbstbewußtseins«, und damit evoziert es auch noch nicht die Frage nach einem »Erinnerungsbewußtsein«, kraft dessen ein subjektives Selbst »sich« zu erinnern vermag. Das aristotelische Wiedererinnern, die reminiscentia, entbehrt jeder Subjektivität des Erinnerns – und damit bleibt es dem antiken Denker erspart, jenen Konflikt auszutragen, der im neuzeitlichen Philosophieren zwischen »Selbstbewußtsein« und »Erinnerungsbewußtsein« aufbrechen wird.

VII. Das »Siegel« und das »Sehen«: Plotin versus Aristoteles oder Aristoteles versus Plotin? »Er war die Art Mann, die sich dessen schämt, in einem leiblichen Körper zu sein«; mit diesem Satz hat Porphyrios seine kleine Schrift Über Plotins Leben eingeleitet, ein verehrungsvolles Büchlein, das von einem bezeichnenden Ereignis erzählt: um Einwilligung gebeten, sich porträtieren zu lassen, habe Plotin erklärt, es sei schon genug, das Abbild tragen zu müssen, mit dem die Natur uns umkleidet hat, und ein Abbild dieses Abbildes – sei das denn überhaupt noch sehenswert?42 Wir haben keinen Anlaß, diesem Bericht zu mißtrauen, denn Porphyrios bewunderte seinen Lehrer, er war ihm treu ergeben; die Episode, die er schildert, lenkt unsere Aufmerksamkeit von Anfang an auf ein zentrales Thema der plotinischen Philosophie: auf eine Metaphorik des Abbildens und die Beschreibung eines Abbildbewußtseins, welches alles Erinnern trägt – und tatsächlich sich »schämt«, an einen Leib gebunden zu sein, dessen Fesseln es sich zu entwinden trachtet, zumindest insoweit, als es sich nicht von der Wahrnehmung körperlicher Dinge »siegeln« lassen möchte. Damit betrachtet Plotin das Gedächtnis und die Erinnerückblick auf augustinus und die antike | 173

rung aus einer neuen, in dieser Hinsicht unaristotelischen Perspektive: Plotin versus Aristoteles. Gedächtnis (mneme) und Wiedererinnerung (anamnesis) werden für Plotin thematisch im Rahmen seiner Lehre über die »Seele«: das ist für den Neuplatoniker die Weltseele, an der die einzelnen Menschenseelen Anteil haben. Darum fragt Plotin auch nicht unvermittelt, »was Erinnerung ist«, sondern was in dieser Seele »das Erinnernde« sein mag. Weder dem »Jenseitigen« noch dem zeitlos denkenden »Geist« (nous) darf man Erinnerung zuschreiben: sie »erleiden« nichts, denn sie sind »dort oben« und »in Ewigkeit«. Die »Seele« (psyche) hingegen ist zum Teil auch »hier unten«, weil in die sterblichen Leiber der Menschen gefallen; ihre Reinheit hat sie da verloren. Vor dem Hintergrund dieser mythischen Vorstellung will Plotin jetzt erkunden, wie es um die sinnlichen Wahrnehmungen der Seele und um ihre Gedanken steht (Enn IV, 3, 25). Solche Wahrnehmungen, erklärt er, »erleidet« einzig der Leib, der »Diener« der Seele. Die Einprägung (typosis), die er dabei erfährt, muß die in ihn abgestürzte Seele zwar hinnehmen; da sie aber stets die »Meisterin« ihres Dieners bleibt, liegt es auch in ihrer Macht, die Prägung wieder »abzuwerfen«. Folglich müssen Erinnerungen, die beharren sollen, sich nicht den Eindrücken verdanken, die der Leib erlitten hat – jenseits aller Prägung durch sinnliche Erfahrung ist das Erinnern ein rein innerseelisches Geschehen. Damit tritt Plotin in einen markanten Gegensatz zu Aristoteles und dessen Theorie der »Siegelung«. »Keineswegs ist es so wie beim Wachs«, behauptet der Neuplatoniker; die Einprägungen, die der Leib erleidet, sind keine Siegelabdrücke in der Seele selber, alles Erinnern ist vielmehr »eine Art von Denken«, das keiner Mitwirkung des Leibes bedarf. »Also muß man sagen: alles, was durch den Leib vermittelt wird, endet in der Seele«, beim Erinnern »betreibt diese ihr eigenes Geschäft« und wird sie »ihrer selbst inne«. Ja, der sinnlich wahrnehmende Leib ist dem Erinnern sogar »hinderlich«, er ist die eigentliche Ursache des Vergessens; denn in der erinnernden Seele »bleibt« etwas, während der Leib sich stets »bewegt«: er schwimmt im »Fluß des Vergessens« (IV, 3, 26). Mit seiner Bemerkung, Plotin habe sich geschämt, in einem leiblichen Körper zu sein, hat Porphyrios offenbar einen neuralgischen Punkt im Philosophieren seines Lehrers getroffen; aber man darf wohl auch nicht unter174 | drittes kapitel

schlagen, welchen Gewinn diese »Scham« abwirft: das »Selbst-gewahr-werden« (synaisthesis oder synesis) der Seele nämlich, das Innewerden ihrer selbst vermöge des Erinnerns (ebd.). Einen solchen »Gang nach Innen« hatte Aristoteles noch nicht gewagt. Darf man sagen, daß Plotin hier den ersten Schritt tut in Richtung auf ein »Erinnerungsbewußtsein«? Die antiken Mythologoumena der Allseeele und der Seelenwanderung erschweren dem Philosophen einen solchen Schritt. Weil nämlich die Einzelseele ein »Schattenbild« (eidolon) der Allseele sein soll, muß Plotin sich fragen, ob denn beide Seelen Erinnerungen haben? Und er muß auch überlegen, was die Schattenseele noch erinnern kann, wenn sie einmal befreit sein wird vom Leib, an den sie jetzt gebunden ist (IV, 3, 27)? Plotins Konzept der »Seele« als Abbild des zeitfreien »Geistes« und als Urbild der in zeitliche Körperlichkeit abgestürzten Menschenseele, »Seele« also als inbildliche »Mitte« (meson) zwischem dem »dort oben« und dem »hier unten« – das ist ein metaphysisch hochkomplexes und zugleich mythologisch aufgeladenes Ideenkonstrukt, das einen direkten Zugriff auf Erinnerung als eigenständiges Phänomen bewußten Lebens beträchtlich erschwert. Plotin möchte diesem Phänomen dennoch auf der Spur bleiben und greift darum jetzt doch wieder auf die Schrift De memoria et reminiscentia zurück, in der Aristoteles das Erinnern aus der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung, hergeleitet hatte. Man muß mit den Sinnen etwas wahrgenommen haben, wenn man sich erinnern will, das hält Plotin, ganz aristotelisch, fest, und das phantastikon, das Vermögen der Seele, sinnlich Erfahrenes zu veranschaulichen, bezeichnet auch er als »verschieden« vom bloßen Wahrnehmen. Diesem Vermögen ordnet er das Erinnern als »Festhalten« des mit den leiblichen Sinnen Wahrgenommenen zu. Denn der Erinnerung »bleibt das veranschaulicht Gesehene gegenwärtig, auch wenn das Wahrnehmen vergangen ist – das Erinnern ist darum der Veranschaulichungskraft zuzuschreiben« (IV, 3 , 29). Bis zu diesem Punkt argumentiert der Neuplatoniker aristotelisch; die bildkräftige Rede des Aristoteles vom Siegel, das die memoria prägt, mag und kann er aber nicht mehr übernehmen. Der leibhaftige »Abdruck« (typos) sinnlicher Widerfahrnis in einer als Wachstafel vorgestellten Seele liefe seiner Idee einer »Seele« zuwider, die von »hier unten« nach »dort oben« aufsteigen und »menschliches rückblick auf augustinus und die antike | 175

Erinnern« vergessen muß, um »mit sich selber allein« und – endlich – »leicht« zu sein (IV, 3, 32). In seiner Schrift Über Wahrnehmung und Gedächtnis eröffnet Plotin nun auch einen offenen Kampf mit Aristoteles. Er stellt jetzt »in unbedingte Abrede«, daß die Seele durch Eindrücke der Sinne »gesiegelt« werden und ein Siegelabdruck in der Erinnerung wie in einem Stück Wachs Dauer haben könnte: »keinen dieser beiden Sätze erkennen wir an«. Die Schärfe des Angriffs ist erstaunlich, zu erklären ist sie einzig daraus, daß es gilt, die »Seele« als »Sinngrund von allem« (logos gar esti ton panton) und als Inbegriff des Geistigen »dort oben« sowie als Inbegriff der Dinge »im sichtbaren All hier unten« zu verteidigen (IV, 6, 1 und IV, 6, 3). An die Stelle der von Aristoteles beschriebenen Siegelung der Seele durch ein »Außen« rückt der Neuplatoniker deshalb das neue Paradigma eines Sehens der Seele nach »außen«: »die Seele blickt eben darum nach außen, weil in ihr keine Prägung stattgefunden hat wie von einem Siegelring im Wachs«. Und Plotins Argument ist dabei nicht einmal von der Hand zu weisen: »wenn wir nur Abdrücke von den Dingen besäßen, die wir sehen, dann könnten wir die Dinge selber gar nicht erblicken – und die Dinge selber wären dann etwas ganz anderes als das, was von uns gesehen wird« (IV, 6, 1). Überdies sind Sehen und Gesehenes zweierlei; gäbe es da also einen Siegelabdruck in der Seele, dann wäre an der Stelle dieses Abdrucks auch kein Bild mehr zu sehen. Das Bild der prägenden Siegelung, mit dem Aristoteles arbeitete, zerstört mithin nicht nur das »Bild«, sondern auch den Vorgang des »Sehens eines Bildes«. Alle zukünftige Kritik an einer Verknüpfung der Erinnerung mit »Bildertheorien« ist hier präfiguriert, bis hin zur Husserlschen Phänomenologie; nicht zu übersehen ist indes, daß diese Kritik bei Plotin in dessen Vorstellung von der »Seele« als »Sinngrund von allem« ihr Fundament hat. Diese »Seele«, Inbegriff aller möglichen Bilder, bedarf keiner Bilder von Dingen, um sich erinnern zu können; sie »besitzt« die Dinge »in gewisser Weise« immer schon, weil sie Dinge »erschaut« (pos echei kai hora), sie »stellt sich die Dinge vor Augen« und ist damit ihrer schon »trächtig« (IV, 6, 3). Und Plotin notiert: mit der Seele verhält es sich in Wahrheit völlig anders »als die Menschen gemeinhin glauben« – womit noch einmal mehr Aristoteles gemeint ist; denn der sprach ja sogar von »Buchstaben«, die dem Gedächtnis wie auf einer Tafel eingezeichnet 176 | drittes kapitel

werden. Das Vor-Augen-stellen, von dem Aristoteles, dieser »Realist des Erinnerns«, gesprochen hatte, wird von Plotin, dem »Idealisten des Wiedererinnerns«, in das Auge der Seele gestellt. Denn nicht die memoria, die mneme, führt diese Seele zum Erschauen dessen, was »dort oben« ist, sondern die anamnesis, die Wiedererinnerung an das »dort oben«. Dieser antike Diskurs über das Sehen oder Gesiegeltwerden der Seele mag einem modernen Leser zunächst überholt erscheinen. Das Problem, das er umschreibt, ist aber keineswegs veraltet und erschöpft sich auch nicht in der historischen Konfrontation »Plotin versus Aristoteles«. Aus der Perspektive neuzeitlicher und moderner Philosophie läßt er sich als die erste explizite Debatte über Genesis und Struktur eines Bewußtseins verstehen, das sich über sein Verhältnis zur Außenwelt vermittels der Erinnerung Klarheit verschaffen will. Das »Insichtnehmen« der Dinge in der Welt, die theoria des Aristoteles, läßt sich ja ausfalten zu der Frage, ob diese Sicht vom Gesehenen »geprägt« wird oder ob sie das Gesehene allererst »sichtbar macht«: eine hinsichtlich des Erinnerns von Welt entscheidende Frage. Läßt sie sich auch umgekehrt, nämlich mit einem »Aristoteles versus Plotin« beantworten? Man darf jedenfalls nicht meinen, der antike Streit um das »Sehen« oder »Gesiegeltwerden« der Seele sei eine lediglich binnenphilosophische Auseinandersetzung. Wenn Plotin das Erinnern »in das Auge der Seele« rückt, konnte ihn dazu die Optik des Euklid motivieren, die alles Sehen als Hervorgang von Sichtstrahlen aus den Augen erklärte; Epikur und die Stoiker hingegen vertraten eine sensualistische Position, derzufolge die Leuchtkraft der Körper auf die Augen einwirkt, und diese Position ließ sich leicht mit der aristotelischen Siegeltheorie vereinbaren. Die philosophischen Texte, die ich vorführte, sind also in einem sie übergreifenden wissenschaftlichen Kontext zu lesen. Den Philosophen der Renaissance waren diese Texte wohlbekannt, und Giordano Bruno – kein bloßer »Mnemotechniker« – griff in seinem Werk Das Siegel der Siegel auf sie zurück. Dieses Buch muß uns interessieren. Es zeigt nicht nur, welche Bedeutung der antike Diskurs in der Vormoderne hatte; es weist auch voraus auf eine ganz moderne Überbietung der alten Debatte. Bruno bringt die plotinische Doktrin eines »Heraussehens der Seele« auf die Dinge der Welt auf die prägnanten Begriffe prospectus rückblick auf augustinus und die antike | 177

und adspectus; die aristotelische Siegeltheorie ineins mit der epikuräisch-stoischen Annahme einer Einwirkung der Leuchtkraft von Körpern auf die Augen kennzeichnet er mit dem Wort introspectus. Sodann notiert er: »man darf nicht meinen, daß Erinnerung eher durch einen introspectus als durch einen adspectus oder prospectus zustande kommt oder mit diesen vergleichbar ist; memoria entsteht durch eine Ausgießung – nicht, so möchte ich betonen, aus den Augen, sondern aus einer nicht exakt benennbaren Fähigkeit des Geistes, die von der Art eines Sichhinrichtens oder Intention ist«; »bedenke also: nicht das, was in uns ist, muß angeschaut werden, sondern die Dinge selber müssen betrachtet werden vermittels dessen, was in uns ist. Obwohl nämlich der Seele ein Bild gegenwärtig ist, richten wir uns im Geist nicht auf das Bild als solches, sondern wir sehen sozusagen durch das Bild hindurch. Nur blindlings kann man die Ansicht vertreten, daß von den Dingen, die der sinnliche Sinn wahrgenommen hatte, eine abbildhafte Figur im Geist aufbewahrt wird, von welcher er dann gestaltet ist – was gleichsam die Spur eines Eindrucks hinterließe«.43 Der Renaissancephilosoph geht hier auf Distanz sowohl zu Aristoteles als auch zu Plotin, um die memoria auf eine »Intentionalität« zurückzuführen, die er in der Einbildungskraft (imaginatio) verankert, von der er sagt: »sie läßt die Intentionen zustande kommen, die um die Bilder der Dinge kreisen«, und die uns »weiterführt zum Intellekt, der über die gemeinsame Natur der einzelnen Intentionen nachdenkt«.44 Das »Siegel der Siegel« des Nolaners ist keine »schweifende« Phantasie, sondern die »intentional« gesteuerte Imagination. Hier kündigt ein modernes Konzept von Intentionalität sich an: einer das Erinnerungsbewußtsein mit seinen Bildern »siegelnden« Intentionalität.45

VIII. Erinnerung und Zeit: Augustins Auseinandersetzung mit Plotin Augustinus hat seine Überlegungen zur memoria mit ihren Bildern im 10. Buch der Confessiones niedergeschrieben und die bohrende Frage »was ist Zeit?« erst im folgenden Buch gestellt. Das hat viele seiner Leser dazu verführt, den Reflexionen Augustins über Zeit und Zeitmessung einen von ihrem Autor gar nicht intendierten 178 | drittes kapitel

Eigenstand zuzubilligen und deren Verknüpfung mit den Analysen des Gedächtnissses und der Erinnerung zu unterschätzen – wenn nicht gar darüber hinwegzusehen, daß Erinnerung für den Kirchenvater die Quelle aller unserer Zeiterfahrung ist46: einer Erfahrung von Zeitlichkeit und ihrer »Brechung« in der memoria, die seiner Theorie der Zeit und ihrer Meßbarkeit vorausliegt. Augustinus weiß zwischen erinnernder Zeitlichkeitserfahrung und den Aporien logisch-theoretischer Zeitmessung sehr wohl zu unterscheiden, aber er unterläßt es nicht, von der einen zur anderen eine Brücke zu schlagen. Im 11. Buch der Bekenntnisse, im Kontext seiner Meditation über »Zeit«, notiert er: »wiewohl Vergangenes als wahr erzählt wird, werden aus der memoria nicht die vergangenen Dinge selber hervorgeholt, sondern Wörter, die aus jenen Bildern geschöpft sind, die wie Fußspuren im Vorübergehen dem Geist durch die Sinne eingeprägt wurden. Meine Kindheit nämlich, die schon nicht mehr ist, liegt in vergangener Zeit, die schon nicht mehr ist; ihr Bild jedoch, wenn ich es mir zurückhole und davon erzähle, schaue ich in der Gegenwart, weil es mir noch jetzt im Gedächtnis ist« (XI, 18). Diese Sätze verbinden nicht nur Augustins memoria-Lehre mit seinem Sprechen von der »Gegenwart des Vergangenen«, der »Gegenwart des Gegenwärtigen« und der »Gegenwart des Zukünftigen« (XI, 20), sie verknüpfen auch seine Rede von der memoria Dei mit einem Bekenntnis zum »ewigen Gott«, und sie erläutern darüber hinaus, was Augustin unter Erinnerungsbildern versteht: spurenhafte Eindrücke nämlich, welche er in Anlehnung an Aristoteles phantasmata nennt (VII, 17), anschauliche Figuren, die ihren Ausdruck in gesprochenen Wörtern finden können, ja, die der genaueren Bestimmung durch eine »Erzählung« bedürfen.47 Hier, im 11. Buch, greift Augustin also einen Gedanken wieder auf, den er schon im 10. Buch vorgetragen hatte: »wenn ich spreche, sind alle Bilder von dem, was ich sage, aus der Schatzkammer der memoria gegenwärtig, und ich vermöchte nichts von all dem zu benennen, wenn diese Bilder fehlten« (X, 8). Die Bilder der Erinnerung bedürfen der Wörter, und Wörter könnten ohne Bilder, auf die sie sich stützen, nichts benennen: nur so vermag »Vergangenes als wahr erzählt« werden. Dieses Bildkonzept, in dem die an Vergangenes und Erfahrenes erinnernden Bilder nicht in Namen als vom Denken gesetzte Zeichen »aufgehoben« werden – wie Hegel will – , sondern mit Wörtern zu bild-sprachlirückblick auf augustinus und die antike | 179

chen Gestalten sich verbinden, trägt Augustins Philosophie der memoria ebenso wie seinen Zugriff auf »Zeit«: denn das »Bild«, das er sich von der Zeit macht, gründet im »ewigen Wort« Gottes, das die Zeit erschuf. Läßt ein derartiges Bilddenken sich bruchlos anschließen an die neuplatonisch-emanatistische Lehre Plotins, das Urbild (paradeigma) aller Zeit sei »die Ewigkeit« und die Zeit deren Abbild (eikon)? Darf man die augustinische memoria-Lehre, die zum Gedanken einer memoria Dei sich steigert, in Beziehung setzen zu der Überzeugung Plotins, daß zwischen Zeit und Ewigkeit, unbeschadet ihrer Differenz, eine »Ähnlichkeit« besteht, die es der »Seele« erlaubt, mit Hilfe der Wiedererinnerung (anamnesis) vom zeitlichen Nachbild zum ewigen, zeittranszendenten Urbild zurückzukehren (Enn III, 7, 1)? Wie also sind die augustinischen Texte über Erinnerung und Zeitlichkeit sowie über Zeit und ihren »ewigen Schöpfer« (Conf XI, 1) zu lesen? Darf man, schlicht und apodiktisch, behaupten, Augustins Zeitlehre durch einen Vergleich mit der Metaphysik Plotins zu erklären sei »müßige Spekulation«?48 Ist es hilfreich, das Insistieren Augustins auf der distentio animi (als einer »Zerspannung« des in der Gegenwart sich erinnernden Geistes in eine »Gegenwart des Vergangenen« und eine »Gegenwart des Zukünftigen«) durch einen »methodischen Kunstgriff aus der Meditation über die Ewigkeit herauszulösen«, um sodann das augustinische Bekenntnis zum ewigen Gott als den »Horizont einer Grenzvorstellung« zu interpretieren, »die dazu zwingt, zugleich die Zeit und das Andere der Zeit zu denken«?49 Kann ein solch phänomenologisch geführter »Kunstgriff« noch begreiflich werden lassen, daß für den christlichen Denker »der Glanz der immer stehenden Ewigkeit« (Conf XI, 11) identisch ist mit der »ständigen Wahrheit« Gottes (XI, 8) als schöpferischem Grund aller Zeit, nicht aber als blasser Horizont einer Grenzvorstellung? Augustinus selber berichtet von dem »tiefen Eindruck«, den »die Bücher der Platoniker« auf ihn machten, weil sie ihn »mahnten, der unkörperlichen Wahrheit nachzuforschen«; bei der Lektüre der »heiligen Schriften« habe er dann jedoch nicht nur gelernt, »zwischen Anmaßung (praesumptio) und Bekenntnis (confessio) zu unterscheiden«, sondern auch jene Lehrer zu beurteilen, »die sehen, wohin man gehen soll, aber nicht sehen, wie« der Weg »zur seligen 180 | drittes kapitel

Heimat« zu beschreiten ist (Conf VII, 20). Der Kirchenlehrer hatte die wichtigsten Enneaden Plotins, zumindest in lateinischer Übersetzung, gründlich studiert, und hinsichtlich des »wohin« der Wege des Denkens mochte und konnte er der platonischen Philosophie nicht widersprechen. So mühen sich denn seine Confessiones ebenso wie die »Bücher der Platoniker« um Einsicht in Wahrheit und Ewigkeit; das »wie« seiner eigenen Mühe artikuliert Augustin indes nicht in der Weise eines – wie er sich ausdrückt – »vorwegnehmenden« oder präsumptiven Denkens, sondern in der christlich bescheidenen Figur eines denkenden Bekenntnisses zum wahren und ewigen Schöpfergott, der alle Zeit mit seinem Wort erschaffen hat. Als Kreatur des wie eine Person angesprochenen ewigen Gottes kann die Zeit nicht mehr »Bild« einer anonymen, entpersonalisierten »Ewigkeit« sein. Gemäß seiner Unterscheidung zwischen »Anmaßung« und »Bekenntnis« (die bei nicht wenigen seiner Ausleger unbeachtet bleibt) darf Augustinus die von Plotin aus dem platonischen Dialog Timaios (37 d) übernommene Rede von der Zeit als »Bild der Ewigkeit« auch gar nicht wiederholen; und wenn er selber von Ewigkeit (aeternitas) spricht, dann im Duktus eines Anrufes des persönlichen Gottes: »die Ewigkeit ist dein« (Conf XI, 1) und »deines dir gleichewig gezeugten Wortes« (XI, 13). Eine solche Bekenntnisformel allein reicht freilich nicht hin, um den Gedanken »ewig« und das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit auch theoretisch transparent zu machen: das bekennende Denken hat diese Formel zu begleiten. Augustinus – wir lasen es schon – , der dem Glauben das »Suchen« und der Vernunft das »Finden« zumißt, weiß das sehr wohl. Darum liest er sich aus den Enneaden Plotins, obwohl sie von der Erschaffung der Zeit durch den persönlichen Gott nichts wissen, alle jene Gedankenelemente heraus, die dem christlichen Bekenntnis nicht widerstreiten. Zugleich hält er jedoch fest: die Platoniker »sollten einsehen, daß es ohne Schöpfung keine Zeit geben kann«, ja, »sie sollten aufhören, leere Reden zu führen« (XI, 30).50 Deshalb ist es keine »müßige Spekulation«, Augustins Zeitverständnis von der Ewigkeitsmetaphysik Plotins her in den Blick zu nehmen, und ebenso wenig müßig ist es, die plotinischen Texte über Gedächtnis (mneme) und Wiedererinnerung (anamnesis) den Ausführungen Augustins über memoria und recordatio gegenüberzustelrückblick auf augustinus und die antike | 181

len. Zu erfragen sind da nämlich die Bildkonzepte, mit denen beide Denker operieren, sei es in ihrer Philosophie der Zeit, sei es in ihrer Philosophie der Erinnerung. Zu erkunden ist, wo und wann der Rekurs auf Bilder das philosophische Denken trägt oder wenigstens zu stützen vermag – und wo und wann nicht mehr. Weil Augustin sich zum »ewigen Gott« als Schöpfer der Zeit bekennt, mag er sich in den Confessiones der Rede Plotins von der Zeit als »Bild der Ewigkeit« nicht mehr bedienen; und während seine Philosophie der Erinnerung auf die Bilder der wahrgenommenen Dinge im Gedächtnis sich gründet, will Plotin die sich erinnernde »Seele« durch Bilder der sinnlichen Erfahrung nicht »gesiegelt« wissen. Wo und wann also werden Bilder durch Wörter »ersetzt«, wo und wann durch Wörter »umschrieben«? Wie werden die Bilder »gedacht« im präsumptiven Denken des Platonikers, wie sind sie »gedacht« im bekennenden Denken des Christen? Darf man sagen, die platonisch-neuplatonische »Bildertheorie« werde »abgeschwächt auch von Augustinus vertreten«51, oder soll man festhalten, daß der Kirchenlehrer die neuplatonische Doktrin in eine Dimension des Denkens »transformiert«, die jener der griechischen Philosophie »fremd« ist52, in eine Dimension des Denkens, die auch die neuplatonische Bildertheorie »verfremdet«? Ist es abwegig, anzunehmen, daß nicht zuletzt die auf den biblischen Satz »Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis« (Gen 1, 26) sich berufende Bildauffassung Augustins es sein könnte, an der deren Differenz zur griechisch-platonischen Metaphysik mit ihrer Bildmetaphorik sich ablesen läßt? Zeit als »Bild« der Ewigkeit53 – ohne eine wenigstens umrißhafte Skizze der plotinischen Metaphysik läßt sich nicht verständlich machen, was damit gemeint ist. Der »Gott« dieser Metaphysik, das »Eine« und zeitlose »Erste«, ein »Jenseits« alles Seienden und Vielen, soll in seiner absoluten Transzendenz dennoch die Quelle sein, aus der alle Vielheit sich »entfaltet« und die das Viele »umkreist«. Durch diskursives Denken nicht erreichbar – weil alles Denken in Differenz zu dem von ihm Gedachten steht – , kann dieses Eine in seiner einzigartigen Identität mit sich selber nur »erschaut« werden. In das »eine« Wesen Gottes transformiert, wird dieses »Eine« zwar auch für den Christen Augustin das »wohin« der Wege des Denkens sein; mit seiner Frage, »wie« diese Wege zu gehen sind, tritt Augustinus aber nun in Distanz zu Plotin, um damit zugleich auf ein Problem 182 | drittes kapitel

zu verweisen, dessen der Neuplatoniker sich durchaus bewußt ist: wie soll denn aus der Identität des Einen mit sich selber das von ihm unterschiedene Viele, wie soll aus »Identität« das Auseinandertreten (diastasis) in »Differenz« hergeleitet werden? Plotins Antwort lautet: Differenz ist denkbar einzig als Gegensatz zu Indifferenz und Identität. Darum muß aus dem mit sich identischen Einen der »Geist« (nous) heraustreten, um sich aus der Differenz seines Denkens zu dem von ihm Gedachten »schauend« zum identischen Einen zurückwenden zu können. »Hervorgang« und »Rückkehr« werden damit zu Strukturzügen des plotinischen Philosophierens. »Geist« bleibt gleichwohl eine zeitlose Einheit von Denken und Gedachtem: der zeitlose Geist ist insoweit ebenso »ewig« wie das differenzlose »Eine« und »Erste« – deshalb ist er ein »Bild« des Einen zu nennen, ein Bild des absolut Einen jenseits des »auseinander getretenen« Zeitlichen. Die Zeit läßt Plotin darum erst mit und aus der »Seele« entstehen. Ihrem »Wesen« gemäß ist diese Seele ebenfalls zeitlos: als »unendliches Leben« nämlich, in welchem sie »im Einen und auf das Eine gerichtet stille steht« – »Zeit gibt es da nicht« (Enn III, 7, 1). Will man also wissen, was Zeit ist, »muß man die entstandene Zeit anrufen«, und die »würde von sich ungefähr folgendes sagen«: »früher war ich im Seienden und pflegte ich der Ruhe. Die Natur aber war fürwitzig, wollte selbständig sein und sich mehr verschaffen als sie hatte; so geriet sie in Bewegung, und diese Bewegung führte zum Künftigen, Späteren, immer wieder Anderen« – »und als wir so eine Strecke Weges gezogen waren« (die Seele nämlich und ihre in Bewegung geratene Natur), »haben wir die Zeit als ein Abbild (eikon) der Ewigkeit hervorgebracht«. In der Seele wirkt ja »eine Kraft, stets willens, das oben Geschaute immer wieder dem Anderen zuzutragen; sie war nicht zufrieden damit, daß das All ihr gegenwärtig war«, sie »vergeudete« das Eine, indem sie »in eine schwächere Erstreckung hinaustrat« – sie »ahmte die Bewegung der oberen Welt nach« und vollführte eine Bewegung, »die deren Nachbild (eikon) sein möchte«. So hat die Seele »sich selber verzeitlicht und der Ewigkeit entgegen die Zeit hervorgebracht«. Deren »neues Leben« ist dem vorherigen nicht mehr gleich, »das Auseinandertreten des Lebens (diastasis zoes) war mit Zeit behaftet«, und an die Stelle des »Nicht-auseinander« trat »ein Nachbild des Einen (eidolon tou henos)«, an die Stelle einer »Gegenwartsganzheit« ein »ständiges rückblick auf augustinus und die antike | 183

schrittweises Fortgehen ins Unendliche«: so wird die verzeitlichte Seele die »Nachahmerin« ewiger Unendlichkeit, und damit steht fest: »außerhalb der Seele darf man die Zeit nicht setzen« (ebd.).54 Das ist Plotins Zurückweisung der aristotelischen Zeitlehre, in der es geheißen hatte, Zeit sei Zahl und Maß der Bewegung; und es ist ein Gang ins Innere der selber sich bewegenden Seele, wie auch Augustin ihn unternimmt – den er aber denkt als Gang in die Innerlichkeit einer personalen Seele. Und während für Augustinus die Zeit nicht »aus Ewigkeit hervorgeht«, sondern »vom ewigen Gott erschaffen« ist als von ihm unterschiedene kontingente Kreatur, bleibt sie bei Plotin das zwar mangelhafte, niemals aber durch kreatürliche Kontingenz gekennzeichnete Abbild eines ewigen Urbildes, bei aller Unähnlichkeit dem »Leben« des Urbildlichen immer noch »ähnlich«: »zeitliches« Leben ist lediglich als ein ins »Auseinander« (diastema) getretenes Leben gedacht. Plotins Formel »Zeit als Bild der Ewigkeit« speist sich aus einer Metaphorik des »Lebens« in seiner Einheit »dort oben« und seinem Auseinandertreten »hier unten«. Was »hier unten gesehen« werden kann, bleibt dem, was »dort oben geschaut« werden soll, stets »ähnlich«. Der zeitlose Mythos eines »Oben« und eines »Unten« ist der Hintergrund der Rede von Zeit als Bild der Ewigkeit. Diese Rede findet ihre Ausformulierung nicht nur im plotinischen Verständnis von »Wiedererinnerung«; sie verweist auch auf Plotins Konzept des »Bildes« als nachahmendes »Sinnbild« oder »Spiegelbild«. Gleich zu Beginn der Schrift Über Ewigkeit und Zeit heißt es ja: »indem man in die obere Welt vermöge der Wiedererinnerung (anamnesis) hinaufschreitet, kann man dasjenige erschauen, zu dem die Zeit eine Ähnlichkeit (homoioteta) hat« (III, 7, 1), und in einem paradigmatischen Text, der für viele andere Notate Plotins55 stehen kann, ist zu lesen: »ein Abbild (eikon) ahmt seinen Archetyp in jeder Hinsicht nach: es besitzt Leben, und zwar das Leben des Seins (zoe tes ousias), in der Weise einer Mimesis (hos mimema); es hat Schönheit wie dort oben; es ist sogar im Besitz jenes Immer (aei), das dem Urbild zukommt – gerade als Abbild: denn sonst würde das Urbild bisweilen ein Abbild haben und bisweilen nicht. Ein Abbild ist nämlich nicht durch einen Kunstgriff (techne) hervorgebracht; jedes Abbild ist aus Natur (physei) erzeugt, es währt solange, wie sein archetypisches Urbild bleibt. Es täuschen sich daher alle, die ein Abbild vergehen 184 | drittes kapitel

und wieder entstehen lassen, während das Geistige doch beharrt, so als hätte jemand irgend einmal es hervorbringen wollen«. Und ausdrücklich heißt es: »solange Jenes erstrahlt« – das Erste und Eine nämlich – »kann es allem anderen an nichts fehlen; und Jenes ist da, es wird immer da sein« (aei estai; Enn V, 8, 12). Für Plotin sind Bilder mithin abgestuft nachahmende »Wiederholungen« ihres Archetyps »in jeder Hinsicht und in allen Stücken« (ebd.: pantache), ja, sie sind es »immer«, weil sie das »Immer« des Jenseitigen »dort oben« nachzeichnen. Im Klartext heißt das: sie haben weder einen bildlichen »Eigensinn« noch gar jenen »Eigenstand«, den Augustin der imago Trinitatis in anima, dieser »gebrochenen« Darstellung der göttlichen Dreifaltigkeit, zuerkennt; sie entbehren jener »Subsistenz«, die der Kirchenlehrer diesem »in sich ruhenden Bild« beläßt.56 Der Eigenstand des Gottesbildes im Geist des Menschen ergibt sich für Augustinus, in aller Konsequenz, aus seinem denkenden Bekenntnis zu dem aller Kreatur »unähnlichen« Schöpfergott. Die Differenz zwischen dem Christen und dem Platoniker ist eindrucksvoll an ihren schwerlich miteinander zu vereinbarenden Bildkonzepten abzulesen. Plotins Redewendung »Jenes erstrahlt« gründet in einer Metaphorik der »Erleuchtung« (ellampsis) durch ein ewig ausstrahlendes Licht. Diese Erleuchtung meint einerseits die Einstrahlung des von »dort oben« herkommenden Lichtes in das philosophische Denken; sie ist andererseits der Index einer Unbegrifflichkeit, die vom begrifflichen Denken »hier unten« niemals eingeholt werden kann. Mit Blumenberg möchte ich die Erleuchtungsmetapher als einen »Motivierungsrückhalt« der plotinischen Metaphysik interpretieren: wenn wir schon einsehen müssen, daß von der philosophischen Reflexion keine adäquate Einsicht in die Transzendenz des Einen zu erwarten ist, »so wollen wir doch wenigstens wissen, weshalb wir wissen wollten«, was nur in enttäuschender Weise wißbar ist.57 In den plotinischen Meditationen über Erinnerung und Zeit steckt ein solcher »Motivierungsrückhalt«, ein Rückhalt des Denkens an einem mythisch-metaphorischen Motiv: die Fragilität und Mangelhaftigkeit unseres Erinnerns »hier unten« soll sich daraus erklären, daß, wer einmal im vom ewigen Licht durchstrahlten »dort oben« weilt, keiner wirklichen Erinnerung an dasjenige mehr bedarf, was ihm »hier unten« zugestoßen ist (Enn IV, 4, 1); und die Zeit nennt rückblick auf augustinus und die antike | 185

Plotin deshalb ein »Bild« der Ewigkeit, weil aus dem unendlichen »Immer«, das »dort oben« zu schauen ist, ein unbegriffliches Licht einstrahlt in das zeitliche »Auseinander«, das wir »hier unten« sehen und in Begriffen denken. Die Unbegrifflichkeit des Lichtes soll die »Übertragung« – das metapherein – auf das vom Licht Erleuchtete rechtfertigen und den Erleuchteten durch »Wiedererinnerung« zum Licht zurückführen. Der »Realismus« des Schöpfungsdenkens Augustins und der christlichen Patristik bricht radikal mit diesem »Rückhalt« an unbegrifflichen mythisch-metaphorischen Motiven: für Augustinus ist der »ewige Gott« nicht ein »erstrahlendes Jenes«, sondern der Kreator allen Lichtes und aller »Einstrahlung« (illuminatio) in den menschlichen Geist. Creator und creatura werden geradezu »Begriffe«. Damit rücken Zeit und Erinnerung in einen gänzlich anderen Denkhorizont – und auch die Bilder, deren Augustinus sich bedient, bedürfen eines mythischen »Motivs« und »Rückhalts« nicht mehr. Das zeigt sich »rückhaltslos« bereits an dem Unterschied zwischen dem plotinischen Einen und dem einen Gott Augustins. Das Erste und absolut Eine Plotins kann in der Andersheit unserer Sprache nicht ausgesagt werden, ja, es ist selber »sprachlos« (Enn V, 3, 13). Der Gott, den Augustinus denkt, sagt schon im Alten Testament von sich selber: »ich bin, der ich bin« (Exodus 3, 14). Demgemäß geht es dem Kirchenvater darum, »das Wort zu erkennen (intelligendum verbum), das ewig und in dem ewig alles ausgesprochen ist«, und Augustinus bekennt: »nicht anders schaffst du, als indem du sprichst« (Conf XI, 7). In seinen frühen Schriften hatte Augustinus noch Zustimmung geäußert zu der platonischen Rede von der Zeit als Bild der Ewigkeit; jetzt, in den Bekenntnissen, geht es ihm nicht mehr darum, die Endlosigkeit der Zeit zu der ewigen Unendlichkeit in eine wenn auch defiziente Abbildlichkeit zu rücken. Jetzt werden die Dimensionen der Zeit aus der Erinnerung und deren Bildern im durch Gottes Wort erschaffenen menschlichen Geist erschlossen. Gegenüber allzu »plotinisierenden« Lektüren Augustins ist darum festzuhalten: »je näher man in Augustins Text eindringt, umso größer wird die Entfernung Augustins von Plotin«58 – und umso größer wird auch die Distanz der augustinischen Bildtheorie zum »Motivierungsrückhalt« der plotinischen Bildmetaphorik. 186 | drittes kapitel

Trotz des beträchtlichen Einflusses des Neuplatonismus auf die Ideengeschichte ist die europäische Philosophie keine Sammlung von Fußnoten zu den Enneaden Plotins. Neben einer doxographisch dokumentierbaren Rezeption plotinischer Gedanken vor allem zur Metaphysik des »ersten Einen« sowie des »Geistes« und des »Denkens« verzeichnet die Geistesgeschichte – nicht zufällig seit Augustin – auch immer wieder Einsprüche gegen das »emanatistische« Grundkonzept neuplatonischen Philosophierens; und es kann nicht verwundern, daß solche Einsprüche, die sich »kreationistisch« artikulieren, nicht zuletzt den Problemtitel »Zeit« in den Blick nehmen, mit dem es ja nicht lediglich um eine Theorie der »Zeitmessung«, sondern überdies um die Kontingenz der »Zeitlichkeitserfahrung« geht. Läßt man die augustinische Theologie und Philosophie kontingent-kreatürlichen Daseins ein wenig in der Hintergrund treten, dann mag man vielleicht sagen, daß »Augustins Begriff von Gott und Sein nicht denkbar ist ohne die Philosophie des Neuplatonismus, insbesondere Plotins«59; konzentriert man hingegen sein Augenmerk auf den die Confessiones tragenden »bekennenden« Schöpfungsgedanken, dann verändert sich die Szene: weder die Reflexionen Augustins über »Sein« noch diejenigen über »Zeit« bleiben da als eindeutige Anschlüsse an Plotin »denkbar« – die Zeit hat da unbezweifelbar »ihr Sein als Geschöpf Gottes«60, und mit diesem Kreatianismus der Zeit verknüpft sich folgerichtig Augustins wiederum ganz unplotinische Philosophie der Erinnerung; denn die konstitutive »Mitte« der augustinischen Zeitlehre ist »die Gegenwart des Vergangenen in der memoria«61 des von Gott erschaffenen Menschengeistes. Diese Zeitauffassung hat ihren »Rückhalt« nicht in einer metaphysischen Metaphorik des »Auseinandertretens des Lebens« in der »Seele« wie diejenige Plotins. Wenn Augustinus schreibt: »so scheint es mir, als sei die Zeit nichts anderes als eine Ausdehnung (distentio)«, dann fügt er umgehend hinzu: »aber welcher Sache Ausdehnung, weiß ich nicht; sonderbar wäre es indes, wenn es sich nicht um die Ausdehnung des Geistes selber (distentio animi) handelte« (Conf XI, 26) – die Ausdehnung nämlich in eine personal erlebte Zeitlichkeit, »personal als Erfahrungs- und Erkenntnisweise des mit Gott redenden Menschen«.62 Und wenn der Kirchenlehrer diese distentio animi sodann als »Ausdehnung« des Bewußtseins »in drei Zeiten« beschreibt, die sich aussagen lasse als »gegenwärtige Rede über Verrückblick auf augustinus und die antike | 187

gangenes«, als »gegenwärtige Rede über Gegenwärtiges« und als »gegenwärtige Rede über Zukünftiges«63, dann hütet er sich wiederum davor, diese Gegenwart, die dem Vergangenen »zugesprochen« wird, als »Bild« einer ewigen Gegenwart zu bezeichnen. Wohl aber schlägt er eine Brücke von dieser zeitlichen Erinnerungsgegenwart zu der überzeitlichen Selbstgegenwart Gottes, die er ein totum esse praesens nennt, ein »gegenwärtig seiendes Ganzes«, weil Gott ja in seinem schöpferischen Wort »alles zugleich und auf ewige Weise« – simul ac sempiterne omnia – erschaffen hat (Conf XI, 7). Dieses »simul«, dieses »zugleich«: wie ist es zu verstehen? »Versteckt« sich in diesem kleinen Wort ein nun doch auf den Bahnen der plotinischen Ewigkeitsmetaphysik philosophierender Augustinus? Denn das war ja die Lehre des Neuplatonikers gewesen: »in der Ewigkeit ist das Ganze zugleich« (homou to holon, Enn III, 7, 2). Das »Ganze«, von dem Plotin hier spricht, ist die »Gemeinschaft der höchsten Gattungen« (koinonia genon) alles Seienden: »Ruhe«, »Bewegung«, »Identität« und »Differenz« in ihrer Einheit mit dem »Sein«, eine Gemeinschaft, die Platon im Dialog Sophistes (254 d ff.) als dialektischen Zusammenhang beschrieben hatte, um den Sophisten zu bedeuten: wer nicht nur scheinhaftes, sondern »wahres Sein« denken will, muß Ruhe und Bewegung in ihrer jeweiligen Identität und ihrer jeweiligen Differenz, er muß die dialektische Verschränkung dieser Seinsprinzipien vor sein geistiges Auge stellen, um erklären zu können, warum ein Seiendes »in Ruhe« oder »in Bewegung« und dadurch mit anderem Seiendem »selbig« oder von anderem Seiendem »verschieden« ist. Diese dialektisch strukturierte »Einheit der Prinzipien« alles Seienden macht »das Ganze« der platonisch-neuplatonischen »Ewigkeit« aus: als eines, wie Plotin nun lehrt, intelligiblen »Lebens« in einer Einheit, in der das Ganze »immer gegenwärtig« ist in seinem zeittranszendenten »Zugleich« (hama, Enn III, 7, 3). Dieses »zeitlose Zugleich« ist die plotinische Definition einer ausdehnungslosen Ewigkeit des »Geistes«, die durch die »Seele« ihr »Auseinandertreten« in die Zeit als Mimesis und »Abbild« der Ewigkeit erfährt. Vom Ewigen als »überzeitlichem Zugleich« spricht auch Augustinus. Aber ihm geht es jetzt um »das Wort, das ewig ausgesprochen wird« und in dem »auf ewige Weise alles gesagt ist, simul ac sempiterne dicuntur omnia (Conf XI, 7). Und der Christ »denkt beken188 | drittes kapitel

nend«: »nicht anders schaffst du, als indem du sprichst; gleichwohl entsteht nicht alles, was du sprechend erschaffst, zugleich und ewig, nec tamen simul ac sempiterne fiunt omnia, quae dicendo facis« (ebd.). Auch Augustin denkt den Gedanken »ewig« als den Gedanken eines zeittranszendenten »alles zugleich« oder »omnia simul« – aber er denkt ihn als auf das »alles erschaffende« Gotteswort bezogen, und für das »Alles« oder simultane »Prinzipienganze« der neuplatonischen Ewigkeitsidee zeigt er, in den Confessiones jedenfalls, nicht das geringste Interesse. Die Frage, ob und mit welchem Gewicht die Ewigkeitsdefinition Plotins »hinter« Augustins Rede über die »stetig verharrende Ewigkeit« – semper stans aeternitas – steht, darf man darum getrost offen lassen: warum sollte diese Definition den christlichen Denker nicht beeindruckt haben? Entscheidend ist etwas ganz anders: daß für Augustin die »stetig verharrende Ewigkeit« mit »den Zeiten, die niemals rasten, cum temporibus numquam stantibus«, völlig »unvergleichbar, incomparabilis« ist (Conf XI, 11). Wenn da überhaupt etwas »verglichen« werden kann, dann die Selbstgegenwart des Ewigen und die Gegenwärtigkeit erinnerter Zeit; aber auch zu diesem Vergleich erklärt Augustinus ausdrücklich: »in der Ewigkeit gibt es kein Vorübereilen, da ist ein Ganzes gegenwärtig, totum esse praesens; keine Zeit jedoch ist als Ganzes gegenwärtig, nullum vero tempus totum esse praesens« (ebd.). Nur als erinnerte kann Zeit »gegenwärtig« sein, im praesens de praeteritis, im praesens de praesentibus und im praesens de futuris. Solche Gleichzeitigkeit der Zeiten in der memoria bleibt sowohl dem plotinischen Ewigkeits-Zugleich als auch dem Zugleich im ewigen Schöpfungswort »unvergleichbar« – darum kann Zeit kein »Bild der Ewigkeit« sein.64

IX. In regione dissimilitudinis: Augustins Bilddenken im »Reich der Unähnlichkeit« In einer beachtenswerten Studie hat Stanislas Boros von vier »synthetischen Bildern« gesprochen, in denen Augustinus sein Verständnis von Zeit und kontingenter Zeitlichkeit darstellt: Bilder der »Auflösung« für das Schwinden der Zeit, »die zum Nichtsein übergeht« – tendit non esse (Conf XI, 14) – , Bilder der »Agonie« für Krankheit, Alter und Todesfurcht des Menschen, Bilder der »Verrückblick auf augustinus und die antike | 189

bannung« für seine Heimatlosigkeit und unerfüllte Sehnsucht, Bilder der »Nacht« für sein Leben in der Finsternis der Zeitlichkeit.65 Es sind dies in erzählende Sprache gefaßte Bilder, die den Gegensatz von Zeit und Zeitlichkeit zum »Lichtglanz der stetig verharrenden Ewigkeit« Gottes – splendor semper stantis aeternitatis (ebd., XI, 11) – eindringlich vor Augen stellen, und es sind darum Bilder aus dem »Reich der Unähnlichkeit« (ebd., VII, 10) der Schöpfung zu ihrem Schöpfer. Die Idee einer regio dissimilitudinis hatte Platon in der Politeia (273 d) erstmals artikuliert, aber erst durch Augustins Schöpfungsmetaphysik wurde sie einflußreich für das ganze Mittelalter. Auch Plotin formulierte eine Idee der Unähnlichkeit, als er zum Ausdruck bringen wollte, wie die »Seele« in den »Schlamm des Bösen« abstürzen kann (Enn I, 8, 13), obwohl sie, als Bild des »Geistes«, sich ihres ewigen Urbildes wiedererinnern und zu ihm zurückkehren soll (Enn III, 7, 1): ihre Ähnlichkeit mit dem Urbild ist stets größer als ihre durch den »Fall« entstandene Unähnlichkeit. Für Augustinus hingegen markiert die regio dissimilitudinis die unaufhebbare metaphysische Differenz zwischen dem Sein der Schöpfung und dem Sein ihres Schöpfers. Alle Bilder, die Augustin in seinen Schriften vorstellt, sind im Bewußtsein dieser Differenz konzipiert; sie bleiben immer Bilder, die sich der Mensch in seinem »Reich der Unähnlichkeit« macht. Sogar die imago trinitatis in anima ist ein durch seine Unähnlichkeit zum dreifaltig-einen Wesen Gottes »gebrochenes« Darstellungsbild. Diese augustinische Bildertheorie gründet sich auf die Einsicht: »mein Leben ist eine sich ausdehnende Zerstreuung« – distentio est vita mea (Conf XI, 29). Dem Bilddenken Augustins muß es deshalb darum gehen, die »zerstreuten« Momente des vitalen und geistigen Lebens des Menschen zu einer »Synthese im Bild« zu bringen – wie memoria, intelligentia und voluntas »eine in sich selber ruhende Wirklichkeit« darstellen (trin X, 18), um so zu einem unähnlichen Bild der göttlichen Dreieinigkeit zu werden. Die Bilder, die Augustinus erzählend entwirft, sind im »Reich der Unähnlichkeit« erzeugte ikonische Synthesen »zerstreuten« menschlichen Lebens: von daher wächst ihnen ihr Eigensinn und Eigenstand zu, ihre ikonische Subsistenz. Und das bedeutet: Augustin bricht mit der Bildermetaphorik der plotinischen Philosophie, dieser emanatistischen Metaphorik einer gestuften »Wiederholung« des ewigen »Immer«. 190 | drittes kapitel

Distentio est vita mea: wenn der christliche Philosoph auf sein »ausgedehntes« und in solcher Ausdehnung im Reich der Unähnlichkeit auch »zerstreutes« Leben blickt, wenn er zudem die Zeit »so etwas wie eine Ausdehnung« nennt – tempus esse quandam distentionem (Conf XI, 23) – , macht er sich damit zweifellos den plotinischen Gedanken eines »Auseinandertretens des Lebens« (diastasis zoes) zueigen; aber Augustinus verfremdet auch dieses neuplatonische Theorem, um es in seine memoria-Lehre einfügen zu können. Plotin hatte das Auseinandertreten des Lebens in ein zeitliches Vorher und Nachher ja als Absturz der »Weltseele« begriffen, die für ihn, trotz ihres »Falls«, in ihrem Wesen immer noch ein Ähnlichkeitsbild des zeitlosen »Geistes« blieb. Augustin hingegen denkt die distentio oder diastasis des Lebens und der Zeit von einer distentio animi (ebd., XI, 26) her, einer »Ausdehnung« des menschlichen Geistes, der in seiner memoria alle Zeitlichkeit und alle Zeit zu einer erlebten und reflektierten »Synthese« bringt66, erlebt in den gegenwärtigen Bildern (imagines) von Vergangenem, »das nicht mehr da ist«, reflektiert in den schon gegenwärtigen Zeichen (signa, ebd., XI, 18) für Zukünftiges, »das noch nicht da ist«. Die memoria arbeitet figurierend in Bildern und Zeichen. In den Kapiteln 27 und 28 des 11. Buches der Bekenntnisse beschreibt Augustinus, wie die Figuren der Erinnerungsbilder zustande kommen: Dinge, die wir wahrnehmen, so überlegt er da, erzeugen in uns eine Zuständlichkeit (affectio), die wie etwas Eingeprägtes (infixum) »bleibt«; in der Erinnerung »messen« wir folglich nicht die Dinge selber, die an uns »vorüberziehen« wie Töne, sondern nur die von ihnen hinterlassene Prägung, und wir »messen« diese Prägung ebenso in einem gegenwärtigen Erinnern, wie alle Zeit in der Gegenwart gemessen wird. Unser Geist richtet nun seine Aufmerksamkeit auf die ihm eingeprägte Zuständlichkeit in der Weise einer attentio, einer spontanen Hinwendung, »so, daß er übergeht in dasjenige, was er erinnert«. Wenngleich die memoria sich mit Vergangenem befaßt, ist dennoch diese aktive augenblickliche Hinwendung auf die passiv erfahrene Prägung »gegenwärtig« – praesens est attentio mea. »Wer wollte denn leugnen, daß das Vergangene nicht mehr da ist? Und dennoch ist im Geist die Erinnerung an das Vergangene«, aufgrund nämlich seiner aufmerksamen Hinwendung auf das durch die Sinne ihm Eingeprägte. Im Text dieser beiden Kapitel der Confessiones ist rückblick auf augustinus und die antike | 191

von »Bildern« gar nicht die Rede, wohl aber von der Weise ihrer Figuration: Augustin analysiert hier die synthetische Struktur der imagines memoriae, ihr Aufgespanntsein zwischen einem passiv hingenommenen infixum und der aktiven attentio des Geistes. Erinnerungsbilder sind für Augustin keine »toten« Kopien, sondern »lebendige« ikonische Synthesen aus passiver Sinnlichkeit und aktiver Geistestätigkeit: es ist die attentio animi, die das zu erinnernde Vergangene und die Selbstgegenwart des Geistes zusammenfügt und zu einer Figur gestaltet. Das Erinnerungsbild, zu einer anschaulichen Synthese figuriert durch den attentiven Zugriff des Geistes auf die Affektionen, welche die Dinge der Welt des Unähnlichen in uns hinterlassen – das ist ein Bild, wie es nur ein Denken zu konzipieren vermag, das seiner unlösbaren Verkettung mit der regio dissimilitudinis sich bewußt bleibt und nicht in einem ihm ähnlichen »dort oben« seine Zuflucht sucht. Sogar die imagines memoriae vermag es darum nicht anders zu denken als mit einer dissimilitudo behaftet: einander »unähnlich« sind ja auch das in-fixum, dieses von den Dingen der immer unähnlichen Welt uns eingeprägte Stigma, und die ad-tentio, der spontane Akt des Geistes, der die Eindrücke der Dingwahrnehmung in die Synthese des Erinnerungsbildes einholt, um zugleich einer uferlos sich ausdehnenden dis-tentio des Lebens und der Zeit Einhalt zu gebieten. Augustinus stellt die attentive Gegenwärtigkeit des Erinnerns – als praesens de praeteritis und als praesens de futuris – nicht nur in die Mitte der Zeiten; er stellt sie einer »objektiv« schrankenlosen Ausdehnung der Zeit und des Lebens auch entgegen: die attentio ist der in die Synthesis des Erinnerungsbildes eingetragene Widerpart einer grenzenlosen Ausdehnung von Zeit und Leben. Als »zerstreuende« ist diese distentio ein Strukturmerkmal der regio dissimilitudinis. Das Denken im »Reich der Unähnlichkeit« muß dem Rechnung tragen, und darum spricht Augustin von der distentio animi, der Ausdehnung des Geistes in erinnerte Vergangenheit und erwartete Zukunft, aber er hält sofort fest: dieser distentio ist die attentio animi bleibend gegenwärtig – tamen perdurat attentio (Conf XI, 28). Auch hier beschreibt er eine Synthese »unähnlicher«, ja gegensätzlicher Geistesvollzüge, die dem synthetischen Erinnerungsbild korrepondiert. Und ohne das Denken solcher Synthesen könnte Augustinus niemals sagen: in der Erinnerung »begegne ich mir selber« (ebd., X, 8). 192 | drittes kapitel

Wir finden bei Augustin noch keinen Begriff des »Selbst«, des »Subjekts« und seines »Selbstbewußtseins«, aber sehr wohl eine schürfende Reflexion über den »inneren« Menschen, der sich seiner selbst erinnert. Ich stimme Charles Taylor zu, wenn er notiert: »es ist kaum übertrieben zu sagen, daß Augustin derjenige war, der die Innerlichkeit der radikalen Reflexivität ins Spiel gebracht und der abendländischen Denktradition vermacht hat. Das war ein schicksalhafter Schritt«67 – aber ich möchte hinzusetzen: ein Schritt, mit dem er das Denken der vorchristlichen Antike überschritten hat.

rückblick auf augustinus und die antike | 193

Viertes Kapitel »Erkenntnisrelevante Anschaulichkeit«. Die Bilder im Erinnerungsbewußtsein zwischen Anschauung und Begriff

»Es ist von höchster Wichtigkeit für die kommende Philosophie, zu erkennen und zu sondern, welche Elemente des Kantischen Denkens aufgenommen und gepflegt, welche umgebildet, und welche verworfen werden müssen« (Walter Benjamin)

In den ersten drei Kapiteln und im Renaissance-Exkurs dieses Buches haben wir einen retrospektiven Längsschnitt durch die Ideengeschichte des memoria-Denkens gelegt, um uns die sachlichen und epochalen Kontexte vor Augen zu stellen, unter deren Voraussetzungen die Philosophie, von der Antike bis zur Gegenwart, sich an den Problemtiteln »Erinnerung« und »Verbildlichung« abgearbeitet hat. Dabei sollte deutlich werden, daß »Gedächtnis und Erinnerung« für den Philosophen niemals ein isolierbares Thema sein kann, kein Thema mithin, das sich aus seiner Vernetzung mit den Fragen nach Subjektivität, nach Figuration, nach sinnlicher Wahrnehmung, Erfahrung und Begriff , nach Zeit und Ewigkeit herauslösen ließe, um schließlich in einer Semiotik »kulturellen Gedenkens« seine spezifische Brisanz zu verlieren. Dieser retrospektive Längsschnitt war aber auch nicht »philosophiehistorisch« gemeint1, er blieb stets systematisch an dem Bilderproblem orientiert, das sich seit Aristoteles mit der Reflexion über Erinnerung verknüpft und – am Ende der »Vormoderne« – noch Giambattista Vicos Neue Wissenschaft fundiert, die an die Anfänge aller menschlichen Kultur erinnert; deshalb ist Vico an den Beginn unserer Überlegungen gestellt. In welchem Maße dann das »moderne« philosophische Nachdenken über Erinnerung sich geradezu erschöpft, ist paradigmatisch und nach zwei Seiten hin an der klassischen deutschen Philosophie ablesbar, sei es bei Hegel an der »Aufhebung« der bildhaften memoria in ein In-sich-gehen der freien Intelligenz, in ein | 195

vorstellungsfreies spekulatives Denken, sei es bei Kant an der Exilierung von Gedächtnis und Erinnerung in eine anthropologische »Pragmatik« als folgerichtige Konsequenz aus der transzendentalphilosophischen Bipolarität von »Anschauung« und »Begriff«, der jedwede erkenntnisrelevante »Anschaulichkeit« der Erinnerungsbilder, dieser Mittlerinstanz zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zum Opfer fällt. Von solcher erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit der Bilder im Erinnerungsbewußtsein war nun schon oftmals die Rede. Was ist mit diesem Konzept gemeint, wie ist es schärfer zu konturieren? Um diese höchst diffizile Frage zu beantworten, legen wir jetzt einen Querschnitt durch die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins. In diesem vierten Kapitel soll zur Diskussion stehen, inwiefern die anschaulichen Bilder der Erinnerung Dispositive für menschliche Erkenntnis sind. Zunächst werden wir unseren Blick auf die »sprachbewegte Form« erkenntnisrelevanter Veranschaulichung richten (Abschnitt I) und ein »anschauliches Denken« von jenem »erkennenden Anschauen« unterscheiden, von dem Hegel gesprochen hatte (Abschnitt II). Sodann wird die Verknüpfung des anschaulichen Erinnerungsbildes mit dem »inneren Wort« des Bewußtseins zu untersuchen sein – eine Verknüpfung, die im Hinblick auf das Vergessen als ein »Wertgefüge« zu bezeichnen ist (Abschnitt III). Ein eigener Abschnitt muß deshalb der Wittgensteinschen Philosophie der »normalen Sprache« gewidmet werden, die zu dem augustinischen und mittelalterlichen Konzept eines bildhaften verbum intimum keinen Zugang mehr finden kann (Abschnitt IV). Schließlich ist die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins vom »Wahrnehmungsbewußtsein« abzuheben und in den Kontext der »Aufmerksamkeit« auf die Bilder der memoria zu rücken, womit das »Ich«, das Subjekt dieser Aufmerksamkeit, thematisch wird (Abschnitt V). Auf der Linie dieser Überlegungen wird schlußendlich eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Neurowissenschaft unverzichtbar, die zwar die neuronalen Vernetzungen von Gedächtnisprozessen beschreiben kann, aber die Frage nach dem »sich erinnernden« Subjekt mit seiner das Erinnerte »sich veranschaulichenden« Intentionalität nicht mehr zu beantworten vermag. Die Neurobiologie bleibt an die »Anschauung« von Repräsentationen und Metarepräsentationen im Gehirn gefesselt; zu einem Ichbewußtsein, das sich die Bilder der memoria intentional »veranschaulicht«, vermag sie nicht vorzustoßen (Abschnitt VI). Ab196 | viertes kapitel

geschlossen wird das Kapitel mit Überlegungen zur »visual mental imagery« (Abschnitt VII). * * * Um einen Querschnitt durch das veranschaulichende Erinnerungsbewußtsein legen zu können, müssen wir noch einmal auf Kant zurückblicken. Wenn Kant nämlich Sinnlichkeit und Verstand zwei »verschiedene Stämme« der Erkenntnis nennt, wenn er lehrt, daß weder »Anschauung ohne Begriffe« noch »Begriffe ohne ihnen korrespondierende Anschauung« eine Erkenntnis abgeben können (KrV, B 74), dann bedeutet das: die Begriffsbildung des Königsberger Philosophen folgt einer logischen Form, deren Dualismus einzig durch einen transzendentalen Überbau in eine »Synthese« eingeholt wird. Solche logische Form der Begriffsbildung unterscheidet sich fundamental von einer sprachlichen Form der Begriffsbildung, für die niemals die »ruhende Betrachtung und Vergleichung« von Angeschautem und Gedachtem entscheidend werden kann, weil sie »mit bestimmten dynamischen Motiven durchsetzt ist« – so sagt es sogar der »Kantianer« Ernst Cassirer, der sich da dem »anschaulichen« Goethe wohl noch mehr verbunden sieht.2 Der Kantische Anschauungsbegriff, obwohl ihm die sinnliche Wahrnehmung beigesellt ist, trägt jedenfalls keine dynamischen Züge; er bleibt eine statischlogische Gegeninstanz zum Begriff – er ist selber eine begriffliche Abstraktion von den dynamisch bewegten Weltwahrnehmungen des Menschen. Eben darum steht bei Kant ja zu lesen: wenn der »Begriff« auf »Anschauungen« angewiesen ist, darf das lediglich heißen, daß die ihm »korrespondierende« Anschauung entweder »a priori gegeben« sein muß oder dem Begriff »untergelegt« werden kann – und zwar vom begrifflich arbeitenden Verstand selber (KdU, § 59).

I. Veranschaulichung als »sprachbewegte Form« »Veranschaulichung« ist mehr und anderes als die Kantische »Anschauung«: sie darf diesem logisch geformten Quasibegriff keinesfalls gleichgestellt werden. Die sprachliche Form der Ausdrücke »Anschaulichkeit« und »Veranschaulichung« ebenso wie die des Adjektivs »anschaulich« ist im Deutschen ablesbar an dem Suffix »-lich«, das die Statik des einfachen Grundwortes »Anschauung« – »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 197

das als logischer Begriff verwendet werden kann – modifiziert und gleichsam in Bewegung setzt. Alle Veranschaulichung ist ja Bewegung, und wenn die Sprachwissenschaft dieses Suffix »-lich« auf das Wort »likea«, Leib, zurückführt, dann wird daran sogar deutlich, daß die Sprachfigur »Veranschaulichung« als Hinweis auf eine leibhafte Bewegung verstanden werden muß3, auf eine Dynamik also, welche die Statik des logischen Begriffes sprengt. In eben diesem Sinne spricht wiederum Cassirer von einer »Erhebung des substantialen Ausdrucks zu einer neuen Formansicht«.4 »Veranschaulichung« kann also als Einholung der statischen »Anschauung«, mit der Kant operiert, in ein sie qualifizierendes dynamisches Konzept »begriffen« werden. Wenn Walter Benjamin es zu einer »höchst wichtigen« Aufgabe der Philosophie rechnet, »zu sondern, welche Elemente des Kantischen Denkens umgebildet werden müssen«5, dann gehört zum Pensum einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ganz unbezweifelbar die Umbildung der von Kant in die logische Begriffsform gegossenen »Anschauung« in eine aus ihrer Sprachform begriffene »Veranschaulichung«. »So gewinnt […] auch die Frage nach dem Verhältnis von »Begriff« und »Anschauung« […] eine wesentlich komplexere Gestalt«, die der »Mehrdimensionalität der geistigen Welt« entspricht und die es ermöglicht – so formuliert es Cassirer in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt – , daß der Mensch »mit den anschaulichen Gegenständen nicht anders verkehrt und nicht anders lebt als in der Art, wie das Medium der Sprache es ihm zeigt«.6 Erst eine derartige Umwandlung des Kantischen Anschauungsbegriffs in ein der Sprache abgelesenes dynamisches Veranschaulichungskonzept öffnet die Augen des Geistes wieder für das Bild und den Umgang mit ihm, den Herder »Reflexion« genannt hat: der Mensch »beweist Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen […] kann«.7 Diese die Bilder »in Obacht nehmende« Reflexion Herders spekuliert nicht über Bilder, sondern strukturiert sie durch das Wort: »die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande […] einverleibt: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf 198 | viertes kapitel

Erden ein utopisches Land«.8 Und wenn Humboldt in der Einleitung zu seinem Werk Über die Kawi-Sprache davon redet, daß das Wort nicht Abdruck eines Gegenstandes ist, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes, dann deckt sich das mit dem Satz in Augustins Bekenntnissen: »wenn ich spreche, sind alle Bilder von dem, was ich sage, aus der Schatzkammer der memoria gegenwärtig, und ich vermöchte nichts von all dem zu benennen, wenn diese Bilder fehlten« – Bilder, die überdies, vermöge des sie artikulierenden Wortes, »des Denkens gewärtig sind«. »Anschaulichkeit« und »Veranschaulichung« – dem Theoretiker der »Logik der Erkenntnis« gelten sie als Sprach- oder Vorstellungsfiguren von notorischer Mehrdeutigkeit; weil sie ein sensitives und ein »logisch« nicht eindeutig bestimmbares kognitives Moment verkoppeln (und deshalb nahezu den Charakter von Metaphern zu haben scheinen), überläßt er ihre Erörterung in der Regel doch lieber dem Experten für poetische und malerische Darstellung, also dem Ästhetiker. Davor hatte freilich schon Ludwig Tieck eindringlich gewarnt: »trennt überhaupt nur immer recht scharf und konsequent , was die dichterische Anschauung, was die philosophische seyn könnte, so habt ihr schon die Basis der Natur und Existenz verloren. Der Denker, der beim Dichter nichts lernen kann, ist noch schlimmer daran als der Dichter, dem das Denken überflüssig und lästig ist«.9 Und es ist nun tatsächlich Alexander Gottlieb Baumgarten gewesen, der erste Verfasser einer Wissenschaft der Ästhetik, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Gedanken einer für das ingenium »notwendigen Anschaulichkeit« konzipiert hat – notwendig deshalb, weil die Ästhetik eine Wissenschaft der sensitiven Erkenntnis sein muß, die in »Analogie« zur ars rationis, zur Vernunftkunst, zu entwickeln ist. Dem »streng logischen Denken« kann es nach Baumgartens Überzeugung nur schaden, wenn diese Analogie »vernachlässigt und verdorben« wird, liegt in ihr doch die »wahre Vollkommenheit« des Denkens beschlossen. So verwundert es nicht, wenn Baumgarten jetzt auch die renaissancetypischen Konzepte des ingenium und der figura in seine Ästhetik einflicht und und von »Figuren« sei es im Bereich des »sprachlichen Ausdrucks«, sei es in dem der »Sachen und Gedanken« spricht, Figuren, »die anschaulich machen, überzeugen und uns in Bewegung bringen«: sie gehören alle zur »Schönheit der Erkenntnis«.10 Kant mochte diesen Entdek»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 199

kungen Baumgartens nicht folgen – und hat sich damit die harsche Kritik des Romantikers Tieck eingehandelt; aus der figura, die bei Baumgarten auch schema heißt, hat er den transzendentalen »Schematismus« destilliert, der figürliche Bilder nur »ermöglichen« darf, um schließlich die Ästhetik, die bei Baumgarten noch zur Metaphysik gehörte11, in die Kritik der Urteilskraft zu versetzen. Baumgarten, Herder und Humboldt haben einen Zugriff auf den Problemtitel »erkenntnisrelevanter Anschaulichkeit« wieder ermöglicht, Ernst Cassirer ist diesem Zugriff gefolgt; in welcher Weise darf die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins die Überlegungen dieser Autoren aufnehmen?

II. »Anschauliches Denken« oder »erkennendes Anschauen«? Der iconic turn in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften und der nicht mehr ganz taufrische linguistic turn in der Philosophie: sollten beide ihren Schnitt- und Brennpunkt nicht in der sprachlich-dynamischen »Formansicht« der anschaulichen Bilder im Bewußtsein suchen? Das könnte der Weg zu einem »anschaulichen Denken« sein, auf dem der Kultursemiotik der memoria einerseits und der bildlos-theoretischen Philosophie der Subjektivität andererseits, mit Wittgenstein gesprochen, ein Ausweg aus ihrer beider »Fliegenglas« sich öffnen würde – und auf dem das anschauliche Denken vor dem Mißverständnis geschützt wäre, »nur ästhetisch« zu sein. Einen solchen Weg und Ausweg hat auch der Kunstphilosoph Rudolf Arnheim im Blick, wenn er schreibt, »das Anschauliche« sei niemals in die gesonderte und »privilegierte« Zone des Ästhetischen zu verbannen; denn anschauliches Denken meint »die Fähigkeit, Sinnesformen als Abbilder von Kräftefigurationen zu sehen, die unserem Dasein zugrunde liegen, und zwar sowohl der Tätigkeit des Geistes wie auch der des Körpers«. Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind nun fraglos Sinnes-Formen, welche einerseits Figuren der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung, »abbilden« und andererseits der Erkenntnistätigkeit unseres Geistes »zugrunde« liegen (oder zumindest zugrunde liegen können) – nichts anderes hat Aristoteles gelehrt. Arnheim darf deshalb hinzufügen: »das ästhetische Moment ist an jeder Art von Verbildlichung beteiligt« und gleichzeitig be200 | viertes kapitel

merken, es sei »noch nicht genügend anerkannt, daß die Wahrnehmungs- und Bildformen nicht bloße Übersetzungen von Denkergebnissen, sondern das Fleisch und Blut des Denkens selbst sind«. Er folgert daraus: »es gilt, die Brücke zwischen Wahrnehmung und Denken wieder aufzubauen«12 – aber wohlgemerkt: nicht darum geht es, die Differenz zwischen sinnlicher Wahrnehmung und begrifflichem Denken logisch und transzendental zu überbrücken, wie Kant es tat, sondern die Bewußtseinsdimension zwischen »Anschauung« und »Begriff«, die der Transzendentalphilosoph nicht auszuschreiten vermochte, auszufüllen. In den Kapiteln über den »theoretischen Geist« in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften hat auch Hegel diese Aufgabe in Angriff genommen. Wir haben uns mit diesen Kapiteln schon einmal befaßt, schlagen sie jetzt aber von neuem auf, um zu prüfen, ob Hegel Hilfestellung leisten könnte bei unserer Querschnittlegung durch die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins, die wir unter den Titel rückten: »Veranschaulichung als sprachbewegte Form«. Anlaß dazu geben uns die Bemerkungen zur »Sprache« und zum »Anschaulichen«, die Hegel in diesen Texten macht. Um uns vor Augen zu stellen, auf welche Weise sie eine »Brücke zwischen Wahrnehmung und Denken« konstruieren, müssen wir zuvörderst ihre Architektur betrachten, um sodann zu fragen, ob ein »anschauliches Denken« dieser Hegelschen Brückenzeichnung sich einpassen läßt. Hegels »Psychologie« schreibt dem bei Kant farblos gebliebenen Raum zwischen Anschauung und Begriff eine bunte Skala von Bewußtseinsschritten ein: die »Momente« des Anschauens, Vorstellens und Erinnerns, in denen von Anfang an das »Erkennen« sich verwirklicht, und die selber deshalb auch nur für das Erkennen »nützlich« sind. Das Baugerüst dieser Aufstiegsskala vom Anschauen zum Erkennen, dem »Tun der Intelligenz«, ist nun aus sich wiederholenden dialektischen Dreierschritten gezimmert: die Anschauung, die auf einzelne Objekte sich richtet, wird »zurückgenommen« in eine Vorstellung, welche die Einzelheit des angeschauten Gegenstandes auf ein Allgemeines bezieht, das schlußendlich von der erkennenden Intelligenz »begriffen« und in seinem Sein »bestimmt« wird – weil einzig »dasjenige, was wir denken, auch ist«. Diese Intelligenz arbeitet immer schon in der Anschauung: zuallererst in der Empfin»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 201

dung13 eines Dinges, um sodann das Empfundene durch einen Akt der Aufmerksamkeit14 zu »fixieren« und den empfundenen Gegenstand schließlich als ein ihr selber »Äußerliches« zu denken. Die Vorstellung – Mitte der Skala, weil imstande, das wahrgenomene Einzelne in ein denkbares Allgemeines »zurückzunehmen« – umfaßt die Erinnerung (die »alte« memoria mit ihren Bildern), die Einbildungskraft und das Gedächtnis (das »nicht mehr mit dem Bilde zu tun hat«, sondern nurmehr mit auf Namen, Zeichen und Bedeutung reduzierter Sprache umgeht), und am Ende der Aufstiegslinie fächert das Denken sich auf in Verstand, Urteil und Vernunft (Enz § 445 mit Zusatz). Die Brückenkonstruktion, die Hegel vom Anschauen zum Erkennen entwirft, folgt mithin nicht dem Kantischen Bauplan, der Anschauung und Begriff, als Gegensätze, einander nur »korrespondieren« läßt. Der logisch-bipolaren Denkweise Kants stellt Hegel eine dialektische entgegen, welche die Unmittelbarkeit des Anschauens in die Vorstellung aufhebt und einem denkenden Erkennen vermittelt, das jetzt die Vorstellung und das Anschauen übergreift. Resultat solchen »Übergriffs« ist Hegels Kant-kritische Rede von einem »erkennenden Anschauen« (das ich in der Überschrift dieses Abschnitts dem »anschaulichen Denken« gegenübergestellt habe). In diesem dialektisch bewegten »Übergriff« geht die Statik des Kantischen Korrespondenzmodells zugrunde, nämlich in den »Geist« als ihren Grund, und das »Anschauen, Vorstellen, Erinnern« geraten dadurch zu »Tätigkeitsweisen des Geistes als solchen«, sodaß Hegel jetzt behaupten kann: »so ist der Geist die schlechthin allgemeine, durchaus gegensatzlose Gewißheit seiner selbst« (Enz § 440 mit Zusatz). Nurmehr die Tätigkeit des »freien Geistes« darf es folglich sein, »durch welche das scheinbar fremde Objekt, statt der Gestalt eines Gegebenen, Vereinzelten und Zufälligen, die Form eines Erinnerten, Subjektiven, Allgemeinen, Notwendigen und Vernünftigen erhält« (Enz § 443 Zusatz). Die »gegensatzlose« Selbstgewißheit des Hegelschen Geistes übergreift15 den Kantischen »Gegensatz« von Anschauung und Begriff: der Geist »hat sich zur Wahrheit der Seele und des Bewußtseins bestimmt«, er »fängt daher nur von seinem eigenen Sein an und verhält sich nur zu seinen eigenen Bestimmungen«. Die Theorie des subjektiven Geistes interessiert sich darum für dessen Tätigkeiten 202 | viertes kapitel

– für das Anschauen, Vorstellen und Erinnern – weder hinsichtlich ihres empirischen »Inhalts« noch hinsichtlich ihrer naturbestimmten »Form«; denn »Geist als solcher« ist »frei« und »über das Materielle überhaupt erhoben« (Enz § 440 mit Zusatz). Das Tun des theoretischen Geistes besteht wesentlich im »Erkennen« – nicht derart, daß er anschaut, vorstellt, erinnert und »unter anderem« auch noch erkennt; Anschauen, Vorstellen und Erinnern geraten vielmehr zu »Momenten der Totalität des Erkennens selbst«, nämlich zu erkennendem Anschauen, erkennendem Vorstellen und erkennendem Erinnern. Die Intelligenz des theoretischen Geistes streift somit alle »Zufälligkeit« ab, sie bringt in sich selber die Kontingenz jedweden Anschauens und Erinnerns zur »Aufhebung«. Es möchte ja durchaus sein, gesteht Hegel zu, daß Anschauung und Erinnerung »für sich selbst Befriedigung gewähren«; »wahre Befriedigung« schenkt indes erst das »vom Geist durchdrungene« Anschauen, Vorstellen und Erinnern (Enz § 445 mit Zusatz). Das klingt klug und angesichts der herkömmlichen Unterscheidung verschiedener »Vermögen« des menschlichen Geistes auch vernünftig – solange man außeracht läßt, daß es Hegel in gezielter Absicht um die »gegensatzlose Selbstgewißheit« des Geistes geht, und zwar »des Geistes als solchen«, und daß deshalb nach seiner Überzeugung weder dem Anschauen noch dem Erinnern ein ihnen selber »immanenter Sinn« zugesprochen werden dürfe – eine im Gefälle idealistischer Geistphilosophie gewiß »vernünftige« These, die jedoch im Rahmen einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins niemals »klug« genannt werden kann. Denn ein der veranschaulichenden Erinnerung »immanenter Sinn« liegt gerade darin, uns unserer menschlichen Ungewißheit, Kontingenz und Zufälligkeit bewußt werden zu lassen. Für uns ist jetzt wichtig zu erkunden, wie Hegel mit den Problemtiteln »Anschaulichkeit« und »Veranschaulichung« umgeht, also – wie schon skizziert – mit »sprachlich bewegten« und »qualifizierenden« Anschauungsformen, die nicht schon durch den Übergriff eines Geistes »als solchen« auf ein bereits »erkennendes« Anschauen »bestimmt« sein können. Dem Philosophen der »gegensatzlosen Selbstgewißheit« des Geistes bleibt nur übrig, ihnen ihre Stelle im Bereich der »Empfindungen« zuzuweisen, in welchem »der Mensch der Gewalt seiner Affektionen unterwürfig ist«. Demgemäß »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 203

erklärt er: »so wissen wir zum Beispiel, daß, wenn jemand imstande ist, die ihn überwältigenden Gefühle der Freude oder des Schmerzes etwa in einem Gedichte sich anschaulich zu machen, er das, was seinen Geist beengte, von sich abtrennt und sich dadurch Erleichterung oder völlige Freiheit verschafft«. Die Betrachtung der vielen Seiten einer Empfindung »vermehrt« deren Gewalt, die indes »vermindert« werden kann, wenn man seine Empfindungen zu etwas »Gegenüberstehendem« und »Äußerlichwerdendem« macht. So habe Goethe durch seinen Werther »sich selbst erleichtert«, während er seine Leser »der Macht der Empfindung unterwarf«. Festzuhalten bleibt zweierlei: zum einen, daß Hegel aufgrund seiner Philosophie des selbstgewissen Geistes davon überzeugt ist, daß Empfindungen »je nach dem Grade der Stärke des reflektierenden und des vernünftigen Denkens mehr oder weniger abtrennlich von uns« sind, und zwar vermittels einer »Umgestaltung« des Empfundenen in eine »Form der Äußerlichkeit« kraft der das Empfundene »bestimmenden Intelligenz«; zum anderen, daß hier mit keinem ernst zu nehmenden Wort von einer Veranschaulichung der Empfindung durch eine sie artikulierende Sprache die Rede ist (und schon gar nicht von einem Erinnern des Empfundenen, das sich »sprachlich äußern« dürfte). Das Empfundene »erhält vom anschauenden Geiste die Form des Räumlichen und Zeitlichen« (Enz § 448 mit Zusatz), und das bedeutet: der anschauende Geist stellt im erkennenden Anschauen sich dar und übergreift alle sprachlich qualifizierte »Veranschaulichung«, indem er sie, als »Form der Äußerlichkeit«, in seine eigene »Form der Innerlichkeit« aufhebt. Sodann erklärt Hegel, die Intelligenz finde in der Phantasie ihre eigene »bildliche Existenz«, und zwar als »Gebilde ihres Selbstanschauens«: hier komme ein Inneres und ein Äußeres zu einer »Vereinigung des Eigenen oder Inneren des Geistes und des Anschaulichen«. Weil in solcher Vereinigung die Intelligenz sich selber anschaut, muß »der Gehalt der Phantasie als solcher gleichgültig« werden und die Phantasie »symbolisierend« bleiben – wie zum Beispiel dann, wenn sie die Stärke Jupiters durch einen Adler symbolisiert oder »verbildlicht«. Ein derart von der symbolisierenden Phantasie produziertes Bild nennt Hegel »subjektiv anschaulich«; erst die »zeichenmachende« Phantasie, die sich »willkürlich« einen äußerlichen Stoff »zu etwas Anschaubarem macht« und vom In204 | viertes kapitel

halt eines Bildes »freigeworden« ist, fügt dieser »subjektiven« eine »eigentliche Anschaulichkeit« hinzu – wie beispielsweise mit dem Zeichen einer Flagge, die etwas gänzlich anderes »bedeutet« als sie unmittelbar »anzeigt«. Mittels dieser zeichenmachenden Phantasie schreitet die Intelligenz zu einer »objektiven« – das subjektiv anschauliche Phantasiebild übergreifenden – Vorstellung fort, und demgemäß heißt es jetzt: »wenn die Intelligenz etwas bezeichnet hat, ist sie mit dem Inhalte der Anschauung fertig geworden und hat dem sinnlichen Stoff eine ihm fremde Bedeutung gegeben« (Enz § 457 mit Zusatz). Das Zeichen, »namentlich das Sprachzeichen«, ist Produkt der Intelligenz, die jedwede Anschauung und alle subjektive Anschaulichkeit »als die ihrige gebraucht« und »deren unmittelbaren und eigentümlichen Inhalt tilgt« – Sprache hat in der Theorie des subjektiven Geistes einzig als die Manifestation der Intelligenz »in einem äußerlichen Elemente« eine Funktion (Enz §§ 458; 459). Weder eine in sich selber »erkenntnisrelevante« Anschaulichkeit noch eine »sprachbewegte Form« der Veranschaulichung von Empfundenem und Erinnertem lassen in Hegels Bauplan des subjektiven Geistes sich eintragen. In diesem Bauplan wird »das elementarische Material der Sprache« von dem »Formellen der Sprache« – als »Werk des Verstandes, der seine Kategorien in sie einbildet« (Enz § 459) – durch die »Macht« der Intelligenz übergriffen, und deshalb muß schließlich auch das Bild des Löwen ebenso wie das dieses Bild artikulierende Wort im Namenszeichen »Löwe« zugrunde gehen; denn »es ist in Namen, daß wir denken«. Im Zusatz zum § 462 der Enzyklopädie von 1830 steht nun zu lesen, es sei »lächerlich, das Gebundensein des Gedankens an das Wort für einen Mangel des ersteren und für ein Unglück anzusehen«, denn »das Wort gibt den Gedanken ihr würdigstes und wahrhaftestes Dasein«. Diese Sätze haben nicht wenige Hegelforscher zu der Annahme verführt, »Sprache« sei doch wohl überhaupt das leitende Thema dieses Philosophen16, und neuerdings wurde sogar behauptet, Hegel habe als erster den linguistic turn vollzogen17. Um uns das »Unglück« vor Augen zu führen, das Hegels Sprachdenken dem veranschaulichenden Wort bereitet, dürfte es hilfreich sein, den Blick auf einige wenige Texte Humboldts zu werfen. Für Humboldt ist Sprache nicht ein ergon, ein »Produkt« oder »Werk« des menschlichen Geistes, sondern eine energeia, eine dy»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 205

namische Wirklichkeit eigenen Rechts und aus eigener Kraft, welche Sinnlichkeit und Vernunft, »Objektivität« und »Subjektivität« miteinander verschränkt. Ihren dynamischen Charakter erklärt Humboldt, beispielsweise, mit der Überlegung: Sprache »darf weder ganz ein Abbild des Darzustellenden noch bloß ein Zeichen für dasselbe, und muß doch beides zugleich sein«.18 Denn als Bild eines Darzustellenden dürfte sie der Willkür ihres Gebrauchs keinen Spielraum lassen, und als bloßes Zeichen eines darzustellenden Gedankens hätte sie willkürlich »alles Leben getötet«19 – mit Zeichen lasse sich ohnehin »nur ein kleiner Teil der Masse des Denkbaren erschöpfen, da diese Zeichen ihrer Natur nach nur auf solche Begriffe passen, welche durch bloße Konstruktion erzeugt werden können«.20 Sprache muß folglich Bild und Zeichen »zugleich« sein. In der Sprache allein des Zeichens kann nur gedacht werden, was »bezeichnet« ist; die Bildersprache, für sich genommen, bringt lediglich ein abzubildendes »Wirkliches« in den Blick. Weil beides, also Bild und Zeichen »zugleich«, ist Sprache »nicht ganz Produkt des Eindrucks der Gegenstände und nicht ganz Erzeugnis der Willkür des Redenden«21; kraft ihrer energeia muß und kann sie sich vielmehr »der doppelten Natur der Welt und des Menschen annehmen«22 – so ist sie die Mitte zwischen und der Inbegriff von Sinnlichkeit und erkennender Vernunft: nicht das ergon eines »erkennenden Anschauens«, sondern die dem »anschaulichen Denken« innewohnende energeia. Hegel »erkennt« demgegenüber die Sprache, in der Abbreviatur des Zeichens, als ergon, als »Produkt der Intelligenz«, und dieses Erkennen des bildlosen Zeichens in seiner »eigentlichen« Anschaulichkeit trägt nun ein Janusantlitz, das einerseits vorausblickt auf das System des »Geistes« und andererseits zurückblickt auf ein »Gedächtnis«, welches nicht nur überhaupt »ohne Anschauung und Bild« soll arbeiten können, sondern auch von der Intelligenz »gegen die Anschauung des Worts durchlaufen« wird (Enz §§ 462; 461). Die Buntheit und Widersprüchlichkeit in Auslegungen des Hegelschen Sprachdenkens läßt sich erklären aus dieser Janusköpfigkeit der Zeichenerkenntnis. Es ist Hegel zuzugeben, daß die Sprache, in der wir alltäglich reden, niemals imstande sein kann, jenen »bachantischen Taumel« des dialektischen Denkens, »an dem kein Glied nicht trunken ist« – einen Taumel, den das »System« des Geistes beherrschen will – ad206 | viertes kapitel

äquat darzustellen. Das dialektische Denken betrachtet ja nicht »die unwesentliche Bestimmung« der Stoffe des Erkennens; es betrachtet sie vielmehr »insofern sie wesentlich ist«, denkt also »das Dasein in seinem Begriffe«.23 Wenn Hegel jetzt die Humboldtsche energeia der Sprache in das ergon des Zeichens aufhebt, geht folgerichtig das »subjektiv« anschauliche Bild zu Verlust; aber nur das Zeichen in seiner »eigentlichen« Anschaulichkeit (die freilich ebenso wenig »anschaulich« ist wie das transzendentale Schema Kants) kann auch hinzeigen auf den unanschaulichen »Begriff«, das »Resultat« des Hegelschen Philosophierens. Deshalb – und einzig deshalb – darf Hegel die Sprache »das Dasein des Geistes« nennen: ins Zeichen aufgehoben, zeigt sie auf den seiner Wahrheit »selbstgewissen Geist«24 und kann darum auch nur Zeichen dieser Wahrheit sein. Hegel muß so denken, wenn seine Phänomenologie des Geistes als ein System des Geistes sich darstellen soll. Vor dem Namen Gottes gerät indes alle Sprache an ihre Grenze, eine »Grenze«, die Hegel zu einer bloßen »Schranke« werden läßt, durch die hindurch der Weg zu Gott als Weg zum Begriff des »absoluten Geistes« gangbar werden soll. Darum kann es »dienlich sein, den Namen Gott zu vermeiden«; ist doch »dies Wort nicht unmittelbar zugleich Begriff«, sondern lediglich der Name des zum Grunde liegenden Subjekts«.25 Das System des Geistes »rechtfertigt« sich dadurch, daß es »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt auffaßt«. Während Spinoza seinen Gott nur als Substanz dachte, will Hegel diese Substanz auch als Subjekt »ausdrücken«26 – und damit rückt das Sprachproblem in das Konfinium der Metaphysik. Beim Namen »Gott« kann es nicht bleiben; Gott ist als Begriff zu denken, der eine Einheit aus Substanz und Subjekt »zum Ausdruck« bringt und damit in der Sprache sich darstellt als dialektisch-begriffliche »Negation der Negation«: »Subjekt« negiert »Substanz« und »Substanz« negiert »Subjekt«. Gott als absoluter Geist ist die »Negation der Negation«, und somit eine Einheit »der einfachen Beziehung auf sich«.27 Das ist die spekulative Sprache Hegels, die alle bloße Namenssprache aufhebt und in ihren »Grund« führt – in der Tat: nicht unsere , sondern eine begriffliche, auf das Absolute zeigende Sprache. Indem sie hinzeigt auf Gott als den Begriff »negativer Einheit«, gerät sie selber zu dem »Element, in dem die negative Einheit des absoluten Geistes begriffen wird«.28 »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 207

Das schlußendliche Interpretament des in der Phänomenologie des Geistes zu lesenden Satzes über Sprache als das »Dasein des Geistes« liefert die Wissenschaft der Logik: die unanschauliche Sprache, die den absoluten Geist begreift, übergreift unsere alltägliche Sprache mit ihren veranschaulichenden, Bilder der sinnlichen Wahrnehmung artikulierenden Wörtern, um diese in eine »eigentliche Anschaulichkeit« aufzuheben, die dem Konzept eines durch »sprachbewegte Formen« strukturierten »anschaulichen Denkens« spottet. Das »Erkennen der Zeichen« fungiert dabei als der Wendepunkt zweier Blicke: eines Vorblicks auf den unanschaulichen Begriff des »Geistes« und das in ihm verankerte System sowie eines Rückblicks auf die veranschaulichenden Bilder der Erinnerung aus der Optik der bildlosen Zeichen im »Gedächtnis«. Hegels »Semiotik«, seine Theorie einer zeichengeführten Sprache, will von den Bildern der »alten« memoria sich lösen, sie hinter sich verbergen – und muß diese dennoch, als wären es ihre Schatten, hinter ihrem Rücken herziehen lassen: sie wüßte sonst gar nicht, was sie »übergreifen« und »aufheben« könnte. Die in sich selber widersprüchliche Rede Hegels von einer »eigentlichen Anschaulichkeit« der bilderlosen Zeichen dokumentiert mithin nicht nur den Riß, der sein Philosophieren über Sprache spaltet; sie bekundet auch die Hilflosigkeit seines Systems des »Geistes« vor der Anschaulichkeit der Bilder im Erinnerungsbewußtsein. In Hegels Kant-kritische Brückenarchitektur von der Anschauung zum Erkennen ist zwar der Zugriff auf ein »geistvolles Erinnern« eingefugt; durch den Übergriff des »selbstgewissen Geistes« über alles Anschauen und Erinnern hinweg büßt die Erinnerung aber jeden ihr »immanenten Sinn« ein, und deshalb sieht Hegel sich auch nicht genötigt, die veranschaulichende Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins in ihrer eigenen Dynamik oder sprachbewegten Form auszuloten. Das »erkennende Anschauen«, die »eigentliche Anschaulichkeit« der von der Intelligenz gesetzten bildlosen Namenszeichen und das systembedingte Konzept »Sprache als Dasein des Geistes« bleiben die tragenden Pfeiler seines Brückenbaues. Kants transzendental-logische Korrespondenz von Anschauung und Begriff ebenso wie Hegels dialektisch geführter Brückenschlag vom Anschauen zum Erkennen in Zeichen: beide sparen die Frage nach jener erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit aus, welche den 208 | viertes kapitel

Bildern der Erinnerung zukommt und die – um noch einmal mit Rudolf Arnheim zu sprechen – nicht »Übersetzung von Denkergebnissen« ist, sondern »Fleisch und Blut des Denkens selbst«. Das Kantische und das Hegelsche Philosophieren markiert, bei all ihrer Differenz, eine Frontlinie des herrscherlichen Nach-Denkens über Anschauungen, aus der die Stoßrichtung des »anschaulichen Denkens«, eines Denkens der »Abbilder von Kräftefigurationen, die unserem Dasein zugrunde liegen«, ausscheren muß – und ausscheren kann, ohne dabei in »Idiosynkrasien« abzustürzen.29 Weisen also »Veranschaulichung« und »anschauliches Denken« – weil anscheinend dem strengen »Begriff« entzogen – doch wieder auf die »privilegierte« Zone des Ästhetischen zurück? Bleibt es am Ende der Skulptur, dem Gemälde, dem poetischen und prosaischen Text vorbehalten, ein »geistiges Inneres« (wie Hegel sich ausdrückt) in jeweils anderer Weise »anschaulich« zu machen? Zwar können wir Hegels Vorlesungen über die Ästhetik nur in Nachschriften von Schülern studieren. Aber selbst an diesen Nachschriften noch wird deutlich, daß Hegel seine »Philosophie der schönen Kunst« in einer anderen Sprache vorträgt als in jener der mit Zeichen und begrifflichen Abbreviaturen operierenden der Enzyklopädie und der Wissenschaft der Logik: in einer anschaulichen Sprache, die der veranschaulichenden Darstellung in den Künsten gemäß sein will; und zugleich geben die Nachschriften dieser Vorlesungen zu erkennen, wo aller ästhetischen Veranschaulichung Grenzen gezogen sind: da nämlich, wo der »selbstgewisse Geist« durch sie »hindurchscheint« und die Kunst zu einem »Vergangenen« geraten läßt. Am Beispiel der »klassischen« und der »romantischen Kunstform« führt Hegel das vor. Für die Skulptur, den Grundtypus der klassischen Kunst, ist Hegel zufolge »kein geistiger Inhalt vollkommen darstellbar, der sich nicht durchaus in leiblicher Gestalt gemäß veranschaulichen läßt«; denn die Skulptur bindet ein »geistiges Inneres« und eine »sinnliche Gestalt ineinander«. Die romantische Kunst findet demgegenüber ihre Ausprägung vornehmlich in der Poesie, die Hegel eine »geistige Veranschaulichung selber« nennt, eine Kunst nämlich »des in sich freigewordenen, nicht an das äußerlich-sinnliche Materal zur Realisation gebundenen Geistes«.30 In der romantischen Kunstform wird die »Flamme der Subjektivität« entzündet; die Wahrheit romantischer Kunst liegt auch nicht mehr darin, »sich in die Leiblich»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 209

keit zu versenken«, diese Kunst kreist um »das Geistige selber«, um die »Anschaulichkeit und Erfaßbarkeit des Geistigsten«, um eine »aus dem Begriff des Geistes selber entsprungene Geschichte«, die durch die »gewöhnlichen« Darstellungsformen der Künste »hindurchscheint«.31 Wer Hegel nicht nur zitieren möchte, sondern seine Gedanken nachdenkt, kommt jetzt nicht umhin, zwei neuralgische Stränge seiner Überlegungen bloßzulegen. Einen ersten, dem entlang ästhetische Anschaulichkeit und anschauliche Sprache am Ende wiederum aufgehoben werden: in das Oxymeron einer »Anschaulichkeit des Geistigen selber«, in eine gleichsam »aus der ägyptischen Wüste mitgebrachte Pyramide«, die sich über dem Hegelschen Text erhebt32 und in eine wohl nochmals »eigentliche« Anschaulichkeit, die (wenn Hegel das so formuliert haben sollte, hat er überaus genau gesprochen) in eine unanschauliche »Erfaßbarkeit« des Geistes umgetauft werden muß. Und eben weil der »erfaßbare« Geist durch anschauliche Kunstformen nur mehr »hindurchscheint«, wird die Kunst »für uns ein Vergangenes«, hat sie ihre »Lebendigkeit verloren« und lädt sie uns »zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen«.33 Der zweite neuralgische Strang, der freigelegt werden muß, führt zurück zu Hegels problematischem Umgang mit der memoria; denn das in den Vorlesungen über die Ästhetik konstatierte Ende der Kunst (mitsamt der ihr eigenen Anschaulichkeit, durch welche noch kein »selbstgewisser« Geist »hindurchscheint«) entspricht strukturgenau der in der Enzyklopädie vorgenommenen Aufhebung bildlich-anschaulicher Erinnerung in ein abstraktes Gedächtnis, das der anschaulichen Bilder nicht mehr bedarf, weil es mit von der Intelligenz produzierten »eigentlich« anschaulichen Zeichen arbeitet. Es ist Hegels fundamentale These vom »Insichgehen« des Geistes, die nicht nur seine Rede steuert, daß Kunst »weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und absolute Weise« ist, »dem Geiste seine wahrhaften Interessen zum Bewußtsein zu bringen«34; es ist eben diese These, die Hegel auch dazu bringt, die anschaulichen Bilder der Erinnerung in die Zeichen eines »mechanischen Gedächtnisses« als die »äußerliche Weise« der »Existenz des Denkens« aufzuheben (Enz § 464). Mit Hegel ist die klassische deutsche Philosophie an der Frage nach 210 | viertes kapitel

veranschaulichender und an sich selber erkenntnisrelevanter Erinnerung endgültig gescheitert. Für den Entwurf einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins hat dieser Befund beträchtliches Gewicht, und deshalb war er zu erheben. Anschauliches Denken und erkenntnisrelevante Anschaulichkeit: Thema eines ihnen gemäßen Typs von Reflexion werden sie, Schritt für Schritt, erst mit einem in der Kunstbetrachtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts sich anbahnenden neuen Bildbewußtsein35 und im Zuge der ikonischen Wende des 20. Jahrhunderts – was aber auch heißt: ineins mit dem Brüchigwerden des emphatischen Erkenntnisanspruches einer Philosophie der einzig mit ihren Begriffen und Zeichen sich selber darstellenden Vernunft. An der »Rückkehr der Bilder, die sich auf verschiedenen Ebenen seit dem 19. Jahrhundert vollzieht«36, zerschellt nicht nur die Lehre Kants (»wenn man den Begriff nicht von Bildern absondern kann, so wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«), sondern mit ihr wird auch das spekulative »Denkbild« des späten Fichte obsolet, diese »Hinschauung« des »vorausgesetzten« Absoluten, welche in letzter Instanz die Wissenschaftslehre begründen soll.37 Denn der iconic turn fußt auf der »zugleich visuellen und logischen« Eigenart aller Bilder, auf einer »ikonischen Differenz«, die das Bild einerseits in sinnlich wahrnehmbare »Materialität« eingeschrieben sein und andererseits einen »Sinn« zum Aufschein kommen läßt, »der alles Faktische überbietet«.38 Damit rückt aber nun der iconic turn in eine Konkurrenz zum linguistic turn, in die Konkurrenz nämlich des sinnlichveranschaulichenden Bildes zum sinnlich-veranschaulichenden Wort: »sprechen« denn nicht auch Bilder? Wie also verhält sich ein Bild zu der es »artikulierenden« Sprache? Und zu fragen bleibt schließlich: »welche wissenschaftlichen Disziplinen grenzen an das Phänomen Bild? Gibt es Disziplinen, die nicht daran grenzen?« Ist es möglicherweise sogar die »der Sprache innewohnende Bildpotenz«, die »den linguistic turn in einen iconic turn überleitet?«39 Um in die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins einzudringen, müssen wir versuchen, das Verhältnis seiner anschaulichen Bilder zur »Sprache des Erinnerns« aufzuklären. Daß gemalte Bilder »sprechen«, wird kein kunstsinniger Mensch bestreiten: die anschauliche »Qualität« eines Gemäldes ist von der Anschaulichkeit seiner »Bildsprache« nicht abtrennbar. Aber auch Traumbilder, die uns im »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 211

Schlaf erscheinen, »sprechen«. Sie sprechen von Wahrnehmungen, die uns erfreuen oder bedrücken; doch »nehmen« wir solche Bilder nicht eigentlich »für wahr«, denn ihre Sprache ist täuschend. Im »Für-wahr-nehmen« liegt jetzt der Unterschied zwischen den Bildern des Traumes und den Bildern im bewußten Erinnern. Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind deshalb keine bloßen Nach- oder Abbilder von früher Wahrgenommenem, weil das Bewußtsein das vorher Wahrgenommene immer schon »deutet« – je nachdem, ob es die Erinnerungsbilder »für wahr nimmt«. Das anschauliche Erinnerungsbild »spricht« mithin in der es deutenden Sprache des erinnernden Bewußtseins. Dieses Deuten formuliert sich in einem das Bild auslegenden und verstehenden »inneren Wort« – und auch dieses »innere Wort« ist von der Anschaulichkeit des Erinnerungsbildes niemals ablösbar: es »artikuliert« die noch unbestimmte Anschaulichkeit des Bildes. Nur wer alles Bewußtsein auf lediglich »begriffliche« Intentionalität fokussiert, kann auf die Idee verfallen, für das Erinnern spiele »das Bild« keine Rolle; er übersieht dabei die sprachartige Verfaßtheit des Erinnerungsbewußtseins, dessen »inneres Wort« das Sprechen des Erinnerungsbildes (wie Herder es ausdrückte) »reflektiert« und eben damit dieses Wort (so hatte ja schon Augustinus geschrieben) des verständigen Denkens »gewärtig« sein läßt. Wie alles Bewußtsein ist auch das Erinnerungsbewußtsein »sprachlich« verfaßt40, kein Bewußt-Sein, kein »bewußtes Leben« vermag sich ohne Worte zu erfassen. Die Sprache »begleitet« alle meine Vorstellungen, sonst wäre weder das Kantische »ich denke« aussprechbar noch der Satz »ich erinnere mich«. Ohne Worte und ohne Sprache bliebe jedwedes Bewußtsein anonym. Das anschauliche Bild und das dieses Bild veranschaulichend artikulierende »innere Wort«, welches das ganze Bild eines geliebten Menschen mit dem Namen des »Geliebten« benennt (und mit diesem Namen das Bild nicht »tilgt«), geben sich im Erinnerungsbewußtsein wechselseitig die Hand; beide, Bild und Wort, schließen sich für das anschauliche Denken zusammen zu einem die Anschauung »qualifizierenden« Wertgefüge.

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III. Veranschaulichung als »Wertgefüge« Wir verweilen vorerst bei dem Erinnerungsbild des geliebten Menschen und fragen: was vermag dieses Bild vor dem Vergessenwerden zu bewahren? Friedrich Georg Jünger, ein Philosoph, dem es nicht um bloß gedachte, sondern um gelebte Erinnerung ging, hat sich darüber Gedanken gemacht. Er schrieb: »Ich gehe mit dem Bild der Geliebten um. Das Umgehen mit dem Bild ist meine Liebe selbst. Wäre das Bild nicht da, das die Geliebte mir hinterlassen hat, wäre keine Liebe da. Ich kann ohne Bild nicht lieben, das heißt, ohne Erinnern ist keine Liebe denkbar. Nehme ich das Erinnern fort, so würde nichts bleiben als der reine, nackte Trieb, der nichts als seine Befriedigung sucht, eine Befriedigung, in der er sich sogleich vergißt und auch das Wesen vergißt, das ihn befriedigt hat. Das Bild verhindert solches Vergessen«.41 In diesen Sätzen kommt ein Kernverhalt »bewußten Lebens« zur Sprache; aber kommt er auch »zu seinem Wort«? Wer wollte denn ausschließen, daß im Strom der Bilder, die unser Bewußtsein überfluten, sogar das Bild der Geliebten verdunkelt wird, vielleicht auch untergeht? Ist es tatsächlich allein das anschauliche Bild, das dem Vergessenwerden eines geliebten Menschen Einhalt gebietet? Jünger hat beklagt, »das Verhältnis von Sprache und Gedächtnis« sei »nie gründlich untersucht worden«. Ihm entgeht dabei, daß dem Verhältnis des Erinnerungsbildes zu der ausgesprochenen Rede, die von ihm spricht, die selber schon sprachartige Verfaßtheit des Erinnerungsbewußtseins immer vorausliegt: nämlich in dem noch unausgesprochenen »inneren Wort« – dem verbum intimum des Augustinus – , welches das flüchtige Bild veranschaulichend benennt, es »artikuliert« und damit im Bewußtsein »festhält«. Dieses Wort ist der erste Halt, der dem Vergessen des Bildes sich entgegenstellt, selbst wenn es diesem Vergessen nicht gänzlich wehren kann. Herder nannte dieses innere Wort »das erste Merkmal der Besinnung« und ein »Wort der Seele«; ich zitiere seine Sätze: »Der Mensch beweist Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei wirkt, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 213

sie durch alle Sinne durchrauscht, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweist Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein anderer sei. Er beweist also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft und klar erkennen, sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff; es ist das erste Urteil der Seele – und wodurch geschah diese Anerkennung? Durch ein Merkmal, das er absondern mußte und das, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! Laßt uns ihn das heureka zurufen! Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele ! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!«42 Doch was ist nun mit meiner Rede von Veranschaulichung als »Wertgefüge« gemeint? Veranschaulichung, als Bewegung und Handlung des Bewußtseins, besitzt eine spezifische »Aktqualität«, kraft derer sie sich von jeder bilderlosen Vorstellung unterscheidet.43 Was sie gegenüber der quasi-begrifflichen Anschauung »qualifiziert«, ist – wie Herder es formuliert – die Anerkenntnis eines anschaulichen Bildes im Erinnerungsbewußtsein durch ein innerliches »Merkwort«, das einen Dialog mit diesem Bilde führen kann44 und ihm eine sprachbewegte Form gibt. Veranschaulichung darf mithin nicht auf Sehvorgänge eingeschränkt werden; das Adjektiv »anschaulich« findet Anwendung nicht nur auf anschaulich geschriebene Texte, sondern es charakterisiert schon das »stumm« bleibende Merkwort, das ein Erinnerungsbild festhält und seine Anschaulichkeit artikuliert. Auch dieses Merkwort kann freilich vergessen werden, wenn das Bewußtsein es nicht mehr »hört«; es muß dann wieder gesucht werden, damit wir uns wieder-erinnern können – so, wie Aristoteles das in seiner Schrift De memoria et reminiscentia mit seinem »Buchstabenrätsel« beschrieben hat: ein in die Tiefe des Gedächtnisses abgesunkener »Charakter« muß »erjagt« werden, der den »Anfang« der Bewegung 214 | viertes kapitel

des Wiedererinnerns machen kann.45 Dieses Buchstabenrätsel des Aristoteles will verdeutlichen, daß auch das Wiedererinnern sprachlich konturiert ist und vergessene Bilder wieder aufscheinen läßt, indem es sie in der »bewegten Seele« verwörtlicht. Kant rückte die Anschauung und den Begriff in eine epistemologische Korrespondenz, mit welcher der Eigenwert »veranschaulichenden« Erinnerns übergangen war. Indem Hegel dann alle erinnernde Veranschaulichung, als lediglich »subjektiv«, in die »eigentliche Anschaulichkeit« des von der erkennenden Intelligenz produzierten Zeichens aufhob, entwarf auch er ein nur epistemologisches Denkmodell, das der Wertqualität der alles Erinnern prägenden Anschaulichkeit kein Augenmerk mehr widmete. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins verzichtet nun keineswegs auf eine ihr gemäße epistemologische Konturierung; sie leitet diese aber von einer Axiologie der Anschaulichkeit ab, mit anderen Worten: sie betrachtet Anschaulichkeit als Wert und versteht die erinnernde Veranschaulichung als werthafte Qualifikation des traditionell epistemologischen Anschauungsbegriffes; hierin kommt sie mit gegenwärtigen ästhetischen Diskursen überein.46 Die ästhetische Theorie befaßt sich jedoch nur mit dem Problem ästhetischer Darstellung oder mit »äußerlicher« Veranschaulichung als dem »ästhetischen Anteil« an der Herstellung eines Textes und eines Kunstgebildes.47 Beim Erinnerungsbewußtsein geht es demgegenüber um »innerliche« Anschaulichkeit und Veranschaulichung. Warum und inwiefern ist solcher Innerlichkeit Werthaftigkeit zuzuerkennen? Alles Erinnern ist vom Vergessen bedroht: nicht nur von einem alltäglichen Vergessen, mit dem uns »etwas« entschwindet, sondern sogar von einer »Vergessenheit«, die wir mit Verstandesbegriffen nicht denken können und die dennoch jener dunkle Grund ist, vor dem die Erinnerung sich erst abzeichnen kann, wenn sie Helligkeit gewinnt. Solche Helligkeit entsteht im Erinnerungsbewußtsein, wenn die anschaulichen, erinnernden Bilder durch ein »inneres Wort« artikuliert, reflektiert und gleichsam »durchleuchtet« werden (wie das Bild der Geliebten durch ein es reflektierendes Wort im Gemüt); sie gewinnen dann jene »eigentliche Anschaulichkeit«, die Hegel dem epistemischen Zeichen vorbehalten wollte. Diese eigentliche Anschaulichkeit des Erinnerungsbildes in seiner innerlichen »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 215

»sprachbewegten Form« vermag dem alltäglichen Vergessen zu steuern und ist der Einspruch gegen eine Vergessenheit, die immer wieder ihre Schatten in unsere Seele werfen möchte. »Bild« und »Wort« im veranschaulichenden Erinnerungsbewußtsein ordnen sich zu einem »Wertgefüge« zusammen, weil sie dem Vergessen und der Vergessenheit die Stirn zu bieten vermögen – wenn wir es, Aristoteles mahnt das an, in unserer Seele denn nur »wollen« (de an III, 3). Ich habe bisher meine Rede vom »inneren Wort« in Anführungszeichen gesetzt, weil sie dem neuzeitlichen und modernen Philosophieren unverständlich geworden ist und in der Tat, um überhaupt nachvollziehbar zu sein, der ebenso gründlichen wie ideengeschichtlich weit ausgreifenden Erklärung bedarf. Eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins, die auf dessen »sprachartige Verfaßtheit« starke Akzente rückt, darf die Mühe solcher Erklärung nicht scheuen. Sie kann weder an der gegenwärtigen Philosophie der »normalen« Sprache achtlos vorbeigehen noch sich den Rückblick auf antike und mittelalterliche Überlegungen zum »Sprechen der Seele mit sich selbst« ersparen – das heißt nicht zuletzt: sie hat sich der Frage nach der »Wahrheit« solchen Sprechens zu stellen, einer Frage, die das Erinnern vor den Horizont der Metaphysik und der Theologie des »wahren Wortes« bringt.

IV. Das »innere Wort« des Erinnerungsbewußtseins im Konflikt mit der Philosophie der »normalen Sprache« »Wie ist das, wenn man im Innern zu sich selbst spricht, was geht da vor?« »Wir reden von dem räumlichen und zeitlichen Phänomen der Sprache, nicht von einem unräumlichen und unzeitlichen Unding«. »Die Frage ›Was ist eigentlich ein Wort?‹ ist analog der Frage ›Was ist eine Schachfigur?‹« (Ludwig Wittgenstein)

»Die Philosophie der Neuzeit ist auch dort, wo sie von Triumphen des menschlichen Geistes zu handeln scheint, weithin eine Beschreibung von Gefangenschaften«, schrieb Hans Blumenberg in seiner Studie über Wittgenstein: »Kants Kritik der reinen Vernunft gibt den 216 | viertes kapitel

Grundriß der Einsperrung: theoretische Erkenntnis bleibt auf Erscheinungen beschränkt, jeder Ausblick der Vernunft über deren Grenzen versagt«; diesem Denkmodell folgt schließlich »und am härtesten die Reduktion der Vernunft auf die kontingenten Voraussetzungen der ihr zugewachsenen Sprache« – und ahnungsvoll fügte Blumenberg hinzu, das »mag das letzte Wort der Fatalität noch nicht sein«.48 Dieser Befund dürfte erschrecken und verstören; im Hinblick auf das Thema »Erinnerung« kann er gleichwohl wahrer gar nicht sein: Einsperrung der memoria in die empirische Psychologie, Gefangennahme der Erinnerungsbilder durch die Zeichen einer »freien« Intelligenz, Neutralisierung der Bilder des Erinnerns im Gefälle einer phänomenologischen Eidetik und schließlich, in der Tat »am härtesten«, die Rede von einer »Nacktheit« des Wortes und des Bildes vom »inneren Sprechen mit sich selbst«, die in dem Satz Wittgensteins gipfelt: »Die Worte, mit denen ich meine Erinnerung ausdrücke, sind meine Erinnerungsreaktion«.49 Der Kreuzweg, zu dem das moderne Philosophieren die memoria verurteilt hat, führt hier auf seine Schädelstätte: Sprache kann und darf aufs Erinnern, diesen »inneren Vorgang«, nur noch äußerlich »reagieren«. Denn dem Theoretiker der ordinary language geht es nurmehr um den räumlichen und zeitlichen »Gebrauch« der Sprache; der innere Dialog bewußten Sich-erinnerns, das, was ich seine »sprachbewegte Form« genannt habe, ja, »die ganze Idee des Verstehens« hat für ihn einen »verdächtigen Geruch« – soll doch »das Kriterium dafür, daß einer zu sich selbst spricht« einzig dasjenige sein, »was er uns sagt«. Ein »inneres« Wort im menschlichen Geist gilt dem Philosophen der »angewandten« Sprache als »grammatische Fiktion«. Darum »leugnet« er auch, daß »das Bild« vom Erinnern als einem »inneren Vorgang« uns »die richtige Idee von der Verwendung des Wortes ›erinnern‹ gibt« – dieses Wortbild bleibt »nackt«, weil es »verhindert, die Verwendung des Wortes zu sehen, wie sie ist«.50 Ein veranschaulichendes Wortbild im Erinnerungsbewußtsein, für Wittgenstein ist das ein »philosophisches« Problem, das heißt: ein Problem in der Gestalt eines »ich kenne mich nicht aus«; solche »philosophischen« Probleme entstehen für ihn überhaupt erst dann, »wenn die Sprache feiert. Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgendein merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe eines »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 217

Gegenstandes«. Dieser »merkwürdige« Ritus werde immer dann vollzogen, wenn man sich dazu verführen läßt, »die Logik unserer Sprache zu sublimieren«. Wittgenstein möchte »die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« bekämpfen (wer wollte ihm da wohl nicht beistehen!), aber er vermag nicht mehr zu sehen, daß er sich in eine selber verhexte »normalsprachliche« Gefangenschaft längst hineinbegeben hat. »Wenn ich über Sprache rede, muß ich die Sprache des Alltags reden«. Wittgenstein »muß« das freilich nur deshalb, weil er dekretiert hat, die Philosophie dürfe »den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten«; wenn sie es dennoch tut, dann können ihre Ergebnisse nur »die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns« sein oder »Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat«. Also darf Philosophie den tatsächlichen Gebrauch der Sprache »nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles wie es ist«, und deshalb bleibe »das Denken« stets »mit einem Nimbus umgeben«.51 Gleichwohl stellt auch, wer sich im »Nimbus« des Denkens bewegt, ebenso wie Wittgenstein die Frage: »Wie ist das, wenn man im Innern zu sich selbst spricht, was geht da vor, wie soll ich’s erklären?« Aber seine Antwort ist jetzt eine gänzlich andere als diejenige Wittgensteins, die da lautet: »Nur so, wie du einen die Bedeutung des Ausdrucks ›zu sich selbst sprechen‹ lehren kannst. Und als Kinder lernen wir ja diese Bedeutung – nur, daß niemand sagen wird, wer sie uns lehrt, sage uns, ›was da vorgeht‹«.52 Wie haben denn Platon und Aristoteles erklärt, »was da vorgeht«? »Das Durchdenken (dia-noia) und ein Wort (logos) sind dasselbe«, lesen wir bei Platon, »nur daß der Dialog (dia-logos) im Innern der Seele mit sich selbst, der sich ohne Stimme vollzieht, eben dasjenige ist, was wir als ein Durchdenken bezeichnen; die stimmliche Äußerung hingegen vermittels des Lautes wird Rede (logos) genannt«; und weiter: können »Bejahung und Verneinung«, »wahr und falsch«, die in der »Rede« vorkommen, nicht auch »stillschweigend in der Seele sein, dem Durchdenken gemäß?« (Sophistes, 263 d – e). Aristoteles unterscheidet dann das »äußere« vom »inneren Wort« (exo und eso logos) und versteht das letztere – weil es ihm um Wissenschaft und Beweis zu tun ist – sogar als »Argument in der 218 | viertes kapitel

Seele« (apodeixis en te psyche; Analytica posteriora, 76 b): »man kann nämlich gegen ein äußeres Argument immer Einwände haben, gegen das innere Argument nicht immer«. Dabei stützt er sich wohl wieder auf Platon, der den Sokrates einmal sagen läßt, unter dem »Durchdenken« verstehe er »einen logos, den die Seele bei sich selbst durchgeht hinsichtlich dessen, was sie erforschen will«. Denn »wenn die Seele etwas durchdenkt, tut sie nichts anderes als sich unterreden (dialegesthai), indem sie sich antwortet, bejaht und verneint« (Theaitetos, 189 e). Und nun darf nicht überlesen werden, daß Sokrates diese Gedanken mit der Erinnerung verknüpft, wenn er seinem Mitunterredner bedeutet: »du mußt dich erinnern, ob du wohl jemals zu dir selbst gesagt hast, das Schöne sei doch ganz gewiß häßlich und das Ungerechte gerecht« (ebd., 189 e; 190 b). Das antike Denken hängt nicht in Wolken, es umgibt sich nicht mit einem »Nimbus«. Darum ist es schon »erstaunlich«, daß Wittgensteins Diktum vom »Anrennen gegen die Grenzen der Sprache und den dabei zu holenden Beulen zwar viel erwähnt, aber nie beanstandet worden ist«53 – jedenfalls nicht von Verfechtern der Philosophie der normalen Sprache. Das innere »Sprechen mit sich selbst« ist seit der Antike, seit Augustin und bis ins Mittelalter hinein stets als transidiomatischer Dialog über »wahr und falsch« begriffen worden, als innerer Dialog überdies, in den das unstete Erinnerungsbild einschießt und der darum auch gegen Einwände »äußeren« Argumentierens oder Sprechens nicht immer gefeit sein kann. Ist deshalb aber das innere Wort außerstande, den »tatsächlichen Gebrauch« der alltäglichen Sprache zu »begründen«? Ist das Verhältnis des inneren Wortes im Denken und Erinnern zum äußeren, gesprochenen Wort überhaupt ein »Begründungsverhältnis«? Betrachten wir noch ein weiteres Mal die Sätze Jüngers, die ich zitierte: »ich gehe mit dem Bild der Geliebten um. Das Umgehen mit dem Bild ist meine Liebe selbst. Wäre das Bild nicht da, das die Geliebte mir hinterlassen hat, wäre keine Liebe da« – dieses Bild »verhindert das Vergessen«. Ich fragte, ob es denn tatsächlich allein das flüchtige Bild sein könne, das dem Vergessenwerden eines geliebten Menschen Einhalt gebietet; ist es nicht das stumme Wort »Geliebte«, das dieses Bild festhält und mein Erinnern gleichsam stabilisiert, als inneres Wort, das ich mir stets wiederholen kann, auch wenn das Bild sich verdunkelt, wenn es verdeckt wird durch andere Bilder? »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 219

Aber das Wort »Geliebte« ist ja nun auch ein Wort der »angewandten« Alltagssprache; verhält es sich also in Wahrheit nicht doch so, daß wir ein alltägliches Wort im Erinnerungsbewußtsein lediglich »verinnerlichen«? Verliert das Bildwort der Geliebten in der Erinnerung damit nicht jede Eigenständigkeit? »Gibt es das überhaupt« – »ein Wort, das inneres Gespräch des Denkens bleibt und keine Lautgestalt gewinnt?«, fragte auch Hans-Georg Gadamer; »was soll es also für einen Sinn haben, angesichts der Unaufhebbarkeit unserer Sprachgebundenheit von einem ›inneren Wort‹ zu sprechen, das gleichsam in der reinen Vernunftsprache gesprochen wird?«54 Wenn wir die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins ausloten wollen, wenn wir das veranschaulichende Erinnern in seiner »sprachbewegten Form« uns begreiflich zu machen versuchen, müssen wir diese Frage, ineins mit Wittgensteins Fliegenglasmetapher, sehr ernst nehmen. Dabei kann uns Hegels These von der Sprache als »Dasein des Geistes« nicht weiterhelfen. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, kritisch gelesen und sozusagen gegen den Strich gebürstet, lassen hingegen die Fährte erkennen, auf der wir uns bewegen müssen. Denn dieser Anwalt der normalen Sprache hält zwar daran fest: »wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ›Bedeutungen‹ vor, sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens«55; doch er ist weit davon entfernt zu »leugnen«, daß »beim Erinnern ein innerer Vorgang stattfindet«. Was er bestreitet, ist allerdings, daß dieser »innere Vorgang« für den Gebrauch des Wortes »erinnern« Bedeutung besitzt.56 »Innerer Vorgang«: das ist ja in der Tat, Wittgenstein hat ganz recht, ein Wort-Bild; doch bleibt er im Fliegenglas der Alltagssprache gefangen, wenn er behauptet, »die richtige Idee« vom inneren Vorgang des Erinnerns liefere uns der normalsprachliche Satz »ich habe mich erinnert«57, also das äußere Wort. Woran Wittgenstein sich nicht erinnern will (oder nicht erinnern kann, weil sie ihm als philosophischem selfmade man vermutlich gar nicht bekannt war), das ist die kluge Einsicht des Aristoteles, daß man äußere Wörter »immer« bestreiten kann, innere dagegen »nicht immer«. Und damit kehren wir nochmals zurück zum inneren Wort und Erinnerungsbild der Geliebten. Töricht wäre die Annahme, es könnte ein inneres nicht-propositionales Wort das propositionale Lautwort »Geliebte« ursächlich begründen, und nicht 220 | viertes kapitel

minder töricht wäre es, dieses innere Wort vom normalsprachlichen Wort unvermittelt herleiten zu wollen. Denn was der geliebte Mensch für mich ist, ja, ob er wirklich mein Geliebter ist (und nicht bloß von anderen so genannt wird), das kann das äußere Wort von sich aus niemals sagen; deshalb wird man dieses äußere Wort auch »immer« bestreiten können oder für »falsch« halten dürfen. Das innere Wort, mit dem ich mein Bild der Geliebten festhalte, ist durch ein propositionales Satz-Wort durchaus »nicht immer« anfechtbar – jedenfalls nicht, solange ich liebe und dieser Liebe in einem »inneren Vorgang« gedenke. Wollte man überdies von einer »semantischen Funktion« des inneren Wortes sprechen, dann müßte man dieser eine gänzlich andere Qualität zubilligen als der semantischen Funktion des äußeren, propositionalen Wortes: die Qualität nämlich eines Ausdrucks personalen Ergriffenseins, eines Ausdrucks des Vertrautseins58, die Qualität mithin einer intrinsischen Intentionalität, der das innere Bild-Wort sein »Wahr-sein« verdankt. Vor solcher Perspektive auf die Wahrheit eines »inneren Vorgangs« schrecken Wittgenstein und die Protagonisten der analytischen Sprachphilosophie mit Entsetzen zurück, entspringe sie doch, davon sind sie überzeugt, einem »Mythos der Innerlichkeit«.59 Dieses Zurückschrecken ist noch einmal mehr ein Zurückweichen vor der »erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit« des Erinnerns, und seine Wurzeln hat es nicht zuletzt in dem ebenso oberflächlichen wie irreführenden Umgang Wittgensteins mit dem Denken Augustins, so wie er es auf den einleitenden Seiten seiner Philosophischen Untersuchungen vorführt: umgebe Augustinus doch »das Funktionieren der Sprache mit einem Dunst, der das klare Sehen unmöglich macht«.60 Auf den ersten und »normalsprachlich« voreingenommenen Blick mag dieses abwertende Urteil verständlich erscheinen. Denn im Kontext seiner memoria-Lehre hat Augustinus dem verbum intimum (das er auch verbum cordis, »Wort des Herzens« nannte und dem er das verlautete umgangssprachliche Wort als »Zeichen« nachordnete) eine geradezu provozierende Bedeutung zugemessen: indem er es nämlich nicht lediglich auf einen »wahren logos in der Seele« bezog (wie Platon und Aristoteles das getan hatten), sondern auf die »ewige Wahrheit« des göttlichen Wortes, das in der zweiten Person der Trinität »ausgesprochen« und in Christus »Fleisch »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 221

geworden« ist – wie der Prolog des Johannesevangeliums es sagt: et Verbum caro factum est. Eine derartige Rückbeziehung »innerer Rede« und von ihr hergeleiteter gesprochener Sprache auf die Offenbarungswahrheiten der Trinität und der Inkarnation scheint auf den ersten Blick in der Tat jede philosophische Suche nach einem »wahren Wort in der Seele« zu durchkreuzen. Aber Augustin ist nun einmal kein Denker nur eines ersten Blicks, sagt er doch ausdrücklich – ich zitierte es schon einmal – : »der Glaube sucht, die Vernunft findet«(trin XV, 2). Dieser christliche Philosoph ist sozusagen der Experte eines »ersten« und eines »zweiten Blicks«, das heißt: die Perspektive, in die er das innere Wort des menschlichen Geistes rückt, bleibt explizit durchaus eine Perspektive auf das Verbum increatum, auf das unerschaffene göttliche Wort, dessen theologische Wahrheit der Glaube sucht, aber zugleich, implizit, ist sie auch die Perspektive auf eine vom Philosophen zu findende »ewige Wahrheit«, die Norm sein soll für das »wahre Wissen«, das »in der Seele bleibt« und im verbum intimum »innerlich ausgesprochen wird« (trin XV, 11). Anders formuliert: dem theologischen Gewand der Reflexionen Augustins ist das philosophische Innenfutter einer Metaphysik der Normativität eingenäht, die sich des griechisch-philosophischen Begriffs der »bestimmenden Form« bedient. Im 9. Buch des Werkes Über die Trinität stellt Augustinus sein normatives Denkmodell vor: »In jener ewigen Wahrheit (in illa igitur aeterna veritate), von der alles Zeitliche geschaffen wurde, erblicken wir in einem Sehensakt des Geistes die Form, dergemäß wir sind und dergemäß wir mit rechtem Verstand (recta ratione) handeln, sei es in uns, sei es im Umgang mit den körperlichen Dingen. Die von daher begriffene wahre Kenntnis (verax notio) der Dinge halten wir bei uns gleichsam wie ein Wort (tamquam verbum) fest, und indem wir sie innerlich aussprechen, zeugen wir dieses Wort, das, solcherart geboren, sich auch nicht aus uns entfernt. Wenn wir aber zu anderen sprechen, fügen wir dem Wort, das innen bleibt, den Dienst der Stimme oder irgendeines körperlichen Zeichens hinzu, damit durch eine gewissermaßen sinnliche Miterinnerung (commemoratio) auch im Geist des Hörenden etwas entsteht, was dem ähnlich ist, das dem Geist des Sprechenden nicht entweicht« (trin IX, 7). 222 | viertes kapitel

Im 15. Buch derselben Schrift entwickelt Augustin dann in aller Ausführlichkeit seine Philosophie des an der normsetzenden »Form« einer ewigen Wahrheit zu messenden wahren inneren Wortes. Dabei geht er wiederum von der Erinnerung aus: »aus dem, was in der memoria verborgen ist«, wird »ein wahres Wort gezeugt«, das »jeglichem Klanglaut, ja sogar jeglichem Denken eines Klanglautes vorausgeht«. Inwiefern kann Augustinus hier behaupten, das aus der Erinnerung hervorgeholte oder »erzeugte« innerliche Wort sei »wahr«? Er kann es deshalb, weil er das Erinnern als einen »erkenntnisrelevanten« Vorgang betrachtet, und darum kann er fortfahren: das aus der memoria erzeugte verbum internum wird, weil es ein Wort im Bewußtsein ist, »der gewußten Sache ganz ähnlich«. Und weil er »Ähnlichkeit« stets als eines der konstitutiven Momente von »Bildlichkeit« definiert, fügt er sogleich hinzu, daß mit dem inneren Wort über die »gewußte Sache« auch »deren Bild erzeugt« wird (trin XV, 12). Das verbum cordis gerät zu einem Bild-Wort, vom Erinnerungsbewußtsein erzeugt – es ist also kein passives »Abbild« sinnlich erfahrener Dinge61 – , und damit hat der Theologe Augustin die philosophische Dimension einer »erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit« freigelegt. Die Konsequenz aus dieser Philosophie des »wahren« inneren Bild-Wortes kann dann lauten: alle äußerlichen Worte, »in welcher Sprache auch immer sie erklingen mögen«, werden »schweigend gedacht« – und sie werden »durch eine Art unkörperlicher Bilder gegenwärtig, wenn man sie denkt und schweigend hin und her wendet« (trin XV, 11). Thematisch gemacht ist mit dieser Konsequenz nicht nur die durch das innere Bild-Wort veranschaulichte intrinsische Intentionalität des Erinnerungsbewußtseins auf die Selbstpräsenz des Geistes (die alle Reflexionen über Zeit, Vergangenheit und Zukunft in den Confessiones jetzt, in De Trinitate, allererst fundiert), sondern darüberhinaus auch die Frage nach der Möglichkeit einer Selbstbestimmung dieses menschlichen Geistes. Es ist unverzichtbar, dieser Frage nachzugehen: nicht nur, weil sie eng mit dem augustinischen Konzept des verbum intimum verknüpft ist, sondern weil sie verdeutlicht, wie »modern« das Philosophieren Augustins ist. Um das zu zeigen, muß ich meinen Leser zu einem kleinen Umweg einladen. Charles Taylor hat seinem umfangreichen Buch Quellen des Selbst ein zwar lesenswertes, gleichwohl nicht überzeugendes Kapitel über »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 223

Augustinus eingefügt.62 Sein Augenmerk gilt hier der die augustinische »Innerlichkeit« tragenden »Hinwendung zu einer radikalen Reflexivität« in der Gestalt einer »äußersten Selbst-Gegenwärtigkeit« des menschlichen Geistes, die »das Bild Gottes« in diesem Geist »am deutlichsten sichtbar« mache.63 Das ist zwar nicht ganz falsch, bleibt aber eigentlich Feuilleton, obwohl Taylor nicht übersieht, in welchem Maße die »radikale Reflexivität« Augustins auf der Vernunfteinsicht beruht, »daß es eine Wahrheit gibt, die für sie ein Kriterium abgibt, d. h. einen Maßstab, nach dem sie sich richtet«64 – also die von Augustinus als »Form« begriffene veritas aeterna. Vor den zwei entscheidenden Leitlinien in Augustins Denken, ich nannte sie die Perspektivlinien eines »ersten« und eines »zweiten«, eines glaubendsuchenden und eines vernünftig-findenden Blickes, hißt Taylor aber nun eine weiße Fahne, die hilflos im Winde flattert, weil dieser Ausleger Augustins dessen Unterscheidung zwischen »wahr« und »Wahrheit« und damit zwischen dem »wahren« verbum intimum im menschlichen Geist und der »Wahrheit« des göttlichen Verbum increatum nicht klar und deutlich nachzuzeichnen weiß. Hier aber ist anzusetzen: das vom Bewußtsein aus der Erinnerung erzeugte innere Bild-Wort ist für Augustinus »wahr« als Ausdruck einer »wahren Kenntnis (verax notitia) von Dingen« (trin IX, 7), und weil es »in der Seele bleibt«, ist es durchaus ein Wort in der Selbstpräsenz des Bewußtseins, aber durchaus noch nicht – wie Taylor vermeint – das Wort einer »Selbst-Gegenwärtigkeit«, in der sich unvermittelt oder gar »am deutlichsten das Bild Gottes sichtbar macht«. Mit anderen Worten: der Blick Augustins auf das »wahre innere Wort« ist und bleibt ein philosophischer Blick durch die Selbstgegenwart des endlichen Geistes hindurch auf das verbum intimum, das diesem Geist es ermöglicht, sich selbst »als wahr« zu bestimmen, insofern er selber es ja auch ist, der dieses wahre innere Wort erzeugt. In Augustins Theorie des inneren Wortes verbirgt sich mithin der Problemtitel einer Selbstbestimmung des endlichen Geistes, die als solche noch gar nichts mit einem »Sichtbarmachen« des »Bildes Gottes« zu tun hat, die aber für Augustin dennoch zu einem diffizilen Thema werden muß, als das »Wahrsein« des endlichen Geistes wiederum durch die normative Form der »ewigen Wahrheit« bestimmt ist. Der Gefahr, daß die Selbstbestimmung des menschlichen Geistes als eines »wahren Geistes«, aufgrund der Normativität einer letzt224 | viertes kapitel

gültigen transzendenten »Wahrheitsform«, als Fremdbestimmung verstanden werden könnte, begegnet Augustin jetzt dadurch, daß er einen glaubend-suchenden Blick auf die Wahrheit des Verbum increatum, des geoffenbarten göttlichen Wortes richtet. Dieses in der Trinität »ausgesprochene« und in der Inkarnation »Fleisch gewordene« Wort hebt in der Perspektive solchen Suchblicks die »Fremdheit« zwischen dem geschaffenen und dem ungeschaffenen Wort in den Augen des christlichen Denkers grundsätzlich auf – und erst damit kann sich in der »Selbst-Gegenwärtigkeit« des endlichen Bewußtseins »das Bild Gottes am deutlichsten sichtbar« machen. Die ganze »Bedeutung« der Reflexionen Augustins über das »Wort« – das göttliche, das innere und das verlautende – läßt sich einzig aus dieser seiner Optik der »zwei Blicke« herleiten. Wer wie Wittgenstein nur einen Blick auf die »normale« Sprache richtet, in deren »Funktionen« alle »Bedeutung« beschlossen sein soll, kann sich am Denken des Augustinus tatsächlich nur »Beulen« holen. Augustins Philosophie des wahren inneren Wortes hat im hohen Mittelalter lauten Nachhall und eine intensive Bearbeitung gefunden, die darauf abzielt, die »erkenntnisrelevante Anschaulichkeit« des verbum cordis als eines Bildwortes in scharfes Licht zu rücken. »Wenn der verständige Geist im Denken sich selber begreift, hat er sein aus ihm erzeugtes Bild in sich, das heißt: den Gedanken seiner selbst – und dieses sein Bild ist Wort«, schreibt Bonaventura.65 Das bei Augustinus sich anzeigende Thema »Selbstbestimmung des Geistes« vermittels des verbum intimum wird indes nicht nur von Bonaventura, sondern auch von Thomas von Aquin in nuancierter Weise aufgegriffen. Angesichts der Behauptung Wittgensteins: »ein ›innerer Vorgang‹ bedarf äußerer Kriterien«66 verdienen die Überlegungen des Thomas von Aquin deshalb angespannte Aufmerksamkeit, weil sie eine innere Kriteriologie des aus der Erinnerung schöpfenden »wahren« endlichen Geistes erarbeiten. Wittgenstein gibt uns also hinreichenden Anlaß, die Mühe einer Rekonstruktion des thomanischen Gedankenganges auf uns zu nehmen. Thomas hat sich mit dem »Wahrsein« des endlichen Geistes in seiner Quaestio disputata de veritate sowie mit dem wahren inneren Wort als »Bild« dieses Geistes in der Summa contra gentiles eindringlich befaßt. Darüberhinaus werden ihm zwei gewichtige Abhandlungen mit den Titeln Über die Natur des Wortes der Vernunft »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 225

(De natura verbi intellectus) und Über den Unterschied zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wort (De differentia verbi divini et humani) zugeschrieben. Hans-Georg Gadamer hat (ausschließlich) diesen beiden Texten informative Seiten gewidmet, auf denen er einerseits ausführt, daß zwar uns Heutigen hinsichtlich der Frage »was denn dieses innere Wort sein soll« die Analogien zur Trinität und zur Inkarnation »nicht weiterhelfen«, um indes andererseits auch festzuhalten, daß mit diesen »Analogien« dennoch »das philosophische Denken eine dem griechischen Denken verschlossene Dimension gewinnt«, eine Dimension nämlich, in welcher »das Problem der Sprache ganz in das Innere des Denkens einkehren« könne.67 Wenn er nun im Gefälle seiner Idee hermeneutischer »Horizontverschmelzung« aus seiner Lektüre der Augustinus- und Thomastexte das Fazit zieht: »in der Mitte der Durchdringung der christlichen Theologie« im Zuge logisch-philosophischer Reflexionen »keimt etwas Neues auf: die Mitte der Sprache, in der sich das Mittlertum des Inkarnationsgeschehens erst zu seiner vollen Wahrheit bringt«68, dann verkürzt – um nicht zu sagen: verfälscht – er damit die Perspektive, in die Augustinus und Thomas ihr Nachdenken über das innere Wort vornehmlich eintragen. Und das ist keineswegs eine Perspektive nur auf die »Mitte der Sprache«, sondern in erster Linie eine Perspektive auf das Wahrsein des sich selber bestimmenden Geistes vor aller Sprache (die stets ein äußeres Zeichen des »inneren Vorgangs« bleibt). Und hier ist jetzt eine von Thomas vorgenommene Akzentverschiebung von Gewicht, die unser Augenmerk auf sich ziehen muß, wenn wir die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins ausmessen wollen. Während Augustinus nämlich, einer neuplatonischen Denkweise folgend, das Wahrsein des menschlichen Geistes aus der Optik auf eine Form ewiger Wahrheit betrachtet, spricht Thomas in Anlehnung an die aristotelische Erkenntnislehre von einem Akt der Formung (formatio), die der endliche Geist selber vollzieht – einer Selbst-formung oder eben Selbst-bestimmung in einem mentalen Prozeß, der mit der Erinnerung anhebt und der in dem von der Vernunft »geformten« verbum mentis zu seinem Abschluß kommt. Statt von einer forma veritatis aeternae redet Thomas darum lieber von der »ersten Wahrheit« (prima veritas) und erklärt das mit der Überlegung: »im göttlichen Geist ist Wahrheit im ei226 | viertes kapitel

gentlichen und ersten Sinn (proprie et primo), im menschlichen Geist in einem noch eigentlichen, aber zweitrangigen Verständnis (proprie et secundario; De veritate I, 4) – doch auch in solcher Zweitrangigkeit bleibt diesem Geist seine Selbstbestimmung völlig unbenommen, und Thomas betont ausdrücklich, diese Feststellungen »im Licht der natürlichen Vernunft« zu treffen69 – genauer noch: im Licht der »Intentionalität« dieser natürlichen Vernunft. Thomas führt das in seiner Summa contra gentiles aus, der »Summe wider die Heiden«; da definiert er die intentio intellecta als jenen Geistesakt, mit dem die Vernunft einen Sachverhalt »in sich selber begreift«, und umgehend fügt er hinzu: »eben diese intentio intellecta wird inneres Wort genannt«, ja er wiederholt: »im Erkennen begreift und formt (format) die Vernunft die Intention, die das innere Wort ist«; und »dieses Wort in der Vernunft ist eine imago des Geistes, ein Bild« (Contra gentiles IV, 11). Thomas konstatiert beträchtliche Differenzen zwischen dem geoffenbarten göttlichen Wort und dem verbum cordis. Die für eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins bedeutsamste Differenz formuliert er mit dem Hinweis auf ein »Defizit« im endlichen Geist, indem er schreibt: obwohl im Erinnern »der Anfang« aller vernünftigen Intentionalität liegt, ist Vernunft nicht lediglich aus der memoria »hervorgeholt«; wäre das der Fall, müßte das verbum mentis am Ende ein bloßer Ausdruck des Erinnerns bleiben und könnte es niemals den Vollsinn eines vom Intellekt »geformten« Wortes gewinnen; gerade dies ist das »Defizit«, das den entscheidenden Unterschied zum göttlichen Wort ausmacht: das göttliche »Wort« ist nämlich identisch mit dem »Ausdruck« der göttlichen Selbstaussage.70 Indem Thomas dieses Defizit des verbum mentis konturiert, entwirft er eine »innere Kriteriologie« des aus der Erinnerung schöpfenden und durch das innere Wort sich selber formenden oder »bestimmenden« menschlichen Geistes. Ein in solcher Selbstbestimmung sich vollziehender »innerer Vorgang« kann der von Wittgenstein geforderten »äußeren Kriterien« gar nicht bedürfen, und desgleichen kann das Wahrsein des Geistes niemals von einer der »normalen« Sprache abgelesenen Kriteriologie abhängig sein. Thomas sagt das mit dem kurzen und bündigen Satz: »das Wahre wird eher in der Vernunft gefunden als in den Sachen«.71 Dieser Satz über das Auffinden von Wahrem in der Vernunft »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 227

schließt an den einen Blick Augustins auf die Findung von Wahrheit durch Vernunft sich an – an einen Blick, den auch ein modernes Philosophieren noch werfen darf72, wenn ihm der andere Blick des Augustinus und des Thomas von Aquin, der theologische Blick auf ein geoffenbartes »göttliches Wort«, nicht mehr zugestanden ist. Die Ausdrücklichkeit des Auffindens von Wahrem in der Vernunft bleibt an die »Wahrheitsfunktionen« normalsprachlich ausgedrückter »Elementarsätze«73 niemals gefesselt; sie gründet in der Selbstbestimmung der Vernunft durch ein »Wort des Herzens«, das innerlich erlebt74 und »für wahr« gehalten wird – und solches Erleben wäre ohne die erkenntnisrelevante Anschaulichkeit der Bilder der Erinnerung gar nicht möglich.75 Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins richtet ihr Augenmerk auf einen »inneren Vorgang«, in dem das Sich-Erinnern mit dem Sich-Bestimmen des Subjekts durch ein inneres Wort – durch ein stummes Wort, welches die flüchtigen Bilder der memoria artikuliert und festhält – verknüpft ist. Die Überlegungen, die Augustinus, Bonaventura und Thomas von Aquin zum verbum cordis vortrugen, gelten der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins darum keineswegs als »überholt«, bleiben sie doch auch ohne ihren theologischen Rückbezug auf das verbum divinum eindringlich und überzeugend genug. Wittgenstein schließt ja nun keineswegs aus, daß wir »innere Vorgänge« erleben – aber er vergleicht sie mit einem »Käfer in der Schachtel«: »niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun, und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist«; daraus folgert er: »das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel« alltäglich ausgesprochener Sätze.76 Die Fliege im Fliegenglas, der Käfer in der Schachtel: beide bezeugen das Einsperrungssyndrom, das dem Philosophieren Wittgensteins im Nacken sitzt. »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen«; oder: »ich kann mir sehr wohl denken, daß jemand jedesmal vor dem Öffnen seiner Haustür zweifelt, ob sich hinter ihr nicht ein Abgrund aufgetan hat«.77 Der Advokat des »normalen« Sprachgebrauchs kerkert in dessen »Bild« sich ein und zweifelt, ob er nicht in einen Abgrund stürzen wird, wenn er die Haustür dieser in der »dritten Person« gesprochenen äußeren Sprache aufbricht, um in die Sprache der »ersten Person« 228 | viertes kapitel

mit ihrem inneren Wort hineinzugelangen. Solchem »Zweifel« ist einzig dadurch zu steuern, daß auch die stumme Sprache der ersten Person in eine Schachtel gesteckt wird wie ein Käfer – so daß jetzt der einen Gefangenschaft eine andere nur gegenübersteht. Daß es indes gerade die Erinnerung ist, die die Binnenwelt der ersten Person mit der Außenwelt aller dritten Personen verbindet, und daß die Anschaulichkeit der Erinnerungsbilder ihre Ressourcen auch aus der Anschauung der normalsprachlichen Welt der dritten Personen bezieht, das darf in der Wittgensteinschen Metaphorik der zwei Gefangenschaften nicht mehr »wahr« sein, mit anderen Worten: eine Semantik, welche die Haustür des alltäglichen Sprachgebrauchs zu öffnen sich weigert, setzt sich von selber außerstand, die Semantik eines inneren Erinnerungswortes der ersten Person überhaupt zu erfassen. Und dann bleibt in der Tat nur übrig, sich zu erinnern, wie man das Alltagswort »Erinnerung« schon einmal gebraucht hat – und mit der Gefangenschaft in normaler Sprache sich abzufinden. Aber warum begibt Wittgenstein sich in diese Gefangenschaft, und warum möchte er sie sogar als Befreiung verstehen? Eine deutliche Antwort auf diese Fragen hat er in einem Text erteilt, der erst 1968 zur Veröffentlichung kam: in Vorlesungsnotizen über »Private Experience and Sense Data«, wo in deutscher Sprache zu lesen steht: »der Solipsist flattert und flattert in der Fliegenglocke, stößt sich an den Wänden, flattert weiter«.78 Die Rede von einem inneren Wort im »inneren Vorgang« des Sich-erinnerns bleibt demgemäß für Wittgenstein eine Rede im Fliegenglas des Solipsisten, der in sein »ich« sich einschließt und aus solcher Egoität durch den Überstieg zu einem »er« befreit werden muß, durch den Überstieg in eine Sprache, die das »ich«, die erste Person, dem »er« der dritten Person gleichstellt, weil ja auch diese mit dem Wort »ich« sich bezeichnet. Die »Privatsprache« des Solipsisten über den Käfer in der Schachtel seines Sich-erinnerns soll deshalb, zum Ausweis ihrer »Wahrheit«, des sie aus ihrer Egozentrik befreienden Kriteriums der öffentlichen Sprache dritter Personen bedürfen – mit anderen Worten: für die Identität eines »inneren« Erinnerungswortes mit dem erinnerten Sachverhalt darf dieses innere Wort selber kein Kriterium sein; zur Beglaubigung solcher Identität ist für Wittgenstein das äußere Kriterium des intersubjektiven »Sprachspiels« dritter Personen erforderlich. Zur Verteidigung dieser Überlegungen wird nun von zwei »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 229

Wittgensteinianern erklärt: »die Wittgensteinschen Szenarien dienen dazu, die Unzulänglichkeiten einer Semantik darzustellen, die sich nicht auf einen öffentlichen Bezugsrahmen stützt«, und: »der wesentliche Punkt, um den es ihm in seiner Erörterung der privaten Erlebnisse geht, ist die Tatsache, daß das Sprechen über sie eines öffentlichen Rahmens (eines öffentlichen Sprachspiels) bedarf«.79 Diese Interpretation bringt indes einen entscheidenden Punkt überhaupt nicht in den Blick: nämlich den, daß Wittgenstein keinen erkennbaren Unterschied macht zwischen »inneren« und »privaten« Erlebnissen – und an dem Unterschleif dieser Differenz leidet nun auch sein Sprachspielkonzept. Man darf sich füglich darüber wundern, »wie hoppladihopp Wittgenstein den Begriff des Sprachspiels in seinem Spätwerk verwendet«, denn »dieser Begriff ist kein theoretisches Instrument, mit dem sich ein so anspruchsvoller Unterschied wie der zwischen sprachimmanenten und sprachtranseunten Verwendungsweisen von Zeichen fixieren ließe«.80 Die wortwörtliche Erzählung von einem privaten Erlebnis bedarf ja in der Tat der Einbettung in ein »öffentliches Sprachspiel«; ein inneres Erlebnis und ein inneres Wort im Erinnerungsbewußtsein – sie sind hingegen keineswegs eines »öffentlichen Bezugsrahmens« bedürftig. Denn das innere Wort ist ein transidiomatisches Wort, dessen Semantik man mithin auch nicht deshalb als »unzulänglich« charakterisieren darf, weil es »sich nicht auf einen öffentlichen Bezugsrahmen stützt«. Für sich selbst ist es auf einen solchen Rahmen zunächst gar nicht angewiesen und seine Einfügung in ein normalsprachliches Bezugsfeld kann durchaus mißlingen. Darum stellt sich Wittgenstein die Frage, ob denn eine Sprache »denkbar« sein könnte, in der jemand seine »inneren Erlebnisse« und »privaten Empfindungen« (auch hier wird beides unterschiedslos aneinandergereiht) ausspricht, und er antwortet: ein anderer würde jedenfalls eine derartige Sprache nicht verstehen.81 Ein »inneres Wort« ist demzufolge nicht nur semantisch »unzulänglich«, sondern normalsprachlich schlicht irrelevant – streitet Wittgenstein doch ohnehin mit allen seinen Mitteln dagegen an, daß »die räumliche Rede von Innen und Außen auf das Verhältnis von Ich und Welt übertragen und dann metaphysisch wörtlich genommen wird«.82 Jedwede Rede über das Verhältnis von »Innen und Außen«, von »Ich und Welt« ruft nun unweigerlich ein Bildproblem auf den Plan: 230 | viertes kapitel

ist dieses Verhältnis nach dem Muster einer wechselseitigen »Abbildung« zu denken? Bildet Welt im Bewußtsein sich ab, ist die »Sprache des Bewußtseins« – mit dem inneren Wort des Erinnerungsbewußtseins – ein »Abbild« erfahrener Welt? Wittgensteins ganzer Philosophie der »normalen« Sprache, denke ich, liegt diese Frage zugrunde, und diese Frage verkettet auch sein Frühwerk mit seinen späteren Schriften, in denen er dann alle geistige »Bildlichkeit« wie überflüssigen Ballast über Bord wirft. Im Logisch-Philosophischen Traktat ist dem »Bild« eine zentrale Rolle zugewiesen, da lesen wir: »der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit«, »der Satz sagt nur insoweit etwas aus, als er ein Bild ist«, »nur dadurch kann ein Satz wahr oder falsch sein, indem er ein Bild der Wirklichkeit ist«.83 Doch was heißt hier »Bild«? Nicht weniger aber auch nicht mehr als Isomorphie, nämlich strukturelle Entsprechung von »Satz« und »Wirklichkeit«. Als »Bild der Wirklichkeit« steht der Satz in logisch-struktureller Parallele zur Wirklichkeit, er ist »ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken«84 – nicht deren Abbild. Entscheidend für den logisch-philosophischen Traktat ist die »Logik der Abbildung«, und Wittgenstein behauptet jetzt: auf ihr beruht »die Möglichkeit der ganzen Bildhaftigkeit unserer Ausdrucksweise«.85 Sehen wir uns diese Behauptung einmal genau an. Ist mit ihr nicht gerade die »ganze« Bildhaftigkeit unserer Sprache – zugunsten einer bloßen »Logik« der Abbildung – unterlaufen? Läßt sich die Bildpotenz der Sprache selber auf eine Logik der Isomorphie von Satz und Wirklichkeit reduzieren? Schon im Tractatus will Wittgenstein von einer »ganzen« Bildhaftigkeit der Sprache, die auch ihre erkenntnisrelevante Anschaulichkeit einschließt, nichts wissen; sein Theorieinteresse beschränkt sich auf »das logische Gerüst um das Bild herum« und auf den Satz, insofern dieser »den ganzen logischen Raum durchgreift«.86 Wie in seiner Philosophie des normalen Sprachgebrauchs das innere Wort irrelevant wird, so aufgrund seiner logischen Engführung von »Bildhaftigkeit« das Bildwort der Erinnerung. Und insofern ist es, im Rückblick auf den Tractatus, nur folgerichtig, wenn Wittgenstein in den späteren Philosophischen Untersuchungen notiert: »was wir leugnen, ist, daß das Bild vom ›inneren Vorgang‹ uns die richtige Idee von der Verwendung des Wortes ›erinnern‹ gibt«, oder »die Worte, mit denen ich meine Erinnerung ausdrücke, sind meine Erinnerungsreaktion«.87 Wenn »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 231

diese »Reaktion« im normalen Sprachspiel nicht eintritt, wenn also jemand nicht aussprechen möchte, daß er sich erinnert, dann werden wir uns »gleichsam zum ersten Male der Nacktkeit der Worte und des Bildes bewußt«.88 »Erinnern hat keinen Erlebnisinhalt« erklärt Wittgenstein am Ende seiner Philosophischen Untersuchungen.89 Der Satz spottet jeder menschlichen Selbsterfahrung und vermag überdies auch nur den zu überzeugen, der wie Wittgenstein selber das innere Bildwort der memoria mit seiner erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit durch ein Anschauen des »Gebrauchs der Sprache ersetzen«90 möchte – und, natürlich, gar nicht erklären kann, wie das geschehen könnte.

V. Wahrnehmungsbewußtsein, Erinnerungsbewußtsein, Aufmerksamkeit Die Frage, wie »Bewußtsein« zu erklären oder gar zu definieren sei, hat die Philosophie seit jeher beschäftigt, und in modernen Analysen der consciousness wird sie – nicht zuletzt im Kontext der Hirnforschung – mit besonderer Intensität erörtert. Festzuhalten bleibt indes, daß von einem einheitlichen Bewußtseinsbegriff nach wie vor nicht die Rede sein kann, und bemerkenswert ist deshalb auch, daß noch in der gegenwärtigen Bewußtseinsforschung der Besonderheit des Erinnerungsbewußtseins nur selten die erforderliche Beachtung zuteil wird, aller »Erinnerungskultur« zum Trotz. Diese Besonderheit des veranschaulichenden Erinnerungsbewußtseins soll mit den folgenden Überlegungen wenigstens umrißhaft beschrieben werden. Auszugehen ist davon, daß Bewußtsein keineswegs (wie Aristoteles es sich von der »Seele« dachte) mit einer leeren, passiven Wachstafel verglichen werden kann, in welche die sinnliche Wahrnehmung oder die Verstandeserkenntnis ihre »Siegel« einprägen müßten. Bewußtsein »arbeitet« selber, und zwar auf unterschiedliche Weisen oder gemäß mancherlei voneinander zu differenzierenden »Modalitäten«.91 Lediglich zwei dieser Modalitäten will ich hier vorstellen. Wenn ich, zum Beispiel, vor dem Pariser Eiffelturm stehe und mir bewußt werde, daß und wie ich ihn, nach vielleicht langer Anreise, jetzt anschaue, befinde ich mich im Modus eines Anschauungsbewußtseins; wenn ich dann Paris wieder verlasse und ich das Bild des 232 | viertes kapitel

Eiffelturms vor mein »geistiges Auge« rücke, befinde ich mich im Modus des Erinnerungsbewußtseins. Jede dieser beiden Bewußtseinsmodalitäten gründet in Bewußtseinshandlungen, sei es, daß ich tätig anschaue, sei es, daß ich mir das zuvor Angeschaute noch einmal zur veranschaulichenden Erinnerung bringe. Im »zur Erinnerung bringen« ist das Bewußtsein aktiv oder handelnd, und zu einem handelnden Erinnerungsbewußtsein hat das »Denken«, weil selber kognitives Handeln, auch Zugang – im Gegensatz zu Unbewußtem oder zu Erfahrungen, die im Gedächtnis lediglich gespeichert sind, ohne daß das Licht eines bewußten Handlungswissens auf es fällt: zu solchen unbewußten Gedächtnisinhalten findet das Denken nur auf beträchtlichen Umwegen einen Zugang.92 Zwar bleibt das Erinnerungsbewußtsein an die vorausgegangene optische Wahrnehmung des Eiffelturms zurückgebunden, aber seine Modalität ist von anderer Verfaßtheit als die des Wahrnehmungsbewußtseins: an die Stelle des direkten Wahrnehmens tritt jetzt die Indirektheit des Erinnerns, der Modus der Direktheit ist ersetzt durch den Modus der Indirektheit, und die Modalität »äußerer Anschauung« durch die Modalität »innerer Veranschaulichung«, die sich auf erinnernde Bilder stützt. Beide Bewußtseinsmodi arbeiten aber nicht anonym (deutlicher gesagt: sie erschöpfen sich nicht in neuronalen Vernetzungen im Gehirn93), insofern es immer ein »ich« – eine »erste Person« – ist, das ihre Operationen steuert. Denn »ich« bin es, der den Eiffelturm angeschaut hat, und »ich« bringe ihn mir dann zu anschaulicher Erinnerung. Wahrnehmungsbewußtsein und Erinnerungsbewußtsein sind mithin dem »ich« zugänglich; das »ich« vollzieht auch die Umwandlung der Bewußtseinsmodalitäten und hat »Einsicht« sowohl in die Modi seines Bewußtseins als auch in deren Transformation (der es sich durchaus verweigern kann). Mit anderen Worten: die erste Person leistet eine »Introspektion« in die Modalitäten ihrer Bewußtseinszustände. Aber was ist eigentlich »Introspektion«? Das Wort ist beheimatet in der Psychologie , und in seinen Principles of psychology hat Willam James vor über hundert Jahren zwar richtig geschrieben, Introspektion meine den Blick in unseren Geist und dessen »states of consciousness«, aber er war auch der Ansicht, solche Introspektion brauche doch gar nicht näher definiert zu werden.94 Eine möglichst genaue Bestimmung des Introspektionsbegriffs ist jedoch für eine »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 233

Philosophie des Erinnerungsbewußtseins unverzichtbar, hat doch gerade sie einen »introspektiven Blick« auf die Veranschaulichungsleistung des Erinnerns zu richten – und dieser Blick muß geführt sein von der Aufmerksamkeit auf die Bilder im Bewußtsein. Was es mit dieser ganz spezifischen Aufmerksamkeit auf sich hat, ist zu erkunden. Wer den Eiffelturm anschaut, kann das aufmerksam tun, er kann es aber an Aufmerksamkeit auch fehlen lassen: an der Anschauung des Eiffelturms ändert sich dabei prinzipiell nichts. Mit dem Erinnerungsbild vom Eiffelturm steht es wesentlich anders: es hängt von meiner Aufmerksamkeit geradezu ab. Wenn ich ihm keine Aufmerksamkeit mehr schenken will, geht mit ihm auch seine Anschaulichkeit verloren. Der Eiffelturm bedarf meiner Aufmerksamkeit nicht, um optisch in ein Wahrnehmungsbewußtsein einzugehen; es genügt, daß ich auf ihn »blicke«. Sein Bild im Erinnerungsbewußtsein muß ich hingegen mit meinem geistigen Auge »sehen«, und solches imaginative Sehen hängt ab von meiner Aufmerksamkeit auf die Anschaulichkeit des Bildes: ein Erinnerungsbild, das ich introspektiv vor mein »inneres Auge« rücke, ist aufmerksamkeitsbedingt.95 Dasselbe gilt für das »innere Wort«, mit dem ich ein anschauliches Erinnerungsbild festhalte: es hängt von meiner Aufmerksamkeit ab, ob ich es festhalten will – es ist ein »Aufmerksamkeitswort«. Im Gegensatz zum Wahrnehmungsbewußtsein ist das Erinnerungsbewußtsein also mit einer attentio, mit der Aufmerksamkeit auf seine Veranschaulichungsleistung fest verknüpft, und eben darin besteht seine besondere »Modalität«. Nun ist »aufmerken« ein Handeln des Bewußtseins, »Aufmerksamkeit« demzufolge ein Handlungsbegriff: wir handeln, wenn wir uns bewußt erinnern, wir handeln, wenn wir Erinnerungsbilder aufrufen. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins versteht sich als Philosophie mentalen Handelns – sie eröffnet nicht zuletzt auch eine ethische Perspektive. Und damit ist noch einmal kurz und bündig erklärt, was mit meiner Rede von der »erkenntnisrelevanten« Anschaulichkeit der Erinnerungsbilder von Anfang an gemeint war: Auch das Denken in Begriffen, auch das kognitive Erkennen ist mentales Handeln und ohne attentio, ohne Aufmerksamkeit auf Denkbares und Erkennbares nicht vollziehbar. Wenn nun die Auf234 | viertes kapitel

merksamkeit auf die Anschaulichkeit der Erinnerungsbilder und das Erinnern selber als Handlungsvollzüge verstanden werden können, dann ist damit das Erinnerungsbewußtsein dem kognitiven Handeln auch »zugänglich« und das kognitive Handeln seinerseits imstande, »Zugang« zum Erinnerungsbewußtsein zu finden. Aufgrund dieser Konvertibilität von »Zugang« und »Zugänglichkeit« werden die Veranschaulichungsleistungen der Erinnerung dispositiv und relevant für die kognitive Arbeit unseres Geistes – und wird das kognitive Denken zur Konzeptualisierung des Erinnerns als eines Handelns befähigt. Die Aufmerksamkeit, von der die Anschaulichkeit der Bilder der memoria abhängt, bedarf jetzt eines aufmerkenden Subjekts, das diese Bilder »sehen« kann und »sehen« will – nicht eines Homunkulus in der Zirbeldrüse, auch nicht nur eines anonymen »inneren Auges«, sondern eines namentlichen »ich«, eines Subjekts in der ersten Person, eines »ich«, das im Aufmerken auf Erinnerungsbilder »sich« erinnert. Dieses »ich« ist selbstverständlich nicht das transzendentale »Ich denke« Kants, das »alle meine Vorstellungen« nur »muß begleiten können« und apriori eine »Identität des Bewußtseins« herstellen soll (KrV, B 132 f.). Im Duktus seines kritizistisch-transzendentalen Philosophierens darf Kant gar nicht zulassen, daß personales Bewußtsein in verschiedenen »Modalitäten« sich darstellt, und schon gar nicht darf er zugestehen, daß die Anschaulichkeit von wirklichen – nicht nur möglichen – Erinnerungsbildern von der auf sie gerichteten Aufmerksamkeit eines personalen »ich« abhängig sein könnte. Nachdem Baumgarten der attentio eine entscheidende Rolle im Haushalt des menschlichen Geistes zugemessen hatte, kommt der Königsberger Denker natürlich nicht umhin, auch etwas zur »Aufmerksamkeit« zu sagen. Doch was sagt er? »Das Bestreben sich seiner Vorstellungen bewußt zu werden ist entweder das Aufmerken (attentio) oder das Absehen von einer Vorstellung, deren ich mir bewußt bin (abstractio)«, und die Abstraktion ist ihm nun »wichtiger« als die Attention, weil sie doch die »Freiheit des Denkungsvermögens und die Eigenmacht des Gemüths beweist« (Anthropologie, 1.Teil, § 3). Eine derartige Konterkarierung der Attention mittels Abstraktion gehört mit Sicherheit zu jenen »Elementen des Kantischen Denkens«, von denen Walter Benjamin sagte, daß sie, wenn nicht »umgebildet«, dann wohl doch »verworfen werden müssen«. »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 235

VI. Vom »Mythos des Subjektiven« und vom Ich als »Konstrukt des Gehirns«: sind wir unsere Synapsen? »Was ich seit langem als die kognitive Leistung der neurobiologischen Hirnforschung anerkenne«, so steht bei einem philosophischen Autor zu lesen, »sind die empirisch-methodischen Nachweise für das Paradigma der selbstreferentiellen Funktionsweise des Gehirns«, Nachweise, mit denen sie, »recht verstanden«, nicht »gegen die Philosophie als solche revoltiert, sondern gegen einen bestimmten klassischen mainstream der Subjekt-Philosophie«, und gerecht werde man deshalb dieser Forschung erst dann, wenn man auf »phänomenal plurale Philosophien der lebendigen Natur und deren semiotischer Rekonstruktion zurückgreift«.96 Nun wird in der Tat jeder, der die stupenden Resultate der Neurowissenschaft zur Kenntnis genommen hat – durch die öffentlichen Medien werden sie ja höchst illustrativ verbreitet – , diesem Forschungszweig seine Anerkennung, ja Bewunderung zollen. Auf einer ganz anderen Ebene liegen indes die schwerwiegenden Bedenken, die seitens der Philosophie gegenüber der zu einem naturalistischen Dogma aufstilisierten Behauptung einer »Selbstreferenz« des Gehirns formuliert werden müssen – Bedenken nämlich hinsichtlich der Rede von einem »erkenntnistheoretischen Konstruktivismus«, der sich aus der »Konstruktivität unseres Gehirns« ergebe97, Bedenken hinsichtlich der These von einem »neuronalen Determinismus«, der das Bewußtsein steuere98, Bedenken schließlich angesichts des hohen Tons, mit dem ein »neues Menschenbild« verkündet wird99 und, last not least, gravierende Bedenken gegenüber der konzeptuellen und sprachlichen Darstellung des Verhältnisses von Gehirnfunktionen und Bewußtseinszuständen: die Begriffe »Ursache«, »Grund«, »Entsprechung« und »Bedingung« purzeln da durcheinander wie Figuren beim Kegelspiel, sodaß man sich fragen muß, wie genau denn jetzt verstanden werden darf, daß Bewußtsein auf kortikalen Vernetzungen »beruht« oder das limbische System die Handlungen des Subjekts »bestimmt«.100 Aufschlußreich im Kontext unseres Diskurses über Erinnerungsbilder ist schlußendlich die Redewendung von durch das Elektroenzephalogramm, die Magnetenzephalographie und die Positronen-Emissions-Tomographie ermöglichten »bildgebenden« Verfahren, die das Gehirn darstellen und dessen 236 | viertes kapitel

Strahlungs- und Durchblutungswerte meßbar werden lassen; den »Sprung« von solchen Oszillationen zu den anschaulichen Bildern im bewußten Sich-erinnern eines Subjekts vermag die Hirnforschung nicht zu erklären. Seinem »erkenntnistheoretischen Konstruktivismus« zum Trotz muß ein Neurobiologe mithin zugestehen: »ich kann mich also durchaus mit einer ›fundamentalen Erklärungslücke‹ zwischen neuronalem Geschehen und subjektivem Erleben zufrieden geben« – unter dem Vorbehalt allerdings, daß Bewußtseinsvollzüge »als naturhafte Ereignisse« begriffen werden müssen, weil ein Erlebniszustand ja doch »von Hirnprozessen vollständig bedingt ist«.101 Schon hier sind einige kritische Erwägungen am Platz. Erstens ist zu fragen, welcher Art denn die Erkenntnisse sind, die den bildgebenden Verfahren abgenommen werden. Erbringen diese Verfahren korrekte und präzise Aufschlüsse über Bewußtseinsleistungen? Läßt sich den apparativ erzeugten Oszillationen auf einem Bildschirm, diesen Meßdaten physiologischer Hirnaktivitäten, wirklich etwas über einen psychologischen Erlebniszustand wie das Sich-erinnern entnehmen? Zu befürchten ist doch wohl, daß elektronische Zugriffe auf das Gehirn dessen Aktivitäten beeinflussen, und das bedeutet: eine restlos »objektive« Beobachtung der Gehirnprozesse dürfte durch diese bildgebenden Meßoperationen schwerlich erreichbar sein. »Das Gehirn, das mentale Zustände produziert«, konstatiert darum Reinhard Olivier sehr richtig, »entzieht sich in so nachdrücklicher Weise einer Festlegung, daß man, will man methodisch genau sein, dieses Faktum berücksichtigen muß« – mit anderen Worten: »der psychologische und der physiologische Zustand des Gehirns ist nicht gleichzeitig definierbar«. Die Physiologie des Gehirns und dessen apparative Betrachtung lassen lediglich Randbedingungen bewußten Erlebens und Erinnerns sichtbar werden; sie liefern keine Einsicht in das subjektive Erinnerungserlebnis selber. »Kein Gedanke, kein Wort, kein Gefühl kann unmittelbar aus der physiologischen Aktivität abgelesen«, deren »in sich leere Signale müssen gedeutet werden«: »die bildgebenden Verfahren versagen hier völlig«.102 Die »Erklärungslücke« zwischen neuronalen Prozessen und einem subjektiv bewußten Erleben wie dem Erinnern ist mithin, zweitens, so leicht wohl nicht auszufüllen – oder doch? Gerhard Roth jedenfalls ist überzeugt, daß »der »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 237

eigentümliche Erlebnischarakter des Mental-Bewußtseins sich aus neurobiologischer Sicht plausibel machen« läßt. Er notiert: »daß die Großhirnrinde der Sitz oder Produzent von Bewußtsein ist, ergibt sich aus ihrer spezifischen funktionellen und strukturellen Organisation. Der Cortex besteht aus 12 bis 20 Milliarden Nervenzellen, wobei es sich zu mehr als 80 Prozent um große und kleine Pyramidenzellen handelt, und jede dieser Pyramidenzellen ist mit rund 30.000 anderen Pyramidenzellen synaptisch verknüpft, was eine Synapsenzahl von rund einer halben Trillion ergibt. Die kortikalen Synapsen sind in der Lage, ihre Leitfähigkeit im Sekundentakt zu erhöhen oder zu erniedrigen, und damit kann sich entsprechend im Sekundentakt das Muster der Erregungsverarbeitung kleinerer oder größerer cortikaler Netze (bestehend aus wenigen Hunderttausend bis Milliarden von Nervenzellen) ändern. Diese Veränderung der Erregungsverarbeitung erleben wir als Abfolge von Wahrnehmung, Denken, Vorstellen und Erinnern«. Daraus folgt für den Neurobiologen: »wir müssen also davon ausgehen, daß bestimmte neuronale Prozesse unter spezifischen und anatomischen Bedingungen schnell wechselnde Ordnungszustände hervorbringen, die wir als bewußte Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen und Erinnerungen erleben«. Und schlußendlich weist dieser Neurowissenschaftler auch die philosophische These zurück, »daß intentionale Zustände nicht im Erklärungsbereich der Hirnforschung liegen«, denn diese Forschung »zielt gerade auf den Zusammenhang zwischen neurophysiologischen Prozessen, subjektiven Erlebniszuständen und Verhaltensweisen«.103 Damit stellt sich nun allerdings und drittens die Frage nach dem »Erleben« und seinem Begriff. Ein Erlebenszustand wie das Sicherinnern ist für Roth »von Hirnprozessen vollständig bedingt«. Solcher »vollständigen Bedingtheit« gibt dieser Forscher nun ein seltsames Profil; denn neuronale Prozesse, so erklärt er, haben für sich allein noch »keine Bedeutung«. Ihre »Funktion und Bedeutung« ergebe sich erst aus dem »Aktivitätskontext«, in welchem sie stehen, nämlich ihrem »funktionalen Zusammenhang« mit »inneren Erlebnissen, die eine Bedeutungsebene mit einschließen« – darum insistiert Roth auf der »Entstehung von Bedeutung im Gehirn«. Kann man indes »Funktion« gleichsetzen mit »Bedeutung«? Darf man erlebte oder erinnerte »Bedeutung« auf die »Funktion« von neuronalen Aktivitäten schlicht reduzieren? Wenn man das tut 238 | viertes kapitel

– Roth gibt es unumwundern zu – , vollziehe man natürlich einen »Kategorienwechsel«; doch ein derartiger Kategorienwechsel sei nun einmal »das tägliche Brot der Neuropsychologie«, und kein Neuropsychologe werde sich »durch den Vorwurf beunruhigen lassen, seine Tätigkeit beruhe auf einem Kategorienfehler«, gebe es doch fraglos »Eigengesetzlichkeiten des Mentalen, die sich aus der Kenntnis der rein neurophysiologischen Prozesse nicht ableiten lassen« – aber gerade das ist eben in Rothscher Perspektive »eine Systemeigenschaft des Gehirns, insbesondere der Großhirnrinde«, und »die Grundlage der Selbstreferenz des Mentalen«.104 »Funktion« also als identisch mit »Bedeutung«, »Erleben« und »Erinnerung« als »Erregungsverarbeitung«, Erklärung von »Intentionalität« durch Beobachtung der Hirnaktivität, Verharmlosung eines Kategorienfehlers zum schlichten »Kategorienwechsel«: angesichts einer solchen neurowissenschaftlichen Denklandschaft dürfte ein skeptisches Notat triftig bleiben, das da lautet: »die theoretische begriffliche Arbeit ist ein unerläßlicher Schritt für ein Verständnis des Gehirns, das über das Staunen des Beobachters hinausgeht, welches im Grunde naiv ist«.105 Und zuzustimmen ist schließlich auch Hans Julius Schneider, wenn er die Rede Roths von »erlebten Hirnprozessen« als »unverständlich« bezeichnet, weil gänzlich im Dunklen bleibt, »wie hier der Begriff des Erlebens zu verstehen ist. Was soll es heißen, von einer Person zu sagen, sie erlebe ihre Gehirnprozesse?«106 Der eingangs zitierte Autor meint, die Neurobiologie sei »zunächst« als »schreckliches Faszinosum«, als »gleichsam teuflisch attraktive Inversion des Sakralen« (nämlich der »Innerlichkeit« als etwas »Seelenhaftem«) verstanden worden; er selber möchte jetzt entdecken, »wieviel christliche Hermeneutik auch in der neueren Hirnforschung noch nachwirkt, wenn in ihr aus dem hermeneutischen Zirkel der privilegierten Innerlichkeit der hermeneutische Zirkel des Gehirns wird«.107 Ich sehe mich demgegenüber gänzlich außerstande, aus dem circulus vitiosus, in den die Neurowissenschaft sich verstrickt, wenn sie die Objektsprache einer dritten Person (welche die Synapsen im Gehirn beobachtet und von ihnen berichtet) mit einer Sprache des Gehirns selber (als der Sprache eines »selbstreferenziellen« Subjekts, also gleichsam einer ersten Person) verwechselt, überhaupt einen »hermeneutischen Zirkel« zu destil»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 239

lieren, geschweige denn eine »christliche Hermeneutik«. Die bislang von mir zitierten Hirnforscher führen uns ein zwischen Hirnphysiologie und mentaler Bewußtheit changierendes Sprachspiel vor, bei dessen Lektüre es mir schwerfällt, jenem Urteil nicht beizupflichten, das da heißt: »wer versucht, die Wortwahl der Autoren klar zu fassen, nagelt eher einen Pudding an die Wand«108, und mit Recht ist deshalb gesagt worden: »a major part of the philosopher’s business is to distangle conceptual puzzles that have been woven into the fabric of empirical research«.109 Wir wollen uns hier nicht mit den Folgerungen beschäftigen, die sich aus dem »Paradigma der selbstreferentiellen Funktionsweise des Gehirns« für die Fragen nach Freiheit, Verantwortlichkeit und Schuld des Menschen ergeben können wenn nicht gar müssen, Folgerungen von höchster gesellschaftspolitischer und juristischer Brisanz. Meine Überlegungen beschränken sich auf einen spezifischen Aspekt der »Revolte« neuronaler Hirnforschung gegen die »Subjektphilosophie«, der die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins unmittelbar betrifft, insofern diese über das Subjekt oder das »ich« reflektiert, das sich selbst erinnert – über die unbestrittene Abhängigkeit des episodischen und deklarativen, des kurzzeitigen und langzeitigen Gedächtnisses, dieses unseres »wichtigsten Sinnesorgans«110 und dessen Engramme in der Großhirnrinde hinaus. Den Satz »ich erinnere mich« kann begründeterweise nur aussprechen, wer sich explizit oder implizit als Ichsubjekt immer schon weiß, und mit solchem »Wissen« huldigt er weder einem »Mythos des Subjektiven« noch wird er demjenigen zustimmen, der ihm bedeuten möchte, das Ich, das »sich« erinnert, sei »ein Konstrukt« des Gehirns. Die These »das Ich ist ein Konstrukt« wird von einem Hirnforscher verfochten und die Rede vom »Mythos des Subjektiven« von einem Vertreter der analytischen philosophy of mind. Daß und warum beide, der Hirnforscher ebenso wie der analytische Philosoph, die »subjektive Wirklichkeit« des Sich-selbst-erinnerns verfehlen, muß bedacht werden, wenn die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins ausgeleuchtet werden soll. »Was bleibt übrig vom Begriff der Subjektivität?« fragt der amerikanische Philosoph Davidson – was bleibt übrig vom ego cogito des Descartes und vom »ich denke« Kants, die nur einen Dualismus von Geist und Welt, von »Subjektivem« und »Objektivem« heraufbe240 | viertes kapitel

schworen haben? Die Frage klingt interessant, die Antwort dieses Philosophen ist erschreckend banal: übrig bleibe einzig der »Mythos« des Subjektiven. Denn die Erkenntnistheorie, so behauptet er, habe gar keinen »grundlegenden Bedarf« an rein privaten, subjektiven »Gegenständen des Bewußtseins«, es sei sogar »von Vorteil, die repräsentierenden Vorstellungen loszuwerden«.111 »Bewußtseinszustände« würden schließlich durch den sozialen Kontext ihrer Aneignung »identifiziert«, weshalb auch nicht beweisbar sei, daß es »keine physischen« Zustände sind, und beides mache »den öffentlichen Aspekt des Bewußtseins« offensichtlich. Natürlich gebe es zahlreiche Bewußtseinszustände; aber »deren Beschreibung setzt nicht die Existenz gespensterhafter Wesenheiten voraus, die der Geist irgendwie betrachtet«. Was also bleibt schließlich übrig von der »Subjektivität«? Daß Gedanken nun einmal »privat« sind wie privates Eigentum und daß einer Gedanken haben kann, die ein anderer nicht hat: eine »Asymmetrie« also der Gedanken. »Damit ist aber auch schon alles gesagt, was es mit dem Subjektiven auf sich hat«.112 Mein Leser wird nun verwundert fragen, warum ich ihm derartige Thesen überhaupt vorführe, und meine Gegenfrage lautet: fällt Ihnen nicht auf, daß dieser Autor den »repräsentierenden Vorstellungen« des Sicherinnerns ausweicht wie eine Katze dem heißen Brei? Daß er sogar von dem »Vorteil« spricht, sie »loszuwerden«? Ich denke, daß es sich lohnt, solchem Ausweichen vor den Erinnerungsvorstellungen auf den Grund zu gehen. Dieser Grund ist bei John Locke zu finden, dessen Essay concerning human understanding zu den Standardtexten aller anglophonen Vertreter der Analytischen Philosophie gehört. Für Locke steht vorderhand fest: »nächst der Wahrnehmung ist das Gedächtnis für ein denkfähiges Wesen am notwendigsten. Seine Bedeutung ist so groß, daß, wenn es fehlt, alle unsere übrigen Fähigkeiten nutzlos sind«.113 Im Kapitel Über Identität und Verschiedenheit notiert er dann: »wenn die Identität des Bewußtseins es bewirkt, daß jemand ein und derselbe ist, so beruht die Identität der Person offenbar allein hierauf«, und: »soweit ein vernunftbegabtes Wesen die Idee einer vergangenen Handlung mit demselben Bewußtsein, das es zuerst von ihr hatte, und mit demselben Bewußtsein, das es von einer gegenwärtigen Handlung hat, wiederholen kann, eben soweit ist es dasselbe persönliche Ich«, ja »es bleibt dasselbe Ich, soweit sich dasselbe Bewußtsein auf ver»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 241

gangene oder künftige Handlungen erstrecken kann«.114 Mit »Bewußtsein« ist hier das zeitübergreifende Gedächtnis gemeint, das Gedächtnis eines Ich als identisch bleibendes »Selbst«, dem auch Personalität zukommen soll. Gedächtnis oder memory, so interpretiert jetzt Bernard Williams – ein britischer Analytiker – , ist also das, »was jemanden für sich selbst zu sich selbst macht«, und sofort fügt er hinzu: »es ist schwer zu verstehen, was das bedeutet«. Denn das fehlbare und flüchtige Gedächtnis könne niemals ein Kriterium liefern für die Identität eines Selbst und eines Bezuges dieses Selbst »zu sich selbst«.115 Mit anderen Worten: vom bloßen »Gedächtnis« her betrachtet ist ein »sich erinnerndes Selbst« kriteriell nicht ausweisbar; für das Für-sich-selbst-sein des Subjekts lassen sich also äußerliche Kriterien weder benennen noch überhaupt finden. Darum müssen dem analytischen Philosophen Bernard Williams Lockes Texte »schwer verständlich« bleiben, und darum spricht Donald Davidson, auch er ein analytischer Philosoph in Lockescher Genealogie, am Ende vom »Mythos des Subjektiven« – und beide bekommen die Binnenstruktur des Sich-selbst-erinnerns nicht mehr in ihren Blick. Und was erbringt dieser kleine Ausflug in die anglophone Denklandschaft nun für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins? Um das zu eruieren, müssen wir festhalten: Erinnerungsbewußtsein, das sich in dem Satz »ich erinnere mich« bekundet, ist ein Modus von Selbstbewußtsein. Wenn dieser Modus erschlossen werden soll, ist es unumgänglich, die Kriterien zu erfragen, anhand derer die Rede von einem »Selbst« sich rechtfertigen läßt, und damit wird auch die Frage nach der personalen Identität dieses Selbst beantwortbar. Darf man diese Frage nach personaler Identität – ganz schlicht ist das die Frage »wer bin ich?« – von der Reflexion auf Selbstbewußtsein ablösen? Der von mir als Vertreter der Analytischen Philosophie zitierte Bernard Williams bekennt freimütig: »ich habe nicht die Absicht, das Selbstbewußtsein im allgemeinen zu erörtern«; denn man könne bei einer Betrachtung des Selbstbewußtseins »vielleicht das Gefühl« haben, »den Schlüssel zur Personenidentität zu besitzen«, aber das sei »in Wirklichkeit eine Täuschung«. Um solcher »Täuschung« zu entgehen, wählt er einen wie er meint »realistischeren« Denkansatz, der davon ausgeht, »daß die Fakten des Selbstbewußtseins das Geheimnis der Personenidentität nicht 242 | viertes kapitel

erschließen können, sodaß wir in die Welt der öffentlichen Kriterien zurückgedrängt werden«116 – was nichts anderes bedeutet als die »Fakten« des Selbstbewußtseins im sozialen Kontext ihrer »Aneignung« zu identifizieren, wie Davidson vorschlägt. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Locke notiert Williams nun, man dürfe »bei der Aufstellung von Kriterien der Personenidentität« – da diese ja »öffentlich« sein sollen – niemals »den Körper unberücksichtigt sein lassen«; und weil »die Kausalkette«, die Erlebnisse und Erinnerungen an Erlebnisse verknüpft, »nicht außerhalb des Körpers verläuft«, deshalb sei auch »der Begriff der Erinnerung kausal bestimmt«. Erinnerung hat mithin in den Augen dieses Philosophen den Status einer empirischen und kausal bedingten »individuierenden Eigenschaft« der Person, und darum spricht er denn auch von »Spekulationen« über das Selbst – für ihn ein »ausgedünntes Ich ohne Körper«. Überlasse man sich derartigen »Spekulationen«, dann komme man bald und »unschwer auf die Idee«, daß es dafür, »ich zu sein«, gar nicht notwendig ist, eine »individuierende Eigenschaft« wie Erinnerung überhaupt zu haben. Zwar höre man im Sprachgebrauch immer wieder »solche Dinge wie ›ich erinnere mich, etwas getan zu haben‹« – aber das sei eine »triviale Tautologie«; denn diese Redewendung besage lediglich: »sich erinnern, es selbst getan zu haben«.117 Den Grund für das »Problem« personaler Identität verortet Williams im Konzept des Selbstbewußtseins, das heißt für ihn: »daß man sich anscheinend in einem eigentümlichen Sinne seiner eigenen Identität bewußt sein kann«. Also soll einerseits gelten, daß man bei Außerachtlassung des »Körpers« (als eines »Kriteriums« für Personalität) »den Gedanken der Personenidentität jeglichen Inhalts beraubt«; doch andererseits bleibt »schwer zu verstehen«, was ein »Kriterium« des Selbst »für sich selbst« (wie Locke es verstanden hatte) denn sein könne: die memory jedenfalls nicht. »Es gibt also keine Möglichkeit, Erinnerungen als Kriterium der eigenen Identität zu verwenden«.118 Angesichts der Unterscheidung von memory und remembrance, die im Englischen sprachüblich ist, läßt sich bereits bezweifeln, ob remembrance als vom »Gedächtnis« noch einmal zu differenzierende subjektive Erinnerungsleistung der Wittgensteinschen Kriteriologie der Sprache dritter Personen oder einer »Welt der öffentli»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 243

chen Kriterien« unterworfen sein kann. Natürlich sind auch Erinnerungen von Dritten kontrollierbar. Aber selbst wenn man davon ausgehen muß, daß eine Art »ursächlicher« Beziehung zwischen vergangenen Erlebnissen und dem Gedächtnis an sie besteht, bleibt es doch sehr fraglich, ob man von einer »Kausalkette« sprechen darf, die auch das Erinnern »kausal bestimmt«. »Kausal« bestimmt kann Erinnerung einzig dann heißen, wenn man sie vom »Körper« strikt abhängig sein läßt – aber dann hat man das Konzept »personaler Identität« schon ein erstes Mal verfehlt. Denn ganz gewiß kann man bei einer Beschreibung von Personen deren Körper niemals »unberücksichtigt« sein lassen; wenn man das jedoch jetzt um »öffentlicher Kriterien« willen tut, die an Körpern ablesbar und der Perspektive Dritter zugänglich sind, verfehlt man »das Problem« der Personenidentität sogleich zum zweiten Mal. Eine Person ist nämlich mit sich identisch nicht wie ein »ausgedünntes Ich«, dem sein Körper nur zugeschrieben wird, sondern als »bleibendes, in sich seiendes und von sich wissendes Ich«, wie Jacobi es schon in kritischer Auseinandersetzung mit der Subjektphilosophie seiner Zeit formuliert hat119, in-sich-seiend aufgrund des »ich bin« – nicht aufgrund einer Zuschreibung von Körperlichkeit und damit »öffentlich« gewordener äußerer Kriterien. Solches In-sich-sein und Von-sich-wissen schließt auch aus, das Sicherinnern der Person als deren »individuierende Eigenschaft« aufzufassen: die Individualität der Person ist schon in ihrem »ich bin« ineins mit dem Wissen von ihm begründet. Sich-erinnern ist mithin ein Selbstvollzug der mit sich identischen Person, niemals »öffentlichen«, sondern einzig »innerlichen« Kriterien zugänglich. Zu diesen Kriterien gehört die Aufmerksamkeit auf die anschaulichen Bilder der Erinnerung und auf das innere Wort, das sie festhält. Mit einem Wort: die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins erschließt sich nur einer introspektiven Kriteriologie des personalen Selbst – und damit kommen wir vom »Mythos« des Subjektiven zum Ich, das da von Neurobiologen als »Konstrukt des Gehirns« beschrieben wird. Unlängst hat ein Wissenschaftskritiker den Tod der Neurobiologie vorausgesagt: die Frage nach »Bewußtsein« werde sie niemals beantworten können.120 Wie reagieren Neurowissenschaftler auf diese Sterbeannonce? »Die Funktionsweise des Bewußtseins zu enträtseln wäre sicherlich eine wissenschaftliche Großtat«, erwidert 244 | viertes kapitel

der amerikanische Hirnforscher LeDoux, »würde aber nicht erklären, wie das Gehirn arbeitet oder wie es uns zu den Individuen macht, die wir sind«; deshalb fragt er nicht mehr »wie bringt das Gehirn Bewußtsein hervor?«, sondern »wie formt das Gehirn unsere Persönlichkeit?«, und um dieses Thema kreist jetzt auch sein Buch Das Netz der Persönlichkeit. Hier möchte er erklären, »wie unser Selbst entsteht«, nämlich: »aus der synaptischen Struktur unseres Gehirns«, und da folgert er nun apodiktisch: »wir sind unsere Synapsen«. Doch damit nicht genug, fährt er doch fort: »mein Begriff der Persönlichkeit ist recht einfach: das ›Selbst‹, die Quintessenz unseres Seins, spiegelt Muster der Interkonnektivität zwischen den Neuronen wider«, um dann auch zu erklären, das Thema »Bewußtsein« werde schlicht »überbewertet« und seinem darob vielleicht verstörten Leser zu versichern: »ich glaube, daß mein Geist (und der Ihre) einem materiellen System entspringt, lehne aber andere Auffassungen des Geistes deshalb nicht rundweg ab«.121 »Nicht rundweg« also – obwohl Professor LeDoux einige Seiten später notiert, er teile die Auffassung nicht, »das Bewußtsein sei der Schlüssel zum Verständnis der Person«.122 Kein Philosoph kann oder will die Resultate der Hirnforschung hinsichtlich der biologischen Voraussetzungen des menschlichen »Geistes« und schon gar nicht eines neuronal bedingten »Gedächtnisses« bezweifeln. Einem Satz, der da lautet »wir sind unsere Synapsen« wird ein Philosoph indes niemals zustimmen und zustimmen dürfen. Denn empirisch-hirnphysiologischen Befunden ist nicht abzulesen, ob und wie sie repräsentationale Intentionen enthalten. »Erinnerungsbewußtsein« und »Sicherinnern« in ihrer intentionalen Verfaßtheit sind jedenfalls keine »Eigenschaften« der neuronalen Netze des Gehirns – und sie sind deshalb durchaus ein »Schlüssel zum Verständnis der Person«, deren Selbstsein wiederum nicht naturalistisch reduziert werden kann auf einen »einfachen Begriff der Persönlichkeit« als »Widerspiegelung« der multiplen Interkonnektivität von Neuronen. Auch bei LeDoux kommen die Begriffe Geist, Selbst, Person und Persönlichkeit recht unbestimmt und verwirrend daher, denn auf seinen beiden Gedankenlinien – daß einerseits »Bewußtsein« nicht überbewertet werden dürfe und andererseits das Gehirn uns zu den »Individuen« mache, die wir sind – lassen sie sich auch nicht mehr stichhaltig verorten. Um es »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 245

noch deutlicher auszudrücken: wer da diesem Forscher Glauben schenken wollte, wenn er schreibt, es sei doch eine »Binsenwahrheit«, daß »das Selbst ein synaptisches Phaenomen ist« – »was sollte das Selbst auch sonst sein?«123 – , der verstrickte sich nicht in einem »Netz der Persönlichkeit«, sondern der verfängt sich in einem Netz unbedachter und willkürlicher Sprach- und Denkfiguren. Diese einer Kontrolle zu unterziehen, bleibt Aufgabe des Philosophen, der dafür auch besser ausgebildet sein dürfte als ein Neurowissenschaftler, der auf empirischen Wegen herausfinden möchte, »wie das Gehirn den Geist möglich macht«.124 Angesichts der konzeptuellen Beliebigkeit der Neurowissenschaft scheint mir eine Prognose, die den Bedeutungsverlust dieser Forschungsrichtung voraussagt, so falsch nicht zu sein. Wie das Gehirn »den Geist« möglich macht – den Geist einer Person, ihr Bewußtsein und ihre bewußten Erinnerungsbilder zum Beispiel von einem Geliebten: läßt sich dies mit einem »liebenden Gehirn« erklären, das eine visuelle Information empfangen hat und sie ins Arbeitsgedächtnis leitet, wo ein »Bild« des geliebten Menschen entsteht, welches im Temporallappen des Gehirns »Erinnerungen« an diese Person aktiviert, wodurch jetzt ein »Gefühl der Liebe« erzeugt wird?125 Was für ein »Bild« ist das wohl, das sich »im präfrontalen Kortex« zeigt? Wer »sieht« es, und wer sieht es nicht nur als neuronalen Reflex, sondern wirklich »als Bild«? Wie werden denn die im Temporallappen aktivierten Erinnerungen »gesehen«? Kann ein Hirnforscher diese Fragen mit der Rede von einem »inneren Auge im Arbeitsgedächtnis« überzeugend beantworten, wenn er zugleich zugeben muß, daß das Arbeitsgedächtnis »nicht in allen Einzelheiten zu erklären vermag, wie Bewußtsein und andere Aspekte des Geistes aus dem Gehirn entstehen«?126 Die Bilder im Erinnerungsbewußtsein bleiben dem Neurophysiologen ein Rätsel – auch dann noch, wenn er wie Kosslyn »keine zwingenden Gründe« findet, die Annahme einer »Verbildlichung«, imagery genannt, zurückzuweisen; denn die versichtbarenden geistigen Bilder, die visual mental images, hätten doch die Aufgabe, »Informationen« aufzubewahren. Die ganze imagery bleibe indes »verwurzelt« im Gehirn, rooted in the brain, sie sei mithin »nicht geheimnisvoller« als die ihr »zugunde liegende« Gesichtswahrnehmung. Eine auf solcher Fährte erstellte Definition des geistigen Bildes kann dann am Ende auch 246 | viertes kapitel

nur recht dürftig geraten: »a mental image is not a picture, but is a depictive representation«, das geistige Bild ist kein Gemälde, sondern eine gemalte Repräsentation.127 Was aber heißt »Repräsentation«? Wer »repräsentiert« da was? Und »repräsentiert« ein Bild etwa nichts? Es bleibt schwierig zu verstehen, wie das Gehirn »den Geist« soll möglich machen können. Müßte man vielleicht lieber fragen, wie nach Ansicht der Neuroszientisten das Gehirn überhaupt Geist »ermöglicht«? Es ist ein Unterschied, ob ein Neurobiologe glaubt erklären zu können, wie Synapsen im Gehirn »den Geist« möglich machen, oder ob ein Geisteswissenschaftler sich der Frage stellt, unter welchen Bedingungen und mit welchen Einschränkungen man davon sprechen darf, daß Vorgänge im Gehirn solche Bewußtseinsverhalte wie das Sicherinnern »ermöglichen«. Der naturwissenschaftlich arbeitende Forscher geht von der Hypothese einer »Ursächlichkeit« oder sogar einer das Bewußtsein determinierenden »Kausalität« der Nervenverbindungen aus; der Philosoph fragt nach »Gründen« für die Interdependenzen und Differenzen zwischen Hirnphysiologie einerseits und Geisteswissenschaft andererseits. Hinter der »Erklärungslücke« zwischen den »Entitäten« Gehirn und Geist versteckt sich mithin das Theorieproblem des Verhältnisses von determinierender Kausalität und handlungsleitender Intentionalität. Im voraufgehenden Abschnitt dieses Kapitels habe ich ausgeführt, daß die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins sich als Philosophie mental-intentionalen Handelns versteht; wie wir mit unseren Erinnerungsbildern umgehen, das ist von bewußter ethischer Relevanz und niemals zur Gänze neuronal determiniert: für den Umgang mit ihnen stützen wir uns auf »Gründe«, die dann auch für unser an das Erinnern sich anschließende konkrete Handeln bedeutsam sind. Der Neurowissenschaftler Roth, der zugibt, daß die Hirnforschung »für sich bisher keine grundlegende Methoden- und Begriffskritik durchgeführt hat«128, möchte diesem Defizit nun steuern, indem er sich dem – wie er vermeint: »klassischen« – Standpunkt Donald Davidsons anschließt, »daß Handlungserklärungen Kausalerklärungen sind«.129 Demzufolge will er Handlungsgründe als »bewußte Erlebnisform von Gehirnprozessen« verstehen, die sich als »Verkettung von neurophysiologischen Ereignissen darstellen«. Damit hofft er »Gründe« und »Ursachen« – als bloße »As»erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 247

pekte« ein und desselben Phänomens – hinreichend voneinander unterscheiden und gleichzeitig, im Sinne Davidsons, miteinander vereinbaren zu können: »Gründe wären demnach der ›innere‹, erlebte Aspekt, Ursachen der ›äußere‹ neurophysiologische Aspekt eines umfassenderen Dritten, das ganz offenbar deterministisch abläuft, uns aber grundlegend verschlossen ist«.130 Zu einer »grundlegenden Methoden- und Begriffskritik« der Hirnforschung dürften derartige Sätze kaum taugen: das Geheimnis dieses umfassenderen Dritten, das uns grundlegend verschlossen bleibt, von dem aber trotzdem behauptet wird, daß es deterministisch abläuft, bleibt eher Gegenstand einer Methodenkritik als daß es sich »methodenkritisch« im Rothschen Verständnis lüften ließe. Klar erkennbar ist in diesem Methoden- und Begriffsnebel einzig und allein, »daß alles Mentale strikt an neuronale Prozesse gebunden« bleiben soll – wenngleich Neurowissenschaftler bitte nicht behaupten sollten, »es gebe jenseits der neuronalen Vorgänge nichts mehr zu erklären«.131 Sind jetzt die Bilder im Erinnerungsbewußtsein eines Ich jenseits der Synapsen zu verorten, oder sind sie strikt an neuronale Vernetzungen gebunden? Wie erklärt sich denn nun ihre Anschaulichkeit, die von der intentionalen Aufmerksamkeit eines sich-erinnernden Ich abhängt, im Verhältnis zur sinnlich-visuellen Anschauung und deren Verarbeitung zu neuronalen, technisch testbaren »Erregungsmustern« im Gehirn?132 Für Gerhard Roth »zeigt« sich jedenfalls nur, »daß das erlebende Ich, der sich bewußte Geist in uns, ein vielgestaltiges Konstrukt ist und keineswegs das einheitliche Phänomen, das Philosophen fälschlich meinen, wenn sie von ›dem‹ Geist sprechen«.133 Ich wüßte keinen Philosophen zu nennen, der so pauschal von »dem« Geist redet wie Hirnforscher es gerne tun, und ich setze, als Philosoph, an die Stelle jenes rätselhaften »umfassenderen Dritten«, das da »Aspekte« des Bewußtseins und »Aspekte« der Physiologie des Gehirns vereinen, dabei aber »uns grundlegend verschlossen« sein soll, den personalen Geist des ganzen Menschen – und der ist gewiß kein »Konstrukt«.134; 135 Die Sprache der Hirnforscher zu dekodieren ist für den Philosophen kein leichtes Geschäft. Denn auch Wolf Singer findet »keinen ersichtlichen Grund«, der die Annahme ausschlösse, daß »Selbsterfahrungsprozesse« wie »sich ein Bild von sich selber zu machen« auf neuronalen Verschaltungen »beruhen«. Von welcher Art »Selbster248 | viertes kapitel

fahrung« ist da die Rede? Von der Erfahrung einer alltäglichen, physisch bedingten Selbstbefindlichkeit oder, anspruchsvoller, von der »Erfahrung« eines begrifflich zu definierenden Selbst-Seins? Und was besagt die von Neurobiologen immer wieder strapazierte Vokabel »beruhen«, wenn es bei Singer dann heißt, für Bewußtseinsverhalte lassen sich »keine testbaren Erklärungsmodelle erdenken«, sodaß Aussagen der Hirnforschung und Aussagen der Geisteswissenschaft oder der Philosophie »nur innerhalb der jeweiligen Beschreibungssysteme Gültigkeit beanspruchen können«? Das »Selbst«, wie es vom Philosophen beschrieben wird, ist neurophysiologisch nicht »testbar«, und das geisteswissenschaftliche Beschreibungssystem des »Selbst-seins« kann mit dem hirnwissenschaftlichen Beschreibungssystem von »Selbsterfahrungsprozessen« wohl kaum über ein und denselben Kamm geschoren werden; inwiefern also soll es auf neuronalen Repräsentationen und Metarepräsentationen »beruhen«? Solche »Metarepräsentationen«, so belehrt uns doch die »neue Wissenschaft«, bleiben ja höherstufige nervliche Verschaltungen von neuronalen »Repräsentationen« der erlebten Außenwelt, sie bleiben »testbare« Vorgänge im Gehirn. In welcher Hinsicht und unter welchen Bedingungen darf mithin eine Person, die »sich ein Bild von sich selber« macht, sagen, dieses Bild »beruhe« auf meßbaren Prozessen im Gehirn? Und zu fragen ist überdies: was wird hier eigentlich ein »Bild« genannt? Wer sieht es? Ein »inneres Auge« im Gehirn?136 Singer gesteht schließlich zu, daß das Ich- oder Selbstbewußtsein »nicht mehr allein innerhalb neurologischer Beschreibungssysteme behandelt« werden kann, zumal die Neurowissenschaft nur »fragmentarische Vorstellungen« davon hat, »wie Erinnerungen im Gehirn repräsentiert sind«.137 Er mahnt also eine bedachte und vorsichtige Sprache in den Hirnwissenschaften an, beharrt aber darauf, daß es keine triftigen Gründe gebe, das »Beruhen« von Bewußtsein auf neuronaler Interkonnektivität zu bezweifeln. Allerdings bleibe da eine »Erklärungslücke« zwischen neuronalen Wechselwirkungen und Bewußtseinserfahrungen des Selbst, und »solange diese Erklärungslücke nicht geschlossen ist«, könne das Wissen über neuronale Verarbeitungsprozesse »nicht für das Verständnis höherer Hirnleistungen genutzt werden«; diese Lücke zu schließen, sei nun »die größte Herausforderung der Hirnforschung«.138 »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 249

Nehmen wir Singer beim Wort, dann liegt also die »Erklärungslücke« zwischen Hirn und Bewußtsein in der Differenz zwischen niederen und höheren Hirnleistungen, und darum soll die Überbrückung dieser Lücke auch Aufgabe der Hirnforschung bleiben. Die Erklärungslücke, die den Philosophen beschäftigt, ist eine gänzlich andere: sie klafft, zum Beispiel, anhand der Frage auf, wie aus den Erregungsmustern im Gehirn – dem »Feuern« der Neuronen, das apparativ getestet werden kann – das anschauliche Bild im Bewußtsein eines Ich, das sich in diesem Bild erinnert, entstehen soll. Für Singer ist das eine Leistung von »pluripotenten Verarbeitungsalgorithmen in der Hirnrinde, die für eine Vielzahl verschiedener Funktionen verwendet werden können und deren Iteration allein zur Emergenz qualitativ neuer Leistungen führen kann«; und darum folgert er: »Eigenschaften, die das spezifisch Menschliche ausmachen« wie »Denken« und »Erinnern« sind als Emergenzphänomene »der Hirnrinde zuzuschreiben«, und die »Bilder«, die da entstehen, verdanken sich den »Bindungsneuronen«, die »Signale von Bildpunkten« miteinander verknüpfen. Dazu sei allerdings »eine riesige Zahl von Bindungsneuronen« erforderlich, für die auch »ein riesiges Areal« im Gehirn existieren müßte – doch »solche Areale wurden bislang nicht gefunden«.139 Über diesen Mißstand hilft dem Hirnforscher indes die anspruchsvolle Behauptung hinweg: »jedes gesunde menschliche Gehirn verfügt über die reflexive Organisation, welche kombinatorische Prozesse und die Verdichtung der neu geschaffenen Entitäten in symbolischen Repräsentationen zuläßt«.140 Diese »symbolischen Repräsentationen« sind offenbar die »Bilder«, von denen der Geisteswissenschaftler spricht aber eigentlich gar nicht sprechen müßte, würde er nur auf die »Emergenzen« achten, die jedes gesunde Gehirn »zuläßt« – und solches »Zulassen« von symbolischen Repräsentationen seitens des Gehirns soll dann wohl auch jene andere »Erklärungslücke« zwischen Gehirn und Erinnerungsbewußtsein schließen, die den Philosophen immer noch beunruhigt.141 Schon angesichts der von mir getroffenen Auswahl einiger weniger Texte aus der stetig steigenden Flut hirnwissenschaftlicher Publikationen wird (oder sollte) mein Leser sich fragen, warum Neurobiologen sich so entschlossen auf das Terrain geisteswissenschaftlicher und philosophischer Hermeneutik wagen, um da mit ihren Denk- und Redefiguren wahrlich nicht zu brillieren. Was veranlaßt 250 | viertes kapitel

sie, ernsthafte Mitglieder und Direktoren von Forschungsinstituten, so erheiternde Sätze zu formulieren wie »das Bewußtsein schleicht sich aus Nervennetzen heraus«, eigentlich werde es auch »überbewertet«, das »erlebende Ich« sei jedenfalls ein »Konstrukt« und wir selber wären nichts anderes als »unsere Synapsen«? Alles das scheint auch gar nicht so recht zusammenzupassen mit der emphatischen Verkündigung: »die moderne Hirnforschung ist dabei, mit ihren analytischen Werkzeugen in die innersten Sphären des Menschseins vorzudringen« (so allerdings, daß dabei »die Begründung unserer Selbstwahrnehmung als freie, geistige Wesen hinterfragt« werden muß).142 Der Philosoph kommt also nicht umhin, darüber nachzugrübeln, wie Neurowissenschaftler eigentlich denken. Singer führt ihm das vor. »Bevor« er sich dem Gehirn »als Objekt naturwissenschaftlicher Nachforschungen« zuwendet, will er auf ein »erkenntnistheoretisches Problem« hinweisen: »bei der Erforschung des Gehirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst. Es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende«.143 Das ist kein schlüssiger, wohl aber ein aufschlußreicher Satz. Aufschlußreich ist er insofern, als Wolf Singer mit ihm eine alte – vornehmlich von Droysen und Dilthey angestoßene und seither anhaltende – geisteswissenschaftliche Debatte über das Verhältnis von »Erklären« und »Verstehen« schlicht (und gewaltsam) in das neuronale Hirnsystem hineinprojiziert, die Frage nach dem »Verstehen« dieses Systems jedoch unterschlägt und unter »Erklärung« subsumiert, um auf diese Weise das Gehirn als das zu Erklärende mit dem Gehirn als dem Erklärenden »verschmelzen« zu können: nur auf dem Wege dieses Unterschleifs eines hermeneutisch-theoretischen Problems kann das Gehirn zu einem selbstreferentiellen »Spiegel seiner selbst« gemacht werden. Doch damit nicht genug: sogar »bei der Erforschung« des Gehirns, in der Tätigkeit also des Hirnforschers, betrachtet sich nach Ansicht dieses Autors das kognitive System »Gehirn« als Widerspiegelung seiner selbst – der Neurobiologe, nur so wird die verschlüsselnde Formel »bei der Erforschung des Gehirns« begreiflich, betritt selber sein Labor als Gehirn. Das ist nun wirklich eine »gedankliche Volte«, mit der »die Objektsprache zum selbstreflexiven Sprachspiel« gerät144 und das zu Erklärende, das explanandum, noch einmal mehr zum Rätsel wird.145 Denn der Hirnforscher, der bei der Erforschung des Gehirns nur als Gehirn »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 251

das Gehirn anschaut, will zu diesem eine »subjektive« Verstehensdistanz nicht mehr beziehen. Und so stellt sich für Singer aufgrund seiner »erkenntnistheoretischen« Prämisse, die er formuliert, »bevor« er das Gehirn neurobiologisch testet, ganz folgerichtig »die Frage, inwieweit wir überhaupt in der Lage sind, das, was uns ausmacht, zu erkennen«. Es genügt, an die Stelle der Vokabel »erkennen« das Verbum »verstehen« zu rücken, um des Dilemmas ansichtig zu werden, das in der These vom Gehirn als »Spiegel seiner selbst« gründet und jetzt Hürden schafft vor dem Begreifen dessen, »was uns ausmacht«; dies ist gewiß mehr als ein neuronales System, »erklärt« im Binnenspiegel seiner selbst. »Erklärt« sich denn ein Gehirn, wenn es seine eigenen Repräsentationen und Metarepräsentationen nur »verschaltet«? Die philosophische Kritik an der Hirnforschung zielt nicht auf deren achtungheischende neurobiologische Resultate, sondern auf eine naturalistische Methodologie, welche die Intentionalität des personalen Geistes auf eine Kausalität hirninterner Rückkoppelungsschleifen glaubt reduzieren zu dürfen. Wo aber sinnrationales Verstehen durch funktionale Erklärung ersetzt wird, handelt es sich um ein fragwürdiges Methodenmanöver und nicht lediglich, wie Singer glaubt, um »Perspektiven der ersten und der dritten Person«.146 Der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach, mit den Forschungsdiskursen der Neurobiologie bestens vertraut, spricht darum unverhohlen von deren »Begriffseinfalt«, die »besonders augenfällig wird, wenn vom Gedächtnis die Rede ist«: das Ergebnis »der Beobachtung einfachster Reflexe von Schnecken« gerate da zum Modell der Gedächtnisleistungen des Menschen, »die Dimension des bewußten Erlebens, des Mentalen oder Psychischen« spiele in der Argumentation »keine Rolle mehr«, »mit erstaunlicher Selbstsicherheit« werde »der Bezug auf bewußtes Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Erinnern oder bewußtes Verhalten vermieden, und wenn schon von Bewußtsein die Rede ist, dann in der Überzeugung«, daß es »lediglich eine Begleiterscheinung neuronaler Prozesse darstellt«.147 Mir scheint zwar, daß von dieser prinzipiell zutreffenden Kritik beispielsweise der amerikanische Hirnforscher Damasio wenigstens insofern auszunehmen ist, als dieser ja ausdrücklich festhält: »die Frage, wie wir empfinden, hängt davon ab, was wir unter Bewußtsein verstehen, ein Problem, bei dem Bescheidenheit angezeigt ist«, eine neurowis252 | viertes kapitel

senschaftliche Bescheidenheit auch hinsichtlich des Themas ›Subjektivität‹ – Damasio schreibt: »ich fürchte, daß wir, solange wir die Subjektivität ausklammern, nicht in der Lage sind, die empirischen Daten über die Entstehung und Wahrnehmung von Vorstellungen richtig zu interpretieren«.148 Aber ich möchte nachdrücklich auf die philosophische Perspektive aufmerksam machen, in die Breidbach seine Kritik an der Hirnforschung jetzt einbettet. Auch ihm geht es nämlich darum, »zu zeigen, wie ein Neurophysiologe denkt, um zu verstehen, was er sieht«. Deshalb rückt er die »Begriffseinfalt« der Neurowissenschaft vor den Horizont der Frage nach Anschauung und Anschaulichkeit: vor eine Thematik mithin, die für den Entwurf einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins entscheidend, ja maßgeblich ist, und weil sein Buch über »das Anschauliche« und »die Anschauung von Welt« sich sogar auf eine neuronale Ästhetik fokussiert, darf es geschärfte Aufmerksamkeit beanspruchen.149 Was »sieht« denn ein Neurobiologe? Am toten Hirn die Präparate des Anatomen, am lebendigen Hirn die Verschaltungen, die er apparativ messen kann: der Neurobiologe »sieht apparativ«, und seine Denkweise bleibt an solch apparatives Sehen gebunden; überschreiten kann er sie nur durch eine Zuhilfenahme von Hypothesen. Was seine Apparaturen ihm darbieten, ist zudem alles andere als ein getreues »Bild der Außenwelt« im Gehirn – die Rede von »bildgebenden« Verfahren führt als solche schon »in die Irre«, zumal »kein Bildspeicher in den Hirnregionen zu finden« ist. Ein »Bild«, so Breidbach nun, ist immer »gewußtes Bild«, »aus dem Denken konturiert«: »Bildsehen ist gar nicht das, was den Meldungen der sensorischen Bahnen, den von den Sinnesorganen wegführenden Nerven, abzugreifen ist«.150 Der Hirnforscher stützt sich auf eine »Anschauung« von meßbaren Repräsentationen und Metapräsentationen im Gehirn, er »sieht« neuronale Erregungsmuster, niemals »anschauliche« Bilder oder Erinnerungsbilder. Deren Veranschaulichung gründet in einem gänzlich anderen Modus von »Sehen«, erst dieses Sehen ist wirklich bildgebend und, weil intentional geführt, auch bildverstehend. Auch mit Breidbach, denke ich, läßt sich die Erklärungslücke zwischen neuronalen Mustern und im Erinnern gewußten Bildern als Sprung von der objektgebundenen Anschauung zu »aisthetischer« Anschaulichkeit in ihrem erkenntnisrelevanten »Wertgefüge«151 begreifen. »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 253

VII. Erkenntnisrelevante Veranschaulichung und »visual mental imagery« In der Auseinandersetzung des Philosophen mit dem Hirnforscher, dies dürfte meinem Leser nunmehr deutlich geworden sein, ist eine Klärung der von beiden verwendeten Begriffe vordringlich. Das gilt beispielsweise schon für die Rede von einer »Selbstreferenz« oder »selbstreferentiellen Funktionsweise« des Gehirns. Denn das Gehirn, das sich selber nervlich und chemisch verschaltet, ist dadurch noch längst kein mit sich selbst identisches »Selbst«. Wer die neuronale Konnektivität von Repräsentationen und Metarepräsentationen im Hirn dennoch als »selbstreferentiell« bezeichnet, erzeugt damit nur semantische Verwirrung und setzt sich sogar dem Verdacht aus, die Grenze zwischen neurowissenschaftlichen und philosophischen »Beschreibungssystemen« – auf der ja auch die Neurobiologie wenigstens prinzipiell besteht – mit Absicht zu unterlaufen. Der Begriff einer »Eigenreferenz« dürfte da sachgemäßer sein, weil er die Binnenorganisation des Gehirns als »System« aus neuronalen Mustern oder »Karten« exakt beschreibt.152 Zu einem verständnisvollen Gespräch des Philosophen mit dem Neurowissenschaftler dürfte es demgegenüber kommen können, wenn beide sich bereit finden, einer von dem Hirnforscher und Psychologen Stephen Kosslyn skizzierten Argumentationslinie zu folgen: daß nämlich die versichtbarende Verbildlichung in unserem Geist, Kosslyn nennt sie eine visual mental imagery, zwar »im Gehirn verwurzelt« ist, aber gleichzeitig »zu den höheren kognitiven Funktionen gehört«; demgemäß definiert er diese imagery als Verknüpfung von hirngesteuerten »mechanischen Vorgängen« bei der sinnlichen Wahrnehmung mit einer »hochstufigen Sehenswahrnehmung«, welcher er »kognitive« Relevanz zubilligt, und auf dieser Basis hält er eine »weiterführende Theorie« anschaulicher Verbildlichung für möglich und angezeigt.153 An solche Überlegungen schließt nun der Philosoph McGinn in seinem Buch Mindsight an, wenn er das imaging, das mentale Bildsehen, durch das Gehirn als »generativem Organ« veranlaßt sieht, aber auch »dem Denken ähnlich« sein läßt: »das Gehirn«, so führt er aus, »generiert visuelle Präsentationen äußerer Objekte im Prozeß der Formung mentaler Bilder« – in einem Prozeß, der deshalb dem Denken »ähnlich« ge254 | viertes kapitel

nannt werden darf, weil auch er intentional geführt ist, nämlich von einer auf Verbildlichung zielenden Intentionalität eigenen Rechts, die unterschieden werden muß sowohl von der auf sinnliche Dinge als auch von der auf bloße Gedanken sich richtenden.154 Denn »Bilder« in der Vorstellung und in der Erinnerung sind nicht lediglich Denkfiguren und schon gar nicht sind sie Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung: sie gehören zu einer eigenständigen »geistigen Kategorie«, der auch ein selbständiger Erfahrungsmodus – eine »visuelle« Intentionalität – zuzuordnen ist.155 McGinns Mindsight kann einerseits auf Kants transzendentales Konstrukt einer »reinen Einbildungskraft apriori«, durch welche »Bilder allererst möglich« werden sollen (KrV, B 181), verzichten: ihr geht es von Anfang an um die wirklichen Bilder im Bewußtsein und im bewußten Erinnern, denen wir andererseits mit der Disjunktion von Sinnlichkeit und Verstand in der bipolaren Statik der Kantischen »Anschauung« und des Kantischen »Begriffs« niemals auf die Spur kommen. Ich denke, daß McGinn mit seiner Theorie einer »visual intentionality«156 ebenfalls einen Zugang zu der Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins eröffnet, um deren Ausmessung ich mich in diesem Kapitel bemüht habe: um die Dimension einer aus bloßer »Anschauung« nicht herleitbaren Anschaulichkeit der Erinnerungsbilder, einer Anschaulichkeit, die von den intentionalen Akten ihrer Veranschaulichung nicht abgelöst werden kann. Diese beiden Strukturmomente der Erinnerungsbilder, so füge ich nun hinzu, verknüpfen sich aber mit dem »inneren Wort-Bild« der memoria und gewinnen dadurch eine »sprachbewegte« Form157 – mit anderen Worten: das Erinnerungsbewußtsein veranschaulicht und spricht. Eben damit gerät es einem Philosophieren aus dem »reinen Begriff« nicht anders als einem Denken aus öffentlicher »normaler Sprache« zum unauflösbaren Rätsel. Bereits wenn wir sagen »ich erinnere mich« gehen wir indes mit diesem Rätsel um; denn einerseits wissen wir um die Fragilität und Flüchtigkeit unserer Erinnerungen, andererseits möchten wir aber eine Stabilität und Identität unseres »Ich« immer schon voraussetzen – seit Kant weichen viele Philosophen diesem Dilemma aus, indem sie die Erinnerung der Psychologie anheimgeben und aus ihren Diskursen über »Subjektivität« schlicht ausklammern. Wie also steht es in philosophischer Perspektive mit dem »Ich« im »Sich-Erinnern« in seiner »erkenntnisrelevante anschaulichkeit« | 255

Anschaulichkeit und inneren Wörtlichkeit? Colin McGinn notiert zwar: »ich bin es, der die mentalen Bilder erzeugt« – die Antwort, wie dieses »ich« zu denken sei, bleibt er jedoch seinem Leser schuldig, ja, er erklärt sogar: »mit dem begrifflichen Denken betreten wir eine ganz andere Landschaft«, da »sehen wir nicht mehr mit dem inneren Auge«.158 Die Binnendimension des Erinnerungsbewußtseins wird mithin erst dann endgültig ausgeschritten sein, wenn wir – im übernächsten Kapitel – über »das Ich im Sicherinnern einer Person« nachgedacht haben. Ist der Gedanke »Ich« da eine »symbolische Repräsentation« in der memoria? Und was ist mit dem so inflationär verwendeten Wort »Repräsentation«, diesem »gewaltigen Nebelfleck«, eigentlich gesagt? Im folgenden Kapitel wollen wir zuvörderst hierzu einige Überlegungen anstellen.

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Fünftes Kapitel Die Bilder der memoria: »Repräsentationen« oder »Wiederholungen«? Zur Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins »Das Wort ›Repräsentation‹ bezeichnet, im Hinblick auf die griechische Problematik des eikon und dessen schwierige Doubletten phantasma und phantasia, das große Rätsel der memoria; das mnemonische Phänomen besteht darin, daß dem Geist eine abwesende und noch dazu nicht mehr seiende, sondern gewesen seiende Sache gegenwärtig ist«. »Die Erinnerung ist erneute Vergegenwärtigung, ist Re-präsentation«. (Paul Ricœur) »Die Repräsentation ist der Ort der transzendentalen Illusion«. »Wenn es eine klassische Welt der Repräsentation gibt, so definiert sie sich durch die vierfache Fessel der Identität im Begriff, des Gegensatzes im Prädikat, der Analogie im Urteil, der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung«. »Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber«. (Gilles Deleuze) »Wiederholung ist der entscheidende Ausdruck für das, was bei den Griechen Erinnerung war. So wie diese damals lehrten, daß alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist. Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Deshalb macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menchen glücklich, während die Erinnerung ihn unglücklich macht«. (Sören Kierkegaard) »Wozu dienen die Erinnerungsbilder? Werden sie nicht, wenn man sie im Gedächtnis aufbewahrt und wenn sie im Bewußtsein wieder auftauchen, den praktischen Charakter des Lebens verderben, werden sie nicht Traum in die Wirklichkeit mengen?« »Wir bedienen uns des flüchtigen Bildes, um einen bleibenden Mechanismus zu konstruieren, durch den das Bild überflüssig wird«. (Henri Bergson)

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Die Zitate, die ich diesem Kapitel vorausschicke, spannen das Netz auf, über dem wir – wie Artisten in der Zirkuskuppel – die Balance werden halten müssen; rätselhaft sind sie vorderhand alle vier. Schöpft denn der Begriff »Re-präsentation« alles aus, was zum Thema Erinnerung gesagt werden muß? Was hat es sodann mit der vierfachen Fesselung durch »Identität«, »Gegensatz«, »Analogie« und »Ähnlichkeit« auf sich, durch die der Repräsentationsbegriff definiert sein soll? Trägt auch die Erinnerung diese Fessel, oder muß das Erinnern sie allererst lösen? Schließlich die Erinnerung als »Wiederholung nach rückwärts«, die den Menschen »unglücklich« macht: als vergegenwärtigende Repräsentation des Vergangenen ist sie offenbar nicht gedacht – aber als was dann? Was soll demgegenüber eine »Wiederholung nach vorwärts« sein? Und was gilt bei all dem von den Bildern der memoria? »Repräsentieren« oder »wiederholen« sie? Wir wollen diese Fragen anhand von Texten der neo-strukturalistischen »Differenzdenker« Derrida und Deleuze erörtern (Abschnitt I) und sodann Einblick in die Schriften von Autoren nehmen, auf die vor allem Deleuze sich beruft: Sören Kierkegard (Abschnitt II) und Henri Bergson (Abschnitt III). Vor diesem Hintergrund treffe ich die Unterscheidung zwischen »Repräsentation im Begriff« und »Repräsentanz im Bild«; diese Unterscheidung wird verdeutlichen, was unter dem Konzept einer »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins zu verstehen ist. Und ob der Begriff »Repräsentation« tatsächlich das große Rätsel der memoria mit ihren Bildern bleiben muß, wie der Phänomenologe Paul Ricœur behauptet, wird uns am Schluß dieses Kapitels beschäftigen (Abschnitt IV). * * * Ich habe diesem Buch den Titel »Die Wiederholung und die Bilder« gegeben. Damit ist nicht gemeint, daß Bilder im Erinnerungsbewußtsein schlichte Wiederholungen von vergangenen Ereignissen sind; in dem »und« meines Buchtitels steckt vielmehr die Frage nach der Referenz der Erinnerungsbilder auf dasjenige, woran sie erinnern, und damit steht auch die Differenz zur Debatte zwischen dem, was in diesen Bildern erinnert wird und dem Bewußtsein eines Ich, das »sich« in ihnen erinnert, indem es vermöge seiner »visuellen Intentionalität« (von der im vorigen Kapitel die Rede war) das Erinnerte wiederum »sich« veranschaulicht. Wenn Erinnerungsbilder – in welcher Weise auch immer – ein Was »wiederholen«, dann 258 | fünftes kapitel

niemals ohne die differenzierenden Veranschaulichungsleistungen eines Wer: Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind keine toten, nur repräsentativen Gedächtnisspuren, sondern intentional belebte Bilder eines niemals anonymen Ich, und da bleibt stets zu fragen, »wer« das denn ist. Die Binnendimension von memoria und reminiscentia, die wir bislang am Leitfaden »erkenntnisrelevanter Anschaulichkeit und Veranschaulichung« durchschritten haben, ist darum noch einmal auszumessen im Hinblick auf zwei entscheidende Asymmetrien, die das Erinnern von innen her zu zersprengen scheinen. Um welche Asymmetrien handelt es sich da? Zuvörderst ist die Asymmetrie genauer zu bedenken, die zwischen dem Was, das erinnert wird, und dem Wer des Erinnerns besteht: eine Asymmetrie zwischen »Außen« und »Innen«, zwischen »Objekt« und »Subjekt«, eine Asymmetrie zugleich zwischen »Vergangensein« und »Gegenwärtigsein«. Zu fragen ist: läßt sich, was vergangen ist, wieder-holen? Darf man Erinnerung als Wiederholung denken? Wir können uns vielleicht wieder-holen, was wir vergessen haben, doch niemals das, was unwiderruflich vergangen ist. Das Wieder-holen eines Was, das vergangen und »gewesen ist«, gelingt einzig durch ein anschauliches oder sprachlich veranschaulichtes Bild vom Vergangenen im gegenwärtigen Erinnerungsbewußtsein. Damit verwandelt sich die »Wiederholung« unvermeidlich zu einer »Vergegenwärtigung« des Vergangenen – zu einer Repräsentation im Bild. An der memoria ist ablesbar: ohne Bild keine Repräsentation des vergangenen Was; der Begriff der Repräsentation, ohne das Bild gedacht, bleibt hier leer. Einzig die flüchtigen Bilder selber sind es, die sich wiederholen können. Und die Frage nach dem Ich, dem Wer des Erinnerns: darf man sie eine »egologische« Frage nennen im Sinne eines vom Erinnern des vergangenen Was abhebbaren oder gar isolierbaren Ich – eine Frage, die man darum »in der Schwebe halten« sollte, um die »Phänomenologie des Mnemonischen« auf ihr objektbezogenes Moment, das Vergangensein, fokussieren zu können?1 In solcher Perspektive definiert Paul Ricœur die Erinnerung als »Re-präsentation« des Vergangenen – wobei er sich auf den Satz des Aristoteles beruft: »das Gedächtnis ist an Vergangenes geknüpft« (de mem 449 b 15) – , und mit dieser Bestimmung der Erinnerung als Re-präsentation »einer nicht mehr seienden, sondern gewesen seienden Sache« stößt die bilder der ›memoria‹ | 259

nun auch er »an die äußerste Grenze einer Ontologie des historischen Seins«.2 Für eine Philosophie des Erinnerungsbewußtseins spielt die Rückbindung der memoria an das »Gewesensein« des Erinnerten ohne Frage eine entscheidende Rolle3; das Problem der Darstellbarkeit und Darstellung erinnerten Gewesen-Seins läßt es indes gar nicht mehr zu, die »egologische« Frage »in der Schwebe« zu halten: bleibt es doch unumgänglich, daß ein bewußtes Ich die »gewesen seiende Sache« sich in anschaulichen Bildern des Erinnerns veranschaulicht. Die Auslotung des Erinnerungsbewußtseins rückt mithin eine Asymmetrie zwischen gegenwärtig erinnerndem Bewußt-sein und erinnertem Gewesen-sein in den Blick – ein fundamentales Differenzverhältnis, das nicht übersprungen werden darf, wenn Erinnerung »gedacht« werden soll, ein Differenzverhältnis aber auch, in welchem das Differente im Erinnerungsbild aufeinander trifft. Steckt nicht eine zweite Asymmetrie schon in dem Satz »ich erinnere mich«? Ist das »Ich« im Erinnerungbewußtsein denn identisch mit dem »Ich« im Verstand, mit dem »Ich denke«? Stoßen wir nicht auch hier auf eine Asymmetrie, auf eine Asymmetrie im Begriff »Ich«? Zu fragen ist folglich: wiederholt das »Ich denke« lediglich das, was das »Ich im Erinnerungsbewußtsein« ihm vorstellt? Ist, in umgekehrter Richtung, das »Ich denke« des Verstandes im »sich erinnernden Ich« repräsentiert? Erlaubt das sich erinnernde »Ich« den Ausgriff auf eine transzendentale Apperzeption, auf ein Kantisch gefaßtes »Ich denke«? In welchem Differenzverhältnis sind dann das Erinnerungsbewußtsein und das »Selbstbewußtsein« zu verorten? Vermag das Selbstbewußtsein das »ich erinnere mich« des Erinnerungsbewußtseins zu repräsentieren oder zu vertreten? (Repräsentation kann ja auch »Vertretung« bedeuten). Und welche Funktion oder gar Bedeutung hat das Reflexivum »sich« in der Rede vom Sich-erinnern? Reflektieren oder »spiegeln« sich in ihm das Ich im Erinnern und das Ich im Denken? Ist es imstande, die genannten Asymmetrien aufzulösen, vermag es, auf das »Theater der Wiederholung« und auf das »Theater der Repräsentation« ein erhellendes Licht zu werfen? Wenn Philosophen zu der Ansicht neigen, das Thema »Gedächtnis und Erinnerung« gehöre doch eigentlich in das psychologische Fach, wenn sie gar das Erinnern aus ihren Subjektivitätstheorien ausklammern, dann sind das Anzeigen eines Auswei260 | fünftes kapitel

chens vor den Asymmetrien des »bewußten Lebens«, die an der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins ablesbar sind. Eine kleine Atempause muß ich meinem Leser nun wohl gönnen. Es könnte ja sein, daß die lange Reihe der Fragen, die ich jetzt stellte – nach »Differenz« und »Referenz«, nach »historischer Ontologie«, nach »Repräsentation«, »Wiederholung« und dem Stellenwert des Reflexivums »sich« – ihn irritiert. Und es könnte darum auch sein, daß er sich (und mich) fragt, ob es wirklich notwendig ist, eine derart lange Fragenkette zu flechten, wenn es doch »nur« um das Erinnern und seine Bilder gehen soll. Vielleicht wird mein Leser sogar auf Aristoteles verweisen, dem es gelungen ist, auf wenigen Seiten (in der deutschen Übersetzung sind es nicht einmal zehn!) über memoria und reminiscentia Entscheidendes zu sagen. Dieser kurze Text des Aristoteles setzt aber dessen ganze Philosophie über die »Seele« voraus, und zu deren Darstellung benötigte er immerhin drei Bücher. Schon in der Antike fiel man also nicht mit der Tür ins Haus der Erinnerung; und seit dem Ausgang der Renaissance, insbesondere seit der »kopernikanischen Wende« Kants ist die Erinnerung zunehmend zu einem Problemtitel geworden. Mithin bleibt nur übrig, diesen Problemtitel wieder vorsichtig einzukreisen, das soll heißen: die Fäden philosophischer Gegenwartsdiskurse aufzunehmen und zu verfolgen, um zu prüfen, ob und wie sie sich mit unserer Frage nach der »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins verknüpfen lassen.

I. Die Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins und der neostrukturalistische Diskurs über »Differenz«: eine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida und Gilles Deleuze Gelebtes Erinnern ist stets von Asymmetrien durchzogen: nicht nur zwischen dem erinnerten Was und dem erinnernden Wer, nicht nur zwischen dem Ich im Erinnern und dem Ich im Denken, sondern auch zwischen der »Vorstellung« des Erinnerten und dessen »Rückstellung«4 in die memoria, zwischen der erinnerten Zeit und der Zeit des Erinnerns, zwischen dem Erinnerungsbild und dem es festhaltenden inneren Wort; schließlich von einer Asymmetrie, die sich in die bilder der ›memoria‹ | 261

die Frage kleiden läßt: bin »ich«, wenn ich mich an Entscheidendes erinnert habe, noch derselbe wie vorher – oder bin ich durch das Erinnern »ein anderer«, ein anderes, glückliches oder »unglückliches« Selbst geworden, ungeachtet der Selbigkeit meines »Ich«? Und jedes Nachdenken des Philosophen über das Erinnerungsbewußtsein sieht sich mit den Differenzen konfrontiert, die in diesen Asymmetrien sich verstecken. Aber was ist und heißt »Differenz«? Läßt Differenz sich fassen in einem statischen Begriff, oder ist sie – weil sie differenziert und damit eine Bewegung anzeigt – der Widerspruch zum fest-stellenden Begriff? Kann oder muß man sie also begriffslos denken? Darf man von einer vor- oder gar unbegrifflichen Differenz sprechen? Bei Aristoteles lesen wir: »Differenz (diaphora) wird ausgesagt von dem, was anders ist und doch etwas gleich hat, nicht nur der Zahl, sondern auch der Art (eidos), der Gattung (genos) oder dem Verhältnis (analogia) nach« (Met V, 9; 1018 a 12). Damit ist die Differenz aus den Begriffen der Gattung, der die Gattung unterteilenden Art und aus einem Relationsbegriff hergeleitet, womit sie selber zu einem »Begriff« zu geraten scheint, der sogar eine begriffliche Definition erlaubt gemäß dem Axiom definitio fit per genus proximum et differentiam spezificam, »eine Definition wird erstellt anhand der nächstliegenden Gattung und deren spezifischer Differenz«. Die Differenz ist da, auf den ersten Blick, mit dem definierenden Begriff in der Weise einer »Unterwerfung« unter ihn versöhnt. Um ihre »Befreiung« aus solcher Unterwerfung geht es jetzt den französischen »Neostrukturalisten« Deleuze und Derrida, dem einen mit seinem Konzept einer »Differenz an sich selbst«, dem anderen mit seinem Modell einer alle différence noch einmal unterbietenden différance, und beide verknüpfen ihr oft phantastisch aufgeladenes Ausholen zur Befreiung der Differenz vom sie fest-stellenden Begriff mit einer harschen Kritik an »Repräsentation«, an einer Repräsentation nämlich der Differenz durch den Begriff. Was uns hieran interessiert, ist nicht der »postmoderne« Gestus, der den Angriff der genannten Autoren auf den »Logozentrismus« der Philosophie seit Aristoteles steuert; denn so »logozentrisch«, wie dieser Gestus es unterstellt, ist die Philosophie in Wahrheit nie gewesen.5 Was hingegen unser Interesse weckt, ist die sowohl von Jacques Derrida als auch von Gilles Deleuze aufgestellte Behauptung, nichts, 262 | fünftes kapitel

aber auch gar nichts sei den Spielen der différence oder différance entzogen, schon gar nicht »der Begriff« und das »Ich denke«. Wir schlagen darum einmal einige wenige Texte dieser »Differenzdenker« aus einer Perspektive auf, deren Augenpunkt die »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins ist. »Nichts geht der différance voraus«, erklärt Derrida in einem Gespräch mit Julia Kristeva, »es gibt kein Subjekt, das Agent, Autor oder Herr der différance wäre«, und: »Subjektivität ist – ebenso wie die Objektivität – eine Wirkung der différance, eine in das System der différance eingeschriebene Wirkung«. Doch was, so dürfen wir wohl fragen, ist dann diese différance selber? »Verräumlichung«, antwortet unser Philosoph, »Verzeitlichung«, »Umweg«, »Aufschub«, alles das im Rahmen einer »Ökonomie der Spuren«, die immer wieder »auf ein anderes, vergangenes oder zukünftiges Moment verweist«. Die différance soll also hinter (oder unter) jede Bestimmtheit durch bestimmende Begriffe zurückgreifen, sie darf sich darum auch keinen bestimmten Ort suchen (und bleibt in diesem Sinne u-topisch); zugleich soll sie vorgreifend »wirken«: nicht nur auf Zukünftiges, sondern sogar auf das bewußte Subjekt und seine Subjektivität (die nun die Wirkmacht der différance nicht beherrschen darf oder gar könnte). Denn das bewußte Subjekt, so fährt Derrida fort, bleibt stets »abhängig von der Bewegung der différance«, in deren Kräftefeld es darum niemals »selbstgegenwärtig« sein kann. In der Tat: der »Aufschub« der différance müßte in einer bewußten Selbstgegenwärtigkeit des Subjekts unweigerlich sein Ende und seine »Bestimmung« erfahren. Für Derrida hingegen soll gelten, daß im Raum der différance das Subjekt »sich spaltet«, »sich verräumlicht« und »sich verzeitlicht« – mit einem Wort: »es differiert sich«.6 »Das Subjekt differiert sich« – ohne neostrukturalistisch (oder gar post-modern) zu werden, darf die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins an diesen Satz Derridas anknüpfen, wenn auch in einem ganz anderen Verständnis. Denn das Sich-erinnern eines Subjekts ist stets ein Sich-bewegen in Differenzen, aus denen es »sich« nicht herausstehlen kann. Insofern hat ein Nachdenken über Erinnerung den Einsatz des Neostrukturalismus bei der différence durchaus ernst zu nehmen, wengleich der Behauptung Derridas, daß das Subjekt, indem es »sich differiert«, zugleich in eine différance hinein »sich spaltet«, zu widersprechen ist: ich »spalte mich« die bilder der ›memoria‹ | 263

ja doch nicht, wenn ich »mich« erinnere. Das »sich spalten« des Subjekts, von dem Derrida spricht, erklärt sich einzig aus der Vorgabe einer différance als selber begriffsloser Spaltung (in »Aufschübe«, »Verzögerungen« und »Spuren«), die ihre »Aufhebung« in eine »Selbstgegenwärtigkeit« des Subjekts gerade verhindern soll. Darum protestiert Derrida auch gegen Hegels Idee einer Er-innerung als »anamnetischer Innerlichkeit«, die alle Differenz in das In-sich-gehen des Geistes »aufhebt« und »in dessen Selbstpräsenz interniert hält«.7 Aber die »Differenzstruktur« der mémoire – deren »Urphaenomen« die ins Endlose verweisende »Spur« sein soll8 – bekommt dieser Differenzdenker mit solchem Protest noch längst nicht in den Blick. Dies wiederum hängt mit seiner Auffassung von »Struktur« und mit seinem Gebrauch des Reflexivums »sich« zusammen (das im Sich-erinnern auf das Ich, das Subjekt des Erinnerns, zurückverweist und es »reflektiert«). Wenn Derrida nun formuliert: »das Subjekt differiert sich«, dann nimmt seine Überlegung zunächst von einem solchen Ich-Subjekt ihren Ausgang, nicht von der différance, und darum möchte Jürgen Habermas festhalten: Derrida »bricht keineswegs mit der Subjektphilosophie«.9 Derrida besteht indes gleichzeitig darauf, daß eben dieses Subjekt nur »abhängig von der Bewegung der différance« gedacht werden darf. Wenn nun das Subjekt »sich« differiert, nämlich sich in den Raum der »Spuren« hinein »auseinander- trägt« (das ist der wortwörtliche Sinn des dif-férer), dann nicht derart, daß es dabei der »Autor« oder gar der »Herr« der différance bliebe, sondern weil es der sich endlos differierenden différance immer schon »eingeschrieben« ist. Das sich differierende Ich-Subjekt vermag mithin niemals der sich differierenden différance Herr zu werden. Mit anderen Worten: indem das Subjekt »sich differiert«, geht es seines reflexiven Sichbestimmens verlustig (und kann dann auch nicht mehr, im strikten Sinn, »sich erinnern«). Oder, noch einmal anders: das Reflexivum »sich«, mit dem Derrida operiert, gerät zu einem Chamäleon, das im Sprachspiel mit dem Verbum différer seine Farbe wechselt. Dieses Verbum – von Derrida nicht zufällig gewählt – meint ja mehreres: »verschieden machen«, »verschieben«, »aufschieben«, »abweichen«, und alles das auf seinem Grundsinn, nämlich »auseinander-tragen«. Das Subjekt, das »sich dif-feriert«, trägt sich auseinander – in die différance der »Spuren«, in die hinein es »sich spaltet«. Von der 264 | fünftes kapitel

Subjektphilosophie, mit der nach Habermas der Differenzdenker Derrida »nicht bricht«, bleibt in Wahrheit nur ein fragiler, kontingenter Rest, »eingeschrieben« in das »System der différance«. Und so mag man Habermas auch nicht folgen, wenn er meint, Derrida »macht nur«, was der Subjektphilosophie als fundamental gegolten hatte, »von dem noch tiefer liegenden, ins Schwanken geratenen oder in Schwingung versetzten Boden einer temporal verflüssigten Ursprungsmacht abhängig«.10 Wäre das Subjekt bloß äußerlich »abhängig« von der u-topischen différance als »temporaler« Ursprungsmacht, könnte es doch innerlich und wesentlich immer noch »selbstgegenwärtig« sein – aber gerade »selbstgegenwärtig« (und in solcher Selbstgegenwart mit sich identisch) darf es ja nicht bleiben. Derrida spricht deutlicher und härter als Habermas: »an dem Punkt, wo der Begriff der différance ins Spiel kommt, werden alle begrifflichen Gegensätze der Metaphysik, weil sie letzten Endes immer auf die Präsenz eines Gegenwärtigen bezugnehmen (z. B. in der Form der Identität des Subjekts, das bei allen seinen Tätigkeiten, in allen seinen Un- und Vorfällen gegenwärtig ist, das selbstgegenwärtig ist) unwesentlich«.11 Derrida »bricht« durchaus mit der Subjektphilosophie zugunsten einer anonymen différance – nicht anders als Michel Foucault, dessen Archäologie des Wissens wiederum »sich in einer Anonymität entfalten« soll, »der keine transzendentale Konstitution die Form des Subjekts auferlegen« darf.12 Derridas différance zielt auf eine Dekonstruktion des Subjekts, das auf die neostrukturalistische Bühne nur gestellt wird, um dem Publikum vorzuführen, wie es, angeblich, auseinanderbricht; und wenn der Theatervorhang fällt, ist das Subjekt, das »sich differiert«, längst zu einem archäologischen Torso geraten – der auch nicht mehr vermag, »sich zu erinnern«. Mit der Dekonstruktion des Subjekts im Modus seiner »Spaltung« verknüpft Derrida ein noch gewagteres Unternehmen: die »Dekonstruktion der Philosophie« – womit pauschal die Metaphysik und ihre ganze abendländische Geschichte gemeint ist. Dem »sich spalten« des Subjekts, mit dem das Reflexivum »sich« der re-flexiven Struktur der Subjektivität entzogen werden soll, stellt der Neostrukturalist eine prinzipielle Kritik am Strukturdenken der »Metaphysik« zur Seite. Wie ist, aus unserer Optik auf die »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins, diese Dekonstruktion von »Struktur« zu beurteilen? die bilder der ›memoria‹ | 265

Die Dekonstruktion der Philosophie – als Dekonstruktion von Struktur – besteht für Derrida darin, »die strukturierte Genealogie ihrer Begriffe zwar in der getreuest möglichen Weise und von einem ganz Inneren her zu denken«; das darf man wohl so verstehen, daß auch der Neostrukturalist sich zunächst auf Begriffe wie »Sein«, »Idee« oder »Repräsentation« einzulassen hat, da sie ja die Genealogie der Metaphysik von innen her strukturieren. »Aber gleichzeitig«, so fährt Derrida umgehend fort, hat der Differenzdenker diese metaphysischen Begriffe »von einem gewissen, für sie selbst unbestimmbaren Draußen her festzulegen«, von einem Draußen nämlich, das die Metaphysik in ihrer Geschichte »verbergen oder verbieten konnte«, einem Draußen, das sie »nicht präsentieren konnte« – und deshalb auch gar nicht präsentieren konnte, weil es »nirgends präsent ist«. Ein philosophisch unbescholtener Leser dieser Sätze, der sich fragen mag, was denn das sein könnte, das da »nirgends präsent ist«, wird jetzt von Derrida auf den spiritus rector des französischen Philosophierens verwiesen: auf Heidegger, der »die Bestimmung des Sinns von Sein als Präsenz«, den Sinn von Sein also im Sinn von »Anwesendsein« oder »Gegenwärtigsein«, als »das Schicksal der Philosophie erkannt hat«; eben diesen »Sinn von Sein« gilt es nun »in Frage zu stellen«.13 Mit anderen Worten: was »nirgends präsent ist« und darum »in Frage zu stellen«, das ist ein Sinn von Sein als strukturell »anwesend« oder »gegenwärtig«. Fragwürdig ist dem neostrukturalistischen Differenzphilosophen nicht nur die Selbstgegenwärtigkeit des Subjekts, sondern ineins mit dieser auch die Gegenwärtigkeit oder »Präsenz« eines Sinnes von Sein; und unter ein Fragezeichen gerückt werden soll beides durch die différance, durch den »Aufschub« einer Antwort auf diese beiden Fragwürdigkeiten, durch die différance als »Vorbedingung jeglicher Bedeutung und jeglicher Struktur«14 – als bedingendes Voraus alles strukturierten Sinnes, als ein Voraus, das die abendländische Metaphysik »verbergen oder verbieten« konnte, weil sie es in der Struktur ihrer Begriffe nicht »präsent« zu machen vermochte und mit einer »Re-präsentation« ihrer Begriffe sich glaubte rechtfertigen zu können. In diesem »strukturkritischen« Kontext gibt Derrida nun nochmals eine Erklärung für das »a« in dem Wort différance: es soll auf die »Aktivität« hinweisen, die ein »Spiel der Differenzen« produ266 | fünftes kapitel

ziert, weshalb die différance auch »mit dem statischen, synchronen, taxonomischen Begriff der Struktur unvereinbar« sei – ohne daß sie dabei allerdings »a-strukturell« werde; denn sie bewirke schließlich »systematische und geregelte Transformationen, die bis zu einem gewissen Grad Anlaß zu einer strukturellen Wissenschaft geben könnten«. Ja, »der Begriff der différance entwickelt sogar die in höchstem Maß legitimen grundlegenden Anforderungen des ›Strukturalismus‹«.15 Derrida nennt seine auf die Dekonstruktion der Struktur fokussierte Dekonstruktion der Philosophie eine »réduction de la structuralité de la structure«, eine Reduktion des Signifikanten »Strukturalität«, der das Signifikat »Struktur« nicht nur bezeichnet, sondern auch durch seinen »transzendentalen« Sinn »begrenzt« und auf diesen Sinn »zentriert«.16 Wie die différance möchte er die structure von jedem sie »begrenzenden Zentrum« befreien, trage doch die structure ebenso wie die différance ihren Sinn (der nie an »Gegenwärtigkeit« oder »Präsenz« gefesselt ist) in sich selber: »das Zentrum setzt auch dem Spiel, das es eröffnet und ermöglicht, eine Grenze. Als Zentrum ist es der Punkt, an dem die Substitution der Inhalte, der Elemente, der Terme nicht mehr möglich ist. Im Zentrum ist die Permutation oder Transformation der Elemente untersagt« – »der Begriff der zentrierten Struktur ist auf widersprüchliche Weise kohärent«, das Denken von Struktur muß deshalb »dezentriert« werden.17 Im Klartext heißt das: Derrida bleibt in dezentrierte Struktur verstrickt und findet aus dieser Verstrickung auch nicht mehr heraus, weil er jedes Aufbauprinzip der Struktur negiert.18 Und damit verbaut er sich jeden Zugang zum Erinnern in seiner »Differenz-Struktur«: aus ihr kann einerseits das Ich, dieses Zentrum, das »sich« erinnert, niemals flüchten; doch andererseits ist es eben dieses Ich, das die Struktur trägt und allererst begründet. Das Sich-erinnern ist ein durchaus »kohärentes« Sich-bewegen in Asymmetrien und Differenzen, und so hätte man gehofft, von einem Differenzdenker auch differenzierte Aufschlüsse über memoria und reminiscentia zu bekommen. Die Hoffnung bleibt unerfüllt, und der Versuch, eine anonyme différance »begriffslos« zu denken, ein Traum. Der Traum verschleiert, daß die Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins im »sich« erinnernden Subjekt ihr Zentrum hat – ein Zentrum zumal, das die »Permutationen« der memoria, die flüchtigen Bilder der Erinnerung, weder »untersagt« noch »bedie bilder der ›memoria‹ | 267

grenzt«. Vor dem Problemtitel »Erinnerung« mit den ihr eigenen Differenzen hißt auch der Neostrukturalismus der différance die weiße Flagge der Kapitulation. Aber ungeachtet dessen, daß die différance ein Traumbild ist – ein Traumbild aus dem Blickwinkel der in Begriffen sich »repräsentierenden« Metaphysik, einem Blickwinkel, den auch der Neo-Strukturalist nicht verlassen darf, wenn er denn diese Metaphysik von innen her »dekonstruieren« will – , ein Traumbild schließlich, unter dessen Schleier Derrida die im Ich »zentrierte« Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins bis zur Unkenntlichkeit verhüllt, bleibt dennoch wahr, daß die endlosen »Spuren« seiner différance ebenso an einen »Punkt tiefer Dunkelheit«19 führen wie die Bild-Spuren des Erinnerns. Nicht zuletzt wegen dieser Bildspuren ist der modernen Philosophie die memoria ja zu einem Problemtitel geraten – wir haben nicht vergessen, wie Hegel sie aus dem »nächtlichen Schacht« der Intelligenz herausholen wollte, um sie in Wort-Zeichen des Denkens »aufzuheben«, und wie Husserl sie zu »eidetisieren« versuchte. Sind Derridas différance-Spuren diesen Bild-Spuren in ihrer beider Rätselhaftigkeit nicht verwandt? Bleiben nicht alle beide dem »begrifflichen« Denken unbegreiflich? Auch da, wo wir Derrida kritisch lesen müssen, dürfen wir seine Sensibilität für Fragen, die mit »Begriffen« nicht eindeutig beantwortbar sind, nicht unterschätzen. Darum sagte ich, daß die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins – mit aller gebotenen Vorsicht – an Derrida auch »anknüpfen« kann. Auf die Frage nämlich, ob die Bilder der Erinnerung durch eine »passive« Sinneswahrnehmung oder durch den »aktiven« Zugriff der Einbildungskraft entstehen, kann es eine begrifflich eindeutige Antwort gar nicht geben; und wo Kant mit der »reinen Einbildungskraft a priori« eine solche eindeutige Antwort geben wollte, blieben die wirklichen Erinnerungsbilder nur »möglich«.20 Schlagen wir also noch einmal jenen Text auf, in dem Derrida ausführlich zu dem »Rätsel der différance« sich äußert. »Was sich durch ›différance‹ bezeichnen läßt«, heißt es da, »ist weder einfach aktiv noch passiv«, sondern »ruft in Erinnerung«, was »weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjekts sich denken läßt«. Die différance »ruft eine mediale Form in Erinnerung«, die von der Philosophie in eine »Tätigkeitsform« und eine »Leideform« aufgeteilt wurde: die Philosophie hat »die mediale Form« der différance, die 268 | fünftes kapitel

»Transitivität« ihrer zugleich passiv-empfangenden und aktiv-wirkenden »Spuren« in den Gegensatz »tätig oder leidend« zerschnitten.21 Ist es denn nun nicht wahr, daß die Philosophie mit den Bildern des Erinnerns in gleicher Weise umgeht? Trifft es etwa nicht zu, daß sie die Bild-Spuren der memoria einmal als durch sinnliche Wahrnehmung »erlitten« und ein andermal als von der Einbildungskraft »produziert« verstehen möchte – Bildspuren, deren »Passivität« und »Aktivität« in der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins sich doch »medial« verknüpfen? Ruft also das Nachdenken über die Bilder der memoria nicht Derridas »Medialität« der différance-Spuren »in Erinnerung«? Hat Derrida mit seiner Philosophie »begriffsloser« différance nicht doch etwas »präsent« gemacht, was in der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins voll zu Buche schlägt? Man kann »den Ursprung« der mémoire, so erklärt Derrida nun aber auch, ja man kann die mémoire überhaupt, »ob bewußt oder unbewußt«, nur beschreiben, »wenn man der Differenz zwischen den Spuren Rechnung trägt«22 – den Spuren der différance. Hier gabelt sich der Weg, auf dem wir Derrida jetzt nicht mehr folgen können; denn zwischen einem unbewußten Gedächtnis und dem Erinnerungsbewußtsein liegt ein tiefer Einschnitt. Doch was ist denn, »was bedeutet ›Bewußtsein‹?«, fragt Derrida, und seine Antwort lautet wiederum: Bewußtsein »läßt sich, mit allen seinen Modifikationen, nur als Selbst-Gegenwart denken. Und was für das Bewußtsein gilt, gilt hier für die sogenannte subjektive Existenz überhaupt« – das aber ist »der Äther der Metaphysik«, der zu dekonstruierenden Metaphysik. »Das Beisichsein des Bewußtseins« darf dieser Dekonstruktion zufolge nurmehr als Wirkung, als »Effekt« des Systems der différance interpretiert werden, eines Systems, das eine Opposition »von Unbestimmtheit und Bestimmtheit nicht zuläßt«, weil die différance stets das begrifflich »Undenkbare« bleibt, der »Punkt tiefer Dunkelheit«23 – auf das bewußte Sich-erinnern mit seinen Bild-Spuren fällt aus solcher Dunkelheit kein Fünklein Licht. Und wie denkt Gilles Deleuze die »Differenz« und die »Struktur«? »Wie in einer Kristallkugel« lasse sich »die ganze Welt« als »wogende Tiefe« von Differenzen lesen, davon ist auch Deleuze überdie bilder der ›memoria‹ | 269

zeugt; auf Nietzsche anspielend möchte er darum »ein klein wenig Blut des Dionysos in die Adern Apollons fließen lassen«, nämlich (aber das ist wohl kaum ein klein wenig) »die Macht des Taumels, der Trunkenheit, der Grausamkeit und gar des Todes« der apollinisch »monozentrischen Welt« einer Philosophie injizieren, die einzig ihr Vernunftprinzip re-präsentiert – denn solche Re-präsentation sei nun einmal nichts anderes als ein »Ort der transzendentalen Illusion«. In seinem Buch Différence et répétition will Deleuze »die Differenz ihrem Stand der Verfluchung entreißen« und einer Metaphysik der Repräsentation von Vernunft in »reinen« und für »Identität« sorgenden Begriffen entwinden; verwechsele doch diese Metaphysik »die Niederschrift der Differenz in die Identität des Begriffs« mit dem »eigenen« Begriff der Differenz, dem der »Differenz an sich selbst«, die immer »auf andere Differenzen verweist, durch die sie nie identifiziert, sondern differenziert wird«: man muß die Differenz an sich selbst »im Verlauf ihrer Differenzierung zeigen« – in ihrer »Transitivität«, wie Derrida das sagt. Die transzendentale Illusion einer Re-präsentation von Vernunft in »reinen« Begriffen leugne die »intensive Tiefe« aller Differenz ineins mit dem, »was in ihr brodelt«. Dementgegen soll gelten: »überall ist die Tiefe der Differenz primär«24 – auch dies ein Echo auf den Satz Derridas: »nichts geht der différance voraus«. Beide, Deleuze ebenso wie Derrida, sagen dem »Vorrang der Identität« und damit der »Repräsentation« den Kampf an. Denn »der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefaßt sein mag, definiert die Welt der Repräsentation. Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken«25, »das Präfix RE im Wort Repräsentation meint diese begriffliche Form des Identischen, die sich die Differenzen unterwirft«.26 Und wenn mein Leser sich darüber gewundert haben sollte, daß schon Derrida den Bildern der memoria im »Beisichsein des Bewußtseins«, in der Identität bewußter Selbstgegenwart, auswich, dann kann Deleuze ihm den Knoten dieser Verwunderung lösen: »die moderne Welt«, so meint er, ist keine Welt der »Bilder« mehr, sie ist eine Welt der »Trugbilder (simulacres)«. Sie ist es deshalb, weil »alle Identitäten nur simuliert sind« und »wie ein optischer Effekt durch ein tiefer liegendes Spiel erzeugt«: durch das 270 | fünftes kapitel

Spiel der sich differenzierenden »Differenz an sich selbst«, in dem auch »die Identität des Subjekts nicht überlebt«. Abbild, Urbild – das sind für Deleuze nur Überreste der Metaphysik des Platonismus, »das Trugbild ist nicht etwa ein Abbild, reißt vielmehr alle Abbilder nieder, indem es auch die Urbilder stürzt«.27 Dieser Satz gibt Anlaß zu kritischen Nachfragen. Ist denn ein Trugbild nicht immer noch ein Bild? Reicht es hin, schlicht zu zitieren: »Deleuze hat die moderne Welt der Simulakren im Blick«?28 Das hat er gewiß auch, und er hat damit durchaus Recht, denn die »Identität des Subjekts« gilt dieser Welt in der Tat nicht allzuviel. Aber das genügt nicht, um diesem Philosophen der Differenz auf die Spur zu kommen. Der hat nämlich nicht nur »die moderne Welt« der Trugbilder vor Augen, sondern mit dem »deformierenden Bild« des Denkens der Repräsentation die Philosophie Platons, des Autors der Vulgata alles Bilddenkens. Dem »deformierenden Bild« des Denkens der Repräsentation möchte Deleuze ein »bildloses Denken« entgegenstellen, »und sei es um den Preis größter Zerstörungen, größter Demoralisierungen und einer Hartnäckigkeit, die nur das Paradox als Verbündeten hätte«29 – das »Paradox«, mit dem auch Kierkegaard in seiner philosophierenden Theologie der »glücklichen« Wiederholung und der »unglücklichen« Erinnerung sich verbündete. Aber was versteht Deleuze unter einem »bildlosen Denken«? Will er denn nicht gerade das trügerische Bild, das simulacre denken? Wegen ihres Gewichtes referiere ich eine These aus dem französischen Text: »le simulacre est ce système ou le différent se rapporte au différent par la différence elle-même«.30 Das Trugbild ist das »System« von Differenzen der »Differenz an sich selbst« (wiederum in Entsprechung zu Derridas »System der différance«). Man kann nur staunen: der Bilderstreit der »abendländischen« Metaphysik und Theologie findet nicht einmal im neostrukturalistischen »System« der Differenz ein Ende! Zumindest das Trugbild ist jedenfalls nicht zu »stürzen«, und Deleuze kommentiert das mit den Worten: »als ob das Denken nur durch die Befreiung vom Bild zu denken beginnen könnte«.31 Daß es das tatsächlich nicht kann, hat Platon gezeigt, den Deleuze sehr genau »im Blick hat«, und diesem Blick müssen wir folgen. Im Dialog Sophistes beschreibt der antike Philosoph die »Jagd« auf die »bildnerische Kunst«; er unterscheidet da die »Kunst der Ebenbilder« (techne eikastike), die einem paradigmatischen Urbild die bilder der ›memoria‹ | 271

folgt, von einer »trugbildenden Kunst« (techne phantastike), die trügerische simulacra (eidola) hervorbringt (235 b – 236 c). Und in der Politeia notiert er den Satz, der diesen Unterschied auf den Begriff bringt: entweder wird das Seiende nachgebildet, »wie es sich verhält«, also wie es ist, oder »wie es scheint« (598 b). Aus dieser »Differenz« von Sein und Schein kommt das Denken nicht heraus. Mit anderen Worten, den Worten des Gilles Deleuze: das Trugbild mag das Abbild und sein Urbild niederreißen, in der Welt der Differenzen bleibt es deren »System«, und vom System der Trugbilder – die immer noch »Bilder« sind – gibt es auch keine Befreiung. Deleuze rehabilitiert, im Blick auf Platon, das Bild – in der Differenzform des Trugbildes. Die Pariser Philosophin Hélène Védrine bezeichnet diese »réhabilitation du simulacre« als »erstaunlich« und zugleich »erschütternd«: als »étonnante«.32 Erstaunlich ist sie, denke ich, insofern die Philosophie der Differenz mit ihr, wenngleich subversiv, auf ein klassisches Modell philosophischen Denkens zurückgreift. Erschütternd möchte ich sie nennen, weil das Beharren auf dem Differenzspiel anonymer Trugbilder jeden Weg zu den Erinnerungsbildern im bewußten »Beisichsein« eines Ich-Subjekts unwiderruflich versperrt; indem sein Auge an diese anonymen Trugbilder gefesselt wird, muß dieses Ich-Subjekt – Deleuze sagt es selber – in ein »sujet larvaire«, in ein »Larvensubjekt« sich verwandeln.33 Wer aber Deleuze bloß als post-modernen Autor lesen wollte, der einzig »die moderne Welt der Simulakren« und die in der Moderne »simulierten Identitäten« in den Blick nimmt, würde diesen Differenzdenker (der das Wort »postmodern« nie in den Mund genommen hat) gewaltig unterschätzen: denn seine »Rehabilitation« des simulacre in der »Differenzform« des Trugbildes greift zurück auf Platons Philosophie der Prinzipien des Seins und des Seienden, aus denen dieser antike Philosoph sein Verständnis der Trugbilder hergeleitet hatte. Von der Vormundschaft eines solchen Seinsdenkens aus Prinzipien will Deleuze das Simulakrum befreien, um es in seiner Prinzipienlosigkeit zu rehabilitieren. Die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins hat allen Anlaß, dieses Unternehmen des Gilles Deleuze aufmerksam zu verfolgen; denn Erinnerung ist von »Sein« nicht abzulösen, sie ist die Einholung von Vergangensein in bewußtes Gegenwärtigsein, und diese Asymmetrie zweier Modi von Sein schlägt in der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins 272 | fünftes kapitel

sich nieder. Ist diese Differenzstruktur vor dem Eindringen von Trugbildern gefeit? Auch ein »bewußtes« Erinnern kann ja trügen, bleibt es doch – wie Ricœur notiert – das »große Rätsel« der memoria, daß in ihr »dem Geist eine abwesende und noch dazu eine nicht mehr seiende, sondern gewesen seiende Sache gegenwärtig« wird und damit »die Positivität des ›Gewesenseins‹ durch die Negativität des ›Nichtmehrseins‹ anvisiert wird«.34 Können die Erinnerungsbilder von dem, was »gewesen ist« (und was sie nur zu »re-präsentieren« vermögen, weil es »nicht mehr ist«) die memoria vor Trug schützen? Oder darf das Gewesensein als der »letzte Referent« fungieren, »auf den durch das Nichtmehrsein abgezielt wird«?35 Deleuze möchte das Trugbild rehabilitieren, indem er es von jeder ontologischen »Referenz« ablöst – und damit auch von der metaphysischen »Differenz« zwischen »ist« und »ist nicht« im Sinne von »wahr« und »falsch«. Das simulacre ist für ihn niemals eine »Kopie«; mit seiner »positiven, dionysischen Macht« leugnet es vielmehr jedes urbildliche Modell – »die Simulation ist das Phantasma selbst«.36 Im Trugbild ist kein begrifflich bestimmtes »Sein« präsent, das Trugbild fordert vielmehr dazu auf, die Abwesenheit eines prinzipiellen »Begriffes von Sein« zu denken, und es re-präsentiert deshalb auch kein als vergangen bestimmtes »Nichtmehrsein«. Das simulacre lebt vom Blut des Dionysos, in einer »Differenz an sich selbst«, befreit von jeglicher »Referenz«. Damit leiht Deleuze dem Unbekannten und Unwägbaren unter unserer subjektiven »Identität« und hinter jedem bestimmten »ist« seine Stimme – eine Stimme, mit der eine »Intensität« laut werden soll, deren »Tiefe« sich durch »Prinzipien« und »Begriffe« nicht ausloten läßt. Diese Intensität nennt er »das Sein des Sinnlichen, in dem sich das Differente aufs Differente bezieht«. Wir dürfen – und möchten – diese Stimme des Gilles Deleuze nicht überhören, weil wir gar nicht bestreiten können, daß die Intensität des »Seins des Sinnlichen« stets in die flüchtigen Bilder unseres Erinnerns eindringt, sie oftmals auch trügerisch werden läßt. Die Philosophie der Differenz, die auf eine ontologische Referenz des Trugbildes verzichtet, behält die ontische Intensivität des Seins des Sinnlichen fest im Blick – und tritt damit in einen kritischen Dialog mit Platon ein. »Es gibt ein me on, das man aber nicht mit dem ouk on verwechseln darf«, sagt Deleuze im Rückgriff auf den antiken Philosophen; es gibt ein Sein, dem ein die bilder der ›memoria‹ | 273

»nicht« voransteht wie ein alpha privativum, ein Sein, dessen ihm vorangestelltes »nicht« einen Mangel an begrifflicher Bestimmung anzeigt und »das Sein des Problematischen meint«, das Sein der intensiven Tiefe des Sinnlichen – insofern ein »positives« Sein, nicht zu verwechseln mit dem »negativen« Garnichtsein, dem ouk on.37 Nicht anders als Platon geht Deleuze auf die »Jagd« nach dem Trugbild auf der Fährte zum Sein, zum Nicht-Sein und zum Garnicht-Sein. Es war die trug-bildnerische Kunst der Sophisten, die Platon zu der Frage herausforderte: was ist denn überhaupt unter einem ›Bild‹ zu verstehen? Mit der Unterscheidung des »wahrhaft Seienden« vom »nicht wahrhaft Seienden« rückt er im Dialog Sophistes diese Frage nach dem Bild vor den Horizont der Möglichkeit von Wahrheit und Irrtum. Das nicht wahrhaft Seiende kann »in Wahrheit« weder »Eines« noch »Vieles« genannt, von ihm kann mithin nicht begründet und in bestimmter Weise gesprochen werden. Das wahrhaft Seiende demgegenüber »ist« und ist benennbar aufgrund seines derart bestimmten »Seins«. Dieses »Sein« ist weder in »Ruhe« noch in »Bewegung«, es ist ein Drittes neben den beiden, und erst kraft dieses Dritten »ist« die Ruhe und »ist« die Bewegung. Auf solcher Grundüberlegung errichtet Platon seine Prinzipienlehre einer dialektischen »Gemeinschaft« der höchsten Gattungsbegriffe »Sein«, »Ruhe« und »Bewegung«, um dann zu argumentieren: alles Seiende, das »ist«, »ist« aufgrund des Seins, »ist ruhend« aufgrund der Ruhe oder »ist bewegt« aufgrund der Bewegung. Und diese Begriffsgemeinschaft evoziert nun sofort die Frage nach der »Identität« jedes einzelnen Begriffs sowie nach der »Differenz« der Begriffe untereinander: die koinonia genon, die Gemeinschaft der Begriffe Sein, Ruhe, Bewegung ist ohne den Begriff der Identität und ohne den Begriff der Differenz nicht denkbar. Gegenüber dem »wahrhaft Seienden«, das in der Gemeinschaft erster »wahrer Begriffe« gründet, gerät das »nicht wahrhaft Seiende« zum Schein; aber von solchem Schein können wir uns immer noch ein Bild machen – ein Trugbild, das gleichwohl ein Trugbild »ist«: in ihm ist ja ein »seiend-Sein« (on) mit einem »Nicht-Sein« (me on), nämlich mit einem Nichtwahrhaft-sein, verflochten, aber verflochten in Differenz. Platon folgert daraus: von jedem Seienden muß »Differenz« ausgesagt werden, jedes Seiende ist different im Verhältnis zu anderem Seiendem, auch das Trugbild ist different. Und das me on ist durchaus kein 274 | fünftes kapitel

ouk on, sein »Nicht-sein« ist kein »Gar-nicht-sein«; es ist zwar ein »nicht-wahr-Sein« – aber es »ist da« wie auch ein simulacrum »da ist«, und zwar in seiner Differenz zum »wahrhaft Seienden«. Darum kann der antike Denker schließlich von der »Physis«, von dem naturhaften Sein des Verschiedenen oder Differenten sprechen38 – und eben dies will Deleuze aus dem platonischen Text herauslesen: ein Sein in Differenz, das weder »begrifflich« oder »prinzipiell wahr ist« noch »gar nicht ist«, sondern als »das Sein des Problematischen«, als »das Sein der Probleme und Fragen«, als das Sein der »Intensität des Sinnlichen« und damit als das »Sein des Trugbildes« verstanden werden soll.39 Deleuze läßt das »Bild« untergehen in einem »Simulakrum«, das nicht mehr (wie in der von Platon begründeten Metaphysik) durch ein prinzipiell und begrifflich gedachtes Sein – und sei es auch nur negativ – bestimmt ist, sondern nurmehr in einer stets »differentiellen« Intensivität des »Seins des Sinnlichen« aufscheint. Von diesem Denkansatz her wird erstens nicht nur klar, daß von Bildern, die durch Bewußt-Sein bestimmt sind, die Rede nicht mehr wird sein können – und tatsächlich bleibt für eine Rede über das Erinnerungsbewußtsein mit seinen Bildern in dem Werk Differenz und Wiederholung kein Ort. Denn Sätze des Bewußtseins wie »ich denke« gelten Deleuze als »platt«, weil sie Lösungen für Probleme geben wollen und dabei diese Probleme selber – Probleme des Unbewußten, des »Seins des Sinnlichen« als des »Problematischen« – negieren.40 Von diesem Denkansatz her bringt sich zweitens auch der neo-strukturalistische Einspruch gegen die Kantische Philosophie mit ihrer Korrespondenzstruktur von Sinnlichkeit und Begriff zu Wort, und das evoziert nun die Frage, was eigentlich neo-strukturalistisch unter »Struktur« verstanden werden soll. Deleuze erteilt darauf die Antwort: Struktur im Sinne des Neo-strukturalismus ist »die Realität des Virtuellen«, sie besteht »in genetischen differenziellen Elementen«. Anders gesagt: »Struktur« ist »Genesis«, ist Werden, und Werden oder »Differenzierung« ist »Aktualisierung dieser Virtualität« zur Struktur.41 In einem Text, der erklären soll, wie und woran man den Strukturalismus erkennen könne, spricht Deleuze dann auch von einer »Entdeckung des Symbolischen«, die »eine neue Transzendentalphilosophie« erforderlich mache, in welcher die Struktur aktualisierter Virtualität den Vorrang vor Bewußtsein, die bilder der ›memoria‹ | 275

Subjektivität und Intentionalität behalten müsse.42 Schlichter gesagt, und zwar mit den eigenen Worten des Gilles Deleuze: dem Neostrukturalismus geht es um die »Präsentation des Unbewußten« anstelle jeglicher »Repräsentation des Bewußtseins«.43 Und wie stellt Deleuze sich diese »neue« Transzendentalphilosophie vor? Kant hatte seiner – der »alten« – transzendentalen Philosophie »die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung Ich« zugrunde gelegt, eine Vorstellung, »von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet«, ein »transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x«, »um das wir uns »in einem beständigen Zirkel herumdrehen« (KrV, B 404). Was Deleuze seinem neuen »transzendentalen« Strukturalismus zugrunde legt, gleicht jetzt einer spiegelverkehrten Umdrehung dieser »transzendentalen Apperzeption«: es soll »das Objekt x« sein, ein »dunkler Vorstrom«, den »es gibt«, dessen Gegebensein jedoch »völlig unbestimmt« bleibe. Diese neue »Transzendentalphilosophie« des Gilles Deleuze stellt mithin die alte des Immanuel Kant geradezu auf den Kopf, wobei sie sich ebenfalls in einem beständigen Zirkel herumdreht – aber nicht um ein transzendentales Subjekt, sondern um einen »dunklen Vorboten«, um das vorbewußte und nicht-prinzipielle »Ansich der Differenz«, welches im System der korrelierten Differenzen und Intensitäten sich »verkleidet44 – im Klartext gesprochen: der quasitranszendentale Neostrukturalismus dreht sich um ein Quasisubjekt der »Virtualitäten«, um eine quasisubjektive Derridasche différance. Vor dem Hintergrund seiner Rehabilitation des »Trugbildes« als eines virtuellen Systems prinzipienloser Differenzen zum einen und im Duktus seiner Kritik an der »Plattheit« von Sätzen des Bewußtseins zum anderen geht Deleuze jetzt zu einem frontalen Angriff auf das Kantische »Ich denke« über. Dieses transzendentale Cogito gilt ihm als »das allgemeinste Prinzip« der Repräsentation, weil es beansprucht, »Quelle« und »Einheit« jener vier Grundvermögen unseres Geistes zu sein, die wir benennen, wenn wir sagen »ich begreife, ich urteile, ich stelle mir vor und erinnere mich, ich nehme wahr« – in der Sicht des Gilles Deleuze auf Kant »vier Äste des Cogito, und an eben diesen Ästen wird die Differenz gekreuzigt«. Das will heißen: wenn die differenzierende Differenz zwischen einem 276 | fünftes kapitel

individuellen Ich, das sich erinnert, und dem transzendentalen »Ich denke« unterlaufen wird, wenn das »ich erinnere mich« an die »Einheit« einer erdachten Verstandesregel zurückgebunden bleibt, wenn demgemäß individuelles Sicherinnern nur betrachtet wird wie ein Ast am Stamm des alle Individualität übersteigenden »Ich denke«, dann ist damit nicht allein das »Ansich« aller Differenz, sondern auch das Sicherinnern in seiner Differenz zum transzendentalen Cogito an das Kreuz eines »reinen« Denkens der Re-präsentation genagelt. Das ist gleichsam die erste Schützenlinie, die Deleuze in den Kampf gegen die alte Transzendentalphilosophie schickt, und ihr folgt auf dem Fuß eine zweite. Sie soll die »vierfache Zwangsjacke« zerschneiden, die am Haken des »Ich denke« hängt und in der als different einzig das gedacht werden kann, was zuallererst »identisch«, sodann »ähnlich« oder »analog« und schließlich »entgegengesetzt« ist – niemals indes das »eigentlich Neue«: jene »wogende Tiefe« der Differenz, welche überhaupt erst »die Kräfte im Denken zu erwecken vermag«, jene »Mächte eines ganz anderen Modells«, Mächte »in einer niemals wieder-erkannten oder wiedererkennbaren terra incognita«, Mächte mithin, »die weder heute noch morgen der Rekognition zugehören«.45 Hier hat Deleuze die »Synthesis der Rekognition im Begriffe« im Blick, auf die Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die »Synthesis der Apprehension in der Anschauung« und die »Synthesis der Reproduktion in der Einbildung« hingeordnet und als »Reproduktion des Mannigfaltigen a priori« bezeichnet hatte (KrV, A 99 –110), eine Re-kognition, von der er allerdings in der zweiten Auflage gar nicht mehr sprach, weil sie in der Architektonik seines Systems längst auf dessen Grund, auf die transzendentale Apperzeptionsleistung des »Ich denke« zurückgeführt war. Zur Kritik an diesem »Ich denke« als »allgemeinstem« – oder, mit Kant gesprochen, letztbegündendem – Prinzip der Repräsentation kommt Deleuze also auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit dem in der Tat problematischen Kantischen Konzept einer Re-kognition des ja immer als »different« Erfahrenen im »Identität« erzeugenden Begriff. Aus der Perspektive seines Differenzdenkens, das jene Kräfte und Mächte auffinden will, die unter dem verstandesgeführten Begriffsdenken »brodeln«, vermag er scharfsichtig zu verfolgen, wie Kants Modell der (in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Verdie bilder der ›memoria‹ | 277

nunft dem äußeren Anschein nach vergessenen) Re-kognition im Begriff den Gedanken einer transzendentalen Re-präsentation von Welt bereits enthält: einer Re-präsentation, die vom empirischen Inhalt der Welt, den die antike Philosophie mit dem Wort doxa zu umschreiben pflegte, abstrahiert und nur die begrifflich bestimmbare Form dieses Inhalts zurückbehält: aus der Optik eines Theoretikers der stets »differenziellen« doxa eine Ausrichtung des Denkens, die »für die Philosophie fatal ist«.46 Fatal ist für Deleuze jedwedes RE, jedwedes »Zurück« auf den Begriff, insofern es den Blick des Philosophen auf ein »Voraus« verstellt: den Blick auf das »unbekannte Land« eines Neuen, das in der Virtualität des Differenten sich verbirgt und deshalb nicht wieder-erkannt werden kann, sondern wieder-gefunden werden muß. Der französische Denker erwähnt in seinem Buch wiederholt die Neue Wissenschaft des Giambattista Vico mit ihrer Unterscheidung einer Zeit der Götter, einer Zeit der Heroen und einer Zeit der Menschen, und er interpretiert diese dritte Zeit als eine der »Aufnahme von Neuem«.47 Darf man ihm unterstellen, übersehen zu haben, daß Vico von einem »Finden« des Neuen spricht, von einer inventio als topischer Orientierung auf das Denken hin, nicht aber einer Orientierung im Denken selber – wie Kant seine »transzendentale Topik« versteht, die lediglich Begriffen ihren Topos, ihren Ort, zuweist, nämlich entweder in der Sinnlichkeit oder im Verstand, und die damit zu einem »Finden von Neuem« gar nicht mehr taugt?48 Muß man nicht zu dem Schluß kommen, daß dem »ganz anderen Modell« des Denkens, auf welches die Differenzphilosophie des Gilles Deleuze abzielt, auch der Umriß einer (ganz anderen) Findungstopik zugrunde liegt? Aber was will Deleuze finden? Die Differenz »hinter jedem Ding«; eine Differenz zugleich, »hinter der es nichts mehr gibt«; eine Differenz, die durch das Denken »nicht explizierbar«, aber im Denken »impliziert« sein soll; eine Differenz, die »sich selber expliziert« und »danach strebt, in dem System, in dem sie sich expliziert, sich zu tilgen«; eine Differenz, deren »Form« in einer »Intensität« als »Grund des Sinnlichen« besteht – eine Differenz als »höchsten Gedanken, den man allerdings nicht denken kann«, obwohl »das Denken die Differenz denken muß« als »jenes vom Denken absolut Differente, das dennoch zu denken aufgibt«.49 Wie sind diese Sätze zu lesen? 278 | fünftes kapitel

Man hat dem Philosophieren des Gilles Deleuze »straußenähnliche Verwahrlosung« attestieren wollen.50 Ich halte ein derartiges Urteil für verfehlt, weil es verharmlost. In Wahrheit ist dieses Philosophieren in einer überlegten Strategie subversiv – subversiv in dem Sinne, daß es klassische Denkmodelle spiegelverkehrt auf den Kopf stellt: das x des Kantischen transzendentalen Subjekts gerät zu einem »Objekt x« mit dem Namen »dunkler Vorstrom« und die »Differenz«, durch die »das Gegebene gegeben ist«, zu einem quasi-Kantischen »Noumenon«51; die prinzipien- und grundlose »Tiefe« der Differenz wird in Analogie zu Schellings grundlosem »Ungrund« gerückt52 – und Deleuzes inventio der »Differenz an sich« als des zu findenden »Neuen« ist die glatte Verkehrung der Topikmodelle sei es des Aristoteles sei es des Giambattista Vico, die lehren wollten, wie an differenten Dingen »Ähnliches« gefunden oder gesehen werden kann, und für die »Differenz« niemals ein »vom Denken absolut Differentes« war. Den Fingerzeig auf seine Strategie der umkehrenden Spiegelung gibt Deleuze ja selber, wenn er bekennt, dem Neo-strukturalismus gehe es anstelle einer »Repräsentation des Bewußtseins« um die »Präsentation des Unbewußten«. Daß die Kritik des Gilles Deleuze an Re-präsentation nun vornehmlich auf Kant zielt, erhellt aus seiner These, Repräsentation verwirkliche sich »in der Andacht vor dem gedachten Objekt und seiner Rekognition durch ein denkendes Subjekt«.53 Solange die »Differenz« solcher Re-präsentation unterworfen bleibt, »wird sie nicht an sich selbst gedacht«, sondern durch eine »vierfache Fessel« in ihrer Intensität »gezähmt«: durch die Fessel der »Identität im Begriff«, durch die Fessel des »Gegensatzes im Prädikat«, durch die Fessel der »Analogie im Urteil« und durch die Fessel der »Ähnlichkeit in der Wahrnehmung«.54 Die erste Fessel knebelt, indem sie die Differenz und was in ihr »brodelt« der Identität des Begriffes »Ich denke« unterstellt – für Deleuze soll »Differenz« ja ein Gedanke bleiben, »den man nicht denken kann«. Die zweite Fessel wird der Differenz angelegt, wenn ihr affirmierende oder negierende Prädikate zugeschrieben werden, wenn man also von ihr aussagt: sie »ist« oder sie »ist nicht«; diese Aussagen folgen wiederum nur Begriffen, welche die »lebendige Tiefe« der Differenz lediglich an ihrer Oberfläche erfassen, denn diese Tiefe liegt jeder Affirmation und jeder Negation voraus. Die dritte Fessel ist das Urteil, das die Differenz in die bilder der ›memoria‹ | 279

eine Gattung oder in eine Art einfügt und damit wiederum durch begriffliches Denken unterjocht. Die vierte Fessel schließlich erzeugt die irrige Vorstellung, alle sinnlichen Dinge würden als einander ähnlich wahrgenommen; sie zwingt das immer differente Sinnliche unter den Begriff der Ähnlichkeit – für Deleuze der Begriff einer »Qualität«; weder das sinnlich Differente noch die »Natur der Differenz« sind indes in einen qualifizierenden Begriff einholbar. Und die Lehre aus dieser vierfachen Fesselung soll lauten: »das denkende Subjekt als Identitätsprinzip« läßt »die Differenz im Denken verschwinden«.55 Von Aristoteles bis Hegel sei doch immer nur dasselbe gedacht worden: die »begriffliche Differenz« als eine »durch Re-präsentation vermittelte« Differenz oder die »Verwechselung des eigenen Begriffs der Differenz mit der Niederschrift der Differenz in die Identität des Begriffs«.56 Damit dürfte unser Erkundungsgang durch die neo-strukturalistische Denklandschaft begriffsloser Differenz eine Wegkreuzung erreicht haben, an der wir uns jetzt fragen können, ob aus dieser Landschaft noch irgendeine Fährte hinführt zu der asymmetrischen Verfaßtheit des Sich-erinnerns, die ich die »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins genannt habe. Was uns dazu bewog, die Texte des Jacques Derrida und des Gilles Deleuze, dieser beiden Verfechter der Idee einer »bewegten Tiefe« der Differenz aufzuschlagen, war ja die Beobachtung, daß das Erinnern stets in jenen differenzierenden Asymmetrien arbeitet, die ich auf den ersten Seiten dieses Kapitels beschrieben habe. Diese Asymmetrien oder Differenzen geben der Erinnerung ihre Kontur und setzen das Sich-erinnern in Bewegung: zwischen dem erinnerten »Was« und dem erinnernden »Wer«, zwischen dem Erinnerungsbild und dem es festhaltenden »inneren Wort«, zwischen einer Vorstellung und deren Rückstellung in die memoria. Fixiert auf eine als Repräsentationskritik formulierte Kritik sowohl an der Metaphysik von Platon bis Hegel als auch an der transzendentalen Bewußtseinsphilosophie Kants versagt sich die »neue Transzendentalphilosophie« mit ihrem verengenden Blick auf die »intensive Tiefe« einer u-topischen différance jedes Augenmerk auf die differenzierte Binnenstruktur bewußten Erinnerns – und damit bleibt auch sie dem Vorwurf einer »eigentümlichen Erinnerungs-Vergessenheit« ausgesetzt, den die kultur280 | fünftes kapitel

wissenschaftliche Semiotik des gedenkenden Erinnerns gegen die moderne Philosophie erhoben hat. Deleuze behält zwar das Eigentümliche des Sich-erinnerns durchaus im Auge, wenn er die Differenz des von einem individuellen »veritablen Subjekt«57 ausgesprochenen Satzes »ich erinnere mich« zum transzendentalen Gedanken »ich denke« betont, und in diesem Punkt wird der Philosoph des Erinnerungsbewußtseins dem Denker der Differenz seine Zustimmung auch nicht versagen; doch was Deleuze vornehmlich interessiert, ist eben diese transzendentale Differenz – jenen Differenzen, die den Binnenraum des Sich-erinnerns strukturieren, mag er schon deshalb nicht nachforschen, weil nach seiner (und ebenso nach Derridas) Überzeugung das »Bei-sich-sein« und die »Selbstgegenwart« eines sich erinnernden Subjekts eine Chance zum »Überleben« längst nicht mehr haben: sind sie doch lediglich Spielformen von «Identität«. Und wenn Gilles Deleuze dann auch noch behauptet, das Sich-erinnern werde von Kant am Stamm des transzendentalen Cogito »gekreuzigt«, dann bekundet er damit ein fundamentales Mißverständnis der »alten« Transzendentalphilosophie: Kant kreuzigt weder die memoria noch die reminiscentia; er exiliert sie, wie wir gesehen haben, in die pragmatische Anthropologie. Er muß das konsequenterweise tun, weil die veranschaulichenden, »wirklichen« Erinnerungsbilder in der Architektur einer »reinen« Vernunft, deren Baugerüst die Bipolarität von »Begriff« und quasi-begrifflicher »Anschauung« ist, den ihnen gemäßen Ort nicht finden. Der Neo-strukturalismus prangert wortreich die transzendentale Re-präsentation der Differenz im Begriff an; aber er zeigt kein Gespür für die Folgen dieser »Illusion«: das Bildproblem ineins mit dem Thema »Anschaulichkeit und Veranschaulichung« wird von ihm nicht nur nicht aufgegriffen – es geht mit der von Deleuze verfochtenen Rehabilitation des »Trugbildes« gänzlich zu Verlust. Angesichts des starken Akzents, den der Neo-strukturalismus auf die Intensität des »Seins des Sinnlichen« setzt, ist das nicht nur verwunderlich, sondern auch inkonsequent. Denn die Intensität des Sinnlichen fließt stets in die Bilder der Erinnerung ein; sie bleibt ein »bewegender« Grund dieser »bewegten«, flüchtigen Bilder, deren Anschaulichkeit nun aber auch einer sie veranschaulichenden Intentionalität bedarf und damit eines »zentrierenden« Bewußtseins. Mit Derridas »dezentrierter Struktur« ebenso wie mit dem »Trugbild« die bilder der ›memoria‹ | 281

des Gilles Deleuze begibt sich das neo-strukturalistische Differenzdenken jeder Möglichkeit, dem Erinnerungsbewußtsein in seiner Differenzstruktur auf die Spur zu kommen – mit anderen Worten: vor dem Hintergrund paradigmatischer neo-strukturalistischer Texte gewinnt unser Anlauf auf eine neue Philosophie der memoria ein noch deutlicheres Profil.

II. Das »Theater« der »unglücklichen«, der »nackten« und der »verkleideten Wiederholung«: Deleuze und Kierkegaard als Dramaturgen eines Theaters ohne Bilder Wir haben gesagt: ein Wieder-holen dessen, was »vergangen ist«, könne einzig durch ein anschauliches (und intentional veranschaulichtes) Bild vom Vergangenen im gegenwärtigen Erinnerungsbewußtsein gelingen. Das bedeutet, daß solche Wiederholung zu einer Vergegenwärtigung als »Repräsentation im Bild« gerät. Zumindest und jedenfalls im Blick auf die Binnendimension der memoria löst mithin der Nebelfleck sich auf, der den »Begriff« der Repräsentation einhüllt: ohne das Bild gedacht, bleibt dieser Begriff leer und geradezu eine Einladung zu seinem polysemischen oder spekulativen Gebrauch; sobald er konsequent entbildlicht ist, mag er darum durchaus den Verdacht einer »transzendentalen Illusion« erzeugen. Doch umgekehrt gilt auch: eine Kritik am Repräsentationsbegriff, die jedwede Bildlichkeit durch die Vorstellung einer »primären« und in ihrer »Tiefe« niemals auslotbaren différance unterlaufen möchte oder im simulacre, im »Trugbild« eines Systems anonymer, sich stets differenzierender Differenzen untergehen lassen will, läßt nicht allein die Vieldeutigkeit des Wortes »Repräsentation« außeracht; sie weiß sich gleichzeitig nicht mehr vor einer ganz anderen Illusion zu schützen: vor der Illusion einer »neuen« Transzendentalität des »Virtuellen« und seiner »differenzierenden Elemente«, die sich immer wieder »verschieben« und in solcher Verschiebung begriffslos »wiederholen«.58 Nicht anders als in der »alten« Transzendentalphilosophie Kants, deren Architektonik »reiner Vernunft« lediglich »möglichen« Bildern einen Ort einräumte, nicht aber den wirklichen Bildern der Erinnerung, eröffnet sich auch in der 282 | fünftes kapitel

»neuen« Transzendentalphilosophie des Gilles Deleuze, dieser auf den Kopf gestellten Transzendentalphilosophie »reiner Differenz«59, keine Perspektive mehr auf die Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins – auf den Binnenraum der memoria mit ihren weder bloß »möglichen« noch »virtuellen«, sondern zwar flüchtigen, aber anschaulich wirklichen Bildern. Von diesen anschaulichen und intentional veranschaulichten Bildern gehen wir jetzt aus, um zunächst die Unterscheidung zu prüfen, die Deleuze zwischen »nackten« und »verkleideten« Wiederholungen trifft, und um dann Kierkegaards Rede von der Erinnerung als einer »Wiederholung nach rückwärts«, die »unglücklich« macht, in einen kritischen Blick zu nehmen. Nun spricht Deleuze – es ist das einzige Mal in seinem Buch Differenz und Wiederholung – von einem »Bild-Gedächtnis«. Wie ist das zu verstehen? Soll auch das Bild in der memoria ein »Trugbild« sein – und dennoch ein »wirkliches« Bild? Weder das eine noch das andere. Das Interesse dieses Philosophen gilt auch hier nur wieder dem Thema »Differenz« in Gestalt der Differenz »zwischen Sinnlichkeit, Bild-Gedächtnis, Sprache und Denken«, einer Differenz von »Vermögen«, die »sich auf die Seinsdifferenz hin öffnet«.60 Sinnlichkeit, »Bild-Gedächtnis«, Sprache und Denken, erklärt er, »kommunizieren in völliger Diskordanz« und stehen so »in Entsprechung« zur »Offenbarung des Seins«, eines Seins, das sich im Differenten und »von der Differenz selbst« univok aussagt.61 Das »Bild-Gedächtnis« ist also nicht die memoria mit ihren anschaulichen Bildern; wie Sinnlichkeit und Denken ist es ein »Vermögen« differenzierter Differenz in einem »Bild« des Denkens von Differenz, das dem »Bild« des Denkens von Identität und Repräsentation (also auch des Denkens einer »Repräsentation im Bild«) widersprechen soll. Das Bild-Gedächtnis, von dem Deleuze redet, ist eine memoria im »Bild« einer »neuen« und »modernen« Ontologie, einer Ontologie der »Differenz und Wiederholung« – »neu« und »modern« genannt, weil die »Seinsdifferenz«, neo-strukturalistisch, sich den »Begriffen« von Sein und Differenz, wie sie unter der Herrschaft der Repräsentation gedacht werden, entzieht und entziehen muß, damit auch die »Wiederholung« als »begriffslose Differenz« vorgestellt werden kann.62 Aus welcher Quelle speist sich diese neue Ontologie, von Deleuze auch als Ontologie der Probleme und Fragen bezeichnet? die bilder der ›memoria‹ | 283

Spürsam für unser »modernes Leben« schreibt Gilles Deleuze: dieses Leben »ist so beschaffen, daß wir ihm angesichts von vollendet mechanischen und stereotypen Wiederholungen in uns und außerhalb unaufhörlich kleine Differenzen, Varianten und Modifikationen abringen. Umgekehrt stellen geheime, verkleidete und verborgene Wiederholungen, hervorgerufen durch die fortwährende Verschiebung einer Differenz, in uns und außerhalb wiederum nackte, mechanische und und stereotype Wiederholungen her. Im Trugbild beruht die Wiederholung bereits auf Wiederholungen, beruht die Differenz wiederum auf Differenzen. Es wiederholen sich die Wiederholungen, es differenziert sich das Differenzierende. Das Geschäft des Lebens besteht darin, alle Wiederholungen in einem Raum koexistieren zu lassen, in dem sich die Differenz verteilt«.63 Der – mit einem Wort Hegels beschreibbaren – »Zerrissenheit«64 unseres Lebens gilt der Blick des Philosophen der Seinsdifferenz: ein Blick, der sich durch keinen »Begriff« trüben und trügen lassen will, welcher das »Geschäft des Lebens« in eine Optik der »Identität« und »Allgemeinheit« zwingen könnte. Dieser Blick richtet sich auf Wahrheiten, die in »wahre Begriffe«, wenn überhaupt, nur schwer sich einholen lassen. Unser zerrissenes Leben ist, wie Fichte dachte, einzig in »transzendental wahren« Begriffen, und, wie Hegel sagte, erst in »dialektisch wahren« Begriffen einzufangen – insoweit ist der »neo«-strukturalistische Blick des Gilles Deleuze auf das Leben »in uns und außerhalb« weder »neu« noch »post-modern«. Wenn dieser Denker den Anspruch des »Begriffs« auf eine »Allgemeinheit« seiner Geltung als »logische Macht des Begriffs« über das Leben bezeichnet, trägt er damit doch nur Eulen nach Athen. »Neu« indes – ungeachtet seines Anknüpfens an Kierkegaard (den er in einem »Theater des Glaubens« sitzen sieht) und an Nietzsche (dem er attestiert, ein »Theater des Unglaubens« eröffnet zu haben) – ist sein Einsatz bei einer »Wiederholung«, von der er sagt, daß sie die »Ohnmacht« und die »reale Grenze« des Begriffs bezeugt; denn sie »zwingt« den Begriff mitsamt seinem Inhalt zum »Übergang in die Existenz«65, zum Übergang in das zerrissene Leben mit seinen Differenzen. Der Wiederholung ist dabei nur eine »Macht« zugeschrieben, die im gleichen Atemzuge dem Begriff abgesprochen wird – die »Macht« sieht sich lediglich an einen anderen Ort »verschoben«. 284 | fünftes kapitel

Dieses strategische Manöver des Gilles Deleuze läßt an die Absicht Kants denken, den Begriff zu »versinnlichen«, um seine »Realität« darzutun, und wir haben uns gefragt, ob ein Begriff denn überhaupt »versinnlicht« werden kann, ohne sofort etwas anderes zu werden als ein »Begriff«.66 In vergleichbarer Weise fragen wir jetzt, ob ein Begriff und sein logischer Inhalt denn wirklich unvermittelt, allein durch »Wiederholungen in uns und außerhalb« oder durch eine »fortwährende Verschiebung« der Differenzen im zerrissenen Leben zu einem »Übergang in die Existenz gezwungen« werden kann. Denn es bedarf stets einer Vermittlung zwischen Begriff und Existenz, einer Vermittlung, die den Inhalt des Begriffs anschaulich figuriert – es bedarf mithin eines Bildes als der anschaulichen Mitte zwischen Verstand und Sinnlichkeit, zwischen »Begriff« und »Existenz«. Und ebenso wie der Begriff der Repräsentation leer bleibt, wenn er ohne Bild gedacht wird, so bleibt auch eine Rede von Wiederholung fahl und farblos, in der das Sich-Wiederholen von Bildern deshalb nicht mehr zur Sprache kommen darf, weil die Wiederholung als »Verschiebung von Differenz« längst ein System des »Trugbildes« geschaffen haben soll. »Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber wie die Bewegung dem Begriff«. Wiederholung »denken« heißt für Deleuze, sich begriffslos der Bewegung ausliefern, den »reinen Kräften, die unmittelbar auf den Geist einwirken«; heißt eine Sprache sprechen, »die noch vor den Worten spricht«; heißt die »Masken« betrachten, »die vor den Personen Gestalt annehmen«; heißt schließlich, vor der Wiederholung als »schrecklicher Maske« nicht zurückschrecken67 – und das alles läuft darauf hinaus, die Wiederholung »von der Allgemeinheit zu unterscheiden«. Denn der Anwalt der Allgemeinheit ist immer wieder der »Begriff«; die Wiederholung hingegen betrifft stets »eine untauschbare, unersetzbare Singularität«. Und »wenn die Wiederholung möglich ist, dann entspricht sie eher dem Wunder als dem Gesetz«, dem Gesetz nämlich des Begriffs. In der Wiederholung »steht eine Singularität gegen das Allgemeine«, in der Wiederholung liegt der Verweis »auf eine einzigartige Macht, deren Natur von der Allgemeinheit abweicht«.68 Der Neostrukturalist glaubt nicht nur »die Differenz an sich selbst« entdeckt zu haben; er will sogar »das Selbst der Wiederholung« ausfindig machen, »die Singularität in dem, was die bilder der ›memoria‹ | 285

sich wiederholt«. Und ob »Wunder« oder »schreckliche Maske«: »in jedem Fall ist die Wiederholung begriffslose Differenz«. Denn nach Deleuze sind zwei Fälle von Wiederholung zu unterscheiden, obwohl auch sie sich ineinander »verschieben«. Im ersten Fall ist die Wiederholung »nackt«, weil sie lediglich ein »Selbes« in Raum und Zeit »repetiert«. Auf solche Weise wiederholen sich symmetrische, deckungsgleiche Quadrate. Das wiederholte und das wiederholende Quadrat sind wohl different, sie bleiben indes in ihrer Differenz »dasselbe« und bilden daher den Fall einer »statischen« Wiederholung. Zwar ist die Differenz zwischen ihnen dem Allgemeinbegriff »Quadrat« äußerlich (und darum erblickt Deleuze in ihrer Wiederholung bereits eine Spielart »begriffsloser« Differenz), aber beide Quadrate werden immer noch im Begriff »Quadrat« repräsentiert. Dem Neostrukturalismus geht es ja nun gerade um eine »Blockade« des Begriffs und der Repräsentation – und zu diesem Zweck erfindet Gilles Deleuze jetzt den zweiten Fall einer Wiederholung, »die sich selbst bildet, indem sie sich bekleidet, maskiert, verkleidet«, insofern sie sich nämlich in die »nackte« Wiederholung hinein verschiebt. Die nackte, statische, symmetrische Wiederholung der Quadrate »verweist« darum ihrerseits auf die bekleidete, dynamische, asymmetrische Wiederholung im Fünfeck, dem doch eine lange Reihe von weiteren Pentagrammen »von Natur aus« (oder »virtuell«, also vor der »aktuellen« geometrischen Konstruktion) eingeschrieben ist. Deleuze will damit sagen, daß ein Fünfeck durch »verborgene« Wiederholungen, die durch die »fortwährende Verschiebung einer Differenz« entstehen, »sich selbst« mit nahezu endloser »Dynamik« zu variieren, zu modifizieren, zu differenzieren vermag, während ein Quadrat nur »mechanisch« und »stereotyp« von einem anderen Quadrat repetiert werden kann – im Duktus einer offensichtlichen oder »nackten« Wiederholung, die vor allem auch niemals »sich selbst« (oder »von Natur aus«) herausbildet. Eben deshalb verweist die »nackte« répétition auf die »Tiefe« der différence in der verborgenen Wiederholung, der zwar nicht »exakten«, aber »echten« und »tiefer liegenden Bewegung«; und die verborgene Wiederholung verschiebt sich in die nackte, mit der sie sich »maskiert«: »Die Wiederholung ist das formlose Sein aller Differenzen, die formlose Macht des Untergrunds, die jedes Ding in jene extreme ›Form‹ bringt, in der seine Repräsentation zerfällt«.69 Das 286 | fünftes kapitel

soll die vollendete »Blockade« des Begriffs sein, bewerkstelligt durch das »singuläre Subjekt« oder das »Selbst« einer sich selber tragenden und dabei stets sich selber maskierenden Wiederholung in ihrer begriffslosen »schöpferischen Dynamik«. Der neostrukturalistische Abstieg in die begriffslosen Abgründe »primärer« Differenz und »verborgener« Wiederholung ähnelt dem eines Tiefseefischers, der auf die Jagd nach unbekannten Meeresbewohnern geht und dessen Netzen die eßbaren Fische entgleiten. »Die Singularität in dem, was sich wiederholt«, dieses »Selbst« einer sich selber maskierenden Wiederholung, ist keineswegs eine »formlose Macht des Untergrunds«, die erst ein Erforscher »wogender Tiefen« entdecken müßte. Die Singularitäten in dem, was sich wieder-holen läßt, sind nämlich der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins weder fremd noch unbekannt. Ein bloßes Gedächtnis mag wohl »nackt« oder »stereotyp« wiederholen; das bewußte Sicherinnern ist jedoch zum Wieder-holen »untauschbarer, unersetzbarer Singularität« durchaus fähig, und »bekleidet« ist solches Wiederholen einzig mit den anschaulichen Bildern der re-miniscentia, mit flüchtigen Bildern, deren Kommen und Gehen zur Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins gehört. Sobald Erinnerung als wiederholende, re-präsentative Darstellung des erinnerten, unersetzbaren Singulären in einem Bild auf die Bühne tritt, kann die neostrukturalistische Kulisse der von »nackt« zu »verkleidet« (und umgekehrt) sich »verschiebenden Wiederholung« in den Theaterfundus geschafft werden. Aber für Deleuze soll das Philosophieren ja »bildlos« bleiben, und Sätze über Bewußtsein hält er für »platt«. Und darum bleibt er natürlich auch noch am Ende seines Werkes (das die »Tiefe« der Differenzen und Wiederholungen ausschöpfen wollte) bei den »zwei Fällen« von Wiederholung stehen: der nackten und verkleideten, denen »das Gedächtnis die erste Gestalt gibt«, insofern die »gegensätzlichen Merkmale« dieser Wiederholungen – ihre »Statik« und »Dynamik« – sich nur »verschiebend« in der »Ambiguität« des Gedächtnisses »erscheinen«.70 Das Fazit, das zu ziehen ist, muß lauten: die Prämissen des neostrukturalistischen Philosophierens, das Insistieren auf dezentrierter Struktur und dem System des Trugbildes, bleiben die Schranke, über die hinweg erst ein Weg zu den wirklichen Bildern der Erinnerung und zur Differenz-Struktur des Erinnerungsbewußtseins sich bahdie bilder der ›memoria‹ | 287

nen läßt. Und sollte einer meiner Leser sich bisweilen gefragt haben, warum wir uns so eindringlich mit Derrida und Deleuze befaßten, dann dürfte ihm jetzt gewiß vor Augen stehen, daß ein Disput mit dem neostrukturalistischen Denken geradewegs hineinführt in die Thematik dieses Buches. Kierkegaard und Nietzsche – »niemand hat sich mehr als sie auf die Wiederholung als Kategorie der Zukunft berufen«, schreibt Deleuze, »niemand hat mit größerer Sicherheit den antiken Grund der Mnemosyne und mit ihm die platonische Wiedererinnerung verworfen«; zwar »ist das Trennende zwischen ihnen beträchtlich, offensichtlich und weitgehend bekannt. Nichts aber wird jene ungeheure Begegnung im Umkreis eines Denkens der Wiederholung auslöschen«: beide »stellen die Wiederholung allen Formen der Allgemeinheit gegenüber«, beide »wollen die Metaphysik in Bewegung setzen«, und »es genügt ihnen folglich nicht, bloß eine neue Repräsentation der Bewegung vorzulegen« wie Hegel sie mit der spekulativen Bewegung des Begriffs entwickelt hatte; ihnen geht es darum, »eine Bewegung zu erzeugen, die den Geist außerhalb jeglicher Repräsentation zu erregen vermag«. Nietzsches Buch über Zarathustra, der an der Macht der Wiederholung in der »ewigen Wiederkehr« erkrankt, aber auch gesundet, und Kierkegaards Schrift über die Wiederholung, die »glücklich« macht, werden von Gilles Deleuze zu einem Programmheft des dem »Theater der Repräsentation« widersprechenden »Theaters der Wiederholung« zusammengelesen, eines Theaters, das der Wiederholung nicht lediglich etwas Neues »entlocken« will, sondern aus der Wiederholung selber »eine Neuheit macht«. Insbesondere Kierkegaards frühes Werk Die Wiederholung ist die Quelle, aus der – bis in einzelne Formulierungen hinein – der »neue« Strukturalismus des Buches Differenz und Wiederholung sich speist, wenngleich unter einem durchaus zutreffenden Vorbehalt: denn Deleuze verkennt nicht, daß Kierkegaard nicht bereit war, für seine Wiederholung als Kategorie der »Neuheit« und der »Zukunft« den »notwendigen Preis« in philosophischer Währung zu zahlen, insofern er ja das »Glück« der Wiederholung einzig vom Paradox des christlichen Glaubens erhoffte.71 Jenen, die da meinen, Kierkegard habe mit seiner Wiederholung einen »philosophischen Grundbegriff« entdeckt, ist darum eine vorsichtigere Redeweise 288 | fünftes kapitel

anzuraten; spricht doch Kierkegaard selber von der Wiederholung als einer »religiösen Kategorie«, die in der Tat in einem »Theater des Glaubens« als Widerpart des Hegelschen (von Kierkegaard recht unzulänglich als »abstrakt« verstandenen) »Systems der Allgemeinheit« ihren Platz hat. Der Status eines philosophischen Konzepts – und keineswegs eines philosophischen »Grundbegriffs« – kommt der Wiederholung als einer Glaubenskategorie der »Zukunft« nicht schon aus ihr selber zu; er erwächst ihr bestenfalls aus (von Kierkegaard deutlich genug betonten) Gegensätzen: aus dem Gegensatz zu Hegels Begriff logisch-dialektischer (in Kierkegards kritischer Sicht niemals die »Existenz« erreichenden) »Vermittlung«, aus dem Gegensatz zu einer Wiederholung des Alltäglichen, die Kierkegaard »ethisch« nennt, und aus dem Gegensatz zu einer von ihm als »ästhetisch« bezeichneten Wiederholung, die in der Erinnerung an eine »glückliche« Liebe bestehen mag, die indes für den zum Glauben Erweckten zu einer »unglücklichen« Erinnerung gerät, weil sie »nach rückwärts« wiederholt statt in die Zukunft, in die geglaubte »Ewigkeit«, zu verweisen. Das Werk Die Wiederholung, von seinem Autor mehrfach überarbeitet und korrigiert, bleibt deshalb höchst rätselhaft und vor Mißverständnissen nicht gefeit. Nicht weniger rätselhaft ist auch die von Kierkegaard einige Jahre später verfaßte Schrift Stadien auf des Lebens Weg. Wir wollen unser Augenmerk auf diese beiden Bücher konzentrieren, denn beide umkreisen das Thema »Wiederholung«, und zwar nicht in der Figur eines »philosophischen Grundbegriffs«, sondern aus der Optik der gescheiterten Liebesbeziehung zu Regine Olsen, die nicht zu »wiederholen« war, nachdem Regine sich mit einem anderen Mann verlobt hatte und Kierkegaard im Glauben an das »Ewige« die »wahre Wiederholung« fand. Diese persönliche Erfahrung liegt Kierkegaards Texten über Wiederholung und Erinnerung unauslöschlich und stets zugrunde, sie wird von ihm eher dichterisch – mal ironisch, mal humoristisch, mal pastoral – beschrieben als in einer strikt philosophischen Reflexion über memoria und reminiscentia durchleuchtet. Einem aufmerksamen Leser muß ja auffallen, daß Kierkegaard den Bildern, die im Erinnern sich wiederholen, keine Beachtung schenkt – und daß er damit die Binnenstruktur der Erinnerung mitsamt ihrer Veranschaulichungsleistung schlicht übersieht. die bilder der ›memoria‹ | 289

Was ihn zunächst – in Die Wiederholung – interessiert, ist die Außenperspektive einer Differenz zwischen Griechentum und Christentum: zwischen der Gräzität im Wissen und der Existenz im Glauben. Haben die Griechen doch gelehrt, »daß alles Erkennen ein Sicherinnern ist«, ein Wieder-erinnern an »vorgängig« Gewußtes (wie es bei Platon im Dialog Menon heißt), das zwar auch eine Wiederholung darstellt, aber eben nur im Wissen. Die »neuere Philosophie« hingegen lehrt, daß »das ganze Leben eine Wiederholung ist«. »Die Erinnerung«, so folgert Kierkegaard, »ist die heidnische Lebensbetrachtung, die Wiederholung die moderne«, und daraus wiederum schließt er: »die Wiederholung ist das Interesse der Metaphysik; und zugleich dasjenige Interesse, an dem die Metaphysik scheitert«.72 Mit anderen Worten: Philosophie in Gestalt der metaphysischen Anamnesis hat zwar ein »Interesse« an der Betrachtung des ganzen Lebens als Wiederholung, muß aber an eben diesem Interesse auch zerbrechen, weil die von ihr gedachte Wiederholung einzig Wiedererinnerung an ein apriorisches Wissen ist. Dieses Interesse der alten Metaphysik an der »modernen Philosophie« der Wiederholung markiert mithin die Grenze zwischen beiden, und darum will Kierkegard festhalten: Wiederholung ist jetzt »ein entscheidender Ausdruck« für das, »was bei den Griechen Erinnerung war«. So erklärt sich auch sein Satz: »Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings (das meint: nach rückwärts) wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings (das heißt: nach vorwärts, in die Zukunft) erinnert«. Erinnerung in der Figur der griechischen Anamnesis »ist ein abgelegtes Kleid, welches, so schön es ist, nicht mehr paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist«; die Wiederholung nach vorwärts demgegenüber »ist ein unverschleißbares Kleid, welches fest und zart sich anschmiegt, weder drückt noch schlottert«.73 Und was nun tatsächlich gemeint ist mit diesen Differenzen zwischen dem einen Kleid, das nicht mehr paßt, und dem anderen, das weder drückt noch schlottert, zwischen der Wiederholung nach rückwärts und der Wiederholung nach vorwärts, zwischen der alten Metaphysik der Erinnerung und der modernen Philosophie der Wiederholung, das sagt Kierkegard ganz deutlich erst in den Philosophischen Brocken: die Anamnesis sei lediglich als »Beweis« für die Präexistenz und Un290 | fünftes kapitel

sterblichkeit der Seele zu verstehen; sie ist ein Gedanke, in welchem »das griechische Pathos sich sammelt«. Ihm setzt Kierkegaard »das Pathos des Augenblicks« entgegen, das Paradox eines Augen-Blicks als eines Blicks des »Auges des Glaubens«. Dieser Augen-Blick ist paradox, »weil das Ewige, das zuvor nicht war, in diesem Augenblick entstanden ist«. Dies ist das »unverschleißbare« Glaubenskleid der Wiederholung nach vorwärts, das eine »glückliche Leidenschaft« umschließt: »wir wollen sie Glaube nennen«.74 Kierkegard ist ein (auch) humoristischer Schriftsteller, man übersehe das nicht. Er hat Die Wiederholung ein von ihm so gewolltes »schnurriges Buch« genannt, schnurrig geschrieben, »damit die Ketzer ihn nicht verstehen«. Das, worauf es ihm mit diesem Buch ankam, liege jedoch »ziemlich bestimmt« in dem Satz vom »Interesse« der Metaphysik an der Wiederholung und am Scheitern dieses Interesses – womit gesagt sein soll: »im Glauben fängt die Wiederholung an«, und »die Aufgabe ist, die Wiederholung in etwas Innerliches zu verwandeln, in die eigene Aufgabe der Freiheit«, der Freiheit, wohlgemerkt, im Glauben. Deshalb ist die Wiederholung »eine religiöse Kategorie«75 – und nicht aus sich selber ein »philosophischer Grundbegriff«, wie behauptet worden ist.76 Noch klarer als in den Philosophischen Brocken hat Kierkegaard sich in seiner Unwissenschaftlichen Nachschrift geäußert: die »ewige Seeligkeit«, so notiert er da, ist Sache allein des Christentums, ist »das Futurische«, das man erwarten kann, das man aber im »Präsentischen« mit voller Sicherheit nicht hat. »Unter spekulativem Gesichtspunkt gilt, daß ich das Ewige nach rückwärts hin erinnernd erreichen kann«; aber »ein Existierender kann sich nach vorn hin nur zum Ewigen als zu dem Futurischen verhalten«.77 »Spekulation« und gläubige »Existenz« geraten mithin ebenso in einen Gegensatz zueinander wie das wiedererinnerte Ewige und das Ewige als das Futurische – und dem, so denke ich, könnte nun wohl auch ein philosophischer »Ketzer« zustimmen, der sich dem »Interesse der Metaphysik« nicht gänzlich versagt; ein Ketzer wird er gleichwohl bleiben, wenn er der Überzeugung Kierkegaards nicht folgt, daß »die Leidenschaft der Innerlichkeit im Existieren« eine »Analogie zum Glauben« an das zukünftige Ewige sei.78 Und ein Ketzer wäre in der Optik Kierkegaards auch Gilles Deleuze, weil dieser den »Augenblick« des Glaubens, neostrukturalistisch, in eine Synthese die bilder der ›memoria‹ | 291

des Differenten, in eine »gelebte Gegenwart« transformiert, »der Vergangenheit und Zukunft zukommen« – ohne einen Glauben, der dazu auffordert, »Gott und das Ich ein für allemal in einer gemeinsamen Auferstehung wiederzufinden«. Muß man Deleuze nicht beipflichten, wenn er Kierkegaard vorwirft, »die Sorge um den Ausgleich der Wunde im Ich« vorschnell dem Glauben anzudienen?79 Die Sorge um jene Wunde im Ich, die schon aufbricht, sobald ich mich im »Präsentischen« nach rückwärts eines gar nicht »Ewigen« erinnere? In den Stadien auf des Lebens Weg, zwei Jahre nach Die Wiederholung publiziert, lesen wir jetzt einen Text, der sich mit einer »glücklichen« Erinnerung befaßt, die »den Duft des Erlebten in sich geborgen hat«. Es ist ein schöner, bewundernswerter Text, der Kierkegaard auf der Höhe seines schriftstellerischen Könnens zeigt. »Sich erinnern ist nimmermehr das Gleiche wie im Gedächtnis haben«, heißt es da, »mittels des Gedächtnisses stellt sich das Erlebte vor, um die Weihe der Erinnerung zu empfangen«. Und weiter: erinnern könne man sich nur »des Wesentlichen«, aber dann vermöge man auch »wesentlich zu handeln«. »Das, dessen man sich erinnert, kann man auch nicht vergessen« wie man das im Gedächtnis Gehabte vergessen kann: »man mag das, dessen man sich erinnert, fortwerfen – es kehrt zurück wie Thors Hammer«. Denn »das Gedächtnis ist unmittelbar«, die Erinnerung hingegen »ist reflektiert«, ist »Reflexion in zweiter Potenz«; diese »Idealität der Erinnerung« ist zudem »die Voraussetzung aller Schaffenskraft«. Vor allem aber gilt: »die Kelter der Erinnerung muß jeder für sich allein treten« – jeder für sich allein: das ist Kierkegaards gläubig »Existierender«.80 Man hat diesen Text, seine deutschen Herausgeber weisen mit Recht darauf hin, weit über alle anderen des Sören Kierkegaard gestellt. Seine Lektüre bereitet Freude – und erzeugt dennoch Probleme; wie also soll ein Philosoph ihn lesen? Der Pulverdampf der Schlacht um die »unglückliche« Wiederholung der Anamnesis hat sich verzogen, auch der angeblich »philosophische Grundbegriff« der Wiederholung scheint abgestiegen zu sein von seinem Streitroß – läuft er nun zu Fuß neben ihm her? Kierkegaard mag nämlich von seinem »Ewigen« auch hier nicht lassen; denn die »glückliche« Erinnerung, so erklärt er jetzt, »wird einem Menschen den ewigen Zusammenhang im Leben bewah292 | fünftes kapitel

ren«, ja, »in der Erinnerung zieht der Mensch einen Wechsel auf das Ewige«. Das Ewige bleibt also sogar der »glücklichen« Erinnerung noch erhalten und an »Wiederholung« gekettet – an Wiederholung nunmehr in Form eines »Wechsels«; aber Kierkegaard läßt in den Stadien völlig offen, ob dieser »Wechsel auf das Ewige« in der Valuta des Glaubens oder in einer harten Währung des philosophischen Denkens eingelöst werden soll und beglichen werden kann. Und offen läßt er überdies, wie glückliche Erinnerungen, wenn sie denn »Ausbeute für die Ewigkeit« sollen liefern können, sich mit jener Erinnerung Hegels vertragen, auf die Kierkegaard sich in den Stadien ausdrücklich beruft: Hegel hatte diese Er-innerung ja doch als Insich-gehen des vernünftigen Geistes, der »Intelligenz«, beschrieben, durchaus nicht als Wechsel auf eine Ewigkeit. So bleibt denn auch Kierkegaards Schilderung einer »glücklichen« Erinnerung, die »den Duft des Erlebten in sich geborgen hat«, mißverständlich und eher poetisch tröstlich als philosophisch überzeugend. Klar erkennbar ist indes, daß dieser Denker bis zum Innenraum der Erinnerung, zur Welt ihrer flüchtigen, anschaulichen Bilder, gar niemals vorstößt: Kierkegaards Theater sei es der glücklichen sei es der unglücklichen Erinnerung ist noch einmal mehr ein Paradox, weil es ein »Theater ohne Bilder« bleibt. In diesem Theater dürfen dann auch die geometrischen Bildfiguren, an denen Platon seine Metaphysik der Anamnesis veranschaulicht, keine Rolle spielen, und in diesem Theater kann ebenfalls nicht mehr vorgeführt werden, daß Hegels Er-innerung ohne die problematische »Aufhebung« der Bilder in Wörter gar nicht zustande gekommen wäre. Kierkegaards fester Glaube an das »Ewige« bleibt allemal sein philosophisch ungelöstes Problem. Denn vom Ewigen selber kann es Bilder nicht geben, auch dann nicht, wenn die Ewigkeit die christlich geglaubte »Zukunft« sein soll. Und wenngleich »das ganze Leben« möglicherweise zu einer Wiederholung geraten mag, so bleibt es doch stets eine Wiederholung der Bilder, die an Vergangenheit erinnern. Zu einem philosophischen Grundbegriff wird die Wiederholung jedenfalls erst in der Perspektive Heideggers, und das ist eine Perspektive aufs In-der-Welt-sein des »Daseins«, eines Daseins, das sich »zur Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit« entschließt, die im Vorlaufen auf den Tod »wesenhaft zukünftig ist«.81 Heidegger hat damit die »Wiederholung« von Kierkegards geglaubter Ewigkeit erlöst. die bilder der ›memoria‹ | 293

III. Über Bergsons »Universum der Bilder« und über die Differenz einer mémoire die »vorstellt« und einer mémoire die »wiederholt« »Es ist historisch und systematisch interessant zu verfolgen, wie die psychologischen und erkenntnistheoretischen Probleme, die das Erinnerungsbewußtsein stellt, immer wieder zu einer Krise des strikten Sensualismus und Positivismus geführt haben«, lesen wir bei Cassirer.82 Nicht minder interessant ist zu beobachten, wie theoretische Zugriffe auf Erinnerung und Erinnerungsbewußtsein auch philosophische Denkstile in eine Krise führen können, die über jeden Verdacht des Sensualismus und Positivismus erhaben sind – Denkstile nämlich, die an einem abstrakten Gegensatz zwischen sinnlicher Natur und Verstand festhalten und dann (wie es bei Kant der Fall ist) im Gedanken einer Korrelation von »Anschauung« und »Verstand« steckenbleiben. So zutreffend der Satz Cassirers bleibt, so triftig ist der andere, den wir ihm hinzugefügt haben, und ein Blick in Bergsons Werk Matière et mémoire vermag beide Sätze zu bestätigen. Entgegen der naturalistischen und sensualistischen Überzeugung der Naturwissenschaft seiner Zeit, daß Erinnerungen in den Hirnzellen aufbewahrt würden, bestand Bergson darauf, daß das Gehirn »nichts anderes ist als eine Telephonzentrale«: »es fügt dem, was es empfängt, nichts hinzu«, »seine Funktion besteht nur in der Vermittlung und Verteilung von Bewegung«. Darum sah er »ganz und gar nicht« ein, wie Vorstellungen und Erinnerungsbilder aus der Hirnbewegung »hervorgehen« sollen.83 Über einen solchen Vergleich des Gehirns mit einer Telephonzentrale werden moderne Neurowissenschaftler mit Recht nur müde lächeln; wie Bilder im Erinnerungsbewußtsein entstehen, das haben wir im vorigen Kapitel geschildert, können indes auch sie nur vermuten oder jedenfalls nicht überzeugend erklären. Bergson glaubte eine Erklärung liefern zu können – im Rückgang hinter den Gegensatz von Natur und Verstand und im Duktus eines neuen, auf »Intuition« beruhenden Denkstils; diese Intuition soll auf ein »Universum der Bilder« ausgerichtet sein. Um Bergsons Unterscheidung zwischen einer memoria, die vorstellt, und einer memoria, die wiederholt, beurteilen zu können, müssen wir dieser nicht leicht zu dechiffrierenden Idee eines »Universums der Bilder« nachgehen. 294 | fünftes kapitel

»Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von ›Bildern‹«, schreibt er, »und unter ›Bild‹ verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist als was der Idealist ›Vorstellung‹ nennt, aber weniger als was der Realist ›Ding‹ nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem ›Ding‹ und der ›Vorstellung‹ liegt«. In dieses Bilderpanorama, von dem er meint, es sei eines »des gesunden Menschenverstandes«, fügt Bergson die mémoire ein, »den Schnittpunkt zwischen Geist und Materie«.84 Ihm geht es also um nichts Geringeres als um die Schlichtung des Schulstreits zwischen »Idealismus« und »Realismus« mittels der intuitiven Idee eines »Universums der Bilder«, zu welchem zum einen das »System« der Bilder des Materiellen und zum anderen das »System« der bewußten Wahrnehmungsbilder gehört – zwei Bildsysteme, die sich zusammenschließen sollen wie ein »Außen« und ein »Innen« mit der Konsequenz, »daß zwischen dem Sein und dem bewußten Wahrgenommenwerden der Bilder nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens besteht«, eine Differenz, die »auf den Unterschied zwischen Teil und Ganzem hinausläuft«.85 Ein Monismus des ›Bildes‹ mithin, strukturiert durch lediglich graduelle Schichten der Bildlichkeit, ein Monismus, der »weder von den Theorien über die Materie noch von den Theorien über den Geist« wissen will, ein Monismus für den »gesunden Menschenverstand«, der sich »umgeben von Bildern sieht«, ein Monismus, der auch den menschlichen Leib zu einem ›Bild‹ geraten läßt, weil es »überhaupt unmöglich ist, etwas anderes als Bilder zu setzen«.86 Die ganze Welt soll sich im ›Bild‹ erschließen (und damit einer intuitiven Veranschaulichung, welche die Kantische Bipolarität von »Anschauung« und »Begriff« hintergreift: Bergsons intuitiver Denkstil ist in diesem Kant-kritischen Motiv begründet). Aber unter seinem Zugriff gerät das ›Bild‹ – anstatt in einem »Bildbegriff« sich fassen zu lassen – letztlich nur zu einem die Materie und den Geist, das ›Ding‹ und die ›Vorstellung‹ einhüllenden Überwurf, zu einer gleichermaßen physischen wie meta-physischen Entität mit einem virtuellen Status, der sich physisch und psychisch aktualisieren, realisieren oder materialisieren soll. Bergson spricht nicht nur von einem Vorgang, »durch welchen das virtuelle Bild sich realisiert«, er erläutert auch das Erinnern als Ausgang von einem »virtuellen Zustand«, den wir »allmählich durch eine Reihe verschiedener Bewußtseinsebenen bis zu jenem Grenzpunkte führen, wo er sich zu die bilder der ›memoria‹ | 295

einer aktuellen Wahrnehmung materialisiert«87, kurz: sein »Universum der Bilder« ruht einer Bewegung von Virtualität zu Aktualität auf, einer Bewegung, die nur graduelle, niemals wesentliche Differenzen zuläßt. Gilles Deleuze will zwar »bildlos« denken, aber mit seinem Plädoyer für die »Aktualisierung der Virtualität«88 erweist er sich als ein getreuer Bergsonianer, der ebenfalls in die »Tiefe« des Virtuellen »zurückschreitet«.89 In der Optik Bergsons auf die nur graduelle Differenz zwischen dem Innen und Außen, zwischen der Virtualität und Aktualität des ›Bildes‹ erübrigt sich die Frage nach einer »Re-präsentation« von Sein durch Bewußtsein und bewußte Erinnerungsbilder; sollen doch im »Universum der Bilder« die gewesen-seienden und die erinnernden Bilder sich, wie Ricœur interpretiert, »paßgenau übereinanderlegen«. Diese Paßgenauigkeit nennt Ricœur ein »kleines Wunder«, in welchem er die Lösung jenes »Rätsels« zu finden glaubt, das in der »präsenten Repräsentation einer vergangenen Sache liegt«.90 Aber so einfach und schlicht ereignen sich auch kleine Wunder nicht. Denn Bergson will (und muß) das Problem »präsenter Re-präsentation« des Vergangenen gar nicht lösen – das Sein einer »vergangenen Sache« gehört für ihn ebenso wie das diese Sache in der Erinnerung vergegenwärtigende Bewußtsein immer schon dem Universum des ›Bildes‹ an, diesem Universum zweier »Bildsysteme«, die sich kontinuierlich (nämlich entlang der alles durchziehenden Linie der »Dauer«, dieser sein ganzes Philosophieren tragenden Grundidee) ineinander reflektieren, ohne daß ein »System« das andere überhaupt noch re-präsentieren müßte oder gar könnte. Bergsons Bildintuition unterläuft jedwedes Denken von Repräsentation. Auch dies macht das Anknüpfen des Gilles Deleuze an den Autor des Buches Matière et mémoire verständlich. Ein keineswegs kleines sondern wahrlich großes Wunder aber dürfte bleiben, wie Bergson mit dem (wie immer zu konturierenden) »Bildbegriff« umgeht. Will er das Bild doch einmal »im unbestimmtesten Sinne verstanden« wissen91, um ihm ein anderes Mal eine »Existenz« zwischen Dingen und Vorstellungen zuzumessen und schließlich aus seiner »Virtualität« sowohl die matière als auch die mémoire herzuleiten. Man wird wohl sagen müssen: bei Bergson gerät das ›Bild‹ zum Sein der ganzen Welt92, und wohl deshalb soll es im »unbestimmtesten Sinne« genommen werden. Aber wie läßt 296 | fünftes kapitel

sich aus dem ›Bild‹ im unbestimmtesten Sinn das Erinnerungsbild in seinem bestimmten Sinn noch ausgrenzen? Wir knüpfen jetzt an die Überschrift dieses Kapitels unseres Buches an – sind die Bilder der Erinnerung Repräsentationen oder Wiederholungen? – und greifen aus Bergsons Schrift die Unterscheidung zwischen einer memoria »die vorstellt« und einer memoria »die wiederholt« heraus. Dabei lassen wir uns von der Frage leiten, die Bergson sich selber stellt: »wie kann man sich der Einsicht verschließen, daß zwischen dem, was nur durch Wiederholung zustande kommt, und dem, was sich seinem Wesen nach nicht wiederholen kann, ein radikaler Unterschied besteht?«93 – eine erste Frage, deren Beantwortung eine zweite und neue evoziert: die Frage nämlich, wann und inwiefern Erinnerungen an Vergangenes von Nutzen sein können für gegenwärtiges Handeln. Mit seiner Distinktion einer mémoire , die vorstellt, und einer, die wiederholt, steuert Bergson das Thema »Nützlichkeit des Erinnerns« an, und dabei wollen wir seinen Überlegungen Schritt für Schritt folgen. In seiner Philosophie der mémoire mißt Bergson dem »Leib« eine Schlüsselstellung zu. Unsere Erforschung des Erinnerungsbewußtseins greift diesen Gedanken bereitwillig auf. Denn das »anschauliche Denken«, von dem wir gesprochen haben94, ruht ja stets leiblichen Sinneswahrnehmungen auf, die an den verschiedensten Weisen von »Verbildlichung« beteiligt sind. In Bergsons »Universum der Bilder« fungiert nun der Leib selber als ›Bild‹. Was steht hinter dieser Rede vom Leib (oder »Körper«) als Bild? »In der Welt der Bilder, die ich das Universum nenne«, erklärt der französische Denker, »geht alles so vor sich, als ob etwas wirklich Neues nur durch die Vermittlung gewisser eigentümlicher Bilder entstehen könne, deren Typus mir in meinem Leibe gegeben ist«. Bergson konstatiert also eine Verknüpfung von Bild und Bewegung an der Schaltstelle des bewegten Bild-Typus »Leib«: Bewegungen übertragen materielle Zustände (oder »äußere« Bilder) auf den Leib, und der Leib gibt ihnen diese Bewegung zurück; für das Empfangen, Zurückgeben und Weitergeben von Bewegung ist er das »typische« Bild und ineins damit das »Handlungszentrum« im Universum aller Bilder. »Mein Leib ist das Zentrum von Handlung«, notiert Bergson, aber er fügt umgehend hinzu: »er ist nicht imstande, eine Vorstellung zu erzeugen«.95 Tätigkeit und Handeln einerseits, bildhaftes Vorstellen andedie bilder der ›memoria‹ | 297

rerseits – Bergson setzt zwischen beide von Anfang an eine strikte Differenz. Und was folgt aus dieser Differenz für das Erinnern? Wenn der Leib, als Bild, nur Bewegung, Tätigkeit oder Handlungen abbildet, dann muß die mémoire als ein von ihm abtrennbarer Raum der Vorstellungen gedacht werden, als eine vom Leib »unabhängige Bildersammlung«, in die dann allerdings der Leib, als Bild, aufgenommen ist. Wir sehen hier, wie seine Idee eines dezidiert leibzentrierten Handelns Bergson dazu nötigt, Vorstellungen und Erinnerungsbilder in einem vom Leib »unabhängigen Gedächtnis« zu isolieren, aber gleichzeitig den Leib, als Bild im Universum der Bilder, der mémoire mit ihren Bildvorstellungen wieder zu integrieren. Aus dieser nicht unproblematischen, weil zirkulären Überlegung zieht Bergson in Gestalt einer »Hypothese« die Konsequenz: »das Vergangene lebt in zwei verschiedenen Formen fort: erstens in motorischen Mechanismen, zweitens in unabhängigen Erinnerungen«. Das soll heißen: vergangene Erfahrungen werden vom Leib »motorisch« oder bewegungsabhängig, bis ins Hirn hinein, gespeichert, während Erinnerungen an Vergangenes unabhängig von solchen »Mechanismen« in Vorstellungen und Bildern aufbewahrt sind. Die motorische Speicherung leibabhängiger Wahrnehmungen läßt ein Gewohnheitsgedächtnis entstehen, eine mémoire-habitude, die »wiederholt«; von ihr ist die in Bildern arbeitende memoria, die mémoire-souvenir, welche »vorstellt«, hypothetisch (oder in rein theoretischer Perspektive) zu unterscheiden. De facto oder »in der Praxis« sind Wahrnehmungserfahrungen und Erinnerungsvorstellungen aber weder zu unterscheiden noch gar voneinander zu trennen, spielt doch in jeder leiblichen Wahrnehmung auch das Erinnern eine Rolle.96 Es ist unumgänglich, schon hier mit einer Entflechtung dieses Gedankenbündels einzusetzen. Bereits die Formulierung »das Vergangene lebt fort«, von Bergson sogar noch akzentuiert mit der Rede von einer »Bewegung der Vergangenheit«, einer Bewegung, in der die Vergangenheit »sich zum gegenwärtigen Bilde entfaltet, aus dem Dunkeln ins Licht emportaucht«97 verdankt sich offenbar eher einer »intuitiven« als einer kritischen Überlegung. Der Theoretiker des geschichtlichen Wissens wird solcher Behauptung ebensowenig sich anschließen können wie der Philosoph des Erinnerungsbewußtseins: denn keine Vergangenheit entfaltet sich selber zu ihrem gegen298 | fünftes kapitel

wärtigen Bild, schon gar nicht, wenn sie schlicht vergessen ist; und ein gegenwärtiges Vorstellungsbild vom Vergangenen wird immer nur vermöge einer veranschaulichenden Intentionalität des bewußten Erinnerns gemalt. Bergson projiziert hingegen seine Intuition der »Dauer« auch auf Zeit und Geschichte, auf Gedächtnis und Erinnerung. »Das Universum dauert«98, und mit ihm sowohl das »Universum der Bilder« als auch die mémoire der »fortlebenden« Vergangenheit – die mémoire bleibt unverbrüchlich eingefugt in eine metaphysisch-kosmologische durée. Man wird sich fragen müssen, ob ein Philosophieren, das von derartigen Prämissen ausgeht, die »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins mit ihren Asymmetrien, insbesondere der Asymmetrie von »Vergangensein« und bewußtem »Gegenwärtigsein«, überhaupt noch adäquat in den Blick nehmen kann. Aber es ist gar nicht allein seine intuitive Schau der »Dauer«, sondern zugleich seine Idee des »im unbestimmtesten Sinne« zu nehmenden ›Bildes‹, mit dem Bergson sich einen überzeugenden Zugriff aufs Erinnerungsbewußtsein wenn nicht gänzlich unmöglich macht so doch beträchtlich erschwert. »Vorstellen ist nicht erinnern«, erklärt er nämlich; denn eine die Vergangenheit vergegenwärtigende »spontane« Erinnerung zeige zwar »das Bestreben, in einem Bilde zu leben, das Umgekehrte aber findet nicht statt«: das Bild ist also weder »bestrebt« noch überhaupt imstande, eine Erinnerung an Vergangenheit zu erzeugen – »es wird mich nicht zur Vergangenheit zurückführen, es sei denn, daß ich es wirklich in der Vergangenheit aufgesucht habe und so dem kontinuierlichen Prozeß gefolgt bin, der es aus der Dunkelheit ans Licht führte«.99 Die Vergangenheit gerät hier selber zu einem ›Bild‹ im »Universum der Bilder«, zu einem Bild, das aus seiner virtuellen Dunkelheit ins aktuelle Licht der Gegenwart aufsteigt – als dauerndes Bild, das jede intentionale Verbildlichung der Vergangenheit durch jeweils bewußtes Erinnern soll ersetzen können. »Vorstellen ist nicht erinnern«, diese These Bergsons, rein für sich gelesen, ist richtig und triftig. Bewußtes Erinnern ist nicht bloßes Vorstellen, sondern intentional geführtes Veranschaulichen und das Festhalten an anschaulichen Bildern. »Vorstellbar« hingegen sind auch Gedanken und Sachverhalte, die sich einer Veranschaulichung entziehen. Darum haben wir die Übersetzung der aristotelischen phantasia mit dem Begriffswort »Vorstellung« zurückgewiesen100: auch die phandie bilder der ›memoria‹ | 299

tasia, von der Aristoteles in seiner Schrift De memoria et reminiscentia spricht, ist ein Vermögen der Veranschaulichung und Verbildlichung von Vergangenem oder sinnlich Wahrgenommenem. Aber es ist durchaus kein »kontinuierlicher Prozeß«, wie Bergson als Philosoph der »Dauer« vermeint, der aus einer als ›Bild‹ interpretierten Vergangenheit zu deren aktualisierter »Verbildlichung« hinführt, auch kein nur »graduell« gestufter Prozeß, dem man nur zu »folgen« bräuchte, um die Vergangenheit wieder-zu-holen oder in einer »Kontraktion des Gedächtnisses«101 zu wiederholen. Wir bleiben dabei: was sich wiederholt, das sind die flüchtigen Bilder der Erinnerung an Vergangenes. Darum liegen nach unserem Urteil die Probleme, die Bergson in Matière et mémoire zu schaffen machen, letzten Endes in seiner Metaphorik des Bildes und in seiner Idee der Vergangenheit. »Matière et mémoire ist vielleicht deswegen ein großes Buch, weil Bergson tief in das Gebiet einer reinen Vergangenheit eingedrungen ist und all deren konstitutive Paradoxa freigelegt hat«, Paradoxa, die sich darin zeigen, daß »jede aktuelle Gegenwart« nichts anderes ist als »die Vergangenheit im Zustand größter Kontraktion«, so applaudiert Gilles Deleuze, dieser andere Denker der »Virtualität«, der Bergsonschen Idee der Vergangenheit.102 Daß die Differenz von »vergangen« und »gegenwärtig« in der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins gleichsam »kontrahiert« sei – denn zum Verschwinden läßt sich diese Asymmetrie nicht bringen – , würde uns einleuchten. Was indes soll eine »reine Vergangenheit« sein, die Bergson einer »reinen Erinnerung« gegenüberstellt? Und was mag eine »reine Erinnerung« wohl sein? Um was für eine Differenz handelt es sich da? Steht diese Differenz in Entsprechung zu jener anderen, die Bergson zwischen einer wiederholenden und einer vorstellenden mémoire einträgt? Diese Fragen lassen sich erst beantworten, wenn man sich über die Eigenart des Bergsonschen Denkstils und der ihr aufgesetzten Methodologie Klarheit verschafft hat. Dieser auf einer Intuition der Dauer beruhende Denkstil läßt Bergson gleichwohl nicht zum schlichten »Intuitionisten« werden; denn auf der Vorgabe einer intuition originelle in die dem Fließen eines Stromes vergleichbare durée der Welt und des Gedächtnisses operiert Bergson mit dem geradezu rationalistischen Verfahren einer hypothetischen Kon300 | fünftes kapitel

struktion »reiner Fälle« (und zu prüfen bleibt, ob dieses Konstruktionsverfahren für den »unreinen Fall« des Erinnerungsbewußtseins – »unrein« wegen der niemals eliminierbaren Bedrohung durch das Vergessen und wegen der nur mühsam zu verhindernden Flüchtigkeit der Erinnerungsbilder – einen epistemologischen Gewinn abzuwerfen vermag).103 Die »reine« Vergangenheit und die »reine« Erinnerung sind solch hypothetisch konstruierte »reine Fälle«. Gleichermaßen hypothetisch konstruiert Bergson die »reinen Fälle« zum einen der motorischen Gedächtnismechanismen, durch welche »die Vergangenheit nutzbar gemacht wird«, zum anderen der »persönlichen Erinnerungsbilder«, welche die Vergangenheit »mit Umrissen, Farbe und zeitlicher Bestimmtheit« versehen: »das sind die beiden Formen des Gedächtnisses«, erklärt er, »als extreme, reine Fälle betrachtet«. Aber warum und wozu konstruiert er diese »reinen Extreme«, obwohl er doch weiß, daß sie »in der Praxis« niemals unterscheidbar sind? Weil man sich, so moniert er, immer wieder an »unreine Zwischenformen« gehalten und damit »das Wesen der Erinnerung verfehlt« habe. Um es nun nicht zu verfehlen, will Bergson die »Bewegung«, den motorischen Gedächtnismechanismus, vom »Erinnerungsbild« abtrennen und nach Vollzug dieser Trennung zu einem komplexen Phänomen wieder zusammenfügen, zu einem komplexen Phänomen mit jetzt zwei verschiedenen Seitenaspekten. Dieses Verfahren zielt darauf ab, die Annahme zu unterlaufen, Erinnerung sei ein einfaches Phänomen: eine Annahme, die der Neurowissenschaft es erlaubt habe, »im Mechanismus des Gehirns das Substrat des bewußten Bildes« zu lokalisieren. »Daher dann die seltsame Hypothese von Erinnerungen, die im Gehirn aufgespeichert seien, wie durch ein Wunder bewußt würden und uns in geheimnisvollem Gange in die Vergangenheit zurückführten«.104 Man wird zugestehen: einerseits sind die Überlegungen Bergsons immer noch aktuell, denken wir nur zurück an die im vorigen Kapitel dieses Buches zitierte Rede eines uns zeitgenössischen Neurowissenschaftlers vom »Sich-heraus-schleichen« des Bewußtseins aus den synaptischen Verschaltungen des Gehirns.105 Andererseits erscheinen uns Zweifel an der Triftigkeit des Verfahrens einer Konstruktion »reiner Fälle« angebracht: um sich vor Augen zu stellen, daß Erinnerung ein »komplexes«, niemals »einfaches« Phänomen ist, bedarf es dieser Konstruktion nicht, und die Rede, daß dieses die bilder der ›memoria‹ | 301

komplexe Phänomen zwei »verschiedene« Seiten zeige, eine motorische und eine bildliche, die sich miteinander »verschmelzen«, halten wir schlicht für falsch. Denn in der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins, die wir skizzierten, kommt die aus vergangener sinnlicher Wahrnehmung herrührende »motorische Bewegung« der memoria mit der intentional gesteuerten »Verbildlichung« der erinnerten sinnlichen oder vergangenen Wahrnehmung weder zu einer »Verschmelzung« noch »fließen beide allmählich ineinander«.106 Im Strukturgefüge des Erinnerungsbewußtseins stellen sie vielmehr dessen sich »asymmetrisch« zueinander verhaltende und asymmetrisch verharrende Momente dar. Aufgrund ihrer Asymmetrie ist das Erinnern von Anfang an, nicht erst vermittels einer Verschmelzung »reiner Fälle«, ein komplexes Phänomen, und jedenfalls ist es keine unreine »Zwischenform« zwischen den Extremen »reiner Vergangenheit« einerseits und »reiner Erinnerung« andererseits. Man wird wohl sagen dürfen, daß es gerade Bergsons eigene hypothetische Konstruktion »reiner Fälle« ist, die Gefahr läuft, »das Wesen« der Erinnerung (in der asymmetrischen Differenzstruktur des sich erinnernden Bewußtseins) zu verfehlen. Das Strukturproblem, das in Bergsons »Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist« steckt, ist das der Setzung reiner Differenz zwischen reiner Vergangenheit und reiner Erinnerung, ein Strukturproblem, in das noch Deleuze mit seiner neostrukturalistischen »Differenz an sich selbst« (die da nicht minder »rein« gedacht werden soll) sich verstrickt. Damit schließt sich der Kreis eines Denkens von Differenz, den wir gezogen haben, um unser Konzept einer Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins selber so deutlich wie möglich von ihm abheben zu können. Übrig bleibt, in Augenschein zu nehmen, was Bergson über die »Wiederholung« sagt. Er versetzt sich in die Lage eines Lesers, der ein Gedicht auswendig lernen will – in einen »praktischen Fall« also des Wiederholens. An ihn tritt Bergson aber wiederum anhand eines »theoretischen Satzes« heran. Sein Theoriesatz behauptet, daß sich »ein unmerklicher Übergang« von zeitlich angeordneten Erinnerungen zu Bewegungen vollzieht, die sich in Handlungen umsetzen. Wer ein Gedicht auswenig lernen möchte, wiederholt sich zunächst Zeile für Zeile, bis diese Zeilen sich verbinden und jetzt das ganze Gedicht erinnert werden kann. Dieser ganzheitliche Vorgang muß 302 | fünftes kapitel

wieder in einzelne Schritte auseinandergelegt werden, damit bestimmt werden kann, was sich da wiederholt und was nicht; liege doch – ich zitierte das schon einmal – ein »radikaler Unterschied« zwischen dem, »was nur durch Wiederholung zustande kommt und dem, was sich seinem Wesen nach nicht wiederholen kann«. Mit solch »radikaler« Unterscheidung gelangt Bergson zu seiner These einer Differenz zwischen der mémoire-habitude und der mémoiresouvenir, und zur Stützung dieser These argumentiert er folgendermaßen: beim Auswendiglernen »zieht jede einzelne Wiederholung an mir vorüber als ein bestimmtes Ereignis meiner Geschichte«. Sind nun diese bestimmten Ereignisse, diese einzelnen Wiederholungen beim Auswendiglernen, fragt Bergson jetzt, auch Bilder im und fürs Erinnern? Und er antwortet: das Auswendiglernen eines Gedichts ist niemals abzulösen von »Gewohnheit«, die erzeugt wird durch Wiederholung ein und derselben Handlung, das heißt, durch eine Wiederholung, die sich in einer Zusammenfügung von Teilen (oder einzelnen Wiederholungen) zu einem Wiederholungsganzen niederschlägt. Auf diese Weise erinnern wir das auswendig gelernte Gedicht im Modus einer mémoire-habitude, einer stets aus »Bewegung« oder Tätigkeit resultierenden und an »Handlung« orientierten Gewohnheitserinnerung, die für sich genommen keiner Bilder bedarf. Gewiß ist es auch möglich, sich explizit nur an einzelne Wiederholungen beim Auswendiglernen zu erinnern, und der »individuelle Charakter« einer einzelnen Wiederholung hat natürlich mit Gewohnheit nichts zu tun; diese einzelne Wiederholung ist ja »genau datiert« – deshalb kann sie gar keine Wiederholung erfahren. Spätere Wiederholungen,wären sie möglich, würden sie verändern, ihr etwas hinzufügen und dadurch »das Wesen« der einzelnen oder einzigen Wiederholung verfälschen. Von einer derartigen nicht wiederholbaren Wiederholung und allein von ihr, so behauptet nun Bergson, können wir uns ein Bild machen, und zwar ein konstantes, unveränderliches Erinnerungsbild in der mémoire-souvenir – ein Bild also, das sich ebenfalls nicht wiederholt. Denn jede einzelne Wiederholung ineins mit ihrem Erinnerungsbild »genügt sich selbst« und »stellt ein originellesMoment meiner Geschichte dar«.107 Zwischen die Wiederholungen der mémoire-habitude und die unwiederholbaren Bilder der mémoire-souvenir legt Bergson also eine »wesentliche« Differenz, und daraus zieht er die (in seiner Ausdie bilder der ›memoria‹ | 303

gangsthese schon vorweggenommene) Konsequenz, die den »unmerklichen Übergang« von Erinnerung in Bewegung und Handlung betrifft: die mémoire-habitude ist »immer auf Tätigkeit gestellt, in der Gegenwart zu Hause und auf die Zukunft gerichtet. Von der Vergangenheit bewahrt sie nur die Bewegungen, die vergangenes Tun darstellen«. Und: »sie findet in sich die Taten der Vergangenheit nicht als Erinnerungsbilder vor, in denen es sie wieder aufleben lassen könnte, sondern als das streng geordnete System von Bewegungen, die sich aktuell vollziehen«. Die auf Handlung und damit auf »Nützlichkeit« zielende Gewohnheitserinnerung arbeitet nicht mit »Vorstellungen« vom Vergangenen (Bergson läßt eine genaue Differenzierung von »Vorstellungen« und »Bildern« nie thematisch werden), sondern sie »agiert die Vergangenheit«, um sie »zu nützlicher Wirkung lebendig« zu halten.108 Dazu dürfen wir bemerken: mehr zu tun bleibt der mémoire-habitude auch gar nicht übrig, nachdem eine »reine Vergangenheit« ihr immer schon vorausgeschickt und dieser reinen Vergangenheit längst beschieden ist, aus dem »Dunkel« ihrer Virtualität in das »Licht« ihrer Aktualisierung »emportauchen« zu müssen. Noch einmal wird hier deutlich, in welchem Maße Bergsons memoria-Philosophie durch die fiktive Idee »reiner« Vergangenheit bedingt (und verzerrt) ist. Wenn Deleuze diese fiktive Idee rechtfertigen will, weil Bergson doch nicht müde werde immer wieder zu betonen, »daß das Vergangene aus keiner Gegenwart, welcher auch immer, zu rekonstruieren sei« (Sätze über das Bewußtsein und seine Gegenwärtigkeit hält Deleuze ja für »platt«), dann ist ihm entgegenzuhalten, daß Vergangenheit – eben weil sie »gewesen ist« – nur durch eine gegenwärtige, intentional geführte Rekonstruktion ihres Gewesen-seins erschlossen werden kann; und wenn er anrät, man solle sich wie Bergson »mit einem Schlage ins Vergangene versetzen«, mit einem »Sprung« à la Kierkegaard109, dann möchte wir auf einen solchen Sprung doch lieber verzichten, weil er dem Erinnern der Vergangenheit den Hals brechen könnte. Warum auch sollte der Philosoph des Erinnerungsbewußtseins in eine fiktive Vergangenheit springen, die einerseits »nutzlos« genannt wird, weil sie »nicht mehr wirkt«, und der andererseits und dennoch ein »Weiterleben an sich« (!) zugedacht ist110 – ein »Weiterleben« natürlich nur als Spielform einer »Dauer«, deren peristaltische »Bewegung« sich sogar die mémoire 304 | fünftes kapitel

einverleibt? Der Faszination dieser lebensphilosophischen Idee der »Dauer« vermögen manche Leser und Kommentatoren Bergsons sich gleichwohl immer noch nicht zu entziehen. »Wäre man genötigt, Materie und Gedächtnis in einen Satz zusammenzufassen, so müßte man sagen, daß die Erinnerung sich selbst bewahrt«, erklärt man da111, also: daß die Erinnerung dauert. Oder man will uns bedeuten, daß sich Erinnerungen doch »nirgendwo anders als in der Dauer erhalten können«, mithin »erhalte« die Erinnerung »sich in sich selbst«.112 Derartiges kann man einzig dann behaupten, wenn man an den flüchtigen Bildern des Erinnerns und damit am Vergessen vorbeiblickt oder es verharmlost, wie Bergson es tut. Da hilft es am Ende auch wenig, wenn dieser Autor – nachdem er zwischen das mechanisch-wiederholende und das für Bilder zuständige vorstellende Gedächtnis eine Wesensdifferenz eingetragen hat – nun doch noch meint, die wiederholende könne die vorstellende mémoire »vertreten«. Wie soll diese Vertretung denn aussehen?, bleibt da zu fragen – und Bergsons Antwort lautet: die wiederholende mémoire »kann sogar die vorstellende zu sein scheinen«. Was aber ist der Grund solchen Scheins? Daß wir nicht »abstrahieren« können! Denn »um die Vergangenheit in Form eines Bildes wachzurufen, muß man vom gegenwärtigen Tun abstrahieren können, muß man dem Nutzlosen einen Wert geben können, muß man träumen wollen«. Und diesem zuhöchst erstaunlichen Satz fügt Bergson alsbald zwei nicht minder erstaunliche an: »wir müssen an die Stelle des spontanen Bildes einen motorischen Mechanismus setzen, der es ersetzen kann«, und: »wir bedienen uns des flüchtigen Bildes, um einen bleibenden Mechanismus zu konstruieren, durch den das Bild überflüssig wird«.113 Doch wie ist es dann um das »Universum der Bilder« bestellt? Wird es durch den motorischen Mechanismus der mémoire-habitude »entbildlicht«? Anders gefragt: hat Bergson zur mémoire-souvenir nichts Gewichtiges mehr zu sagen? Er redet da von einem »Weiterleben der Bilder« – wie soll man das jetzt verstehen? Wiederum unter der Voraussetzung eines »Sprunges«, einer »Tätigkeit«, mit der das Bewußtsein jeden Zeitintervall »überspringt« – in eine der fiktiven »reinen Vergangenheit« korrespondierende, nicht weniger fiktive »reine Erinnerung«, an der das Erinnerungsbild »partizipiert«, weil es sie »materialisiert«, ja: im Erinnerungsbild kommt die bilder der ›memoria‹ | 305

»die unabhängige reine Erinnerung zur Offenbarung«.114 Auch die »reine« Erinnerung muß von einem »virtuellen« in einen »aktuellen« Zustand übergehen, nicht anders als die »reine« Vergangenheit; an und für sich selber ist die reine Erinnerung, in Entsprechung zur reinen Vergangenheit, die »nicht wirkt«, »machtlos«.115 Bergsons »reine Erinnerung« bleibt uns noch rätselhafter als Kants »reines Bild«, und die Bergsonsche Rede von einem »Weiterleben der Bilder« vermögen wir überhaupt nur zu begreifen auf dem Hintergrund seiner metaphorischen »Metaphysik« eines »Universums der Bilder« und dessen »Dauer«. Nicht das geringste Verständnis indes vermögen wir aufzubringen für den Kommentar jenes Bergsonianers, der bezüglich dieses »Weiterlebens« erklärt: »wir nehmen es nicht wahr, wir setzen es voraus, und wir glauben daran«.116 Was also bleibt schlußendlich zu sagen über Bergsons auf Intuition beruhendes Verfahren einer Konstruktion »reiner Fälle«? Über die »radikale Unterscheidung« einer wiederholenden und einer vorstellenden mémoire? Sie alle werden hypothetisch in fiktiver Differenz gesetzt, damit aus ihrer Virtualität ihre Aktualisierung oder gar Materialiserung herausgezaubert werden kann in der Perspektive konkreten Nutzens, sei es der Nutzen motorischer Mechanismen der mémoire-habitude mit ihren Wiederholungen, sei es der »Nutzen« der nicht wiederholbaren Bilder der mémoire-souvenir, die »überflüssig« werden sollen. Das ist das Strukturgerüst des Buches Matière et mémoire. Es umstellt nur die philosophischen und erkenntnistheoretischen Probleme des Erinnerungsbewußtseins mit seinen flüchtigen Bildern, es umstellt die Fragen nach Anschaulichkeit und Veranschaulichung dieser Bilder mit Thesen und Hypothesen – der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins selber stellt es sich nicht. Dessen Asymmetrien werden auseinandergezerrt in »reine Extreme«, zwischen die eine Lebensphilosophie des nützlichen Tuns und Handelns tritt. Darum überlagert Bergson das ›Bild‹ des Leibes als »Handlungszentrum« mit dem Konzept eines »aktuellen Bewußtseins«, das »in jedem Augenblick das Nützliche annimmt und das Überflüssige sofort zurückweist« – und am Ende dürfen die memoria und die imagines memoriae nur noch als Statisten auf der Bühne stehen, denn »die Aktivität des Geistes überragt unendlich weit die Masse der angehäuften Erinnerungen«.117 306 | fünftes kapitel

IV. »Repräsentation im Begriff« und »Repräsentanz im Bild« »Das Bild ist jedenfalls auf den Status einer beiläufigen oder Folgefigur der Repräsentation nicht zurückführbar. Im Gegenteil: das Bild besetzt den Raum, den ganzen Raum, der die Gegensätze der Repräsentation voneinander trennt: den reinen, bildlosen Begriff und seinen empirischen Inhalt«. (Jean-Jacques Wunenburger)

Mit diesen Sätzen beschließt Wunenburger seine große Studie zur Philosophie des Bildes.118 Die Setzung einer Differenz zwischen »Bild« und »Repräsentation« ebenso wie die These von einem »Bildraum«, welcher den Gegensatz zwischen dem reinen Begriff und seinem empirischen Gehalt zu überbrücken vermag, stellt aber nicht nur das philosophische Nachdenken über alle möglichen Bilder auf ein solides Fundament – ein Fundament, wie es auch von Vertretern der Bildwissenschaft eingefordert wird.119 Die zitierten Sätze korrespondieren überdies dem Profil einer Philosophie des in seinen Bildern arbeitenden Erinnerungsbewußtseins. Denn das bewußte Erinnern ist keine schlichte Re-präsentation von Vergangenem (das ja unwiderruflich »gewesen ist«), sondern – wie ich bereits zu Beginn dieses Kapitels notierte – dessen »Repräsentation im Bild«. Das heißt keineswegs, daß da eine Identität von »Repräsentation« und »Bild« bestünde. Die Repräsentation eines vergangenen Ereignisses im Jetzt des Sicherinnerns einerseits und die Veranschaulichung des Repräsentierten im Erinnerungsbild (und dem dieses Bild festhaltenden, es artikulierenden »inneren Wort«) machen gerade die »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins aus. Erinnerung ist deshalb nicht lediglich, wie Ricœur behauptet, Re-präsentation im Sinne »erneuter Vergegenwärtigung« – »Vergegenwärtigung« ist nur ihre farblose und leblose Form. Farbe und Leben erhält die Erinnerung erst aus einer Veranschaulichung des Vergegenwärtigten, also »im Bild«. Darum wurde im vierten Kapitel dieses Buches die für alles bewußte Erinnern konstitutive Funktion der intentional geführten Veranschaulichungsleistungen des sich erinnernden Subjekts herausgearbeitet, sein intentional imaging. Diese Veranschaulichungsleistungen eröffnen den »Bildraum« zwischen dem »reinen Begriff« der Repräsentation (oder der »Repräsentation im Begriff«) auf der einen Seite und dem »empirischen Inhalt« dieses Begriffs auf die bilder der ›memoria‹ | 307

der anderen. Wir können uns das verdeutlichen an dem schon einmal vorgeführten Beispiel einer Betrachtung des Pariser Eiffelturms und dem Sicherinnern an diese – vielleicht lange zurückliegende – Betrachtung. Solches Sicherinnern ist immer mit Akten des Veranschaulichens gepaart – mit einem veranschaulichenden Bild, das auch nicht mehr jenes Sichtbild ist, mit dem man zuvor den Eiffelturm »in Augenschein« genommen hatte. Wenn ein derartiges Erinnern eine Re-präsentation genannt werden kann, dann jedenfalls nur eine Repräsentation »im veranschaulichenden Bild«. Dieses veranschaulichende-veranschaulichte Bild erzeugt jetzt aber eine »Repräsentanz«, eine veranschaulichte Gegenwart des Eiffelturms in der Erinnerung – kurz: eine »Repräsentanz im Bild«, kraft derer die »Repräsentation im Begriff« sowie jedwede bildlose »Vergegenwärtigung« allererst Farbe, Leben und »Inhalt« bekommen. Derjenige meiner Leser, der diesen Überlegungen zu folgen bereit ist, wird jetzt wohl noch besser verstehen können, was ich mit meiner Rede von der »kognitiven Relevanz« der Veranschaulichung im Erinnern, dieser Mitte zwischen »Anschauung« und »Begriff«, im Sinn habe.120 Aus der Optik auf die mit farbigem Leben erfüllte anschauliche »Repräsentanz« des Erinnerten »im Bild« (die zusammen mit der farblos, bildlos und formal bleibenden »Vergegenwärtigung« von Vergangenem im Jetzt des Erinnerns zur Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins gehört) rücken wir uns noch einmal die Vernunftkritik Kants vor Augen, die die memoria in das Exil einer anthropologischen »Pragmatik« geschickt hat. Im zweiten Kapitel dieses Buches haben wir uns klar gemacht, daß diese Exilierung eine – durchaus konsequente – Folge aus der Bildlosigkeit des Kantischen Kritizismus ist, die ihrerseits auf einer Aussparung der zwischen wahrnehmender »Anschauung« und konzeptualisierendem »Begriff« zu verortenden Mitte kognitiv relevanter Anschaulichkeit beruht. Dem italienischen Philosophen Massimo Cacciari stimmen wir deshalb zu, wenn er erklärt: »das kritische Gebäude der Vernunft ist auf einer Abwesenheit des Bildes errichtet« – auf einer Abwesenheit, die sich im Kantischen Konzept der »Erscheinung«, einer »scheinbaren Präsenz des Phänomens«121, mit aller Ausdrücklichkeit bekundet. Muß man nun aber nicht auch festhalten, daß Kant der Entdecker der »transzendentalen Einbildungskraft« war, einer 308 | fünftes kapitel

transzendentalen imaginatio, die alle Phänomene und Erscheinungen allererst in-ein-Bild-setzt, in ein Bild unserer Erkenntnis? Der Entdecker einer Imagination, ohne die es weder »wirkliche« noch »mögliche« Bilder geben kann? Hat Kant damit denn nicht jedwede »Repräsentanz im Bild« in ihrem transzendentalen Ermöglichungsgrund längst vorausgedacht? Dies könnte indes nur sagen, wer den kritischen Kant unkritisch liest. Denn wir dürfen ja nicht überlesen, daß Kant diese Einbildungskraft zwar eine »unentbehrliche Funktion der Seele« nennt, aber zugleich auch »blind«. Ein Blinder kann nicht sehen, und auch Kants Einbildungskraft »sieht« nichts: sie bleibt eine imaginatio. »Etwas imaginieren« ist nicht dasselbe wie »etwas sehen«. »Imaginieren« können wir uns alles mögliche – also auch »Erscheinungen« oder »Phänomene« –, »sehen« können wir nur Dinge und anschauliche Bilder. Kant hat seinen Begriff der Einbildungskraft aus dem lateinischen Wort imaginatio herausgelesen, und natürlich hat die imaginatio in unbestimmter Weise auch immer etwas mit einer imago zu tun, nur: das »transitive Sehen« dieser imago, die tatsächliche »Sicht auf das Bild«, gerät im Wort imaginatio »intransitiv« zum Verschwinden. Die Begriffsgeschichte zeigt, daß und warum im Mittelalter und in der Renaissance imaginatio und phantasia Synonyma werden konnten: beide machen die »Mitte« des Geistes zwischen Sinnlichkeit und Vernunft aus; wegen eben dieser Synonymität nannte Marsilio Ficino die imaginatio ein »Chamäleon«122, aber ohne daß ihm dabei die Phantasie zu einer »schweifenden« geriet – wie in der Kantischen Philosophie, in der sie auch nicht mehr der »Mitte des Geistes« zugehören darf. Kants transzendentale Imagination ist zwar keine schweifende, ins »Scheinbare« abschweifende Phantasie; aber was sie erzeugt, sind dennoch immer nur »scheinbare Präsenzen«, nämlich »Erscheinungen« oder eben transzendental-imaginativ konstituierte »Phänomene« – niemals anschaulich gesehene und intentional veranschaulichte »Bilder«. Das ist der präzise Sinn der nicht minder präzisen Rede Kants von der »Blindheit« der Einbildungskraft. Sie »sieht« tatsächlich nichts, sie »sieht« auch nicht die imagines memoriae und reicht mithin zu einer Begründung der memorialen »Repräsentanz im Bilde« nicht hin – auch dies erklärt die Exilierung der Erinnerung aus der Kritik der reinen Vernunft. »Der Kantische Narziß«, so drückt es Cacciari bissig aber triftig aus, »imaginiert«, aber er »sieht nicht das, was in die bilder der ›memoria‹ | 309

Wahrheit ist«, ja, er »sieht überhaupt nicht mehr«; er spiegelt stattdessen die Welt in der Einbildungskraft und im Begriff – und »die Welt der Spiegel ist die Welt der Repräsentation«.123 Solche Rede von der »Welt der Repräsentation« als »Welt der Spiegel« umschreibt indes nur eine Funktion, besagt sie doch lediglich, daß durch die Repräsentation etwas »reflektiert« wird; den Begriff der Repräsentation bestimmt oder »definiert« sie ebensowenig wie seine neostrukturalistische »Verortung« in einer »transzendentalen Illusion« durch Gilles Deleuze. Das Problem der Semantik des Begriffs »Repräsentation« dürfte gleichwohl an die Frage nach seiner »Verortung« gebunden bleiben, seiner Verortung nämlich in jenem keinesfalls differenzlosen und dennoch »ganzen« Raum, von dem wir sagen müssen, daß er durch das »Bild« in seiner kognitiven Relevanz eröffnet wird. Aber indem wir dies sagen, befinden wir uns bereits in einem kritischen Diskurs mit dem wichtigen, doch zugleich höchst problematischen Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen des Phänomenologen Paul Ricœur. Bewußtes Erinnern von Vergangenem ist nicht abzulösen von einer »Repräsentanz« des Vergangenen »im Bild«. Husserls Phänomenologie des Erinnerungsbewußtseins war demgegenüber festgelegt auf die These: »Vergangenheitsanschauung kann nicht Verbildlichung sein«124, eine These, die sich mit der phänomenologischen Fokussierung des »Bewußtseinsstroms« auf die Noesis und das Noema als dessen Strukturelemente verknüpft. Die Überlegungen, die Ricœur nun hinsichtlich des von ihm so bezeichneten »mnemonischen Phänomens« anstellt, bleiben in ihren Grundzügen nicht nur dieser These treu, sie sind auch, wie er selber bekennt, »vom Begriff der Repräsentation mit seiner reichhaltigen Polysemie durchquert«. Offenkundig soll die »reichhaltige Polysemie« des Wortes »Repräsentation« (dieses »Nebelflecks«, wie Ricœur anderwärts sagt) die Rede von Erinnerungsbildern ersetzen. Erinnerung bleibt für Ricœur jedenfalls bilderlose »Re-präsentation«. »In guter phänomenologischer Tradition« fragt dieser Autor sogar: »von welcher eidetischen Notwendigkeit zeugt der Ausdruck ›Erinnerungsbild‹?«, um sodann zu behaupten, daß »unser Wort ›Bild‹ denselben Bereich abdeckt wie die Husserlsche ›Vergegenwärtigung‹«125, und die zuhöchst problematischen, »endlosen« und »fragmentarischen« Texte aus Husserls Nachlaß zum Themenkreis Phantasie, Bildbewußtsein, 310 | fünftes kapitel

Erinnerung126 bleiben für Ricœur verbindlich. Wenn aber »Vergangenheitsanschauung« keine »Verbildlichung« sein darf, dann geraten aus der phänomenologischen Optik auf eine Anschaulichkeit ohne Bilder auch die unmißverständlichen Aussagen des Aristoteles über Bild und Phantasie in der Schrift De memoria et reminiscentia ins Zwielicht. Weil »Bild« ja nur ein Wort und »Erinnerungsbild« bloß ein Ausdruck für Vergegenwärtigung sein sollen – für sich selber bar jeder »eidetischen Notwendigkeit« – , glaubt Ricœur fragen zu dürfen, ob »dies nicht schon beim griechischen eikon und seinen Konflikten mit der phantasia der Fall« war127: ob es also nicht auch dem Aristoteles in seiner Philosophie der memoria in Wahrheit nur um diese phänomenologische Re-präsentation in der Figur »erneuter Vergegenwärtigung« gegangen sei. Einer derartigen Re-Lektüre des aristotelischen Textes muß unser energischer Einspruch gelten. Denn für Aristoteles kann von einer früher sinnlich wahrgenommenen Sache, einem »Eindruck«, nichts anderes in der memoria »bleiben« als deren Bild, das die Seele vermöge der phantasia sich »gleichsam sehend« veranschaulicht oder »vor Augen stellt«.128 Die »Konflikte«, die Ricœur zwischen dem erinnernden Bild und der es veranschaulichenden Phantasie entdecken will, entstehen bei Aristoteles gar nicht; sie sind von Ricœur aus der Perspektive einer phänomenologischen Anschaulichkeit ohne Bilder in den Text des antiken Philosophen hineingelesen. Der Phänomenologe dreht jedoch den Spieß um und notiert, ich zitierte diesen Satz schon einmal: »unter dem Titel Erinnerung und Bild berühren wir den kritischen Punkt der ganzen Phänomenologie des Gedächtnisses«, den diese »von der griechischen Problematik des Bildes geerbt« habe.129 Die Phänomenologie mag (und kann) indes das aristotelische Erbe nicht antreten, und darum fragt Ricœur jetzt: »wie kann man sich, indem man ein Bild wahrnimmt, an etwas von ihm Verschiedenes erinnern?«130 Schon das hier in Gebrauch genommene Verbum »wahrnehmen« zeigt das phänomenologische Dilemma an; denn ein Erinnerungsbild wird nicht wie ein sinnlicher Eindruck »wahrgenommen«, es ist einzig als anschauliche und veranschaulichte »Repräsentanz« dieses Eindrucks (und tatsächlich in einem Bild, nicht in einer Erscheinung) zu verstehen. Aber eben weil er »die griechische Problematik des Bildes« dem Rubrum »Wahrnehmung« unterordnet und damit mißversteht, muß Ricœur noch einmal mehr und wiederum auf der die bilder der ›memoria‹ | 311

Fährte Husserls alle Verbildlichung im Erinnern unterlaufen: »wenn Husserl vom ›Bilde‹ spricht, denkt er an Vergegenwärtigungen«131 – an Re-präsentationen also. Diesen schreibt der französische Phänomenologe jetzt, im Hinblick auf Vergangenes, eine rätselhafte »transitive Energie« zu, um im gleichen Atemzuge jedwede Repräsentanz des Vergangenen in Erinnerungsbildern auf eine »Funktion der Vertretung« des Vergangenen hinabzustufen – veranschaulichende Repräsentanz gerät bei Ricœur zu einer noetisch-noematischen Vertretung.132 Dann hinwiederum erklärt dieser Autor: »wohl ist die geschichtliche Repräsentation ein gegenwärtiges Bild einer abwesenden Sache; aber die abwesende Sache verdoppelt sich selbst in Verschwinden und Existenz in der Vergangenheit«.133 Mit diesem Satz möchte Ricœur eine Brücke schlagen vom »mnemonischen Phänomen« zum geschichtlichen Vergangensein – doch in die Konstruktion dieser Brücke ist schwerlich Vertrauen zu setzen. Denn für ihren Erbauer hat (und behält) ein »abwesendes« geschichtliches Ereignis zwar seine »Existenz« in der Vergangenheit, um aber zugleich in dieser Vergangenheit zu »verschwinden«. Ein Bild von dem abwesenden Ereignis könne es mithin zum ersten schon deshalb nicht geben,weil dieses Ereignis mit seinem Vergangensein doch »verschwunden« ist, und zum zweiten könne kein Erinnerungsbild der »Verdoppelung« der abwesenden Sache in ihre »Existenz« und ihr »Verschwinden« entsprechen. Damit verdampft bei Ricœur jedwede anschauliche Repräsentanz des Vergangenen in einem es erinnernden Bild zu einem mnemonischen Phänomen, zu einer eidetischen Erscheinung.134 Im Klartext heißt das: die dem Bewußtsein in seiner Selbstgegenwart »abwesende« Sache fällt – wie alle Welt und Geschichte – »in guter phänomenologischer Tradition« einer Epoche, einer Reduktion alles Wirklichen auf die »Selbstgebungen« des Bewußtseins zum Opfer (der durch unser bewußtes Leben bezeugten Tatsache zum Trotz, daß eine abwesende Sache, gerade weil sie einerseits »verschwunden« ist und andererseits doch »existent« bleibt, einzig in der veranschaulichenden Repräsentanz eines Bildes erinnert werden kann). Das Sicherinnern in anschaulichen Bildern bleibt für einen sich so eng an Husserl anschließenden Phänomenologen wie Paul Ricœur »aporetisch«. »Mit dem Begriff des Bildes schiebt sich eine Aporie in den Vordergrund«, notiert er, und: »diese Aporie hat ihren 312 | fünftes kapitel

Ursprung in der ikonischen Konstitution des Gedächtnisses selbst«. Die ikonische Konstitution der memoria vermag nun auch Ricœur nicht zu leugnen; darum kommt er nicht umhin, die Re-präsentation von vergangener Geschichte durch die Erinnerung ein »gegenwärtiges Bild einer abwesenden Sache« wenigstens noch zu nennen. Das Problem, das ihn gleichwohl immer wieder umtreibt, kleidet er in die Frage: »wie festhalten an der prinzipiellen Differenz zwischen dem Bild des Abwesenden als irrealem und dem Bild des Abwesenden als früher gewesenem?« Hier stoßen wir auf den »kritischen Punkt«, den die phänomenologische Theorie Ricœurs keineswegs von Aristoteles »geerbt« hat, sondern den sie selber in die Philosophie der memoria hineinprojiziert. Und wieder ist es, in unverkennbarer Nähe zum französischen Neostrukturalismus, ein Begriff von Differenz, der den Begriff des Bildes durchkreuzt. Bei Ricœur soll es der Begriff einer »prinzipiellen Differenz« sein, mit dem er das Erinnerungsbild vom Vergangenen aufspaltet: der Begriff einer Differenz, die »prinzipiell« genannt wird, weil sie von Anfang an einen Hiat setzt zwischen dem Vergangenen, dem sein Gewesensein (seine »Existenz« in der Vergangenheit) nun einmal nicht abzusprechen ist, und dem Vergangenen als dem in der Vergangenheit Verschwundenen. Diesem in der Vergangenheit »Verschwundenen« mißt Ricœur den Status eines »Irrealen« zu, und das kann nur bedeuten: eines Nicht-Wirklichen – ontologisch formuliert: den Status des Nicht-mehr-wirklich-Seins. Mit dieser »ontologischen« Formulierung verknüpfe ich die Option für eine der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins antwortende, das Sein des Vergangenen und den Modus dieses Seins bedenkende Philosophie der Geschichte. Ihr entgegen beruht Ricœurs Theorie des »mnemonischen Phänomens« auf dem Plädoyer für eine »Epistemologie der historiographischen Operation« (Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 455 u. ö.), aus deren Perspektive auch seine Rede vom »Verschwinden« des Vergangenen sich hinreichend erklärt, denn eine derartige Operation vermag ein »Verschwundenes« nicht mehr zu erreichen. Von der »spekulativen« Philosophie der Geschichte hat der Phänomenologe Ricœur längst nachdrücklichen Abschied genommen (vgl. das Kapitel »Auf Hegel verzichten« in seinem Werk Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit, aus dem Französischen von Andreas Knop, München 1991, 312-333). die bilder der ›memoria‹ | 313

Diese Abschiednahme von Hegels »Vernunft in Geschichte« ist ihm aber noch kein Anlaß, jedwede historische Ontologie aus den Augen zu verlieren. Doch wie lassen sich Ricœurs Überlegungen zum »Verschwinden« des Vergangenen mit seinem Beharren auf einem »Gewesensein« des Vergangenen miteinander verbinden? »Die vergangenen Dinge sind vergangen«, schreibt er, »aber keiner kann machen, daß sie nicht gewesen sind. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß das Gewesensein den letzten Referenten bildet, auf den durch das Nichtmehrsein abgezielt wird. Die Absenz wäre damit verdoppelt in die Absenz als durchs gegenwärtige Bild anvisierte und die Absenz der vergangenen Dinge als im Hinblick auf ihr Gewesensein vergangene«. Das Vergangene ist in dieser phänomenologischen Optik »absent« zum einen als aus der Bewußtseinsgegenwart in den Blick genommen, zum anderen gerade aufgrund seines Gewesenseins. Ricœur fährt nun fort: hier »grenzt die Epistemologie der Geschichte an die Ontologie des In-der-Welt-seins«, und: hier »erreicht die Epistemologie der historiographischen Operation ihre innere Grenze, indem sie an ihren Rändern die äußerste Grenze einer Ontologie des historischen Seins streift« (Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 433 f.). Dazu muß man wohl sagen: »hier«, am Ort nämlich des Zusammenstoßes von Phänomenologie und Ontologie, spaltet sich die phänomenologische Optik in einen Blick durch zwei verschiedene Brillen; durch die eine hindurch sieht Ricœur auf eine ungefähre Ontologie des Gewesenseins als eines »In-der-Weltseins«, mit der anderen behält er das phänomenologisch beschriebene Verschwinden oder Nicht-mehr-sein des Vergangenen fest im Auge. Damit macht sich der Phänomenologe zu einem Grenzgänger: auf der »inneren Grenze« der historiographischen Operation und an der »äußersten Grenze« zur historischen Ontologie, die er überdies nur »streift«. Ich denke demgegenüber, daß die historische Ontologie auf das geschichtliche factum est sich stützen muß, auf das Gewesen-Sein des Vergangenen in einem tatsächlichen Modus von Sein, der niemals »verschwindet«, sondern vielmehr den Modus des Gegenwärtig-Seins des erinnerten Vergangenen vermittels dessen »Repräsentanz im Bild« allererst ermöglicht und trägt (bis hin zu einer modalen Ontologie des Bildes). Die Augengläser des Phänomenologen können »die Positivität des Gewesenseins« ausschließlich durch »die Negativität des Nichtmehrseins« (ebd., 434) anvisieren; zu einer 314 | fünftes kapitel

Insichtnahme von Modalitäten des Seins sind sie nicht scharf genug geschliffen.135 Das »Gewesensein« des Vergangenen und sein »Verschwinden«, das ist die objektive Seite der »Aporie«, die Ricœur freizulegen glaubt, die Seite des Vergangenen oder »Abwesenden« selber. Handelt es sich da aber überhaupt um eine Aporie? Begegnen wir hier nicht vielmehr einer ontologischen Differenz, einer Differenz zwischen dem Wirklich-Sein (in der Vergangenheit) und einem Nichtmehr-wirklich-Sein (in der Gegenwart)? Einem Nicht-mehr-wirklich-Sein des Vergangenen (in der Selbstgegenwart des subjektiven Bewußtseins), dessen Sein (objektiv, in der tatsächlichen Geschichte) aber durchaus nicht verschwunden ist? Was in die Vergangenheit versunken ist, ist ja noch längst nicht verschwunden oder, wie unser Phänomenologe sagt, »irreal«; ihm kommt lediglich in der Selbstgegenwart des Subjekts die Modalität eines Nicht-mehr-wirklich-Seins zu. Auf dieser subjektiven Seite der phänomenologisch konstatierten »Aporie«, so behauptet Ricœur jetzt, »hält uns die Erinnerung gefangen«, insofern »sie sich als eine Art Bild, eine Art Ikon, darstellt«.136 »Ihren Ursprung« hinwiederum soll diese »Aporie« – die gar keine ist – in der »ikonischen Konstitution« der memoria deshalb haben, weil eben die ikonische Verfaßtheit der Erinnerung es sei, die uns über die »prinzipielle Differenz« zwischen dem Gewesensein des Vergangenen und seinem Verschwinden hinwegtäuscht, insofern sie diese Differenz in einer und zudem einer undifferenzierten »Art Bild« vom Vergangenen »gefangen hält«, in einer »Art Ikon«, das dem »Gespenst« einer »imitativen Kopie« vergleichbar sei. Unsere Philosophie der Erinnerung als Repräsentanz des Vergangenen in anschaulichen und intentional veranschaulichten Bildern steht solchen Überlegungen diametral entgegen. Sie leugnet keineswegs, daß das Erinnern auch ein Vergegenwärtigen ist; sie folgt jedoch nicht der Flucht aus dem wirklichen Bild, zu der Ricœur seinen ersten Anlauf schon nimmt, wenn er von einer »prinzipiellen Differenz« zwischen der realen Existenz des Vergangenen und seinem Verschwinden ins »Irreale« spricht. Dieses »Verschwinden« ist schlicht ein Vergessen oder ein Versinken in Vergessenheit, das am Gewesensein des Vergangenen nichts ändert. Darum entsteht hier auch keine Aporie. Das Vergessen gehört aber zur »Asymmetrie« des Erinnerns selber, es ist die »Differenz« zum Erinnern und damit die bilder der ›memoria‹ | 315

ein gar nicht zu tilgendes Moment der »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins. Eben diese Differenzstruktur rücken wir an die Stelle der von Ricœur erdachten »prinzipiellen Differenz«, die diesen Phänomenologen am Ende zu der Rede von einem »mnemonischen Phänomen« verführt, in dem das erinnernde Bild seinen Ersatz finden soll. Das Wirklichsein dieses Bildes bekundet sich indes noch in seiner Flüchtigkeit und seinem möglichen Erlöschen – und von beidem wissen wir aus der Erfahrung unseres bewußten Lebens, die von keiner Philosophie hintergangen werden sollte. Wenn wir so denken, können wir der grundlegenden Frage nicht mehr ausweichen: Repräsentation – was ist das eigentlich? Eine sonderbare Frage, so scheint es, jedenfalls in den Ohren von Philosophen; denn Philosophie ist seit jeher »Repräsentation« von Welt, von Leben, von Erfahrungen, kurz: von etwas. Das wirklich philosophische Problem ist nicht »die Repräsentation«; der Kern dieses Problems steckt in der Frage: Repräsentation wovon? Ist es nicht immer die Philosophie selber, die sich im »Begriff« der Repräsentation re-präsentiert? Und was diesen »Begriff« betrifft: schließt er die Repräsentation von Bildern ein oder aus? Die sonderbare und immer nur asymptotisch beantwortbare Frage, was Repräsentation denn sei oder meine, werfen wir hier jedoch einzig deshalb auf, weil wir darangehen müssen, das nicht minder sonderbare Verhältnis des philosophischen Repräsentationsbegriffs zur Wissenschaft ein wenig aufzuklären, genauer: zur Wissenschaft von der Geschichte, die auf ihre Weise Vergangenes erinnert. Arbeiten Philosophie und Geschichtswissenschaft mit ein und demselben »Begriff« von Repräsentation?137 Und wie »repräsentieren« Philosophie einerseits und Geschichtswissenschaft andererseits die imagines memoriae? In seiner Formalität ist der Repräsentationsbegriff keineswegs »obsolet«; bedacht werden muß indes, was er jeweils zu »greifen« vermag, also: wovon er jeweils eine Re-präsentation leisten kann. »Der Begriff von Repräsentation als ›strukturerhaltender Abbildung‹ erweist sich als hinreichend allgemein«, so ließ sich einmal ein analytisch und wissenschaftstheoretisch orientierter Autor vernehmen; offensichtlich ist es diese »hinreichende Allgemeinheit«, derentwegen dieser Theoretiker sich befugt glaubte, die strukturerhaltende »Abbildung« und damit das »Bild« selber unter seinen Repräsentationsbegriff subsumieren zu dürfen.138 Die von ihm anvisierte Allgemein316 | fünftes kapitel

heit des Repräsentationsbegriffs verdeckt aber nun gerade die Besonderheit der »Repräsentanz« des geschichtlich Vergangenen im anschaulichen Erinnerungsbild. Anders als der zitierte Autor war hingegen Cassirer dem Konzept einer anschaulichen »Repräsentanz im Bild« schon auf der Spur, als er für die Beziehung, »derzufolge ein Sinnliches einen Sinn in sich faßt und ihn für das Bewußtsein unmittelbar darstellt« den Begriff einer »symbolischen Prägnanz« vorschlug.139 Aber ein Symbol ist kein Bild, und »symbolische Prägnanz« ist immer noch keine »veranschaulichte Repräsentanz«. Immerhin war es sein Symboldenken, das diesem Philosophen es erlaubte, Erinnerung nicht als bloße Repräsentation, Reproduktion oder gar Wiederholung des Vergangenen zu begreifen; »denn jede Reproduktion«, so schrieb er, »schließt schon eine Stufe der Reflexion in sich«, und: das Erinnerungsbewußtsein »stellt das Vergangene im Bilde vor sich hin«, es gibt damit dem Vergangenen eine »ideelle Bedeutung«.140 Wie also dürfen wir umgehen mit der »Repräsentation«, mit dem »Symbol« und mit dem »Bild«? Über die Differenz und Interferenz zwischen diesen drei Termen hat sich Louis Marin in nicht nur klaren, sondern geradezu biblischen Sätzen geäußert: »Am Anfang war die Repräsentation, und die Welt war Repräsentation, und das ›Ich denke‹ begleitete alle Repräsentation: dies wird von nun an zum metaphysischen und erkenntnistheoretischen Prolog dessen, was gemeinhin als klassisches Denken bezeichnet wird und doch das Denken des modernen Zeitalters ist. Und das Symbol, das bis dahin die engste Verbindung garantierte, den intimsten und konstantesten Austausch zwischen in liebevoller Vertrautheit mit einander verbundenen Elementen, zwischen Sprache und Welt, zwischen Wörtern und Dingen, zwischen den Wörtern untereinander und den Dingen untereinander – dieses Symbol mit seiner antiken Macht zur Vereinigung und Zusammenfügung ist von nun an zum Zeichen geworden«.141 »Von nun an«, damit ist die Bruchstelle gemeint, welche die Logik von Port-Royal, die Art de penser aus dem Jahre 1685, in die Ideengeschichte eingetragen hat, indem sie das Symbol- und Bilddenken der Antike und der Renaissance in eine Theorie der Repräsentation durch Zeichen transformierte (man muß sich vor Augen die bilder der ›memoria‹ | 317

halten, daß die Art de penser lange Strecken der Moderne geprägt hat, um die Bedeutung der »Rückkehr« Cassirers zu einem Symboldenken ermessen zu können). Mit der Ablösung des überkommenen Philosophierens in Bildern, Figuren und Symbolen durch die Repräsentation in Zeichen – so fährt Marin fort – »verflüchtigen« sich Bilder ebenso wie bildgesättigte Sprache und das Seiende gerät zu einem »Objekt« des Begriffs der Repräsentation, zu einem Objekt, »dem seine Re-präsentation alles verleiht, was es zu seiner Fundierung in der Wahrheit bedarf«.142 Doch damit nicht genug. Das Modell der Repräsentation von Welt in Zeichen ist ein Modell der Repräsentation durch diskursive logische Sprache, und das heißt, wie Marin akzentuiert, »statt im Bild«. Damit bringt dieser Forscher nun alle drei auf die Bühne, die Repräsentation, das Symbol und das Bild, wobei er scharfsichtig anmerkt: für die »klassische« Repräsentationsauffassung ist es charakteristisch, »einen Diskurs anzustreben, welcher der Welt der Dinge gegenüber so transparent ist, daß der Text deren vollkommenste Realisation darstellt«. Aber der Wunsch nach zeichensprachlich transparenter Repräsentation der Welt »hat einen anderen Wunsch zur Voraussetzung, der ihm entspricht und zugleich seine Umkehrung darstellt: das Verlangen nach einem Bild, das gegenüber der sinnlichen Welt so transparent ist, daß es den Anschein hat, als halte sich in ihm die sinnliche Welt selbst einen Spiegel vor«.143 Diesen Wunsch erfüllt »von nun an« die Kunst. Der »das moderne Zeitalter« kennzeichnende Wunsch nach einer Repräsentation von Welt in Kürzeln, Zeichen und Begriffen »entspricht« in der Tat strukturell dem Wunsch, ja dem Verlangen nach einer Darstellung von Welt in transparenten Bildern: das bestätigt nicht allein die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende »ikonische Wende«144, das bekundet vor allem die gegenwärtige Konjunktur der Bildwissenschaft. Die Dialektik des »Verlangens« nach Bildern und der »Umkehrung« solchen Verlangens hat in paradigmatischer Weise Hegel vorgeführt mit seiner »Aufhebung« der imagines memoriae in durch die »Intelligenz« gesetzte Zeichen. Aber die Bilder der Erinnerung, schlafend im »nächtlichen Schacht« der Intelligenz (welches Bild malt da der Zusatz zum § 453 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften!) läßt Hegel »in umgestalteter Form« im Wort oder Zeichen »aufbewahrt« sein (Enz § 462 318 | fünftes kapitel

Zusatz). So problematisch (und wenig überzeugend) diese »Aufbewahrung« auch ist – bezeugt sie nicht immer noch ein »Verlangen« nach dem Bild, »aufgehoben« zwar und chiffriert im In-sich-gehen des Geistes? Und liegt es möglicherweise an solchem »Verlangen nach dem Bild«, daß der von Hegel beschrittene Weg des In-sichgehens des Geistes von der Anschauung der Dinge zur freien Intelligenz über die »Momente« des Bildes und des Zeichens niemals zu einem die Welt »re-präsentierenden« Begriff führt, schon gar nicht zu einem »Begriff der Repräsentation«?145 Unsere Kritik am »Ikonoklasmus« in Hegels Theorie des »subjektiven« Geistes – der »Psychologie« in seiner Enzyklopädie – nehmen wir mit dieser Frage nicht zurück. Mit dieser Kritik ist keineswegs bestritten, daß Hegels Vernunftphilosophie der »Manifestation des Begriffs«, die alle Verstandesphilosophie von Repräsentation durch deren Begriff hintergreift, das Bild zu seiner Darstellung im spekulativen Denken bringen will: ein Unternehmen, welches das Bild nicht mehr ›Bild‹ sein läßt, ein Unternehmen aber auch, mit dem das Bild wenigstens insofern nicht ausgelöscht sein soll, als seine Darstellbarkeit im reinen Denken jetzt auf den Prüfstand rückt (und dort nun allerdings strikt behauptet wird). Hegel hat schon in der Phänomenologie des Geistes den »Begriff der Repräsentation« verabschiedet und an dessen Stelle eine »dialektische Bewegung« gesetzt, »welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt«, und diese dialektische Bewegung nannte er »Erfahrung des Bewußtseins« – Grundlage einer »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«.146 Diese Verabschiedung der Repräsentation ist nicht nur als Überschreiten ihres »Begriffs« zu verstehen; sie bleibt ein Rückverweis auf die Repräsentation als Grundproblem alles Philosophierens. Mit seinem großen Buch erhebt Hegel Einspruch gegen ein »re-präsentatativ« sich artikulierendes philosophisches Denken, das sich selber mit dem »Begriff« der Repräsentation aller Bewegung beraubt. Diesen Begriff in Bewegung gebracht zu haben, zu einem Durchgang durch die reflektierte Geschichte der »Gestalten des Bewußtseins«, darin besteht Hegels Absage an ein Philosophieren in einem von der Philosophie »selbstgesetzten« Zirkel: dem Zirkel um das repräsentamen und das repräsentandum, aus dem solches Philosophieren dann nicht mehr auszubrechen vermag. Darum kann seine Phänomenolodie bilder der ›memoria‹ | 319

gie als neue philosophische Wissenschaft auftreten, die eine »Galerie von Bildern« durchschreitet, um in einer »begriffenen Geschichte« ihr Ziel zu erreichen.147 Nun verdankt sich diese »begriffene« Geschichte dem In-sich-gehen des Geistes, einer Er-innerung, welche die »alte« memoria mit ihren Bildern in sich aufgehoben haben will, und da wird jetzt doch deutlich: memoria und Er-innerung ebenso wie das Festhalten der imagines memoriae einerseits und das Durchschreiten der »Galerie von Bildern« andererseits – das sind zentrale Denkfiguren in zwei neuen philosophischen Wissenschaften, in Hegels Phänomenologie und in Giambattista Vicos Scienza Nuova. An diesen beiden Werken läßt sich ablesen, in welchem Maße – nach dem Triumph des »Zeichens« über das Bild in der Art de penser – das »Bildproblem« nun auf neue Weise wieder zu einem umstrittenen Thema wird, zu einem Thema, das dem Problemkreis einer Genealogie neuer philosophischer Wissenschaft ganz wesentlich zugehört.148 Darum haben wir bereits im ersten Kapitel unseres Buches Vico und Hegel miteinander konfrontiert, und festgemacht war diese Konfrontation an Vicos Option für einen »Vorrang der Bilder« in ihrem Gegensatz zu Hegels Option für einen »Vorrang der Wörter«, die von einem die Bilderwelt »durchschreitenden« und schließlich sie »aufhebenden« Denken gesprochen werden. Gemeinsam ist ihren beiden philosophischen Wissenschaften indes der Verzicht auf starre, begriffliche Repräsentationen, die jedwede »Bewegung« zu sistieren drohen: Vicos Neue Wissenschaft der geschichtlich bewegten Welt der Menschen geht auf Distanz sowohl zur Logik von Port-Royal als auch zum ego cogito des Descartes, das diese Welt in einem unbewegten Zeichen des Denkens zu repräsentieren beansprucht, und Hegels Phänomenologie tritt, als Vernunftwissenschaft der Erfahrungen des Bewußtseins, in Opposition zu jedwedem nur verständigen Repräsentationsbegriff, der diese bewegte Geschichte des Bewußtseins niemals zur Darstellung bringen kann. Trotz ihrer Übereinstimmung in der Ablehnung eines »Begriffs« von Repräsentation als vom Verstand gesetzter Zeichen-Konstante sind diese beiden neuen philosophischen Wissenschaften gleichwohl von einer fundamentalen Differenz durchzogen. Macht nämlich die Scienza Nuova sich die Darstellung des Zustandekommens der Reflexivität des menschlichen Geistes aus seinen mythischen Anfängen vor dem Horizont einer »Metaphysik des menschlichen Geistes« zu 320 | fünftes kapitel

ihrer Aufgabe, so beschreibt die Phänomenologie das Insichgehen des reflexiven Geistes vor der Folie eines »absoluten Wissens«, und seinen Ausdruck findet das einerseits, bei Vico, in dem Entwurf einer Historiogenesis der Kultur, andererseits, bei Hegel, in einer Beschreibung der Dialektik des Entstehens und Sichüberbietens von Bewußtseinsgestalten – in einer epistemischen »Historiogenesis« des Wissens. Angesichts dieser sehr wohl fundamentalen Differenz gilt es dennoch, aufmerksam darauf zu achten, daß beiden Modellen neuer philosophischer Wissenschaft das »Bildproblem« eingeschrieben ist – sei es, daß Vicos Neue Wissenschaft an den »wirklichen« Bildern der memoria festhält, sei es, daß die Phänomenologie Hegels die »Galerie« solcher Bilder nurmehr durchschreiten darf, um sie, wegen ihrer »Zufälligkeit«, in der Er-innerung als »Schädelstätte des absoluten Geistes«149 vermöge der Vermittlungsfigur ihrer Aufhebung »aufzubewahren«. Damit sind wir jetzt vorbereitet, die vorhin von uns aufgeworfene Frage anzugehen: wie »repräsentieren« philosophische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft die imagines memoriae als »Bilder von Vergangenem«? Als Bilder von zeitlich Vergangenem? Prinzipiell ist dies die Frage nach dem Verhältnis von »Bild« und »Zeit«. Verdeckt das Erinnerungsbild vielleicht die Zeitdifferenz zu dem, was es erinnert? Und bricht dann nicht auch, »wissenschaftlich« gewendet, an dieser Stelle eine irritierende Differenz auf zwischen philosophischen Wissenschaften wie denjenigen Vicos und Hegels, denen das »Bildproblem« eingeschrieben ist oder wenigstens empfindlich bleibt, und einer im phänomenologischen Denkstil Husserls interpretierten Geschichtswissenschaft, die Vergangenes erinnert, aber mit dessen Re-präsentation sich begnügt, ohne sich auf Bilder stützen zu wollen? Einer Geschichtswissenschaft, die das Erinnerungsbild zu einer die »historiographische Operation« nur noch ornamentierenden Metapher geraten läßt? In diese Richtung zielt jedenfalls das geschichtswissenschaftliche Modell, das der Phänomenologe Ricœur in seinem langen Kapitel »Die Repräsentation durch die Geschichte« vorstellt.150 An die Historiker Michel de Certeau und Carlo Ginsburg sich anlehnend zeigt Paul Ricœur sich fasziniert von dem Gedanken einer »Kontinuität zwischen der Idee der Repräsentation als Gegenstand der Geschichte und der Idee der Repräsentation als Werkzeug die bilder der ›memoria‹ | 321

der Geschichte«.151 Das Werkzeug der Geschichte – der Geschichte als Wissenschaft – nennt er »historiographische Operation«, um jetzt die Behauptung aufzustellen, daß diese, weil an »Zeit« orientiert, das »Bild« in ein Abseits rückt. Denn »in dem Maß«, in welchem die re-präsentative historiographische Operation »sich aufs Terrain des Bildes verlagert, geht ihr die temporale Dimension verloren, die Referenz aufs Einstmals, die für die Definition des Gedächtnisses wesentlich ist«.152 Damit die Zeit im Erinnerungsbild nicht »verloren geht«, müsse folglich dieses Bild der »Idee der Repräsentation« unterworfen bleiben. »Bild« ist mithin wiederum nur ein Wort für »Vergegenwärtigung«, eine Repräsentanz des Vergangenen »im Bild« ist weder für Ricœurs Phänomenologie der mémoire noch für seinen phänomenologischen Zugriff auf die »historiographische Operation« in einer »eidetischen Notwendigkeit« begründbar. Aus dem Blickwinkel der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins sind das Konstruktionen »in guter phänomenologischer Tradition«, aber im Widerspruch zu unserem wirklichen bewußten Leben. Richtig an ihnen ist einzig dies: daß »Bild« und »Zeit« begrifflich nicht miteinander konvertibel sind. Doch geht deshalb die Zeit im Erinnerungsbild nicht »verloren«. Zwischen der »Zeit« und dem Erinnerungsbild von »zeitlich Vergangenem« besteht vielmehr eine Asymmetrie, insofern das »Früher« und »Später« der Zeit im »Jetzt« des Erinnerungsbildes, in einem intentionalen »Augenblick«, kondensiert und auf dieses »Jetzt« fokussiert sind. Denken wir nur einmal an ein geglücktes Portrait, dem es gelingt, den zeitlich erstreckten Lebenslauf eines Menschen mit seinen Freuden und Leiden im Bild seines Antlitzes darzustellen und »festzuhalten«. Gleiches gilt für das Erinnerungsbild, das ein »Einstmals« im »Jetzt« des Erinnerns veranschaulicht – das Einst und das Jetzt treten da als asymmetrische Momente in der »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins ins Bild. Deshalb erblicken wir in Ricœurs mnemonischen Phänomen, das an die Stelle der memorialen Repräsentanz im Bild treten soll, ebenso eine phänomenologische Fehlkonstruktion wie in seiner These vom »Verlorengehen« der »temporalen Dimension« in den imagines memoriae. An dieser Fehlkonstruktion sind gleichwohl die Fragen abzunehmen, denen weder die Geschichtswissenschaft noch die philosophisch geführte Bildwissen322 | fünftes kapitel

schaft ausweichen dürfen: hat die eine die Frage nach dem »Ort« der Bilder im Geschichtsbewußtsein zu stellen, so die andere die Frage nach dem »Ort« der Zeit im Bildbewußtsein; und ich denke, daß beide, das Geschichtsbewußtsein und das Bildbewußtsein, in der »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins aufeinander treffen. Immer aber hat zu gelten, daß kein Bild »auf den Status einer beiläufigen oder Folgefigur der Repräsentation zurückführbar ist«.

die bilder der ›memoria‹ | 323

Sechstes Kapitel Erinnerungsbewußtsein, Bildbewußtsein, Personalität

Im voraufgehenden Kapitel wurde die Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem französischen Neostrukturalismus der différance konturiert. In vergleichbarer Weise fragen wir jetzt nach dem Gewicht, das dem Sicherinnern mit seinen anschaulichen Bildern auf dem Feld eines deutschsprachigen Diskurses zugemessen wird, der um das Thema »Bewußtsein und Selbstbewußtsein« kreist und sich auf eine »Theorie der Subjektivität« fokussiert (Abschnitt I). Dieser Diskurs ist für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins insoweit von Interesse, als er zu erkunden aufgibt, ob und in welcher Weise die Problemtitel »Bildbewußtsein« und »Personalität« – die hinter dem Satz »ich erinnere mich« sich verbergen – in einer Analyse von »Subjektivität« ihren angemessenen Platz finden können. Die Auseinandersetzung mit der Theorie der Subjektivität wird unser Augenmerk auf das Faktum »ich bin« und dessen individuellen Daseinsmodus lenken, um von ihm her, also im Ausgang von einer grundlegenden ontologischen Reflexion, das Sicherinnern einer Person mit ihren Erinnerungsbildern zu erklären. Geführt von der Frage »was ist ein Bild?« wenden wir uns sodann dem Zusammenhang von Erinnerungsbewußtsein und Bildbewußtsein zu, den Husserl mit seiner These »Erinnerung ist nicht Bildbewußtsein« bestritten hat und der auch von der sich formierenden Bildwissenschaft solange nicht aufgeklärt werden kann, als sie die »Form der Bildlichkeit« im Erinnerungsbewußtsein mit der Form der Bildlichkeit im ästhetischen Bildbewußtsein nicht zu vermitteln vermag (Abschnitt II). Der abschließende Text des Buches (Abschnitt III) stellt den Personbegriff als »Grenzbegriff« vor und markiert eine Distanz zum Personalismus Schelers, der das ontologische »Sein« der Person auf eine phänomenologische »Seinseinheit ihrer Aktvollzüge« reduziert. Schelers Unterscheidung von »mittelbarer« und »unmittelbarer« Erinnerung (von der im Abschnitt VII unseres zweiten Kapitels die Rede war) beruht auf dieser Reduktion, die das Erinnerungsbewußtsein ebenso | 325

wie das Bildbewußtsein zerspaltet. Im Gegenzug gegen den phänomenologischen Personalismus stelle ich den »Grenzbegriff Person« auf die ontische Faktizität des »ich bin« und dessen modal-ontologisch zu interpretierende Daseinsweise; das »ich erinnere mich« ist einerseits von dem Daseinsmodus, in welchem »ich bin«, niemals ablösbar, und es eröffnet andererseits den Weg, auf dem »ich, als Person« mich finden kann und sogar muß. »Person« ist nicht in einem unmittelbaren Zugriff »definierbar«, Personalität hängt von einer »Selbstfindung« ab, die auf das »ich bin« und das »ich erinnere mich« sich stützt. Das individuelle »ich«, das ich bin und das sich erinnert, kann auch nicht hergeleitet werden aus dem transzendentalen ego cogito Kants, das im Dasein und im Sicherinnern einer Person weder »darstellbar« ist noch zu seiner »Darstellung« kommen kann. Mit einer Kant-kritischen Reflexion über »Denkbarkeit« und »Darstellbarkeit« schließe ich mein Buch ab, denn der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins geht es ja darum, die Darstellbarkeit des Erinnerten in Bildern – in ihrer kognitiven Relevanz und in der Perspektive auf den Grenzbegriff »ich, als Person« – auch denkbar zu machen. * * * I. Erinnerungsbewußtsein und »Theorie der Subjektivität« Im Zentrum der gegenwärtigen subjektivitätstheoretischen Debatte1 steht die Frage, ob die unendliche Vielfalt der uns bewußten Erlebnisse und Erfahrungen eines sie einenden Ich-Gedankens oder vielleicht sogar der sie synthetisierenden Leistung des Kantischen »transzendentalen Ich« bedarf. Nur selten allerdings und gewissermaßen »nebenher« wird da diese Frage auch im Hinblick auf unsere bewußt und bildlich erinnerten Erfahrungen gestellt; »nebenher«, das will sagen: Erinnerung und bildlich-anschauliches Erinnerungsbewußtsein werden von den Theoretikern der »Subjektivität« in der Regel weder als Kriterien für bewußtes Leben noch als Kriterien der Identität der ein solches Leben führenden Person betrachtet.2 Führungslinie dieser Theorie bleibt stets, in philosophischer Fachterminologie gesprochen, ob Bewußtseinsanalysen »ego-logisch« ausgerichtet sein müssen oder »nicht-egologisch« verfahren dürfen. Im Hintergrund steht dabei Kants transzendentales »ich denke überhaupt«, das die Identität des erkennenden Subjekts sowie sein 326 | sechstes kapitel

Selbstbewußtsein und die Einheit seiner möglichen Erfahrungen garantieren und sicherstellen sollte. Das »starke« transzendentalphilosopische Identitätskonzept Kants ist aber nun mit der Zeitlichkeit und Kontingenz unserer Erlebnisse und Erinnerungen nicht zur Vereinbarung zu bringen, mit anderen Worten: das Sicherinnern mit seinen flüchtigen, kommenden und schwindenden Bildern läßt sich dem »stehenden und bleibenden« ego cogito Kants schwerlich subsumieren. Wie auch sollten denn die zeitlichen Asymmetrien in einem gegenwärtig an Vergangenes sich erinnernden Bewußtsein in einem zeitlos-egologischen Identitätskonzept »synthetisierbar« sein? Und wenn oder weil das nicht möglich ist: darf man dann davon ausgehen, daß da doch wenigstens eine »schwache« Identität in Form einer Kontinuität bestehen muß, einer Kontinuität, die ein gegenwärtiges »Wissen« mit einem einstmals »Gewußten« verknüpft? Einer Kontinuität gleichsam in der Figur einer identity over time des gegenwärtig wissenden und des einstmals gewußten Wissens, einer Kontinuität, die dann auch das Erinnern nicht-egologisch, ohne jeden Rekurs auf die Identität eines Ich erklären könnte? In diesem Sinne war bei einem ersten Vertreter der Theorie der Subjektivität schon vor geraumer Zeit zu lesen: »ich erinnere mich eines Gewußten. Gewußtes wird immer nur durch Wissen hindurch gewußt. Erinnere ich mich eines Gewußten, so muß ich mich auch des Wissens erinnern, durch das hindurch es gewußt wurde […] das Wissen, dessen ich mich erinnere, muß selbst gewußt worden sein«. Und weiter hieß es da: »ohne implizites Sich-selber-Wissen des Wissens« sei überhaupt »keine Erinnerung möglich«.3 Eine kritische Analyse dieser Sätze dürfte sich lohnen, geben sie einerseits doch zu verstehen, daß die spezifische Zeitlichkeit des Sich-erinnerns in Kants Lehre von der Zeit als »reiner Form« nicht einholbar ist und auch niemals subsumierbar sein kann unter ein zeitloses »ich denke«. Mit der linearen Einfügung der Erinnerung in ein »Wissen« und ein »Wissen des Gewußten« ist aber andererseits die Bewußtseinsgestalt des Sich-erinnerns bereits zu einem Epiphänomen der Subjektivität herabgestuft und die veranschaulichende Intentionalität des Erinnerungsbewußtseins selber schon übergangen. Auf die Bilder im Erinnern kann sich die Aufmerksamkeit gar nicht mehr richten, obwohl diese Bilder durchaus »wissensrelevant« – wir sagten: kognitiv relevant – sind. Zudem ist es ja geerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 327

rade ihre bildgesättigte Anschaulichkeit, derentwegen sich die Erinnerung jeder voreiligen Bestimmung durch ein »Sich-selber-wissen des Wissens« entzieht. Das Sicherinnern ist niemals nur das Erinnern eines »Gewußten«. Sobald Subjektivität einzig im Gefälle einer Episteme des Wissens und des Gewußten thematisch wird, verstellt sich die »Theorie der Subjektivität« den Zugang zu einer Epistemologie der Erinnerung, zu deren Fundierung es einer Philosophie der Personalität bedarf; denn es sind nicht wissende Subjekte, die sich vergangener Erfahrungen erinnern, sondern erlebende Personen. Daß nun Personen sich ihrer selbst bewußt sind – in welchem Grade der Klarheit auch immer – ist zwar unbestreitbar, aber »theoretisch« auch nicht leicht zu begründen. Es kann darum nicht verwundern, daß der »Begriff« der Person zu einem umstrittenen Titel geraten ist (und zwar nicht zufällig schon am Beginn der nicht mehr an einem »theologischen« Personkonzept orientierten Moderne).4 Damit sind wir bei der philosophischen Frage nach der »Subjektivität« von »Selbstbewußtsein«: »wer« ist es denn, der »seiner selbst bewußt« sein kann? Kants Transzendentalphilosophie und Fichtes frühe Wissenschaftslehren hatten das Selbstbewußtsein aus dem Wissen und das Wissen aus dem Selbstbewußtsein erklären wollen, und beide Denker glaubten das Wissen an ein wissensbegründendes Ich binden zu müssen. Die »Theorie der Subjektivität« basiert auf solchen Überlegungen Kants und Fichtes, wenngleich in kritischer, »nicht-egologischer« Weise. Denn problematisch bleibt allemal, wie das »Ich« von sich selber überhaupt »wissen« kann. Wenn es zu einem »Wissen von sich selber« kommen soll, muß es sich auch als »Gewußtes« begreifen, und damit stürzt es mitsamt seinem SelbstBewußtsein in einen Zirkel: in einen Zirkel der Re-flexion, der das Ich als »wissendes Subjekt« und das Ich als »gewußtes Objekt« übergreift und gleichzeitig in das Selbst-Bewußtsein eine es spaltende Differenz einträgt, die eine umstandslose Rede von ich-zentrierter Selbstbewußtheit fragwürdig werden läßt. Die nicht-egologische Theorie der Subjektivität sucht diesem Reflexionszirkel zu entkommen mit dem Versuch des Aufweises einer prä-reflexiven »Bekanntschaft« oder »Vertrautheit« jedweden Bewußtseins mit sich selber. Dieter Henrich, der profilierteste Vertreter dieser Theorie, formulierte das folgendermaßen: alle Bemühungen, so notierte er, »welche das Bewußtsein aus einer egologischen Selbstbeziehung erklären 328 | sechstes kapitel

wollen«, seien von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Denn »entweder ist das Ich, das sich als Subjekt zu sich verhält, bereits seiner selber bewußt«, oder »das Ichsubjekt ist seiner nicht bewußt und hat keinerlei Vertrautheit mit sich« – dann aber kann es vermittels einer hochstufigen zirkulären Reflexion (nämlich auf sich als wissendes und gewußtes Ich oder als »Subjekt« und »Objekt«) zu einer unmittelbaren Vertrautheit mit sich auch gar nicht mehr zurückgelangen. Solche »Bekanntschaft« oder »Vertrautheit« wurde von diesem Philosophen nun als »Grundphänomen von Bewußtsein« und als eine »Grundtatsache« bezeichnet, die es rechtfertigen soll, von einem ich-los »anonymen« Bewußtsein zu sprechen.5 Im Anschluß an diese Thesen hat ein anderer Autor dann wiederholt, Subjektivität sei nicht nur »unmittelbar mit sich bekannt«, sondern alle Reflexionspronomina (wie das »sich« und »mich«) müßten zudem »als Fallen betrachtet werden, die uns die Sprache stellt«. Mithin gebe es gute Gründe, »den Rekurs aufs Ich fallen zu lassen« und statt dessen unseren Blick auf ein »unmittelbares Bewußtsein« zu richten, das in keiner Weise »begrifflich mediatisiert« sei, also auch dem Begriff eines »Selbst« prä-reflexiv vorausliege.6 Schon hier halten wir einmal ein. Denn die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins kann Theorien der Subjektivität, die einer »unmittelbaren Vertrautheit des Bewußtseins mit sich« ebenso wie unserer »unmittelbaren Bekanntschaft« mit dieser vorgeblichen »Grundtatsache« aufruhen sollen, nur mit größter Skepsis begegnen; jeder meiner Leser möge sich doch fragen, ob er wirklich mit sich selber bekannt oder gar vertraut zu sein glaubt – zumal dann, wenn die Erinnerung an schicksalhafte Erlebnisse und Erfahrungen ihn »seiner selbst« entfremdet und sein Selbstvertrauen spaltet. An der Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins mit seinen Asymmetrien scheitert jedenfalls die Rede von einer unmittelbaren Vertrautheit des Bewußtseins als »Grundphänomen« oder gar »Grundtatsache«; die Annahme einer solchen »Tatsache« ist nicht weniger fragwürdig als die Behauptung, es könne ein ichloses, anonymes Bewußtsein überhaupt geben – wir würden uns dann nämlich selber täuschen, wenn wir den Satz aussprechen »ich erinnere mich«. Doch in Henrichs Kritischer Einleitung in eine Theorie des nicht-egologisch verfaßten Bewußtseins, mit der wir uns hier vornehmlich auseinandersetzen, steht nun auch zu lesen: »die bewußte erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 329

Person selbst kann sich ihre Vertrautheit mit Bewußtsein dadurch deutlich machen, daß sie sich darauf besinnt, Erinnerungen zu haben«; in diesem Text ist sogar die Rede vom Traumbewußtsein »in seinem Unterschied zu versunkener bildlicher Vergegenwärtigung und Wachheit«, und schließlich von verschiedenen »Modi des Bewußtseins«, die »ineinander transformierbar« sind.7 Wir müssen darum die bislang zitierten Thesen einer noch genaueren Prüfung unterziehen, um uns ein endgültiges Urteil über diese Theorie der Subjektivität bilden zu können. Zu bestreiten ist zwar nicht, daß ein Bewußtsein immer schon um sich »weiß«, wenn auch nur in intentione obliqua, in einer »verdeckten Intention« auf sich selber. Oder, anders gesagt: alles »Bewußte« ist, in noch unbestimmter Weise, »gewußt«, es leitet sich her von einem noch nicht reflektierten Wissen. Dieser Zusammenhang von »bewußt« und »gewußt« kann auch nicht durch vermittelnde Reflexionen bewiesen werden und mag insoweit als »unmittelbar« zu bezeichnen sein. Somit läßt sich wohl sagen: Bewußtsein ist nicht ableitbar aus hochstufiger Reflexion und in diesem (aber auch nur in diesem) Sinn »präreflexiv«. Zu bedenken ist aber auch, daß die Differenz zwischen »bewußt« und »gewußt« – und damit die Differenz zwischen dem Ich als wissendem Subjekt und dem Ich als gewußtem Objekt – eine rein formale und abstrakte Wissensdifferenz bleibt, die überdies das Bewußte und das Gewußte in eine symmetrische Perspektive einzig aus dem Blickwinkel bewußten Wissens einrückt. Die Differenz zwischen dem Ichbewußtsein, das »um sich weiß«, und einem Ichbewußtsein, das »sich erinnert«, eröffnet demgegenüber eine Perspektive der Asymmetrie, weil »Wissen« und »Erinnern« sich nicht decken. Erst wenn diese Asymmetrie beachtet ist, kann die Eigenart des Erinnerungsbewußtseins als »Modus« von Bewußtheit in ein erstes Licht geraten. In diesem Licht wird dann deutlich, daß allein das Verständnis von Bewußtsein als wissender Selbstbeziehung sich in einem »Zirkel« bewegt. Das Erinnerungsbewußtsein sprengt diesen Zirkel; es steht nicht nur in einer Asymmetrie zu dem Bewußtsein, das um sich »weiß«, sondern seine Differenzstruktur ist selber asymmetrisch – in erster Linie aufgrund der Asymmetrie zwischen dem sich gegenwärtig erinnernden »Wer« und dem vergangenen, erinnerten »Was« in seiner zeitlichen, niemals »abstrakten« Konkretheit. 330 | sechstes kapitel

Und hier setzt unsere skeptische Kritik an der Theorie ichlos »anonymer« Subjektivität als »Grundtatsache« aller Bewußtheit an. Diese Kritik richtet sich zuvörderst auf die Behauptung einer unvermittelten »Bekanntschaft« und »Vertrautheit« mit Bewußtsein. Was heißt da eigentlich »Vertrautheit«? Bin ich mit einem mir »bekannten« Sachverhalt denn auch schon »vertraut«? Der Analyse und Beschreibung der »Dimension Bewußtsein«8 stellen sich mithin nicht nur theoretische, sondern auch sprachliche Probleme. Was unter »Vertrautheit« verstanden werden soll, ist jedenfalls mit der Formel »sie liegt schon vor, wenn Bewußtsein eintritt«9 nicht im mindesten geklärt. Sollte man mit »Vertrautheit« nicht eher den Gedanken einer (von bloßer »Bekanntschaft« strikt zu unterscheidenden) Intimität verbinden? Dann würde auch verständlich, daß eine Person, die »sich« erinnert, in einem nicht nur äußerlichen, sondern innerlichen Verhältnis zu ihrem Bewußtsein und sogar zu den ihr bewußten Erinnerungen stehen kann. Stattdessen lesen wir: »die bewußte Person selbst kann sich ihre Vertrautheit mit Bewußtsein dadurch deutlich machen, daß sie sich darauf besinnt, Erinnerungen zu haben, die ohne die Voraussetzung von Bewußtsein unbegreiflich wären«.10 Nun haben wir uns in diesem Buch längst darauf verständigt, daß es durchaus nicht dasselbe ist, ob jemand »Erinnerungen hat« oder ob jemand »sich erinnert«.11 Einer Person, die »sich« erinnert, wird man eine »Intimität« mit den ihr bewußten Erinnerungen nicht absprechen wollen; eine Person indes, die Erinnerungen wie Zahnschmerzen nur »hat«, verharrt zu ihnen in einer Distanz extrinsischen, äußerlichen Habens, und mit dem von ihr »Gehabten« wird sie kaum »unmittelbar vertraut« sein können. So gerät denn in der Theorie einer »anonymen« Subjektivität mit dem Konzept »unmittelbarer Vertrautheit« zwangsläufig auch der Begriff »Person« in ein diffuses Zwielicht. Dieses Zwielicht wird erst durchschaubar, sobald man der spezifischen Modalität des Erinnerungsbewußtseins mit seinen kontingenten Bildern im Ganzen des »bewußten Lebens« einer Person nachforscht. Nun ist in Henrichs Kritischer Einleitung (die wir so genau studieren, weil sie lange Debatten und streitige Kontroversen auslöste) auch von Bildern der Erinnerung als »bewußten Gegebenheiten« die Rede. Weil bewußt »gegeben«, soll auch in ihnen das unmittelbar »bekannte« Bewußtsein selber, also seine Vertrautheit, »zur Gegebenheit kommen«.12 Hier liegt ein erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 331

weiterer Anlaß für unsere Skepsis. Denn gerade die flüchtigen und oftmals verstörenden Bilder der Erinnerung vermögen die Vertrautheit des Bewußtseins mit sich zu durchkreuzen, ja sie können sogar die »Intimität« einer Person mit ihrem Bewußtsein zerstören. Das an diese Bilder geheftete Erinnerungsbewußtsein hat durchaus die Kraft, die These einer unmittelbaren Vertrautheit des Bewußtseins mit sich selber zu erschüttern, insbesondere dann, wenn es mit Bildern leidvoller Erfahrung gesättigt ist, die aus unserem bewußten Leben nicht zu tilgen sind und dieses Leben vielleicht zerspalten. Man mag darum eine unmittelbare Vertrautheit des Bewußtseins mit sich als Hypothese oder Postulat in Anspruch nehmen, niemals aber als »Grundtatsache« im Bewußtsein einer ihre zeitliche Geschichte nacherlebenden Person. Und tatsächlich sollte die Theorie unmittelbarer Vertrautheit ja eine den »egologischen« Selbstbewußtheitslehren lediglich ex negativo13 entgegengestellte Hypothese sein – sie bleibt indes eine hypothetische Konstruktion, die aus personaler Lebenserfahrung sich nicht rechtfertigen kann. Lebenserfahrung schlägt sich in Erinnerungsbildern nieder, bekundet sich in der Aussage »ich erinnere mich« – und es gibt kein personales Bewußtsein ohne Erinnerungen und erinnernde Bilder, die wir bisweilen vielleicht lieber vergessen möchten. Falls es uns gelingt, sie zu vergessen: ist dann die vermeintlich »unmittelbare« Vertrautheit des Bewußtseins am Ende durch solches Vergessen nun doch »vermittelt«? Erinnern und Vergessen, beide bedingen nicht nur einander; sie bedingen gänzlich unser persönliches Bewußtsein. Eine Theorie der Subjektivität, die am Sicherinnern mit seinen Bildern und am Vergessen sich nicht abarbeitet, bleibt farblos oder eben – blasse Theorie. Blaß, insofern sie es sich erspart, nach den Veranschaulichungsleistungen unseres Bildbewußtseins zu fragen.14 Ohne jedwedes Ich kommt aber nun auch Henrichs Programm einer Theorie des »anonymen« Bewußtseins nicht aus, und weil unser eigenes Unternehmen darauf zielt, die philosophische Relevanz des Satzes »ich erinnere mich« freizulegen, nehmen wie die Kritische Einleitung in die Theorie der Subjektivität unter diesem Aspekt nochmals in den Blick. Henrich hält es nämlich für »sinnvoll, vom Leistungsbewußtsein eines Ichprinzips abzusehen«, was aber jetzt nicht heißen soll, daß »Ich und Subjekt ohne irgendwelche Bedeutung wären«: ein »Selbst« – »was immer dieses Selbst sein mag« 332 | sechstes kapitel

– dürfe sehr wohl als »aktives Prinzip der Organisation des Bewußtseinsfeldes« auf der subjektivitätstheoretischen Bühne seine Rolle spielen, sodaß man sogar wird »annehmen müssen, daß humanes Bewußtsein in einer egologischen Orientierung auftritt« (Kursivsetzungen von mir, S. O.). Solche Orientierung könne indes niemals »das Grundphänomen des Bewußtseins, sondern nur eine Form seiner Organisation« abgeben. Erlaubt sei zwar, die »Namen« Ich, Selbst und Subjekt zu Bezeichnung des »aktiven Prinzips« im Bewußtsein zu verwenden; doch »das Gewahren« dieses Prinzips dürfe nicht als »aktive Leistung« des Bewußtseins interpretiert werden, sei alles Bewußtsein doch lediglich ein »beziehungsloses Ereignis«, stets »mit sich selber bekannt«, wenngleich nur »implizit«. Bewußtsein, weil nichts anderes als ein »Ereignis«, habe deshalb auch keine Beziehung »auf sich selbst« und schließe folglich jegliche »SelbstIdentifizierung« aus. Denkbar und möglich bleibe allerdings ein nochmals »anonymes« Selbst-Bewußtsein, anonym deshalb, weil »keinesfalls Eigentum oder Leistung des Selbst«. Ein derart sich »ereignendes« Selbstbewußtsein sei am Ende aber dennoch imstande zu der »Identifizierung gegenwärtigen Bewußtseins in der Kontinuität mit vergangenem und möglichem künftigen Bewußtsein«15 (womit, vermutlich, das Erinnern umschrieben sein soll). Es wird uns also, erstens, bedeutet: gemäß diesem Programm einer Theorie der Subjektivität sind »Ich« und »Selbst«, als bloße »Namen«, sozusagen sprachliche Verlegenheitsausdrücke ohne sachliche Referenz, ein scholastisch geschulter Philosoph würde sagen: sine fundamento in re. Ein Sachverhalt, der »anonym« bleiben soll, kann auch wohl kaum »namentlich« ausgezeichnet sein – das »Selbst« muß folglich für Henrich bleiben, »was immer es sein mag«. Zweitens möchte dieses Programm uns lehren, daß Bewußtsein lediglich »anonym« organisiert ist – nicht etwa in personaler Identität begründet, und daß alles, was immer »aktiv« im Bewußtsein genannt werden könnte, in der »Organisation« eines relationslosen »Ereignisses« sich erschöpft. Man muß wohl sagen: einzig als ein derart wundersames »Ereignis« kann das Bewußtsein in der Tat »implizit mit sich vertraut« genannt werden. Und drittens wird uns ein veritables Rätsel aufgegeben. Denn es ist nicht nachzuvollziehen, wie ein strukturell »beziehungsloses« Ereignis es wohl anstellen mag, sich zu vergangenen Erlebnissen in eine Beziehung erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 333

zu bringen, Gegenwartsbewußtsein und Bewußtsein von Vergangenem voneinander zu differenzieren und überdies das gegenwärtige Bewußtsein sogar zu identifizieren. Das Erinnerungsbewußtsein in seiner Differenzstruktur, die bewußte Aktivität der Veranschaulichung des Erinnerten in Bildern – das intentional imaging – , und schlußendlich die Verankerung von Bewußtsein im Selbst-Stand einer Person: alles dies geht unter in der »Dimension« eines beziehungslosen »Ereignisses«. Unbestreitbar ist es das Verdienst der Kritischen Einleitung, die von der klassischen deutschen Philosophie vorgenommene Transzendentalisierung von Selbstbewußtsein ein für alle Mal unterlaufen zu haben; was an ihr auszusetzen bleibt, ist, daß sie die Problemtitel »Erinnerungsbewußtsein« und »Bildbewußtsein« nicht bloß unterbelichtet gelassen, sondern direkt zum Verschwinden gebracht hat. Dieser Kritischen Einleitung in die Theorie nicht-egologischer Subjektivität sollten Bemühungen um ihre bessere Begründung ebenso wie einschneidende Korrekturen alsbald folgen. Unterzieht man beide einer Prüfung, dann muß man konstatieren, daß die Frage nach dem Sicherinnern weiterhin unbeantwortet bleibt – bei der (wenngleich distanzierten) Ausrichtung des ganzen Programms an der Philosophie Fichtes insofern kein Wunder, als dieser Philosoph ja erklärt hatte, eine Aufbewahrung von Bildern im Bewußtsein laufe auf »krassen Materialismus« hinaus.16 Wir verfolgen zunächst die Überlegungen, die der These vom Bewußtsein als beziehungslosem Ereignis jetzt eine metaphysische Fundierung verschaffen möchten und nehmen danach Henrichs Korrekturen an seiner Kritischen Einleitung in den Blick. Ihr Verfasser will nun mit Friedrich Hölderlin über die »Voraussetzung« nachdenken, die »in der Form der wissenden Selbstbeziehung gelegen ist«, und er möchte diese Voraussetzung im »Leitgedanken der All-Einheit« finden; gelte es doch, unser Denken daraufhin zu orientieren, »daß es ein Einiges jenseits der Trennung begreifen läßt, in das der Mensch in seiner wissenden Selbstbeziehung inbegriffen ist«.17 »Hölderlins Konzeption«, so heißt es da, »impliziert die Annahme, daß es ein Denken gibt, welches mit der Bewegung des bewußten Lebens einhergeht und das Teil ihrer selbst ist«. Bisher stehe freilich »die Erklärung dieses Denkens noch ganz aus«, darum soll sie jetzt mit der Überlegung geliefert werden, daß 334 | sechstes kapitel

die Selbstbeziehung bewußten menschlichen Wissens, ihrer »Form« nach, in das »Einige« einer monistischen »All-Einheit« stets »inbegriffen« sei. Der »Grund« des bewußten Lebens müsse folglich in einer Metaphysik der All-Einheit gesucht werden; dann könne die Idee des Seins solcher All-Einheit das relationslose Ereignis jeglichen Bewußtseins auch begründen. Hier kommt ein neuer Gedanke ins Spiel, der in der Kritischen Einleitung noch keinen Ort hatte: der Gedanke der Verankerung von Bewußtsein in einer monistischen Ontologie – in die, so müssen wir umgehend einwenden, das aus einer »All-Einheit« sich ausgrenzende Sein der »sich« erinnernden Person in seiner kontingenten Einmaligkeit in überzeugender Weise niemals eingetragen werden kann. Darum ist man nun auch nicht mehr überrascht zu hören, daß personale Erinnerungen (obwohl ihnen zugestanden wird, anderes zu sein als nur aufbewahrtes »Wissen«) dennoch in das »Für-mich-sein« der wissenden Selbstbeziehung »wesentlich einbezogen« sein sollen – nicht jedoch in das »Fürmich« oder »Für-sich« eines personalen Erinnerungsbewußtseins. Mit seinem Hölderlinbuch wagt Henrich einen Sprung von der Kritischen Einleitung in die Theorie der Subjektivität in eine Metaphysik, die derjenigen des Giordano Bruno so unähnlich nicht ist. Die ursprüngliche Rede von einem »unmittelbar« mit sich selber vertrauten Bewußtseins-Wissen wird jetzt transformiert in die Metaphysik eines »vermittelnden« All-Einheits-Wissens, das dem vormals »anonym« genannten Bewußtsein seine »Form« (und damit gleichsam seinen »Namen«) geben soll. Der am »Leitgedanken« einer All-Einheit festgemachte Wissensmonismus überformt nun jegliches Wissen, auch die wissende Selbstbeziehung eines »Ich«. Und wer da sagen wollte »ich erinnere mich«, dem wäre im Gefälle dieses Monismus unweigerlich zu bedeuten, daß sein Sich-erinnern stets »wesentlich einbezogen« bleibt in die Figur seiner wissenden und gewußten Selbstbeziehung. Noch einmal mehr stoßen wir hier auf eine sprachliche Unschärfe: was genau ist denn eigentlich gesagt mit der Redewendung von einem »wesentlichen Einbezogensein« meiner Erinnerungen in das Für-mich-sein meiner »wissenden« Selbstbeziehung? Weder die Formel vom »Vertrautsein« des Bewußtseins mit sich noch die jetzt in Gebrauch genommene vom »Einbezogensein« des Sich-erinnerns in ein Sich-wissen lassen noch erkennen, worum es in Wahrheit geht: nämlich um die »asymmeerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 335

trische Differenz« zwischen den Modi der Bewußtheit des Sich-erinnerns einerseits und des Von-sich-wissens andererseits. Zwar ist es immer ein Ich, das sich erinnert oder von sich weiß, und insoweit kommt beiden Bewußtseinsmodi ein »Für-mich-sein« zu. Das Fürmich-sein meiner bewußten Erinnerungen mit ihren anschaulichen Bildern konturiert sich aber in einem anderen Bewußtseinsmodus als das Für-mich-sein meines bewußten und unanschaulichen »impliziten« Wissens. Diese entscheidende Modaldifferenz – und mit ihr die Verknüpfung der Problemtitel »Erinnerungsbewußtsein« und »Bildbewußtsein« – wird von Dieter Henrich nicht (oder jedenfalls nicht hinreichend) beachtet. Aber warum eigentlich nicht? Henrich spricht das sehr deutlich aus, wenn er notiert: »als besonders irreführend hat sich die Vormeinung herausgestellt, es sei möglich, die Dimension des subjektiven Lebens zu einer besonderen Art anschaulicher Gegebenheit zu bringen. Sie wird denen kaum als vielversprechend gelten, für die alle Subjektivität in direktem Zusammenhang mit der wissenden Selbstbeziehung steht. Denn von ihr wissen wir, daß sie sich durchaus nicht aus anschaulicher Präsenz begreifen läßt«.18 Doch die Bilder im Erinnerungsbewußtsein bringen unser subjektives Leben sehr wohl zu einer anschaulichen Präsenz. Sie stehen zwar nicht in »direktem Zusammenhang« mit unserer »wissenden« Selbstbeziehung, das ist ganz zutreffend gesagt; eben deshalb haben wir immer wieder nur von ihrer »kognitiven Relevanz« gesprochen. Daß sich eine wissende und gewußte Selbstbeziehung in keiner Weise »aus anschaulicher Präsenz« begreifen lasse, das bestreiten wir indes energisch – weil wir vor den Bildern im Bewußtsein unsere Augen nicht verschließen, wie Kant es tat und wie es sich in der »Theorie der Subjektivität« offensichtlich wiederholt. Ohne ein Nachdenken über die imagines memoriae muß jede Philosophie des »bewußten Lebens« Stückwerk bleiben und alle Rede über Erinnerung ein Torso. Auch in einem noch späteren Text versteht Henrich die Erinnerung als lediglich »epistemischen« Vollzug »jeder Versammlung im Leben, kraft der sie imstande ist, die Inkommensurabilität der Lebensstadien zu übergreifen«, und er fügt hinzu: »Hölderlin, dem ich hierin folge, hat diese Verstehensart in einem ausgezeichneten Sinn beschrieben, der Erinnerung vom Innewerden des Vergangenen weit abrückt: eine Erinnerung an den nicht in Präsenz zu bringenden 336 | sechstes kapitel

Grund, der sich zugleich in dem Gang, der von ihm anhebt, in den ihm gemäßen Vollzug setzt, der diesen Gang in die ihm wesentlichen Extreme zieht und der schließlich in einem weiteren, noch einmal vertieften Verstehen, und nur in ihm, zu einem Ganzen wird«. Erinnerung, »in dieser besonderen Bedeutung«, dürfe »durchaus nicht verwechselt werden« mit einer »gerafften Wiederholung oder einem Memorieren des Ganges des bewußten Lebens«; und wenn »manche Autoren sogar meinen«, die Einzelheit des »Subjekts« eines bewußten Lebens könne nur mit dem Verweis auf den singularen »Körper« dieses Subjekts erklärt werden, dann betont Henrich: »ich folge ihnen nicht«.19 Nun ist aber weder das bewußte Sich-erinnern einer Person ein bloßes »Memorieren« von erlebtem Leben noch läßt sich unser Erinnern von einem »Innewerden des Vergangenen« jemals ablösen, und in ein monistisch imprägniertes Wissenskonzept, wie es hier entworfen wird, ist die fundamentale »Asymmetrie« zwischen vergangener Lebensgeschichte und einem gegenwärtigen Sicherinnern auch niemals eintragbar.20 Hinter Henrichs Ablehnung der Rede von einer »Verkörperung« des seiner selbst bewußten Subjekts steht sodann wiederum die brisante Frage nach personaler Identität. Zwar ist diesem Autor beizupflichten, wenn er die »Einzelheit« oder Individualität eines selbstbewußten Subjekts nicht an dessen körperlichen, physikalisch meßbaren Merkmalen festmachen oder aus ihnen herleiten will, wie manche Vertreter der Analytischen Philosophie das vorschlagen; irritierend aber und durchaus anfechtbar bleibt Henrichs These, »daß der strukturelle Unterschied zwischen der Bewußtseinseinheit und der Personeinheit festgehalten werden« müsse21, weil doch »die personale Identität« einzig »vom Wissen von sich her« sich ausbilde.22 Anfechtbar sind diese Sätze darum, weil in das subjektive »Wissen« einer Person um ihre »Einheit« oder »Identität« auch stets ein Wissen um ihr »ich bin« eingeschlossen ist, mit anderen Worten: personale Identität bildet sich deshalb nicht einzig und lediglich in einem Von-sich-Wissen der Subjektivität aus, weil solches Wissen von Anfang an und objektiv im Sein der Person fundiert ist. »Bewußtseinseinheit« ist nicht identisch mit »Personeinheit«, aber die Einheit oder Identität der daseienden Person ist deren ontologisches Fundament – und ohne ein Wissen von ihrem gegenwärtig-seienden »ich bin« hätte keine Person Erinnerungen an erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 337

ein vergangen-seiendes »es war«. Die »Lebensdeutung« der Alleinheitslehre, in die Henrich sich mit Hölderlin flüchtet, hält demgegenüber »an der Gewißheit fest, daß nicht der Gedanke der Person, sondern nur das reine Bewußtseinsleben des Subjekts einen unmittelbaren Zugang zu dem erschließt, was wirklich ist« – denn der Mensch sei »nur ein Ort oder Moment, in dem der unpersonale Weltgrund oder das anonyme Allbewußtsein zum Bewußtsein seiner selbst kommt«.23 Die private Weltanschauung eines Philosophen zu diskutieren ist hier nicht der Ort. Wir bleiben bei den philosophischen Problemen der »Theorie der Subjektivität« und halten fest: an der These einer »unmittelbaren Vertrautheit« des Bewußtseins mit sich, die in der Kritischen Einleitung aufgestellt worden war, um den »Reflexionszirkel« vom wissenden zum gewußten Ich zu sprengen, hat Henrich beträchtliche Korrekturen vorgenommen. Dies aber nicht in dem Sinne, in welchem wir davon sprechen, daß die »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins mit seinen kommenden und vergehenden Bildern die Annahme solcher Vertrautheit hinfällig werden läßt. Der an der klassischen deutschen Philosophie sich orientierende Theoretiker der Subjektivität behält stattdessen stets das »Zirkelproblem« im Blick, die »paradoxale Begriffsform«, die aus einer »Reflexion« über Bewußtsein und Selbstbewußtsein allererst entstehe. Sie wird durch ein »nicht theorieentsprungenes Denken« ersetzt, das aller Reflexion vorausliegen soll. Das »Ich« wird demgemäß als »Einheit von vermeinender Subjektivität und vermeinter Subjektivität« verstanden24 und diese Einheit »das Prinzip« alles bewußten Lebens genannt, von den Prinzipien der Subjektphilosophen Kant, Fichte und Hegel gänzlich verschieden.25 Die Einheit von »vermeinen« und »vermeint« soll allen theoriegeführten Zirkeln entzogen bleiben, ja diese Zirkel seien »als Symptom eines Unternehmens zu begreifen, das methodisch falsch orientiert und angesetzt wird.« Doch auch eine Rückkehr zur anonymen, nicht-egologischen Vertrautheit des Bewußtseins und mit Bewußtsein soll schließlich ausgeschlossen sein, denn »Wissen ist kein anonymer Prozeß«, schon der Gebrauch des Wörtchens »ich« zeige ja an, daß ein Subjekt »von sich und seinem Wissen weiß«; wenngleich ein Wort ohne ausweisbare Referenz, bleibe es doch der Indikator des »Für-mich-seins« solchen Wissens.26 Mir scheinen dennoch Reste 338 | sechstes kapitel

der vormaligen »Unmittelbarkeit« und »Vertrautheit« in die nun korrigierte Theorie der Subjektivität hinübergerettet zu sein, wenn da beispielsweise auch jetzt noch behauptet wird, daß jede Selbstbeziehung des Subjekts »in einem vorgängigen Gefüge aufkommt« oder daß ihre Komponenten »alle zugleich auftreten«. Die wissende Selbstbeziehung möge zwar auch »Vorgestalten haben«, müsse aber »als solche gänzlich spontan aufkommen«; werde sie »von außen angeregt«, dann handele es sich lediglich um ihre »soziale Genese«, ihr eigentlicher Grund sei jedoch »ganz und gar endogen«.27 Mit einem Wort: die Unmittelbarkeit der Subjektivität in ihrem Selbstbezug und Selbstverständnis, wie immer auch durch »Vorgestalten« mediatisiert, bleibt das Schibboleth dieser Philosophie des »bewußten Lebens« – in der die Bilder der Erinnerung gar keinen Platz mehr finden können, weil sie diese Unmittelbarkeit zerstören müßten. Und voreilig erscheint auch die Annahme, mit dem »Für-michsein« meines »vermeinenden und vermeinten« Selbstbezuges als Subjekt sei jegliche »Reflexivität« schon unterlaufen. Die Reflexivpronomina »mich« und »sich« sind keineswegs »Fallen, die uns die Sprache stellt«28; sie sind die Indizes der gar nicht zu tilgenden reflexiven Struktur von Subjektivität – ablesbar an dem Satz »ich erinnere mich« und gültig noch im »von-sich-Wissen« des subjektiven Lebens. Auch insofern bleibt der umgangssprachliche Satz »ich erinnere mich« für die Analyse von Bewußtsein und Subjektivität »kognitiv relevant«. Trotz unserer kritischen Vorbehalte gegenüber Dieter Henrichs Überlegungen zum »bewußten Leben« können wir diesem Autor dennoch nur beipflichten, wenn er schreibt: »von sich als von sich selbst zu wissen, ist nur in einem voll artikulierten, wenngleich nicht theorieentsprungenen Denken möglich«.29 Geben doch die Systeme der klassischen deutschen Philosophie, die Henrich immer im Blick behält und die sich konsequent verfolgter »Theorie« verdanken, deutlich genug zu erkennen, daß ihr transzendentales oder spekulatives Profil eine »volle Artikulation« des von flüchtigen Erinnerungsbildern durchzogenen menschlichen Wissens »von sich selbst« geradezu verhindern mußte. Zu seiner vollen Artikulation kommt solches Begreifen »seiner selbst« mithin erst dann, wenn das bewußte Erinnern mit seinen anschaulichen Bildern von Erlebtem und Vergangenem auch aus einer »Theorie der Subjektivität« nicht erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 339

ausgeklammert wird. So wenig folglich eine Philosophie des bewußten Lebens aus reiner Theorie entsprungen sein kann, so dringend bedarf sie einer den Bewußtseinsphänomenen folgenden und sie erläuternden Theorie, die sich der Exilierung der imagines memoriae in bloße Psychologie in den Weg zu stellen vermag. In Henrichs Subjektivitätstheorie wird nun zwar das problematische Thema »Erinnerung« nicht völlig übersehen, ist da doch – obgleich nur »nebenher« – die Rede davon, daß wir Erinnerungen »haben« und daß diese »bewußt gegeben« seien30; für das »Sich-erinnern« jedoch gibt es in dieser Theorie keinen Ort (würde es doch in das Bewußtsein als »relationsloses Ereignis« eine Figur von »Reflexivität« eintragen), und in der Vormeinung, subjektives Leben sei niemals zu »anschaulicher« Gegebenheit zu bringen, schreckt Henrichs Beschreibung dieses Lebens vor dessen Bilderwelt zurück. Eine »voll artikulierte« Theorie der Subjektivität, die dem bewußten Leben wirklich auf de Spur kommen will, kann sich deshalb nicht auf die Analyse einer bilderlosen, lediglich »wissenden« Selbstbeziehung zurückziehen; und mit der Behauptung, das Erinnern mit seinen fließenden Bildern sei in diese Art des Selbstbezuges »wesentlich einbezogen«, bringt Henrichs Theorievorschlag die modale Differenz oder Asymmetrie zwischen »wissendem Bewußtsein« und »Bildbewußtsein« zum Verschleif. Zu überzeugen vermag auch nicht die Rede, Erinnerungsbilder seien »bewußt gegeben«. Denn welche Lebenserfahrungen auch immer, wie Augustinus das schilderte, in der »Schatzkammer« der memoria aufbewahrt und »gegeben« sein mögen: die reminiscentia »veranschaulicht« sie sich, und solche Veranschaulichung ist eine aktive, intentionale Leistung des »Ich, das sich erinnert«.31 Das Sich-erinnern eröffnet schließlich den Zugang zu individuell veranschaulichten Gestalten bewußten Lebens – und damit eine nicht zu umgehende Fährte zum individuellen Bildbewußtsein der Personen, die sich erinnern. Diese Unhintergehbarkeit der Verknüpfung von »Individualität« und »individuellem Bildbewußtsein« hat wenig zu tun mit jener »Unhintergehbarkeit von Individualität«, über die Manfred Frank sich Gedanken gemacht hat.32 Dieser Autor übernimmt Henrichs anfängliche These einer nicht-egologischen Vertrautheit mit Bewußtsein, um sie an die Konzepte »Individualität« und »Personalität« anzubinden. Im Gefälle einer Kritik an Heideggers Fundamen340 | sechstes kapitel

talontologie weltlichen Daseins, das doch »sein Selbstbewußtsein erst vom Widerschein der Welt her« gewinne33, möchte Frank »von Subjekten als von allgemeinen, von Personen als von besonderen und von Individuen als von einzelnen Selbstbewußtseinen« sprechen.34 Individualität soll mithin, ohne Rekurs auf ihr Dasein, aus Bewußtsein und Selbstbewußtsein erschlossen werden. Schon damit umgeht Frank das Problem der »Referenz« des für Subjekte, Personen und Individuen postulierten Selbstbewußtseins auf deren »Sein«, und wiederum ist es das Erinnerungsbewußtsein, an dem das Defizit dieser »Subjektiviätstheorie« ablesbar wird. Frank notiert nämlich: »um mich zu erinnern, daß ich es war, der soeben ganz in Gedanken verloren über der leeren Seite Papier grübelte, ganz ins Niederschreiben vertieft, mußte ich damals schon ein Bewußtsein davon haben. Dieses Bewußtsein mußte ferner mit sich vertraut sein, sonst könnte ich nicht im nachhinein darauf zurückkommen als auf ein solches, das immer noch meines heißen darf«; darum »muß es zwischen verschiedenen Instantiationen von Bewußtsein ein Identitäts-Band geben«, ein »Vertrautheits-Kontinuum«.35 Mit dieser Vertrautheitsbehauptung unterläuft Frank nicht nur die »Asymmetrie« zwischen dem gegenwärtigen Erinnern und der erinnerten Vergangenheit, dem »damals«, sondern auch die modalontologische Differenz zwischen Gegenwärtigsein und Vergangensein. Zudem dürfen re-flexive Relationen, wie sie durch ein »Bewußtsein von etwas« oder ein »Erinnern an etwas«angezeigt sind, nach seiner Überzeugung in das Vertrautheits-Kontinuum schon deshalb nicht eingetragen werden, weil dann »die Bekanntschaft des Bewußtseins mit sich selbst gar nicht erfaßt werden« könne.36 Aber Erinnerung ist immer von re-flexiver Struktur, sei es als Sich-erinnern, sei es als »Erinnern von etwas«, und ohne sich an Heideggers Fundamentalontologie des »Daseins« anzuschließen, wird man daran festhalten müssen, daß Erinnerung – Aristoteles hat es gültig formliert – stets auf ein Gewesensein zielt, dem das gegenwärtige Dasein des SichErinnernden ineins mit seinem Erinnerungsbewußtsein »asymmetrisch« korreliert ist. Ein Erinnern von Welt ist auch keineswegs, wie Frank vermeint, »nur auf das Bewußtsein von Welt anwendbar«37; wer glaubt so sprechen zu dürfen, kann das einzig als Verfechter einer Subjektivitätstheorie tun, die aus der »Symmetrie« von »Bewußtseinsinitiationen« nicht mehr auszubrechen vermag. Daß dann erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 341

von Erinnerungsbildern »von« Vergangenem und deren intentionaler Veranschaulichung die Rede ebenfalls nicht mehr sein kann, ist nur folgerichtig – doch daraus folgt zugleich, daß in einer derartigen Theorie der Subjektivität die Frage nach dem Bildbewußtsein der sich erinnernden individuellen Person schlicht hintergangen ist, der »Unhintergehbarkeit von Individualität« zum Trotz.38 Zur Bekräftigung seiner sozialphilosophisch gesteuerten Kritik an jeglicher »Subjektphilosophie« kamen Jürgen Habermas die hier am Beispiel von Henrich und Frank vorgeführten Einwände gegen den Reflexionszirkel zwischen dem wissenden und dem gewußten Ich des Selbstbewußtseins höchst gelegen.39 Mit dem von ihm vollzogenen Paradigmenwechsel von der Bewußtseinstheorie zur Sprachphilosophie, genauer: zu einer Philosophie des »in Sprachund Handlungsfähigkeit sich äußernden Subjekts« kann Habermas zwar jene Paradoxien unterlaufen, die in der Transzendentalisierung des »wissenden Selbstbewußtseins« durch das klassisch-philosophische Denken ihren Ursprung haben; nicht zu überzeugen vermag hingegen seine These, daß dieser »Übergang« von der Bewußtseinszur Sprachphilosophie die Möglichkeit biete, »ein in den Grundbegriffen der Metaphysik unlösbares Problem in Angriff zu nehmen: das der Individualität«. Das »Problem« der Individualität ist nämlich gerade dann gar nicht erst »in Angriff genommen«, wenn man es – wie Habermas im Anschluß an George H. Mead das tut – von Anfang an in einen »Prozeß der gesellschaftlichen Individualisierung« einblendet und an die »reziproke Anerkennung durch alle« bindet, an eine »Projektion der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft«, die »ihre Stütze in der Struktur der Sprache selber findet«.40 Diese Verkürzung von Individualität auf ein praktisches Selbstverhältnis, das aus gesellschaftlicher »Individualisierung« generiert sein soll, geht dem »Problem der Individualität« geradezu aus dem Wege, um sich als »nach-metaphysisch« etikettieren zu können. Dem metaphysischen Denken ist jedoch und war seit jeher klar, daß Individualität ein begriffssprachlich schwer aufschließbares (nicht aber, wie Habermas behauptet, durchweg »unlösbares«) Problem darstellt; der Satz »individuum est ineffabile«, wer immer ihn zuerst formuliert haben mag, ist ein nahezu stereotyper Topos der Metaphysiker, man denke nur an die Frage, die Platon dem Sokrates in den Mund legt: »auf welche Weise könnte man wohl herausfinden, 342 | sechstes kapitel

was das Selbst an sich selbst ist?«, um dann hinzuzufügen: »dann nämlich fänden wir auch bald, was wir selber, als Menschen, sind; bleiben wir aber unwissend über das Selbst, so ist das unmöglich«.41 Das Problem der Individualität konturiert sich in der Frage nach einem Selbstverhältnis, das nicht nur aller praktischen Individualisierung durch Sprache und kommunikative Anerkennung vorausliegt, sondern überdies dem wiederum vorsprachlichen Faktum »ich bin« aufruht, auf einem Faktum, das Platon noch einmal mehr mit der Frage nach dem, »was wir selber, als Menschen, sind« umschreibt. Dieses ontische Faktum »ich bin« trägt das Selbstverhältnis eines jeden Individuums und bleibt ihm ontologisch impliziert42; und ein ontologischer Sachverhalt, wie schwierig auch immer sprachlich zu entschlüsseln, liegt niemals außerhalb der Perspektive von »Metaphysik«. In seinem Essay Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas verweist Dieter Henrich wohlüberlegt auf entscheidende philosophische Defizite, die an der auf »Sprache« und »Handlung« ausgerichteten Sozialtheorie in der Tat unübersehbar sind. Erstens erinnert er daran, daß die Sprachfähigkeit von Individuen sich überhaupt nur »ineins« mit deren individuellem Selbstverhältnis entwickeln kann; zweitens hält er fest, daß Habermas im Duktus seines Paradigmenwechsels solchem »Intimverstehen« von Individualität keine Aufmerksamkeit mehr schenkt, und drittens moniert er, daß die Theorie kommunikativen Handelns die Frage nach dem »ontologischen Status« der Individuen einerseits und der sprachlichen sowie gesellschaftlichen »Entitäten« andererseits schlicht aus dem Wege geht: sind die Formen sozialer Assoziation den Individuen »vorgängig«, oder sind es »die Individuen selbst«, die eine »reale Basis« der sprachlichen Lebenswelt bilden? Und Henrich folgert: wenn schon »im Problembereich dessen, was ›Ontologie‹ heißen mag«, solcher Nachfrage »ausgewichen« wird, dann falle es schwer, die Position zu identifizieren, die Habermas zu »einfachen philosophischen Grundfragen« vertritt.43 Das Erinnerungsbewußtsein ist an den ontologischen Status des Individuums, das da sagen kann »ich erinnere mich«, nicht nur anschlußfähig, sondern des Anschlusses an die Faktizität des »ich bin«, an sein individuelles Dasein, sogar bedürftig. »Reziproke Anerkennung« und »gesellschaftliche Individualisierung« können dieerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 343

sem ontologischen Sachverhalt nur folgen und sollten ihn in öffentlicher Sprache explizieren – die Philosophie verschafft der Theorie kommunikativen Handelns und Sprechens allererst deren ontologische Fundierung. »Dasein zu enthüllen und zu offenbaren«, so hat Jacobi das beschrieben, ist »das größte Verdienst« des philosophischen Forschers, und von einem Offenbaren und Enthüllen sprach er deshalb, weil wir »keinen Begriff von unserem eigenen Dasein haben«; denn »Dasein« ist ein »Einfaches«, das sich »nicht erklären läßt«, aber alle unsere Vorstellungen »in ihrem individuellen Zusammenhange sichert«, bis hin zum »zeitlichen, aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetzten Begriff des persönlichen Bewußtseins«44 »Unhintergehbar« ist Individualität mithin nicht erst in der epistemischen Figur eines »einzelnen Selbstbewußtseins«; unhintergehbar ist schon das individuelle »Dasein« als ontische und ontologisch zu reflektierende Voraussetzung individueller Bewußtheit in jedem ihrer Grade, auf jeder ihrer Stufen: als das »einfache« (und aufgrund seiner Einfachheit »ineffable«) Faktum »ich bin«, das im Sicherinnern eines personalen Individuums stets »impliziert« ist. So wird man denn auch festhalten dürfen: der Satz »ich erinnere mich« läßt wegen seiner reflexiven Struktur niemanden in eine »Falle« stürzen, »die uns die Sprache stellt«; er formuliert vielmehr ein elementares »subjektives« Selbstverhältnis, von dem, erstens, eine Theorie der Subjektivität ihren Ausgang nehmen muß, und an das, zweitens, auch eine Philosophie des Selbstbewußtseins anknüpfen kann, ohne sich in Zirkeln zu verfangen und ohne den Versuch machen zu müssen, diese Zirkel mittels der Hypothese eines »Vertrautseins des Bewußtseins mit sich« zu durchbrechen. »Unhintergehbar« bleibt nämlich ebenfalls die Asymmetrie des »ich bin« sowohl zum »sich erinnernden« als auch zum »sich wissenden« und schließlich zum »selbstbewußten Ich« – kurz: die Asymmetrie von »Dasein« und »Bewußtsein« in allen seinen Modi. Diese Asymmetrie, der wir am Beispiel der »Differenzstruktur« des Erinnerungsbewußtseins nachgegangen sind, ist Grundzug alles »bewußten Lebens«. Ein »ontologischer Einwand« gegen die Philosophie der Subjektivität oder gar der Verdacht eines »Vorranges der Ontologie« vor Theorien des Selbstbewußtseins läßt sich aus ihr prinzipiell keineswegs herleiten. Das Festhalten am ontologischen Status dasei344 | sechstes kapitel

ender Individualität stellt sich nämlich erst dann als solcher Einwand dar, wenn wissendes und gewußtes Selbstbewußtsein zum Prinzip der Analyse von Subjektivität erklärt und dann gefolgert wird, einzig und allein von diesem Prinzip her lasse sich »Sein« und »Dasein« bestimmen. Das aber war nun gerade die Ausgangsthese der »klassischen« Transzendentalphilosophie, gegen die sich das Konzept einer unmittelbaren Bewußtseins-Vertrautheit allererst, »ex negativo«, in Stellung bringen ließ. Für den Entwurf einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ist darum von besonderem Interesse eine Studie von Klaus Düsing, die ebenfalls das Moment der »Asymmetrie« als Strukturzug alles Bewußtseins und Selbstbewußtseins herausarbeitet.45 Auf dieser Linie treffen sich die Überlegungen des Autors mit denen, die ich zur Differenzstruktur des Sicherinnerns skizziert habe. Darüber hinaus betritt Düsing aber nun ein viel weiter abgestecktes Terrain »idealtypischer« Bewußtseins- und Selbstbewußtseinskonzepte, die er in Anlehnung an die idealistische Idee einer transzendental geführten »Geschichte des Selbstbewußtseins« in eine Hierarchie einstuft: vom »phänomenologischen Horizontmodell« bis zum »Selbstbewußtseinsmodell voluntativer Selbstbestimmung« und schließlich einem »integrativen Konstitutions- und Entwicklungsmodell von Selbstbewußtsein«. Diese Modelle konfrontiert er mit den psychologischen, gesellschaftstheoretischen, ontologischen sowie analytischen Einwänden und auch mit dem »Zirkeleinwand«, wie sie die (von ihm als »Partisanen der Subjektivitätstheorie« bezeichneten) Kritiker erhoben haben. Seine idealtypischen Denkmodelle möchte Düsing jedoch nicht ableiten aus jenen »determinierenden Prinzipien«, die da, wie bei Fichte, »vernünftiger Wille« oder, wie bei Hegel, »absolutes Wissen« heißen; so betont er denn auch: »kein Absolutes als letzter Grund der Genesis des Selbstbewußtseins«46, und wohl deshalb versteht er sein Buch als eine Untersuchung »konkreter Subjektivität«. Düsing geht es um die Genesis von Bewußtsein und Selbstbewußtsein aus Erfahrung, Empfinden, Wahrnehmen, Urteilen, und eben dies lenkt seinen Blick auf die Asymmetrien jeglicher Bewußtheit. Das »symmetrische« Zirkelmodell einer statischen SubjektObjekt-Beziehung vom wissenden zum gewußten Ich, die niemals »inhaltsgleich« sind, kennzeichnet er als »formales Schema«, gültig nur für einen »idealen Grenzbereich« und »ursprüngliche Selbstbeerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 345

ziehungen« ausschließend, das Modell unmittelbarer Vertrautheit mit Bewußtsein kritisiert er als »verkürzende Abblendung« von Reflexivität; denn für »konkrete« Subjektivität und »konkretes« Selbstbewußtsein ist nach seiner Auffassung – der man zustimmen muß – »nicht nur eine besondere Weise, sondern eine ganze Skala grundlegender Selbstbeziehungstypen konstitutiv«.47 In diese Skala dürfte der Selbstbeziehungstyp des Sich-erinnerns als ebenfalls »grundlegender« ohne Frage einzufügen sein. Auf der Innenseite seiner Selbstbeziehungsmodelle ordnet Düsing sodann den »zunehmenden Differenzierungen« im Selbstverhältnis mehrere sich gleichermaßen aufstufende »Synthesen« zu. Deren Quelle ist eine »passive Synthesis«48, die »Wahrnehmungsbilder« und »Erlebnisabläufe«, aller bewußten »Leistung« voraus, konstituiert und zentriert. Die »aktiven Synthesen«, die an sie in der Form einer »Leistung« anknüpfen, initiieren die Identifikation des Selbst, sei es daß sie Erlebtes komponieren, sei es daß sie Erlebnisse selegieren, sei es daß sie sich mit einer Reflexion verbinden und damit eine »epistemisch-intentionale Synthesis« begründen. »So identifiziert das Selbst sich mit sich nicht nur in einzelnen Bestimmungen«, sondern im stetig komplexer werdenden Aufbau seiner Selbstbeziehung. Düsing veranschaulicht das an den Confessiones Augustins, die »Brüche und Umstürze« schildern, »in denen gleichwohl das Selbst identisch Bleibendes ist, weil sich hier also einschneidende Asymmetrie und Identität des Selbst verbinden«. Aus dem Text des Kirchenvaters erhebt er den Befund: »so bringt der autobiographisch Sich-Erinnernde eine Synthesis verschiedener früherer Erlebnisse, Episoden oder sogar Phasen und darin realisierter unterschiedlicher Selbstbeziehungsweisen zustande und konstituiert auf diese Art noematisch die synthetische Einheit des erinnerten Selbst; er bringt darüber hinaus die höherstufige Synthesis des erinnerten mit dem sich erinnernden gegenwärtigen Selbst zustande, das mit der Erinnerung zugleich Selbstdeutungen vornimmt«.49 Indem er ausdrücklich betont, »Basis« aller Synthesen des für-sich-seienden Subjekts sei die Erinnerung und diese sogar »der eigentliche Modus der epistemisch-intentionalen Selbstbeziehung«50, bahnt Düsing sich den Weg zu einer voll artikulierten Theorie der Subjektivität; auf ihm vermag er die Einseitigkeiten einer Fixierung auf die »wissende und gewußte« Selbstbeziehung ei346 | sechstes kapitel

nerseits und eine »anonyme Vertrautheit« des Bewußtseins mit sich andererseits zu überholen (und der »Erinnerungsvergessenheit«, die das moderne Philosophieren seit langem begleitet, Einhalt zu gebieten). Für Düsings Entwurf einer Philosophie »konkreter« Subjektivität spricht nicht zuletzt das Festhalten daran, daß waches Bewußtseins stets »Bewußtsein von etwas« ist, das in »Bildern« vergegenwärtigt wird, die wiederum in Zusammenängen mit anderen Bildern stehen, weil alle diese Bilder ihre Quelle in einer »passiven Synthesis« haben, die an das »leibliche Bewußtsein« des Individuums, also an ein Sinnen-Bewußtsein gebunden bleibt51 – und mit den »Bildern« findet in Düsings Theorieentwurf auch die »Anschaulichkeit« wieder einen Platz, denn: »menschliches Bewußtsein kommt primär sinnlich-anschaulich oder emotional zustande«.52 Klaus Düsing möchte jetzt nicht abstreiten, daß die von ihm beschriebene Aufstufung von Selbstbeziehungsweisen »in manchem der idealistischen Geschichte des Selbstbewußtseins vergleichbar« sei53, wie sie von Fichte und Schelling als »transzendentale« Geschichte konzipiert wurde, um bei Hegel dann eine »phänomenologische« Gestalt zu erhalten. Dieser Rede von einer »Vergleichbarkeit in manchem« wollen wir nachgehen, um einige neuralgische Punkte freizulegen, an denen sich unsere Bedenken gegenüber dieser Philosophie »konkreter Subjektivität« festmachen lassen. Die genannten Idealisten suchten die »empirischen« Voraussetzungen von Bewußtheit – vor allem das »psychologische« Gedächtnis und das Sicherinnern mit seinen sinnlich imprägnierten Bildern – entweder weitgehend auszublenden oder, wie Hegel, in das Insich-gehen des Geistes »aufzuheben«; hierin blieben sie, jeder auf seine Weise, Kant verpflichtet, der die memoria in die pragmatische Anthropologie exiliert hatte. Düsing folgt solcher Denkweise nicht, geht es ihm doch gerade um die Entfaltung »erlebter« Selbstbeziehungen zu einem »erfüllten Persönlichkeitsbild« nicht zuletzt vermittels der Erinnerung. Er versteht »Selbstbewußtsein« auch nicht als absolutes oder gar systembildendes Prinzip, und insoweit dürfte sein idealtypischer Aufriß von Bewußtseinsmodellen sogar als kritischer Gegenentwurf zu den Theoremen der klassischen deutschen Philosophie zu interpretieren sein. Desungeachtet bewegt Düsing sich jedoch, anders als Dieter Henrich, immer noch in einem idealistischen Denkgefälle, wenn er Selbstbeziehungsstufen im »Persönerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 347

lichkeitsbild«, das er ganz »konkret« zu malen beabsichtigt, jetzt in »reine Bestimmungen« einmünden läßt: die epistemisch-intentionale Selbstbeziehung in ein »reines Denken«54 und die voluntative Selbstbestimmung in einen »reinen Willen«55. Kants und Fichtes Transzendentalphilosophien stehen da augenscheinlich immer noch in den Kulissen dieser Philosophie »konkreter« Subjektivität, deren Synthesen Düsing am Ende, in einer kleinen Anmerkung und verräterisch genug, »letztlich im Prinzip des reinen ›ich denke‹ sowie des ›reinen Willens‹ gründen« läßt.56 Die Idealtypik konkreter Subjektivität bleibt mithin an einem transzendentalen Seidenfaden hängen, und daran, so hat man schon einmal vermutet, seien wohl »Weltanschauungen beteiligt«.57 Jedenfalls ist es diese Fluchtlinie, auf der Düsing seine Idealtypik erlebter und erlebbarer Selbstbeziehungsweisen mit Theoriestücken »reiner« Transzendentalphilosophie verknüpft, derentwegen seine Philosophie »konkreter« Subjektivität vor erheblichen Bedenken nicht gefeit sein kann. Aber warum eigentlich hält Düsing diese Fluchtlinie für wegweisend, die nun tatsächlich zurückverweist auf die idealistische »Geschichte des Selbstbewußtseins«? Weil die genetische Entfaltung von Selbstbewußtseinsmodi, behauptet er, »nicht grundlegend ontologisch« sein könne, und weil Selbstbeziehungstypen »als inhaltserfüllte Strukturbestimmungen« des sich verstehenden Selbst »für sich« entwickelt werden müßten. Erst danach dürften und könnten »die Seinsweisen« erfragt werden, die ein verstehendes Selbst sich »zuschreibt« und die ihm dann – »der ontologischen Theorie des Selbst gemäß« – auch »zukommen«. Und auf die Kantische These sich stützend, daß »Sein« überhaupt »kein reales Prädikat« sei (KrV, B 626), schließt er diese Überlegungen mit dem Satz ab: »Modalurteile über Seinsweisen setzen dasjenige, von dem sie ausgesagt werden, schon als inhaltlich bestimmt voraus«.58 An diesem Punkt verdichten sich meine Bedenken hinsichtlich der »Vergleichbarkeit« des Düsingschen Modellentwurfs mit der transzendentalen Geschichte des Selbstbewußtseins zu einer ihrerseits nun »grundlegend ontologischen« Kritik. Ich frage mich nämlich zuvörderst, woraus letztlich »die Strukturbestimmungen des sich verstehenden Selbst« ihre »Inhaltserfüllung« beziehen; denn Strukturen, wie »bestimmt« auch immer, sind als gleichsam »logi348 | sechstes kapitel

sche« Koordinaten zu begreifen und vorab von den Inhalten zu unterscheiden, die durch sie koordiniert und strukturiert werden. Ich frage mich sodann, ob ein Selbst sich schon in seiner Wirklichkeit erfaßt, wenn es sich lediglich als Selbst »für sich versteht«, insofern ein solches »Verstehen« seines Selbstverhältnisses ja immer noch ein rein epistemisches bleibt. Zum voll »inhaltlichen« Sichverstehen eines Selbst gehört doch wohl auch ein wie immer rudimentäres Verstehen seines faktisch-wirklichen Daseins, seines »ich bin«, und die »Seinsweise« dieses Daseins kann ein »sich verstehendes« Selbst auch nicht nachträglich sich »zuschreiben«, weil sie ihm von Anfang an »zukommt«. Urteile über seine Seinsweise wird das Selbst natürlich fällen müssen und auch können; aber nicht, weil es – indem es sich lediglich als ein »Fürsich« versteht – sich auch schon als zur Gänze »inhaltlich bestimmt« voraussetzen dürfte. Denn im Fürsich-sein und im Sich-verstehen ist noch etwas anderes stets vorausgesetzt: die Faktizität des »ich bin« in der Daseinsweise des »konkreten« Selbst. Aus der Selbstbezüglichkeit eines individuellen »konkreten« Subjekts darf sie nicht ausgeklammert werden, und sie erst läßt auch »die Strukturbestimmungen des sich verstehenden Selbst« zu wirklich »inhaltserfüllten« geraten. Darum stelle ich der Subjektivitätstheorie Düsings, die »nicht grundlegend ontologisch« verfährt, ein personales Subjektivitätskonzept auf durchaus »Grund legender ontologischer« Basis nicht entgegen – Düsings »Wiederentdeckung« des Sicherinnerns verbietet das – , wohl aber gegenüber. Das »ich bin«, so hatte Husserl einmal notiert, ist »die Urtatsache, der ich standhalten muß« – der er selber jedoch nicht standzuhalten vermochte, weil er ihren »ontologischen Status« mit seiner transzendentalen Phänomenologie »außer Geltung« setzte.59 Düsing weist eine »ontologische Theorie des Selbst« zwar nicht ab, will sie aber als Grundlagenreflexion nicht anerkennen, und genau dagegen richtet sich jetzt mein »ontologischer Einwand«, der weder mit Heideggers Fundamentalontologie noch mit Nicolai Hartmanns Schichtenontologie etwas zu tun hat. Was aber folgt aus diesem ontologischen Einwand für das Thema »Erinnerung«? Worin liegt seine Bedeutung für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins? Was hat die Aussage »ich erinnere mich« mit einer Grundlagenreflexion über individuelles Dasein zu tun? Und was mit der »Theorie der Subjektivität«? erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 349

Fichte hat sich einmal die Frage gestellt: »bin ich denn darum, weil ich denke, oder denke ich mich darum, weil ich bin?« In ähnlicher Weise könnte einer fragen: bin ich denn darum, weil ich mich erinnere, oder erinnere ich mich darum, weil ich bin? Der von ihm aufgeworfenen Frage glaubte Fichte sich »nicht wohl enthalten« zu können; die Antwort, die er auf sie erteilt, trägt indes sehr wohl die Züge einer – transzendentalen – Enthaltsamkeit. Sie lautet nämlich: »ein solches weil und ein solches warum findet hier gar nicht statt, du bist keins von beiden, weil du das andere bist; du bist überhaupt nicht zweierlei, sondern absolut einerlei; und dieses undenkbare Eine bist du, schlechthin weil du es bist«.60 Dieser Philosoph fährt dann fort, der »Begriff« des undenkbaren Einen, das du »bist« ebenso wie ich es »bin«, sei »als die Aufgabe eines Denkens zu beschreiben«, das ihn selber zum »Ich als Subjekt-Objekt« führt und damit geradewegs in den von Dieter Henrich kritisierten »Zirkel« – wir brauchen uns damit nicht nochmals zu befassen. Was wir indes festhalten, ist Fichtes bemerkenswerte Enthaltsamkeit hinsichtlich der Frage nach dem ontologischen Status des »du bist« und des »ich bin« – eine nicht nur aus transzendentaler Optik offene Frage, kehrt sie doch wieder, wenn wir jetzt überlegen müssen, ob ich denn darum bin, weil ich mich erinnern kann oder ob ich mich darum erinnern kann, weil ich bin. Was ist denn zu bedenken, wenn wir sagen »ich bin«? Was steckt hinter dieser anscheinend so problemlosen Rede?61 Mit dem »ich bin« steht ein Grundverhalt zur Erörterung, den das Philosophieren schon verschüttet hat, wenn es glaubt, im Stil von epistemischer Theorie an ihn herangehen zu können; an die Stelle von »Theorie« hat hier eine ontologische Reflexion besonderer Art zu treten. Das ego sum als res extensa in einen Gegensatz zum ego cogito als res non extensa zu rücken wie Descartes es tat, ist bereits ein theoretischer Zugriff, der einen unvoreingenommenen Zugang zum Erinnerungsbewußtsein des Ich von Beginn an verhindert und dem modernen Denken auch genugsam verbaut hat. Mithin bleibt es auch unzureichend, »Theorien der Subjektivität« zu konzipieren, in denen übersehen wird, daß ein »sich erinnerndes« Ich ein geschichtliches ist, weil ihm ein In-Sein in Geschichte als »modales« Sein, als modus essendi zukommt, der sein Sicherinnern trägt und ihm daher auch nicht nachträglich erst zugesprochen 350 | sechstes kapitel

werden kann. Das »ich bin«, solchermaßen im »ich erinnere mich« re-flektiert, verweist nicht auf ein zeitenthobenes ego sum, sondern auf individuelles Dasein im Modus eines Gegenwärtig-Seins, der – in der »Asymmetrie« des Erinnerungsbewußtseins – einen Modus zeitlich vergangenen Gewesen-Seins »spiegelt«. Und wer da sagt »ich bin«, sagt ja nicht »ich war«, auch nicht »ich werde sein«, obwohl er sich in Sinnentwürfen seines Lebens auf das eine ebenso wie auf das andere hin «verstehen« mag; möglich werden solche Sinnentwürfe allererst unter der Voraussetzung des zeitlich-geschichtlichen Seinsmodus »ich bin«, der im Sicherinnern stets impliziert ist. Es ist klar, daß die antike Ontologie des dinglich »Seienden« den geschichtlichen Seinsmodus des »ich bin« nicht zu explizieren vermag. Hierzu bedarf es einer Ontologie des Zeitlich-Seins selber, einer Ontologie, die einem Seienden seine Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit nicht wie etwas Akzidentelles oder »Beiherlaufendes« zumißt, sondern Seiendes in seiner Zeitlichkeit bestimmt. Dinglich Seiendes ist nicht »zeitlich« verfaßt, es »wird« und »vergeht«. Der Mensch hingegen ist zeitlich und ist geschichtlich in der erlebten Spanne zwischen Geburt und Tod, sein Zeitlich-Sein wird ihm bewußt als eine Geschichte, der er »ontologisch in-ständig« ist. Dieses Inständig-Sein in Geschichte ist kein modus entis, sondern ein modus essendi und die modal-ontologische Basis alles bewußten Erinnerns. Darum ist es widersinnig zu sagen, der Mensch »habe« seine Geschichte, wie es gleichermaßen unüberlegt ist zu behaupten, er »habe« Erinnerungen; so kann nur spechen, wer das Erinnern längst losgelöst hat vom modalen Zeitlich- und Geschichtlichsein des »ich bin« – von »meinem« modus essendi, der »grundlegend« ist für das »ich erinnere mich«. Diesen Überlegungen zur Modalontologie des »ich bin« ist ein Schlußgedanke anzufügen, der die Tatsache umkreist, »daß ich bin«. Das Faktum, »daß« ich bin, vermag auch die modale Ontologie des »wie« ich bin nicht zu erklären; seine Faktizität bleibt aber das letztlich und wirklich »Unhintergehbare« aller Individualität und »konkreten« Subjektivität. Vor ihr ist alle »Theorie« zum Einhalten genötigt; dennoch darf sie die Tatsache »daß ich bin« niemals aus dem Blick verlieren – auch dies eine »Asymmetrie«, die aus dem Nachdenken über Individualität und erlebte Subjektivität nicht erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 351

auszumerzen ist. Das Faktum, daß ich bin, verschwindet gleichsam in dem Seinsmodus, wie ich bin: als theoretisch niemals aufschließbarer »Rest« im Ganzen meines individuellen Daseins. Doch »daß ich bin« ist nun einmal die – aus transzendentaler Optik vielleicht banale – Voraussetzung dafür, daß ich mich erinnern kann; auch sie aber ist in dem »grundlegenden« Einwand einbeschlossen, den die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins gegenüber »epistemisch« sich artikulierenden Theorien der Subjektivität zur Geltung bringen muß.

II. Erinnerungsbewußtsein und Bildbewußtsein »Die adaequatio imaginis ad rem, die der adaequatio intellectus ad rem vorausgeht, ist die erste Form theoretischer Wahrheit«. (Hans Jonas)

Können wir dieser Behauptung – daß die »Angleichung eines Bildes« an einen Sachverhalt die erste Form theoretischer Wahrheit sei und der »Angleichung« unseres vernünftigen Denkens an diesen Sachverhalt vorausgehe62 – zustimmen? Unter dieser Fragehinsicht wollen wir einige gewiß vorläufige Überlegungen zum Thema »Bildbewußtsein« anstellen. Wohl kein moderner Philosoph hat so grüblerisch über »Bildbewußtsein« nachgedacht wie Edmund Husserl, der indes diese Bewußtseinsstellung zugleich um eines ihrer wesentlichen Strukturmerkmale verkürzte, mit der These nämlich: »Erinnerung ist nicht Bildbewußtsein«.63 Die Frage nach einem Bildbewußtsein (und das heißt für uns: nach dem Bildbewußtsein einer Person) muß mithin aus dem Kontext einer »reinen Phänomenologie« herausgeschält werden, die ja jede erinnernde Verbildlichung oder Veranschaulichung der mundanen Welt »außer Geltung« hatte setzen wollen.64 Erinnerungsbewußtsein, Veranschaulichung und Bildbewußtsein sind dabei als eine Dreiheit zu denken, aus der keines der sie konstituierenden Momente eliminiert werden darf. Wenn nun die Rede vom Bildbewußtsein und von einer Veranschaulichung des Erinnerten nicht im Ungefähren steckenbleiben soll, wäre dann nicht vorab zu klären, 352 | sechstes kapitel

was überhaupt ein »Bild« ist? Hätte man sich dann nicht zuallererst über einen »Bildbegriff« zu verständigen? Doch der ist in intentione recta, in einem direkten Zugriff, nicht zu gewinnen, das haben alle eingestanden: Platon, Augustinus, und auf seine Weise auch Gilles Deleuze. Denn wir sehen unendlich viele, verschiedene und trügerische Bilder, aus denen eine unanfechtbare Definition von »Bild« sich nicht herauszaubern läßt; einem dennoch »erdachten« Bildbegriff sind »gesehene« Bilder niemals kongruent. Insoweit hatte Kant, dem es stets um das Urteil als Voraussetzung alles Definierens ging, durchaus recht, als er erklärte: »wenn man den Begriff nicht von Bildern absondern kann, wird man niemals rein und fehlerfrei denken können«.65 Aber dieser Satz ist ein transzendentalphilosophischer Satz, der das Denken, wie Kants Schematismuslehre es ja vorführt, immer nur vor »mögliche« Bilder stellt und es in »wirkliche« Bilder nicht eindringen läßt. Um die jedoch geht es nun gerade beim Sicherinnern, und von daher wird verständlich, warum das »Wirklichsein« der nicht nur mit unseren leiblichen Augen, sondern auch der mit einem »inneren Auge« gesehenen Bilder immer wieder die Frage evoziert »was ist eigentlich ein Bild«? – die Frage also nach einem »grundlegenden Bildbegriff«, mit deren Beantwortung nun auch die im Gefolge des iconic turn entstandene »Bildwissenschaft« sich zu profilieren sucht, sei es »anthropologisch«66 sei es »semiotisch«, das heißt vermittels einer Definition des Bildes als »Zeichen«.67 Bei einem Bildwissenschaftler und Philosophen lesen wir jetzt: »die Definition des Bildbegriffes ist eine bildwissenschaftliche Aufgabe, die nur philosophisch gelöst werden kann«, und: wenn die Rede von »geistigen« Bildern »berechtigt« ist, »dann muß das mentale Bild selbstverständlich zum Themenbereich der Bildwissenschaft gehören, sofern diese wirklich bereit ist, alle Formen der Bildlichkeit zu erforschen«, und zwar unter der phänomenologischen Prämisse »artifizieller Präsenz«.68 Der Autor entwirft da ein anspruchsvolles Programm; denn es versteht sich durchaus nicht von selbst, daß der wissenschaftliche Umgang mit Bildern auch einen Weg zum Bild-Bewußtsein zu bahnen vermag, einen sogar für die Husserlsche Phänomenologie dornigen und windungsreichen Weg. »Daß die Bildwissenschaft einer Philosophie bedarf«, ist unbestreitbar; doch wenn Wiesing in Umkehrung dieses Satzes behauptet, »daß die Philosophie des Bildes ein Teil der Bildwissenerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 353

schaft ist«69, dann wird man ihm nicht ohne weiteres zustimmen können. Sein Programm zielt wohl doch zu voreilig »aufs Ganze« – wie Wiesing selber sagt: auf »alle Formen von Bildlichkeit« – und gibt damit in zwei Punkten Anlaß zu kritischen Bedenken. Zum einen bleibt ja zu fragen, ob eine Wissenschaft von gemalten Bildern und Photographien mit ihrem »objektivierenden« Methodenarsenal nicht nur »bereit« ist, sondern wie sie überhaupt imstande sein soll, genuin philosophische, niemals in der Sprache der Wissenschaft objektivierbare Themen wie »Bildbewußtsein« und bildliches »Erinnerungsbewußtsein« mit Aussicht auf Erfolg zu bearbeiten; die schlichte Rede von »geistigen« Bildern – egal, ob berechtigt oder nicht – trägt nur dazu bei, den natürlich auch »subjektivitätstheoretischen« Status dieser Themen zu verdecken. Zum anderen hält Lambert Wiesing es ja, erstens, für durchaus möglich, eine »Definition« von »Bild« zu erstellen; er macht sie sodann, zweitens, zu einer von der Bildwissenschaft am Ende gar nicht zu bewältigenden »Aufgabe«, weil diese Aufgabe, drittens, nur von der Philosophie gelöst werden könne. Doch auch die Philosophie hat das »Bild« immer nur umschrieben, sei es anhand der Differenz von Urbild und Abbild, sei es mittels einer ihrerseits der Klärung bedürftigen Idee von »Ähnlichkeit« – sie hat jedenfalls »das Bild« niemals definiert; und die Bildkonzepte, mit denen sie »begrifflich« arbeitet, können in einen »Begriff des Bildes« schon deshalb nicht einmünden, weil kein »Begriff« die ikonische Qualität des Bildes einholt. Zu dieser nicht zu »definierenden« Qualität des Bildes steht das gleichermaßen nicht »definible« Bildbewußtsein des bildbetrachtenden Subjekts in Korrespondenz – und hier öffnet sich die Schere zwischen Bild-Wissenschaft und Bild-Philosophie. Die Wissenschaft ist dieser Philosophie sehr wohl bedürftig, doch deshalb ist eine Philosophie der Bildlichkeit und Verbildlichung noch längst nicht »ein Teil der Bildwissenschaft«. So wird denn auch ein Bild-Bewußtsein, gerade aufgrund seiner Verschränkung mit dem Vergangenes veranschaulichenden Erinnerungs-Bewußtsein, nicht im Ausgang von der »Definition« eines »alle Formen der Bildlichkeit« re-präsentierenden »Bild-Begriffs« aufzuklären sein70, sondern im Zuge einer Reflexion auf die bewegte Figur des Sich-erinnerns in anschaulichen (und nicht bloß »mentalen«) Bildern; denn in keinem Bildbewußtsein fehlen bewußt erinnerte und erinnernde Bilder. 354 | sechstes kapitel

Vor allem aber läßt die »bewegte Figur« des Bildbewußtseins im Erinnern sich nicht festlegen auf eine Form »artifizieller Präsenz«. Lambert Wiesing notiert selber, daß der Gedanke einer »artifiziellen« Gegenwart sich »wie ein roter Faden durch das phänomenologische Bilddenken hindurchzieht«71; diesen roten Faden hat Husserl gesponnen, indem er die Bilder der Erinnerung zu »Erscheinungen« und »Ablaufsphänomenen« in der »Selbstgegenwart« des Bewußtseins »modifizierte«, um dann von einem »Abgrund des Sinnes zwischen Bewußtsein und Realität« zu sprechen.72 Diese phänomenologische Fiktion eines »Sinnesabgrundes«, der sich da angeblich auftut zwischen der »Realität« der mundanen Welt auf der einen Seite und einem »Bewußtsein immanenter Bildlichkeit«73 auf der anderen – einer »Bildlichkeit«, die, eben weil »immanent«, eine Verbildlichung der wirklich erfahrenen Außenwelt weder sein kann noch darf – findet nun in Husserls Idee einer »artifiziellen« Bewußtseins-Präsenz bloß ihre Wiederholung: »artifiziell« deshalb, weil abgeschirmt vor aller mundanen »Realität«. Aber das Bewußtseinsbild von Dingen in der Welt, nicht ablösbar von den Erinnerungsbildern an diese Dinge, schlägt immerhin eine (wenngleich schwankende) Brücke zur Welt. Diese Brücke wird von Husserls Phänomenologie insoweit zum Einsturz gebracht, als diese Phänomenologie ja ausschließt, daß Erinnerung »Bildbewußtsein« ist. In der Philosophie des an vergegenwärtigende Bilder gehefteten Erinnerungsbewußtseins (oder des an Erinnerung gehefteten Bildbewußtseins) gibt es für die phänomenologische Idee einer »artifiziellen Präsenz« mithin keinen Ort. Man muß deshalb die »Form der Bildlichkeit« im Erinnerungsbewußtsein deutlich unterscheiden von der auf ganz andere Weise erzeugten »Form der Bildlichkeit« im ästhetischen Bewußtsein (dessen Aufklärung nun tatsächlich eine Aufgabe der Bildwissenschaft ist). Anders als das in Bildern arbeitende Erinnerungsbewußtsein stützt sich das ästhetische Bildbewußtsein auf die Phantasie (nicht unbedingt im Sinne der phantasia des Aristoteles, denn Husserl versteht unter Phantasie wiederum nur ein »reines Vergegenwärtigungsbewußtsein«74), und zum Verständnis der Genesis ästhetischer Verbildlichung dürfte die phänomenologische »Modifikation« sogar hilfreich sein. Wenn Husserl in seiner Analyse von »Bildbewußtsein« das »Bildsujet«, zum Beispiel einen abzubildenerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 355

den Baum, vom »Bildobjekt«, der Abbildung des Baumes in einem Gemälde unterscheidet75, dann macht er damit verständlich, wie die ästhetische Form von Bildlichkeit aus Phantasievorstellungen entsteht: »die Phantasie stellt einen Gegenstand dadurch vor, daß sie zunächst einen anderen, ihm ähnlichen Gegenstand zur Erscheinung bringt und ihn als Stellvertreter oder besser – das einzige Wort ist hier doch Bild – ihn als Bild für den eigentlich gemeinten nimmt. Sie blickt auf das Bild hin, schaut aber im Bild auf die Sache«.76 Die Phantasie leistet da in der Tat eine »Modifikation« der »Sache« oder des im Garten stehenden wirklichen Baumes, des »Bildsujets«. Aber wie denkt der Phänomenologe das Verhältnis von »Bildobjekt« und »Bildlichkeit«? Die zwei Sätze Husserls, die ich zitierte, bedürfen einer sehr genauen Lektüre: Die Phantasie »blickt« auf das Gemälde, das Bildobjekt, aber sie »schaut« damit eigentlich auf das Bildsujet, auf die Sache, auf den Baum im Garten, der im Gemälde dargestellt ist. Das ist bereits ein Hinweis auf die phänomenologische »Wesensschau«, die jedwedes Bild von einer Sache durch »Sinngebungen des Bewußtseins« soll ersetzen können.77 Erst vor dem Horizont solcher »Wesensschau« läßt sich Husserls Redewendung »die Phantasie schaut im Bild auf die Sache« in ihrer Abgründigkeit entziffern. »Bild« bleibt für diesen Philosophen »ein Wort«. Dieses Wort verdeckt nur, daß die Phantasie einen Gegenstand »zur Erscheinung bringt« und jetzt auf diese Erscheinung »blickt« als Erscheinung in einem Bild, ja als Bild. Die phänomenologische Modifikation übersetzt: sie übersetzt die wirkliche Sache, die Wirklichkeit des im Garten blühenden Baumes, aber nicht in ein Bild, sondern in eine Erscheinung »als Bild«. Alle Theorie über Bilder selber bleibt für Husserl ja »unausrottbarer Irrtum«. Die von ihm erläuterte »Form der Bildlichkeit« darf mithin in Bildern sich nicht mehr figurieren; seine phänomenologische Strategie »neutralisiert« alle wirklichen Bilder zu Gleichsam-Bildern78, nurmehr das eidetisch erschaute »Wie« ihrer Erscheinung79, niemals ihr tatsächliches »Daß« ist für Husserls »Bildbewußtsein« von Relevanz. Für die Analyse eines ästhetischen Bildbewußtseins mag dieser am Leitfaden der Phantasie als »Vergegenwärtigungsbewußtsein« geführte Zugriff Husserls auf Bildsujets und Bildobjekte von Gewicht sein – darüber zu entscheiden ist sicherlich nicht die Aufgabe einer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins. Die »Form der 356 | sechstes kapitel

Bildlichkeit« der Erinnerung weist jedenfalls auf eine nicht phänomenologisch »außer Geltung« gesetzte mundane Welt zurück und damit auf die aus ihr sich uns aufdrängenden, flüchtigen, in unserem Erinnern jedoch »wirklichen« Bilder, die sich weder zu Erscheinungen »neutralisieren« noch überhaupt phänomenologisch »modifizieren« lassen. Die Signatur des ästhetischen Bildbewußtseins ist eine andere als die des in Bildern arbeitenden Erinnerungsbewußtseins; aber das rechtfertigt nicht die Behauptung, Erinnerung sei kein Bildbewußtsein. Manch einer möchte nun wohl versucht sein, das bewußte Sicherinnern mit seinen anschaulichen Bildern auf dem Konto persönlicher »Privatheit« zu verbuchen. So naheliegend das auf einen ersten Blick erscheinen mag, so kurzsichtig ist das für den zweiten. Denn das Erinnerungsbewußtsein mit seiner Form der Bildlichkeit legt den Grund für ein Geschichtsbewußtsein, das den Rahmen aller Privatheit sprengt und die Perspektive auf eine neuerliche Asymmetrie eröffnet. Was ist unter dieser Asmmetrie zu verstehen? Das Geschichtsbewußtsein einer Person und das Bewußtsein ihrer eigenen Geschichtlichkeit sind dem von Husserl beschriebenen »inneren Zeitbewußtsein« noch nicht ablesbar. Um ihrer Geschichtlichkeit bewußt zu werden, muß die Person einerseits ihrer selbst bewußt sein können, in dem Grad einer Bewußtheit zumindest, der aller Reflexivität vorausliegt; andererseits hat eine Person – davon sprachen wir schon einmal – sich ihrer Inständigkeit in Geschichte als dem unhintergehbaren Modus ihres In-GeschichteSeins bewußt zu werden. Ineins mit diesem Geschichtsbewußtsein, welches ebenso wie das Erinnerungsbewußtsein von der Asymmetrie »vergangen-gegenwärtig« geprägt ist, entsteht für die Person nun unvermeidlich das ganz existenzielle Problem einer einer »Selbst-Erhaltung«, einer conservatio sui. Denn eine Person, die sich der ihr fremden Alterität eines Vergangenen erinnert, ist der Sorge um die Erhaltung ihrer Selbstbewußtheit im Vollzug solchen Erinnerns nicht enthoben – sie gäbe sonst sich selbst dem Erinnerten preis, sie verlöre sich an ein ihr Fremdes.80 Wer da sagt »ich erinnere mich« und wer mit diesem Satz sein »ich« dem Erinnerten nicht ausliefern oder auch nur unterordnen will, muß folglich auf eine »Erhaltung seiner selbst« bedacht sein. Ich denke, daß die »Asymmetrie« zwischen dem sich erinnernden Ich und der ihm fremden erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 357

Andersheit des Erinnerten einzig durch die Vermittlung des Bildbewußtseins, durch die »Repräsentanz« des Erinnerten »im Bild«81, überbrückbar ist, und daß diese Repräsentanz im bewußten Bild auch die Rede von einer »Privatheit« des Erinnerungs- und Bildbewußtseins nicht mehr zuläßt. Das Bild, so sagt es sogar der Phänomenologe Dufrenne, hängt der sinnlichen Wahrnehmung eines Dinges an, »öffnet sich ihm«, »präfiguriert ihn« – und übt so »die Funktion eines impliziten Wissens aus«.82 Auf einer solchen Linie darf man dann auch dem Satz von Hans Jonas zustimmen: »die adaequatio imaginis ad rem , die der adaequeatio intellectus ad rem vorausgeht, ist die erste Form theoretischer Wahrheit«.

III. Erinnerungsbewußtsein und Personalität »Wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand, ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl, das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser ausgesetzt als ein Höhlenmensch. Dann aber kam mir die Erinnerung gleichsam von oben her zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können, und aus vagen Bildern setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem zusammen«. (Marcel Proust)

Die Philosophie müsse zur Literatur in die Schule gehen, habe ich in der Einleitung zu diesem Buch gefordert, und das bleibt auf dessen letzten Seiten zu wiederholen. Denn ohne die anschaulichen Bilder des Erinnerns, so »vage« sie sind, wüßte ich weder »wer« ich war noch »was« ich bin. Mit dieser Lebenswahrheit konfrontiert Proust, der »Literat«, den »Theoretiker« des wissenden und gewußten Selbstbewußtseins. Stets sind es die Bilder im Erinnerungsbewußtsein, die mich »aus dem Nichts« der Selbstvergessenheit herausholen und ohne die auch mein »Ich« keine farbige Gestalt gewänne.83 Dem Philosophen, der von einem Dichter sich anregen läßt, bleibt freilich ein übriges noch zu tun, nämlich in begrifflicher Form auszusagen, wer und was »ich bin«. Mit Max Scheler darf er aussprechen: eine »leibhaft erlebende Person«. Die Frage ist gleichwohl, ob sich überhaupt ein »Begriff« der Person definieren läßt, der 358 | sechstes kapitel

über die alltagssprachliche Rede von »Personalität« hinausreicht und zu einem erkenntnisleitenden Grundbegriff für den Philosophen, den Theologen, den Soziologen und schließlich den Bioethiker geraten könnte. Man wird nicht umhin kommen einzugestehen, daß es einen »grundlegenden Begriff der Person« nicht gibt; was es gibt, das ist die Geschichte der Verwendung und der Interpretation dieses semantisch zuhöchst variablen Wortes, anders gesagt: wenn »Begriff«, dann ist »Person« ein »Grenzbegriff«. An der Grenze, die er zieht, mögen unterschiedliche Erkenntnisperspektiven entweder aufeinander zulaufen oder sich voneinander scheiden, und insofern ist der Grenzbegriff »Person« auch, in affirmierter oder negierter Funktion, immer noch normativ, sei es für eine Auslegung des christlichen Glaubens an Trinität und Inkarnation, also an die »drei Personen« in Gott und an die »eine Person« des menschgewordenen Gottes, sei es schließlich für den bioethischen Diskurs über die Frage, wann und wie das menschliche Lebewesen zu einer Person allererst »wird« und ob diese Frage »apriorisch« beantwortet werden darf oder »empirisch« erörtert werden soll. Einen grundlegenden Begriff der Person ein für alle Mal »definieren« zu wollen, das gliche jedenfalls dem mittelalterliche Kinderkreuzzug, der bekanntlich ein trauriges Ende fand, und es macht nicht den geringsten Unterschied, ob man sich dabei auf Boethius84 oder auf den Frühscholastiker Richard von Sankt Viktor bezieht (zumal alle beide ihr Personkonzept vor einem theologischen Hintergrund entwarfen). Strikt voneinander zu unterscheiden sind zudem »Personbegriff« und »Personbewußtsein«. In der gegenwärtigen subjektivitätstheoretischen, am Thema »Selbstbewußtsein« orientierten Debatte findet diese Unterscheidung eine Entsprechung in der Setzung einer Differenz zwischen Personalität und Subjektivität. Zu lesen ist da beispielsweise: »die Unterscheidung von Subjekt und Person ist schon bei der Verständigung über die wissende Selbstbeziehung (das Selbstbewußtsein) von Bedeutung«, und die daraus gezogene Konsequenz lautet dann, »daß der Begriff der Person nur in Verbindung mit einer nicht auf die Person zu reduzierenden Subjektivität seine eigentliche Bedeutung gewinnt«.85 Ganz abgesehen davon, daß hier noch umstandslos vom »Begriff der Person« gesprochen wird, ist da eine »Subjektivität« zum Thema gemacht, die auf Personalität nicht »reduziert« werden dürfe, mit anderen Worten: Person und Personerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 359

bewußtsein sind dem Selbstbewußtsein als »wissender Selbstbeziehung« untergeordnet, und »wirkliche« oder »konkrete« Subjektivität wird nicht mit dem wirklichen »ich bin« verknüpft, sondern (im Gefolge Fichtes) als »Wille« verstanden.86 Einer derartigen subjektivitätstheoretischen Strategie fällt nicht nur die im »ich bin« gelegene ontologische Fundierung personaler Subjektivität zum Opfer; mit ihr ist zugleich der Zugang zum Sicherinnern der Person versperrt. Denn am Konzept einer auf das wissende Selbstbewußtsein festgelegten Subjektivität kann das anschauliche und veranschaulichende Erinnerungsbewußtsein einer Person keinen Halt finden; und die Subjektivität eines »Ich«, das sich erinnert, ist auch niemals von einem ganz ursprünglichen Personbewußtsein abzutrennen – diese Subjektivität gewinnt gerade erst in Verbindung mit solchem Personbewußtsein ihre »eigentliche Bedeutung«. Personbewußtsein hängt zudem niemals von einem »Begriff der Person« ab; aber alle Subjektivität, auch die des »ich erinnere mich«, läuft auf personales Selbstbewußtsein als Grenzbestimmung zu, und da gibt es auch nichts mehr zu »reduzieren«. Aus dem Blickwinkel der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins büßt die Theorie der lediglich »wissenden und gewußten Selbstbeziehung« die von ihr beanspruchte Überzeugungskraft ein – oder, um einen anderen diese Theorie ebenfalls kritisch beurteilenden Autor zu zitieren: »der Versuch, die Person im Horizont des Selbstbewußtseins zu denken, hebt seine eigene Ausgangsposition in dem Moment auf, in dem es darum geht, die Personqualität des Menschen im Horizont von Bewußtseins so ursprünglich zu denken, wie es ihr Autonomiecharakter eigentlich verlangt«, und weiter: »das Selbstbewußtsein ist auch der Verhinderer des Gedankens, daß der Mensch als Person ein Letztdatum sei«87, ja tatsächlich ist. Darum nenne ich »Person« einen »Grenzbegriff«. Nun haben wir Max Scheler bereits als einen Denker kennengelernt, der seine personalistische Philosophie eng mit dem Thema »Erinnerungsbewußtsein« verfugt hat.88 Die Differenz, die er zwischen eine bildlose »unmittelbare« und eine auf Bilder sich stützende »mittelbare« Erinnerung einträgt, ist in einem phänomenologischen Zugriff auf den Problemtitel »Person« begründet, und zu prüfen bleibt deshalb zweierlei: zum einen, ob eine Phänomenologie der Personalität das »Sein der Person« auszuschöpfen vermag, zum anderen, ob ein Blick auf das im »ich bin« fundierte personale Sein 360 | sechstes kapitel

die Unterscheidung von mittelbarem und unmittelbarem Erinnern nicht fragwürdig werden läßt. Scheler betont nachdrücklich, daß das »Wesen« von Personalität im Ausgang von einer epistemischen Theorie des Selbstbewußtseins als wissender Selbstbeziehung niemals erschlossen werden könne. Für ihn bleibt Selbst-Bewußtsein ein »unmittelbares Bewußtsein«, wie jedes menschliche Individuum es »von sich« hat. Als »Individuum« gilt ihm »jede endliche Person als Person selbst«.89 Und von der »Person selbst« sagt Scheler nun: sie »ist« – aber sie ist »überbewußtes Sein«, oder: ihr kommt ein »Sein« zu, das »im Vollzug ihrer Akte besteht«, und sie ist überdies die »Seinseinheit aller ihrer Akte« – eben deshalb vermag ein isolierter Akt, in welchem sie sich lediglich ihrer selbst »bewußt« wird, das »Wesen« der Person nicht zu erreichen. Hier kommt die Husserlsche »Wesensschau« zum Zuge, mit der das ontologische Dasein der Person auf eine Seinseinheit ihrer Aktvollzüge »reduziert« wird. So erklärt Scheler denn auch: Person ist »die konkrete Seinseinheit von Akten verschiedenen Wesens«, die Person »existiert und lebt nur im Vollzug intentionaler Akte«, ja solcher Vollzug macht das »konkrete Sein« einer »individuellen Person« aus90 – ein überbewußtes weil konkretes oder auch ein konkretes weil überbewußtes Sein, konkret und überbewußt, weil phänomenologisch »erschaut« als »Ordnungsgefüge von Akten«. »Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie«.91 Ebenso wie die Husserlsche Phänomenologie setzt auch der phänomenologische Personalismus alle Ontologie in Klammern oder außer Geltung, und so lesen wir schlußendlich bei Scheler, »daß man die Ontologie des Menschen erst gewinnen kann, wenn man die Ontik des ›Wisssens‹, des ›Bewußtseins‹, des ›Geistes‹, der ›Person‹, des ›Lebens‹, des sogenannten ›Subjekts‹, des ›Dinges‹, des ›Leibes‹ usw. schon geklärt hat«.92 Eine »Ontik der Person« – was ist darunter zu verstehen? Scheler möchte mit diesem Konzept »das individuelle Wertwesen« der Person beschreiben, das weder auf eine Ontologie zurückverweist noch eines »dauernden Seins« bedürftig ist, weder auf ein »Ich«, schon gar nicht auf ein transzendentales, sich gründet noch von einem leiblichen Dasein abhängt: der Leib gehört nicht zur »Personsphäre« mit ihren Aktvollzügen, er bleibt für die Person als Wertwesen schlicht ein »Gegenstand«.93 Positiv bestimmbar sein soll die Person als erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 361

niemals objektivierbarer oder objektivierter »gegenstandsunfähiger Geist«, als »Totalität, die sich selbst genügt«, als »absoluter Name« und vor allem als »Seinseinheit« ihres »Erlebens«. Zu diesem Erleben erklärt der Phänomenologe jetzt: das Wertwesen Person »lebt nicht in der phänomenalen Zeit«, sondern »in die Zeit hinein«; dann erst »erlebt« es diese Zeit. Darum habe es gar keinen Sinn, die Person »in den gelebten Erlebnissen fassen zu wollen«. Scheler ist der Meinung, daß der Phänomenologe strikt unterscheiden müsse zwischen dem »Leben« der Person in ihren Akten und dem »Erleben von Erlebnissen«: ihren gelebten oder erlebten Erlebnissen bleibe nämlich »die Person selbst«, aufgrund ihrer Ontik als Wertwesen, »völlig transzendent«. Diese »Ontik« der Person als »Wert« liege einzig und allein in den Aktvollzügen ihres »Lebens«, und Akte sind, für Scheler nicht anders als für Husserl, niemals »Gegenstände« wie »erlebte Erlebnisse«.94 Das ist die phänomenologisch-personalistische Kulisse, vor der Scheler seine Überlegungen zur »mittelbaren« und »unmittelbaren« Erinnerung in Szene setzt, zu einer Erinnerung in Bildern und einer Erinnerung, die keiner Bilder mehr bedürfen soll. Wir haben diesem Philosophen unsere Reverenz erwiesen, insofern er den Erinnerungsbildern wenigstens in der »mittelbaren« Erinnerung ihren Ort zuwies. Doch seine These, die Person sei »gegenstands-unfähiger Geist« ineins mit seiner Behauptung, »Erlebnisse«, an die wir uns erinnern, seien aus der Perspektive des »Wesens« der Person doch nur »Gegenstände«, läßt erkennen, welchen »Wert« seine Wertphilosophie den Erinnerungsbildern am Ende nur noch zubilligen mag und kann – denn die Bilder von erlebten Erlebnissen müssen der Phänomenologie einer »gegenstandsunfähigen« Person zu »Gegenständen«, die dem »erschauten« Wesen der Person »transzendent« bleiben, schon deshalb geraten, weil sie durch den »Leib« und aus leiblichem Erleben entstehen, der Leib aber der »Personsphäre« schon per definitionem nicht zugehört; auch er ist ja für das Wertwesen Person nur ein »Gegenstand«. Nicht wundern dürfen wir uns deshalb, wenn Scheler uns jetzt weismachen möchte, daß wir beim »sogenannten Erinnerungsbild« nur dann »verweilen«, wenn das Erinnern »gestört« ist, daß »im normalen Erinnern« ein gegenwärtiges Bild doch »gar nicht gegeben« sei, und er nun beklagt, daß »trotzdem« immer noch »das Bild zum Ausgangspunkt der Lehre 362 | sechstes kapitel

vom Erinnern« gemacht werde.95 Oder wenn er notiert: »daß wir Vergangenheit haben, daß wir Zukunft haben«, dies werde weder durch Erinnerungsbilder noch durch Erwartungsbilder erschlossen, weil einzig »der Gehalt der unmittelbaren Erinnerung«, die nicht in vermittelnden Bildern arbeitet, »als wirksam auf unser gegenwärtiges Erleben gegeben« sei.96 Schelers phänomenologischer Personalismus zerspaltet das Erinnerungsbewußtsein der Person und damit auch ihr Bildbewußtsein. Die bilderlose »unmittelbare« Erinnerung an Vergangenes und einstmals Erlebtes gerät dabei zu einem ersten Rätsel. Denn »die Wesenheit des Vergangenseins«, die mit ihr »erschaut«, und »die Sphäre des Vergangenseins überhaupt«, die mit ihr eröffnet werden soll: beide bleiben Geheimnisse, in die nicht einzudringen vermag, wer nicht ebenfalls ein »schauender« Phänomenologe sein will. Und von der »mittelbaren« Erinnerung mit ihren Bildern sagt Scheler, daß sie »stets auf dem unmittelbaren Erinnern aufgebaut« ist, zugleich indes an »gegenwärtige Leibzustände gebunden«, in die »das Wesen der Person« aber »niemals aufteilbar« sei.97 Dies ist das zweite Rätsel des Schelerschen Personalismus. Beide, das erste Rätsel ebenso wie das zweite, haben ihre Wurzel in der phänomenologischen Methode der Außergeltungsetzung einer Ontologie des ich bin und seines leiblichen Daseins. Schon Husserl hatte erklärt: »ich bin nicht mein Leib, sondern ich habe meinen Leib«.98 Scheler ist da etwas vorsichtiger; anders als Husserl »verhüllt« er den Leib nicht, sondern er möchte durchaus eine – wie wir formulierten – »ontologisch gewendete« phänomenologische Philosophie vortragen. Doch diese »Wendung« entbehrt der Konsequenz und bleibt zwiespältig. In Opposition zu Husserl sagt Scheler nämlich einmal, »Leben im Leibe«, das heiße doch gerade nicht, den Leib »gegenständlich haben«, sondern »in ihm zu sein« – um dann ein anderes Mal (in ein und demselben Werk) zu erklären, für die Person bleibe ihr Leib immer »ein Gegenstand«, gehöre der Leib doch weder zur Personsphäre noch zu ihrer Aktsphäre.99 Das nur ontologisch zu erfassende »im Leibe sein« der Person rückt auch bei Scheler wieder in eine phänomenologische Klammer, ablesbar an den Redeformeln »Leibphänomen« und »Leibgegebenheit«. Wenn dieser Philosoph von der Leiblichkeit des individuellen Ich mit seinen »leibhaften« Erinnerungsbildern spricht oder von einer »wesenhaften Verknüpfung« erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 363

von Ich und Leib, dann ist sein Leser davor zu warnen, solche Redefiguren als Beschreibungen des leiblichen Daseins des »ich bin« in seiner ontologischen Dignität zu interpretieren. Dieser ontologische Status des »ich bin« verbleibt dem phänomenologisch aufgefaßten »Wertwesen Person« in einem Gegen-Stand, und die phänomenologische Optik auf »Gegen-Ständlichkeit« entläßt auch das Erinnern und das Erinnerungsbewußtsein nicht aus ihrem Blick. Daß es ein durch Bilder vermitteltes Sicherinnern gibt, das kann der Phänomenologe zwar nicht leugnen, Scheler will es auch gar nicht tun; aber weil er die Person als »gegenstandsunfähigen Geist« versteht, sieht er sich nun genötigt, jedwedes Erinnern »an etwas« oder Erinnern »von etwas« als »gegenständliche Einstellung« zu definieren, die »das Sein der Person sofort transzendent« werden lasse100, zu gut deutsch: die das Sein des Wertwesens Person in ein Jenseits rückt zu seinem Sicherinnern. Ausgezogen um zu klären, wie das wohl zu verstehen sei, wenn eine Person sagt »ich erinnere mich«, scheitert Schelers Personalismus am Ende, aufgrund der von Husserl ererbten Engführung von Gegenständlichkeit und Gegenstandskonstitution, an der Ontologie des »ich bin«, dem Fundament des »ich erinnere mich« mit seinen anschaulichen Bildern. Proust indes wußte sehr wohl, daß es diese Bilder sind, die mein personales Ich »in seinen originalen Zügen wieder zusammensetzen«. Unsere eigene Frage nach dem Verhältnis von Erinnerungsbewußtsein und Personalität läßt sich folglich an Schelers phänomenologisch geführten Personalismus nicht anschließen, denn es ist der ontologische Status des »ich bin«, der sich für diese Frage wiederum als »unhintergehbar« erweist. An dem Wort und an der Sache »Ontologie« scheiden sich nun, seit Kant, die Geister. Den einen erscheint alle Ontologie als überholt, schon das Wort klingt ihnen wie eine Provokation, den anderen als nur einholbar in eine »transzendentale« Ontologie.101 Ontologie läßt sich auch nicht eintrocknen auf eine Semantik dessen, »was es gibt«102, und obwohl wir Gehirne haben und es also Gehirne »gibt«, bleibt die neurowissenschaftliche Rede von einer »Ontologie des Gehirns«103 eine unüberlegte Rede. Die modale Ontologie des daseienden »ich bin« läßt sich gleichermaßen nicht überbieten (oder unterlaufen) mit der Rede von einem »modal-ontologischen Status der Subjektivität in der Sinnbestimmung von Wirklichkeit«, eine Rede, die sich damit rechtfertigen 364 | sechstes kapitel

möchte, daß doch »das Wissen, welches ich von mir habe, insofern ich mich selbst meine, wesentlich ›wirkliches Wissen‹ ist«, »Wissen von Wirklichem und selbst Wirklichkeit«.104 Alles das sind Fluchtwege aus der Ontologie und Denkwege, die von der fundamentalen Frage nach den Seinsweisen des seiend-Seins wegführen, und man muß sich auf Heideggers »Fundamentalontologie« nicht verpflichten, um dennoch der wegweisenden Einsicht dieses Philosophen zuzustimmen: »Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin«105, eine Einsicht im Kontext von Heideggers modaler Ontologie, über welche die Akten noch längst nicht geschlossen sind. Der Preis für die Selbstfindung der Person ist zuallererst in ontologischer Währung, in der Valuta des »ich bin«, zu entrichten. Nicht anders dachte Guardini, als er niederschrieb: »Person ist ein ontologischer Begriff«106 – hinzuzufügen ist dem lediglich: ein Grenzbegriff, auf welchen das individuelle »ich bin« hingerichtet ist. Thema der Ontologie war stets und ist immer noch das »seiend-Sein« – und das ist nicht »definierbar«. Die Undefinierbarkeit von »seiend-Sein« entspricht der Nichtdefinierbarkeit von »Person«. Man darf darum sagen: beide, »seiend-Sein« und »Person« sind Grenzbegriffe. Das Problemfeld »Ontologie« hat Aristoteles zutreffend mit der Formel gekennzeichnet: »das ›seiend‹ (to on) wird auf vielfältige Weise ausgesagt« (Met 1026 a 33). Jedwede Aussage über ein »seiend-Sein« ist nun auf eine Reflexion verwiesen, die diese Aussage zu rechtfertigen vermag, und eine derartige Reflexion »definiert« zwar nicht das »seiend«, aber sie kann sehr wohl »begreiflich« machen, was »seiend« bedeutet; und sie kann desgleichen »begreiflich« werden lassen, was die Aussage »ich bin« bedeutet: für das »ich erinnere mich«, für das Sicherinnern einer Person. Auch die »begrifflich« arbeitende Philosophie kann nicht mehr leisten, als dem »seiend-Sein« und der »Person« Bedeutung zuzuweisen. Aber mit der Aussage der von ihr reflektierten Bedeutung spricht sie immer schon »ontologisch«, einer phänomenologischen »Ontik« und ebenso einer Theorie »wissender Subjektivität« im Voraus. Worin liegt jetzt die Bedeutung des »ich bin«? Zum einen in der schieren Faktizität seines Daseins, zum anderen in seiner individuellen, an den Leib und an leibliche Erfahrung gebundene Daseinsweise, dem Modus seines seiend-Seins, dem die Faktizität des »ich bin«, wie wir sagten, »impliziert« ist. Ontologie wird hier »Modalerinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 365

ontologie«. Das Sicherinnern einer Person ist nicht isolierbar, ist nicht abtrennbar von der Faktizität ihres »ich bin«, und es ist gleichermaßen nicht ablösbar von der leiblich-individuellen Daseinsweise, dem Seinsmodus des »ich bin« (der sich vom Seinsmodus der Dinge in der Welt wesentlich unterscheidet). Denn wenn eine Person sagt (nicht etwa ein Subjekt, weil »Subjekte« nicht sprechen) »ich erinnere mich«, dann redet sie von Erinnerungen, die sie ohne ihr faktisches Dasein niemals hätte, und dann redet sie überdies von Erinnerungen, die stets gefärbt sind von dem individuellen Modus ihres Daseins – dem Modus ihres ganz persönlichen »seiend-Seins«. Gegenüber der phänomenologischen »Ontik« der Person und gegenüber der Theorie »wissender Subjektivität« gilt es mithin festzuhalten: das »ich erinnere mich« ist auf das Faktum »ich bin« gestellt, und es ist durchzogen von einer aller Selbst-Bewußtheit vorgängigen Gewißheit, der Gewißheit nämlich, daß ich nun einmal »so und nicht anders bin«, der Gewißheit von einer Daseinsweise, in der »ich bin« und die ich »so und nicht anders« erfahre. Beide, das Faktum »daß ich bin« und die Erfahrung »wie ich bin«, sind ontologische Sachverhalte und das ontisch-ontologische Fundament des Sicherinnern-könnens des »ich, als Person«; sie liegen dem »ich erinnere mich« modalontologisch zugrunde. Diese Gewißheit von meinem Daseinsmodus ist ursprünglich und vor-reflexiv, sie bekundet sich im Erleben meiner selbst; aber ich kann mich selbst nur erleben, weil »ich bin«. Das »ich erlebe« ist nicht identisch mit dem »ich bin«, wie manche behaupten, um nicht ontologisch denken zu müssen. Die Gewißheit von der Weise, in der »ich gegenwärtig bin«, wird nun oftmals in Konflikt geraten mit der Ungewißheit meines Erinnerns. Eben diese »Asymmetrie« zwischen Gewißheit und Ungewißheit gehört nun einmal zur Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins. Die Reflexion auf die modalontologische Verfaßtheit des »ich bin« verdeutlicht noch einmal mehr die asymmetrische Differenzstuktur des »ich erinnere mich«. Diese Reflexion auf die ontologische Dignität des »ich bin« als unhintergehbare Voraussetzung des »ich erinnere mich« ermöglicht indes auch die Rede von einer Ontologie der Geschichte, wiederum in der Figur einer modalen Ontologie ihres »Gewesen-Seins«, und im Gefälle einer solchen Geschichtsontologie wird eine weitere Asymmetrie im Sicherinnern erkennbar. Denn ich erinnere mich nicht nur, 366 | sechstes kapitel

indem ich mir Vergangenes vergegenwärtige – wer Erinnerung als bloße »Vergegenwärtigung« begreift (wir haben mehrere Autoren kennengelernt, die so denken), der greift schlicht zu kurz. Das Erinnern von Vergangenem ist nämlich zugleich eine Ent-gegenwärtigung desjenigen, der sich erinnert. Diese »Entgegenwärtigung« ist ein aus dem Erinnerungsbewußtsein nicht zu tilgendes Moment, das allerdings erst dann deutlich ins Blickfeld geraten kann, wenn die modale Ontologie des gegenwärtigen »ich bin« eine Perspektive auf die modale Ontologie des »ist gewesen« freigelegt hat. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf dieses Moment der Entgegenwärtigung richten (das begreiflich macht, warum wir uns eines geschichtlich Vergangenen nur in dessen Bildern erinnern können), dann gerät eine wesentliche Bedingung der Personalität in unseren Blick: Erinnerung, weil immer auch Entgegenwärtigung, nötigt die Person zu ihrer Selbstfindung in der Asymmetrie, die sich da auftut zwischen Vergegenwärtigung und Entgegenwärtigung. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, daß »Person« ein Grenzbegriff ist. Er steckt das Terrain eines Sich-selber-findens ab, eines Sichfindens der Person auf der Fährte ihres vergegenwärtigenden Sicherinnerns. Das Erinnerungsbewußtsein ist damit noch einmal mehr der unwiderlegbare Einspruch gegen die Annahme einer unmittelbaren Vertrautheit des Selbst mit sich: es ist das Feld, auf dem die Person zu sich selbst finden muß. Ich möchte hier einen Gedanken Augustins aufnehmen und vertiefen. Augustinus hatte überlegt, daß »ich« im Erinnern »mir selbst begegne«107; in solchem Begegnen mit mir selbst bin ich auf dem Weg, mich selbst zu finden. Person im vollgültigen Sinn ist erst, wer sich selbst gefunden hat, in und aus dem Erinnern, das ihn stets seinem Selbst »entgegenwärtigt«. Darum frage ich schließlich: läßt sich von Personalität überhaupt sprechen, ohne vom Erinnern zu reden? Wie aber ist nun das »ich« in der Aussage »ich erinnere mich« zu denken? Als transzendentales »Ich«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können muß«? Als »stehendes und bleibendes Ich«, wie Kant es sich erdachte? Als derart »absolutes« Ich, das sogar ein umsichtiger Verteidiger Kants weder »notwendig« noch »sinnvoll«108 nennt? In der Einleitung zu diesem Buch habe ich bereits zitiert, wie Kant seine These, daß ein stehendes und bleibendes »Ich denke«, als erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 367

transzendentales Subjekt, alle meine Vorstellungen begleiten können muß, begründet: weil sonst in mir etwas »vorgestellt« würde, was gar nicht »gedacht« wäre; und ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß in dieser These der Schlüssel liegt für die Exilierung der memoria, der »alten« memoria mit ihren Bildern, aus dem »reinen« philosophischen Denken. Ich komme jetzt, am Ende meines Buches, auf dieses Kantische Theorem zurück. Denn wenn wir uns in flüchtigen Bildern erinnern, zieht dieser Fluß uns mit und wir suchen einen Halt – nein, nicht nur einen Halt: wir fragen in Wahrheit nach der Identität unseres Selbst, die im Strom der Erinnerungen zu versinken scheint. Auch die Reflexivität des »mich« in dem Satz »ich erinnere mich«, auch die Reflexivität des »sich« im Sicherinnern vermag diese Identität noch nicht endgültig zu sichern; das »sich« und das »mich« sind erst Vorboten der Identität meines Selbst, noch nicht deren Garantie. Kants transzendentales Ich sollte diese Identität sichern, und darin liegt seine, wiederum transzendentale Wahrheit. Kann indes die Wahrheit eines transzendentalen, von aller Erfahrung unabhängig gedachten »Ich« das gar nicht transzendentale »ich erinnere mich« überhaupt »begleiten« oder gar »begleiten können müssen«? Die Kantische Metaphorik des »Begleitens« hat viele Kommentare, gläubige und kritische, gefunden; von ihnen will ich hier nicht reden. Ich bin nämlich der Überzeugung, daß Kant mit dem Wort »begleiten« jedenfalls etwas durchaus Richtiges gesagt, aber aus der Perspektive auf Erinnerung, die ich gezeichnet habe, etwas in der Tat weder »Notwendiges« noch »Sinnvolles« gedacht hat. Und dem großen Kant traue ich zu, trotz der Kritik, die ich an seinem Philosophieren übte, daß er sich im Klaren war, warum er die memoria mit ihren imagines im Zuge seiner »kopernikanischen Wende« in eine pragmatische Anthropologie exilieren mußte. Kants Rede vom »Begleiten« ist umzuwenden. Kein transzendentales »Ich denke«, das da steht und bleibt, kann mein aus Erfahrung gespeistes und bewegtes Erinnern so begleiten, daß es dessen flüchtige Bilder zu einer selber erfahrbaren »Synthese« bringt. Wohl aber kann ich, wenn ich mich in Bildern erinnere, mit meinem Gedanken »Ich« mich begleiten, um an diesem Gedanken Halt zu finden in der Bewegung meines Erinnerns. Mein Gedanke »Ich« reicht hin, um mit ihm und unter ihm meine Erinnerungen und Erinnerungsbilder, indem er sie begleitet, in eine Synthese für mich zu bringen. Es 368 | sechstes kapitel

ist das sehr wohl ein Gedanke, den »ich denke«; aber ich denke ihn nicht als transzendentalen und »anonymen«, sondern als meinen Gedanken und als den Gedanken meines »ich denke«, mit dem ich mein Erinnern begleite und der, als meine flüchtigen Erinnerungen »haltender« Gedanke, in meinem Erinnerungsbewußtsein zu seiner Darstellung kommt. Dieser Gedanke »Ich« kann aber kein »bloß gedachter Gedanke« sein; er muß »als darstellbarer Gedanke gedacht« werden, darstellbar im »ich erinnere mich«. Das ist das bei Kant ungedachte Problem: daß »Denken« von ihm nicht als selber »darstellbar« gedacht wird. Darum entwirft er ja seine Lehre vom »Schematismus«, der Darstellungen und Bilder erst »möglich« machen soll, darum geht er diesen »Umweg«: weil er »rein Gedachtes« nicht als »selber darstellbar Gedachtes« denken will. Ein »rein gedachtes« Ich, das als transzendental gedachtes in der Dimension anschaulich-bildlichen Erinnerns nicht darstellbar ist, wird im »ich erinnere mich« auch niemals seine Darstellung finden können. Der Gedanke »Ich«, mit dem ich mich begleite, wenn ich mich erinnere, kommt hingegen in meinem Erinnerungsbewußtsein zur Darstellung, wenn er von Anfang an als darstellbar gedacht ist. Das ist die Umwendung des Kantischen, transzendental hypostasierten ego cogito, das alle meine »Vorstellungen« soll »begleiten können müssen«, die anschaulichen und veranschaulichten »Bilder« im Erinnerungsbewußtsein aber weder begleiten kann noch muß. Aus der Optik der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins ist Kants transzendentales »Ich denke« ein weder notwendiger noch sinnvoller Gedanke. Von hier aus wird verständlich, warum der Kant-Kritiker Hegel, der Philosoph der Er-Innerung als »In-sich-gehen des Geistes«, dem »Darstellen« als Manifestation des Begriffs so großes Gewicht gegeben hat. Im Anfangskapitel dieses Buches habe ich geschrieben: »zu klären ist, wie ichzentrierte Subjektivität und Selbstbewußtsein im Erinnerungsbewußtsein ›denkbar‹ bleiben, aber auch ›darstellbar‹ werden«.109 Zu antworten ist, daß dies einzig im Prozeß des Sichfindens, der Selbstfindung der Person gelingen kann. Auf den normativen »Grenzbegriff Person« laufen »Selbstbewußtsein« und »Subjektivität« zu, so strukturell unterschieden Personalität und Subjektivität auch sind. Die Gedanken »Ich« und »Ichheit« kann nur ein Individuum denken, das sich selbst als Person gefunden hat oder erinnerungsbewusstsein, bildbewusstsein … | 369

wenigstens finden will; aber schon damit denkt es diese Gedanken als darstellbar im Ganzen seiner Personalität, zu der das »ich bin« ebenso wie das »ich erinnere mich« gehören. Kant spricht zwar von »Person« und »Personalität«; aber sein transzendentales ego cogito, dieses »ich denke überhaupt«, kann Personalität weder begründen noch in ihr sich darstellen. An seine Stelle rücke ich ich die transzendentale Regel: »Denkbares ist als Darstellbares zu denken und Darstellbares ist als Denkbares darzustellen«110. Sie erklärt, wie der Gedanke »Ich« denkbar bleibt und im Sicherinnern einer Person darstellbar wird, als Gedanke, mit dem die Person, die da sagt »ich erinnere mich«, ihr Sicherinnern begleitet. Denken und Darstellen sind ebensowenig miteinander identisch wie Denkbarkeit und Darstellbarkeit; aber sie stehen zueinander in einer »Konvertibilität«, sie lassen sich aufeinander beziehen. Eine Person findet zu sich selbst, wenn sie den denkbaren Gedanken »Ich« als darstellbar und dargestellt denkt in ihrem Satz »ich erinnere mich« – und mit diesem Gedanken identifiziert sie sich auch im flüchtigen Strom ihrer Erinnerungsbilder, ja sie schafft sich mit Hilfe dieses Gedankens ein Bild ihrer selbst. Aristoteles hat die Erinnerung mit einer Jagd verglichen, Giordano Bruno kleidete diesen Vergleich in seine Erzählung vom Jäger Aktaion, und Gilles Deleuze schloß sich dem Nolaner mit einem wunderbaren Satz an, der dieses Buch beschließen soll: »wir sind stets Aktaion in dem, was wir betrachten. Immer muß etwas anderes betrachtet werden, das Wasser, Diana oder die Wälder, damit man von einem Bild seiner selbst erfüllt wird«.111

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Anmerkungen

Einleitung (Seite 13 – 22) 1 2

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Pierre Nora, Les Lieux de mémoire, 3 voll., Paris 1984–1986 So, zum Beispiel, Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern (Poetik und Hermeneutik XV), München 1993 Ebd., 370, Anm. 24 »Das wäre das anzustrebende Ideal«, notiert aus theoretisch-literarischer Perspektive die Schriftstellerin Anna Mitgutsch: »Bilder behaftet mit der Schwere und Komplexität des Erinnerns zu einer neuen Wirklichkeit zusammengefügt« (Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik-Vorlesungen, Graz – Wien 1999, 29) Friedrich Georg Jünger, Gedächtnis und Erinnerung, Frankfurt am Main 1957, 10: »Von Vergessenheit und Wiederkehr weiß die Philosophie, die seit Descartes zur Bewußtseinsphilosophie wird, wenig, und um so weniger, als ihr Denken sich der Vorstellung als solcher zuwendet, ohne die Rückstellungen zu untersuchen, die in Gedächtnis und Erinnerung erfolgen, und zwar so erfolgen, daß ohne sie Vorstellungen nicht denkbar sind.« Werke in zwanzig Bänden, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969–1971; hier Bd. 6, 258: »Es muß nun allerdings zugegeben werden, daß der Begriff als solcher noch nicht vollständig ist, sondern in die Idee sich erheben muß, welche erst die Einheit des Begriffs und der Realität ist«. – Im Folgenden wird diese Werkausgabe unter dem Sigel WW zitiert. WW Bd. 10, 259 Im Folgenden wird die endgültige Fassung der Neuen Wissenschaft vom Jahre 1744 unter dem Sigel SNS (Scienza Nuova Seconda) und unter Heranziehung ihrer deutschen Übersetzung zitiert: Vittorio Hösle / Christoph Jermann (Hg.), Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 2 Bde., Hamburg 1990. Gelegentliche Unschärfen dieser Übersetzung sind korrigiert. – Zur Vicoschen Trias memoria-fantasia-ingegno liegen zwei deutsche Untersuchungen von Jürgen Trabant vor (in: Memoria. Vergessen und Erinnern, s. Anm. 2, 406–424, sowie in Trabants Buch Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie, Frankfurt am Main 1994, 167–193). In italienischer Sprache ist nachzulesen Stephan Otto, Il conflitto tra immagini e parole, in: Stephan Otto / Vincenzo Vitiello, Vico – Hegel. La memoria e il sacro, Napoli 2001, 9–73. Unter den Philosophen der »klassischen« Zeit war es einzig Friedrich Heinrich Jacobi, der die Scienza Nuova ebenso wie Vicos Schrift De antiquissima Italorum | 371

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sapientia kannte; letztere zitiert er in seinem Werk Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (Werke, hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Nachdruck Berlin 2001, Bd. III, 352–353. Vom ingegno sagt der italienische Text: »pone in acconcezza ed assettamento«, das ingenium »setzt« die »geordnete« Synthese der von der memoria erinnerten und von der phantasia (oder imaginatio) vorgestellten Dinge. Wenn dieses ingenium aber selber nur als Moment der Triade memoria, phantasia, ingenium fungieren darf, dann trägt es seine Ordnungsleistung auch nicht als »extrinsische« Funktion an das Erinnern und Vorstellen heran. Obwohl das ingenium sie ordnet, ist es doch niemals von den Akten des Erinnerns und Vorstellens abzutrennen. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München 1992, 104 f. Erstes Kapitel (Seite 23 – 77)

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Giambattista Vico, Liber metaphysicus (De antiquissima Italorum sapientia liber primus), 1710, und Risposte, 1711 und 1712, aus dem Lateinischen und Italienischen ins Deutsche übertragen von Stephan Otto und Helmut Viechtbauer, mit einer Einleitung von Stephan Otto, München 1979, 138 f. – Die Risposte sind Entgegnungen Vicos auf Kritiken seines Liber metaphysicus; das Werk wird im Folgenden unter dem Sigel LM zitiert. De dignitate et augmentis scientiarum II, 1 Giambattista Vico, Institutiones oratoriae, § 67 (Testo critico, versione e commento di Giuliano Crifò, Napoli 1989, 430) Vico leitet seine Rede vom ingeniös entworfenen »Charakter« – er spricht von Jupiter als einem »göttlichen Charakter« oder »phantastischem« Allgemeinbegriff (SNS § 381) – von dem griechischen Wort charássein, »prägen«, her; sein Konzept des »Charakters« konturiert wiederum ein Bild, das Bild nämlich eines »Einprägens in den Geist«. – Vgl. dazu Jürgen Trabant, Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie, Frankfurt am Main 1994, 49–52 mit dem Hinweis auf die erste Fassung der Neuen Wissenschaft, in welcher das Dreieck als »gezeichneter Charakter der Geometrie« beschrieben wird; dem entspricht das im Einleitungskapitel unseres Buches verwendete Wort »Figur«. Vgl. Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Tübingen 1967 Akademie-Textausgabe Bd. VIII, 145: es »gefällt sich das Genie sehr in seinem kühnen Schwunge, da es den Faden, woran es sonst die Vernunft lenkte, abgestreift hat. Es bezaubert bald auch andere durch Machtsprüche und große Erwartungen und scheint sich selbst nunmehr auf einen Thron gesetzt zu haben, den langsame, schwerfällige Vernunft so schlecht zierte«. Matteo Peregrini, I fonti dell’ingegno ridotti all’arte, Bologna 1650, 22 Emmanuele Tesauro, Il Cannochiale aristotelico, Torino 1670, capp. 3; 7; 9 Vici Vindiciae, cap. XVI (Opere, a cura di Fausto Nicolini, tom. III, Bari 1931, 372 | anmerkungen

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302; 304): »sed philosophia, geometria, philologia atque adeo omnia doctrinarum genera istam opinionem – ingenium cum veritate pugnare – absurdissimam esse manifesto convincunt […] philologia in rhetoricis docet ingenii acumen sine veritate stare non posse«. Die Auslegung der platonischen anamnesis im Gefälle eines »Apriorismus« ist nicht unproblematisch; schon Nicolai Hartmann hatte eingeschränkt: die anamnesis ist »ein Bewußtmachen latenten Wissens« (Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie in: Kleinere Schriften II, Berlin 1957, 57), und Theodor Ebert erklärt: »Es scheint aber nicht zufällig, daß die Versuche einer philosophischen Deutung der Anamnesislehre als einer Theorie des Apriori in Schwierigkeiten kommen und schließlich doch immer wieder an der Metapher des Wiedererinnerns scheitern« (Meinung und Wissen in der Philosophie Platons, Berlin–New York 1974, 86). – Bereits hier geraten die methodologischen Probleme der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins in den Blick. Pietro Piovani, Vico without Hegel, in: Giorgio Tagliacozzo / Hayden V. White (Hg.), Giambattista Vico. An International Symposium, Baltimore 1969, 103–123 Hans Friedrich Fulda, Vom Gedächtnis zum Denken, in: Franz Hespe / Burkhard Tuschling (Hg.), Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, Stuttgart-Bad Cannstadt 1991, 321–360, bemerkt dazu: »Indem die anschauende und vorstellende Intelligenz in die Einheit« – für Hegel ist das die Einheit von Objektivem und Subjektivem – »als ihren Grund zurückgeht, ist es in ihr, daß sie sowohl als vorstellende wie als anschauende die Vernunft findet, die sie in sich hat, und zwar als eine, die gar nicht erst zu finden, da ursprünglich gehabt ist« (356). – Das ist nicht mehr und nichts anderes als eine Paraphrase der Hegelschen Texte, die den Problemen aus dem Wege geht, welche diese Texte transportieren; an dem Fazit, das dieser Autor zieht – »mit dem Haben von Gedanken ist alles Vorstellen überschritten« (358) – wird das überdeutlich. Hegel zerstört jedwede Topik der inventio, indem er das Finden von Gedanken (oder Vernunft) in einem »ursprünglichen« Haben von Gedanken (oder Vernunft) zum Verschleif bringt, und dieses »ursprüngliche« Haben kann er einzig durch seine Fundierung des subjektiven Geistes im Denken des absoluten Geistes rechtfertigen – also durch sein »System«, das dann auch das subjektive Sich-erinnern in ein »Insichgehen des Geistes« transformiert. An der Systemspekulation Hegels ist ablesbar, welche Funktion und welches Gewicht das »Finden« von Vernünftigkeit für eine Philosophie des »endlichen« Erinnerungsbewußtseins hat. De constantia iurisprudentis, cap. XIV (Vico. Opere giuridiche, a cura di Paolo Cristofolini, Firenze 1974, 481–483) Umberto Eco, Über Spiegel und andere Phänomene, München 1988, 26 Theorie motus abstracti (Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg.von C. J. Gerhardt, 4. Band, Hildesheim 1960, 234): »triplex constructio est: geometrica, id est imaginaria, sed exacta; mechanica, id est realis, sed non exacta; et physica, id est realis et exacta«. erstes kapitel | 373

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Vgl. hierzu Stephan Otto, Sprachzeichen, geometrische Zeichen, Metaphysik. Vicos neue Wissenschaft des Anfänglichen, in: Jürgen Trabant (Hg.), Vico und die Zeichen / Vico e i segni, Tübingen 1995, 3–15 Akademie-Textausgabe Bd. VII, 119 Johann Gottlieb Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseins (Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. II, Berlin 1971, 579–581) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie (Ausgewählte Werke. Schriften von 1813–1830, Darmstadt 1968, 375–377) Vgl. hierzu auch Klaus Düsing, Endliche und absolute Subjektivität. Untersuchungen zu Hegels philosophischer Psychologie und zu ihrer spekulativen Grundlegung, in: Lothar Eley (Hg.), Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der »Enzyklopädie«, Stuttgart-Bad Cannstadt 1990, 33–58: »Hegel begründet seine Theorie des subjektiven Geistes in der spekulativen Logik« (53). Klaus Düsing, Hegels Theorie der Einbildungskraft, in: Franz Hespe / Burkhard Tuschling (Hg.), Psychologie und Anthropologie (s. Anm. 12), 297–320, bemerkt einmal: »Auch wenn man die metaphysische Fundierung des reinen Denkens und Sich-denkens des subjektiven Geistes im Denken des Absoluten nicht akzeptiert, bleibt Hegels Integration empirisch-psychologischer Bestimmungen in seine Theorie konkreter endlicher Subjektivität von grundsätzlicher exemplarischer Bedeutung; aus ihr läßt sich ein derartiges philosophisches Deutungsparadigma entnehmen, das leitend ist für eine Subjektivitätstheorie, die Selbstbewußtsein nach dem Entwicklungsmodell als genetisch sich konstituierende, letztlich denkende Selbstbeziehung versteht« (319 f.). – Zweifellos kann man niemand daran hindern, dem Hegelschen Philosophieren »Deutungsparadigmen« zu »entnehmen«. Problematisch wird solches »Entnehmen« allerdings dann, wenn man die »metaphysische Fundierung« der Hegelschen Theorie des subjektiven Geistes »nicht akzeptiert«, obwohl nur in ihr die Idee einer »Totalität des Geistes« ihre Begründung findet. Und eine Subjektivitätstheorie des »Selbstbewußtseins« kann Hegels Philosophie des »theoretischen Geistes« auch nur dann zu ihrem »Paradigma« wählen, wenn sie Anschauung, Vorstellung und Erinnerung zu »empirisch-psychologischen Bestimmungen« herabstuft, was Hegel selber zumindest insofern gar nicht tut, als er diese »Bestimmungen« von Anfang an durch das »freie« Denken der Intelligenz »bestimmt« sein läßt. Schließlich wird eine Theorie »genetisch sich konstituierender, letzlich denkender Selbstbeziehung« nur solange überzeugen können, als sie die Probleme der »Erinnerungsbeziehungen« des Selbst schlicht ausklammert (was wohl nicht zufällig in den gegenwärtigen »Theorien der Subjektivität« zumeist der Fall ist). Vgl. Enzyklopädie § 389: »Die Seele ist nicht nur für sich immateriell, sondern die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben. Sie ist die Substanz, die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes, so daß er in ihr allen Stoff seiner Bestimmung hat und sie die durchdringende, identische Idealität derselben bleibt. Aber in dieser noch abstrakten 374 | anmerkungen

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Bestimmung ist sie nur der Schlaf des Geistes – der passive nous des Aristoteles, welcher der Möglichkeit nach Alles ist«. Publius Vergilius Maro, Aeneis VI, 713–716. – Charles Baudelaire, La Chevelure, in: Les fleurs du Mal, 23. – Paul Valéry, Cahiers, in: Bibliothèque de la Pléiade II, 18. – Die Hinweise sind entnommen dem Buch von Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997. Im Blick auf das 18. Jahrhundert – die Epoche der beginnenden Exilierung der memoria – konstatiert Weinrich zutreffend: »das Gedächtnis hat […] seinen Platz nicht mehr bei der Urteilskraft (iudicium), sondern beim Vorurteil (praeiudicium, préjugé), dem die Aufklärung den Kampf angesagt hat. So fest ist die Verbindung von Gedächtnis und Vorurteil im Jahrhundert der Aufklärung geworden, daß Hegel am Ende dieser Geschichtsperiode feststellen kann, die Verachtung des Gedächtnisses habe sich selbst zum Vorurteil verfestigt« (85). Hegel erklärt ja auch tatsächlich: »es ist einer der bisher ganz unbeachteten und in der Tat der schwersten Punkte in der Lehre vom Geiste, in der Systematisierung der Intelligenz die Stellung und Bedeutung des Gedächtnisses zu fassen und dessen organischen Zusammenhang mit dem Denken zu begreifen« (Enz § 464). Die von ihm eingeklagte »Systematisierung der Intelligenz« – eine zur Systematisierung der ganzen Philosophie transformierte Erbschaft aus dem Jahrhundert der Aufklärung – verführt ihn jedoch zu der verhängnisvollen Trennung des Gedächtnisses, das »nicht mehr mit dem Bilde zu tun« haben darf (Enz § 462), von der memoria als von Bildern noch nicht »befreiter« Erinnerung. Die Perspektiven haben sich mithin lediglich verschoben: an die Stelle des »aufgeklärten Urteils« über die memoria als vorurteilshaftes Gedächtnis rückt Hegel das »systemische Vorurteil« über die memoria als vorstellungsgetragene Erinnerung. Der Grund der Perspektivenverschiebung bleibt indes derselbe: die Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind der Stachel im Fleisch sowohl des »aufgeklärten« als auch des »systemgeführten« Denkens. Glauben und Wissen (WW Bd. 2, 298; 379). – Vgl. dazu sowohl die problemaufschließende Studie von Birgit Sandkaulen, Das Nichtige in seiner ganzen Länge und Breite, in: Hegel-Jahrbuch 2004, 2. Teil, 165–173 als auch das Kapitel »Woran die Metaphysik scheitert. Das Geheimnis der Zeit« in ihrem Buch Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000, 133–169. – Das Motiv, welches Hegel zu seiner Rede über die »Nichtigkeit« des Endlichen verführt, ist wiederum auf dem Konto eines »Schreckens« zu verbuchen: des Zurückschrekkens vor der Endlichkeit kontingenter Zeit. Hegels »Metaphysik der Zeit« ruht der These auf : »die Idee, der Geist, ist über der Zeit, weil solches der Begriff der Zeit selbst ist; das ist ewig, an und für sich, wird nicht in die Zeit gerissen« (Enz § 258 Zusatz). Nur dem endlichen Individuum, das »vom Allgemeinen« des Begriffes der Zeit »geschieden« ist, schreibt Hegel zu, daß es nach seinem »sterblichen Moment in die Zeit fällt«. Vgl. hierzu Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil, München 1992, 261–270. Zu Hegels Sätzen über den Zufall und den »Dampf« des Zufälligen s. erstes kapitel | 375

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ebd., 193–196. – Dieter Henrich hat Hegels Begriff des »absoluten Zufalls« untersucht und gezeigt, wie Hegel »die Kontingenz in den Begriff des Wesens selbst« überführt (Hegels Theorie über den Zufall, in: Kant-Studien 50, 1958/59, 131–148). Von einer solchen »Pointe« der Hegelschen Theorie des subjektiven Geistes spricht auch Hans Friedrich Fulda: Hegels Ziel sei, die »bloß Verwendungsfallabhängige Bedeutung« der Zeichen oder Namen »fortzuschaffen« und in Objektivität sowie intersubjektive Gültigkeit zu transformieren; desgleichen werde den Bildern im Bewußtsein »das Okkasionelle abgearbeitet«: Vom Gedächtnis zum Denken (s. Anm. 12), 342. – Wie den Erinnerungsbildern ihr »Okkasionelles«, ihre Zufälligkeit und Kontingenz also, soll »abgearbeitet« werden können, bleibt das Geheimnis dieses Hegelinterpreten. Vgl. Dieter Henrich, Logische Form und reale Totalität, in: Dieter Henrich / Rolf Peter Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts, Stuttgart 1982, 428–450 Hegel selber bekennt, den Anstoß zum Entwurf dieses Schlußmodells von Platon empfangen zu haben. Im Timaios (31 b–c) heißt es: »daß sich zwei Bestandteile allein ohne einen dritten wohl verbinden, ist nicht möglich; denn ein bestimmtes Band in der Mitte muß die Verbindung zwischen beiden schaffen. Das schönste aller Bänder ist aber das, welche sich selbst und das Verbundene, soweit möglich, zu einem macht«. Auf der Grundlage dieser Platonischen Sätze entwickelt Hegel seine Schlußlogik des »Einzelnen, Besonderen und Allgemeinen« mit den Permutationen »Besonderes-Einzelnes-Allgemeines« und »EinzelnesAllgemeines-Besonderes« (Wissenschaft der Logik, Zweiter Teil, WW Bd. 6, 355–371). Damit rückt jeder der drei Terme »schlußlogisch« einmal, als »Band«, in die die Gegensätze vermittelnde Mitte. Zum Timaios-Text bemerkt Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: »das ist vortrefflich, das behalten wir noch jetzt in der Philosophie« (WW Bd. 19, 90). Vgl. hierzu Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte, Zweiter Teil (s. Anm. 24), 196 ff. – Josef König hatte Hegels Konzept des übergreifenden Allgemeinen als ein Übergreifen der Allgemeinheit nur über seine Besonderheit gedeutet (Das System von Leibniz, in: Leibnizvorträge aus Anlaß seines 300. Geburtstages, Hamburg 1946, 17 ff.). Peter Kemper stellte demgegenüber richtig, daß die Allgemeinheit des Begriffs auf Besonderheit und Einzelheit übergreift: »erst in der Einzelheit übergreift das Allgemeine sich selbst als Unterschied in der Besonderheit« (Dialektik und Darstellung. Eine Untersuchung zur spekulativen Methode in Hegels »Wissenschaft der Logik«, Frankfurt am Main 1980, 122). – Das übergreifende Allgemeine sagt folglich aus, wie ein einzelnes Wirkliches in der Abbreviatur des Begriffes »gedacht« und in diesem Gedachtsein »dargestellt« ist; Hegels Rede vom »Übergreifen« hat mithin den Sinn von »Darstellung« – aber von Darstellung einzig im übergreifenden Allgemeinen oder in der »Wahrheit« des Begriffs. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, Frankfurt am Main 51972, 83; 85; 103 376 | anmerkungen

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Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 21988 LM 44/45: »omnino colligere licet, veri criterum ac regulam ipsum esse fecisse: ac proinde nostra clara et distincta mentis idea, nedum ceterum verorum, sed mentis ipsius criterium esse non possit: quia, dum se mens cognoscit, non facit, et quia non facit, nescit genus seu modum, quo se cognoscit«. LM 34/35: »verum et factum reciprocantur, seu, ut Scholarum vulgus loquitur, convertuntur«. – Vico bezieht sich auf das Axiom der scholastischen Transzendentalienlehre »ens et verum convertuntur«, trägt in dieses Axiom aber eine entscheidende Änderung ein, indem er das »ens« durch das »factum« ersetzt. Dieses berühmte »Vico-Axiom« kann dann auch, weil transzendental und erkenntnisbegründend, die These der Scienza Nuova bewahrheiten, »daß der mondo civile ganz gewiß von den Menschen geschaffen worden ist«, während allein »Gott den mondo naturale gemacht hat« (SNS § 331): – Zur Transzendentalstruktur des Vico-Axioms (die mit dem Kantischen Konzept von Transzendentalität nicht verwechselt werden darf) vgl. Stephan Otto, Umrisse einer transzendentalphilosophischen Rekonstruktion der Philosophie Vicos anhand des Liber metaphysicus, in: Stephan Otto / Helmut Viechtbauer (Hg.), Sachkommentar zu Giambattista Vicos »Liber metaphysicus«, München 1985, 9–45. Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris 61989 Jean-Francois Lyotard, Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris 1986 Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, in: Ludwig Feuerbach, Werke in sechs Bänden, hg. von Erich Thies, Bd. 3, Frankfurt am Main 1975, 24 Vgl. Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Erster Teil, München 1982, 148: »Das Vergleichen ist ein legitimer Methodenschritt, sofern er im Zuge einer Rekonstruktion ähnlicher oder sich entsprechender Problemstellungen gesetzt wird, die in verschiedenen Frageweisen angegangen werden können; die Differenz verschiedener Frageweisen ermöglicht deren Vergleich im Hinblick auf eine ähnliche Problemstellung«. Zum Problem der nachschriftlichen Zusätze in der hier benutzten Fassung der Enzyklopädie von 1830 bemerkt Adriaan Peperzak (Selbsterkenntnis des Absoluten, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 13): »In den Zusätzen finden wir meistens ausführlichere Fassungen der Argumentation, welche die Paragraphen in gedrängter aber nicht unvollständiger Kürze enthalten. Wenn die Deduktionen der Zusätze mit denen des gedruckten Textes übereinstimmen, sind sie uns eine Hilfe beim Verständnis der letzteren; wenn sie sich von diesen unterscheiden, gehören sie zu einer früheren Fassung – meistens sind sie Erläuterungen der ersten Ausgabe« (d.h. der Enzyklopädie in der Fassung von 1817). Das moderne Ich, in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in zwei Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Wiesbaden–Zürich 1968, Bd. I, 581 Von solchen »Partisanen« spricht Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne kritische und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München 1997, 119. – Auf dieses Buch wird zurückzukommen sein. erstes kapitel | 377

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S. dazu auch Stephan Otto, Prolegomini ad una filosofia del ricordo, in: Comunità e solitudine. Studi in onore di Aldo Masullo, a cura di Giuseppe Cantillo, Napoli 1996, 37–56 Vertreter der Analytischen Philosophie folgen in der Regel dem extrinsischen Theoriemodell des »Habens« von Erinnerungen, so z.B. Bernard Williams. Angesichts der These John Lockes, das Erinnerungsbewußtsein enthalte doch, »was jemanden für sich selbst zu sich selbst macht« (Versuch über den menschlichen Verstand II, 27, § 10) erklärt Williams: »es ist schwer zu verstehen, was dies bedeutet«, um dann zu folgern, es gebe »keine Möglichkeit, Erinnerungen als Kriterium der eigenen Identität zu verwenden« (Bernard Williams, Probleme des Selbst, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1978, 26 f.). S. dazu die Überlegungen, die Martin Schwab in seiner Studie Einzelding und Selbsterzeugung, in: Manfred Frank / Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität (Poetik und Hermeneutik XIII), München 1988, 35–75 entwickelt hat. Zu diesen Überlegungen vgl. Stephan Otto, Prolegomini ad una filosofia del ricordo (s. Anm. 40), 55 f. Vgl. hierzu das Kapitel »Die Fundierung konkreter Subjektivität im Vernehmen der transzendentalen Regel einer Konvertibilität von Denkbarkeit und Darstellbarkeit« in: Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte, Zweiter Teil (s. Anm. 24), 251–258. Jacques Derrida, Sending: On Representation, in: Gayle L. Ormiston / Alan D. Schrift (edd.), Transforming the Hermeneutic Context, Albany N.Y. 1990, 107– 138. Derrida einnert hier an die Beiträge Henri Bergsons zu den Begriffen présentation und représentation auf einer Sitzung der Societé française de Philosophie im Jahr 1901. – Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, München 1986, 300. Vgl. hierzu Hans-Michael Baumgartner (Hg.), Prinzip Freiheit. Eine Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen transzendentalphilosophischen Denkens, Freiburg–München 1979, und Stephan Otto, Das verspielte Darstellbare, in: Kunstforum 100 (1989) 364–369. Exkurs erstes Kapitel (Seite 63 – 77) C. J. Gerhardt, Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Erster Band, Hildesheim 1960, 61 De beryllo, cap. 16; De docta ignorantia, lib. I, cap. 12 De visione Dei, cap. 8; De mente, cap. 9 Liber de intellectu, Paris 1510 (Nachdruck der zitierten Schriften des Bovillus Stuttgart–Bad Cannstatt 1970), cap. 6, fol. 9v Liber de intellectu, cap. 13, fol. 16v Liber de sapiente, Paris 1510 (s. Anm. 4), cap. 23, fol. 131v. – Vgl. Die Edition des Liber de sapiente von Raymond Klibansky, in: Ernst Casssirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 31963. – Unter den weni378 | anmerkungen

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gen deutschen philosophischen Studien über Bovillus zeichnet sich aus die Arbeit von Tamara Albertini, Die geometrische Darstellung der vollkommenen Erkenntnis in der Philosophie des Charles de Bovelles, in: Tamara Albertini (Hg.), Verum et factum. Beiträge zur Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance zum 60. Geburtstag von Stephan Otto, Frankfurt am Main 1993, 421– 436. Giordano Bruno, Von den heroischen Leidenschaften, übersetzt und hg. von Christiane Bacmeister, Hamburg 1989, 39. – Vgl. dazu Stephan Otto, Die Augen und das Herz. Der philosophische Gedanke und seine sprachliche Darstellung in Brunos »Heroischen Leidenschaften«, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 4 (2000) 1–29. Giordano Bruno, De umbris idearum, a cura di Rita Sturlese, Firenze 1991, 44 f. De beryllo, cap. 2; capp. 7–9; De docta ignorantia, lib. I, cap. 14 Liber de sensu, cap. 5, fol. 58r; Liber oppositorum, cap. 4, fol. 95r De umbris idearum (s. Anm. 8), 45 De imaginum, signorum et idearum compositione (Opera latine conscripta II/3, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1962), 91 De umbris idearum, 75 Noch Giambattista Vico schreibt in seiner Scienza Nuova Prima: »Denn so wie der Buchstabe ›a‹ zum Beispiel ein Charakter der Grammatik ist […], so wie das Dreieck, als anderes Beispiel, ein gezeichneter Charakter der Geometrie ist […], so hat sich herausgestellt, daß die poetischen Charaktere die Elemente der Sprachen gewesen sind, mit denen die ersten heidnischen Nationen gesprochen haben« (zitiert nach Jürgen Trabant, Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie, Frankfurt am Main 1994, 50). Luciana de Bernart, Immaginazione e scienza in Giordano Bruno, Pisa 1986, 63–121 Ars memoriae Jordani Bruni: De umbris idearum (s. Anm. 8), 65; 78. – Vgl. hierzu Ferdinand Fellmann, Bild und Bewußtsein bei Giordano Bruno, in: Klaus Heipcke / Wolfgang Neuser / Erhard Wicke (Hg.), Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos und ihre Voraussetzungen, Weinheim 1991, 17–36. Auch dieser Forscher erkennt Brunos philosophische Begründung der Gedächtniskunst in einer Theorie des »zuständlichen Bewußtseins«, die er indes durch eine »vorprädikative Logik der Phantasie« (21) gesteuert sehen möchte. Die Rede von solcher »vorprädikativen Logik der Phantasie« verführt ihn nun zu der prekären These, »daß bei Bruno das Unbewußte die Realität des Bewußtseins ausmacht« (17 f.). Das »zuständliche Bewußtsein«, das Giordano Bruno seiner ars memoriae unterlegt, ist jedoch, entlang der Führungslinie einer geometrisch figurierenden Charakteristik, durchaus rational und »prädikativ« konturiert: Brunos Philosophieren intendiert keineswegs eine »Logik der Phantasie« (was immer das sein mag), sondern eine »Logik der figurierenden Veranschaulichung«. Nicht anders als Cusanus und Bovillus errichtet er diese »Logik« auf der imaginatio, die er in erstes kapitel | 379

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dem Werk De imaginum, signorum et idearum compositione als spiritus phantasticus und als den »unerschöpflichen Schoß der Formen und Versichtbarungsgestalten« bezeichnet (ebd., 119). Damit knüpft er an das Diktum des Aristoteles (De anima III,7; 431 a 16 f.) an, demgemäß unsere Seele zum Denken nur durch Phantasiebilder hindurch gelangt, und er fügt ausdrücklich hinzu: »erst durch Reflexion und rationalen Diskurs« (mediante discursu atque reflexione) »werden diese Phantasiebilder begriffen« – und zwar am Leitfaden einer »Methode«, welche »die Signifikanten der Dinge« (methodus de rerum significativis, ebd., 95) zu einem hochkomplexen semiotischen Raster bündelt. Von diesem Katalog der Signifikanten darf die ars memoriae nicht abgeschnitten werden; denn alles Erinnern bleibt an das »Auffinden« signifikanter Bilder gebunden, deshalb wird es von Bruno auch eine facultas inventiva (ebd., 95) genannt. Die Liste der Signifikanten, mit denen die memoria arbeitet, enthält nun – in kritischer Parallele zu den zehn aristotelischen Kategorien – zehn Zeichenkonzepte (ebd., 98–100): unter ihnen (und an erster Stelle) den character, den geometrischen Signifikanten, sodann die figura (die im Gegensatz zu einer »Idee«, welche den Gedanken »des Inneren und Äußeren der Dinge« enthält, sich nur auf »äußere«, räumlich sichtbare Gestaltung bezieht), und schließlich die imago, das »Bild«, und die »Ähnlichkeit«, die similitudo. Das semiotische Konzept »Bild« beschränkt sich auf die Bezeichnung der Gattung des in einer Abbildung exakt Darstellbaren, während der Signifikant »Ähnlichkeit« Gattungsgrenzen überschreiten darf und sich insoweit auch von allen anderen semiotischen »Kategorien« unterscheidet. »Ähnlichkeit« ist, beispielsweise, das Zeichen für die künstlerische Darstellung eines Menschen auf einem Porträt – diese similitudo bleibt stets »getragen von der Phantasie« des Betrachters. Von den semiotischen Kategorien »Charakter« und »Bild« sagt Bruno demgegenüber: »sie dienen zum natürlichen, mathematischen und logischen Bezeichnen« (ebd., 101). Doch wie verschieden auch immer die Funktion der zehn Zeichenwerte bestimmt ist: auf ihre jeweilige Weise haben alle eine Darstellung, eine »Repräsentation«, zu leisten (omnia enim quomodocumque repraesentant), und alle lassen sich »auf höchst lebendige und ausdrucksfähige Sichtgestalten zurückführen« (ebd., 100. – Zur Übersetzung des von Bruno aus der mittelalterlichen Erkenntnisphilosophie übernommenen Begriffs species mit dem Terminus »Sicht«- oder »Versichtbarungsgestalt« s. Stephan Otto, Renaissance und frühe Neuzeit, Stuttgart 1984, ergänzte Ausgabe Stuttgart 2000, 258 f.). Giordano Brunos Semiotik bleibt nicht abstrakte Theorie, sondern öffnet sich zu einer Philosophie anschaulicher Darstellung, in welche die »zeichen-inventive« ars memoriae eingebettet ist. Mit dem Interpretament einer »vorkategorialen Logik der Phantasie« ist die Tiefenschärfe der memoriaLehre und der Bewußtseinsphilosophie Brunos nicht erfaßt. Vgl. dazu Stephan Otto, Représentation et ressemblance. Stratégies de la ›repraesentatio mundi‹ dans les modes de pensée de la Renaissance et dans la philosophie cartésienne, in: Emmanuel Faye (ed.), Descartes et la Renaissance, Paris 1999, 235–248 380 | anmerkungen

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So Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl, München 1992, 374 So Willard Van Orman Quine, Natürliche Arten, in: Ontologische Relativität und andere Schriften, aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Spohn, Stuttgart 1975, 157–189 So Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1974, 46–77 De docta ignorantia, lib. II, cap. 2 Vgl. hierzu Stephan Otto, Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt am Main 1992 Rudolf Agricola, De inventione dialectica, Amsterdam 1539 (kritisch hg. von Lothar Mundt, Tübingen 1992), lib. I, cap. 25; 153–165 Aristoteles, Metaphysik 108 a 14. – In seiner Münchner Dissertation Topographie des Ähnlichen. Aristoteles und die gegenwärtige Kritik an Repräsentation, München 2001, hat Gerhard Gruber anhand genauer Textanalysen herausgearbeitet, warum Aristoteles »das Ähnliche« nicht begrifflich faßt, sondern »empfindet, aussagt oder betrachtet« (52); die Kritik an »Repräsentation«, wie sie von Gilles Deleuze und Paul Ricœur vorgetragen wird, führt er zutreffend auf deren »Verbegrifflichung« des Topos »ähnlich« zurück. Beachtenswert ist die Münchner Dissertation von Ruth Hagengruber, Tommaso Campanella. Eine Philosophie der Ähnlichkeit, Sankt Augustin 1994 Tommaso Campanella, Metaphysica, Paris 1638, lib. II, cap. III, art.I, fol. 100 b Ebd., lib. II, cap. III, art.VI, fol. 117 b Stephan Otto, Das Wissen des Ähnlichen (s. Anm. 22), 117–126 Metaphysik 1021 b 6–8: pros ti Tommaso Campanella, Philosophia rationalis. Dialectica, Paris 1638, fol. 152 f. Daß diese Logik der Korrelationalität auf den mittelalterlichen Theologen und Philosophen Raimundus Lullus zurückweist, den Cusanus, Bovillus, Bruno und Campanella kannten und schätzten, sei hier nur angemerkt. Tommaso Campanella, Del senso delle cose, a cura di A. Bruers, Bari 1925, cap. 20: »quante sono le similitudini tanti sono i ricordi; cioè similitudini di sostanza, di tempo, di luogho, di azione, di figura« (zitiert nach Ruth Hagengruber, Tommaso Campanella (s. Anm. 25), 75) Tommaso Campanella, Defensio mathematicorum, in: Metaphysica (edizione critica di Paolo Ponzio, Bari 1994), lib. I, 488 Oeuvres de Descartes, publiés par Charles Adam & Paul Tannery, Paris 1982– 1991 (AT), I, 158. – Beeckmann war ein gründlicher Kenner der Renaissancephilosophie, er hatte Descartes mit den großen Werken des 15. und 16. Jahrhunderts bekannt gemacht. Es stimmt nachdenklich, daß die böse Beurteilung der Autoren der Renaissance durch Descartes mit dem Bruch seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Beeckmann zusammenfällt. Vgl. dazu Saverio Ricci, La fortune de Giordano Bruno en France à l’époque de Descartes, in: Descartes et la Renaissance (s. Anm. 17), 407–440 erstes kapitel | 381

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AT II, 48 AT II, 438 WW, Band 20, 20; 22; 120 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966, 150 AT X, 439; 452. – Vgl. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, übersetzt und hg. von Lüder Gäbe und Günter Zekl, Hamburg 1973, 121; 141. – Jedem Leser der Regulae dürfte die Transkription der »qualifizierenden« Farben Weiß, Blau und Rot in durch Linien jeweils anders strukturierte »quantifizierende« Maßquadrate, wie Descartes sie in der 12. Regel vornimmt, geläufig sein. AT X, 414 Jean-Luc Marion hat in seinem Buch Sur la théologie blanche de Descartes, Paris 1981, das kartesische Verfahren der défiguration vorbildlich analysiert (231– 263) und auf die Formel gebracht: »substituer à la complexité du sensible, opaque à toute intelligibilité, la figure abstraite et donc intelligible, au prix d’une réduction de l’une à l’autre« (246). AT VI, 112 f. AT X, 413 Sigillus sigillorum (Opera latine conscripta II/2, s. Anm. 12), 202 Ein Hinweis auf Jean Piaget mag die »Modernität« dieser Überlegung Brunos verdeutlichen: »Tatsächlich sind Qualität und Quantität untrennbare Begriffe, beide sind, vom genetischen Standpunkt aus gesehen, gleichermaßen ursprünglich und führen in ihrem operativen Gleichgewichtszustand zu einer Solidarität, so daß man die eine nicht ohne die andere definieren kann« (Jean Piaget, Die Entwicklung des Erkennens, Band I: Das mathematische Denken, übersetzt von Fritz Kubli, Stuttgart 1972, 77). Piaget formuliert diese These im Blick auf die »gestaltpsychologische Interpretation der geometrischen Formen« (163 ff.) und bewegt sich damit auf einer Ebene des Denkens, der auch der Figurbegriff der Renaissance zugehört. De imaginum, signorum et idearum compositione (s. Anm. 12), 103 Zum Figurbegriff Brunos vgl. auch Stephan Otto, Figur, Imagination, Intention. Zu Brunos Begründung seiner konkreten Geometrie, in: Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos (s. Anm. 16), 37–50 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. von Martin Heidegger, Halle 1928, 383 Liber de intellectu, cap. 13, fol. 16v Anders wird Kierkegaard es sagen: »Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleidungsstück, das, so schön es auch ist, doch nicht paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unzerschleißbares Kleid, das fest und doch zart anschließt, weder drückt noch schlottert« (Sören Kierkegard, Die Wiederholung, in: Werke, hg. von Ernesto Grassi, Reinbek 1961, Band II, 7). Liber de intellectu, cap. 13, fol. 18r Ebd., cap. 14, fol. 17v De umbris idearum (s. Anm. 8), 51 382 | anmerkungen

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Zweites Kapitel (Seite 79 – 139) Akademie-Ausgabe Bd. XXVIII, 369 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 7 (Akademie-Textausgabe Bd. VII, 141): die sinnliche Anschauung, welche »übrig bleibt«, nennt Kant das »Förmliche der Anschauung«, sie »ist bei inneren Erfahrungen die Zeit«. Kants Rätselkonzept einer »reinen« und gleichwohl »sinnlichen« Anschauung basiert auf seinem transzendentalen Zeitbegriff, der in den Kontext seiner Exilierung der an Geschichte gehefteten memoria gerückt werden muß. Bevor wir diesen Kontext erörtern, richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das Problem des Verhältnisses von »Schema« und »Bild«. Ebd. Kant verwendet in der Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis auch einmal die Formel »adumbratio aut schema« (Akademie-Textausgabe Bd. II, 393); das Werk De umbris idearum des Giordano Bruno dürfte ihm allerdings kaum bekannt gewesen sein. Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinnes. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, aus dem Englischen von Ernst Michael Lange, Meisenheim 1981, 26 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 31965, 183; 94 Georg Picht, Von der Zeit, Stuttgart 1999, 379 Hegels »Aufhebung« von Bildern in Zeichen, mit denen die Intelligenz das Insich-gehen des Geistes, die Er-innerung, zu einem »begriffsgemäßen Wissen bestimmt« (Enz § 445), erweist sich damit unverkennbar als Kantischer Rest in seiner spekulativen Philosophie des Geistes. Eine ausführliche Analyse der Zeittheorie Kants sowie des in ihr hinreichend rätselhaft bleibenden Verhältnisses von empirischer Zeit und transzendentaler Zeitbestimmung hat Wilhelm Lütterfelds vorgenommen (Kants Dialektik der Erfahrung. Zur antinomischen Struktur der endlichen Erkenntnis, Meisenheim am Glan 1977, 216–340 u.ö.). Diese profunde Darstellung der Zeitproblematik (bei Kant und in der Kantliteratur) läßt die Frage nach der Erinnerung und ihrem besonderen Zeitlichkeitsmodus völlig außeracht – verständlicherweise, insofern auch Kant selber diese Frage nicht erörtert; eben das macht es indes erforderlich, sie an Kant zu richten. Zu Kants Begriff der »Erscheinung« bemerkt Ernst Topitsch sehr richtig: die »Schwächen dieser ganzen Konstruktion« liegen in der »Übertragung des aus der äußeren Wahrnehmung entlehnten Affektionsmodells auf das innere seelische Erleben. Nur von äußeren Gegenständen kann behauptet werden, daß sie unsere Sinne »affizieren« und uns so »erscheinen«. Beispielsweise kann man das Wahrnehmungsbild einer Rose als Ergebnis eines solchen Affektionsvorgangs erklären. Dagegen ist das Phantasie- oder Traumbild der Rose gerade dadurch charakterisiert, daß hier der empirisch reale Gegenstand fehlt, welcher in uns bestimmte Sinneseindrücke hervorzurufen vermöchte. In solchen und ähnlizweites kapitel | 383

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chen Fällen ist daher auch der von Kant gebrauchte empirische Erscheinungsbegriff nicht anwendbar; eine generelle Übertragung des Affektionsmodells auf die innere Erfahrung erweist sich darum als unzulässig« (Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie. Kant in weltanschaungsanalytischer Beleuchtung, Hamburg 1975, 62). – A fortiori hat dieses kritische Notat Gültigkeit auch für das Erinnerungsbild, das aber sowohl vom Phantasiebild als vom Traumbild noch einmal zu unterscheiden ist; denn dem Erinnerungsbild fehlt keineswegs der Bezug auf reale Gegenstände oder Geschehnisse. Dieser Bezug wird im Erinnerungsbewußtsein jedoch nur »re-präsentiert« oder »wieder-vergegenwärtigt«. Auch dies verweist auf die eigenartige »Zeitlichkeit« der Erinnerung, die in Kants Erscheinungsmodell nicht unterzubringen ist. Ich werde noch beschreiben, wie vor allem Max Scheler in seiner phänomenologischen Erinnerungsphilosophie sich mit dieser Wiedervergegenwärtigung auseinandergesetzt hat. Richard Schaeffler ist zuzustimmen, wenn er ausführt, daß »die Lehre von der Idealität der Zeit […] das Problem der Freiheit unlösbar macht: Freiheit als Vermögen der Sittlichkeit setzt voraus, daß das handelnde Subjekt selbst veränderlich und also zeitlich sei; der Idealismus der Zeit nimmt das freie Subjekt als ansichseiendes Wesen von der Zeitform aus und beschränkt diese auf den Zusammenhang von Erscheinungen […] Der Idealismus der Zeit erweist sich nicht als die Auflösung, sondern als der Ursprung der entscheidenden Antinomie der Freiheit« (Die Struktur der Geschichtszeit, Frankfurt am Main 1963, 285). – Aus dem Blickwinkel der memoria und der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins geraten Zeit und Zeitlichkeit in eine die Kantische Denkform sprengende Perspektive; das hat Hegel bereits deutlich gemacht in dem Satz: »In der Erinnerung fassen wir unsere Subjektivität, unsere Innerlichkeit, ins Auge und bestimmen das Maß der Zeit nach dem Interesse, welches dieselbe für uns gehabt hat« (Enz § 452, Zusatz). So auch Jean-Jaques Wunenburger, Filosofia delle immagini, Torino 1999, 88: »Kant ha inserito l’immagine nel processo cognitivo, l’ha però, in un certo senso, privata della sua vitalità e generatività, a beneficio di una funzione piú logicistica«. Der Autor erblickt hierin »il limite del fondo del kantismo, il cui risvolto metafisico è stato messo in luce da Heidegger: il non poter determinare l’origine dello schema e dell’autoinvestimento temporale dell’immaginazione« (89). – Ich zitiere hier und im Folgenden die italienische Übersetzung des französischen Originals Philosophie des images, Paris 1997. Die kurze und bündige Grundlagenformel der ars memoriae findet sich in der von einem anonymen Autor der Spätantike verfaßten (fälschlich dem Cicero zugeschriebenen) Rhetorica ad Herennium (Cambridge/Mass. – London 1954, 208): constat igitur artificiosa memoria ex locis et imaginibus. Die loci werden hier als Gebäude oder Räume verstanden, die imagines als deren Bilder; im Laufe der Ideengeschichte werden die loci zu »Sprachörtern« oder Topoi, die wiederum anhand von Bildern erinnert werden können. An diese Entwicklung 384 | anmerkungen

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knüpft der gegenwärtige Diskurs über »Mnemotechnik als Text« an, vgl. dazu Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst: Raum-BildSchrift, Frankfurt am Main 1991. – Das zur ars memoriae gehörige und sie in entscheidender Weise strukturierende Urteil wird von Giordano Bruno scrutinium genannt. Hans-Georg Gadamer, Anschauung und Anschaulichkeit, in: Neue Hefte für Philosophie 18/19, Göttingen 1980, 1–13; hier: 3. – Gadamer erinnert daran, daß mit der aristotelischen aisthesis, die »immer auf ein Allgemeines geht«, der »abstrakte Gegensatz von Anschauung und Begriff überschritten« ist (ebd., 4) und plädiert dafür, Kants Einsichten »von den Fesseln einer Entgegensetzung von Anschauung und Begriff zu befreien« (ebd., 8). Verwunderung und Bestürzung zugleich müssen sich einstellen bei der Lektüre der Gedanken, die Dieter Henrich zum Thema Bewußtes Leben (Stuttgart 1999) vorgelegt hat. Erinnerung oder gar Erinnerungsbewußtsein haben da keinen Platz gefunden – sieht man von dem kleinen Satz ab: »Das Andenken der ergriffenen Erinnerung ist Sammlung und erwägendes Innesein« (96). Auch hier findet die oben (Einleitung, Anm. 2) zitierte kritische Rede von einer »eigentümlichen Erinnerungs-Vergessenheit« der Philosophie ihre Bestätigung. In seinem Buch Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992, hatte Henrich, unter Bezugnahme auf Erinnerung und Dankbarkeit, notiert: »Die Aufklärung dieser Einheit ist bisher nicht gelungen. In nicht wenigen philosophischen Schulen war sogar die Tatsache verdrängt, daß damit eine Aufgabe gestellt ist, deren Schwierigkeit allein schon etwas über die Situation besagt, in der die Philosophie sich zu orientieren hat. Erst seit sehr kurzer Zeit scheinen die Vorurteile an Kraft zu verlieren, die dahin gewirkt haben, die Realität von derart wesentlichen Sachverhalten und Problemen bloß deshalb zu bestreiten, weil die Theorie keinen Ansatz zu ihrer Erklärung hat finden können« (617 f.). Zu Federico Zuccaro (1543–1609) s. nicht nur das Kapitel »Manierismus« in Erwin Panofskys Buch Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 71993, 39–56, sondern auch Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1957, 48–51, und ders., Manierismus in der Literatur, Hamburg 1959, wo bereits auf Kants Anerkennung der »Manier« als ausgezeichnetem modus aestheticus kurz verwiesen wird. Das Buch wurde 1607 in Turin gedruckt. Nachdruck in: Scritti d’arte di Federico Zuccaro, a cura di D. Heikamp, Firenze 1961 L’Idea II, 47: … diviene insieme interiormente ed esteriormente luce scorta e guida di ogni scienza e prattica … In ihrer bemerkenswerten Studie Disegno e rappresentazione in Federico Zuccari (in: Tamara Albertini (Hg.), Verum et factum. Beiträge zur Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance, Frankfurt am Main 1993, 477–491) spricht Miranda Alberti zutreffend von einer »funzione di sintesi del disegno« (487). In diesem zweites kapitel | 385

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Essay setzt sich die Verfasserin auch kritisch mit der Literatur zu Zuccaro auseinander. In einem neueren, strikt »kantianisch« gehaltenen Kant-Kommentar (Otfried Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003) findet sich ein langes Kapitel mit der Überschrift »Kants Metaphern« (319–330). Der Verfasser führt da ein opulentes Tableau der von Kant in Gebrauch genommenen Redewendungen metaphorischen und synekdochischen Charakters vor, anhand derer er nachzuweisen versucht, daß bei Kant »zur Anerkennung der Anschauung jedenfalls die der Anschaulichkeit und Veranschaulichung hinzutritt« (320), ja daß Kant »die Sinnlichkeit nicht bloß wie in der »Ästhetik« erkenntnistheoretisch, sondern zusätzlich durch Bilder und Gleichnisse rehabilitiert« (319). Über das Spannungsverhältnis von Wort und Bild schweigt der Autor sich indes ebenso aus wie über die Differenz von Bild und Zeichnung, von Kants problematischem »reinen Bild« ist keine Rede, und Bruno Liebrucks, der im 4. Band seines großangelegten Werkes Sprache und Bewußtsein (Frankfurt am Main 1968) immer wieder darauf hingewiesen hat, daß »die logische Form des Denkens«, der Kant sich verpflichtete, noch längst nicht auch »eine sprachliche Form des Denkens« ist (ebd. 295), wird nicht einmal erwähnt. Der Umgang mit Kant, wie dieser Verfasser ihn pflegt, geht damit an fundamentalen Fragestellungen »der modernen Philosophie«, auf deren »Grundlegung« durch Kant er doch bestehen möchte, in befremdender Art und Weise vorbei. Daß Kant »die Sinnlichkeit rehabilitiert«, hatte nun schon Jacobi mit Fug und Recht bestritten (s. den folgenden Abschnitt III zur »figürlichen Synthesis«), und daß der Kantische »Verstand« die sinnlich-veranschaulichende Sprache lediglich als »rein technisches Mittel der Mitteilung seiner Operationen benutzt«, nämlich »Mannigfaltigkeit in seiner Einheit zu versammeln«, darauf hat Liebrucks nachdrücklich hingewiesen (466). Eine unkritische Verknüpfung des Kantischen Quasi-Begriffs »Anschauung« mit dem Problemtitel »Anschaulichkeit und Veranschaulichung« läuft schließlich Gefahr, die strikt transzendentalen Zielsetzungen dieses Philosophen am Ende zu verfehlen. Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 2003, 104. Hutter notiert sodann: »Das Suchen ist nämlich eine zunächst spontane Tätigkeit, die aber in sich selbst limitiert ist, weil sie sich nicht aus sich selbst heraus vollenden kann. Das Suchen ist dabei (wie das Fragen) eine menschliche Tätigkeit, die bei aller notwendigen Aktivität eines nicht aus sich selbst erzeugen kann: das Gesuchte (die Antwort)«, und er fährt fort: wenn die Suche mißlingt, dann liegt das an einem Moment, »das nicht in der Spontaneität aufgeht«, nämlich an der sinnlichen Anschauung, »auf die sich das spontane Denken im Erkennen bezieht« (105). – Die von Hutter hier vorgenommene Eintragung eines Frage-Antwort-Spiels in das von Kant immer schon vorausgesetzte Verhältnis einer »Korrespondenz« von spontanem Verstand und rezeptiver Anschauung vermag m.E. nicht zu überzeugen. Zum einen, weil die Antwort auf eine Frage 386 | anmerkungen

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dieser Frage nicht unbedingt korrespondieren muß; sie kann eine völlig neue Fragedimension eröffnen, die das fragend »Gesuchte« von neuem in Frage stellt. Zum anderen, weil der »suchende« Verstand – Kants Sprache ist auch hier abgründig ungenau – letztlich gar nicht die Anschauung in den Sinnen sucht, sondern einzig (gerade weil er nicht anzuschauen vermag) die »Beifügung« des angeschauten Gegenstandes zum Verstandesbegriff, um solchermaßen die Anschauung zu Verstande zu bringen. Der die Anschauung »suchende« Verstand kehrt mithin zu sich selber zurück – er gibt sich selber eine Antwort auf seine Frage. Hutter ist im Recht, wenn er festhält, bei Kant entbehre das Verstandesdenken der »Anschaulichkeit«; er benennt damit indes nur einen Mangel, der die Spontaneität des Verstandes betrifft. Er behält zudem Recht, wenn er darlegt, daß bei Kant »erst ein Urteil« die Spontaneität des Verstandes mit der Rezeptivität der Sinne »verbindet« (117). Dabei entgeht ihm jedoch die eigentliche Problematik des erkenntnistheoretischen Kritizismus. Sie liegt darin, daß auch der Kantischen »Anschauung« – die immer nur »die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden« (B 75) – das Moment einer »Anschaulichkeit« der Gegenstände selber fehlt. Aber nicht nur die »Anschauung« der uns affizierenden Gegenstände ist von deren eigener »Anschaulichkeit« streng zu unterscheiden; »Anschaulichkeit« geht prinzipiell in bloß wahrnehmender »Anschauung« nicht auf. »Anschaulichkeit« ist die Mitte zwischen Anschauung und Verstand, eine Mitte nämlich, in welcher die Rezeptivität der Anschauung und die Spontaneität des Verstandes sich miteinander verbinden können – noch vor dem Einsatz eines sie »synthetisierenden« Urteils (das, hierin wäre Kant zuzustimmen, die Gegenstände der Anschauung dem Verstandesbegriff in der Tat nur »beizufügen« vermag). Kurzum: Kants Verstand, der »in den Sinnen die Anschauung suchen muß«, überspringt den Zwischenraum zwischen der Anschauung und sich selber, die Dimension der »Anschaulichkeit«, in welcher ein Verstand, dem das Moment der Anschaulichkeit nicht fehlt, mit einer Anschauung sich verbindet, die die Anschaulichkeit des Angeschauten nicht übersieht. Die Erinnerung (die der unmittelbaren Anschauung von Gegenständern oder Tatsachen nur folgt) ist eben dieser Dimension veranschaulichender Anschaulichkeit eingeschrieben. Akademie-Textausgabe Bd. VII, 140 f. Obwohl mit einem »neuen« erkenntnistheoretischen Kritizismus verfugt, muß die Affinität der Kantischen synthesis speciosa zum »alten«, von Cusanus konzipierten Begriff einer geistigen species ins Auge fallen, einer »Versichtbarungsgestalt«, mit der das Denken sich das Seiende als Gesehenes veranschaulicht. Vgl. hierzu das Kapitel Die Geistmetaphysik der »Versichtbarung« der Welt, in: Stephan Otto, Renaissance und frühe Neuzeit, Stuttgart 1984 (erweiterter Nachdruck Stuttgart 2000), 237–336. Akademie-Textausgabe Bd. VII, 177 Vgl. Anm. 20. – Nicht minder problematisch, um nicht zu sagen irreführend, ist die Behauptung Düsings, Kants »begrifflich geregeltes Schema eines Hundes« zweites kapitel | 387

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sei die »anschauliche Vorzeichnung oder Skizze eines gewissen vierfüßigen, felltragenden, des Bellens fähigen Säugetiers« (Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München 1997, 176). Das Kantische Schema ist weder anschaulich noch überhaupt sinnlich; seine Sinnlichkeit bleibt »reine«, »transzendentale« Sinnlichkeit, jenseits aller »Empfindung«; und seine Funktion erschöpft sich darin, jedwede (mögliche) Anschaulichkeit zu »regeln« und ihr »Form« zu geben. Kant selber spricht niemals von einer »Anschaulichkeit« des Schemas; seiner transzendentalen Systematik gemäß redet er von einer »Form der sinnlichen Anschauung« (B 150) und desgleichen von einer »Synthesis des Manigfaltigen der sinnlichen Anschauung« (B 151). In beiden Fällen bringt der genitivus obiectivus die transzendentale Differenz des Geformten zu seiner »Form« und des Synthetisierten zu seiner »Synthesis« zum Ausdruck. Das Schema bleibt darum eine »reine« Ermöglichungsinstanz: ohne selber »anschaulich« zu werden, soll es die »Möglichkeit von Anschaubarem« eröffnen (H. Mörchen, Die Einbildungskraft bei Kant, Tübingen 21970, 116). Hierin gründet auch Kants Begriff einer »reinen Anschauung a priori« als einer »Antizipation« des Anschaubaren (vgl. »die Antizipationen der Wahrnehmung«, B 209); dieses Konzept der »Antizipation« soll dazu dienen, die »Anwendung« des Schemas auf das Schematisierte zu rechtfertigen. Kants Intention zielt auf eine Anschauungsgebundenheit der begrifflichen Erkenntnis – und vermag ihr Ziel wiederum nur »transzendental« zu erreichen, mündet sie doch in das Rätsel einer »Anschauung überhaupt« (B 151). Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Leipzig 1816 (textkritische Edition der Schrift in: Werke, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Bd. 2.1, Hamburg 2004), Bd. III, 97 mit Anmerkung; 98; 107. Ebd., 108 Ebd., 109 Ebd., 122; 120 Ebd., 110 f. Ebd., 111 f. Vgl. Anm. 21 Jacobi, a.a.O., 157 David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus, Werke, Bd. II, 285 (Werke, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Band 2.1, Hamburg 2004). – Ohne sich auf Jacobi zu beziehen, aber einigermaßen genau auf der Linie von dessen Kantkritik notiert Wilhelm Lütterfelds: mit seinem »bloßen Strukturwissen«, einem Wissen nämlich lediglich von »subjektiven Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung« trägt Kant »weder der Erkenntnisleistung der Erfahrung Rechnung, die das individuelle, subjektunabhängige Dasein vorzustellen hat«, noch hält dieses Strukturwissen »dem strengen Kriterium einer anschaulich-synthetischen Vorstellung Stand« (Kants Dialektik der Erfahrung, 154. Zu dieser Studie vgl. unsere Anm. 9). Für Jacobi besteht die »Vollkommenheit« des Bewußtseins in einem »persönli388 | anmerkungen

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chen« Bewußtsein, das er »zeitlich« nennt und einen »aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetzten Begriff« (Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers, Werke, Bd. I, 277) S. oben Anm. 13 Antoine Arnauld, Die Logik oder die Kunst des Denkens, aus dem Französischen übersetzt von Christos Axelos, Teil I, Kap. 5, Darmstadt 1972, 46 Vgl. oben Anm. 13 Meiner Übersetzung liegt zugrunde die kritische Ausgabe seiner Ars memoriae in: Giordano Bruno, De umbris idearum, a cura di Rita Sturlese, Firenze 1991, 96. – Der vorgeführte Text gehört zum eigentlichen, philosophischen Kern der Gedächtniskunst Brunos; dieser wird allerdings nahezu verdeckt von den »mnemonischen Systemen«, die der Nolaner um ihn herum gruppiert und damit nahezu verhüllt hat. Die »Systeme« basieren auf anschaulichen Figuren wie Quadrat, Kreis und Dreieck, und in sie sind Wörter, Bilder und Dinge eingetragen, mit denen der menschliche Geist sich beschäftigt. Wer die mnemonischen Schriften des Nolaners (der sich nach seinem Geburtsort Nola in Unteritalien so nannte) aufschlägt, wird sich verwundert die Augen reiben angesichts der Rätselhaftigkeit solcher Figuren und der ihnen von Bruno zugemessenen Bedeutungen: sie sollen als Götterbilder fungieren, als Sternbilder, als Bilder für sämtliche Dinge im Universum und als Speicher der dies alles bezeichnenden Sprache. In ihrem Werk The Art of Memory (London 1966) hat Francis Yates diese mnemonischen Systeme als »magische oder talismanische Kompositionen« (331) verstehen wollen und damit von ihrer philosophischen Intention, der Erzeugung von Anschaulichkeit in der Seele und im Bewußtsein, abgelöst. Ihr Auslegungsvorschlag vermag eine kritisch-philosophische Brunoforschung aber nicht mehr zu überzeugen, die längst dahin gelangt ist, »von der Interpretation der britischen Gelehrten Abschied zu nehmen« und die betont, daß Brunos in der Tat oft skurrile »Gedächtnissysteme« in dem »Prinzip einer intensiven innerlichen Veranschaulichung« gründen, und daß Bruno damit zur Analyse »der symbolischen Natur des Geistes« gelangt ist, »den er als spontane, dynamische und unendliche bilderzeugende Tätigkeit interpretierte« (Rita Sturlese, Giordano Brunos Schrift De imaginum, signorum et idearum compositione und die philosophische Lehre der Gedächtniskunst, in: Klaus Heipcke, Wolfgang Neuser / Erhard Wicke (Hg.), Die Frankfurter Schriften Giordano Brunos und ihre Voraussetzungen, Weinheim 1991, 51–73, hier: 70;72). Eine gründliche Analyse der Erkenntnisphilosophie Brunos hält fest, daß Francis Yates die epistemologischen Strukturzüge der ars memoriae »in un contesto ad essi fondamentalmente estraneo« gerückt hat (Leen Spruit, Il problema della conoscenza in Giordano Bruno, Napoli 1988, 14). Ebd., 66. – »La memoria diventa quindi la facoltà-tramite fra senso e intelletto […] indebitamente separati nel quadro delle gnoseologie dualiste« (Luciana de Bernart, Immaginazione e scienza in Giordano Bruno, Pisa 1986, 77). – Jacobis Rede von einer »Vollkommenheit« des Bewußtseins aus »Sinn und Verstand« zweites kapitel | 389

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soll hier keineswegs »doxographisch« aus diesen Überlegungen Brunos hergeleitet werden; festzuhalten ist indes, daß Jacobi der Philosophie des Nolaners intensive Aufmerksamkeit geschenkt hat und einen Großteil von dessen Werken sogar besaß. Die Bibliothek F. H. Jacobis. Ein Katalog, bearbeitet von Konrad Wiedemann unter Mitwirkung von Peter-Paul Schneider, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, verzeichnet unter den Nummern 593–602 die Schriften Brunos, die Jacobi erworben hatte, darunter das Buch De umbris idearum mit der Ars memoriae. Ebd., 97 Ebd., 101 Über die Seele III, 2; Über Gedächtnis und Erinnerung, 2; Metaphysik I, 1 Cicero, Topik II, 6–8 Saverio Ricci hat seinem monumentalen Werk La fortuna del pensiero di Giordano Bruno 1600 – 1750, Firenze 1990, eine aufschlußreiche Studie hinzugefügt, die das kenntnisreich nachweist: La ricezione del pensiero di Giordano Bruno in Francia e in Germania da Diderot a Schelling, in: Giornale critico della filosofia italiana 70 (1991), 431–465. So Alfred Bäumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Tübingen 21967, 12; 253 De umbris idearum, 65 Alfred Bäumler, Das Irrationalitätsproblem, 254 Ebd., 169 Kritik der Urteilskraft, § 51. – Kant hat seiner Anthropologie eine »Apologie für die Sinnlichkeit« eingefügt (§§ 8–11), in welcher auch er von einer »Nacktheit des Verstandes« spricht, die aber nicht als »Dürftigkeit« zu verstehen sei, wie die »Lobredner« der Sinnlichkeit behaupten. Er erklärt: die Sinne »verwirren nicht«, »sie gebieten nicht über den Verstand«, »sie betrügen nicht«, und er fährt fort: »Zwar giebt es Urteile, die man eben nicht förmlich vor den Richterstuhl des Verstandes zieht«, sondern die »unmittelbar durch den Sinn dictiert zu sein scheinen«. Doch umgehend fügt er hinzu: solche Urteile »kommen in der That nicht aus den Sinnen, sondern aus wirklichen, obzwar dunkelen Überlegungen des Verstandes«; auf derartige Überlegungen erheben die Sinne »keinen Anspruch«. De oratore III, 53, 202. – Die englische Übersetzung gibt die subiectio ad adspectum mit den Worten »almost visual presentation« wieder (The Loeb Classical Library, tom. 349, London 1968, 160 f.). Institutio oratoria VIII, 3, 61 (Ausbildung des Redners, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, 2. Teil, Darmstadt 21988, 177) Ebd. IX, 2, 40 (Die Ausbildung des Redners, 2. Teil, 287) Metaphysik VII, 2; 1008 b 31 f. Rodolphe Gasché, Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main 1994, 152–174, hier: 162 390 | anmerkungen

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Otfried Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft (vgl. Anm. 20), 82 Husserliana (= Hua) Bd. X, 32 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000, 53 Nicht als erster und nicht als letzter hat Theodor Adorno dieses Konzept scharf kritisiert: es »behandelt Gedachtes, als sei es vorweg in einer wie immer modifizierten Erfahrung anschaulich«, und er erblickt in der »kategorialen Anschauung« Husserls »die paradoxe Spitze seines Denkens«, die irrige Behauptung nämlich einer »Indifferenz, in welcher das positivistische Motiv der Anschaulichkeit und das rationalistische des Ansichseins idealer Sachverhalte aufgehoben werden soll« (Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt am Main 1972, 202; 204). Adorno verkennt hier, daß Husserls Insistieren auf »Anschaulichkeit« keineswegs positivistischen Motiven entspringt, sondern einer durchaus berechtigten Kantkritik. Andererseits aber hält Adorno sehr richtig fest, daß auch eine »kategoriale Anschauung« nicht – wie Husserl will – auf Bilder oder Verbildlichungen verzichten kann; denn nur dann, so notiert Adorno, wenn kategoriale Begriffsmomente »ein objektiv-ideales Sein abbilden«, kann dieses Sein auch »in einem wie immer gearteten Sinn zur Anschauung gelangen« (ebd., 207). Adornos Husserlkritik verweist damit – wenngleich aus einer anderen Optik – auf eben das, was ich das in dieser phänomenologischen Philosophie zu konstatierende »seltsame Mißverhältnis« von Veranschaulichung und Verbildlichung nannte. Eine Veranschaulichung bewußten Lebens und Erlebens kann ohne Rekurs auf Verbildlichungen nicht gelingen – eben darum bleibt die Frage nach den Bildern in der Erinnerung unabweisbar. Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, hg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 41972, 419 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 1986, 288 Logische Untersuchungen, Bd. II/1, Halle 21913, 500-501; 421–423. – Dem aufmerksamen Leser dieser Seiten muß auffallen, daß Husserl hier die »Anschaulichkeit«, dieses »anschauliche Gegenwärtighaben« von Gedachtem und dinglich Gegenständlichem, einzig mit Hilfe einer »Einklammerung« der Verbildlichungen im Bewußtsein überhaupt zu bestimmen vermag. Höchst aufschlußreich ist die Anmerkung, die er seinen Überlegungen hinzufügt: »Wir lassen die, genau besehen, uneigentliche und in der Bildertheorie unrichtig, weil eigentlich interpretierte Rede vorläufig passieren« (ebd., 422). Die phänomenologisch eingeforderte Abhebung der »Anschaulichkeit« von aller »Bildlichkeit« findet mithin ihren Ausweis einzig in der Differenz von »eigentlicher« und »uneigentlicher« Redeweise – und die »eigentliche« Rede von »Anschaulichkeit« kehrt zur »uneigentlichen« Rede über »Bildlichkeit« denn auch lediglich insofern zurück, als die »fundierenden Akte« der »Veranschaulichung« es sein sollen, welche eine »bildliche Vergegenwärtigung« allererst »konstituieren« (ebd., 424). Eine Umkehrung dieses Konstitutionsverhältnisses bleibt ausgeschlossen, niemals darf es ein Bild sein, das Anschaulichkeit »konstituiert« zweites kapitel | 391

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– das »anschauliche Gegenwärtighaben« fungiert »come elemento anteriore ad ogni immagine« (Jean-Jacques Wunenberger, Filosofia delle immagini, 120). Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Hua Bd. III/1), 5; 13; 21; 42; 43; 46; 50 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua Bd. VI), 108; 127; 130; 296 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit (s. Anm. 61), 46 Jean-Jacques Wunenburger, Filosofia delle immagini, 121 Hua Bd. III/1, 148 Ebd., 120: »Realität und Welt sind […] Titel für gewisse Einheiten des Sinnes, bezogen auf […] Sinnesgültigkeit ausweisende Zusammenhänge des absoluten, reinen Bewußtseins«. Ebd., 208: »Ein zweiter immanenter Baum oder auch ein inneres Bild des wirklichen, dort draußen vor mir stehenden Baumes ist doch in keiner Weise gegeben«; die »Konstruktion eines Abbildungsbewußtseins« enthält für Husserl »dasselbe Problem in sich, das durch die Konstruktion gelöst werden sollte«, insofern auch sie »die Unterscheidung zwischen immanentem und wirklichem Objekt fordert« und dadurch die »Einstimmigkeit« der Intentionalität des Bewußtseins zerstört würde: eine »erste« Intentionalität müßte sich auf das »wirkliche«, eine »zweite« hätte sich auf das »immanente« Objekt zu richten – die phänomenologische These eines intentional in sich selber »beschlossenen« Bewußtseins wäre damit unterlaufen. – Daß wir »bildlich-symbolische« Vorstellungen von wahrgenommenen Dingen de facto haben, das kann freilich auch eine Phänomenologie des »reinen« Bewußtseins nicht leugnen; sie vermeint dieser Tatsache indes zu entkommen, indem sie jede »Verbildlichung« der »Modifikation« zu einer »schlichten Vergegenwärtigung« des Wahrgenommenen im »reinen Erlebnis« unterwirft (ebd., 90; 208). »Husserl mantiene uno iato tra ricettività del mondo e atto intenzionale di costituzione temporale della rappresentazione, che si coniungono alla fine per formare la coscienza tetica dell’oggetto« (Jean-Jacques Wunenburger, Filosofia delle immagini, 120). Ebd., 127–129. – »Cosí, se guardare il mondo dipende pur sempre da un atto del soggetto, il mondo è però sempre già là, nella sua trascendenza originaria; e attraverso la propria esteriorità primaria si dà a lui solo, da sentire e da pensare nell’atto stesso del suo mostrarsi a lui, a un soggetto che, scoprendolo, si cancella per lasciargli l’intera scena, in una sorta di epoche delle immagini: una scena occupata dalla sua verità assoluta« (Jean-Jacques Wunenburger, Filosofia delle immagini, 120 f.). Ebd., 142–144 Ebd., 209 Ebd., 92 Ebd., 65; vgl. auch Hua Bd. VI, 78 f. Hua Bd. VI, 151; 305 Hua Bd. III/1, 65; 68; 70 392 | anmerkungen

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Ebd., 78; 79; 98 Ebd., 105 Wissenschaft der Logik II (Werke in zwanzig Bänden, Bd. 6, Frankfurt am Main 1969), 353: »Der Ausdruck Mitte (medius terminus) ist von räumlicher Vorstellung hergenommen und trägt das Seinige dazu bei, daß beim Außereinander der Bestimmungen stehengeblieben wird«, aber derart, »daß die Einheit der Extreme in ihm gesetzt ist«. – »An die Stelle einer vermittelnden Mitte, die vorgegebene Geltung und subjektiv zugemessene Geltung einen und trennen könnte, rückt Husserl das Mittel der phänomenologischen Methode: diese wird zum Vehikel des Sprunges der Subjektivität in die Lebenswelt, zum Vehikel alles Geltens selber« (Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Erster Teil, München 1982, 122). Hua Bd. III/1, 105 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, 140: »C’est à l’empire de la métacatégorie de la modification qu’on peut attribuer la tendance générale de la phénoménologie […] il en résulte que toute dialectique […] et que toutes les polarités […] se trouvent en quelque sorte aplaties, amorties sous le manteau de l’idée de modification«. Hua Bd. III/1, 74 Ebd., 48 Ebd., 233–236 Ebd., 251 f. »Das Erinnerungsbild dient mir«: diese Redewendung Husserls knüpft sich an Überlegungen Bergsons in dessen Werk Matière et Mémoire, Paris 1896. Bergson fragt: »Wozu dienen diese Erinnerungsbilder? Werden sie nicht […] den praktischen Charakter des Lebens verderben, werden sie nicht Traum in die Wirklichkeit mengen? So würde es ohne Zweifel sein, wenn nicht unser jeweiliges Bewußtsein […] aus der Schar der vergangenen Bilder alle die ausschaltete, die sich in die gegenwärtige Wahrnehmung nicht einordnen und sich mit ihr nicht zu einem nützlichen Ganzen verbinden lassen«. – Zu Bergsons Werk Materie und Gedächtnis s. den Abschnitt »Über Bergsons Universum der Bilder« im fünften Kapitel meines Buches. Hua Bd. X, 4; 29; 39; 59 f. Ebd., 23–29 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit, aus dem Französischen von Andreas Knop, München 1991, 46; 49; 51 Ebd., 49 Hua Bd. X, 32 Ebd., 333 Ebd., 7 Paul Ricœur, Die erzählte Zeit (s. Anm. 89), 42. – Die Paradoxalität der Husserlschen Phänomenologie ist strukturell eng verknüpft mit dem Theorem einer »Anschaulichkeit ohne Bilder«. Die Exilierung des Bildes aus der »Veranschauzweites kapitel | 393

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lichung« will Husserl kompensieren mit einem Begriff der »Erscheinung«, der ihm selber »einige Beschwerden« bereitet hat; denn »dieselbe Erscheinung«, so gibt er zu, habe ich »in der Wahrnehmung, in der Erinnerung, in der Phantasie« – und zu helfen weiß er sich angesichts solcher »Beschwerden« wiederum einzig mit dem deus ex machina der »Modifikation«, die es erlauben soll, zwischen einer unmodifizieren und einer modifizierten Erscheinung zu unterscheiden (Hua Bd. X, 288 f.). Weil aber auch diese Begriffsverschiebung nichts klärt, entscheidet er sich schließlich dazu, das Wort »Erscheinung« durch die Vokabel »Ablaufsphänomen« zu ersetzen (ebd., 27). Transportierte die »Erscheinung« noch eine wenigstens mögliche Verwandtschaft zum »Bild«, so war nun mit dem »Ablaufsphänomen« das endgültige Verdikt über alles Bildliche gesprochen. – Auf die »Zweideutigkeit« der Husserlschen Rede von »Erscheinung« macht auch Manfred Frank, Zeitbewußtsein, Pfullingen 1990, 31 aufmerksam. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort, aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München 21994, 74; 250; 308 Hua Bd. X, 34 Confessiones XI, 18; 23 Hua Bd. X, 3 Ebd., 36; 37 Ebd., 41 Ebd., 58 f. Ebd. Der Band XXIII der Husserliana, zusammengestellt von Eduard Marbach und 1980 publiziert, enthält Husserls nachgelassene Forschungsnotizen aus den Jahren 1898 bis 1912 zum Themenkreis »Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung«; ihnen sind die Schritte abzulesen, mit denen Husserl, sich immerfort korrigierend, vom »Bildbewußtsein« zum »Zeitbewußtsein« gelangt. Von Interesse sind hier insbesondere Husserls Überlegungen zum Gedanken »Ich«. Während es 1898 noch heißt: »Entschieden leugnen muß ich nun, daß dieses rein geistige Ich im wirklichen anschaulichen Vorstellen die geringste Rolle spiele, daß dieses Ich also den phänomenalen Beziehungspunkt für irgendeine Wahrnehmung ausmache«, Husserl mithin »die philosophische Fiktion des reinen Ich bekämpfen« will (ebd., 200), und noch 1905 – zur Zeit der Vorlesungen Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins – sich der Eintrag findet, auch als Träger des »Bildlichkeitsbewußtseins« bleibe das Ich außer Betracht (ebd., 77), ist schließlich 1912 die Rede vom »Ich in der Erinnerung« und von einem »Ich im Bild«: »Das Erinnerungsbewußtsein, das Ich in der Erinnerung, ist reproduktiv-setzend. Das Ich im Bild […] ist perzeptives Ich, aber setzungslos« (ebd., 468). Weiterhin lautet eine Notiz aus dem Jahr 1912: »Ob ich nun von mir ein eigenes ›Selbstbewußtsein‹ habe und etwa Ich sage oder nicht, sicher ist es, daß zum Bereich des ›aktuellen Ich‹ eben alle aktuellen Akte, alle, in denen 394 | anmerkungen

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›ich lebe‹, gehören. Und das ›ich lebe‹ in einem Akte besagt nicht, ich vollziehe eine Reflexion auf mein Ich« (ebd., 343). – In den Cartesianischen Meditationen aus den 30er Jahren wird Husserl dann von einem »ego sum bezw. cogitans« sprechen (Hua Bd. I, 61), das heißt: von einem Ich, dessen ontologischer Status als »ich bin« wiederum reduziert ist auf die Intentionalität eines »ich denke«. Die hier vorgeführten Texte bekunden die unaufgelöste Problematik des Husserlschen Subjekt- und Personverständnisses. Im Abstoß von der Husserlschen Phänomenologie wird das Verhältnis von Erinnerungsbewußtsein, Selbstbewußtsein und »Ich-Gedanke« anders und neu zu bestimmen sein. Ich versuche das im sechsten Kapitel dieses Buches. Paul Ricœur, Die erzählte Zeit (s. Anm. 89), 52 Anm. 21 Ders., La memoire, l’histoire, l’oubli, 132: das Problem dieser Vorlesungen liege in einem »mouvement de bascule, à la faveur duquel le regard intérieur se déplace de la constitution de la mémoire dans son rapport encore objectal à un objet qui s’étale dans le temps, qui dure, à la constitution du flux temporel à l’exclusion de toute visée objectale«. – Ebd., 367: »La représentation historienne est bien une image présente d’une chose absente […] les choses passées sont abolies, mais nul ne peut faire qu’elles n’aient été«. Hua Bd. X, 50 mit Fußnote Hua Bd. VI, 189. – Im ersten Teil meiner zweibändigen Untersuchung Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft (79–153) habe ich die Paradoxien in Husserls Philosophie der geschichtlichen Lebenswelt vorgeführt. Es sei mir gestattet, auf die einschlägigen Kapitel in diesem Buch von 1982 zu verweisen. Der Problemtitel »Erinnerung« blieb damals ausgespart und der jetzigen Darstellung vorbehalten. Hua Bd. X, 59 Walter Biemel, Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Hermann Noack (Hg.), Husserl, Darmstadt 1973, 307. – Mit diesem Text, dessen Entwürfe im Band IX der Husserliana abgedruckt sind, wollte Husserl dem englischsprachigen Publikum die Grundlinien seiner Philosophie vorstellen. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern und München 51966, 437 f. Ebd., 376–378 Hua Bd. XVII, 244 Hua Bd. I, 68 Ebd., 64 f. Ebd., 104 Hua Bd. IV, 94; 109. – S. hierzu Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Erster Teil, 99 f.: »Einer Bewußtseinsphilosophie der Leibhabe wird darum auch die Vermittlung von Bewußtsein und Geschichte nur schwer gelingen; sie wird nämlich die geschichtliche Erfahrung, die bis hin zur Todeserfahrung immer leibliche Erfahrung ist, nur als vom Ich ›gezweites kapitel | 395

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habte‹, nie als von ihm leiblich ›durchgestandene‹ darstellen können«. In Husserls Philosophie wird die Leiblichkeit des Menschen »zum Objekt und zum Opfer: zum Objekt des transzendentalen Bewußtseins und zum Opfer der transzendentalen Methode, innerhalb derer die ›transzendentale Einstellung‹ von der ›naturalistischen‹ und ›personalistischen‹ streng unterschieden werden muß« (ebd., 101). Hua Bd. XV, 388 Der Formalismus in der Ethik (s. Anm. 110), 383–385 Ebd., 389 Ebd., 433 Ebd., 402; 413 Ebd., 418 Diese Wendung zur Ontologie kennzeichnet die Münchener phänomenologische Schule. So ist, ähnlich wie bei Scheler, auch bei Hedwig Conrad-Martius zu lesen: »Es gilt in der Tat, das ›reine Ich‹ als eine mögliche Setzung für sich zu begreifen, die nulla re indiget ad existendum, wie Husserl sich ausdrückt. Allerdings hat Husserl diese substantielle Seinsverfassung einseitig verabsolutiert. Wir dürfen […] das ›Ich‹ nicht in den immanenten Grenzen des bloßen transzendentalen ›cogito‹ nehmen. Dieser ganze erkenntnistheoretisch sinnvolle, aber ontologisch unfruchtbare Standort muß verlassen werden. Wir müssen uns aus dem ›cogito‹ heraus und in das ›sum‹ als das ausdrückliche ›ich bin‹ stellen« (Das Sein, München 1957, 125). Der Formalismus in der Ethik, 423 Ebd., 424 Ebd., 436 f. Ebd., 437 John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, übersetzt von Carl Winckler, 2. Buch, Kap. 10, Hamburg 41981, 167; 170; 172 Vgl. Anm. 95 Versuch über den menschlichen Verstand, 2. Buch, Kap. 27, 429 Antoine Arnauld, Die Logik oder die Kunst des Denkens (s. Anm. 37), Teil I, Kap. 1, 28 Versuch über den menschlichen Verstand, 4. Buch, Kap. 3, 187 Giambattista Vico, Liber metaphysicus/Risposte (s. Anm. 1 im Kapitel »Der Konflikt zwischen Bildern und Wörtern«), 258/259 f./261. – Vgl. hierzu Stephan Otto, Contextualidad científica y convertibilidad filosófica. La respuesta de la Scienza Nuova a la crisis epistemológica de la primera modernidad, in: Cuadernos sobre Vico 15/16 (2003) 163–177; französische Übersetzung in: Noesis. Revue philosophique du Centre de Recherches d’Histoire des Idées 8 (2004) 141–160 Aleida Assmann, Die Wunde der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung, in: Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, 359–382; hier: 370 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, 29 f. 396 | anmerkungen

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Drittes Kapitel (Seite 141 – 193) Kants Konstrukion des transzendentalen Selbstbewußtseins hängt ganz wesentlich damit zusammen, daß der Königsberger Philosoph, wie auch einer seiner genauen Ausleger betont, »über keine Bildtheorie verfügt und verfügen kann«: Reinhard Brandt, Kommentar zu Kants Anthropologie, Hamburg 1999, 208. Der Neukantianer Wilhelm Windelband nannte Augustin »einen der Urheber des modernen Denkens«, der »alle seine Ideen« auf »das Prinzip der Selbstgewißheit des Bewußtseins konzentriert« (Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 151957, 237), und Alfred Schöpf schrieb in seinem kleinen Buch Augustinus. Einführung in sein Philosophieren, Freiburg–München 1970: »Wenn er von memoria spricht, versteht er darunter nicht mehr bloß das Erinnern des Vergangenen, sondern das Verinnerlichen aller zeitlichen Gehalte, aller Affekte und logischen Strukturen, so daß sich dieser Terminus seinem formalen Umfang nach dem modernen Bewußtseinsbegriff annähert« (10). Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1970, 287–433 Karl Jaspers, Plato – Augustin – Kant. Drei Gründer des Philosophierens, München 1965, 133 Die drei göttlichen Personen sind allerdings, um genau zu sprechen, nicht »relational« oder nur »korrelational« aufeinander bezogen, weil im Wesen Gottes miteinander geeint; die Theologen reden deshalb von »subsistenten Relationen« in der Trinität. Sermo 43 (Migne, Patrologia latina, tom. 38, c. 253): intellige ut credas, verbum meum; crede ut intelligas, verbum Dei. Epistola 137 (Migne, Patrologia latina, tom. 33, c. 522): per fidem copulamur, per intellectum vivificamur. Etienne Gilson, Introduction à l’Étude de saint Augustin, Paris 1969, 46: »C’est la foi qui […] permet à la raison de discuter avec profit et la rend capable de trouver l’intelligence de ce que Dieu révèle«. Die Bildhaftigkeit alles Seienden und deren »Realisierung« durch das philosophische Denken hat Werner Beierwaltes (Denken des Einen, Frankfurt am Main 1985, 73–113) anhand einer Fülle von Plotinischen Texten philologisch genau beschrieben. W. Beierwaltes, Denken des Einen (s. Anm. 9), 76 Um »zu dem keiner Voraussetzung bedürfenden Anfang zu kommen«, ist »die Seele gezwungen, Bilder in Gebrauch zu nehmen«, heißt es bei Platon (Politeia, 510 b), der damit paradigmatisch vorführt, daß Metaphysik »sichtbarer Gestaltungen« bedarf, um mit ihrer Hilfe zu »suchen«, was man »nicht anders sehen kann als mit dem Verstand« (ebd., 510 d). In diesem Platonischen Sinn konzipiert Augustinus die imago Trinitatis in anima als »Glaubensbild«, das den Anstoß gibt zu einem »Suchen«, dem das »Finden« mit philosophischer Vernunft folgen darf. Sein Satz fides quaerit, intellectus invenit ist ein über das »Bild« mit dem christlichen Glauben vermittelter Methodensatz metaphysischen Denkens, und auf diesem Methodensatz basiert Augustins »Bild-Argument«. Kants drittes kapitel | 397

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kritizistischer Transzendentalismus sieht sich nicht nur nicht mehr »gezwungen, Bilder in Gebrauch zu nehmen« – der transzendentale Schein eines »reinen Bildes« ebenso wie die durch das transzendentale Schema bedingten nur »möglichen Bilder«, die diesem Schema niemals »völlig kongruieren«, bekunden ex negativo diesen Verzicht auf einen »Gebrauch« wirklicher »sichtbarer Gestaltungen«; die Metaphysikkritik des Königsberger Denkers geht überdies an dem von Platon formulierten Methodensatz metaphysischen Denkens achtlos vorbei: eine »Belesenheit im Plato« rechnet Kant abschätzig »nur zur Kultur des Geschmacks«, und nichts berechtigt seiner Ansicht nach, mit ihr »den Philosophen machen zu wollen«, weil das »die Polizei im Reiche der Wissenschaften nicht dulden kann« (Akademie-Textausgabe Bd. VIII, 403 f.). Gottlieb Söhngen, Der Aufbau der augustinischen Gedächtnislehre, in: Martin Grabmann / Joseph Mausbach (Hg.), Aurelius Augustinus. Festschrift zum 1500. Todestag Augustins, Köln 1930, 367–394 Ebd., 371 Ebd. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 19, 133; 210 Ich übernehme hier eine Formulierung Friedrich Georg Jüngers in dessen Buch Gedächtnis und Erinnerung, auf die ich in der Anm. 4 meines Einleitungskapitels schon einmal hingewiesen habe, und ich werde im Folgenden begründen, warum es sich bei Aristoteles nur um eine solche »Rück-stellung« der aisthesis in das an die phantasia gebundene Gedächtnis handeln kann. Jeder Leser des Aristoteles und seiner Übersetzer sollte auch die kritischen Bemerkungen beachten, die Willy Theiler zur Terminologie des Aristoteles gemacht hat: »Gerade die Ausdrücke aus dem seelischen Bereiche« – z. B. phantasia – »decken sich meistens nicht mit denen der modernen Sprachen […] Schon aisthesis ist mit der Wahrnehmung, wobei sinnliche Wahrnehmung gemeint ist, ungünstig wiedergegeben. Für nous und noein sind Geist und Denken Notübersetzungen […] manchmal hilft Denkkraft, Denkentscheidung, erfassendes und intuitives Denken […] Für pathos gibt es im Deutschen überhaupt keine passende Übersetzung; logos und eidos verlangen an verschiedenen Stellen ganz verschiedene Übertragungen« (Aristoteles. Über die Seele, Darmstadt 21966, 83). Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, Erster Band, 1. Teil: Kommentar zum 7. Buch der Metaphysik, Bonn 1985, 10 f. Ebenso Wilhelm Szilasi, Phantasie und Erkenntnis, Bern–München 1969, 61: »Nous und noein sind auf Sehen bezogen«. In seiner Studie Über den Einfluß der griechischen Sprache auf die philosophische Begriffsbildung hat Julius Stenzel dieses »Sehen« als »das eigentliche Wesen des Wissens« bezeichnet, dem es darum geht, »das Gemeinsame in höchst mannigfaltigen Bedeutungen zu ›sehen‹ und umgekehrt diese Einheiten in ihren reichen Bedeutungsmöglichkeiten ›im Blick zu haben’, ohne sie begrifflich ›denken‹ zu müssen« (in: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, hg. von Bertha Stenzel, Darmstadt 1966, 79). – Aristoteles nennt in der Tat den 398 | anmerkungen

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theoron, den »sehend Betrachtenden«, einen »im eigentlichen Sinn Wissenden« (kyrios epistamenos, de an II, 5; 417 a 29), weil er sowohl den überragt, der zum Wissen nur fähig ist, als auch jenen, der sich ein bestimmtes Wissen lediglich angelernt hat. »Im eigentlichen Sinn wissend« ist der sehend Betrachtende, insofern sein Sehen, wie Wolfgang Welsch treffend interpretiert, auf die »Präsenz des Gesehenen« zielt und diese voraussetzt (Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987, 87). »Ähnlich« ist kein Begriff, sondern ein Topos. Vgl. hierzu die Überlegungen des Rudolph Agricola in seinem Werk De inventione dialectica, die ich im Exkurs »Zur memoria-Lehre der Renaissance« vorgestellt habe; Agricolas Ausführungen basieren auf einer gründlichen Kenntnis aristotelischer Texte. Bernhard Gruber, Topologie des Ähnlichen, München 2001, 39 Anm. 63 So Richard A. H. King, Aristoteles. De memoria et reminiscentia, Darmstadt 2004 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WW, Bd. 19, 145 f. R. A. H. King, Aristoteles. De memoria et reminiscentia (s. Anm. 20), 104; 41. – Wenn dieser Übersetzer und Kommentator nun hinzufügt »es gibt keine Gemäldegalerie im Geist« (ebd., 98), dann benennt er damit lediglich eine banale Selbstverständlichkeit: weder Aristoteles noch sonst jemand hat »reale« Bilder, wie man sie in einer Gemäldegalerie aufhängt, im Gedächtnis, und es wäre in der Tat absurd, dem Aristoteles eine »Bildtheorie des Gedächtnisses« in diesem Verständnis zuzuschreiben. Insoweit trifft die Formulierung dieses Autors zu, Aristoteles habe Gedächtnisvorstellungen niemals »mit Abbildern identifiziert«. Die Rede indes, daß er Gedächtnisinhalte mit Bildern »nur vergleicht«, bleibt unscharf und bringt den entscheidenden Punkt zum Verschleif und Verschwinden. Denn Aristoteles will die Inhalte der memoria – ebenso wie Bilder – »sehend betrachten«. Es geht ihm gar nicht darum, Gedächtnisinhalte unvermittelt mit Bildern zu »vergleichen«; als Logiker dürfte er kaum übersehen haben, daß jeder Vergleich einer dritten Größe bedarf. Das tertium comparationis, welches Gedächtnisinhalte und Bilder allererst »vergleichbar« geraten läßt, die Perspektive also, in der sie ungeachtet ihres Verschiedenseins überhaupt erst »verglichen« werden können, ist das »vor-Augen-stellen« beider – ein zugleich-setzendes »Hinstellen« sowohl von »Bildern« als auch von »im Gedächtnis Bleibendem« vor das Auge des Geistes. Es ist die phantasia, die dieses »vor-Augen-stellen« leistet und damit dem theorein, dem »in Sicht nehmenden Betrachten«, seine anschauliche Fülle zuträgt; es ist solches »Hinstellen«, kraft dessen die phantasia von jedem unspezifischen »Vorstellen« sich unterscheidet. Für King ist die phantasia immer nur bloße »Vorstellung« – und damit kann es ihm nicht gelingen, dem vorgeblichen »Bilderrätsel« des Aristoteles wirklich auf die Spur zu kommen. Seine Erklärung: »So sind Abbilder, oder besser: Quasi-Abbilder zwar Teil der Theorie, sind aber für die Gedächtnisaktivität nicht hinreichend« (ebd., 24) erklärt nicht nur nichts, sondern steht jeder triftigen Erklärung der memoria-Philosophie des Aristoteles am Ende sogar im Wege; zutreffend ist drittes kapitel | 399

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demgegenüber seine Bemerkung, daß ein Gedächtnisinhalt von Aristoteles »als ein Abbild betrachtet wird« (ebd., 106). Wenn hinwiederum Welsch in seinem Buch Aisthesis (s. Anm. 17) behauptet, Aristoteles sei »von vornherein über jede Abbildtheorie hinaus«, dann verrätselt er dessen Philosophieren von neuem; richtig ist diese Einlassung nur insofern, als Aristoteles niemals an »materielle Abbilder« von Dingen denkt, die in die Seele gleichsam eindringen: tatsächlich bleibt ihm »der Unsinn einer solchen Abbildheorie erspart«. Doch wenn Welsch vermeint, ein der aristotelischen Theorie »unterstelltes inneres Sehen« von »immateriellen Abbildern« würde das Problem lediglich »verschieben«, aber nicht »lösen« (ebd., 195), dann unterschlägt er damit die Rede des Aristoteles vom »sehenden Betrachten«. Einer Lösung des »Bilderrätsels« steht desgleichen die These im Wege, die R. Sorabji vertreten hat: daß der Gedächtnisinhalt ein »sense-image« im Sinne einer realen Kopie des wahrgenommenen Gegenstandes sei (Aristotle on Memory, London 1972, 11 f.; 82). In seiner Studie Topographie des Ähnlichen (s. Anm. 19) hat Bernhard Gruber die Verwendung des Wortes »ähnlich« auch in der Kategorienschrift, in der Topik, Poetik und Rhetorik minutiös untersucht. S. hierzu die Anm. 22 mit der Kritik an dem Aristoteleskommentar von King; ein strikter »Vergleich« muß im Griechischen überdies durch ein pros (mit Akkusativ) gekennzeichnet sein, denn ein Vergleich besteht im Aufweis einer Relation, für die Aristoteles den Ausdruck pros ti verwendet (Cat 7; 6 b 15 ff.). Wolfgang Welsch, Aisthesis (s. Anm. 17), 183 Aristoteles unterscheidet übrigens ausdrücklich die Bilder im Gedächtnis von Traumerscheinungen; auch diese entstehen aus der phantasia, aber in ihnen »scheint das Ähnliche das Wahre selber zu sein« (de insomn 3; 461 b 29). Auch Dorothea Frede versteht die phantasmata als von der phantasia hervorgebrachte »Gestalten«, auf welche die »ersten Gedanken« (de an III, 8; 432 a 12–14: prota noemata) sich beziehen (The cognitive role of phantasia in Aristotle, in: Martha C. Nussbaum / Amélie Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s De anima, Oxford 1992, 279–295; hier: 290). Zwar ordnet Aristoteles die phantasia keinem besonderen Seelenvermögen zu; dennoch wäre es zu kurz gegriffen, die phantasia als bloßes »Dacapo«, als schlichten »Anhang« der aisthesis zu verstehen (so Wolfgang Welsch, Aisthesis (s. Anm. 17), 384). Welsch ist gleichwohl zuzustimmen, wenn er notiert, das phantasma »ist nicht das Produkt einer irgendwie separaten Vorstellungsfähigkeit« (ebd., 383). – Ch. Kahn interpretiert das phantasma als »hylemorphic item«, als »Programmpunkt«, der aus dem Hylemorphismus des Aristoteles sich herleitet: das phantasma verknüpft den »Stoff«, die hyle alles Denkens, das sinnlich Wahrgenommene also, mit dem von ihm unterschiedenen Denken als »Form«, als morphe der Sinnlichkeit (Charles H. Kahn, Aristotle on Thinking, in: Essays on Aristotle’s De anima (s. Anm. 27), 359–379; hier: 362). – Die aristotelische phantasia gehört jedenfalls nicht der von Descartes konturierten Dimension des »Mentalen« an; irreführend ist deshalb die in der anglo-amerikanischen 400 | anmerkungen

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Forschungsliteratur häufig vorkommende Rede von den phantasmata als »mental images«. Malcolm Schofield, Aristotle on the Imagination, in: Essays on Aristotle’s De anima (s. Anm. 27), 249–277; hier 256: »phantasia is a loose-knit family concept«. So Wolfgang Welsch, Aisthesis (s. Anm. 17), 384 f. Johannes van der Meulen, Aristoteles. Die Mitte in seinem Denken, Meisenheim 21968, 175 f. übersetzt phantasia mit »Einbildung« und versteht diese als »freies Sich-etwas-vor-Augen-stellen«. So King in seinem Kommentar zu De memoria et reminiscentia (s. Anm. 20), 31, Anm. 28 So beispielsweise Richard Sorabji, Intentionality and physiological processes: Aristotle’s theory of sense-perception, in: Essays on Aristotle’s De anima (s. Anm. 27), 195–225; hier: 197. Ich komme hier überein mit Dorothea Frede, The cognitive role of phantasia in Aristotle, in: Essays on Aristotle’s De anima (s. Anm. 27), 279–295, wo sie feststellt: die Aufgabe der phantasia ist »to constitute something like a field of vision« (286). In ähnlicher Weise bemerkt Malcolm Schofield, Aristotle on the Imagination (s. Anm. 29), 255: wenn Aristoteles von phantasia und von phantasmata spricht, »he has in mind our capacity for visualizing«. Giordano Bruno, Degli eroici furori, parte seconda, dialogo secondo (Dialoghi morali, a cura di Giovanni Aquilecchia, tom. II, Firenze 21985), 1121 Auch Platon unterscheidet das Gedächtnis (mneme) als »Behalten von sinnlichen Wahrnehmungen« von der Erinnerung (anamnesis); er versteht indes die Erinnerung als »Wiederholung« allein »in der Seele, ohne den Leib« (Philebos 34 a–c): Sokrates spricht da von einer »Lust der Seele, abgesondert vom Körper«. Aristoteles hingegen löst die anamnesis niemals aus den Kontexten sinnlichleiblicher Veranschaulichungen – der phantasmata – heraus (de mem 2; 453 a 15); deshalb steht sein Text Über Gedächtnis und Erinnerung auch in der Sammlung der Parva Naturalia, der »kleinen Abhandlungen über Natürliches«. – Die anamnesis, die im platonischen Menon vorgestellt wird, weist in eine mythisch eingekleidete »apriorische« Richtung; mit ihr geht es um das »Heraufholen« eines latenten »Wissens« (analambanein epistemen: Menon 85 d) als eines gegenüber dem sinnlich Wahrgenommenen »Früheren«. Platons Anamnesislehre enthält einen Methodensatz, der die »Suche« und das »Erlernen« von Wissen (ebd., 84 c) beschreibt; sie eröffnet mithin eine andere Perspektive als diejenige, innerhalb derer die Frage nach personalem Erinnerungsbewußtsein erörtert werden muß. Über dieses »Buchstabenrätsel« berichtet King, De memoria et reminiscentia, 126–130. Aristoteles spricht nämlich von »Anfang und Mitte« (452 a 17: arche kai meson) in der Buchstabenreihe. Nun zählen die meisten Handschriften acht Buchstaben auf, einige wenige aber neun – die Überlieferung des Textes ist verworren. Klar ist, daß man beim Erinnern bei einem Buchstaben anfangen drittes kapitel | 401

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soll; wo indes liegt in einer Reihe von acht Charakteren die Mitte? Ist also ein neunter Buchstabe erforderlich, damit das Erinnern bei einer arithmetischen Mitte beginnen kann? Das Buchstabenrätsel entpuppt sich indes als gegenstandslos, sobald man »Mitte« im Sinne von »inmitten der Reihe« liest; dann kann die Erinnerungsbewegung nämlich bei jedem Buchstaben anfangen, der in der (auch wiederholbaren) Reihe steht. (Im Grunde hätte Aristoteles also das ganze griechische Alphabet vorführen können, was er sich – und uns – in dankenswerter Weise erspart hat, liegt doch jeder Buchstabe des Alphabets »inmitten« der anderen. Das Buchstabenrätsel zeigt, wie bloße Wortphilologie einen aristotelischen Gedanken verfehlen kann). Der Aristotelesforscher Hans Maier, Die Syllogistik des Aristoteles, Tübingen 1896 (Nachdruck Leipzig 1936), Bd. I, 22 Anm. 1 hat hierzu treffend bemerkt: der nous erfaßt intuitiv, »sehend«, die archai, die Prinzipien und Gründe der Wissenschaft; sobald das von ihm Erschaute aber in Sätzen ausgesprochen wird, fallen diese Sätze in die Domäne des diskursiven Denkens, der wissenschaftlichen episteme, die bei Aristoteles auch »erste Philosophie« oder »Metaphysik« heißt. Olof Gigon, Aristotelesstudien, in: Museum Helveticum. Schweizerische Zeitschrift für Klassische Altertumswissenschaft 9 (1952) 113–136; Nachdruck in: Gustav Adolf Seeck (Hg.), Die Naturphilosophie des Aristoteles, Darmstadt 1975 (Wege der Forschung Bd. CCXXV), 351–383; hier: 359 In seiner Metaphysik unterscheidet Aristoteles in eben diesem Sinne zwischen dem »Seienden als solchem« (on haplos) und dem »bestimmten Seienden« (on ti: 1025 b 7–10). Letzteres ist »bestimmt« durch die Gattung, der es zugehört, mit ihm befassen sich einzelnen Wissenschaften; ersteres wird »sichtend betrachtet«, insofern es »nur« seiend ist, also jenseits aller Bestimmung durch Seinsgattungen gesehen werden muß und als gegründet in einer »unveränderlichen« göttlichen Ursache. Die »Insichtnahme« dieser Differenz des Seienden kann einzig »vor Augen gestellt«, kann nur theoria sein, weil sie alle »wissenschaftliche« episteme übersteigt. Wenn gegenwärtig von der akademischen Zunft »praktische« und »theoretische« Philosophie zu zwei unterschiedlichen »Disziplinen« auseinanderdividiert wird, dann ist dies aus aristotelischer Optik als ein Sympton »theoretischer« Magersucht zu diagnostizieren. Aristoteles hat zwar die »eine« – an der Idee des »einen Guten« orientierte – Philosophie Platons in »Pragmatien« zerschnitten, in »Ethik«, »Politik«, »Rhetorik« und »Poetik«, aber alles, was er unter »Praxis« versteht, bleibt an eine »anschauliche Theorie« des »vor Augen stellens« gebunden. Im nachkantischen Philosophieren ist solche Anschaulichkeit, dem Einspruch Hegels zum Trotz, zu Verlust gegangen. Porphyrios, Über Plotins Leben, in: Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Bd. Vc, Hamburg 1958, 3 Jordanus Brunus Nolanus, Sigillus sigillorum (Opera latine conscripta II/2, Florentiae MDCCCXC), 169 f.: nec inquam putes per introspectum quendam po402 | anmerkungen

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tius quam adspectum seu prospectum memoriam fieri vel comparari; effusione enim quadam provenit, qua non inquam ex oculis, sed ex innominata quadam animi facultate, quae in genere intentionis vel intendentiae cuiusdam habetur […] memento igitur, non ea quae sunt in nobis, sed res ipsas per ea quae sunt in nobis inspiciendas; quamvis enim animae praesens adsit imago, non tamquam ipsam, sed tamquam per ipsam aspicientes intendamus animo. Temere enim earum, quae sensus perceperat, quasi figuram quandam opinaberis in animo servari, ut animus inde figuretur et veluti quoddam admittat impresssionis vestigium. Ebd., 172: […] quae circa simulacrorum consistit intentiones, et inde ad intellectum, qui circa singularum intentionum naturas comunes meditatur […] conscendamus. Enttäuschend und falsch sind die Bemerkungen zu Giordano Bruno, die Paul Ricœur seinem Buch Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek, München 2004, 107–110 eingefügt hat. Ricœur stützt sich da auf das von der Brunoforschung längst als überholt eingestufte Werk von Francis Yates, The Art of Memory. Vgl. dazu die Anmerkung 39 im Kapitel »Ich denke, ich erinnere mich, ich erlebe«. So auch Johann Kreuzer, Augustins Theorie der Zeit, in: Eric Alliez / Gerhart Schröder / Barbara Cassin / Gisela Fabel / Michel Narcy (Hg.), Metamorphosen der Zeit, München 1999, 243–259: »das Denken der Erinnerung ist der springende Punkt in Augustins Theorie der Zeit« (253). Vgl. Johann Kreuzer, Die Sprachlichkeit der Erinnerung. Überlegungen zum verbum intimum in Buch XV De trinitate, in: Johannes Brachtendorf (Hg.), Gott und sein Bild. Augustins De trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn 2000, 183–203. Richtig hält Kreuzer fest: »in der Sprache zeigt sich die abgründige Tiefe der Erinnerung« (186) – diese profunditas nostrae memoriae, von welcher Augustinus sagt: »in ihr wird ein innerliches Wort erzeugt« (trin XV, 21). In den Confessiones (X, 8) spricht er von den »nicht zählbaren Bildern«, die in den tiefen Hallen der memoria lagern und »aus dem Nebel hervorgezogen« werden, »wenn ich, etwas erinnernd, erzähle«. So Ernst August Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, Heidelberg 1985, 54 So Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung, aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1988, 35; 40. – Ricœur weiß natürlich, »daß die Meditation des Augustinus von Ewigkeit und Zeit handelt«, will aber »die Analyse der Zeit von ihrem Ewigkeitshintergrund ablösen«, um »ihre aporetischen Züge hervortreten zu lassen« (ebd., 16). »Ce qu’il y a de philosophiquement neuf dans la doctrine de saint Augustin est né de son effort pour transformer en une doctrine créationiste la doctrine émanatiste de Plotin. C’est pourquoi même lorsqu’il utilise des matériaux empruntés à Plotin, la doctrine qu’il élabore est différente du néoplatonisme.Elle transpose tous les problèmes sur un plan étranger à celui de la philosophie grecque«: E. drittes kapitel | 403

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Gilson, Introduction (s. Anm. 8), 310. Wenn Werner Beierwaltes notiert, in der Schöpfungslehre Augustins sei »der biblische Gedanke eines schaffenden Gottes« mit »der philosophischen Konzeption eines das Seiende insgesamt verursachenden Prinzips, welches selbst nous (Denken, Geist) ist, in die Einheit eines neuen Gedankens gefügt« (Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980, 82), dann bleibt zu fragen, ob dieser »neue« Gedanke, eben aufgrund seiner Einfügung in einen »plan étranger à celui de la philosophie grecque«, nicht auch ein »anderer« werden muß. Ich denke, daß dieser »plan étranger« nicht zuletzt an dem tiefgreifenden Unterschied zwischen dem Bilddenken Augustins und demjenigen Plotins sich ablesen läßt. Daß ungeachtet der Übernahme von Elementen der plotinischen nous-Metaphysik »der ontologische Hintergrund« des augustinischen Kreationismus »ein ganz anderer ist«, betont mit Recht Endre von Ivánka, Plato christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, 191; »ein echter Begriff des Kreatürlichen« werde im Neuplatonismus »völlig unmöglich gemacht« (ebd., 87), »die Kontingenz der Schöpfung […] ist für Plotin ein philosophischer Skandal und eine Lästerung des wesenhaft göttlichen Kosmos« (ebd., 130). Beierwaltes hinwiederum formuliert: »der Begriff von Gott«, den Augustin in den Confessiones entwickelt, »unterscheidet sich, sofern Gott der erste, einzige und umfassend-erhaltende Ursprung der in sich differenzierten Wirklichkeit von Welt und Mensch sein soll, wesentlich von dem Ersten und Einen Plotins«: Platonimus im Christentum, Frankfurt am Main 1998, 185. (Alle Kursivsetzungen von mir, S.O.). So Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt am Main 2003, 317. Dieser Autor beruft sich auf Augustins Werk De genesi ad litteram liber imperfectus (XIII, 38), wo die Zeit ein quasi vestigium aeternitatis genannt wird; er vernachlässigt dabei die Differenz, die Augustinus stets zwischen vestigium, Fußspur, und imago, Bild, einträgt. Ein vestigium ist die »Spur« des Schöpfergottes in jedweder Kreatur, die imago Dei liegt einzig im menschlichen Geist. Vgl. Anm. 50 Eine Übersetzung der Enneade III, 7 mit ausführlichem Kommentar hat Werner Beierwaltes vorgelegt: Plotin. Über Zeit und Ewigkeit, Franfurt am Main 31981. Diese Darstellung der »seelischen« Zeitmetaphysik Plotins ist hier auch deshalb erforderlich, weil man bisweilen höchst Erstaunliches und Verfehltes lesen kann, zum Beispiel bei Jens Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 102: »nicht zuletzt ist Plotins Zeittheorie das entscheidende Vorbild für Augustins Behandlung der Zeit gewesen«. Zum Beispiel Enn VI, 4, 9: »die sichtbare Erscheinung (indalma) von etwas, wie das schwächere Licht, das abgeschnitten wird von dem, woher es stammt, kann nicht mehr sein«, und Enn VI, 4, 10: »wenn man aber einwendet,daß ein Abbild (eidolon) nicht notwendig an seinem Urbild (archetypos) hängt – denn ein Bild (eikon) könne es auch geben, wenn das Urbild fehlt, von dem es ein Nachbild ist – , dann werden wir antworten: bei einem Gemälde handelt es sich im eigent404 | anmerkungen

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lichen Sinn um die Hervorbringung einer sichtbaren Erscheinung, so wie beim Nachbild im Wasser, im Spiegel oder beim Schatten; denn da hat das Nachbild seine Existenz im eigentlichen Verständnis nur von dem Früheren her: es entsteht von ihm aus und es ist unmöglich, daß das Hervorgebrachte getrennt vom Früheren existiert«. Mit solcher »Subsistenz« der augustinischen imago Trinitatis ist genau das gemeint, was man auch mit dem Satz formulieren kann: »vor aller theologischen Interpretation ist daran festzuhalten, daß der menschliche Geist nicht nur erst der göttlichen Trinität ähnlich werden soll, sondern immer schon trinitarisch strukturiert ist« (Johannes Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate, Hamburg 2000, 11). Vgl. Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: ders., Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1979, 75–93; hier: 75 Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones, Frankfurt am Main 1993, 149 So Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main 1972, 37 Ernst August Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin (s. Anm. 48), 17 Ebd., 33 Ebd., 11. – Die Textur der Bekenntnisse ist von Anfang bis Ende eine Anrufung Gottes, welcher das schöpferische Wort Gottes antwortet; Augustins »bekennendes Denken« gründet in einem dem menschlichen Geist »innerlichen Wort« (vgl. Anm. 47) und richtet sich hin auf das Wort des Schöpfers, in dem »alles zugleich und ewig ausgesprochen« ist (Conf XI, 7). Walter Benjamin hat in seinem Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen im Ausgang von den ersten Kapiteln der Bibel »die Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache« in einer dem Denken Augustins kongenialen Weise dargestellt: daß nämlich »das Ausgesprochenste zugleich das reine Geistige ist. Genau das meint aber der Begriff der Offenbarung, wenn er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesens, das sich in ihm ausspricht, nimmt. Das höchste Geistesgebiet der Religion ist (im Begriff der Offenbarung) zugleich das einzige, welches das Unaussprechliche nicht kennt« (Gesammelte Schriften, Bd. II,1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, 146–148). Eine fundamentale – selten beachtete – Differenz des augustinischen Textes zu jenem der Enneaden liegt in dem in ihm zum Ausdruck gekommenen »Denken des Wortes«. Vor dem plotinischen »Einen«, das selber sprachlos ist und menschlichen Worten sich entzieht, gerät das »präsumptive« Philosophieren des Neuplatonikers in Sprachnot. Mit diesem »Einen« kann Plotin nicht reden, und wenn er über es spricht, dann nur in sprachlicher »Negation«. Conf XI, 20: nec proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, drittes kapitel | 405

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praesens de praesentibus, praesens de futuris. Es geht Augustin nicht um die »Faktizität« von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern um das gegenwärtige Sprechen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; solches Sprechen ist ermöglicht durch das »innerliche« Wort »in der Tiefe unserer memoria«, vgl. Anm. 47. Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart (s. Anm. 51) vermeint: »selbst wenn die Zeit nach Augustinus nur mit Einschränkung als Abbild der Ewigkeit verstanden werden dürfte, könnte sich sein Zeitverständnis immer noch an einer platonischen Ewigkeit orientieren« (302). Das mag so sein, insofern jedwedes Nachdenken über Zeit, sei es philosophisch, sei es theologisch geführt, mit dem Gedanken »ewig« konfrontiert ist. Entscheidend ist aber, wie Augustin mit der ihm hier unterstellten »Orientierung« an einer »platonischen Ewigkeit« umgeht. Daß er die Zeit auch nicht »mit Einschränkung« als Bild der Ewigkeit denkt, dürfte hinreichend klar geworden sein. Wenn Mesch zudem behauptet, für Augustinus »ist die Ewigkeit nichts anderes als das ›alles zugleich und immer‹ (simul ac sempiterne omnia)« (ebd., 310), dann führt er damit seinen Leser auf einen Irrweg; denn Augustin spricht – ganz unplotinisch – von dem schöpferischen göttlichen Wort, in dem simul ac sempiterne »alles ausgesprochen ist«. Zum augustinischen »Denken des Wortes« vgl. meine Anm. 62. Stanislas Boros, Les catégories de la temporalité chez saint Augustin, in: Archives de Philosophie 21 (1958), 323–385 Vgl. Werner Beierwaltes, Plotin. Über Zeit und Ewigkeit (s. Anm. 53), 267: »der wesentliche Unterschied zwischen der plotinischen diastasis zoes und der augustinischen distentio animi besteht darin, daß Augustinus – wenigstens in dieser Formel – die Zeit ausschließlich als ein Konstituens der menschlichen Person denkt, die durch Gedächtnis, Augenblick und Erwartung ihre gesamte Lebensund Geschichtszeit reflektierend und erlebend zu erfassen vermag, während für Plotin das ›Subjekt‹ der Zeit zunächst die Weltseele ist, deren Bewegung allererst Abständigkeit in Vorher und Nachher, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erschafft und zugleich als ganze erfaßt«. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1994, 243 Viertes Kapitel (Seite 195 – 256) Für die von mir nicht dargestellte memoria-Philosophie des Mittelalters verweise ich auf das Werk von Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge GB 1990 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, Werke Bd. 11, Hamburg 2001, 257 Vgl. hierzu Cassirer, ebd., 285, Anm. 12 Ebd., 286 Walter Benjamin, Über das Programm der kommenden Philosophie, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 406 | anmerkungen

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Bd. II/1, Frankfurt am Main 1980, 159. – Ebd., 160: »Die entscheidenden Irrtümer der Kantischen Erkenntnislehre sind wie nicht zu bezweifeln ist auch auf die Hohlheit der ihm gegenwärtigen Erfahrung zurückzuführen«. Philosophie der symbolischen Formen III, Werke Bd. 13, Hamburg 2002, 15; 17 Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Erich Heintel (Hg.), Johann Gottfried Herders Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, Hamburg 22005, 24 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Ausgewählte Schriften (s. Anm. 7), 173 Ludwig Tieck, Die Vogelscheuche, in: Tiecks Werke in zwei Bänden, Berlin–Weimar 1985, 2. Bd. , 29 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik, übersetzt und herausgegeben von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, 7; 16; 17; 18; 22 A. G. Baumgarten, Metaphysica, pars III, § 502; deutsche Übersetzung bei Hans Rudolf Schweizer (Hg.), Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1983, 3 Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken, Köln 61988, 133; 150 Wenn Hegel notiert: »in der Empfindung ist die ganze Vernunft, der gesamte Stoff des Geistes vorhanden« (Enz § 447 Zusatz), nimmt er einen Gedanken Jacobis auf: »die Vollkommenheit der Empfindung bestimmt die Vollkommenheit des Bewußtseins mit allen seinen Modifikationen« (David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Bd. II, 285; vgl. Werke, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Band 2.1, Hamburg 2004). Aufmerksamkeit, attentio, war für Baumgarten das entscheidende Verbindungsglied zwischen den »unteren« sinnlichen, und den »oberen« vernünftigen Erkenntnisvermögen gewesen (Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, §§ 528; 529; deutsche Übersetzung bei Hans Rudolf Schweizer, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, 13. Hegel rückt aber Baumgartens »Aufmerksamkeit« ebenso wie Jacobis »Empfindung« in ein neues und anderes, nämlich von der »erkennenden« Intelligenz gesteuertes Begründungsgefälle. Die Binnenstruktur dieses Übergreifens als eines »Übergreifens auf anderes« einerseits und eines »Übergreifens der Gegensätze« andererseits habe ich an anderer Stelle erörtert, vgl. Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil, München 1992, 177; 189; 191–197. Ich verstehe den »Übergriff« als logisch-methodologische Erklärung dessen, was Hegel auch die »Darstellung« des Geistes und des begrifflich »Allgemeinen« in dessen »Besonderheit« und »Einzelheit« nennt. Angesichts Herders und Humboldts war sich Hegel des »Sprachproblems« durchaus bewußt; das heißt aber noch längst nicht, daß er es zum »Hauptthema« seines Denkens gemacht hat. Eine kurze und präzise Übersicht über die bunte Palette älterer Stellungnahmen zum Problemkreis »Hegel und die Sprache« gibt Sumio Deguchi, Der absolute Geist als Sprache, in: Dieter Henrich / Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Hegels Logik der Philosophie, Stuttgart 1984, 242–261. viertes kapitel | 407

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So John McCumber, The Company of Words. Hegel, Language and Systematic Philosophy, Evanston Ill. 1993, 20. Mit Recht zurückgewiesen wurde diese seltsame These von Birgit Sandkaulen in ihrer geistvollen Studie ›Esel ist ein Ton’. Das Bewußtsein und die Namen in Hegels Jenaer Systementwürfen von 1803/04 und 1805/06, in: Heinz Kimmerle (Hg.), Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels, Berlin 2004, 149–163. Die Verfasserin zeigt auf, daß schon der junge Hegel eine Gegenposition zu Herder vertritt, daß er das Namenszeichen nicht nur von aller anschaulichen Bildlichkeit, sondern auch von jeder Referenz auf empirisches Sein entblößt und in die Selbstreferenz des Geistes aufhebt; das bedeutet, so notiert sie, »daß man gut daran tut, auch die entsprechenden Passagen der Enzyklopädie« gemäß dieser »im Namen freigesetzten Logik der Selbstreferenz« zu entziffern (157). Über das vergleichende Sprachstudium, in: Gesammelte Schriften, hg. von A. Leitzmann u.a., Berlin 1903–1936, Bd. IV, 28 Latium und Hellas, ebd. Bd. III, 167 Ebd., Bd. IV, 21 Ebd., Bd. IV, 29 Über Sprache überhaupt, ebd., Bd. III, 267. – Mit triftigem Recht kritisiert deshalb Alfons Reckermann, Sprache und Metaphysik. Zur Kritik der sprachlichen Vernunft bei Herder und Humboldt, München 1979, die von Hegelianern bisweilen vorgenommene Parallelisierung von Humboldtscher energeia und Hegelschem »Geist« (158); »die energeia der Sprache, ihre grundsätzliche Bewegtheit, ist unmittelbarer Ausdruck der Tätigkeiten des Denkens, Anschauens und Fühlens als einer Einheit« (153). Phänomenologie des Geistes, WW, Bd. 3, 46 Ebd., 478; 479 Ebd., 62 Ebd., 22 f. Wissenschaft der Logik, WW, Bd. 5, 124 Sumio Deguchi, Der absolute Geist als Sprache (s. Anm. 16), 257 Im Zusammenhang seiner Darstellung des alle »subjektive« Anschaulichkeit aufhebenden und tilgenden Hegelschen Zeichenkonzepts notierte jüngst ein Gelehrter: Hegels Zeichen »machen die Intelligenz frei von der Bindung ans Idiosynkratische (Kursivsetzung von mir, S.O.) jeweils anschauender und vorstellender Subjekte« (Hans Friedrich Fulda, Anthropologie und Psychologie in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, in: Ralph Schumacher (Hg.) in Verbindung mit Oliver R. Scholz, Idealismus als Theorie der Repräsentation, Paderborn 2001, 101–125; hier: 117). Von einer Bindung des anschauenden Subjekts »ans Idiosynkratische« hat nun, soweit mir bekannt, nicht einmal Hegel selber zu sprechen gewagt, und ein Mensch, der sich als »anschauendes Subjekt« erinnert oder mit seinen anschaulichen Erinnerungsbildern bewußt umgeht, verfällt gewiß nicht einer »Bindung ans Idiosynkratische«, von welcher er durch die »Intelligenz« und ihre Zeichensetzung »befreit« werden müßte oder überhaupt 408 | anmerkungen

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könnte. Die Einlassung des zitierten Hegelforschers zeigt indes, wie groß die Distanz zwischen konventionellen, textimmanent bleibenden Hegellektüren einerseits und der Erörterung der Problemtitel eines »veranschaulichenden Erinnerungsbewußtseins« und eines »anschaulichen Denkens« andererseits immer noch ist. Darum ist es wohl auch kein Zufall, daß im Historischen Wörterbuch der Philosophie der »Anschauung« ein ausführlicher Beitrag gewidmet wurde, ein Artikel über anschauungsqualifizierende »Anschaulichkeit« aber fehlt; der hier zu lesende Eintrag »Anschauungsbild« bleibt überdies psychologisch orientiert und sein Verfasser scheut sich nicht, die psychologistische Rede vom »halluzinationsähnlichen Charakter« dieses »namentlich im Kindesalter weitverbreiteten Phänomens« kritiklos zu wiederholen. WW, Bd. 13, 118; 123 Ebd., Bd. 14, 129; 130; 151 Jacques Derrida, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: Rundgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien 1988, 93–132; hier: 101 WW, Bd. 13, 25 f. Ebd., 23 In erster Linie habe ich dabei die »Malerphilosophie« Cézannes im Blick, der den Überlegungen zu »Farbe« und »Zeichnung«, die Descartes und Kant vortrugen (s. die Bemerkungen zu Descartes in meinem Exkurs zur memoria-Lehre der Renaissance sowie im zweiten Kapitel den Vergleich der Kritik der Urteilskraft mit dem Werk L’idea dei pittori des Federico Zuccaro) den Satz entgegenstellt: »die Zeichnung und die Farbe sind nicht mehr voneinander zu trennen; in dem Maße, wie man malt, zeichnet man ; je mehr die Farbe harmoniert, umso präziser wird die Zeichnung. Im Reichtum der Farbe erreicht die Form ihre Fülle«. In einem schönen Text über Cézanne hat Maurice Merleau-Ponty diese Veranschaulichungsfülle dargestellt: »wenn der Maler die Welt ausdrücken will, muß die Anordnung der Farben dieses unteilbare Ganze in sich bergen; sonst bleibt seine Malerei eine bloße Anspielung auf die Dinge und gibt sie uns nie in der gebieterischen Einheit, in der Präsenz und unüberbietbaren Fülle, die für uns alle das Reale definiert. Deshalb muß jeder Pinselstrich eine Unendlichkeit von Bedingungen erfüllen, deshalb meditierte Cézanne mitunter stundenlang, ehe er einen auf die Leinwand setzte« (Der Zweifel Cézannes, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 39–59; hier: 47). – In seinen Gesprächen mit Joachim Gasquet hat Cézanne selber sein Bildverständnis auf folgende Weise beschrieben: »neulich abends, auf dem Rückweg nach Aix, haben wir von Kant gesprochen. Ich habe mich auf Ihren Standpunkt stellen wollen. Die Bäume als empfindende Wesen? Was gibt es Gemeinsames zwischen einem Baum und uns? Zwischen einer Kiefer, wie sie mir erscheint, und einer Kiefer, so wie sie an sich ist? Ja, wenn ich das malen würde. Wäre das nicht die Verwirklichung dieses Ausschnittes der Natur, der uns das Bild gibt, indem er uns unter die Augen kommt? Und gäbe es in diesem Bild nicht eine Philosophie viertes kapitel | 409

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der Erscheinungen, allen zugänglicher als alle diese Kategorientafeln, als eure Noumena und Phainomena? Im Anschauen würde man die Relativität aller Dinge an sich, in Bezug auf den Menschen, empfinden« (Paul Cézanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet. Briefe, deutsch von Elsa Glaser, hg. von Walter Hess, Hamburg 1957, 25). Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild? (vgl. Anm. 35), 11–38; hier: 13 Wissenschaftslehre von 1813, in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.), Fichtes Werke, Bd. IX, Berlin 1971, 68–72 Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, 30 Ebd., 11; 14 »Ohne Gedächtnis gibt es keine Sprache, ohne Sprache nicht dieses, unser Gedächtnis« hat Friedrich Georg Jünger bemerkt (Gedächtnis und Erinnerung, Frankfurt am Main 1957, 130), um indes sofort hinzuzufügen: »das Verhältnis von Sprache und Gedächtnis ist nie gründlich untersucht, das Verhältnis von Sprache und Sprechen nie gründlich bedacht worden«. Gedächtnis und Erinnerung (s. Anm. 40), 96 Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 7), 24 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern–München 51966, 432, desgleichen meine Auslegung der aristotelischen phantasia im dritten Kapitel dieses Buches. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 25. – Ebd., 30: »ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken fassen, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogisiere«. S. den Abschnitt »Reminiscentia: Aristoteles vergleicht die Erinnerung mit einer Jagd« im dritten Kapitel. Vom »Wertbegriff der Anschaulichkeit« spricht z. B. auch Hans-Georg Gadamer (Anschauung und Anschaulichkeit, in: Neue Hefte für Philosophie 18/19, Göttingen 1980, 7), und in seiner Studie Das Spiegelstadium der Anschauung definiert Uwe Japp: »Anschauung als Wert aufgefaßt ist Anschaulichkeit« (ebd., 85). Vgl. Uwe Japp, ebd. Hans Blumenberg, Im Fliegenglas, in: Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1996, 752–792; hier: 752 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften, Bd. I, Frankfurt am Main 1960, § 343; § 349 Ebd., §§ 348; 344; 307; 305 Ebd., §§ 38; 109; 119; 120; 123; 124; 97 Ebd., § 361 Hans Blumenberg, Im Fliegenglas (vgl. Anm. 48), 783 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 41975, 398 Philosophische Untersuchungen, § 329 Weil die Philosophischen Untersuchungen »den Eindruck eines schlecht geordneten Zettelkastens« machen, werden sie durch Eike von Savigny anhand der 410 | anmerkungen

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von Wittgenstein angegriffenen Theorie interpretiert: der Theorie nämlich, derzufolge »Wörter Bedeutung haben, weil es Gegenstände gibt, für die sie stehen«, Gegenstände, die also »ihre Bedeutung sind«. Für Wittgenstein verhält sich demgegenüber das Denken von Bedeutung und das tatsächliche Sprechen »nicht zueinander wie zweierlei« Tätigkeiten (Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt am Main 1974, 13: 16; 35). – Wittgenstein notiert selber: »um über die Bedeutung des Wortes ›denken‹ klar zu werden, schauen wir uns selbst beim Denken zu: was wir da beobachten, werde das sein, was das Wort bedeutet« (so die angegriffene Theorie); »aber so wird dieser Begriff nicht gebraucht« (§ 316). Vgl. § 384: »den Begriff ›Schmerz‹ hast du mit der Sprache gelernt«. Ebenso liegt die Bedeutung von Erinnerung im Verbum »erinnern«; »man ruft sich Erinnerungen daran zurück, wie man das Wort früher gebraucht hat, und kann die jetzige Verwendungsweise mit der früheren vergleichen« (von Savigny, 21). Philosophische Untersuchungen, §§ 305; 306. – Wittgensteins Interesse fokussiert sich auf den Satz und auf das Wort im Satz. »Ort und Zeit des Satzes, seine geschichtliche Situation bekümmern ihn nicht […] Es ist wunderlich zu sehen, wie sich Wittgenstein mit der Frage abmüht, ob der Satz ›die Uhr liegt auf dem Tisch‹ einen eindeutigen Sinn hat. So kann erst gefragt werden, wenn der Satz isoliert wurde. Isoliere ich ihn, hebe ich mit dem Zusammenhang auch die Eindeutigkeit auf. Die Schwierigkeit ist selbst konstruiert. Ich weiß nicht mehr, wann, wo, wie der Satz gesprochen wurde […] Es gibt keine Darstellung, die sich selbst darstellt« (Friedrich Georg Jünger, Sprache und Denken, Frankfurt am Main 1962, 120; 122. Sogar der Sprechakt-Theoretiker Searle notiert: »der Aspekt des Vertrauten ist sehr wichtig für die Organisation und Ordnung meines bewußten Erlebens«, er verknüpft den »Aspekt des Vertrauten« mit der »Aspektgestalt aller Intentionalität« (John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, aus dem Amerikanischen von Harvey P. Gavagai, Frankfurt am Main 1996, 158 f.). »Ob ich in jemanden verliebt bin, weiß ich unmittelbar, aber ob ich jemanden liebe, kann ein anderer ebensogut oder sogar leichter wissen als ich selbst« erklärt Ernst Tugendhat in seinen sprachanalytischen Vorlesungen über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (Frankfurt am Main 1979, 27). Der Autor will diese verbale Unterscheidung zwischen »ich bin verliebt« und »ich liebe« ebenso wie Wittgenstein mit der Propositionalität des Satzwortes begründen. Diese propositional attitude, wie sie anglophon genannt wird, besagt: Bewußtseinsvorgänge sind nicht in inneren Wörtern und Bildern erfaßbar, in denen ich mir selbst begegne, sondern einzig dadurch, daß ich mir in einem Satz ein Attribut zuschreibe, das auch von anderen verstanden werden kann. »Der Satz ›ich φ‹« – ich liebe meine Frau – , »wenn er von mir geäußert wird, ist notwendigerweise genau dann wahr, wenn der Satz ›er φ‹ , wenn er von jemand anderem geäußert wird, der mit ›er‹ mich meint, wahr ist« (ebd., 88). Das heißt: die Bedeutung des Wortes »ich« kann durch den Gebrauch des Wortes »er« ersetzt werden. Ein inneres Wort, mit dem ich das Bild der Geliebten festhalte, gehört dem »Mythos viertes kapitel | 411

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der Innerlichkeit« an (vgl. Jacques Bouveresse, Le mythe de l’interiorité. Expérience, signification et langage privé chez Wittgenstein, Paris 1976), und zu einem solchen Bild selber bemerkt Tugendhat freimütig: »ich für meinen Teil kann da gar nichts sehen« (Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 17). Denn »wir dürfen nicht in Metaphern sprechen, über deren Sinn wir nicht intersubjektiv Rechenschaft geben können« (ebd., 39). Damit ist nicht nur jede »philosophische« Erörterung des Erinnerungsbewußtseins untersagt, sondern auch die »philosophische« Frage nach Subjektivität »eher verdrängt als gelöst« (Gianfranco Soldati, Selbstbewußtsein und unmittelbares Wissen bei Tugendhat, in: Die Frage nach dem Subjekt, hg. von Manfred Frank, Gérard Raulet und Willem van Reijen, Frankfurt am Main 1988, 85–100; hier: 86). Für Tugendhat, darin zeigt sich sein Kantisches Unterfutter, sind Sätze über Erinnerungen schließlich auch nur »psychologische Sätze«, insofern »der Erinnerung bezw. dem Vergessen eine Schlüsselstellung zur Aufklärung der unbewußten φ-Zustände zukommen könnte« (Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 143). Philosophische Untersuchungen, § 5. Wittgenstein legt diesem Urteil das 8. Kapitel des 10. Buches der Confessiones zugrunde, wo Augustinus berichtet, »wie er sprechen lernte«. Der augustinischen Philosophie des verbum intimum weicht Wittgenstein schlicht aus; sie gehört nach seiner Ansicht zu jenen »philosophischen« Problemen, »die entstehen, wenn die Sprache feiert« (ebd., § 38). In seinem Kommentar zu den Confessiones schreibt Kurt Flasch: »um es offen zu sagen: Augustins Erkenntnislehre, nach der die Dinge selbst auf dem Weg über die Wahrnehmung in die Seele eindringen und die Seele Bilder dieser Eindrücke selbst bewirkt, kann schwerlich verteidigt werden, jedenfalls sehe ich mich dazu außerstande« (Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Frankfurt am Main 1993, 366). An dieser Einlassung ist einiges richtigzustellen. Conf X, 8 hatte Augustin notiert: »nicht die sinnlich wahrgenommenen Dinge selber, sondern nur deren Bilder treten in die memoria ein, und hier sind sie des Denkens gewärtig, das sich ihrer erinnert. Wie aber diese Bilder entstanden sind, wer kann das sagen?« Mit seiner Theorie des inneren Bild-Wortes in De Trinitate beantwortet er dann diese früher von ihm gestellte Frage. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1994. – Das mit der Überschrift In interiore homine versehene Augustinus-Kapitel (235–261) ist interessanterweise das einzige, das sich einigermaßen ausführlich mit dem Thema »Erinnerung« befaßt. Dies ist insofern enttäuschend, als doch wohl gerade aus einer Analyse der »Entstehung« des neuzeitlichen Identitäts- und Subjektivitätsdenkens der Konflikt zwischen der Flüchtigkeit des Erinnerns einerseits und der in Frage stehenden Stabilität mit sich »identischer« Subjektivität andererseits schwerlich eliminiert werden kann. Staunen erregt jedenfalls schon, daß das Stichwortregister des Buches keine Verweise auf »Gedächtnis«, »Erinnerung« oder memoria enthält. 412 | anmerkungen

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Ebd., 243; 256 Ebd., 244 Liber Sententiarum I, distinctio XXVII, pars II, articulus unicus, quaestio III (Bonaventurae opera theologica selecta, tom. I, Quaracchi–Firenze 1934, 387 Philosophische Untersuchungen, § 580 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (s. Anm. 54), 396–398 Ebd., 405 Aus dem diffizilen Gedankengang der beiden Abhandlungen De natura verbi intellectus und De differentia verbi divini et humani in der von Raimondo Spiazzi besorgten Edition der Opuscula philosophica (Rom 1954, 91–102) exzerpiere ich die entscheidenden Sätze: nascitur enim verbum nostrum ex notitia alicuius habiti apud memoriam nostram; per actionem intellectus […] objectum formatur […] et hoc habet plenam rationem verbi; semper cum actu intelligitur aliquid, verbum formatur; verbum igitur cordis est ultimum quod potest intellectus in se operari; verbum est terminus actionis intellectus […] actio eius est formatio […] simul tempore ipse format et formatum est – und: was der Intellekt »formiert«, ist »Wort bezw. Bild«, verbum seu imago, analysiert per lumen naturale intellectus. – Diesen Überlegungen aus »natürlicher Vernunft« korrespondieren gleichwohl die einschlägigen Notate im theologischen Werk des Thomas, z. B. : »wenn der Geist in einem Akt des Betrachtens sich demjenigen zuwendet, was er habituell in sich trägt« – nämlich seinen Erinnerungsbildern – »spricht er zu sich selber; der Gedanke des Geistes wird ja Wort genannt« (Summa theologiae I, 107, 1). De natura verbi intellectus, 94 f. De veritate I, 3: verum per prius invenitur in intellectu quam in rebus. So schreibt Jacobi an Fichte: »eine das Wahre nicht voraussetzende Vernunft ist ein Unding«, in: Werke (s. Anm. 13), Bd. III, 32 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.234, in: Schriften (s. Anm. 49) Bd. I, 49 Wolfgang Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt am Main 31975, 38: »Erleben ist Sichbestimmen«, nicht ein »Bestimmtwerden durch anderes, nämlich durch räumlich Zeitliches«. Ebd., 72: »Erinnerungen bedürfen der Erinnerungsbilder. Sich nur in Gedanken zu erinnern, ist unmöglich«. Philosophische Untersuchungen, § 293 Ebd., § 115; § 84 Notes for Lectures on »Private Experience« and »Sense Data«, hg. von R. Rhees, in: Philosophical Review 77 (1968), 271–320; hier: 300 Merril B. Hintikka und Jaako Hintikka, Wittgenstein über private Erfahrung, in: Roland Posner / Georg Meggle (Hg.), Sprachspiel und Methode. Zum Stand der Wittgenstein-Diskussion, Berlin–New York 1985, 1–26; hier: 23 Andreas Kemmerling, Bedeutung und Zweck der Sprache, in: Wilhelm Vossenkuhl (Hg.), Von Wittgenstein lernen, Berlin 1992, 99–120; hier: 119 Philosophische Untersuchungen, § 243 viertes kapitel | 413

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Gottfried Gabriel, Logisches und analogisches Denken. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, in: Alex Burri (Hg.), Sprache und Denken, Berlin–New York 1997, 370–384; hier: 379 f. Tractatus logico-philosophicus (in: Schriften, Bd. 1, s. Anm. 49), 4.01; 4.03; 4.06 Ebd., 4.01 Ebd., 4.015 Ebd., 3.42 Philosophische Untersuchungen, § 305; § 343 Ebd., § 305; § 343; § 349 Ebd., Teil II, Kapitel XIII (Schriften, Bd. 1, 543) Ludwig Wittgenstein, Eine philosophische Betrachtung, in: Schriften, Bd. 5 (Frankfurt am Main 21982), 130 In seiner Studie Bewußtsein und introspektive Selbstkenntnis, in: Thomas Grundmann, Frank Hofmann, Catrin Misselhorn, Violetta L. Waibel und Véronique Zanetti (Hg.), Anatomie der Subjektivität, Frankfurt am Main 2005, 94–119 notiert Frank Hofmann: »der Geist muß in einer bestimmten Weise operieren, muß sich in einem bestimmten Geistesmodus befinden, wenn eine Introspektion stattfinden soll«, die mit bestimmten »geistigen Leistungen« einhergehen soll; solche Geistesmodi »bilden den Hintergrund oder Rahmen, innerhalb dessen einzelne geistige Zustände vorkommen und Prozesse stattfinden« (ebd., 112 f.). Das Konzept eines »Geistesmodus« erscheint mir allerdings zu unbestimmt, ist »Geist« doch, wenn nicht im Hegelschen Sinne, noch schwieriger zu definieren als »Bewußtsein«. Ich gebe darum dem Begriff eines »Bewußtseinsmodus« den Vorzug, das heißt: den »Modalitäten«, in denen Bewußtsein auf verschiedene Weise arbeitet. – Von unterschiedlichen »Modi« sinnlichen Wahrnehmens und bildlichen Veranschaulichens spricht auch Colin McGinn, wenn er feststellt: »imaging is not a mode of perceiving« (Mindsight, Cambridge Mass.–London 2004, 2). Man kann darum auch von einem »Zugänglichkeitsbewußtsein« sprechen, s. dazu Frank Hofmann (vgl. Anm. 91), 107. Hofmann verweist auf Ned Block, On a confusion about a function of consciousness, in: N. Block / O. Flanagan / G. Güzeldere (Hg.), The nature of consciousness, Cambridge Mass. 1997, 375– 415, wo zwischen einem »phänomenalen Bewußtsein«, das präkognitiven Erlebnischarakter hat, und einem »Zugänglichkeitsbewußtsein« unterschieden wird, zu dem die Kognition Zugang findet. Sobald man allerdings den Bewußtseinsmodus »ich erinnere mich« reflektiert, wird man nicht von vornherein ausschließen dürfen, daß ein sich erinnerndes »ich« Zugang auch zu seinen »präreflexiven« Erlebniszuständen haben kann; entscheidend ist, wie das »ich« im Bewußtseinsmodus »ich erinnere mich« definiert wird. S. hierzu den folgenden Abschnitt dieses Kapitels. William James, The principles of consciousness I, New York 1890, 185 Auch Colin McGinn, Mindsight (s. Anm. 91), 27 notiert: das Bild bedarf einer »attentive intentionality« und ist »attention-dependent«. 414 | anmerkungen

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Hans-Peter Krüger, Philosophie und neurobiologische Hirnforschung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004) 257–293; hier: 264; 268. Als Vertreter solcher »pluralen Philosophie lebendiger Natur« gilt dem Autor in erster Linie Helmuth Plessner mit seinem Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin–Leipzig 1928 (Nachdruck Frankfurt am Main 1981). Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main 1994, 51996, 1997, 34 Wolf Singer, Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (s. Anm. 96) 235–255; hier: 251 Ders., Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt am Main 2003 Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? (s. Anm. 99), 12. – Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main 2003, 181 Gerhard Roth, Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (s. Anm. 96) 223–234; hier: 227. – Ders., Aus Sicht des Gehirns (s. Anm. 100), 206 Reinhard Olivier, Die Willensfreiheit aus der Sicht einer Theorie des Gehirns, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005) 723–733; hier: 723; 726; 729. – Olivier unterscheidet deshalb zwischen einer »Exosicht« für die Beobachtung des Gehirns und einer »Endosicht« für das subjektive Erleben; er hält fest: »Endo- und Exosicht können nicht zugleich vollständig eingenommen werden« (726). Gerhard Roth, Gehirn, Gründe und Ursachen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005) 691–705; hier: 703; 704 Ebd., 605; 705 Reinhard Olivier, Willensfreiheit (s. Anm. 102), 728 Hans Julius Schneider, Reden über Inneres, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005) 743–759; hier: 757 Hans-Peter Krüger, (s. Anm. 96), 257; 260 Petra Gehring, Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und die weltbildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft, in: Philosophische Rundschau 51 (2004) 273–295; hier: 285 John Hyman, The Imitation of Nature, Oxford 1989, XIV Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit (s. Anm. 97), 261 Donald Davidson, Der Mythos des Subjektiven. Philosophische Essays, übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Joachim Schulte, Stuttgart 1993, 96 Ebd., 105–107 John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, übersetzt von Carl Winckler, II. Buch, Kap. 10, § 8; Hamburg 1981, Bd. 1, 172 Ebd., II. Buch, Kap. 27, § 10; Bd. 1, 421 Bernard Williams, Probleme des Selbst, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1978, 26. – Lockes Bestimmung der Identität der viertes kapitel | 415

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Person aus einer »Identität des Bewußtseins« (das wiederum »identisch« sein soll mit dem Gedächtnis) ist höchst irreführend, weil sie die ontologische Basis von Personalität, das »ich bin«, ausklammert. In Übereinstimmung mit Jacobi und dessen Kritik an dieser Identitätsidee, die lediglich »auf Gedächtnis und Reflexion« sich stützt, spricht Birgit Sandkaulen von einer »Was-Identität« der Person, die sich nicht zu begründen vermag. Dieser »Was-Identität« stellt sie, wiederum in Anlehnung an Jacobi, der die Person als »in sich seiendes und von sich wissendes Ich« begreift, eine »Wer-Identität« gegenüber, die sich im »Namen« der Person kundtut (Birgit Sandkaulen, Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen, in: Walter Jaeschke / Birgit Sandkaulen (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004, 217–237). – Ein »subjektives« Ich muß sich mit einer Reflexion auf sein »ich bin« in seiner Wer-Identität als »für sich selbst« und »zu sich selbst« bestimmen; erst dadurch vermag es den personalen Sinn von Subjektivität als »Selbst-sein« auszuschöpfen, und erst dadurch auch vermag es, als »namentliches« Ich, sich selbst zu erinnern. Mit Lockes Konzept einer bloßen »Was«- oder Bewußtseinsidentität ist ein solches Selbst-sein nicht zu konturieren, und in Analytischen Philosophien, die der Denkweise Lockes sei es affirmativ sei es kritisch verpflichtet bleiben, findet das immer wieder seinen Nachhall – bis hin zur Rede vom »Mythos der Subjektivität«. Probleme des Selbst (s. Anm. 110), 29 Ebd., 24; 79; 72; 12 Ebd., 7; 22; 26 f. Friedrich Heinrich Jacobi, Spinozabriefe, in: Werke. Bd. 1, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg 1998, 220. John Horgan, The End of Science, New York 1996; deutsch: An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, München 1997 Joseph LeDoux, Das Netz der Persönlichkeit. Wie unser Selbst entsteht, aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk, Düsseldorf–Zürich 2003, 7; 10; 11; 21; 427 Ebd., 430 Ebd., 11 Ebd., 31 Ebd., 304 ff. – Wie für alle Neurowissenschaftler ist auch für LeDoux »das Tierexperiment der Schlüssel zum Verständnis von sämtlichen mentalen Vorgängen und Verhaltensfunktionen im Gehirn«. Er erforscht die »neuronalen Grundlagen einer Emotion, die uns Menschen sozusagen besonders am Herzen liegt, der Liebe« am Paarverhalten von Wühlmäusen. Ebd., 237; 260 Stephen Michael Kosslyn, Image and Mind, Cambridge Mass.–London 1980, 27; 224; 464. – Ders., Image and Brain. The Resolution of the Imagery Debate, Cambridge Mass.–London 1994, 1; 406 Gerhard Roth, Worüber Hirnforscher reden dürfen (s. Anm. 101), 224 416 | anmerkungen

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Donald Davidson, Actions, Reasons and Causes, in: The Journal of Philosophy 1963, 685–700 Worüber Hirnforscher reden dürfen, 223 Ebd., 232 f. Es ist auffallend, wie schwer sich Neurobiologen und Neuropsychologen mit der Anschaulichkeit der Bilder im Erinnerungsbewußtsein tun. In seinem Buch Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit (Reinbek bei Hamburg 2001, deutsch von Heiner Kober) druckt Daniel L. Schacter, Professor für Psychologie an der Harvard University, viele Bilder von Künstlern ab, die deren erinnerte Lebenserfahrungen dokumentieren; die Umsetzung dieser im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen in anschauliche Erinnerungsbilder im Bewußtsein – Voraussetzung für ihre künstlerische Darstellung – ist in diesem ansonsten lesenswerten Werk kein Thema. Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit (s. Anm. 97), 273 Gewiß: »die wesentliche Personalität des menschlichen Geistes gehört zu dem, was eine naturwissenschaftlich gehaltene oder wenigstens naturwissenschaftlich gehaltvolle Antwort auf unsere Frage nach dem menschlichen Geist so über die Maßen schwierig macht. Aber billiger ist der alte Begriff des menschlichen Geistes eben nicht zu haben, auch nicht für neue Wissenschaften«. Die Wissenschaft vom menschlichen Geist stellt sich erst dann ihrem Thema, »wenn sie den Menschen als Person in den Blick nimmt. Eine Wissenschaft, die beim Gehirn und seinen hypothetisch angenommenen subpersonalen Modulen verharrt, tut das nicht«: Andreas Kemmerling, Was ist menschlicher Geist? Neue Wissenschaft und alte Begriffe, in: Wolfgang R. Köhler / Hans-Dieter Mutschler (Hg.), Ist der Geist berechenbar?, Darmstadt 2003, 168–187; hier: 186 f. In den Disput über Gründe und/oder Ursachen hat auch Jürgen Habermas eingegriffen (Freiheit und Determinismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004) 871–890). Der Tenor seiner Einlassungen ist: bewußt-mentale Zustände und neuronale Prozesse können nicht zur Deckung gebracht werden, im physiologisch beobachteten Gehirn lassen sich nur Ursachen, nicht aber auch Gründe (für freies Handeln) finden. Roth (Gehirn, Gründe, Ursachen, s. Anm. 103) möchte diesem Einwand mit seinem Modell eines »Kategorienwechsels« begegnen, welches doch erklären könne, »daß der Hippocampus etwas mit dem deklarativen Gedächtnis und der präfontale Cortex etwas mit dem Arbeitsgedächtnis zu tun haben«, was ja zeige, daß physiologische »Ursachen« und mentale »Gründe« nur »unterschiedliche Erklärungstypen von Verhaltensweisen sind«, im Sinne mithin eines Kategorienwechsels, nicht aber eines Kategorienfehlers. Die von Habermas vertretene Ansicht, »daß Gründe bezw. intentionales Handeln sich dem Erklärungsbereich der Hirnforschung entziehen«, halte einer »kritischen Überprüfung« nicht stand (ebd., 704); denn »aufgrund empirischer Untersuchungen stellen wir fest, daß mentale Zustände M nur dann auftreten, wenn bestimmte neuronale Prozesse N gleichzeitig stattfinden (und andere N ihnen vorhergehen). Umgekehrt sind – soweit wir wissen – mit bestimmten N viertes kapitel | 417

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immer bestimmte M verbunden bezw. führen bestimmte N immer zu bestimmten M«. – Das ist gewiß ein unbestreitbarer hirnwissenschaftlicher Befund, denn auch der Philosoph wird nicht leugnen, daß der Hippocampus mit dem deklarativen Gedächtnis »etwas zu tun hat«. Hinsichtlich der aufmerksamen intentionalen Veranschaulichung von Erinnerungsbildern im bewußten Sicherinnern (wenn ich richtig sehe, ist das bislang in der neurobiologischen Forschung ein blinder Fleck) dürfte die Sachlage beträchtlich schwieriger werden. Immerhin deutet Roth das Erfordernis an, zwischen »vom Bewußtsein begleiteten« mentalen Zuständen und solchen »ohne Bewußtsein« zu unterscheiden (ebd., 701). Erstere haben allerdings nicht nur »andere Funktion«, wie Roth meint, sondern auch eine andere »Bedeutung«. Die Gleichsetzung von »Funktion« und »Bedeutung« ist nicht nur ein Kategorien-, sondern ein Methodenfehler, der im Unterschleif der Differenz zwischen »Erklären« und »Verstehen« besteht. Zum »Verstehen« gehört sodann auch, daß da nicht nur abstrakt zwischen Ursachen und Gründen unterschieden wird; entscheidend ist, daß ein bewußtes Subjekt anhand der Gründe, die es »einsieht«, sich selber zum einem zielgerichteten Handeln »bestimmt«. Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt am Main 2002, 25; 40; 73. – Singer spricht vom »inneren Auge« in Anführungszeichen und meint, es »könnte gedacht werden als Folge der gleichen kognitiven Operationen, die den unreflektierten Primärrepräsentationen des Draußen zugrunde liegen« (ebd., 70) – als »Folge« also des Sehens von Dingen und damit gewissermaßen als Augenaufschlag des Gehirns. – Gerhard Roth bemerkt demgegenüber zum »inneren Auge«: »nehmen wir eine solche Instanz an, so geraten wir in einen unendlichen Regreß«, denn »diese Instanz benötigt wiederum einen ›Abbildungsapparat‹, in dem sich die Problematik wiederholt« – mit andern Worten: das »innere Auge« müßte selber gesehen werden können. Und er fährt fort: »wir könnten natürlich alternativ annehmen, daß es im Gehirn eine Art geistiges Auge gibt, welches ohne irgendwelche weiteren physiologischen Mechanismen das unmittelbare Erfassen des Abgebildeten leistet. Dann haben wir aber die Ebene einer wissenschaftlichen Argumentation vorschnell verlassen« – nämlich einen prekären Sprung in »den Geist« vollzogen. – Die anglophonen Dispute über das inner eye zu verfolgen, ist überflüssig; auch sie bleiben entweder metaphorisch oder lehnen jede Rede vom »inneren Auge« ab. Eine diskutable Theorie trägt indes der amerikanische Philosoph Colin McGinn in seinem Buch Mindsight vor; auf sie komme ich zurück. Der Beobachter im Gehirn, 78 Ebd., 25 Ebd., 146; 153; 155 Ebd., 232 Auch Roth ersetzt die »Bilder im Kopf« durch ein »Signalsystem«, in welchem »Neuronen mit ihrer Aktivität stellvertretend die Geschehnisse in der Außenwelt repräsentieren«: Das Gehirn und seine Wirklichkeit (s. Anm. 97), 129 f. 418 | anmerkungen

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Bewußtsein ist für ihn »das Eigensignal des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensorisch, motorisch oder intern-kognitiv« (ebd., 233). Dennoch will er nicht so verstanden werden, als plädiere er für eine »Reduktion des Phänomens ›Bewußtsein‹ auf neuronale Prozesse«, denn vom »Inhalt« der neuronalen Verschaltungen sei »die Bedeutung der Hirnaktivität« zu unterscheiden (ebd., 247): »sobald sich Nervennetze verfestigen, schleicht sich das Bewußtsein als notwendige Bedingung heraus« und »je häufiger ein Netzwerk das Zusammengehören von Merkmalen gelernt hat, desto schneller wird das komplette Bild produziert« (ebd., 267). Etwas »Subjektives« bleibe deshalb eine »Kennzeichnung des Gehirns für sich selbst« (ebd., 270). Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, 9 Ebd., 61 Petra Gehring, Es blinkt, es denkt (s. Anm. 103) 275 Güven Güzeldere, Ist Bewußtsein die Wahrnehmung dessen, was im eigenen Geist vorgeht?, in: Thomas Metzinger (Hg.), Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn–München–Wien–Zürich 21996, 397–422 nennt die Verwechslung von Repräsentationen in einem Gehirn mit Repräsentationen von einem Gehirn einen »Fehlschluß der repräsentationalen Kluft« und betont, daß eine Analyse neuronaler Zustände nicht ausreicht, um die Intentionalität von »Bildern« zu erfassen (414). Wolf Singer, Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung (s. Anm. 98), 244 Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie, hg. von Ernst Florey und Olaf Breidbach, Berlin 1993, IX; XI. – In seiner Studie Memoria. Geschichte der Konzepte über die Natur des Gedächtnisses (ebd., 151–215) konstatiert auch Ernst Florey: »Neurobiologen befassen sich nicht mit dem Prozeß des Erinnerns, schon gar nicht mit dem Wiedererinnern, das Platon und Aristoteles so sehr am Herzen lag« (181). Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, aus dem Englischen von Heiner Kober, München–Leipzig 21996, 220; 323. – Damasio rehabilitiert überdies die in der Philosophie seit langem vergessene Rede vom inneren Bildwort: »die meisten Wörter, die wir beim inneren Sprechen verwenden, bevor wir einen Satz sagen oder schreiben, existieren in unserem Bewußtsein als akustische oder visuelle Bilder. Würden sie nicht zu Vorstellungsbildern, dann wären sie nichts, was wir wissen könnten« (ebd., 152). Olaf Breidbach, Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt. Ein Beitrag zur neuronalen Ästhetik, Wien–New York 2000, 43 Ebd., 37; 38; 39; 50 Vgl. den Abschnitt III dieses Kapitels Von einer »Eigenreferenz« des Gehirns spricht auch Breidbach in seiner Arbeit Konturen einer Neurosemantik, in: Interne Repräsentationen. Neue Konzepte der Hirnforschung, hg. von Gebhard Rusch, Siegfried J. Schmidt und Olaf Breidbach, viertes kapitel | 419

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Frankfurt am Main 1996, 9–38, wo er überdies festhält: von dieser Eigenreferenz »›weiß‹ das System allerdings nichts« (20; 29). Stephen M. Kosslyn, Image and Brain (s. Anm. 122), 1: die imagery »is one of the higher cognitive functions that will be firmly rooted in the brain«. – Ebd., 76: »visual mental imagery shares processing mechanisms with high-level visual perception, and so a theory of high-level visual perception can provide the foundation for a theory of visual mental imagery«. – Ungeachtet der wenig glücklichen Unterscheidung, die er zwischen picture und depicted image trifft (vgl. Anm. 127), bleibt Kosslyns Beschreibung der imagery richtungweisend; auch Damasio hat sie als Befreiung vom »Behaviorismus« der Neurobiologen verstanden. Colin McGinn, Mindsight. Image, Dream, Meaning, Cambridge Mass. – London 2004, 42: »so the organ of visual experience is really the brain, an organ that generates visual experiences when we entertain visual images«, »an organ that generates visual presentations of external objects in the process of forming mental images«. – Ebd., 29: »imaging is like thinking«, »forming an image is just an act of attending imaginatively«. Ebd., 39: »images are sui generis and should be added as a third great category of intentionality to the twin pillars of perception and cognition. There are three irreducibly different modes of intentionality«; images »are a distinctive type of mental category which needs to be acknowledged in its own right, they are a robust mental category in need of independent investigation«. Ebd., 23. McGinn nennt diese »visual intentionality« das »inner eye« des Geistes; darum ist für ihn die Formel vom »inneren Auge« auch »keine Metapher« (ebd., 42). S. den Abschnitt I dieses Kapitels Mindsight, 15; 162 Fünftes Kapitel (Seite 257 – 323) Dafür plädiert Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek, München 2004, 21. Ebd., 291; 434 Vgl. Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil, München 1992, 121 ff.: »Möglichkeit und Anspruch historischer Ontologie«. Friedrich Georg Jünger, Gedächtnis und Erinnerung, Frankfurt am Main 1957, 60: »die Bewußtseinsphilosophie, die von Gedächtnis und Erinnerung nichts weiß, wird zur Sackgasse der Vorstellungen«. Wenn Deleuze in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat auch der aristotelischen Philosophie unterstellt, die »Ähnlichkeit in der Wahrnehmung« des Sinnlichen in die logozentrische »Fessel« des Begriffs zu zwingen, dann unterschlägt er damit, daß für Aristoteles »das Ähnliche« niemals ein Begriff, sondern 420 | anmerkungen

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ein Sprach- und Findungstopos ist, der dem Begriff ebenso wie jeder Definition vorausgeht: erst aus einem »Sehen des Ähnlichen« an differenten Dingen und Sachverhalten kommt das Philosophieren überhaupt zu Begriffen (s. den Abschnitt »Was Aristoteles vor Augen stellt« im dritten Kapitel dieses Buches). Jacques Derrida, Positionen, hg. von Peter Engelmann, Graz–Wien 1986, 70 f. Ebd., 91. – Dennoch sieht Derrida sich in »fast absoluter Nähe« zu Hegel, insofern die différance »die Bruchstelle mit dem System der Aufhebung« markieren soll (ebd., 92). Worauf Derrida mit seiner différance hinaus will, wäre genauer seiner Auseinandersetzung mit Hegel und Husserl zu entnehmen; eine ausführliche Darstellung dieser Rückbezüge findet sich bei Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt am Main 1984. Ganz im Gegensatz zu der »Nähe zu Hegel«, in die Derrida sich rückt, urteilt Frank zutreffend: »der Dialog mit Hegel bleibt ein ou topos, eine Utopie des Neostrukturalismus« (ebd., 345). Jacques Derrida, Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main 1983, 123 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 21985, 211 Ebd. Positionen (s. Anm. 6), 71 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1981, 289 Positionen (s. Anm. 6), 38 f. Ebd., 42 Ebd., 68 f. Jacques Derrida, L’écriture et la différence, Paris 1967, 410. – Hinter der Differenzphilosophie Derridas steht stets auch Saussures Cours de linguistic générale (hg. und kommentiert von Tullio di Mauro, Paris 1972). Ich habe mir erlaubt, diese linguistischen Bezüge auszuklammern, ohne damit, wie ich hoffe, die Grundzüge des Philosophierens Derridas zu verfälschen. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt am Main 1976, 422–424 Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? (s. Anm. 7) urteilt zutreffend, wenn er notiert, Derrida lasse dem Subjekt keine Möglichkeit, über das »In-Struktursein« hinauszugelangen (83). Jacques Derrida, Die différance. Ausgewählte Texte, mit einer Einleitung hg. von Peter Engelmann, Stuttgart 2004, 135 S. den Abschnitt I im zweiten Kapitel dieses Buches Jacques Derrida, Die différance, 119 Ebd., 134 Ebd., 130 f.; 135 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von Joseph Vogel, München 1992, 330 ff.; 76 f.; 83 Ebd., 11 fünftes kapitel | 421

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Ebd., 83 Ebd., 11 f. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, 142 Differenz und Wiederholung, 172 f. Différence et répétition, Paris 1969, 355 Differenz und Wiederholung, 173 Hélène Védrine, Le sujet éclaté, Paris 2000, 132 Différence et répétition (s. Anm. 30), 156 Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (s. Anm. 1), 291; 434. – S. hierzu den Abschnitt IV dieses Kapitels. Ebd., 434 Gilles Deleuze, Logique du sens, Paris 1969, 302 f. – Mit der Wirklichkeit und Unwirklichkeit des Bildes im Film befaßt Deleuze sich später in seiner Schrift L’image-mouvement, Paris 1983, und mit dem Verhältnis von Bild und Zeit in seiner Arbeit L’image-temps, Paris 1985. Differenz und Wiederholung, 334–336 Sophistes, 236 b – 255 d Differenz und Wiederholung, 336 Ebd., 253; 261; 335 Ebd., 262; 264 f. Woran erkennt man den Strukturalismus?, in: F. Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie 8 (1975) 269–302; hier: 271–277 Differenz und Wiederholung, 244 Ebd., 157–158 Ebd., 180; 177 Ebd., 175 Ebd., 126; 368 f. Vgl. hierzu den III. Abschnitt im zweiten Kapitel meines Buches. Festzuhalten bleibt jedoch, daß die topische inventio bei Vico eine Tätigkeit des ingenium ist, also einer »subjektiven« Instanz. Dieses ingenium arbeitet zudem mit von ihm erinnerten Bildern – nicht mit anonymen Trugbildern. Differenz und Wiederholung, 84; 288 f.; 155; 287 Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? (s. Anm. 7), 39 Differenz und Wiederholung, 158; 281 Ebd., 291 Ebd., 244 Ebd., 329 Ebd., 333–337 Ebd., 46; 76 Ebd., 29 Ebd., 264 f.; 359 Ebd., 88 Ebd., 248 422 | anmerkungen

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Ebd., 59. – Deleuze will seine Differenzphilosophie des univoken Seins von Duns Scotus und Spinoza herleiten, vgl. dazu sein vorzügliches, aufschlußreiches Werk Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, aus dem Französischen von Ulrich Johannes Schneider, München 1993 Ebd., 30 Ebd., 12 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 410 mit Zusatz. – Vgl. hierzu Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil (s. Anm. 3), 170–178. Differenz und Wiederholung, 27; 29 Vgl. das zweite Kapitel dieses Buches, insbesondere den Abschnitt IV: »Kants Hypotypose als Versinnlichung von Begriffen«. Differenz und Wiederholung, 26 Ebd., 15–18 Ebd., 38–45; 85 Ebd., 357; 363 Ebd., 20–24; 128 Die Wiederholung, aus dem Dänischen übersetzt von Emanuel Hirsch (Gesammelte Werke, hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Abt. 5/6), Gütersloh 21991, 3; 22 Ebd., 3; 4 Philosophische Brocken oder ein Bröckchen Philosophie, übersetzt von Emanuel Hirsch (Gesammelte Werke, Abt. 10), Gütersloh 31991, 8; 11; 48; 56. – Ebd., 62: »der Glaube selbst ist ein Wunder, und alles was vom Paradox gilt, gilt auch vom Glauben«. Der Satz des Gilles Deleuze »wenn die Wiederholung möglich ist, dann entspricht sie eher dem Wunder als dem Gesetz« nimmt den Gedanken Kierkegards auf – ohne freilich ein Satz im »Theater des Glaubens« zu bleiben. Der Begriff Angst, übersetzt von Emanuel Hirsch (Gesammelte Werke, Abt. 11/ 12), Gütersloh 31991, 15 f. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Band 12, Basel 2004, Spalte 738 Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Zweiter Teil, aus dem Dänischen übersetzt von Hans Martin Junghans (Gesammelte Werke, Abt. 16), Gütersloh 31994, 131 Ebd., Erster Teil, 198 Differenz und Wiederholung, 100; 129 Stadien auf des Lebens Weg, aus dem Dänischen unter Mitarbeit von Rose Hirsch übers. v. Emanuel Hirsch (Gesammelte Werke, Abt. 15), Gütersloh 31991, 9–15 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, 384 f. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, Werke Bd. 13, Hamburg 2002, 203 Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, übersetzt von Julius Frankenberger, mit einer Einleitung von Erik Oger, Hamburg 1991, 14 f.; 19 fünftes kapitel | 423

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Ebd., I; V Ebd., 9 f.; 22; 23 Ebd., 1; 3; 21 Ebd., 125; 239 Vgl. Anm. 41 in diesem Kapitel Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, übersetzt von Martin Weinmann, Hamburg 1989, 76 ff. Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (s. Anm. 1), 656 Materie und Gedächtnis, 1 Jean-Jacques Wunenburger, Filosofia delle immagini, 243: »spirito et materia costituiscono, per Bergson, campi di immagine virtuale, che si ricongiungono nell’attualità del vedere. E l’immagine è nello stesso tempo l’essenza della materia e l’essenza della memoria: in altre parole, l’essere stesso del mondo«. Materie und Gedächtnis, 72 Vgl. viertes Kapitel, Abschnitt II: »Anschauliches Denken« oder »erkennendes Anschauen«? Materie und Gedächtnis, 2–4 Ebd., 59; 61; 64; 66; 69 Ebd., 129 So heißt es auch in dem Buch Schöpferische Entwicklung, Jena 1912, 17 Materie und Gedächtnis, 19 Vgl. in unserem dritten Kapitel die Abschnitte II, III und IV Materie und Gedächtnis, 19 Differenz und Wiederholung, 113 Bei Bergson gerät das Vergessen zu einem »durch die Materialität in uns« (Materie und Gedächtnis, 174) bedingten bloßen Epiphänomen der bewußten Erinnerung; deshalb fällt aus seiner theoretischen Konstruktion »reiner Fälle« jedwedes Vergessen (ohne das doch das Erinnern gar nicht gedacht werden kann) folgerichtig heraus. In unserer Philosophie des Erinnerungsbewußtseins bleibt demgegenüber – mit Bergsons Worten gesprochen – das Vergessen ein durchaus »reiner«, nämlich nicht eliminierbarer Fall, verknüpft mit dem ebenfalls »reinen« Fall eines Verlöschens der Bilder der memoria – und diese »reinen Fälle« verdanken sich keiner hypothetischen Konstruktion. Materie und Gedächtnis, 78 f. S. viertes Kapitel, Anm. 135 Materie und Gedächtnis, 79 Ebd., 68–70 Ebd., 71 Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung (s. Anm. 89), 77 Materie und Gedächtnis, 144 f. Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte Vergessen (s. Anm. 2), 664 Anm. 18 Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, 73 Materie und Gedächtnis, 74 f. 424 | anmerkungen

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Ebd., 141; 163; 127 Ebd., 135 Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, (s. Anm. 2), 664 Materie und Gedächtnis, 141; 169 Filosofia delle immagini (s. Anm. 92), 401: »l’immagine non è comunque riconducibile ad una specie marginale, o di retroguardia, di rappresentazione. L’immagine, anzi, occupa lo spazio, tutto lo spazio, che separa i due estremi della rappresentazione: il puro concetto privo d’immagine e il suo contenuto empirico«. Zum Beispiel Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, 16: »da die Reflexion auf den Begriff des Bildes gar nicht anders als philosophisch geschehen kann, kommt man zu dem Ergebnis, daß die Philosophie des Bildes ein Teil der Bildwissenschaft ist, oder umgekehrt, daß die Bildwissenschaft einer Philosophie des Bildes bedarf.« Das »exemplarische« Modell der »Repräsentation«, das sich durch die facettenreiche Geschichte dieses Begriffs bis hin zur neostrukturalistischen »Kritik an Repräsentation« hindurchzieht, ist das einer bipolaren Differenz zwischen repraesentamen und repraesentandum, enger gefaßt: zwischen »repräsentierendem Begriff« und der durch ihn »zu repräsentierenden Sache«. Auch Wunenberger geht von diesem exemplarischen Modell aus, um das »Bild« von ihm abzuheben. In der neueren Forschung – insbesondere der Kognitionswissenschaft – hat dieses Modell seinen exemplarischen Status eingebüßt, und zwar wegen des nicht zu eliminierenden intentionalen Gehalts der in Begriffen sich artikulierenden »mentalen Repräsentation«. Damit die »mentale Repräsentation« ein zu Repräsentierendes überhaupt intendieren kann, muß ihr ein intentionales Moment innewohnen, eine (neurobiologisch und naturalistisch nicht zu verifizierende) »Intentionalität«, die mithin zu den »Erfüllungsbedingungen einer Repräsentation« gehört (Louise Röska-Hardy, Wie physisch ist der Geist?, in: Wolfgang R. Köhler / Hans-Dieter Mutschler (Hg.), Ist der Geist berechenbar? Philosophische Reflexionen, Darmstadt 2003, 147–167; hier: 158). Damit entsteht die Frage: »ist die Repräsentationsbeziehung als eine zweistellige Relation tatsächlich adäquat erfaßt, oder handelt es sich bei der Repräsentation vielmehr um eine dreistellige oder triadische Beziehung?« (ebd., 164). Ohne Herausarbeitung der Intentionalität als unverzichtbares drittes Moment im Gefüge von »Repräsentation« bleibt jedenfalls das Konzept der »mentalen Repräsentation« völlig nebelhaft. Und hieran schließt sich eine weitere Frage, nämlich: ob denn nicht Intentionalität »nur auf der Ebene der Person adäquat zu erfassen ist« (ebd., 165). Gegenüber Ricœur und anderen hier nicht zu nennenden Autoren, die Erinnerung schlicht als vergegenwärtigende Re-präsentation verstehen wollen, betont die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins die »veranschaulichende Intentionalität« der sich erinnernden Person. Sie unterläuft damit das zweistellige Modell von Repräsentation mit einem triadischen, indem sie der Bipolarität von repraesentamen und repraesentandum die intentional erzeugte »veranschaulifünftes kapitel | 425

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chende Repräsentanz« einfügt; die imagines memoriae geraten ihr damit weder zu »Wiederholungen« (können sie doch nur sich selber »wiederholen«) noch zu unscharfen »Re-präsentationen«. Das »exemplarische« Repräsentationsmodell wird mit der Philosophie des Erinnerungsbewußtseins in ähnlicher Weise unterlaufen wie in Wunenbergers Philosophie der Bilder, derzufolge ein »Bildraum« den ganzen Raum »der Gegensätze der Repräsentation« besetzt. Massimo Cacciari, Der Spiegel Platons, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main 1994, 109–118; hier: 115 Marsilius Ficinus, Expositio Prisciani et Marsilij in Theophrastum De sensu ac phantasia et intellectu, in: Opera omnia, Basileae 1576, tom II, p. 1825. – S. hierzu das aufschlußreiche Kapitel »Imaginatio et phantasia: die Mitte des Geistes« in dem Werk von Bettina Dietrich, Darstellung von Einfachheit. Die Idee des Schönen in Marsilio Ficinos Grundlegung einer Metaphysik des Geistes, München 2000, 164–180. In diesem Buch wird auch die memoria-Lehre des Florentiner Philosophen vorgestellt. Der Spiegel Platons, 115 Hua Bd. X, 32 Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 289; 79; 81 Im Bd. XXIII der Husserliana. – Vgl. hierzu die Abschnitte »Husserl versus Kant: Anschauung und Anschaulichkeit« sowie »Primäre und sekundäre Erinnerung. Husserls Entdeckung der Retention« im zweiten Kapitel unseres Buches mit den Anmerkungen 94 und 103. Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 81 S. hierzu die Abschnitte II, III und IV im zweiten Kapitel, wo ich ausgeführt habe: »phantasia meint bei Aristoteles die Veranschaulichungsenergie der Seele«. Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 79. – Vgl. ebd., 364: »ist die Schwierigkeit, die Erinnerung vom Bild zu unterscheiden, nicht die Crux des Phänomenologie des Gedächtnisses?« Ebd., 41 Ebd., 82 Ebd., 432–434. – Ricœur widmet dem Wort »Repräsentanz« ein langes Kapitel (ebd., 425–437). Insoweit Repräsentanz »Vertretung« sein soll, spricht er ihr einen eigenen »Wahrheitsmodus« zu, trennt sie jedoch strikt von jeder picture theory, weil diese die Repräsentanz auf eine »imitative Kopie« reduzieren würde. »Allerdings«, so bemerkt er dann, »wird man dieses Gespenst nie ganz los, insofern die Idee der Ähnlichkeit kaum ohne Rest eliminierbar zu sein scheint« (432). Ebd. Zu den Schwierigkeiten, die Husserl selber mit dem Begriff »Erscheinung« hatte, vgl. die Anm. 94 im zweiten Kapitel. Für eine ausführliche Darstellung meiner Überlegungen zur historischen Ontologie fehlt hier der Raum. Ich darf mir deshalb erlauben, den Leser auf mein 426 | anmerkungen

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Buch Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil, mit dem Kapitel »Möglichkeit und Anspruch historischer Ontologie« (vgl. oben Anm. 3) sowie auf die beiden Studien Können Tatsachen sprechen? Das Janusantlitz der ›facta historica‹ im Spiegel von Geschichtstheorie und reflektierender Vernunft (in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, hg. von Günter Figal, Bd. I, Tübingen 2002, 231–257) und Können Tatsachen sprechen? Überlegungen zur Darstellbarkeit historischer Faktizität (in: Sprache der Geschichte, hg. von Jürgen Trabant, München 2005, 65–74) zu verweisen. Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 403; 365 In seiner Studie Philosophie der Repräsentation und Repräsentation der Philosophie. Skizze einer Wissenschaft der Repräsentation (in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt ›Darstellen‹? (s. Anm. 121) will Francois Laruelle das philosophische Denkmodell der Repräsentation, als von der Philosophie »selbstgesetzt«, von einer »Wissenschft der Repräsentation« streng unterscheiden, die sich auf ein universales und damit »reales Kausalschema« soll stützen können, um die Dyade von repraesentamen und repraesentandum in der philosophisch begriffenen Repräsentation zu unterlaufen (ebd., 80–101). – Aus philosophischer Perspektive dürfte solche »Wissenschaft der Repräsentation«, insofern sie dem Gedanken der »Immanenz« einer Ursache im mannigfaltigen »Realen« aufruht, problematisch bleiben; gleichwohl macht diese Studie deutlich, daß Philosophie und Wissenschaft nicht in ein und derselben Weise »repräsentieren« (und das gilt auch für den Gebrauch des Terminus »Repräsentation« in der Neurowissenschaft). Thomas Mormann, Ist der Begriff der Repräsentation obsolet?, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997) 349–366; hier: 351 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil (s. Anm. 82), 274 Ebd., Erster Teil, Darmstadt 41964, 23 Louis Marin, Die klassische Darstellung, in: Was heißt ›Darstellen‹? (s. Anm. 121), 375–397; hier: 376 Ebd., 377. – Marin ist der Verfasser des aufschlußreichen Werkes La Critique du discours. Etudes sur la ›Logique de Port-Royal‹ et les ›Pensées‹ de Pascal, Paris 1975. Ebd., 383. – Louis Marin ist auch der Autor des Buches Des pouvoirs de l’image, Paris 1993 (Von den Gewalten des Bildes, übersetzt von Bernhard Nessler, Berlin 2004). Vgl. die Anm. 35 in unserem vierten Kapitel. Für Hegel gilt ja stets: »der Gedanke ist die Sache« (Enz § 465), und daraus folgt: »bliebe, wie es der Repräsentationalismus annimmt, der erkennende Bezug des Subjekts auf die Wirklichkeit notwendig durch Repräsentationen gleich welcher Art vermittelt, wäre das Programm von Hegels Epistemologie bereits im Ansatz gescheitert, da das Erkennen seinen Begriff, die Vernunft, ipso facto nie realisieren könnte« (Ludwig Siep / Christoph Halbig / Michael Quante, Direkter Realisfünftes kapitel | 427

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mus. Bemerkungen zur Aufhebung des alltäglichen Realismus bei Hegel, in: Ralph Schumacher in Verbindung mit Oliver R. Scholz (Hg.), Idealismus als Theorie der Repräsentation, Paderborn 2001, 147–163; hier: 157. WW, Bd. 3, Frankfurt am Main 1970, 78; 80 Ebd., 59 f. Hinsichtlich des Einspruches, den Vicos Neue Wissenschaft gegen die Idee einer Repräsentation durch Zeichen erhebt, wie die Art de penser sie vertreten hatte, vgl. Stephan Otto, Sulla convertibilità di segni e significati. La »rappresentazione figurata« della storia in Vico, in: Il Pensiero, Nuova serie, XLI (2002/1), 7–16. Ebd., 591 Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 361–437 Ebd., 343 Ebd., 355œ Sechstes Kapitel (Seite 325 – 370) Ein Sammelband mit dem Titel Theorie der Subjektivität. Dieter Henrich zum 60. Geburtstag, hg. von Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann, Ulrich Pothast, Frankfurt am Main 1987, unternahm den Versuch, »die komplexe Situation zu dokumentieren, in der sich das Nachdenken über Subjektivität heute findet« (ebd., 9). Zu diesem Befund kommt auch Monika Betzler in ihrem Buch Ich-Bilder und Bilderwelt, München 1994, 86 Hermann Schmalenbach, Das Sein des Bewußtseins, in: Philosophischer Anzeiger IV (1929/1930), 344–432; hier: 376 f. In den Verhören vor der kirchlichen Inquisition hat Giordano Bruno seine »Zweifel« am Personbegriff nicht verschwiegen: »ho in effetto dubitato circa il nome di persona« (Œuvres complétes de Giordano Bruno, Documents I, Le procès, Paris 2000, 73; 271): »Person« sei seit Augustinus als »theologisches« und »neues«, der Antike unbekanntes Wort zur Bezeichnung der drei göttlichen Hypostasen in Gebrauch gekommen. Aber auch in seiner Philosophie hat Bruno dieses Wort nicht benutzt – in seinen Monismus der All-Einheit einer unendlichen Welt hätte es eine verendlichende Grenzziehung eingetragen. Brunos Zweifel am Personbegriff ist insofern paradigmatisch, als auch in den monistischen Systemen der klassischen deutschen Philosophie die »Person« unscharf, wenn nicht prekär bleibt. – Zu »Person als Grenzbegriff« s. den Abschnitt III dieses Kapitels. Dieter Henrich, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik (Festschrift für Hans-Georg Gadamer), Bd. I, Tübingen 1970, 257–284; hier: 268 f. Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt am Main 1986, 34; 36; 63 Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung (s. Anm. 5), 271 Ebd., 277 428 | anmerkungen

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Ebd., 271 Ebd. Vgl. die Einleitung zum ersten Kapitel dieses Buches. Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung (s. Anm. 5), 260; 270 Ebd., 275 Ebd., 260: »ein Bewußtsein ist aber kein Erscheinen ohne ein Erscheinen des Bewußtseins selber. Dieses Erscheinen muß freilich von ganz anderer Art sein als etwa bewußte Bilder und Gefühle sind«. Ebd., 275–280 Vgl. die Anm. 18 in unserem ersten Kapitel. Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992, 614–622 Ebd., 614 Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst, München – Wien 2001, 260; 153; 259; 35 Vgl. hierzu das Kapitel »Selbstbewußtsein und bewußtes Leben« in meinem Buch Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil, München 1992, 198–209 Dieter Henrich, Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, 124 Dieter Henrich, Bewußtes Leben, Stuttgart 1999, 21 Dieter Henrich, Fluchtlinien, Frankfurt am Main 1982, 24 Selbstverhältnisse (s. Anm. 21), 51 Bewußtes Leben (s. Anm. 22), 51 f. Ebd., 59–61 Ebd., 59; 62 Vgl. Anm. 6 Bewußtes Leben (s. Anm. 22), 63 Vgl. die Anm. 11 und 12 S. hierzu den Abschnitt VII »Erkenntnisrelevante Veranschaulichung und visual mental imagery« in unserem vierten Kapitel. Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt am Main 1986 Ebd., 21 Subjekt, Person, Individuum, in: Manfred Frank / Gérard Raulet / Willem van Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt am Main 1988, 7–28; hier: 9 Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 90 f. Ebd., 60 Ebd. Zu Manfred Franks Subjektitätstheorie vgl. auch meine Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, Zweiter Teil (s. Anm. 20), 159– 170. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981, 1. Band, 526 ff. sechstes kapitel | 429

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Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988, 52; 223; 227; 229. – George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, mit einer Einleitung von Ch. Morris, aus dem Amerikanischen übersetzt von U. Pacher, Frankfurt am Main 1973 Alkibiades I, 129 b 11 ff. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem von Habermas verkündeten »Paradigmenwechsel« nimmt mit Recht auch Henrich ein »implizites Selbstverhältnis« als Voraussetzung und »elementare Bedingung des Verstehens von Wahrheit« in den Blick (Dieter Henrich, Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt am Main 1987, 35). Dieter Henrich, Konzepte (s. Anm. 42), 35; 38; 42 f. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 21789, 42; 420 Anm.; vgl. Werke, Bd. 1, hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg 1998. – Ders., Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers, in: Werke, hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Erster Band, Leipzig 1812 (Nachdruck Berlin 2001), 276 f. – Zu Jacobis Philosophie s. auch den Abschnitt III im zweiten Kapitel unseres Buches. Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München 1997 Ebd., 119 Ebd., 19 Bei Kant war das die »figürliche Synthesis«, die ich im III. Abschnitt des zweiten Kapitels »einen für das Experiment der ›reinen‹ Vernunft höchst gefährlichen Gedanken« genannt habe. Selbstbewußtseinsmodelle, 149; 209–219 Ebd., 222 Ebd., 137; 141 Ebd., 138 Ebd., 132 Ebd., 224 Ebd., 248 Ebd., 266, Anm. 291 So Hermann Schmitz, Ja, wenn Sie sagen können, was ich bin, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003) 526–532; hier: 531 Selbstbewußtseinsmodelle, 134 S. die Anm. 112 in unserem zweiten Kapitel. Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, hg.von Immnuel Hermann Fichte, Band IV, Berlin 1971, 42 Im Folgenden greife ich auf Überlegungen zurück, die ich in Rekonstruktion der Geschichte, Zweiter Teil (s. Anm. 20), 229–236 im Kapitel »Die Modalontologie des ich bin und dessen Faktizitätsrest« entwickelt habe. Die dort im Kontext der 430 | anmerkungen

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Kritik der historischen Vernunft stehenden Gedankengänge bleiben für die Philosophie des Erinnerungsbewußtseins insofern grundlegend, als das Sicherinnern von »Geschichte« und geschichtlichem »Gewesensein« niemals abtrennbar ist. Hans Jonas, Von der Freiheit de Bildens, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 105–124; hier: 121 Die aus Husserls Nachlaß veröffentlichten Texte zum Problemkreis »Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung« sind im Band XXIII der Husserliana (s. Anm. 103 in unserem zweiten Kapitel) nachzulesen. Zu Husserls These »Erinnerung bezw. Retention ist nicht Bildbewußtsein« (Hua X, 34) darf ich auf den VI. Abschnitt im zweiten Kapitel zurückverweisen. Vgl. dazu den Abschnitt V im zweiten Kapitel. S. zweites Kapitel; Anm. 1 Paradigmatisch dafür ist das Werk von Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 32006. Belting verweist auf den Körper mit seinen Sinnen als »Ort« der Bilder; er behauptet, »innere und äußere Bilder fallen unterschiedslos unter den Begriff ›Bild‹« (ebd., 27) und erklärt sodann: »unser Gedächtnis ist selbst ein körpereigenes, neuronales System aus fiktiven Orten der Erinnerung« (ebd., 66). Aber »äußere« Bilder und Bilder des Erinnerns fallen bestenfalls in einem äquivoken, niemals »grundlegenden« Bildbegriff zusammen, und das »Muster« neuronaler Synapsen liegt einzig unserem »körpereigenen Gedächtnis« zugrunde, ist aber noch kein »Ort der Erinnerung«, auch nicht ein »fiktiver«. So Winfried Nöth, zuletzt in seiner Studie Warum Bilder Zeichen sind, in: Stefan Majetschak (Hg.), Bild – Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München 2005, 49–61. Diese der Linguistik abgelesene Verkürzung der ikonischen Qualität des Bildes ist zuhöchst problematisch, macht aber deutlich, daß die Bildwissenschaft noch keine überzeugende Kontur gefunden hat. Wege vom »Zeichen« zum »Bild« werden immerhin für gangbar gehalten, wenn es da beispielsweise heißt, »innere Bilder« könnten vermittels eines wahrgenommenen Zeichens zu einer »initialen Kontextbildung« beitragen, oder das »Bildvermögen« könne einen »Übergang zur Beherrschung der prädikativen, wortsprachlichen Kommunikation vermitteln«: »Bilder gebrauchen zu können ist dann eine Fähigkeit, die mit Selbstbewußtsein ausgestattete Wesen nicht nur als entfernte Möglichkeit haben; sie ist vielmehr, wie das prädikative Sprachvermögen, eine notwendige Voraussetzung für das Entfalten von Selbstbewußtsein« (Jörg R. J. Schirra / Klaus Sachs-Hombach, Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006) 287–905; hier: 903 f.). Es bleibt der Bildwissenschaft zu wünschen, daß sie einen Zugang zu den philosophischen Problemen des Selbstbewußtseins findet. Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005, 13; 15. – Wiesing gibt eine prägnante und informative Skizze der gegenwärtigen bildwissenschaftlichen Debatten, die er mit philosophischem Blick verfolgt. sechstes kapitel | 431

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Ebd., 16 Zum Verhältnis von »Bild« und »Repräsentation« vgl. den Abschnitt IV »Repräsentation im Begriff und Repräsentanz im Bild« am Ende unseres fünften Kapitels. Artifizielle Präsenz, 31 Ich darf hier auf den Abschnitt V im zweiten Kapitel dieses Buches mit den Anmerkungen 62, 69, 70 und 80 sowie auf den VI. Abschnitt mit der Anmerkung 94 verweisen. Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung (Hua, Band XXIII, 36) Ebd., 85 Ebd., 19 Ebd., 24 Hua, Band III/1, 120; 208. – Vgl. die Anmerkungen 68 und 69 in unserem zweiten Kapitel. Vgl. die Abschnitte V und VI im zweiten Kapitel. Hua, Band XXIII, 591 Der von Hans Ebeling herausgegebene Sammelband Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt am Main 1976, vereint wichtige Beiträge zur conservatio sui und zur conservatio in esse, zur »Erhaltung im Sein« und zur »Erhaltung von Bewußtsein«; keine einzige dieser Studien aber streift auch nur das Problem einer Erhaltung des »Selbst« beim Erinnern des dem Selbst fremden »Anderen« – auch dies ein Beleg für die »Erinnerungsvergessenheit« der Philosophen. S. den Abschnitt IV im fünften Kapitel. Mikel Dufrenne, The Phenomenology of Aesthetic Experience, translated by Edward S. Casey et al., Evanston 1973, 350: »the image adheres to perception in constituting the object«, »opens itself to the object, prefiguring it from deep within itself as a function of its implicit knowledge«. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band I: In Swanns Welt, deutsch von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt am Main 1953, 12 Zu der Präzisierung der von Boethius konzipierten Philosophie der Person s. mein Buch Person und Subsistenz. Die philosophische Anthropologie des Leontios von Byzanz, München 1968. Dieter Henrich, Bewußtes Leben (s. Anm. 22), 199 Dieter Henrich, Selbstverhältnisse (s. Anm. 21), 51 Martin Brasser, Einleitung zu dem Sammelband Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1999, 21 Vgl. den Abschnitt VII im zweiten Kapitel. Max Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, hg. von Maria Scheler, Bern 21957 (Gesammelte Werke, Bd. 10), 151. – Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, hg. von Maria Scheler, Bern–München 51966 (Gesammelte Werke, Bd. 2), 371 Schriften aus dem Nachlaß, 151. – Der Formalismus in der Ethik, 382; 383; 389; 391 432 | anmerkungen

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Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Späte Schriften, hg. von Manfred S. Frings, Bern–München 1976 (Gesammelte Werke, Bd. 9), 39 Zusätze zu den nachgelassenen Manuskripten, in: Späte Schriften, 281 Der Formalismus in der Ethik, 384 f.; 387; 394; 397; 481 Ebd., 385; 389; 390. – Die Stellung des Menschen im Kosmos (s. Anm. 91), 39 Die Idole der Selbsterkenntnis, in: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern–München 51972 (Gesammelte Werke, Bd. 3), 259 Schriften aus dem Nachlaß (s. Anm. 89), 19 Ebd., 44 f. S. die Anm. 111 in unserem zweiten Kapitel. Der Formalismus in der Ethik, 418 und 397 Ebd., 390 So Wolfgang Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt am Main 31975. Der Autor möchte in seiner transzendentalen Ontologie des Geistes auch der Erinnerung und den Erinnerungsbildern einen Platz reservieren. »Ein Selbst ist Erinnerung«, erklärt er, und: die Erinnerung »ruft zurück, sie verleiht dem Zurückgerufenen den Charakter des einst Gewesenseins«. Aber dieses »Gewesensein« wird dem Vergangenen weder vom Selbst noch von der Erinnerung »verliehen«; es ist der ontologische Seinsmodus des Vergangenen selber, der durch die Bilder im Erinnern veranschaulicht wird. Die modale Ontologie des Gewesenseins ist in eine »transzendentale« Ontologie Cramerschen Zuschnitts, in der einzig »die Imagination des Erinnerten die Erinnerung konstituiert« (ebd., 71 f.) nicht einholbar. Willard Van Orman Quine, Über das, was es gibt (Übersetzung aus From a logical point of view, Cambride/Mass.1953, 1–9), in: Metaphysik, Wege der Forschung, Bd. 346, hg. von Georg Jánoska und Frank Kauz, Darmstadt 1977, 139 Thomas Metzinger, Ganzheit, Homogenität und Zeitkodierung, in: ders. (Hg.), Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn 21996, 595–633; hier: 628 Dieter Henrich, Fluchtlinien (s. Anm. 23), 144 Marin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, 53 Romano Guardini, Ethik (Werke, Bd. 23), aus dem Nachlaß hg. von Hans Mercker, unter Mitarbeit von Martin Marschall, Paderborn 1993, 207 Confessiones X, 8: ibi mihi et ipse occurro. – S. hierzu den Abschnitt I im dritten Kapitel. Peter Rohs, Über Sinn und Sinnlosigkeit von Kants Theorie der Subjektivität, in: Neue Hefte für Philosophie 27/28, Göttingen 1988, 56–80; hier: 70 S. den Abschnitt III im ersten Kapitel. Zu dieser transzendentalen Regel vgl. auch meine Rekonstruktion der Geschichte, Zweiter Teil (s. Anm. 20), 257 ff. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München 1992, 104 f.

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Personenregister Adorno, Th. 16, 391 Agricola, R. 69 f., 399 Alberti, M. 385, 386 Albertini, T. 379 Aristoteles 14, 20, 70, 108, 111, 141, 142, 144, 151 ff., 174 f., 195, 200, 214, 216, 218, 220, 232, 261, 262, 279, 300, 311, 341, 355, 365, 370, 401, 402 Arnauld, A. 105 Arnheim, R. 200, 209 Assmann, A. 138, 396 Augustinus 35, 36, 127, 129, 141 ff., 160, 178 ff., 189 ff., 199, 212, 221 f., 346 f., 353, 367, 397, 403, 404, 405, 406 Bacon, F. 29 Baudelaire, Ch. 46 Baumgarten, A. G. 199, 235, 407 Beekmann, J. 71, 381 Beierwaltes, W. 397, 404, 406 Belting, H. 431 Benjamin, W. 195, 198, 235, 405, 406, 407 Benn, G. 58 Bergson, H. 257, 294 ff., 393, 424 Bernart, L. de 389 Betzler, M. 428 Block, N. 414 Blumenberg, H. 72, 117, 185, 216 Boethius 359, 432 Bonaventura 225 Bovillus, C. 65 f., 75 f., 105, 169 Brachtendorf, J. 405 Breidbach, O. 252 f., 419 Bruno, G. 22, 66 f., 74, 76, 105, 107 f., 136, 166, 168, 169, 379, 380, 389, 402, 403, 428

Cacciari, M. 308 f. Campanella, T. 70, 74, 105, 381 Cassirer, E. 63, 197, 198, 200, 294, 317, 318 Certeau, M. de 321 Cézanne, P. 409, 410 Cicero 110 Conrad-Martius, H. 396 Cramer, W. 413 Croce, B. 37 Cusanus, N. 64 f., 77 Damasio, A. R. 252, 419 Dante, A. 168 Davidson, D. 240 f., 247 Deguchi, S. 407 Deleuze, G. 13, 22, 57, 62, 257, 269 ff., 383 ff., 296, 300, 420, 421, 423 Derrida, J. 62, 262 ff., 378, 421 Descartes, R. 31, 393, 41, 51 f., 63, 69, 71 f., 92, 169, 320, 350, 382 Dietrich, B. 426 Dilthey, W. 131, 251 Droysen, J. G. 251 Dufrenne, M. 358, 432 Dürer, A. 122 Düsing, K. 345 ff. Ebert, Th. 373 Ehrenfels, Ch. von 85 Epikur 177 Euklid 177 Fellmann, F. 379, 380 Feuerbach, L. 57 Fichte, J. G. 16, 23, 41, 145, 211, 284, 328, 334, 338, 345, 347, 350, 360 | 435

Ficino, M. 309, 426 Flasch, K. 412 Florey, E. 419 Foucault, M. 69, 265, 421 Frank, M. 340 f., 421 Frede, D. 400, 401 Fulda, H. F. 373, 376, 408 Gadamer, H.-G. 220, 262, 385, 410 Gentile, G. 37 Gilson, E. 147 f., 397, 403 Ginsburg, C. 321 Goethe 197, 204 Gruber, B. 154, 381 Guardini, R. 365 Güzeldere, G. 419 Habermas, J. 264 f., 342 f., 417 Halfwassen, J. 404 Hartmann, N. 349, 373 Hegel, G. W. F. 20 ff., 34 ff., 40, 41, 42 ff., 71, 75, 120, 139, 143, 145, 156, 161, 195, 196, 201 ff., 215, 264, 268, 284, 293, 318 f., 338, 345, 347, 369, 371, 374, 375, 376, 383, 393, 427 Heidegger, M. 51, 85 f., 266, 293, 340, 341, 349, 365 Henrich, D. 328 ff., 347, 350, 376, 385, 429, 430 Herder, J. G. 198, 213 f., 410 Hobbes, Th. 25 Hofmann, F. 414 Homer 26, 30 Höffe, O. 386 Hölderlin, F. 334, 336, 338 Humboldt, W. von 198 f., 205 f. Husserl, E. 16, 33, 75, 77, 80, 113 ff., 132 f., 165, 176, 268, 310, 312, 321, 349, 352, 353, 355 f., 361 f., 391 f. Hutter, A. 386, 387 Ivanka, E. von 404

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Jacobi, F. H. 48, 80, 102 f., 145, 244, 344, 371, 388 f., 407, 413 James, W. 233 Japp, U. 410 Jaspers, K. 145 Jonas, H. 352, 358 Jünger, F. G. 213, 219, 371, 398, 410, 411, 420 Kahn, Ch. 400 Kant, I. 16, 18, 19, 20, 23, 24, 27, 32, 33, 39, 41, 50, 54, 57, 62, 79, 80, 81 ff., 116, 117, 121, 124, 136 f., 141, 144, 148, 150, 163, 171, 172, 196 f., 202, 207, 211, 215, 235, 268, 276 f., 281, 308 f., 326 f., 338, 348, 353, 364, 367 f., 372, 383, 386 f., 390, 397, 398 Kemmerling, A. 417 Kemper, P. 376 Kertész, I. 17 Kierkegaard, S. 257, 271, 284, 288 ff., 382 King, R. A. H. 399, 400, 401 Klein, R. 63 König, J. 376 Kopernikus, N. 66 Kosslyn, S. 246, 254, 420 Kreuzer, J. 403 Kristeva, J. 263 Laruelle, F. 427 LeDoux, J. 245 f., 416 Leibniz, G. W. 40, 64, 373 Levi, P. 17 Locke, J. 81, 136 f., 241 f., 415, 416 Lullus, R. 381 Lütterfelds, W. 383, 388 Lyotard, J.-F. 57, 62 Maier, H. 402 Marcuse, H. 16 Marin, L. 317 f. Marion, J.-L. 382

McGinn, C. 254 f., 414, 420 Mead, G. 342 Merleau-Ponty, M. 126, 136, 409 Mersenne, M. 71 Mesch, W. 404, 406 Meulen, J. van der 401 Mitgutsch, A. 371 Mörchen, H. 388 Nietzsche, F. 284, 282 Nora, P. 13 Nöth, W. 431 Olivier, R. 237 Peperzak, A. 377 Peregrini, M. 32 Piaget, J. 382 Platon 29, 35, 36, 144, 190, 218, 217 f., 274 f., 290, 353, 397, 401 Plotin 141 f., 144, 148, 173 ff., 180 ff., 186 f., 404, 405 Porphyrios 173 Proust, M. 16, 358 Quintilian 111 Reckermann, A. 408 Ricci, S. 390 Richard von St. Viktor 359 Ricoeur, P. 62, 113, 114, 121, 125, 130, 257, 259, 273, 296, 307, 310 ff., 321, 322, 393, 395, 403, 426 Roth, G. 237 f., 247 f., 417, 418, 419 Röska-Hardy, L. 425 Sachs-Hombach, K. 431 Sandkaulen, B. 375, 408, 416 Savigny, E. von 410, 411 Searle, J. R. 411 Semprún, J. 17 Singer, W. 248 f., 418 Sokrates 29, 219

Soldati, G. 412 Sorabji, R. 400 Söhngen, G. 150 f. Spinoza, B. 31, 38, 207 Spruit, L. 389 Sturlese, R. 389 Szilasi, W. 398 Schacter, D. L. 417 Schaeffler, R. 384 Scheler, M. 79, 131 ff., 315, 358, 360 ff. Schelling, F. W. J. 23, 41, 279, 347 Schneider, H. J. 239 Schofield, M. 401 Schöpf, A. 397 Taylor, Ch. 16, 193, 223 f. Tesauro, E. 32 Theiler, W. 398 Thomas von Aquin 225 f. Tieck, L. 199 Topitsch, E. 383, 384 Trabant, J. 371, 372 Tugendhat, E. 411, 412 Valéry, P. 46 Védrine, H. 272 Vergil 46 Vico, G. 21, 22, 25 ff., 37, 38, 39 f., 51 f., 59 f., 81, 99, 138, 169, 195, 278, 279, 320 f., 372, 373, 377, 379, 422 Weinrich, H. 375 Welsch, W. 399, 400, 401 Wiesing, L. 353 f., 425, 431 Williams, B. 242 f., 378 Windelband, W. 397 Wittgenstein, L. 196, 200, 216 ff., 243 Wunenburger, J.-J. 307, 384, 392, 424, 425 Yates, F. 389 Zuccaro, F. 80, 94 f. personenregister | 437

Sachregister Absolute, das (Hegel) 56, 57 – s. auch Darstellung, Manifestation ähnlich (Topos) 69 f., 154, 160, 381, 399, 400, 421 Ähnlichkeit (Begriff ) 69 f., 279, 280, 420, 421 aisthesis, sinnliche Wahrnehmung (Aristoteles) 152, 154, 155, 162, 163, 398 – Verhältnis von aisthesis und mneme, Gedächtnis (Aristoteles) 157 Aitiologie, Denken der Anfänge (Vico-Hegel) 31, 33, 37 f., 43, 45, 56 Analogie 70 Anamnesis, Wiedererinnerung 14, 150, 373 Anschauung und Begriff (Kant) 80, 83, 87, 91, 92, 97, 98, 99, 103, 116, 281 (Kritik Jacobis 103 f., Kritik Husserls 114, 115, 385 ff.); Anschauung bei Kant ein polysemischer Grenzbegriff 97; Anschauung, kategoriale (Husserl) 114, 391 Anschaulichkeit, erkenntnisrelevante 13 ff., 195 ff., 225, 228, 231, 232, 387; ihre sprachbewegte Form 197 f.; (Baumgarten) 199; subjektive und eigentliche (Hegel) 204 f., 208; Dimension der Anschaulichkeit bei Kant nicht ausgeschritten 96, 100, 197, 386; Anschaulichkeit kein »erkennendes Anschauen« (Hegel) 200 f.; Anschaulichkeit ohne Bilder (Husserl) 114, 115, 116; Anschaulichkeit in der Phänomenologie 117, 119; Antinomien der phänomenologischen Anschaulichkeit 118; 438 | register

Anschaulichkeit und Modifikation (Husserl) 121, 123, 311, 393, 394; Anschaulichkeit und Lebenswelt (Husserl) 117; Axiologie der Anschaulichkeit 213; veranschaulichende Geometrie 65 f. – s. auch Figuration; Veranschaulichungsenergie (Aristoteles) – s. auch phantasia; Veranschaulichungsleistung 235 – s. auch Aufmerksamkeit, intentional imaging 354 f., 307; anschauliches Denken 200 f.; Anschauungsgebundenheit statt Anschaulichkeit (Kant) 388 ars inveniendi – s. Topik ars memoriae, Mnemotechnik 30, 34, 68, 85, 91, 107, 108, 109, 215, 384, 385, 389 Asymmetrie 260 ff., 280, 330, 340, 344, 345 f. – s. auch Differenzstuktur attentio, Aufmerksamkeit 234 f., 407 – s. auch intentional imaging; attentio-distentio (Augustin) 191 f. Auge, inneres 246, 418 »begleiten« (Kant) 19, 82, 368 Begriffsbildung, logische und sprachliche Form 197 f. Bewegung und Bild (Bergson) 297 Bewußtsein 244, 245; zuständliches (Bruno) 76; Vertrautheit mit Bewußtsein 328 f., 332 f., 335; Vertrautheitskontinuum 341; Bewußtseinsmodi: Anschauungsbewußtsein und Erinnerungsbewußtsein 232 f. Bild und Wort 18, 25, sematologische Differenz 23; Bild und Figur 20;

Bild und Name (Hegel) 22, 47; Bild und Zeichen (Vico) 28, 40; Sprache als Bild und Zeichen (Humboldt) 206; Schattenbild 68, 175; reines Bild (Kant) 88; Bild und Begriff (Kant) 82, 109; neutralisiertes Bild, Gegenbild, gleichsam-Bild, Erscheinung im Bild (Husserl) 122, 129, 356; ungleiches Bild (Augustin) 146, 190; Bildargument, Bildsubsistenz (Augustin) 146, 405; Bildmetaphorik (Plotin) 148, 149; unterschiedliches Bildverständnis bei Plotin und Augustin 150, 185; Urbild (Plotin) 1 48; Trugbild, simulacre (Deleuze) 270 ff.; Definierbarkeit des Bildes 354; Reflexivität des Bildes (Vico) 26; Bild und Reflexion (Herder) 198; Logik der Abbildung (Wittgenstein) 231; Intentionalität des Bildes (Bruno) 107; Kontingenz des Bildes (Aristoteles) 160; Nützlichkeit der Bilder (Bergson) 393; Bild und inneres Wort 212 f.; Bild nicht nur Vergegenwärtigung 310 – s. auch Vergegenwärtigung; Bild und Zeit 322; Bild »noch nicht gedacht« (Hegel) 45, 49; »schlafendes Bild« (Hegel) 46, 47; Wahrheit der Bilder (Hegel) 49; Bild »nur Äußerliches« (Hegel) 50; »Verallgemeinerung des Bildes« (Hegel) 50; Macht über das Bild (Hegel) 50; Bild des »nächtlichen Schachts« (Hegel) 45, 46; bildnerische und trugbildnerische Kunst (Platon) 272; Universum der Bilder (Bergson) 295 f., 305 f.; Traumbilder 400; Bildbewußtsein 23, 127, 131, 211, als bewegte Figur 355; Bildwissenschaft 353 f., 425, 431; Formen der Bildlichkeit 355 f.; Verbildlichung, ästhetische 356, 357;

Repräsentanz im Bild 308 ff.; Bilder der Zeitlichkeit (Augustin) 189 f.; Bildertheorien »ein unausrottbarer Irrtum« (Husserl) 189 f. character 30, 75, 372, 379, 380; poetischer Charakter (Vico) 33 – s. auch Metaphysik, poetische; grammatischer, geometrischer 30, 33, 68; in der Wiedererinnerung (Aristoteles) 168 – s. auch Figur, Gestalt coincidentia oppositorum 67 conceptus simplex figurae (Descartes) 74, 92 – s. auch Defiguration conscientia-scientia (Descartes-Vico) 52 Darstellung 17; als schematische und symbolische (Kant) 27 – s. auch Hypotypose; als Übergreifen und Übergriff (Hegel) 51 – s. auch Manifestation Darstellung-Darstellbarkeit 24, 27, 34, 38, 47, 56, 57, 65, 260 Darstellbarkeit-Denkbarkeit 24, 34, 45, 47, 58, 61 f., 72, 369 f., 378 – s. auch »begleiten« (Kant) Defiguration 72 f., 92 f., 382 Dekonstruktion des Subjekts 265 Denken, figurierendes 68 – s. auch Figuration Dialog, transidiomatischer 219 différance 263 ff. Differenz 258 ff.; sematologische zwischen Wort und Bild 21 f.; zwischen theoria und episteme (Aristoteles) 153 Differenzstruktur des Erinnerungsbewußtseins 257 ff. disegno (Zuccaro) 94 f., 385 – s. auch Zeichnung Dauer (Bergson) 299, 305

sachregister | 439

Egologie 259; egologische und nichtegologische Subjektivität 326 ff. Einbildungskraft, transzendentale 84, 87, 105, 106, 268 Emergenz 61 Endliches (Hegel) 37 – s. auch Kontingenz Epoche, phänomenologische 119 ff., 392 Ergriffensein, personales 221 Erinnerung (Fichte) 41; (Schelling) 42 Er-innerung, Insichgehen des Geistes (Hegel) 36, 37, 38, 41 f., 55, 60, 143 Erinnerung als Grundbegriff 59 Erinnerungen haben und Sicherinnern 24, 59 f., 331, 340, 351 Erinnerung, mittelbare und unmittelbare (Scheler) 134 ff. Erinnerung, Zeit, Zeitlichkeit 53, 142, 179 Erinnerung und Selbsterhaltung 357 Erinnerung, epagogische Funktion (Aristoteles) 172 Erinnerung als Siegelung (Aristoteles, kritisiert von Plotin) 155 f., 158, 174, 176 Erinnerung, transzendentale (Augustin) 143, 146, 150, 160 Erinnerung, reine (Bergson) 300 f. Erinnerung, sprachbewegte Form 210 f., 216, 220 – s. auch inneres Wort Erinnerungsbewußtsein 24, 326 ff., 352 f., 358 ff.; Erinnerungsbewußtsein und Selbstbewußtsein 360 – s. auch Erinnerungsbewußtsein und Theorie der Subjektivität 326 ff. Erinnerungsreakion (Wittgenstrein) 232 Erinnerungsvergessenheit 16, 347 Erklären-Verstehen 251 f.; Erklä440 | register

rungslücke, neurowissenschaftliche 237, 249, 250 Erlebnis (Husserl) 116; Erlebnis und Erleben (Scheler) 131, 133, 135; Erleben, neurowissenschaftlich 238, 239; Erlebnis-Erinnerung (Wittgenstein) 232 Erregungsmuster, neurowissenschaftlich 248, 250 Erscheinung (Kant) 55, 83, 85, 383, 384; (Husserl) 124, 394; (Plotin) 104 Faktizität 120, 351 figura, Figur 15, 18, 19, 20, 381, 382; (Baumgarten) 199; geometrische 64 ff.; simplex figurae conceptus (Descartes) 74, 92; Figur als Quantität und Qualität (Bruno) 74; figura-figuratio (Bruno) 403 – s. auch Gestalt; Figuration-Konfiguration 17, 40, 63 f., 65 ff., 71 ff., 90 f., 96 – s. auch Defiguration Finden-ars inveniendi 29, 30, 32, 33, 37, 40, 53, 69 f., 99, 108; (Augustin) 147, 148, 397; inventio-iudicium 108 – s. auch Topik Finden von Neuem 278 Findung, dialektische 69; Findungstopos 70 f. Freiheit, transzendentale 89, 90; (Hegel) 55 Gedächtnis 47, 48, 91; (Aristoteles) 151, 400; (Locke) 241 f.; (Kant) 41; (Hegel) 47, 48, 55; ikonische Konstitution 313; Arbeitsgedächtnis 246; Langzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis 240; Gedächtnisörter 13; Gedächtnisräume, kulturelle 16 Genealogie neuer Wissenschaft (Vico-Hegel) 320 f.

Genie 21, 32, 52, 372 – s. auch ingenium Geometrie 39, 40, 64 ff.; analytischesynthetische 39; geometria imaginaria (Leibniz) 40, 64; geometria della memoria 68, 69 Gestalt (Kant) 85, 88; (Aristoteles) 164, 166, 400 – s. auch Figur, Figuration Gestaltpsychologie 85, 90 Gewesensein 313 – s. auch Ontologie

Intentionalität, veranschaulichende (Bruno) 107; visuelle 155, 392 Introspektion 233 f. Insichgehen des Geistes (Hegel) 24, 373 – s. auch Er-innerung imago-vestigium (Augustin) 404 imaginatio, Imagination 15, 28 f., 32, 68, 309, 379, 426, 433 imagery, imaging 246, 254 f., 307, 414, 420

Handeln, kognitives 233; als Wahrheitskriterium (Vico) 54 – s. auch intentional imaging, Wahrheit Hermeneutik 239, 240 Historiogenesis 31 f., 321 Hypotypose (Kant) 27, 57, 110 f.

Kategorienwechel-Kategorienfehler, neurowissenschaftlich 239 Kausalität 244, 247; UrsachenGründe 247 f. Kontingenz, Endlichkeit 44, 48, 56, 57, 66, 75, 77, 203, 375, 376; (Hegel) »Nichtigkeit« 44

Ich, transzendentales, »stehend und bleibend« (Kant) 18, 19, 20, 60; »ich denke« (Descartes, Kant) 27, 51, 52, 235; Ich und Person 256; »ich bin« 365 f.; (Fichte) 350; (Husserl) 132, 395; »ich bin« und Personalität 337, 344, 349 f., 416; Modalontologie des »ich bin« 351; Ich in der Erinnerung 19, 20, 58; (Augustin) 143; (Husserl) 394, 396 Identität 16, 60, 412; Identität-Differenz 67, 77, 86; Identität der Person 337; Identität des Selbst 368; Kriterien der Identität 242, 243; (Wittgenstein) 229 Individualität 244, 245, 340 f., 358 f. ingenium, ingegno 21, 25, 27, 28 f., 32, 33, 44, 52 f., 61, 199, 372, 373, 422; ingenium-inventio (Vico) 32 – s. auch Finden, ars inveniendi, ingeniumWahrheit (Vico) 32, 33, 53 Innerlichkeit (Augustinus) 142; (Hegel) 20; »Mythos der Innerlichkeit« 221, 224 Intelligenz (Hegel) 35 f., 42 f., 45

Leib (Scheler) 363; (Bergson) 298 logos als Verhältnis (Aristoteles) 155 f. Logozentrismus 262 Macht über das Bild (Hegel) 50 Manier, Manierismus 93 f. Manifestation (Hegel) 50 ff., 319 – s. auch Darstellung mémoire involontaire (Proust) 16 mémoire habitude-mémoire souvenir (Bergson) 924 ff. memoria, offener Grundbegriff 35 memoria, intelligentia, voluntas (Augustin) 145, 190 – s. auch Bildargument, Bildsubsistenz, ungleiches Bild Metaphysik (Platon) 397; (Augustin) 148; poetische (Vico) 33; des Unendlichen (Bruno) 66, 67; der AllEinheit (Henrich) 334 f., 343; metafisica della mente umana (Vico) 21, 25, 26, 37, 51 f.; Dekonstruktion der Metaphysik 266 f. Mnemotechnik, s. ars memoriae sachregister | 441

Modifikation (Husserl) 121 f., 193, 394 Modus, Modalität 74, 76 Name-Zeichen 22, 376, 408; NameBild (Hegel) 47 Neostrukturalismus 261 ff. Neurowissenschaft 236 ff. Nützlichkeit der Erinnerungsbilder (Bergson) 392 Ontik der Person (Scheler) 361 f. Ontologie 343, 364 f., 396; historische 130, 260, 314, 366, 426; transzendentale 433; modale 351, 364 f., 430 – s. auch Modalontologie des »ich bin«; Ontologie-Phänomenologie 314, 360, 361; ontologische Wendung (Scheler) 133, 363 Person 24; Grenzbegriff 359 f.; Identität der Person 242 f., Kriterien 242, 243; erste und dritte Person 228, 229, 252 – s. auch normale Sprache; Selbstfindung der Person 367 f.; Personalität 358 ff., 417; Personalismus (Scheler) 133 f., 360 f., 428 Phantasie 16, 21, 25, 28 f., 152, 154, 165; phantasia (Aristoteles) 142, 154, 162 f.; fantasia (Vico) 21, 22, 26, 27, 28, 40; fantasia, Auge des ingegno (Vico) 28; universali fantastici (Vico) 25 phantasma (Aristoteles) 159, 162, 400, 401 s. auch Gestalt Reflexion, transzendentale (Kant) 96; Reflexion und Bild (Herder) 198; Barbarei der Reflexion (Vico) 27 reminiscentia, anamnesis (Aristoteles) 168 – s. auch character Repräsentation 54, 62, 247, 257 ff., 442 | register

316 f., 378, 380, 395, 425 f.; Repräsentationskritik 57, 270 f.; Metarepräsentation (neurowissenschaftlich) 249, 253 Repräsentanz im Bild 308 ff. Retention-Protention (Husserl) 16, 18, 81, 123 f. Rückstellung-Vorstellung 371, 398; (Aristoteles) 152 Sehen des Ähnlichen (Aristoteles) 153, 154 – s. auch ähnlich (Topos) Sein, modales 313 f., ; Gewesensein 127, 130, 260, 272 f., 283, 431, 433; Sein der Person 133, 358 ff. – s. auch Ontologie Selbst (Platon, Plotin, Augustin) 144; Selbstbewußtsein 16, 18, 23, 44, 58, 144, 249, 397; Selbstbeziehungsmodelle 345 f.; Selbsterhaltung 432; Selbstgegenwart, Selbstgewißheit 145; Selbstbestimmung 223 ff.; Selbstvergessenheit 144; Selbstreferenz des Gehirns (neurowissenschaftlich) 236, 240 Sematologie des Insichgehens des Geistes (Hegel) 44 »sich«, Reflexivum 260, 261, 264, 331, 339 Signifikanten der memoria (Bruno) 380 Solipsismus 229 Spontaneität (Kant) 53 Sprache (Herder, Humboldt, Hegel) 206, 407; (Benjamin) 405; Sprache des Bewußtseins, des Erinnerns 210 f., 231, sprachbewegte Form 197, 216, 220 – s. auch inneres Wort; normale Sprache, Sprache der dritten Person (Wittgenstein) 216 ff.; Sprachspiel (Wittgenstein) 229, 230 Struktur, zentriert-dezentriert 266 f. Subjekt, transzendendentales 20, 54;

Dekonstruktion des Subjekts – s. Dekonstruktion Subjektivität, personale 60, 358 ff.; konkrete 347, 374, 378; begründende-begründete 54; (Hegel) 35, 37, 38; (Augustin) 143, 144; operative Subjektivität (Vico) 54; »Mythos der Subjektivität« 241, 242; Theorien der Subjektivität (Henrich, Frank) 326 ff. Synthesis 19, 28, 40; statisch-genetisch (Husserl) 116; der Reproduktion in der Einbildung (Kant) 112; der Rekognition (Kant) 277; transzendentale Synthesis der Einbildungskraft (Kant) 105, 106; synthesis intellectualis-synthesis speciosa (Kant) 100 f. System, Systemkritik 138 Schema, Schematismus (Kant) 82 f., 388 theoria, theorein (Aristoteles) 152, 153, 158, 165, 169, 399, 400, 402 theoria-episteme (Aristoteles) 153; Stellenwert des theorein (Aristoteles) 169 f. Topik 30, 32, 33, 39, 279, 373, 422 – s. auch inventio; transzendentale Topik (Kant) 99 Tradition 16, 135 Traumbild 384 Trugbild 270 ff. Urteil, Urteilskraft 82, 91, 107 f. Vergegenwärtigung 122, 259, 310, 312, 315, 322 Vergessen und Vergessenheit 14, 17,

46, 6, 126, 136 f., 174, 215, 332, 371, 375, 424 Vertrautheit mit Bewußtsein 328 f., 346 Virtualität 282; (Bergson) 296, 300 Vorstellung, ihr Janusantlitz 19, 20; (Kant) 18, 19 u.ö.; (Hegel) 24, 49; Vorstellung-Rückstellung 19, 35, 49, 82; (Aristoteles) 152, 371, 398 Wahrheit 64, 65; ewige 222 f.; Wahrheitskriterium (Vico) 54, 377; verum-factum (Vico) 377; Wahrheit-ingenium (Vico) 52 Wesensschau (Husserl) 115 Wiederholung 48, 75; (Deleuze) 282 ff.; (Kierkegaard) 288 ff.; (Bergson) 302 ff.; Wiederholung und Repräsentation 257 ff. Wissen-Glauben (Augustin) 145, 147 Wort, göttliches 221 f., 225, 405; inneres Wort 212 f., 244, 411, 412, 413, 419; wahres inneres Wort 223 f.; verbum cordis (Augustin) 221, 223, 227; Wort-Zeichen 18; Wort-Bild 18, 255, 261; Wort und Bild, sematologische Differenz 21 f. Zeichen 49, 408; (Hegel) 376; Zeichen-Wort 18; Zeichen-Name 22; Zeichen-Bild 40 Zeichnung 409; (Kant) 93 f., 409 – s. auch disegno Zeit, Zeitlichkeit 48, 53, 75 f., 88, 123 f., 375, 404, 406; (Kant) 89 f., 383, 384; Zeit-Ewigkeit (Plotin, Augustin) 180 f., 406; Zeit und Bild 322; Zeitbewußtsein, inneres (Husserl) 124 f.

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Geschichte der Philosophie im Überblick Die Geschichte der Philosophie im Überblick stellt die entscheidenden Themen der Philosophie in pointierter Weise dar. Franz Schupp präsentiert dem Leser – sei er Student, interessierter Laie oder Fachgelehrter – die großen Leitfragen in der Geschichte des Denkens und deren Protagonisten in umfassender und kenntnisreicher Weise und besticht dabei durch allgemeine Verständlichkeit. Das in langjähriger Vortragspraxis bewährte Werk eröffnet die Möglichkeit, sich selbständig in der Vielfalt der philosophischen Denkrichtungen zu orientieren. Von Franz Schupp. Band 1 Antike · Band 2 Christl. Antike und Mittelalter · Band 3 Neuzeit 2003. 1.624 Seiten. Leinen mit Schutzumschlag im Schuber 3-7873-1653-1. *

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Dem Leser wird am Beispiel der großen Leitfragen [...] vermittelt, was das denn eigentlich ist, die Geschichte der Philosophie. Und das auf manchmal sehr unterhaltsame, fast respektlose Weise. geo

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