Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II [1 ed.] 9783428518791, 9783428118793


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German Pages 318 [321] Year 2005

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Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II [1 ed.]
 9783428518791, 9783428118793

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DIE WELTFRIEDENSBOTSCHAFTEN PAPST JOHANNES PAULS II.

Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls II.

Eingeleitet u n d herausgegeben von

Donato Squicciarini

Zweite, unveränderte Auflage

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation i n der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind i m Internet über abrufbar.

Unveränderter Nachdruck der gebundenen Ausgabe von 1992 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2005 Duncker & H u m b l o t G m b H , Berhn Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei U n i o n G m b H , Berlin Printed i n Germany I S B N 3-428-11879-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706© Internet: http://www.duncker-humblot.de

INHALTSVERZEICHNIS

Kurt Waldheim Zum Geleit

7

Donato Squicciarini Einleitung

11

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls IL zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1979: „Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen"

23

Marian Heitger Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen

34

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1980: „Die Wahrheit, Kraft des Friedens"

43

Rudolf Weiler Die Wahrheit, Kraft des Friedens

51

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls IL zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1981: „Um dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit"

59

Wladyslaw Bartoszewski Um dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit

69

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1982 „Frieden: Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut"

75

Rudolf Kirchschläger Frieden: Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut

89

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls IL zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1983: „Der Dialog für den Frieden: eine Forderung an unsere Zeit"

99

Helmut Liedermann Der Dialog für den Frieden: eine Forderung an unsere Zeit

111

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls IL zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1984: „Der Frieden entspringt einem neuen Herzen"

129

P. Heinrich Segur SJ Der Frieden entspringt einem neuen Herzen

139

Inhaltsverzeichnis

6

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls IL zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1985: „Frieden und Jugend, zusammen unterwegs"

149

Egon Kapellari Frieden und Jugend zusammen unterwegs

159

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1986: „Der Friede, Wert ohne Grenzen, Nord-Süd, Ost-West: ein einziger Friede" 167 Robert Prantner Der Friede, Wert ohne Grenzen, Nord-Süd, Ost-West: ein einziger Friede

178

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1987: „Entwicklung und Solidarität: zwei Schlüssel zum Frieden 189 P. Johannes Schasching SJ Entwicklung und Solidarität: zwei Schlüssel zum Frieden

202

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1988: „Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben"

211

Heribert F. Köck Religionsfreiheit — Bedingung für friedliches Zusammenleben

221

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1989: „Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten"

239

Felix Ermacora Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten

248

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1990: „Friede mit Gott, dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfung" 261 Hermann Haupt Friede mit Gott, dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfimg

271

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls n. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1991: „Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen" 277 Josef Ratzinger Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen

289

Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1992: „Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens" ...

301

Herbert Schambeck Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens

309

Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis

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Z U M GELEIT

Zum 25. Mal meldet sich das Oberhaupt der katholischen Christenheit mit einer „Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages" zu Wort. Damit hat der Heilige Vater einen ganz entscheidenden Beitrag zur ideellen und spirituellen Verbreitung des Friedensgedankens geleistet. I m vorliegenden Buch sind die vierzehn Weltfriedensbotschaften von Papst Johannes Paul H. dokumentiert und von hervorragenden Experten kommentiert — ein Werk, für dessen Zustandekommen ich dem Apostolischen Nuntius in Österreich, Erzbischof DDr. Donato Squicciarini, meinen besonderen Dank ausspreche. Die Friedensbotschaften legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, welch hoher Stellenwert den päpstlichen Initiativen und Mahnungen im Konzert der weltweiten Stimmen zum Frieden zukommt. Diese Aktivitäten beschränken sich ja keineswegs nur darauf, einmal i m Jahr eine Botschaft zu formulieren und den Regierungen i n aller Welt zu übermitteln. Vielmehr sind diese Gedanken Teil einer viel weiter gehenden, tatsächlich die gesamte Menschheit umfassenden päpstlichen Friedenspolitik. Durch das weltumspannende System der Apostolischen Nuntiaturen ist der Heilige Stuhl i n sehr vielen Staaten der Welt unmittelbar vertreten und hat auf diese Weise die Möglichkeit, i n akuten Krisensituationen mäßigend und friedenstiftend auf die jeweiligen Konfliktparteien einzuwirken. Das geschieht selten spektakulär, sondern meist i n stiller Diplomatie, die sich durch eine besondere Fähigkeit des geduldigen Zuhörens und der Suche nach tragbaren Fundamenten der Gemeinsamkeit auszeichnet. Gerade als langjähriger Generalsekretär der Vereinten Nationen weiß ich, wie oft durch die Unterstützung und aktive Mithilfe der vatikanischen Diplomatie viel Unglück verhütet und so manche Krise eingedämmt werden konnte. Unabhängig von dieser wichtigen Friedensarbeit, deren Wirksamkeit sich aus der besonderen Hingabe und aus dem demonstrativen Verzicht auf jede öffentliche Erfolgszuweisung ergibt, meldet sich Papst Johannes Paul II. in zahllosen Reden, Predigten und Appellen immer wieder persönlich zu Wort und ruft i n konkreten Konfliktsituationen zu Besonnenheit und zur Mitmenschlichkeit auf.

8

Zum Geleit

Nicht immer hatte und hat das päpstliche Wort, das sich an den christlichen Grundwerten der Nächsten- und der Feindesliebe orientiert, i m Ringen mit den Kräften des Hasses und der Gewalt unmittelbaren Erfolg. Sehr oft sind Situationen so verfahren, die Emotionen so sehr aufgeheizt, daß nicht nur die Gebote der Mitmenschlichkeit, sondern auch die Bereitschaft zum Dialog vergessen werden. Wir haben gerade i n jüngster Vergangenheit die Grenzen der bestehenden Konfliktlösungs-Mechanismen schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen. Ohnmächtig erlebten w i r am Golf wie auch am Balkan den Rückfall i n die schon allzuoft leidvoll erlebten Automatismen des Krieges m i t — u n d alle Versuche einer gewaltfreien Streitbeilegung blieben erfolglos. I n solchen Fällen ist auch das Oberhaupt der katholischen Christenheit ein verzweifelter „Rufer i n der Wüste". Hier aber trotz Waffenlärm nicht die Geduld und den Mut zu verlieren, sondern mit liebevoller Beharrlichkeit immer wieder seine guten Dienste anzubieten und auch vorübergehende Zurückweisungen zu akzeptieren — diese Haltung unterstreicht auf besonders eindrucksvolle Weise die selbstlose Gesinnung und die moralische Stärke päpstlicher Friedenspolitik, die sich eben nicht am Irdischen, Vordergründigen und an politischer Opportunität orientiert, sondern an Werten, die über die Enge der Zeit und der menschlichen Überlegungen weit hinausreichen. Gerade deshalb halte ich die führenden Persönlichkeiten der großen Religionsgemeinschaften für besonders prädestiniert, in einer unübersichtlich gewordenen Welt, in der die Menschen keinen Halt mehr i n Ideologien finden, ein wichtiges Stück „Weltgewissen" zu sein. Das Weltfriedensgebet 1986 in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. aufrief und an dem sich so viele hervorragende Vertreter der Weltreligionen und Religions-Gemeinschaften beteiligt haben, erfüllt uns immer noch mit Bewunderung und Dankbarkeit. Es war ein hoffnungsvolles Zeichen der Brüderlichkeit und setzte einen unüberhörbaren Akzent: Ein dauerhafter, über alle Gräben und Abgründe hinweg zusammenführender Weltfriede bedarf der Erkenntnis, daß der Mensch nicht Herr und Eigentümer dieser Welt ist, sondern Bestandteil einer göttlichen Schöpfungsordnung, i n der alles i n Beziehung zueinander steht. I n den vierzehn Botschaften zu den Weltfriedenstagen von 1979 bis 1992 klingt jedesmal etwas von diesem „gottgewirkten Frieden" an und strahlt i n die Welt ein. Diese Botschaften werden ja nicht nur i n den Kirchen und i n den christlichen Gemeinden wahrgenommen, nicht nur von Gläubigen entgegengenommen — sie wirken auf die Arbeit von Diplomaten und Politikern aller politischen Lager und Weltanschauungen ein. Dabei scheint es mir ein besonderes Anliegen von Papst Johannes Paul II. zu sein, daß seine Aussagen i n einer Sprache gehalten sind, die deutlich macht, daß der Verfas-

Zum Geleit

ser trotz seiner zentralen religiösen Funktion sehr genau um die konkreten Probleme, Konflikte und Leidenschaften Bescheid weiß, weil er nur so seiner Aufgabe als „Friedensstifter" entsprechen kann. Aus jeder dieser Friedensbotschaften w i r d deutlich, daß der Papst nicht nur das menschliche Herz und die Höhen und Tiefen der menschlichen Geschichte kennt, sondern auch die politischen Kräfte i n Ost und West, i n Nord und Süd — aus eigener Anschauung. Auf den zahlreichen Pastoralreisen hat Johannes Paul II. darüber hinaus eine höchst eigenständige Friedenspädagogik entwickelt. I n ihrem Mittelpunkt steht die unermüdliche Sorge, in immer mehr Menschen und Völkern die Erkenntnis dieser größeren, transzendentalen Zusammenhänge zu wekken. Frieden i n diesem Sinn bedeutet ihm nicht nur die Abwesenheit von Konflikt, sondern die Annäherimg an ein Bewußtsein, Teil jener umfassenden Schöpfungs-Harmonie zu sein, die der Kern jedes Friedens ist. I n diesem Sinne versteht das Oberhaupt der katholischen Christenheit Frieden auch als einen dynamischen Prozeß, der ohne Gerechtigkeit, Solidarität und Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben nicht vorstellbar ist. Jedes Verharren der einen i m erreichten Frieden und Besitz, ohne mit dem „armen Nachbarn" zu teilen und ihm zur Selbsthilfe zu verhelfen, und jedes Gieren der anderen nach schnellem Wohlstand und imbeschränkter Freiheit kann alles Erreichte wieder i n Frage stellen. Als Bundespräsident der Republik Österreich, die als neutraler Kleinstaat i n der Mitte Europas ein besonders existentielles Interesse am Frieden i n Freiheit und Gerechtigkeit hat, danke ich Papst Johannes Paul II. für seinen besonderen Einsatz und seinen unermüdlichen Ansporn zum Frieden, den er zurecht als „das wichtigste Gut der Menschheit" bezeichnet hat. Ich würde mir wünschen, daß dieses Buch und die darin enthaltenen päpstlichen Botschaften von möglichst vielen aufmerksamen Lesern als Ansporn und Wegweisung empfunden werden. Dr. Kurt Waldheim Bundespräsident der Republik Österreich

EINLEITUNG

Ein Dutzend Jahre zuvor — i m Jahre 1979 — veröffentlichte das Berliner Verlagshaus Duncker & Humblot i n einem Sammelband, für den der Unterfertigte als Herausgeber zeichnete, die ersten elf „Weltfriedensbotschaften Papst Paul VI.". Diese Veröffentlichung war dem damaligen Inhaber des Verlages, Herrn Senator Prof. Dr. Dr. h. c. Johannes Broermann, zu danken Zur 12. Weltfriedensbotschaft von 1979, die als Thema „ U m zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen" hatte, ist i m folgenden zu bemerken: Der Titel wurde schon am 16. Juli 1979 von Papst Paul VI. bekanntgegeben, knapp einen Monat vor seinem Tod i n Castel Candolfo, am 6. August 1978; der Text der Botschaft wurde von Papst Johannes Paul II. am 8. Dezember 1979 veröffentlicht. I n diesem Dokument schrieb der neue Papst, die Initiative seiner Vorgänger fortsetzen zu wollen. A n jeden der Texte schloß sich ein interpretierender Kommentar aus der Feder angesehener Persönlichkeiten. Zu ihnen zählten Rudolf Kirchschläger und Rudolf Weiler, Alfred Verdross und Karl Hörmann, Robert Prantner, Johannes Messner, Hermann J. Abs, Leopold Ungar, Franz Kardinal König, Hans Reichmann, Herbert Schambeck, Günther Winkler, Heribert Franz Köck, Karl Zemanek und Stephan Verosta. Was damals zu bekräftigen war, hat seine Geltung i n vollem Umfang bewahrt. Der Friede ist die unwandelbare und ewige Zielvorstellung christlicher Heilsverkündigung: seine Förderung bleibt unbeschadet wechselvoller Zeitenläufe und ein Hauptanliegen christlicher Weltgestaltung. Friede ist „Theorie", das bedeutet i n seiner Übersetzung aus der griechischen Sprache „Einschau" i n einen Problemgehalt, i n Zusammenhänge, in Schlußfolgerungen. Und Friede ist „Praxis", das w i l l auf der einen Seite das Handeln, die Tat, die konkrete Wirklichkeit signalisieren, auf der anderen aber findet sich die Praxis inmitten des Streites, der Widersprüche, der Konflikte, ja der Kriege. Die päpstlichen Weltfriedenstage zählen zu den hervortretenden Bedenktagen des kirchlichen und global-politischen Jahres. Sie werden i m Schatten

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Einleitung

der Gewalt und der Tränen, die dem vergossenen Blut entstammen, mehr oder minder gefeiert bzw. begangen. Sie bieten Anlaß zur gemeinschaftlichen Besinnung i m liturgischen, i m akademischen, im internationalen Räume. Sie entbehren nicht eines gewissen deklamatorischen Charakters, der unverzichtbar bleibt, sondern sollen als Imperative an die Ohren und zu den Herzen aller Menschen, aller Rassen und Hautfarben, aller Sprachen, Nationen und auch aller Religionen dringen. Aber päpstliche Weltfriedenstage dürfen nicht zu unreflektierten, ja gedankenarmen „lieben Gewohnheiten" werden. Sie bedeuten nach dem Willen Papst Paul VI. und seiner Nachfolger i m Petrusamt eine Herausforderung zur „Metanoia", zum Umdenken, zu einer Änderung der Grundgesinnung und des praktischen Verhaltens. Ja, man könnte sagen, päpstliche Weltfriedenstage sind eine Provokation i m Namen des Evangeliums. Sie wollen den Routinier, der einen neuen Jahresanfang mit gewohnten Ritualen feiert, herausreißen aus der Gleichgültigkeit gegenüber dem Haß und den vielen Spielarten feindseliger Konfliktaustragung. Der Friede beginnt i m Herzen eines jeden einzelnen Menschen. Dortselbst findet der bedeutendste, der wichtigste „Friedenskongreß" der Welt- und Heilsgeschichte statt. Es ist durch den Frieden mit Gott, dem Schöpfer, auch der Friede des Geschöpfes mit sich selbst. Damit wird aber auch jede Form des partnerschaftlichen Friedens angesprochen: des Friedens i n den Familien, den kleinen, überschaubaren Gruppen und dörflichen Gemeinschaften, des Friedens i n den Vereinigungen, Verbänden, sozialen Interessenbezügen, i n der Wirtschaft der Arbeitswelt, vom Agrarwesen i n die industriellen Ballungsräume, des Friedens i n den Städten und Ländern, den Regionen und Staaten, den mehr oder minder integrierten Staatengemeinschaften, des Friedens der Erdteile, der Kulturen und der gesamten Völkergemeinschaft. Der „Krieg", der eine Familie durch Haß und Zwietracht spaltet, w i r d zum Keim grenzüberschreitender Konflikte, deren Austragung von menschheitsverachtenden Instrumentarien der Vernichtung flankiert wird. Weltfriedenstage stehen also am Anfang und i n der Mitte des Kalenders. Sie betreffen den Menschen und die Gesellschaft, in der er lebt, so sehr, daß sie betreten und betroffen machen. Kein päpstlicher Appell ist ohne die Realität des Adressaten und des Problems griffig. Dies wird offenkundig, wenn man die Themenführung zum Frieden hin zwischen den Jahren 1979 und 1992 Revue passieren läßt. I n den Jahren 1982, 1984 und 1990 werden Friedensperspektiven angesprochen, die der Seinsordnung zugehören. Das Thema 1990 — ein Jahr nach dem Hauptvollzug der ideen- und staatspolitisch zu markierenden „Wende" im ideologisch zweigeteilten Europa — gilt

Einleitung

den Fundamenten des Seins überhaupt. „Friede mit Gott, dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfung" stehen i n der Interpretation von Univ.Prof . Dr. Hermann Haupt i n Rede. Der Mensch, der sich seiner geschöpflichen Befindlichkeit, seiner „Rolle" i m Stufenbau der Seinsordnung bewußt ist, zollt seinem Schöpfer Ehre und Dank, indem er die i n seine Natur eingestifteten wesenhaften und existentiellen Lebenszwecke anstrebt und durch die Entfaltung seiner menschlichen Personwürde i n höchst individueller Weise den Schöpfer preist. Acht Jahre davor — 1982 — postuliert der Heilige Vater den Respekt vor dem Frieden als Gabe Gottes. „Frieden, Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut". Friede ist nicht aus dem Menschen geboren und seiner Willkür Untertan. Friede ist auch nicht manipulierbar, keinem „handling" im Sinne zeitgenössischer Kommerzpraxis der Akzeptanz oder Ablehnimg anheimgestellt. Gedeutet von Österreichs Altbundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger ist er ein dem Menschen anvertrautes Geschenk. Das anvertraute Gut des Friedens verlangt den personalen, ganzheitlichen Einsatz des Menschen guten Willens. I n der Herzmitte des menschlichen Seinsvollzugs ist Friede anzusiedeln, wie es die Devise des Weltfriedenstages 1984 konstatiert: „Der Frieden entspringt einem neuen Herzen". Damit wird der hohe Rang einzelmenschlicher Verantwortung für Friedensschaffung und Friedenserhaltung angesprochen. Denn die Friedensgesinnung, angesiedelt i n der Mitte des Menschseins allein, wirkt auch als Schubkraft für Taten des Friedens. Sie entspringt auch i m wortphilosophischen Sinne als lebendige Kraft dem menschlichen Herzen. Darauf bezieht sich P. Heinrich Segur SJ, der Leiter des Exerzitienreferates der Erzdiözese Wien, der lange Jahre Direktor des deutschsprachigen Programms von ,Radio Vatikan' gewesen war. Eine weitere Gruppe der friedensorientierten Leitworte zu den Weltfriedenstagen findet sich i m Bereich des Ethos und der Werte, i m praktischen Bezug zur humanen und sozialen Wirklichkeit. So proklamiert Papst Johannes Paul II. 1980 seine Friedensbotschaft als „Die Wahrheit, Kraft des Friedens" , durchdacht vom Vorstand des Wiener Universitätsinstitutes für Ethik und Sozialwissenschaften, Prälat Univ.-Prof . DDr. Rudolf Weiler. Die Wahrheit i m objektiven Sinne und die vom Einzelmenschen als Verhaltenshabitus adaptierte Wahrhaftigkeit, schaffen die Fundamente eines glaubwürdigen und soliden Friedenswillens und der Friedenstat. Vorbehalte, Zweideutigkeiten, Rankünen und geheime Tricks i m Konfliktbewältigungsverfahren, aber auch falsche Voraussetzungen überhaupt, verfälschen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Allein die Wahrheit birgt das Potential zur Friedenskraft, mobilisierbar i n menschengerechter Freiheit. Dem Träger des „Friedenspreises des deutschen Buchhandels" und ao. u. bev. Botschafter Polens in Wien, Prof.

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Einleitung

Dr. h. c. Wladyslaw Bartoszewski, wurde die dem Zeitalter adäquate Deutung der Devise des Weltfriedenstages 1981 anvertraut: „ U m dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit!" Freiheit , sie empfängt aus dem Kreislauf der geistigen Lebensvernetzung nur dann ihre blutvollen Ströme, wenn sie mit Wahrheit kommuniziert und umgekehrt. Wahrheit und Freiheit leben aus dem Verbund i n der Liebe. I n seiner Allocutio an die Teilnehmer der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für Kultur (Orig. franz. i n „L'Osservatore Romano", 11. 1.1992, gehalten am 10.1.1992, deutsche Fassimg L'Osservatore Romano, Wochenausgabe i n deutscher Sprache, 24.1.1992, Nr. 4, 9 f.) betonte Papst Johannes Paul II.: „Die Grundbestrebungen des Menschen sind Sinnträger. Sie drücken i n verschiedenen und zuweilen verwirrenden Formen die Berufung zum Sein aus, die Gott i n das Herz eines jeden Menschen eingeschrieben hat. Inmitten aller Unsicherheiten und Ängste unserer Zeit ruft eure Aufgabe euch auf, euer Bestes einzubringen, um eine echte Kultur der auf die Offenbarung und das Heil i n Jesus Christus aufgebauten Hoffnung zu entfalten. Die Freiheit kommt nämlich nur dann zu ihrer vollen Entfaltung, wenn sie die Wahrheit und die Liebe annimmt, die Gott jedem Menschen anbietet. Die Christen stehen hier vor einer gewaltigen Aufgabe: Zeugen der Liebe zu sein, die Quelle und Fülle jeder Natur ist, immer i n Jesus Christus, der uns befreit hat. Die Aufgabe des 21. Jahrhunderts w i r d darin bestehen, durch das Evangelium die Gesellschaft und ihre Institutionen zu humanisieren, der Familie, den Städten und Dörfern eine Seele zu geben, die des nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen würdig ist." Unter den Freiheitsrechten nimmt jenes auf Freiheit der Religion einen hervorragenden, weil schlüsselorientierten Platz ein. Sie ist die conditio sine qua non i m naturrechtlich-christlichen Sinne für ein Convivium auf allen Ebenen i n Frieden. Das Oberhaupt der Universalkirche apostrophiert dies i n der Thematisierung seiner Weltfriedensbotschaft für das Jahr 1988: „Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben". Der Dekan der Linzer Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Honorarprofessor der Päpstlichen D i plomatenakademie, Vorstand des Univ. Instituts für Völkerrecht und internationale Beziehungen an der Johannes Kepler-Universität i n Linz, Univ.Prof. Dr. Heribert Franz Köck, M. c. 1., Adviser des Ständigen Vertreters des Heiligen Stuhles bei den internationalen Organisationen i n Wien, widmet dieser für die völkerrechtlichen Beziehungen des Papstes so wichtigen Thematik seinen Beitrag. Die Universalität des Friedens und dessen Werthaftigkeit unter allen Völkern und Nationen rund um den Globus stellt der Heilige Vater 1986 vor Augen: „Der Friede, Wert ohne Grenzen, Nord-Süd, Ost-West, ein einziger Friede". Der Reichtum an Nutzbarmachung und Anwendbarkeit unter den

Einleitung

verschiedensten kulturellen, ethnischen und politischen Strukturen und deren Inhalten steht i m geopolitischen Faden- oder Achsenkreuz der Darlegungen aus der Feder des Professors für Ethik und Gesellschaftslehre der Philosophisch-theologischen Hochschule Heiligenkreuz bei Wien, DDr. Robert Prantner, der als ao. Gesandter u. bevollm. Minister an der Wiener Malteserbotschaft und Ständiger Beobachter- Delegierter für humanitäre Völkerrechtskonferenzen beim Büro der Vereinten Nationen i n Wien doppelte Kompetenz beibringen kann. Dieser Universalität oder Globalität des Friedens als Wert korrespondiert das Thema i n den Bezügen zur Praxis des Friedens, dies hinsichtlich der Erziehimg des Menschen, der Dialogfähigkeit und -bereitschaft, der Rolle des Gewissens bei diesem Behufe und schließlich der Instrumentarien der Bezogenheit auf die Entwicklung der Völker und das adäquate Solidaritätsprinzip. Im Jahre 1979 galt die Botschaft zum 1. Januar dem unabdingbaren pädagogischen Part der Friedensarbeit: „ U m zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen". Der Wiener Erziehungswissenschafter und Vorstand des Univ. Instituts für Pädagogik an der Universität Wien, o. Univ.-Prof. Dr. Marian Heitger, deutet die Vorrangigkeit einer systematischen Bildungsarbeit auf Frieden hin, die keine Perspektive auf Hilfswissenschaften zum Vorhaben, wie Psychologie, Geschichte, Philosophie, Verhandlungstaktik u. a. m. entbehren kann. Friedens-Erziehung tendiert auf den Dialog, der Frieden erhält oder wieder herstellt. 1983 lautet die Thematik: „Der Dialog für den Frieden, eine Forderung an unsere Zeit". Ein interpretierender Autor von hohem praktischem Erfahrungswert zu dieser „Dialog"- Thematik, der schon Papst Paul VI. i n seiner Enzyklika „Ecclesiam suam" vom 6. August 1964 so große Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben beigemessen hatte, ist der Exekutivsekretär der KSZE für vertrauensbildende Maßnahmen, Vorsitzender entscheidender Nachfolgekonferenzen dieses vorrangigen europäischen Friedensgremiums und österreichischer Diplomat, ao. u. bev. Botschafter Dr. Helmut Liedermann, dessen mutiger Intervention i n den „Korb 3" hinein die sogenannten „Beschlüsse zur Familienzusammenführung" zu danken sind. Seine Reklamation hat nicht nur Frieden, sondern auch Freude und Glück erbracht. Erziehung und Dialog i m Friedensprozeß stehen für die unentbehrliche Rolle des menschlichen Gewissens: „Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen", erklärte Papst Johannes Paul II. zum Neujahrstag 1991. Und jene Persönlichkeit der päpstlichen Kurie, die zu den engsten Mitarbeitern des Heiligen Vaters zählt, der Präfekt der Kongregation für den Glauben, Dr. Josef Kardinal Ratzinger, mahnte diese Funktion des Ge-

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Einleitung

Wissens i m Friedensprozeß mit den vielfachen Entscheidungsetappen menschlicher Disponibilität ein. o. Univ.-Prof. Dr. Herbert Schambeck , Präsident des Österreichischen Bundesrates und langjähriger Ordinarius für öffentliches Recht, politische Wissenschaften und Rechtsphilosophie an der Universität Linz sowie M i t glied der Delegation des Hl. Stuhls bei den Generalversammlungen der Internationalen Atomenergiebehörde, unterstreicht in seinem Beitrag die Notwendigkeit der gemeinsamen Bestrebungen aller Gläubigen i m Aufbau des Friedens. Schließlich sei auf eine „prinzipielle", i m Sinne des Wortes auf „Prinzipien" bezogene Ausformung der Gesamtthematik verwiesen, die i m Jahre 1987 das Augenmerk des Katholiken wie jedes Menschen guten Willens auf eine konkrete Friedensarbeit lenkte und den Sinn des Menschen motivierte: „Entwicklung und Solidarität, zwei Schlüssel zum Frieden". Entwicklung , von Papst Paul VI. schon i n Bombay als Synonym für Frieden proklamiert, als Prozeß, der i n krisengeschüttelten und von allen Nöten gepeinigten Ländern vor allem der Dritten Welt vornehmlich Frieden schafft, und Solidarität, das Schlüsselprinzip der Katholischen Soziallehre, das so sehr an soziale Liebe über Gerechtigkeit hinaus und an Brüderlichkeit gemahnt, werden von o. Univ.-Prof. Dr. P. Johannes Schasching SJ, langjähriger Ordinarius und Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana, vorgestellt. Alle Menschen, ohne Ausnahme, werden von den Weltfriedensbotschaften angesprochen. Zwei Zielgruppen — und dies weltweit — stehen aber i n einem besonderen Lichte: die Jugend und die Minderheiten. 1985 charakterisierte der Papst i n seiner Themenfindung den dynamischen Ausdruck für die Zukunft des Erdballs i n friedlicher Kooperation: „Frieden und Jugend zusammen unterwegs". Der Diözesanbischof der Diözese Gurk-Klagenfurt, Dr. Egon Kapellari, i m Rahmen der Österreichischen Bischofskonferenz mit Jugendfragen betraut, kommentiert das Thema nicht zuletzt auch aus seiner reichen Erfahrung als ehemaliger Hochschulseelsorger i n Graz. Die Existenzkrise der Minderheiten auf nahezu sämtlichen Kontinenten der Erde, die das neunte Jahrzehnt des Jahrhunderts besonders verdeutlichte, war (und ist auch 1992!) für den obersten Hirten des Gottesvolkes auf dessen irdischer, von Erdenschwere bedrängten Pilgerschaft ein ständiger Anruf, ihrer Friedenssehnsucht und Lebenserwartimg seine Stimme zu leihen. „ U m Frieden zu stiften, Minderheiten achten" lautete die Friedensparole 1989, die den Weg der Minoritäten i n das Licht der Römisch-Katholischen Kirche

Einleitung

rückte. Minderheitenspezialist der Weltorganisation der Vereinten Nationen, österreichischer Parlamentarier und Wiener o. Universitätsprofessor Dr. Felix Ermacora kommentiert die Thematik und hebt gravierende Bezugsbereiche aus den Grundsatzüberlegungen erläuternd hervor. Wenn w i r diese Sammlung von „Weltfriedensbotschaften" der letzten Päpste gewissermaßen als zweiten Sammelband der Öffentlichkeit vorstellen, so sei diese Gelegenheit wahrgenommen, um die kontinuierliche Rolle des Mahners, des Beschwörers des Friedens aus Petri Mund das gesamte Kalenderjahr hindurch festzuhalten. Österreichs Bundespräsident Dr. Kurt Waldheim hat i n seiner Adresse zum päpstlichen Weltfriedenstag 1992 den eindringlichen Wunsch formuliert, es möge doch ein jeder einzelne Tag des Kalenderjahres zu einem „Weltfriedenstag" werden. I n der Tat haben die Päpste des 20. Jahrhunders, das sich nun endgültig i n seinem Ablauf der Jahrtausendwende zuneigt, unermüdlich seit dem Ersten Weltkrieg bis i n diese Kalendermonate des Bürger- und Nationenkrieges am südslawischen Balkan, die Stimme des Friedens erhoben. Benedikt XV. und Pius XI., i n besonders eindringlicher Weise Papst Pius XII. während des blutigen Völkermordens des Zweiten Weltkrieges, seine Nachfolger Johannes X X I I I . (Pacem in terris! war seine große Botschaft und sein Vermächtnis), dann Paul VI., der die Initiative einer jährlichen Feier i m Jahre 1968 ergriffen hat, Papst Johannes Paul I. und Papst Johannes Paul II. waren und sind ständige Apostel zur Befriedung. Die Ansprachen und Gebete Papst Johannes Paul II. während des Golfkrieges wie i n den mörderischen Auseinandersetzungen der Nationen i m Zerfallsprozeß Jugoslawiens bis zur Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch den Heiligen Stuhl stehen als Zeugnis für die Tat, die der Gesinnung entspringt. Ohne Friede vermag sich die menschliche Persönlichkeit nicht zu entfalten bzw. kann keine Kultur i n ihren vielfachen Dimensionen entstehen. Kultur ist eine Art Objektivierung schöpferischer Werte i m Gefüge des Friedens. Papst Johannes Paul IL widmete diesen Ausgangsüberlegungen jeder christlichen Anthropologie auch den Teilnehmern der ob. zit. Vollversammlung des „Päpstlichen Rates für Kultur" am 10.1. 1992 in Rom (a. a. O., 9), die er i n die „Wende" des Jahres 1989 hineinstellt. "Nach etlichen Jahren ist nun ein neues Europa dabei, Gestalt zu gewinnen mit Licht und Schatten, Freuden und Leiden. Der Einsturz der ideologischen und polizeistaatlichen Mauern hat unermeßliche Freude und große Hoffnungen geweckt, doch trennen bereits wieder neue Mauern den Kontinent . . . Ihr habt den Bischöfen und damit der ganzen Kirche geholfen, unsere tausendjährige christliche Überlieferung neu lebendig zu machen und die kultu2 Johannes Paul II.

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Einleitung

rellen Grundlagen der Wiedergeburt eines geistig geeinten Europas besser zu erkennen, i n dem w i r ,Zeugen Christi, der uns befreit hat 4 (vgl. Gal. 5,1) sein wollen. A m Vorabend des dritten Jahrtausends führt ihre apostolische Sendung die Kirche zu einer neuen Evangelisierung, bei der die Kultur vorrangige Bedeutimg gewinnt. Die Väter der jüngsten Synode haben dies unterstrichen: Die Zahl der Christen wächst, doch zugleich verschärft sich der Druck einer Kultur ohne geistige Wurzeln. Die Entchristlichung hat Gesellschaften ohne Bezug auf Gott herbeigeführt. Die Auswirkungen des atheistischen Marxismus-Leninismus als totalitäres politisches System i n Europa sind weit davon entfernt, die dramatischen Probleme, die er i n den 75 Jahren dieses Jahrhunderts geschaffen hat, zu lösen. Alle jene, die dieses totalitäre System auf die eine oder andere Weise erfaßt hat, seine Verantwortlichen und Anhänger ebenso wie seine härtesten Widersacher, sind seine Opfer geworden. Jene, die ihrer kommunistischen Utopie ihre Familie, ihre Kräfte und ihre Würde geopfert haben, werden sich jetzt bewußt, daß sie einer Lüge aufgesessen sind, die die menschliche Natur tief verwundet hat. Die anderen aber gewinnen eine Freiheit zurück, auf die sie nicht vorbereitet sind, und deren Gebrauch daher hypothetisch bleibt, denn sie leben i n schwierigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, i n einer konfusen kulturellen Lage, und zugleich brechen nationalistische Gegensätze blutig wieder auf. A m Ende des vorsynodalen Symposions habt ihr euch die Frage gestellt: Wohin und an wen werden sich diejenigen wenden, deren utopische Hoffnungen sich aufgelöst haben? Die geistige Leere, die unsere Gesellschaft bedroht, ist vor allem eine kulturelle Leere, und nur ein durch das Evangelium Christi erneuertes moralisches Bewußtsein kann diese Leere wahrhaft ausfüllen. Nur dann und i n schöpferischer Treue zu seinem überkommenen und immer noch lebendigen Erbe kann Europa auf die Zukunft mit einem Plane zugehen, der eine echte Begegnung zwischen dem Wort des Lebens und den Kulturen auf der Suche nach der Liebe und Wahrheit über den Menschen enthält...". Der Friede w i r d am besten seinen vielfältigen, konkretisierenden Imperativen gerecht, wie sie an den Weltfriedenstagen artikuliert erscheinen, wenn er, eingebettet i n eine Kultur der Liebe, begriffen und erstrebt wird. Friede verwirklicht sich i m Bezug auf das transzendente Mysterium des dreifaltigen Gottes, der i n seiner Trinität selbst unser Friede ist. Der katholische Christ, dessen Lebensprinzip der Geheimnisvolle Leib Christi ist, disponiert sich i n der Kraft der göttlichen Gnade mit jenem Rüstzeug, das ihn als Streiter unter der Fahne Christi, des Friedenskönigs, legitimiert. So wird er als der

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gewappnete Freund des Friedens zum Sieger i m Kampfe gegen den Krieg, der immer die Züge des Hasses trägt. Er w i r d zum Streiter des Friedens, weil er i n Gerechtigkeit, gewillt dem Rechte zu entsprechen, i n die Kampfeslinien tritt. „Ohne Gerechtigkeit kein Frieden!" Dies steht auch als Leitsatz über der Ansprache, dem Aufruf Papst Johannes Paul n . am 22. September 1991, gesprochen vor dem Angelus am Sonntag, zur Beendigung des Bürgerkrieges i n Jugoslawien (L'Osservatore Romano, 27. 9.1991, Nr. 39,1): 1. Der Mensch betrachtet den Frieden als ein Grundgebot des eigenen Daseins. Denn i n ihm findet er die wesentlichen Bedingungen für die volle Selbstverwirklichung. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß heute angesichts der schweren Bedrohungen, denen der Frieden ausgesetzt ist, sich besorgte Stimmen i n den verschiedenen nationalen und internationalen Bereichen mit zunehmender Eindringlichkeit erheben, die die Menschen guten Willens auffordern, sich dringend um den Schutz des Friedens zu bemühen. Wenn es einen Ort gibt, wo diese Aufforderung positiven Widerhall und hochherzige Antwort finden soll, dann ist es gewiß das Herz jedes religiösen Menschen. Denn die Sehnsucht nach dem Frieden muß als Erwartung und Hoffnung von dem empfunden werden, der aufrichtig nach dem Absoluten strebt. Der Versuch, i n Beziehung zu dem transzendenten Geheimnis Gottes zu treten, setzt eine innere Haltung des Sich-Loslösens, Sich-Öffnens und Hörens voraus, die die Einleitung zu einem wahren und dauerhaften Frieden darstellt. 2. Dies gilt i n besonderer Weise für den Christen: Durch seinen Glauben hat er Gott als den erkannt, der „die Völker zerstreut, die Lust haben am Krieg" (vgl. Ps 68,31), und der „alles liebt, was ist, und nichts von allem verabscheut, was er gemacht hat" (vgl. Weish 11,24). Der Christ konfrontiert sich auch ständig mit dem Programm der Bergpredigt: „Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben . . . Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden" (Mt 5, 5.9). Er weiß auch, wo die unversiegbare Quelle ist, aus der er die notwendige Kraft schöpfen kann, um ein authentischer „Friedensstifter" zu sein. Sie quillt aus dem Herzen dessen, der i n die Welt gekommen ist, damit die Menschen „das Leben haben und es i n Fülle haben" (Joh 10,10). Der Frieden w i l l aus dem Herzen Christi als ein Fluß neuen Lebens i n die Herzen der Menschen guten Willens strömen. 3. Der Christ, vom Glauben gestärkt, bemüht sich darum, die Bedingungen zu einem wahren Frieden zu schaffen. Sie werden bereits i n der knappen 2*

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Zusammenfassung des Propheten Jesaja genannt, die mein Vorgänger Pius XII. als Leitspruch seines Pontifikats wählte: „Opus justitiae pax", „der Frieden ist das Werk der Gerechtigkeit" (vgl. Jes 32,17). Ohne Gerechtigkeit kein Frieden! Die Gerechtigkeit ist das Bewußtsein des eigenen Platzes in der Welt und zugleich des Platzes, der Gott und den anderen Menschen eingeräumt werden muß. Nur i n der wirksamen Achtung der Würde jedes Menschen, jeder Gemeinschaft und jeden Volkes liegt der Weg, um die Beziehungen eines ruhigen Zusammenlebens aufzubauen und die Versuchungen zur Anwendung des falschen Rechtes der Gewalt zu zügeln. Deshalb w i r d unser Gebet für den Frieden i n Jugoslawien noch intensiver. Mit tiefer Trauer muß man erkennen, daß das für den Waffenstillstand gegebene Wort nicht eingehalten worden ist. Darum ist der Augenblick gekommen, um zu sagen, daß das, was in jenen Ländern geschieht, nicht des Menschen würdig ist, nicht Europas würdig ist! I n dieser dramatischen Stunde möchte ich deshalb die internationalen Institutionen und alle Menschen guten Willens, die diesen Krieg aufhalten können, inständig bitten, alles i n ihren Kräften Stehende zu tun, damit der brudermörderischen Gewalt, die die wehrlosen Völker Blut vergießen läßt, ein Ende gesetzt wird. Ich bete für die Opfer. Ich bin den Familien nahe, die ihre Toten und Verwundeten beweinen, sowie allen Menschen, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. Ich teile auch den tiefen Schmerz der wohlverdienten kroatischen Bischöfe, die sehen, wie ihre Herde sich zerstreut, die Kirchen zerstört und so viele Werke und Einrichtungen ausgelöscht werden. Mögen alle beteiligten Parteien den Waffenstillstand einhalten. Möge die internationale Gemeinschaft jenen Völkern helfen, i n Frieden und Freiheit zu leben! O heilige Maria, erhöre unser Gebet und hilf allen Christen, Friedensstifter zu sein! Ein „Ewiger Friede", der große Menschheitstraum nach „Abschaffung" des Krieges, vermag nur i n unscharfen Annäherungswerten verwirklichbar erscheinen. Dieser Traum ist die vordringlichste Realutopie einer aus tausend Wunden blutenden Menschheit. Angesichts der erbsündig gebrochenen Natur des Menschen, deren Narben auch der erlöste Christ schmerzlich wahrnimmt, ist jede Mühe um Frieden schon ein Anteil am Ganzen. Möge dem Leser dieser Friedensbotschaften und ihrer Kommentare Rüstzeug und Freude zum Frieden zuteil werden.

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Diese Veröffentlichung ist dem verständnisvollen Entgegenkommen des Herrn Rechtsanwalts Prof. Norbert Simon , geschäftsführender Gesellschafter des Verlages Duncker & Humblot, sehr zu danken. Er setzt das von Johannes Broermann schon zur Tradition gewordene Bemühen des Verlages um die katholische Soziallehre i n verdienstvoller Weise fort. Herr Dieter H. Kuchta i n der Herstellungsabteilung des Verlages ermöglichte das zeitgerechte Erscheinen dieses Buches, was ebenfalls bedankt sei. Mein Dank gilt auch ao. Ges. u. bevollm. Minister Prof. DDr. Robert Prantner für seine wertvolle und großzügige Mitarbeit am Zustandekommen dieses Buches.

DDr. Donato Squicciarini , Titularerzbischof von Tiburnia (St. Peter im Holz) Apostolischer Nuntius in Österreich Ständiger Vertreter des Hl. Stuhls bei den Internationalen Organisationen in Wien

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1979 „UM ZUM

FRIEDEN z u GELANGEN, ZUM

FRIEDEN ERZIEHEN"

A n euch alle, die ihr euch nach Frieden sehnt! Das große Anliegen des Friedens zwischen den Völkern braucht alle friedenstiftenden Energien, die i m Herzen des Menschen ruhen. Um sie freizusetzen und durch Erziehung heranzubilden, wünschte mein Vorgänger Papst Paul VI. noch kurz vor seinem Tod, daß der Weltfriedenstag 1979 unter das Motto gestellt werde „ u m zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen". Während seines ganzen Pontifikates ist Paul VI. zusammen mit euch auf den schwierigen Wegen des Friedens gegangen. Er hat eure Angst geteilt, wenn dieser Frieden bedroht war. Er l i t t mit jenen, die von den unglücklichen Folgen des Krieges betroffen waren. Er ermutigte alle Anstrengungen, den Frieden wiederherzustellen. I n allen Lagen zeigte er Zuversicht, zusammen mit unbändiger Energie. In der Überzeugung, daß der Frieden das Werk aller ist, hat er i m Jahre 1967 die Idee eines Weltfriedenstages vorgelegt, mit dem Wunsch, daß ihr alle sie euch zu eigen macht. Von da an gab seine Friedensbotschaft alljährlich den Verantwortlichen der Nationen und internationalen Organisationen die Gelegenheit, jene Aufgabe zu erneuern und öffentlich darzustellen, die ihre Autorität rechtfertigt: den Menschen friedlichen Fortschritt und geordnetes Zusammenleben i n Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zu ermöglichen. Die unterschiedlichsten Gemeinschaften trafen hier zusammen, um das unschätzbare Gut des Friedens zu feiern und ihre Bereitschaft zu bekräftigen, ihn zu verteidigen und zu fördern. Aus den Händen meines verehrten Vorgängers übernehme ich diesen Wanderstab, gleichsam als Pilger für den Frieden. Ich bin unterwegs, an eurer Seite, mit dem Evangelium des Friedens. „Selig sind, die Frieden stiften".

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Ich lade euch darum ein, zu Beginn des Jahres 1979 den Weltfriedenstag zu begehen und ihn nach dem letzten Wunsch Pauls VI. unter das Thema der Friedenserziehung zu stellen. I. Eine mühsame Aufgabe Eine unstillbare Sehnsucht Den Frieden erreichen: das ist die Summe und Krönung all unserer'Sehnsucht. Frieden—so sagen wir—bedeutet Erfüllung und Freude. Bei bilateralen und multilateralen Begegnungen und auf internationalen Konferenzen vermehrt man die Anstrengungen, ihn i m Zusammenleben der Völker zu verwirklichen; einige ergreifen persönlich die mutige Initiative, um den Frieden herzustellen oder einen drohenden neuen Krieg zu verhindern. Ein erschüttertes Vertrauen Gleichzeitig aber können w i r einzelne Menschen oder Gruppen beobachten, die bei der Regelung ihrer verborgenen oder offenen Konflikte zu keinem Abschluß kommen. Stellt der Frieden also vielleicht ein unerreichbares Ideal dar? Das tägliche Schauspiel der Kriege, der Spannungen und Spaltungen läßt Zweifel und Entmutigimg aufkommen. Brandherde der Zwietracht und des Hasses scheinen sogar noch künstlich von einigen geschürt zu werden, die den Preis dafür nicht zu bezahlen brauchen. Und allzu oft ist die Kraft von Friedensgesten viel zu gering, um den Lauf der Dinge zu beeinflussen, es sei denn, daß die herrschende Logik der Ausbeutung und Gewalt sich ihrer bemächtigt und sie i n ihren Dienst nimmt. A n einigen Stellen vergiften furchtsames Zögern und die Schwierigkeit notwendiger Reformen die Beziehungen zwischen menschlichen Gemeinschaften, die schon durch eine lange und vorbildliche gemeinsame Geschichte vereint sind. Neue Machtträger neigen dazu, durch zahlenmäßige Überlegenheit oder durch brutale Gewalt einen Konflikt zu lösen, und das unter den hilflosen, manchmal aber auch interessierten und komplizenhaften Blicken anderer Staaten i n der Nähe oder weiter entfernt. Gerade die stärksten und die schwächsten Länder verlieren so das Vertrauen zu geduldigen friedenstiftenden Maßnahmen. Hinzu kommt, daß die Furcht vor einem schlecht abgesicherten Friedenszustand sowie militärische und politische Erfordernisse wie auch die Interessen von Wirtschaft und Handel zur Bildimg von Vorräten oder zum Verkauf von Waffen mit furchtbarer Zerstörungskraft verleiten: der Rüstungswettlauf w i r d so für wichtiger gehalten als die großen Friedensaufgaben, die die Völker i n neuer Solidarität verbinden müßten; er fördert vereinzelte mörderische Konflikte und steigert die Bedrohung in hohem Aus-

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maße. Es ist wahr: die Sache des Friedens leidet auf den ersten Blick an einer entmutigenden Schwäche. Vom Heden über den Frieden . . . Und doch hat man i n fast allen öffentlichen Ansprachen auf der Ebene der einzelnen Nationen oder internationaler- Gremien selten so viel vom Frieden gesprochen, von Entspannung, von Verständigung, von vernünftigen und gerechten Lösungen für Konflikte. Der Frieden ist zum Schlagwort geworden, das beruhigt oder verführen will. Richtig verstanden stellt dies jedoch auch ein positives Faktum dar: die öffentliche Meinimg der Nationen würde es nicht mehr ertragen, wenn man den Krieg verherrlichte oder das Risiko eines Angriffskrieges auf sich nähme. . . . zu einer Friedensgesinnung U m jedoch die Herausforderung anzunehmen, die sich aus der mühsamen Aufgabe des Friedens für die ganze Menschheit ergibt, braucht es mehr als nur Worte, mögen sie ehrlich oder demagogisch gemeint sein. Vor allem der Kreis der Politiker, das Milieu oder jene Zentren, von denen mehr oder weniger direkt, mehr oder weniger geheim die entscheidenden Schritte für den Frieden oder i m Gegenteil die Verlängerung der Kriege und gewalttätiger Konflikte abhängen, müssen vom wahren Geist des Friedens durchdrungen werden. Das Mindeste müßte sein, daß man darin übereinstimmt, einige grundlegende klare Prinzipien anzuwenden, wie zum Beispiel: die Probleme der Menschen müssen i n menschenwürdiger Weise behandelt werden und nicht mit Gewalt. Spannungen, Streitigkeiten und Konflikte müssen durch vernünftige Verhandlungen geregelt werden und nicht mit Druckmitteln. Ideologisch einander entgegengesetzte Richtungen müssen sich i n einem K l i ma des Dialogs und der freien Aussprache begegnen. Die berechtigten Interessen bestimmter Gruppen müssen auch die ebenfalls berechtigten Interessen der anderen betroffenen Gruppen sowie die Forderungen des übergeordneten Gemeinwohls berücksichtigen. Der Griff zu den Waffen sollte nicht mehr als geeignetes Mittel zur Konfliktlösung angesehen werden, die unverlierbaren Menschenrechte müssen unter allen Umständen gewahrt bleiben. Es ist nicht erlaubt zu töten, um eine Lösung zu erzwingen. Diese Prinzipien der Menschenwürde kann jeder Mensch guten Willens i n seinem eigenen Gewissen vorfinden. Damit sie bei den Mächtigen und bei den Schwachen zu festen Überzeugungen werden und jegliches Handeln prägen, muß ihnen ihre volle Bedeutung wieder zuerkannt werden. Dafür braucht es eine geduldige und lange Erziehimg auf allen Ebenen.

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IL Die Erziehung zum Frieden 1. Visionen vom Frieden aufleuchten lassen Um dieses spontane Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, gilt es als erste sinnvolle Aufgabe einer Erziehung, die diesen Namen verdient, unsere Augen über die traurigen vordergründigen Eindrücke hinausblicken zu lassen, oder noch besser, erkennen und verstehen zu lernen, wie inmitten der tobenden Gewalt, die tötet, der Frieden sich leise und still vorantastet, ohne zu ruhen, unablässig Wunden heilt und das Leben erhält und kräftigt. Von hier aus kann uns der Marsch zum Frieden möglich und erstrebenswert erscheinen, machtvoll und schon siegreich. Ein neuer Blick auf die Geschichte Vor allem müssen w i r lernen, die Geschichte der Völker und der Menschheit nach Kriterien zu entziffern, die sachgerechter sind als jene, die nur eine Kette von Kriegen und Revolutionen kennen. Gewiß ist die Geschichte vom Lärm der Schlachten beherrscht. Aber es gibt auch die Ruhepausen der Gewalt, die es ermöglicht haben, jene dauerhaften kulturellen Werke zu schaffen, auf die die Menschheit stolz ist. Ja, man kann sogar inmitten der Kriege und Revolutionen Impulse zum Leben und Fortschritt vorfinden; diese entspringen einer Sehnsucht, die einer anderen Ordnung angehört als die Gewalt: eine Sehnsucht geistiger Art, wie zum Beispiel das Streben, eine gemeinsame Würde für alle Menschen anerkannt zu sehen oder die Seele und die Freiheit eines Volkes zu retten. Dort wo eine solche Sehnsucht gegenwärtig war, wirkte sie ausgleichend sogar im Kern der Konflikte, verhinderte sie unheilbare Schäden, hielt sie die Hoffnung lebendig, eröffnete sie eine neue Chance für den Frieden. Dort wo eine solche tiefere Sehnsucht fehlte oder zur Verherrlichimg der Gewalt verfälscht wurde, überließ sie das Feld einer fortschreitenden Zerstörung, die dann zu einem andauernden w i r t schaftlichen und kulturellen Niedergang, ja sogar zum Untergang ganzer Zivilisationen geführt hat. Ihr Verantwortlichen der Völker, versteht es, euch selbst zur Friedensliebe zu erziehen, indem ihr auf den bedeutenden Seiten eurer nationalen Geschichte das Beispiel jener eurer Vorgänger entdeckt und heraushebt, die ihren Ruhm darin sahen, Früchte des Friedens aufkeimen zu lassen. „Selig sind, die Frieden stiften . . . " . Die Hochschätzung der großen Friedensaufgaben von heute Ihr tragt heute zur Erziehung zum Frieden dadurch bei, daß ihr den großen Friedensaufgaben, die sich der Menschheit mit besonderer Dringlichkeit stellen, die größtmögliche Bedeutung beimeßt. I n euren Bemühungen, zu einer vernünftigen und solidarischen Nutzung der natürlichen Umwelt und

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des gemeinsamen Erbes der Menschheit zu gelangen, zur Beseitigung des Elends, das Millionen von Menschen bedrückt, zur Stärkimg von Institutionen, die geeignet sind, die Einheit der Menschheitsfamilie auf nationaler und auf Weltebene zum Ausdruck zu bringen und zu vervollkommnen, werden die Menschen den einladenden Aufruf zum Frieden entdecken, der Versöhnung untereinander und Versöhnung mit der gesamten Schöpfung bedeutet. Indem ihr entgegen allen landläufigen demagogischen Überzeugungskünsten die Suche nach einfacheren Lebensweisen ermutigt, die weniger von den tyrannischen Impulsen der Instinkte nach Besitz, Konsum und Herrschaft bestimmt sind, sondern sich mehr von den tieferen Inspirationen der persönlichen Kreativität und der Freundschaft beeinflussen lassen, werdet ihr für euch selbst und für alle anderen einen weiten Raum von ungeahnten Möglichkeiten für den Frieden eröffnen. Die Leuchtkraft vieler Beispiele von Friedensstiftern So hemmend für den einzelnen Menschen das Gefühl ist, daß die bescheidenen Anstrengungen für den Frieden i m begrenzten Bereich der Verantwortlichkeiten eines jeden durch die großen weltweiten politischen Debatten, die von einer simplifizierenden Logik von Machtverhältnissen und Rüstungswettlauf bestimmt werden, zunichte gemacht werden, so befreiend ist andererseits der Anblick internationaler Einrichtungen, die von der Möglichkeit des Friedens überzeugt sind und sich leidenschaftlich für die Verwirklichung des Friedens einsetzen. Die Erziehung zum Frieden kann sich auch ein erneutes Interesse für die täglichen Beispiele von aufrichtigen Friedensstiftern auf allen Ebenen zunutze machen. Gemeint sind einzelne Menschen und Gruppen, die durch die Beherrschung ihrer Leidenschaften und durch ein gegenseitiges Sichannehmen und Respektieren ihren eigenen inneren Frieden gewonnen habe und ihn nach außen ausstrahlen; ebenso Völker, oft gerade die armen und geprüften unter ihnen, deren jahrtausendealte Weisheit vom höchsten Gut des Friedens geprägt ist und die oft den trügerischen Versuchungen zu einem übereilten und durch Gewalt erkämpften Fortschritt zu widerstehen verstanden i n der Überzeugung, daß solche Erfolge die giftigen Keime neuer Konflikte i n sich tragen. In der Tat, laßt uns, ohne das Drama der Gewalttätigkeiten zu vergessen, unseren Blick und den der jungen Generationen auf diese Beispiele von Friedensstiftern lenken. Sie üben eine entscheidende Anziehungskraft aus. Sie rufen i n uns vor allem die Sehnsucht nach dem Frieden wach, der für den Menschen lebensnotwendig ist. Diese neuen Energien werden dann helfen, eine neue Sprache des Friedens und neue Friedensgesten zu finden.

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2. Eine Sprache des Friedens sprechen Die Sprache ist darauf angelegt, die Gedanken des Herzens zum Ausdruck zu bringen und Einheit zu schaffen. Wenn sie jedoch in vorgefaßte Schemata gefangen ist, beeinflußt sie ihrerseits das Herz durch die ihr innewohnenden Tendenzen. Man muß deshalb auf die Sprache einwirken, um das Herz zu beeinflussen und einer möglichen Verführung durch die Sprache zu entgehen. Es ist leicht festzustellen, bis zu welchem Punkt die bittere Ironie und die Härte i n den Urteilen, i n der K r i t i k anderer und vor allem des „Fremden", radikales Opponieren und Fordern in die besprochenen Beziehungen selbst eindringen und mit der Liebe i m sozialen Bereich auch die Gerechtigkeit ersticken. Dadurch daß man alles in Begriffen von Machtverhältnissen, Gruppen- und Klassenkämpfen und i m Freund-Feind-Schema ausdrückt, bereitet man den geeigneten Nährboden für soziale Schranken, für Verachtung, Haß und Terrorismus und deren heimliche oder offene Verteidigung. Dagegen entspringen aus einem Herzen, das für das höchste Gut des Friedens gewonnen worden ist, die Bereitschaft zuzuhören und zu verstehen, die Achtimg vor den anderen, Rücksichtnahme, die i n Wirklichkeit Stärke bedeutet, und Vertrauen. Eine solche Sprache begibt sich auf den Weg der objektiven Tatsachen, der Wahrheit und des Friedens. Groß ist unter diesem Gesichtspunkt auch die erzieherische Aufgabe der sozialen Kommunikationsmittel. Ebenso ist es von Bedeutung, in welcher Weise man sich bei den gegenseitigen Begegnungen, Debatten und politischen Auseinandersetzungen auf nationaler und internationaler Ebene ausdrückt. Möget ihr, die ihr für die Völker und internationalen Organisationen Verantwortung tragt, es verstehen, eine neue Sprache, eine Sprache des Friedens zu finden: sie eröffnet schon durch sich selbst einen neuen Raum für den Frieden. 3. Zeichen des Friedens setzen Das, was Friedensperspektiven freisetzen, was eine Sprache des Friedens bewirkt, muß sich schließlich auch i n Gesten des Friedens ausdrücken. Andernfalls verflüchtigen sich die entstehenden Überzeugungen und die Sprache des Friedens w i r d zur Rhetorik, die schnell i n Mißkredit fällt. Sehr zahlreich könnten die Friedensstifter sein, wenn sie sich ihrer Möglichkeiten und Verantwortung bewußt würden. Es ist die konkrete Friedenstat, die zum Frieden mitreißt. Sie lehrt diejenigen, die das hohe Gut des Friedens suchen, daß dieses Gut sich denen offenbart und anbietet, die Tag für Tag bescheiden alle Friedensmöglichkeiten, die sich für sie ergeben, in die Tat umzusetzen suchen.

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Eltern, Erzieher und Jugendliche Eltern und Erzieher, verhelft den Kindern und den Jugendlichen zu einer Erfahrung des Friedens i n den tausend täglichen Begebenheiten, denen sie in der Fmailie, i n der Schule, beim Spiel, unter Kameraden, bei gemeinschaftlicher Arbeit, beim sportlichen Wettkampf und den vielfältigen Absprachen und notwendigen Kompromissen begegnen. Das Internationale Jahr des Kindes, das die Vereinten Nationen für 1979 ausgerufen haben, sollte die Aufmerksamkeit aller darauf lenken, was sogar die Kinder schon von sich aus zum Frieden beitragen können. Ihr Jugendlichen, seid Erbauer des Friedens. Ihr seid insgesamt die Urheber dieses großen gemeinsamen Werkes. Widersteht den leichtfertigen Lösungen, die i n der traurigen Mittelmäßigkeit liegen, und auch den sinnlosen Gewalttätigkeiten, zu denen euch mitunter Erwachsene, die mit sich selbst nicht in Frieden sind, mißbrauchen möchten. Folgt den Wegen, wohin euch euer Gefühl der Dankbarkeit, der Lebensfreude und der Solidarität führt. Ihr liebt es, eure neuen Energien — die sich von den diskriminierenden Vorurteilen freihalten — i n brüderlichen Begegnungen über die Grenzen hinaus einzusetzen, i m Erlernen von Fremdsprachen, die den gegenseitigen Kontakt erleichtern, und i m selbstlosen Dienst zugunsten der armen Länder. Ihr seid die ersten Opfer des Krieges, der eure Begeisterung erstickt. Ihr seid die Chance für den Frieden. Sozialpartner Partner i m beruflichen und sozialen Leben, der Frieden ist für euch oft schwer zu verwirklichen. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit und ohne Freiheit, ohne einen mutigen Einsatz zur Förderung des einen und des anderen. Die Kraft, die dafür erforderlich ist, muß geduldig sein, ohne zu resignieren oder aufzugeben, fest, ohne zu provozieren, klug, um aktiv den erwünschten Fortschritt vorzubereiten, ohne die Energien i n flammenden Ausbrüchen gewalttätiger Proteste zu vergeuden, die schnell wieder i n sich zusammenfallen. Gegen die Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen muß der Frieden sich einen Weg bahnen, indem er sich für eine entschlossene Aktion entscheidet. Diese Aktion muß aber schon vom anvisierten Ziel geprägt sein, nämlich von einer besseren gegenseitigen Verständigungsbereitschaft der Personen und Gruppen. Sie findet ein Regulativ i m Willen zum Frieden, der aus der Tiefe des Menschen kommt, i n den Erwartungen und i n der Gesetzgebung der Völker. Es ist dieser geschulte und disziplinierte Wille zum Frieden, der den Blick schärft, um für Spannungen und selbst Konflikte die notwendige Ruhe zu finden, damit sich die fruchtbare und

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konstruktive Logik des Friedens entfalten kann. Das, was sich i m sozialen Leben der Länder ereignet, hat eine beträchtliche Auswirkung — zum Besseren und zum Schlechteren — auf den Frieden zwischen den Nationen. Politiker Es muß aber hier erneut betont werden, daß die vielfältigen Friedensgesten Gefahr laufen, entmutigt und teilweise zunichte gemacht zu werden durch eine internationale Politik, die auf ihrer Ebene nicht die gleiche Friedensdynamik entfaltet. Politiker, die ihr für die Völker und internationalen Organisationen verantwortlich seid, ich bekunde euch meine aufrichtige Wertschätzung und biete euren oft beschwerlichen Bemühungen, den Frieden zu erhalten oder wiederherzustellen, meine ganze Unterstützung an. Mehr noch, i m Bewußtsein, daß es hierbei um das Glück und sogar das Überleben der Menschheit geht, und überzeugt von der großen Verantwortimg, die ich trage, damit dem wichtigen Aufruf Christi: „Selig die Friedensstifter" entsprochen wird, wage ich es sogar, euch zu ermutigen, noch weiter zu gehen. Öffnet dem Frieden neue Tore. Tut alles, was i n euren Kräften steht, um dem Weg des Dialogs gegenüber dem der Gewalt den Vorrang zu sichern. Dies gilt zunächst schon für den internen Bereich: Wie können die Völker den internationalen Frieden wahrhaft fördern, wenn sie selbst i n Ideologien gefangen sind, nach denen sich Gerechtigkeit und Frieden nur dann erreichen lassen, wenn man alle jene zur Ohnmacht verurteilt, die man von vornherein für unwürdig hält, die Gestalter ihres eigenen Geschickes oder fähige Mitarbeiter für das Gemeinwohl zu sein? Seid überzeugt, daß die Ehre und der Erfolg bei Verhandlungen zwischen gegnerischen Parteien sich nicht am Grad der Unnachgiebigkeit i n der Verteidigung der eigenen Interessen messen, sondern an der Bereitschaft zu gegenseitiger Achtung, zu Wahrhaftigkeit, Wohlwollen und Brüderlichkeit der Partner, mit einem Wort, an ihrer Menschlichkeit. Setzt Gesten des Friedens, sogar mutige, die mit den fatalen Verkettungen und der Last der von der Geschichte ererbten Leidenschaften brechen; webt weiter geduldig am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gewebe des Friedens. Schafft — die Stunde ist günstig, und die Zeit drängt — immer größere waffenfreie Zonen. Habt den Mut, die bedrückende Frage des Waffenhandels noch einmal grundsätzlich zu überprüfen. Versteht, die latenten Konflikte rechtzeitig zu entdecken und friedlich zu lösen, bevor sie die Leidenschaften entfachen. Gebt den regionalen und weltweiten Formen der Solidarität geeignete institutionelle Rahmen. Verzichtet darauf, legitime und sogar geistige Werte für Interessenkonflikte zu benutzen; sie werden dadurch entwürdigt und machen die Auseinandersetzungen noch unerbittlicher. Wacht darüber, daß das berechtigte leidenschaftliche Verlangen nach

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dem Austausch der Ideen sich der Kraft der Argumente und nicht der Drohung und Waffengewalt bedient. Indem ihr entschlossene Gesten des Friedens setzt, löst ihr die echten Erwartungen der Völker aus und findet i n ihnen mächtige Verbündete i m Einsatz für die friedliche Entwicklung aller Menschen. Ihr werdet euch selbst zum Frieden erziehen, werdet i n euch feste Überzeugungen heranbilden und euch zu neuen Initiativen i m Dienst der großen Sache des Friedens befähigen. III. Der besondere Beitrag der Christen Die Bedeutung des Glaubens Diese vielfältige Erziehung zum Frieden — zwischen den Völkern, im eigenen Land, i n der eigenen Umwelt, bei sich selbst — ist allen Menschen guten Willens aufgetragen, woran uns die Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIH. erinnert. Der Frieden ist ihnen allen i n verschiedenem Maße greifbar. Und da „der Frieden auf Erden . . . nur dann begründet und gesichert werden kann, wenn die von Gott gesetzte Ordnung gewissenhaft beobachtet wird" (Pacem in terris, Nr. 1), finden die Gläubigen in ihrer Religion die Erleuchtung, den Ansporn, die Kraft, um für die Friedenserziehung zu arbeiten. Wahrhafte Frömmigkeit führt notwendig zum wahren Frieden. Indem die öffentliche Gewalt die Religionsfreiheit pflichtgemäß anerkennt, fördert sie zugleich die Entfaltung der Friedensgesinnung in der Tiefe der Herzen sowie i n den von den Gläubigen geschaffenen Erziehungseinrichtungen. Was die Christen betrifft, so sind sie von Christus i n besonderer Weise dazu erzogen und angehalten worden, Erbauer des Friedens zu sein: „Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen" (Mt 5, 9; vgl. Lk 10, 5, u. a.). A m Ende dieser Botschaft wird man verstehen, daß sich meine besondere Erwartung auf die Glieder der Kirche richtet, um sie für ihren Beitrag zum Frieden zu ermutigen und ihn i n den großen von Gott in Jesus Christus geoffenbarten Friedensplan einzuordnen. Der spezifische Beitrag der Christen und der Kirche zu diesem gemeinsamen Werk w i r d um so besser gewährleistet sein, je mehr er sich aus seinen eigenen Quellen und seiner eigenen Hoffnung nährt. Die christliche Sicht vom Frieden Liebe Brüder und Schwestern i n Christus! Die Sehnsucht nach Frieden, die ihr mit allen Menschen teilt, entspricht einem ursprünglichen Aufruf Gottes, eine einzige Familie von Brüdern zu bilden, die alle nach dem Bild des gleichen Vaters geschaffen sind. Die Offenbarung legt Wert auf unsere

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Freiheit und Solidarität. Die Schwierigkeiten, denen w i r auf dem Weg zum Frieden begegnen, hängen teilweise zusammen mit unserer Schwäche als Geschöpfe, deren Schritte notwendigerweise nur langsam und stufenweise vorankommen. Diese Schwierigkeiten werden noch gesteigert durch unseren Egoismus, durch Sünden aller Art, angefangen bei der Ursünde, die einen Bruch mit Gott markiert hat und damit auch einen Bruch zwischen den Brüdern. Das B i l d des Turmes von Babel beschreibt gut diese Situation. Wir glauben aber, daß Jesus Christus durch die Hingabe seines Lebens am Kreuz unser Friede geworden ist: Er hat die Mauer des Hasses, die die feindlichen Brüder trennte, niedergerissen (Eph 2, 14). Nach seiner Auferstehimg und Aufnahme in die Herrlichkeit des Vaters gibt er uns i n geheimnisvoller Weise an seinem Leben Anteil: dadurch, daß er uns mit Gott versöhnt, heilt er die Wunden der Sünde und der Spaltung und befähigt uns dazu, unseren Gemeinschaften einen Anfang von Einheit einzustiften, die er i n uns selbst wiederherstellt. Die treuesten Jünger Christi sind deshalb auch Friedensstifter gewesen, bis hin zum Verzeihen gegenüber ihren Feinden, manchmal sogar bis zur Hingabe ihres eigenen Lebens für sie. Ihr Beispiel eröffnet den Weg zu einer neuen Menschheit, die sich nicht mehr mit vorläufigen Kompromissen begnügt, sondern eine tiefe und innige Brüderlichkeit verwirklicht. Wir wissen, daß unser Weg zum Frieden auf Erden, ohne sein naturgegebenes Wesen oder seine ihm eigenen Schwierigkeiten zu verlieren, i n einen anderen Weg einbezogen ist, in den Weg zum Heil, der einmündet i n die ewige Fülle des Friedens, i n einer alles übersteigenden Gemeinschaft mit Gott. So durchdringt schon das Reich Gottes, ein Reich des Friedens, mit seiner eigenen Quelle, seinen eigenen Mitteln und seinem Ziel alle irdische Tätigkeit, ohne dabei i n ihr aufzugehen. Diese Sicht des Glaubens bedeutet eine starke Herausforderung für das tägliche Handeln der Christen. Der christliche Glaube als Kraftquelle für den Frieden Sicher, w i r schreiten auf den Wegen des Friedens voran mit den Schwächen und tastenden Versuchen aller unserer Weggenossen. Wir leiden mit ihnen unter dem tragischen Mangel an Frieden. Wir fühlen uns mit um so stärkerer Entschlossenheit dazu gedrängt, zur Ehre Gottes und des Menschen nach Mitteln zur Lösimg zu suchen. Wir beanspruchen nicht, i m Evangelium fertige Lösungen zu finden, um heute bestimmte Fortschritte i n der Friedenssuche zu machen. Aber w i r finden fast auf jeder Seite des Evangeliums und der Kirchengeschichte den Geist der brüderlichen Liebe, der mit Macht zum Frieden erzieht. Wir finden i n den Gaben des Heiligen Geistes und i n den Sakramenten eine aus göttlicher Quelle gespeiste Kraft. Wir finden in Christus eine Hoffnung. Die Mißerfolge können das Werk des Friedens nicht ganz

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zerstören, auch dann nicht, wenn sich die unmittelbaren Ergebnisse als zerbrechlich herausstellen, auch dann nicht, wenn w i r wegen unseres Eintretens für den Frieden verfolgt werden. Christus gibt all jenen Anteil an seinem Heilsweg, die aus Liebe für den Frieden wirken. Das Gebet für den Frieden Der Frieden ist unser Werk: er verlangt unser mutiges und solidarisches Handeln. Aber er ist auch zugleich und vor allem ein Geschenk Gottes: er erfordert unser Gebet. Die Christen müssen an erster Stelle unter denen stehen, die täglich für den Frieden beten; sie müssen auch zum Gebet für den Frieden erziehen. Sie werden gerne mit Maria, der Königin des Friedens, beten. Zu euch allen, Christen, Gottgläubige und Menschen guten Willens, sage ich: habt keine Angst auf den Frieden zu setzen, zum Frieden zu erziehen. Die Sehnsucht nach Frieden w i r d nicht für immer enttäuscht werden. Die Arbeit für den Frieden, von der Liebe eingegeben, die nicht aufhört, wird ihre Früchte hervorbringen. Der Frieden wird das letzte Wort der Geschichte sein. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1978. JOANNES PAULUS PP. H

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U M Z U M FRIEDEN Z U GELANGEN, Z U M FRIEDEN ERZIEHEN Von Marian Heitger

I. Von der Möglichkeit, Pädagogik zu mißbrauchen Immer, wenn die Gesellschaft — was immer man darunter verstehen mag — nicht weiter weiß, besinnt sie sich auf die Pädagogik. M. a. W.: Wenn ein Problem auftaucht, dessen Lösimg dringend erforderlich ist, zu dem weder die Politik noch die Wirtschaft noch andere gesellschaftliche Gruppen fähig sind, ruft man nach Erziehung und Schule. Sie sollen jene Probleme lösen, die die Gesellschaft in ihrer Existenz und Weiterentwicklung bedrohen, zu deren Bewältigung sie sich aber nicht i n der Lage sieht. Der darin anklingende Zynismus w i r d noch dadurch überboten, daß die Gesellschaft gleichzeitig der Pädagogik und ihren Einrichtungen vielfach die für sie notwendigen konkreten Bedingungen und Voraussetzungen vorenthält und ein öffentliches Klima erzeugt wird, das jenen Erwartungen widerspricht. Die gesellschaftlich geförderten Tendenzen sind oft genug den der Pädagogik abverlangten Absichten geradezu entgegengesetzt. Man denke etwa an Freizeiterziehung, von der man die Fähigkeit und Bereitschaft zu sinnvoller Freizeitgestaltung erwartet, während die Tendenz von Wirtschaft und Reklame nach wie vor auf hemmungslosen Konsum gerichtet sind. Man denke an die Forderung nach politischer Bildung, von der man K r i t i k und Urteilsfähigkeit, Zivilcourage und Engagement erwartet, während der gesamte Bereich der Politik nach wie vor den unmündigen, braven Wähler zu wünschen scheint, dessen Stimme man zu Wahlzeiten mit Versprechungen einzufangen sucht, der nach abgegebenem Mandat aber kaum noch interessiert, dessen Stimme man nicht als Ergebnis kritischer Entscheidung erwartet, sondern als Zustimmung zu populistischen Erwartungen.

Um zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen

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n. Möglichkeit und Wesen der Friedenserziehung Angesichts dieser vielfach beobachteten Praxis läßt sich eine gewisse Skepsis auch gegenüber der öffentlich erhobenen Forderurig nach Friedenserziehung nicht unterdrücken. Es gilt hier der gleiche Mechanismus, i n dem der Pädagogik eine Aufgabe zugedacht wird, die die Gesellschaft selbst nicht „wahr"-zunehmen bereit ist. Das nährt den Verdacht — und das wäre der ärgste Zynismus —, daß der Auftrag gar nicht ernst gemeint ist, sondern lediglich gegen mögliche K r i t i k immunisieren soll. 1 Um diesen Einwänden zu begegnen und nicht von Anfang an i n heillosen Widersprüchen befangen zu sein, sind jedem Bedenken von Friedenserziehung zwei unverzichtbare Aufgaben gestellt: 1. Ist Friede überhaupt ein Problem der Erziehung? 2. Wenn diese Frage bejaht wird: Wie ist Friedenserziehung zu verstehen, was ist ihre Absicht und wie wäre diese Absicht zu verwirklichen?

m . Der Auftrag der Weltfriedensbotschaft 1979 Der Heilige Stuhl hat seit dem Jahre 1968 anläßlich des jeweiligen Weltfriedenstages der Welt jährlich eine Friedensbotschaft vorgelegt. I m Jahre 1979, also vor nunmehr elf Jahren, hat er ausdrücklich formuliert: „ U m zum Frieden zu gelangen, zum Frieden erziehen." Diese Formulierung ist i n mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Denn sie bindet den Frieden nicht nur an die Politik, nicht nur an die gesellschaftlichen Um- und Zustände, nicht nur an ökonomische Verhältnisse, sondern an Einsicht und Aufklärung, an Haltung und Einstellung der Menschen.

IV. Voraussetzungen des Friedens Wenn von Erziehimg i n bezug auf Frieden die Rede ist, dann ist damit notwendig vorausgesetzt, daß Friede nicht, wie materialistische Ideologie behauptet, als Ergebnis äußerer Umstände gedacht werden kann, weil, wie Marx behauptet, das Bewußtsein das Essemble des gesellschaftlichen Seins i Diesen Verdacht bestätigt auch die Friedensbotschaft des Hl. Vaters zum 1. 1. 1979, wenn er schreibt: „Der Rüstungswettlauf wird so für wichtiger gehalten als die großen Friedensaufgaben, die die Völker in neuer Solidarität verbinden müßten; er fördert vereinzelte mörderische Konflikte und steigert die Bedrohimg in hohem Ausmaße. Es ist wahr, die Sache des Friedens leidet auf den ersten Blick an einer entmündigenden Schwäche." S. 8. 3*

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ist, sondern ein Attribut der Person; daß also Friedfertigkeit der Menschen durchaus mit dem allgemeinen Frieden i n der Welt zu tun hat. 2 Das war i m Jahre 1979 keineswegs selbstverständlich. Ebenso wenig war es selbstverständlich, und verdient deshalb hervorgehoben zu werden, daß Friedenserziehung nicht als kollektive Veränderung angesehen werden kann, sondern — wie alle Erziehung den Einzelnen betrifft —, daß der Friede vom Bemühen und Verhalten und schließlich von der Haltung eines jeden Einzelnen abhängig ist. Diese Betonung des Einzelnen, seiner Verantwortung für den Frieden kann mißverstanden werden, wenn damit die Gesellschaft sich gegenüber K r i t i k immunisiert. Um das zu verdeutlichen, muß der Eingangsgedanke noch einmal aufgegriffen werden. V. Friedenserziehung — kein Ersatz für konkrete Friedensbemühungen Immer dann, wenn der Gesellschaft Probleme erwachsen, die gelöst werden müssen, die sie selbst zu lösen aber nicht gewillt oder nicht i n der Lage ist, besinnt sie sich auf Schule und Pädagogik. Man denke an Probleme der Ökologie, der Politik, der Freizeit, Gesundheit u. a. Offensichtlich sind z. B. Wirtschaft und Technik, Politik und Recht nicht i n der Lage, die Probleme der Umweltverschmutzimg, des Raubbaus an den Ressourcen i n den Griff zu bekommen. Der Erziehung hingegen w i r d zugemutet, das i n Ordnung zu bringen, was die Gesellschaft der Erwachsenen erst angerichtet hat. Es wirkt manchmal schon wie eine Zumutung, wenn mittels Erziehung der jungen Generation das aufgeladen wird, was die ältere angestellt hat. Auch Friedenserziehung—so könnte man meinen—folgt diesem Verdrängungs- und Entlastungsmechanismus. Wenn Politik und Recht es nicht schaffen, eine friedliche Welt zu organisieren, bewaffnete Auseinandersetzungen zu vermeiden, dann soll die Erziehung sich dieser Aufgabe widmen. Auf sie richten sich die Hoffnungen derer, die es selbst aufgegeben haben, die resignieren vor der Aufgabe, eine friedliche Welt zu schaffen. Ich sagte, es scheint plausibel, wenn das Heranwachsen der neuen Generation immer wieder mit Hoffnung verbunden wird. Sie kann alles besser 2 Vgl. Botschaft, a. a. O, S. 15: „Dadurch daß man alles in Begriffen von Machtverhältnissen, Gruppen- und Klassenkämpfen und im Freund-Feind-Schema ausdrückt, bereitet man den geeigneten Nährboden für soziale Schranken, für Verachtung, Haß und Terrorismus und deren heimliche oder offene Verteidigung."

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machen, könnte die Fehler der Erwachsenen vermeiden. Die Erziehungsund Unterrichtsanstrengungen, die Einrichtungen der Pädagogik, ihre Finanzierung und Organisation scheinen sich tatsächlich i n jener Absicht zu rechtfertigen: einer besseren Gesellschaft auf den Weg zu helfen, eben auch einer Gesellschaft des Friedens, der Toleranz, des gegenseitigen Verstehens; eine Gesellschaft, i n der Konflikte mit Argumenten, auf keinen Fall aber mit Gewalt und Krieg ausgetragen werden.

VI. Die Gefahr einer Instrumentalisierung der Pädagogik Das ist dann durchaus i n Ordnung, wenn es nicht zur Immunisierung und Entlastung von Politik und Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Mächten mißbraucht wird, wenn damit nicht die Instrumentalisierung der Pädagogik und durch sie auch die der heranwachsenden Generation für gesellschaftliche Zwecke und Interessen gemeint ist. Von Instrumentalisierung muß dann gesprochen werden, wenn Pädagogik zu Zwecken als Mittel gebraucht werden, die nicht Zweck der Pädagogik selbst sind. Der Zweck der Pädagogik ist Menschenbildung, nicht eine politische Aktion, nicht die Vermittlung einer politischen Position, nicht die Demonstration für eine bestimmte Ideologie. Wenn die Pädagogik dem Zweck der Bildung verpflichtet bleibt, dann widersteht sie auch der Gefahr, den Menschen zu instrumentalisieren.

VII. Bedingungen der Friedenserziehung Damit kann eine grundlegende Bedingung von Friedenserziehung festgehalten werden. Diese kann nur dann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn sie i m Zusammenhang mit und als Aufgabe der Menschenbildung selbst begriffen wird. Gerade diese Rückbindung der Friedenserziehung an die Erziehimg und allgemeine Menschenbildung würde und w i r d als unzureichend gesehen. Es gehe um eine konkrete, gesellschaftlich-politisch bestimmbare Aufgabe; es gehe darum, möglichst bald den Frieden zu sichern. Die Waffenarsenale, die Möglichkeit einer endgültigen Vernichtung der Welt und der Menschen, läßt uns keine Wahl, als den Frieden — wodurch auch immer — zu sichern. Dabei ginge es nicht um allgemeine Menschenbildung, um eine abstrakte, wenn auch hehre Idee, sondern um eine existentielle politische Notwendigkeit. Andererseits w i r d man sich fragen müssen, ob eine Friedenserziehung, die sich nicht unter dem Anspruch der Menschenbildung begreift, ihre eigene Absicht nicht schon i m Ansatz verfehlt. Der Hl. Vater betont i n seiner Bot-

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schaft die Notwendigkeit, Friedenserziehung als Gewissensbildung zu verstehen. Denn die i n ihr gemeinten „Prinzipien der Menschenwürde kann jeder Mensch guten Willens i n seinem eigenen Gewissen vorfinden." 3 Jede Instrumentalisierung des Menschen ist eine radikale Absage an die Idee des Friedens, ist gleichzeitig unmittelbarer Ausdruck von Krieg und Feindschaft. Friedlosigkeit ist geradezu dadurch definiert, daß i n ihr der Mensch nicht i n seiner Würde geachtet, nicht als Zweck seiner selbst anerkannt ist.

V m . Vom echten und vom falschen Frieden Friede darf nicht vordergründig als das Schweigen der Waffen verstanden werden, nicht als die Friedhofsruhe diktatorischer Unterdrückung hingenommen werden. Solche Formen des Friedens tragen den Keim des Krieges i n sich. I m ersten Fall ist der Friede am besten durch geschickte Politik, etwa im Sinne gegenseitiger Abschreckung zu sichern; i m zweiten Falle durch umfassende Kontrolle und Verhinderung von Auseinandersetzimg, durch Unterbindung des freien Wortes, der Freiheit von Wissenschaft, Glaube und Überzeugung. I n beiden Fällen bleibt der Friede labil, scheinbar, das Bild täuscht. I n der gegenseitigen Abschreckung bleibt die latente Gefahr, daß jede Seite versucht, sich jene Überlegenheit zu verschaffen, mit der sie einen allfälligen Krieg für sich entscheiden kann. I m zweiten Fall stabilisiert der sog. Friede einen menschenunwürdigen Zustand. Das allein schon macht ihn fragwürdig. Erziehung zum Frieden darf die Menschen nicht für ideologische oder parteipolitische Zwecke, und überhaupt gar nicht instrumentalisieren. Friede ist vielmehr jene Verfaßtheit von Menschen und Gesellschaft, wo das Menschentum i m Menschen heilig gehalten wird, wo der Mensch wahrhaft Mensch geworden ist. Dies aber ist deckungsgleich mit der allgemeinsten und daher einen Aufgabe aller Erziehung. Diese Bestimmung von Friedenserziehung i m Sinne einer allgemeinen Bildungsaufgabe mag vielen als zu formal, nicht inhaltsbestimmt genug erscheinen. Das mag als hinderlich erscheinen, ist aber die Bedingung der Möglichkeit ihres allgemeinen Anspruchs, dem sich grundsätzlich jeder zu stellen hat, ob alt oder jung, ob Frau oder Mann, arm oder reich, schwarz oder weiß. Niemand, der Mensch ist, ist aus diesem Anspruch entlassen; niemandem, der Mensch ist, kann diese Aufgabe vorenthalten werden. 3 a. a. O., S. 10.

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Damit zeigt sich sogleich eine erste Ausdifferenzierung dieser allgemeinverstandenen Friedenserziehung. Sie muß sich i n radikaler Weise als Erziehimg i m kategorischen Imperativ begreifen: i n einem jeden Menschen, d. h. auch i n sich das Menschentum heilig zu halten.

IX. Friede und Gewissensfreiheit Das bedeutet für die Pädagogik die radikale Forderung, wie sie der Hl. Vater i n seiner Botschaft zum 1.1. 1991 ausdrücklich formulierte: Wenn du den Frieden willst, dann achte das Gewissen eines jeden Einzelnen. Ohne die Anerkennung der Gewissensfreiheit, der Redefreiheit, besonders der Glaubensfreiheit ist kein wirklicher und deshalb auch kein dauerhafter Friede möglich. Friedenserziehung ist demnach radikale Erziehung des Menschen zu seinem Menschsein, als Bereitschaft zur Verantwortung für eine humane, freie, gerechte, die Menschenwürde anerkennende Gesellschaft.

X . Wahre Bildung Das schließt jene Kategorien bzw. Regulative ein, die den Inhalt der Menschenbildung ausmachen. Wer sich und den anderen als Zweck seiner selbst anerkennt, der muß gelernt haben und immer wieder lernen, von seiner Freiheit rechten Gebrauch zu machen und i n der Selbstbestimmung. Das schließt Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit ein. Zum Urteilen-können gehört entfaltete Vernunft, Redlichkeit des Denkens als Verpflichtung, Geltungsansprüche zu begründen, die Bereitschaft, eigene Vorurteile und Borniertheiten immer wieder abzubauen, den eigenen Vorteil nicht zum Argument für ein sachliches Urteil zu machen, die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens zu sehen. Man bedenke, was das für die politische Kultur bedeutet: als Absage an Opportunismus, Bequemlichkeit und Feigheit. 4 Politische Urteilsfähigkeit i n Besonnenheit, Redlichkeit und Offenheit kann der manipulativen Indienstnahme der Bürger für falsche Ideologien, Machtinteressen der Herrschenden, insgesamt den Tendenzen zur Gewalt entgegenwirken. 4 Vgl. a. a. O.: „Die Probleme der Menschen müssen in menschenwürdiger Weise behandelt werden und nicht mit Gewalt."

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XI. Friede und Toleranz Friede ist nur zu erhalten und zu sichern, wenn die Menschen Toleranz mit kritischem Urteil verbinden. Toleranz ist nicht Gleichgültigkeit gegen Unterdrückimg und Ungerechtigkeit, ist immer verbunden mit der Parteinahme für den Menschen und seine Würde. Toleranz soll jenes Wissen und jene Haltung definieren, die den anderen nicht nur i n seinem Anderssein toleriert, sondern ausdrücklich anerkennt, ihn als Bereicherung sieht, als Verlebendigung des gegenseitigen Zusammenlebens. I m Erkennen und Anderssein darf aber nicht dessen Anspruch auf die gleiche Menschenwürde vergessen oder geleugnet werden.

X I I . Friede und Menschenwürde Diese Menschenwürde bleibt das alle Menschen Verbindende; darin sind sich alle gleich, unabhängig von der Hautfarbe und Nationalität, von der Religionszugehörigkeit und dem weltanschaulichen Bekenntnis, von der Geschlechtszugehörigkeit und dem Alter, von der sozialen Schicht, vom kulturellen Standort oder dem gesellschaftlichen Stand .

X m . Die Bedeutung des Dialogs Diese Würde macht es, daß man dialogisch miteinander umzugehen hat. I m Dialog, i m gegenseitigen Gespräch, wird der andere ganz und radikal ernst genommen. I m Dialog ist jedem das Recht und die Pflicht auferlegt, nach Argumenten zu fragen, Argumente zu prüfen, Argumente vorzubringen und zu revidieren. Wo i m zwischenmenschlichen Umgang jeder Dialog grundsätzlich verweigert wird, da ist der Friede schon verletzt. 5 Der dialogische Umgang als die Form des Friedens wäre mißverstanden, wenn es um Rechthaberei, um strategische Überwältigung des anderen ginge. Dialog hat immer schon die Freiheit des anderen anerkannt, weil er sie voraussetzen muß. Wo das nicht geschieht, da wird die Dignität des Argumentes i n seinem Verweis auf die die Dialogisierungen bindende eine und allgemeine Wahrheit mißachtet, da w i r d Toleranz zur Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen, das Argument wird zur Waffe. 5 Im Rundschreiben zum 1. 1.1991 schreibt der Heilige Vater, daß niemand versuchen darf, irgend jemandem die eigene Wahrheit aufzudrängen. „Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch".

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Das Argument i m Dialog würde mißverstanden, wenn man es in strategischer, unterdrückender Absicht begreift, wenn es nicht Ausdruck eigener Geltungsbindung ist, wenn es nicht i n seiner Beispielfunktion als Appell zur Geltungsbindung, d. h. zur Bildung des anderen w i r d und umgekehrt. Denn der Dialog ist niemals einbahnig; er muß für alle Teilnehmer Anlaß zu selbstkritischer Prüfung werden. Weder das „liebe Ich" noch das „ D u " ist ein Argument. Wer das versucht, erliegt der Verführung zur Macht oder zum Opportunismus. Beides stört den Frieden, wenn dieser nicht als fauler Kompromiß sich selbst denaturieren soll. 6 Man spricht häufig davon, daß der Friede sein Fundament im Umgang mit sich selbst finden muß. Der Friede i m eigenen Haus betrifft nicht nur die engere soziale Umwelt, Familie und Gemeinde. Friede mit sich ist allerdings nicht als behäbige, spießerhafte Selbstgefälligkeit zu begreifen, sondern als intrapersonaler Dialog. Sein redlicher Vollzug ist Ausdruck der Achtung vor mir selbst, Forderung, sich selbst nicht zu hintergehen, mit sich selbst kritisch umzugehen. Intrapersonaler Dialog wird zum korrelativen Anlaß für den mitmenschlichen Umgang, und dieser zum korrelativen Umgang mit sich selbst. I n diesem Sinne kann man durchaus sagen, daß der Friede mit sich den Frieden mit dem Du einschließt und umgekehrt; die Achtimg vor dem anderen wird zum Anspruch der Selbstachtung. Wieder zeigt sich, daß Friedenserziehung nichs anderes sein kann als allgemeine Menschenbildung unter dem besonderen Aspekt des Umgangs mit mir, mit dem Du, mit Staat und Gesellschaft.

XIV. Friede und Religion Ein letzter Gedanke schließt sich zwanglos an. Wenn alle Bildung auf Religion verweist, dann muß dies auch für den Auftrag der Friedenserziehung gelten. Damit ist nicht gemeint, daß Bildung und Friedenserhaltung an eine bestimmte Religion bzw. an ein bestimmtes Glaubensbekenntnis gebunden sind. Das hätte die Gefahr der Aussonderung des Andersgläubigen zur Folge und würde dem Anspruch von Friedenserziehung widersprechen. Wohl aber ist die Frage zu erörtern, ob nicht eine religiöse Dimension aller Friedenserziehung innewohnt, ob nicht der Hinweis auf Religion der Friedenserziehung eine besondere Dimension und ein gesichertes Fundament zu geben vermag. 7 6

a. a. O., S. 9: „Ideologisch einander entgegengesetzte Richtungen müssen sich in einem Klima des Dialogs und daher freien Aussprache begegnen".

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Religion w i r d hier i n einem allgemeinen Sinne, als vorausgesetzte und immer wieder zu vollziehende Bindung des Menschen an eine letzte Wahrheit verstanden. Diese Wahrheit ist nicht Gegenstand von Beweisen, sondern deren Bedingung: sie ist kein Argument, sondern dessen Möglichkeit, die der hl. Nikolaus Cusanus als Argumentabilitas festgehalten hat. 8 Dieser Gedanke durchzieht das philosophische Denken unserer klassischen Geschichte von den Vorsokratikern 9 bis in unsere Gegenwart. Ohne ihre Voraussetzung ist weder Pädagogik noch — und durchaus folgerichtig — dialogischer Umgang möglich. Die Bindung an die eine Wahrheit — wenn man diese Relation als Religion bezeichnet — ist Bedingung für alle Erziehung. Sie stiftet ihre Möglichkeit, sie gibt ihr und aller Friedenserziehung ein unerschütterliches Fundament. Denn der Mensch ist dann nicht nur Zweck seiner selbst, sondern es gehört zu seiner Würde, auf unendliche Wahrheit bezogen und an sie gebunden zu sein. Christliche Religion spricht vom Menschen, der i n seiner Ebenbildlichkeit von Gott geschaffen und durch einen Heilswillen erlöst ist. Das Bewußtsein davon stiftet jene Achtung, die ich mir und einem jeden entgegenzubringen habe, die durch nichts widerrufbar ist. Wenn es stimmt, daß jene beiden aufeinander verweisen, daß darin, i m Umgang mit sich selbst und dem anderen, alle Friedenserziehimg ihre Grundlage finde, dann ist das Bewußtsein von der Erlösung für alle Friedenserziehung von besonderer Bedeutung .

7 Vgl. a. a. O., S. 20: Das Rundschreiben von 1979 betont in Anlehnung an die Enzyklika Pacem in terris, daß der Friede nur dann begründet und gesichert werden kann, wenn die von Gott gesetzte Ordnung gewissenhaft beobachtet wird. Deshalb finden die Gläubigen in ihrer Religion die Erleuchtung, den Ansporn, die Kraft, um für den Frieden zu arbeiten. 8 Nikolaus Cusanus: Idiota de Mente. 9 Vgl. Herakleitos: „Daher muß man dem Gemeinsamen folgen. Obgleich aber der Logos allen gemeinsam ist, lebt die Masse der Menschen doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätte." In: Die Vorsokratiker, hrsg. von Wilhelm Capelle, Stuttgart o. f. S. 148. Vgl. auch S. 136: „Daher muß man dem Gemeinsamen folgen. Obgleich aber das Weltgesetz (Logos) allen gemeinsam ist, leben doch die Vielen, als ob sie eigene Denkkraft haben".

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1980 „DIE WAHRHEIT, KRAFT DES FRIEDENS"

A n euch alle, die ihr den Frieden auf der Erde festigen wollt, an euch, Männer und Frauen guten Willens, an euch, Bürger und Verantwortliche der Völker, an euch, junge Menschen aller Länder! A n euch alle richte ich meine Botschaft und lade euch ein, zum dreizehntenmal den Welttag des Friedens zu begehen, um durch einen mutigen Einsatz i m Denken und Handeln von innen her das labile und immer wieder bedrohte Gebäude des Friedens zu stützen, indem ihm das Fundament der Wahrheit zurückgegeben wird. Die Wahrheit, Kraft des Friedens! Vereinigen w i r unsere Anstrengungen, den Frieden zu stärken, indem w i r die Mittel benutzen, die der Frieden selbst und vor allem die Wahrheit uns bieten, die ja i n vollkommenem Maße die friedfertige und machtvolle Kraft des Friedens darstellt: sie breitet sich aus durch ihr eigenes Leuchten, ohne allen Zwang.

Eine Feststellung: die Unwahrheit dient der Sache des Krieges 1. Wenn es stimmt — und niemand zweifelt daran —, daß die Wahrheit der Sache des Friedens dient, so steht ebenso eindeutig fest, daß die Unwahrheit mit der Sache der Gewalt und des Krieges verbunden ist. Unter „ U n wahrheit" sollen hier alle Formen und alle Stufen der Abwesenheit, der Verweigerung, der Mißachtung der Wahrheit verstanden sein: die Lüge i m eigentlichen Sinne, verkürzte und einseitige Information, parteiische Propaganda, Manipulation der Kommunikationsmittel u. a. Ist es nötig, alle verschiedenen Formen aufzuzählen, unter denen diese Unwahrheit auftritt? Es soll genügen, auf nur wenige Beispiele hinzuweisen. Denn wenn auch zu Recht die Beunruhigimg über das Anwachsen der Gewalt i m gesellschaftlichen, nationalen und internationalen Leben und die Bedrohungen des Friedens immer klarere Gestalt annimmt, so ist doch die öffentli-

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che Meinung oft weniger empfindsam für all jene Formen der Unwahrheit, die zur Ursache der Gewalt gehören und ihr einen fruchtbaren Boden verschaffen. Die Gewalt schwimmt i n der Lüge und hat die Lüge nötig, um zu versuchen, sich durch Rechtfertigungen, die völlig außerhalb ihrer Natur liegen und sich sogar oft widersprechen, ein gewisses Ansehen vor der Weltmeinimg zu verschaffen. Gilt das nicht auch von der Praxis, die darin besteht, diejenigen, die mit den eigenen Meinungen nicht übereinstimmen, als Feinde zu bezeichnen — um sie so besser bekämpfen oder mundtot machen zu können — und ihnen feindselige Absichten beizulegen, indem man sie durch eine geschickte Dauerpropaganda als Aggressoren brandmarkt? Eine weitere Form der Unwahrheit zeigt sich in der Weigerung, die objektiv berechtigten und unveräußerlichen Rechte jener anzuerkennen und zu achten, die sich weigern, eine bestimmte Ideologie anzunehmen, oder sich auf ihre Gedankenfreiheit berufen. Es handelt sich um Verweigerung der Wahrheit, wenn man denjenigen aggressive Absichten unterschiebt, die — wie sie klar zeigen — nur den einzigen Wunsch haben, sich zu schützen und zu verteidigen gegenüber den realen Bedrohungen, die leider immer noch sowohl i m Inneren der Nationen als auch zwischen den Völkern bestehen. Empörung, die sich nur gegen einige ausgewählte Adressaten richtet, hinterhältige Verdächtigungen, Manipulation der Nachrichten, systematische Herabsetzimg des Gegners als Person sowie i n seinen Absichten und Handlungen, Erpressung und Einschüchterung: durch all dies wird die Wahrheit mißachtet und ein Klima der Unsicherheit geschaffen, in dem man die Personen und Gruppen, die Regierungen und sogar die internationalen Organe zu resigniertem und komplizenhaftem Schweigen, zu teilweisen Kompromissen und unüberlegten Reaktionen zwingen will: alles Haltungen, die in gleicher Weise i n Gefahr sind, das mörderische Spiel der Gewalt zu begünstigen und sich gegen die Sache des Friedens zu wenden. 2. A n der Wurzel all dieser Formen der Unwahrheit liegt, indem sie sich gegenseitig verstärken, eine falsche Auffassimg vom Menschen und seiner wesentlichen Antriebe. Die erste Lüge, die grundlegende Unwahrheit besteht darin, nicht an den Menschen zu glauben, an den Menschen i n all seiner Möglichkeit zur Größe, aber auch i n seinem Bedarf an Erlösung vom Bösen und von der Sünde, die i n ihm ist. Unter dem Einfluß von verschiedenen Ideologien, die oft i m Gegensatz zueinander stehen, breitet sich die Idee aus, daß der Mensch und die Menschheit als Ganze ihren Fortschritt vor allem durch den gewaltsamen Kampf erreichen. Man hat geglaubt, dies i n der Geschichte aufzeigen zu können.

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Man hat viel Geist darauf verwandt, daraus eine Theorie zu machen. Man hat sich immer mehr daran gewöhnt, alle Vorgänge i m gesellschaftlichen und internationalen Leben allein mit den Begriffen von Macht und Gegenmacht zu analysieren und sich als Folge davon so zu organisieren, daß die eigenen Interessen durchgesetzt werden können. Diese weitverbreitete Tendenz, den Einsatz von Machtmitteln zu versuchen, um Gerechtigkeit zu schaffen, wird zwar oft durch taktische oder strategische Rücksichten i n Schranken gehalten. Aber solange man die Drohhaltungen beibehält, solange man gewisse Gewaltanwendungen i n einseitiger Weise und zum Belieben von Interessen und Ideologien fortsetzt, solange man die Behauptung aufrechterhält, der Fortschritt der Gerechtigkeit entstehe letztlich aus dem gewaltsamen Kampf, weichen alle maßvolle Abstufung, alle Zurückhaltung und Begrenzung regelmäßig vor der einfachen und brutalen Logik der Gewalt zurück, bis hin zur selbstmörderischen Verherrlichung der Gewalt um der Gewalt willen. Der Frieden braucht Aufrichtigkeit

und Wahrheit

3. Den Frieden durch Werke des Friedens aufzubauen, ist bei dieser Verwirrung der Geister schwierig und erfordert erneuten Respekt vor der Wahrheit, wenn man nicht will, daß die einzelnen, die Gruppen und Nationen am Frieden zu zweifeln beginnen und neuen Gewalttätigkeiten zustimmen. Die Wahrheit erneuern, das bedeutet zunächst, die Gewaltakte i n all ihren Formen bei ihrem wahren Namen zu nennen. Man muß den Mord beim Namen nennen: Mord bleibt Mord; alle politischen oder ideologischen Rechtfertigungen ändern daran nichts, sondern verlieren dadurch i m Gegenteil ihr eigenes Ansehen. Beim Namen genannt werden müssen ferner die Massaker an Männern und Frauen, gleich welcher Volkszugehörigkeit, welchen Alters oder welcher Stellung. Auch die Tortur muß man bei ihrem Namen nennen sowie—mit den jeweiligen Bezeichnungen—alle Formen von Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, des Menschen durch den Staat, eines Volkes durch ein anderes Volk. Dies muß geschehen, nicht um sich selbst durch lautstarke Anklagen, die alles und jedes miteinander vermischen, ein gutes Gewissen zu geben — auf diese Weise würde man die Dinge gerade nicht bei ihrem Namen nennen — und auch nicht um einzelne Personen oder Völker zu brandmarken und zu verdammen, sondern um zu einer Veränderung des Verhaltens und der Gesinnung beizutragen und dem Frieden seine Chance zu geben. 4. Die Wahrheit als Kraft des Friedens stärken, bedeutet, sich ständig darum zu bemühen, auch für sich selbst nicht die Waffen der Lüge zu benüt-

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zen, und sei es auch für einen guten Zweck. Die Lüge kann sich heimlich überallhin einschleichen. U m die Aufrichtigkeit — die Übereinstimmung mit uns selbst — auf Dauer durchzuhalten, braucht es einer geduldigen, mutigen Anstrengung, um die höhere und umfassende Wahrheit vom Menschen zu suchen und zu finden, i n deren Licht w i r die verschiedenen Situationen prüfen und vor allem uns selbst und unsere eigene Aufrichtigkeit beurteilen können. Es ist unmöglich, am Zweifel, am Argwohn und an skeptischer Gleichgültigkeit festzuhalten, ohne sehr schnell i n Unaufrichtigkeit und Lüge abzugleiten. Wie ich schon weiter oben gesagt habe, ist der Frieden bedroht, wenn Unsicherheit, Zweifel und Argwohn herrschen, und die Gewalt hat den Nutzen davon. Wollen w i r wirklich den Frieden? Dann müssen w i r uns sehr tief i n unser eigenes Wesen versenken, um jene Schichten zu entdekken, wo w i r uns, jenseits aller Spaltungen i n uns und zwischen uns, i n der Überzeugung bestärken können, daß die grundlegenden Antriebe des Menschen, die Kenntnis seiner wahren Natur, ihn zur Begegnung führen, zur gegenseitigen Achtimg, zur Brüderlichkeit und zum Frieden. Diese anstrengende Suche nach der objektiven und universellen Wahrheit vom Menschen w i r d durch ihren Verlauf und ihr Ergebnis Menschen des Friedens und des Dialogs schaffen, die sich demütig und zugleich kraftvoll zu einer Wahrheit bekennen, die es ihnen immer deutlicher macht, daß man ihr dienen muß und sich nie ihrer bedienen darf zu eigensüchtigen Interesssen.

Die Wahrheit klärt die Wege des Friedens 5. Eine der Lügen der Gewalt besteht darin, zur eigenen Rechtfertigung zu versuchen, den Gegner sowie seine Handlungen und die sozio-kulturellen Strukturen, i n denen er handelt und denkt, systematisch und radikal herabzusetzen. Der Mensch jedoch, der zum Frieden bereit ist, weiß den Teil der Wahrheit anzuerkennen, den es i n jedem menschlichen Werk gibt, und vor allem auch jene Möglichkeiten zu größerer Wahrheit, die i m Tiefsten eines jeden Menschen immer vorhanden sind. Es ist durchaus nicht so, daß der Wille zum Frieden ihm die Augen vor den Spannungen, den Ungerechtigkeiten und den Kämpfen verschließt, die zu unserer Welt gehören. Er blickt ihnen voll ins Gesicht. Er nennt sie bei ihrem Namen, aus Achtung vor der Wahrheit. I n seiner tiefen Übereinstimmung mit den Anliegen des Friedens muß er sogar noch empfindlicher für all das werden, was dem Frieden widerspricht. So ist er motiviert, die Erforschimg der realen Ursachen des Bösen und der Ungerechtigkeit mutig voranzutreiben, um dann nach geeigneten Gegenmitteln zu suchen. Die Wahrheit ist die Kraft des Friedens, weil sie nach Art einer inneren Übereinstimmung

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die Wahrheitselemente sieht, die i m anderen Menschen sind, und sie zusammenzufügen sucht. 6. Die Wahrheit erlaubt es nicht, am Gegner zu verzweifeln. Der zum Frieden bereite Mensch, der sich von ihr leiten läßt, identifiziert den Gegner nicht mit dem Irrtum, dem dieser unterliegt. I m Gegenteil, er nimmt den Irrtum i n seinem tatsächlichen Ausmaß und appelliert an die Vernunft, an das Herz und das Gewissen des Menschen, um ihm zu helfen, die Wahrheit zu sehen und anzunehmen. Das verleiht der Anprangerung der Ungerechtigkeiten einen besonderen Charakter: eine solche Anprangerung kann nicht in jedem Fall verhindern, daß sich diejenigen, die für die Ungerechtigkeiten verantwortlich sind, gegenüber dem wahren Tatbestand hartnäckig verschließen, doch provoziert sie wenigstens nicht automatisch eine solche Verhärtung, für die ja oft die Opfer bezahlen müssen. Eine der großen Lügen, die die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen und Gruppen vergiften, besteht darin, alle Aspekte der Handlung des Gegners, auch die richtigen und guten, pauschal i n Mißkredit zu bringen, um so dessen Verirrungen noch besser brandmarken zu können. Die Wahrheit wählt andere Wege, und deshalb bewahrt sie dem Frieden alle seine Chancen. 7. Vor allem gestattet die Wahrheit nicht, an den Opfern der Ungerechtigkeit zu verzweifeln; sie erlaubt nicht, diese verzweifelte Resignation oder Gewalttätigkeit zu treiben. Sie ruft dazu auf, auch da noch auf die friedenstiftenden Kräfte zu setzen, die leidende Menschen und Völker i m Verborgenen besitzen. Indem sie diese i m Bewußtsein ihrer Menschenwürde und unveräußerlichen Rechte bestärkt, glaubt sie, ihnen Kraft zu geben, die Mächte der Unterdrückung durch wirksame Pressionen zur Veränderung der Verhältnisse zu veranlassen, die wirkungsvoller sind als auflodernde Gewalt, die ja i m allgemeinen keine Zukunft hat — es sei denn eine mit noch größeren Leiden. I n eben dieser Überzeugung höre ich nicht auf, die Würde und die Rechte der Person zu betonen. Wie ich ferner i n meiner Enzyklika Redemptor hominis geschrieben habe, zielt auch die Logik der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die Einrichtung der Vereinten Nationen selbst darauf ab, „eine Grundlage für eine solche ständige Revision der Programme, Systeme und Regime zu schaffen, die unter diesem einzigen grundlegenden Gesichtspunkt zu geschehen hat, dem Wohl des Menschen, das heißt der Person i n der Gesellschaft ..." (ebd. Nr. 17, Abschnitt 4). Da der friedfertige Mensch auf das Licht der Wahrheit und der Aufrichtigkeit vertraut, ist er sich i m klaren über die Ungerechtigkeiten, die Spannungen und die Konflikte, die noch immer bestehen. Anstatt jedoch die Frustrationen und Kämpfe zu verschlimmern, setzt er sein Vertrauen auf die höheren Fähigkeiten i m Menschen, auf seine Vernunft und sein Herz, um Wege des Friedens ausfindig

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zu machen, die zu einem wirklich menschlichen und dauerhaften Ergebnis führen. Die Wahrheit stärkt die Mittel des Friedens 8. Um von einer weniger menschenwürdigen Situation i m nationalen wie internationalen Leben zu einer menschlicheren Situation zu gelangen, ist der Weg lang und w i r d nur i n Etappen beschritten. Der Mensch des Friedens weiß darum, er sagt es und findet i n der Kraft der Wahrheit, wie ich sie soeben beschrieben haben, das notwendige Licht, um die richtige Orientierung zu bewahren. Der Mensch der Gewalt weiß das auch, aber er sagt es nicht und täuscht die öffentliche Meinung, indem er ihr eine radikale und schnelle Lösung i n glänzenden Farben schildert und i n Aussicht stellt; schließlich baut er die Lüge immer weiter aus, um die Verzögerungen zu „erklären", die für die verheißene Freiheit und das zugesicherte Wohlergehen immer wieder eintreten. Es gibt keinen Frieden ohne die Bereitschaft zu einem aufrichtigen und beständigen Dialog. Auch zur Wahrheit gelangt man i m Dialog: sie stärkt somit dieses unerläßliche Mittel zum Frieden. Die Wahrheit fürchtet sich auch nicht vor ehrenvollen Vereinbarungen, weil sie das Licht mit sich bringt, das es gestattet, sich ohne Preisgabe von Überzeugungen und wesentlichen Werten dafür einzusetzen. Die Wahrheit führt die Geister zusammen; sie zeigt auf, was die bisher entgegengesetzten Seiten bereits eint; sie beseitigt das Mißtrauen von gestern und bereitet den Boden für neue Fortschritte i n Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, i m friedlichen Zusammenleben aller Menschen. I n diesem Zusammenhang kann ich nicht das Problem des Wettrüstens mit Stillschweigen übergehen. Die Lage, i n der die Menschheit i n unseren Tagen lebt, scheint einen tragischen Widerspruch i n sich zu schließen zwischen den vielfältigen und engagierten Friedensbeteuerungen einerseits und der nicht weniger wirklichen, ja sogar schwindelerregenden Eskalation der Kriegsrüstung. Die Tatsache des Wettrüstens kann selbst gewisse Beteuerungen der Bereitschaft zu einer friedlichen Koexistenz dem Verdacht der Lüge und der Heuchelei aussetzen. Mehr noch, kann sie nicht oft ganz einfach zu dem Eindruck berechtigen, daß jene Beteuerungen nur dazu dienen, gegenteilige Absichten zu verschleiern? 9. Man kann nicht ehrlicherweise die Gewaltanwendung anprangern, wenn man sich nicht zugleich darum bemüht, dieser durch mutige politische Initiativen zuvorzukommen, um die Bedrohungen des Friedens zu beseitigen, indem man die Wurzeln der Ungerechtigkeiten bekämpft. Der tiefe Sinn der

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Politik w i r d ebensosehr verfälscht, wenn die Politik i n Untätigkeit verharrt, als wenn sie sich verhärtet oder in Gewalttätigkeit ausartet. In der Politik die Wahrheit tun, die den Frieden festigt, bedeutet den Mut haben, rechtzeitig die verborgenen Gegensätze aufzuspüren und im richtigen Augenblick i n weitere Verhandlungen über Probleme einzutreten, die zur Zeit durch Gesetze oder Abmachungen neutralisiert sind, die bisher ihre Zuspitzung vermeiden halfen. Die Wahrheit tun bedeutet ferner den Mut haben, die Zukunft vorauszuplanen: neuen Bestrebungen Rechnung zu tragen, die sich aus dem kulturellen Fortschritt bei den einzelnen Menschen und den Völkern ergeben und mit dem Guten vereinbar sind, um die nationalen und internationalen Institutionen der Wirklichkeit einer Menschheit anzupassen, die sich auf dem Weg befindet. Den Verantwortlichen der Staaten und den internationalen Institutionen steht also ein unermeßliches Wirkungsfeld offen, um eine neue, gerechtere Weltordnung aufzubauen, die sich auf der Wahrheit vom Menschen und auf einer gerechten Verteilung sowohl der Reichtümer wie der Machtbefugnisse und der Verantwortlichkeiten gründet. Ja, es ist meine Überzeugung: die Wahrheit festigt den Frieden von innen her, und ein Klima größerer Aufrichtigkeit gestattet den Einsatz der Energien des Menschen für das einzige Anliegen, das ihrer würdig ist: den vollen Respekt vor der Wahrheit über Natur und Ziel des Menschen als Quelle wahren Friedens in Gerechtigkeit und Freundschaft. Für die Christen: Die Wahrheit des Evangeliums 10. Es ist die Aufgabe aller Menschen und aller Völker, den Frieden aufzubauen. Auch sind alle, weil sie Herz und Vernunft besitzen und nach Gottes Bild geschaffen sind, dazu befähigt, sich um jene Wahrheit und Aufrichtigkeit zu bemühen, die den Frieden sichern. Ich lade nun die Christen ein, i n dieses gemeinsame Werk den spezifischen Beitrag des Evangeliums einzubringen; denn dieses führt uns hin zu den letzten Quellen der Wahrheit, zum menschgewordenen Wort Gottes. Das Evangelium stellt deutlich die Verbindung ins Licht, die zwischen der Lüge und der mörderischen Gewalt besteht, wenn Christus sagt: „Jetzt wollt ihr mich töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit gesagt hat, und diese Wahrheit habe ich von Gott g e h ö r t . . . Ihr tut die gleichen Werke wie euer Vater . . . Ihr stammt vom Teufel, er ist euer Vater, und ihr wollt das tun, was euer Vater will. Er war ein Mörder von Anfang an und steht nicht i n der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er lügt, sagt er das, was ihm eigen ist; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge" (Joh 8, 40. 41. 4 Johannes Paul IL

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44). Deswegen also konnte ich i n Drogheda i n Irland so überzeugt sagen, was ich hier wiederhole: „Gewalt ist eine Lüge, denn sie verstößt gegen die Wahrheit unseres Glaubens, gegen die Wahrheit unserer Menschlichkeit... Glaubt nicht an die Gewalt; unterstützt die Gewalt nicht! Dies ist nicht der christliche Weg. Es ist nicht der Weg der katholischen Kirche. Glaubt an den Frieden und an die Vergebung und Liebe; denn diese gehören zu Christus" (Nr. 9-10). Ja, das Evangelium Christi ist ein Evangelium des Friedens: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden" (Mt 5, 9). Die Triebkraft des Friedens des Evangeliums aber ist die Wahrheit. Jesus offenbart dem Menschen seine volle Wahrheit; er stellt ihn i n seiner Wahrheit wieder her, indem er ihn mit Gott, mit sich selber und mit den anderen versöhnt. Die Wahrheit ist die Kraft des Friedens, weil sie die Einheit des Menschen mit Gott, mit sich selber und mit den anderen offenbart und wirkt. Die Wahrheit, die den Frieden bestärkt und ihn aufbaut, schließt wesentlich Vergebung und Versöhnung ein. Vergebimg und Versöhnung verweigern bedeutet, uns belügen und i n die mörderische Logik der Lüge eintreten. Schlußappell 11. Ich weiß, daß jeder Mensch guten Willens all dies von seiner persönlichen Erfahrung her verstehen kann, er braucht nur die Stimme i n der Tiefe seines Herzens zu hören. Daher lade ich euch alle ein, euch alle, die ihr den Frieden festigen wollt, indem ihr ihm seinen Wahrheitsgehalt zuerkennt, der alle Lügen vertreibt: nehmt die Mühe des Nachdenkens und des Handelns auf euch, die ich euch für diesen 13. Weltfriedenstag vorlege: Befragt euch nach eurer Bereitschaft zur Vergebung und Versöhnung und setzt dort, wo ihr i n Familie, Gesellschaft und Staat Verantwortung tragt, Taten des Verzeihens und der Versöhnung! Ihr werdet so die Wahrheit tun, und die Wahrheit w i r d euch frei machen. Die Wahrheit w i r d ungeahnte Einsichten und Energien freisetzen, um dem Weltfrieden eine neue Chance zu geben. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1979. JOANNES PAULUS PP. H

DIE WAHRHEIT, KRAFT DES FRIEDENS Von Rudolf Weiler

I. Friedenskrisen — Krisen der Wahrheit Internationale Krisen und Konflikte sind immer auch Krisen der Wahrheit i m Leben der Völkergemeinschaft. Die Tugend der Wahrhaftigkeit ist i n allen Situationen personaler Existenz wie gesellschaftlicher Wirklichkeit und daher auch zwischen den Staaten unabdingbare Voraussetzung gedeihlichen Zusammenlebens. Das Dokument des Heiligen Vaters stellt zurecht i n einer ersten kurzen Analyse seines Aufrufs das Auftreten der Lüge als Verweigerung der Wahrheit i m internationalen Leben als Bedrohung des Friedens heraus. Man w i r d heute wie damals, am Beginn der achtziger Jahre, keine Schwierigkeit haben, viele Beispiele für die kritische Situation der Wahrheit i n der internationalen Politik zu finden und deren Verknüpfung mit Konflikten bis zur kriegerischen Eskalation. Lohnender ist es, auf Beispiele zu verweisen, wo das Streben nach Wahrhaftigkeit Früchte i n der Völkergemeinschaft zeitigt. Die Übung sozialer Tugenden hat gewiß positive Folgen. Von einzelnen Menschen getragen sind sie i m Kontext der politischen Kultur von Großgruppen von vielfacher Wirkung. Durch ihre Repräsentanten stehen sie für das Verhalten von Staaten. 1

n. Diplomaten und Wahrhaftigkeit Vordergründig stellt sich für die Diplomatie vielleicht nicht die Frage der Wahrhaftigkeit. Die Diplomaten geraten nicht selten unter den Erfolgsdruck ihrer Regierungen. Wenn aber der politische Wille zur Konfliktregelung aufkommt, erweist sich die Wahrheitsfrage doch bereits als erster Anknüpfungspunkt der Hoffnung, um aus dem Dilemma des gelebten Relativismus der Wahrheit und des folglichen tragischen Verlustes des Wahrheitsstrebens herauszukommen. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ist also oft Anzei-

i Vgl. Rudolf Weiler, Internationale Ethik, 1. Bd., Berlin 1986, 59 ff. 4*

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Rudolf Weiler

chen politischer Lösungen. Ein Beispiel dafür ist die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa (KSZE).

m . Wahrhaftigkeit und Vertrauen Die i n internationalen Vertragswerken prinzipieller Natur oft offen gelassenen Verständigungsfragen zugunsten einer Übereinkunft waren auch beim Schlußdokument der KSZE von Helsinki 1975 ein Hindernis, effektive Fortschritte zu machen, abgesehen von der Einleitung einer Nachfolgeprozedur. Die erstrebte Abrüstung, zuerst über Rüstungskontrolle, nahm aber erst dann Gestalt an, als man — gleichsam i n einer vorläufigen Phase der Wegsuche — begann, über Vertrauensbildung zu verhandeln, um zu mehr Sicherheit zu gelangen. So stellte 1990 das Wiener Dokument der Verhandlungen über Vertrauensbildung und Sicherheitsbildende Maßnahmen, einberufen i n der Folge des Wiener Treffens der KSZE, einen Durchbruch zur Abrüstungsfrage dar: Die Geheimhaltung soll durch militärische Information und Konsultationen abgelöst werden. Über Kontakte hinaus soll die Kommunikation sich auf gegenseitige Verifikation und Überprüfung i n militärischen Fragen erstrecken. — Wer bedenkt, i n welcher Atmosphäre der Propaganda und Irreführimg durch Jahrzehnte i n Europa das Rüstungsgeschäft der Staaten in Europa betrieben worden ist, wird diesen Durchbruch zur Wahrheit i m Sinne der Vertrauensbildung ermessen!

IV. Die Grundnorm des Völkerrechts Die Wahrheitsfrage ist an sich schon immer i m Völkerrecht angesprochen. Schon das Völkerrecht als Vertragsrecht souveräner Staaten bedarf der Grundnorm pacta sunt servanda — und Verträge müssen auf ihren Inhalt, ihre Auslegung und Verpflichtung i n der Gemeinsamkeit von Menschen interpretiert werden. So ist die Frage nach Wahrheit — hier zunächst i m Text eines Vertrages angesprochen, aber folglich allgemein! — auch die Frage nach einem Kriterium der sittlichen Wahrheit für den Standard der Beziehungen unter den Völkern. Alfred Verdross 2 sieht die Grundnorm des Völkerrechts i n dem Satz verkörpert, daß „sich die Völkerrechtssubjekte so verhalten sollen, wie es die fundamentalen Rechtsgrundsätze und die auf ihrer Grundlage erzeugten Normen des Vertragsrechts und des Gewohnheitsrechts vorschreiben". 2 Völkerrecht, Wien 1964, 24 f.

Die Wahrheit, Kraft des Friedens

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Ignaz Seidl-Hohenveldern 3 weist i n seinem Lehrbuch des Völkerrechts zunächst darauf hin, daß es letztlich nicht der Wille der einzelnen Staaten sein kann, der diese Grundnorm begründet und die zwischenstaatliche Ordnung und ihre Hechtsauffassungen. Es sind vielmehr „Rechtsüberzeugungen„, die „über alle kulturellen und ideologischen Verschiedenheiten hinweg von allen Völkern anerkannt werden". Damit aber tritt die sittliche Wahrheitsfrage neben anderen Motiven deutlich hervor. I m einzelnen läßt sich das i n der Völkerrechtslehre immer wieder bei den „Quellen des Völkerrechts" weiter verfolgen und insbesondere auch bei den einzelnen völkerrechtlichen Grundrechten i n ihrer herkömmlichen Zusammenstellung. Sie stellen bereits Rechtserkenntnisse dar, die selbst Qualität von Sätzen gerichtlicher Entscheidungsfindimg erreichen. Rechte setzen aber immer Rechtseinsicht voraus und sind mit der Wahrheitsfrage innerlich verbunden.

V. Vom Völkerrecht der Koexistenz zum Völkerrecht der Kooperation Solche völkerrechtlichen Grundrechte, wie das Recht auf Ehre, haben zunächst nur Bezug auf Staaten, i m genannten Fall auch auf Staatsoberhäupter, dennoch ist der Bezug auf den einzelnen Menschen als Staatsbürger einsichtig. Wenn es auch nicht gelungen ist, von diesem Recht auf Ehre Staaten rechtlich für die bei ihnen geübte öffentliche Meinung zum Beispiel durch Schaffung eines internationalen Rechts auf Entgegnung auf unwahre öffentliche Propaganda etwas verantwortlich zu machen 4 , zeigt sich hier wieder die praktische Bedeutung der Sorge für Wahrheit i n der internationalen öffentlichen Meinimg als Rechtsgemeinschaft, die letztlich jeden Menschen betrifft. Das traditionelle oder klassische Völkerrecht verstand sich als ein „bloßes Recht der Koexistenz" von souveränen Staaten, die allein über Verkehr untereinander und dessen Standard zu entscheiden hatten. Es gab auch keinerlei Zwangsgewalt über ihnen, außer der Verbindlichkeit der von ihnen eingegangenen Verträge. Wir sprechen auch von einem absoluten Verständnis der Souveränität. 5 Heute sprechen w i r vom „Völkerrecht der Kooperation". 6 Ganz besonders ist also i n der Völkergemeinschaft, so es keinen Zwang zur Durchsetzung einer Weltautorität gibt, die Notwendigkeit der sozialen Ver3 Völkerrecht, Köln 3 1975, 8. 4 Versuche gab es durch den Völkerbund und die UNO, vgl. Ignaz Seidl-Hohenveldern, o. a. 274. 5 Vgl. Rudolf Weiler, o. a., 97. 6 Vgl. Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, Berlin 1981, 59 f.

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ständigung auf dem Fundament des guten Willens aus Einsicht, hier besonders i n Verbindung mit der „Kraft der Wahrheit" auf Frieden hin gegeben. Des Näheren sprechen Völkerrechtslehrer von Grundsätzen der „bona fides und der »Humanität 4 " 7 oder von „Treu und Glauben", einem Grundsatz, an den auch die UN-Charta ausdrücklich anknüpft und i m Artikel 2 Ziffer 2 die Mitglieder der UNO darauf verpflichtet. 8 Guter Glaube schließt, soll ein Vertrag beachtet werden, die Sorge um die Vertragswahrheit ein, also mehr als die Beachtimg einer grammatikalischen Auslegungstechnik. Praxis und Theorie der internationalen Politik und des Völkerrechts sind also vor das kritische Forum der Wahrheitsfrage gestellt. Unwahrheit, negativ, dient nach dem Wort Johannes Pauls IL der Sache des Krieges (Ziffern 1 und 2 des Aufrufs), während — positiv — die Wahrheit die Völker zum Frieden führt (Ziffern 5 bis 9). Die Wahrheit des Evangeliums (Ziffern 10 und 11) steht für den Christen als theologisches Argument, als letzte Einsicht aus dem Glauben, am Schluß des Appells.

VI. Der Mensch vor dem Anspruch der Wahrheit Das Gebot der Aufrichtigkeit steht also über den Staaten ebenso wie über den Menschen vor ihrer personalen Individualität wie vor ihrer sozialen Verantwortlichkeit. Die Übereinstimmung des Menschen mit seinem eigenen Selbst ist ebenso wie für die staatliche Gemeinschaft eine Gewissens- und Rechtsfrage und zugleich Auftrag zur Suche nach der Wahrheit. Diese wieder beginnt, wie es auch der Papst i m vorliegenden Appell zeigt, mit dem „Respekt vor der Wahrheit". Als Beispiel dieses Respekts hebt er gegen die Lüge und ihre Praktiken i m Leben auch der internationalen Gemeinschaft zuerst die Aufgabe hervor, alle Formen von sozialer Gewalt „beim Namen" zu nennen: „Mord bleibt Mord . . . " . Die Lüge darf niemals zur Waffe von Volk gegen Volk werden. Daher erfordert es gerade i n der internationalen Politik Mut, der Lüge zu begegnen, Gewalt gegen die Wahrheit anzuprangern und sich der Einsicht i n Wahrheit, beginnend mit der Hinwendimg zur Wahrheitseinsicht — der Papst spricht von „mutiger Intuition"! — zu öffnen. I n einem sehr beachtenswerten Vortrag zum hier besprochenen Thema des Weltfriedenstages 1980 hat Norbert Leser 9 sich u. a. mit Rechtspositivismus und Werterelativismus auseinandergesetzt. Nach ihm setzen intersubjektive 7 Siehe besonders Verdross / Simma, a. a. O., 61. 8 Fullfill in good faith the obligations . . . Vgl. Verdross / Simma, a. a. O, 234. 9 Wahrheit und Frieden, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, Nr. 24/25 Juli/Aug. 1980, 8-17.

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Strukturen immer auch ein „Ethos " voraus, auf das die Rechtsordnimg Rücksicht nehmen und darauf zurückgreifen muß. Lesers Beweisgang führt dann unter Verwendung des Satzes von „der normativen Kraft des Faktischen" gerade auf „die das Faktische steuernde Kraft des Normativen". Diese müsse man einsetzen, um den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit herauszustellen und so Friede i n Gerechtigkeit in der Völkergemeinschaft zu ermöglichen.

VII. Vom Wesen der Wahrheit Damit ist ein grundlegendes Thema menschlicher Wahrhaftigkeit angesprochen: Was ist Wahrheit? Gibt es Wahrheit? Ist nicht alles zuletzt von außen—soziologisch, historisch, wirtschaftlich—bedingt? Auch die internationale Politik ist vor die Frage nach dem Menschen als ihrem Subjekt und Maß zugleich gestellt. Ekkehart Krippendorff schreibt, seine Kollegen aus der Wissenschaft mahnend, dazu: 1 0 Nach dem Wissenschafts- und gar nach dem Wahrheitsbegriff zu fragen, gelte als unfair und werde als „Luxus oder i m Bereich persönlicher Überzeugungen liegend abgewiesen". Wenn Johannes Paul II. auf „bestimmte Ideologien", hier i m allgemeinen, aber oftmals auch namentlich auf lügnerische und unwahre Ideologien verweist, dann ist die in unserem Bezug allgemein verderbliche Grundideologie der relativistische Umgang mit dem Menschen. Der Weg zur Wahrheit ist nach dem päpstlichen Wort ein „langer Weg". Ideologien sind mit ihren Verkürzungen und Patentlösungen immer politische Irrwege. Niemals darf sich der Mensch aber der Forderung entziehen, bei seinem Tun nach Wahrheit zu streben, die „Wahrheit zu tun"! Daß die Wahrheit nach dem Wort des Papstes eine Kraft ist, sollte die Wissenschaft um ihrer eigenen Wirkung willen nie zu leugnen suchen. Sie tut es zumindest i n der Prüfung des empirisch Gegebenen für sich selbst zumeist nicht. I n der modernen Wissenschaftstheorie und i n neuzeitlichen Philosophien und Ethiken ist es aber zuweilen direkt Mode geworden, an der Kraft der Vernunft zu zweifeln, viel mehr, als daß sie sich bemühte, inhaltliche positive Moraltheorien zu entwickeln. U m so besser ist die Mahnung des Papstes zu verstehen, wer den Frieden will, der müsse mit dem „Willen zur Wahrheit" beginnen. Die Wahrheit ist letztlich eine fundamental ethische Frage, eine der Anthropologie. Johannes Messner hat i n seiner Kulturethik 1 1 sehr eindrucksvoll io Internationale Politik, Frankfurt 1987, 13 f.

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den Bezug von der Willensfreiheit des Menschen vom faktischen Erleben seiner Verantwortung, von seinem Verantwortungsbewußtsein als einem evidenten Vorgang abhängig gemacht. Folglich spricht er dann auch von der Aufgabe, bei der sittlichen Erziehung i m Bezug auf die Bildung der öffentlichen Meinimg von den seelisch-geistigen Grundlagen her, allseits den Sinn für den „ Wahrheitswillen" 12 zu wecken. Auch i n seiner Enzyklika Centesimus annus 1991 zur Jahrhundertfeier von Rerum novarum verweist Johannes Paul II. auf die Notwendigkeit der Willenszuwendung des Menschen zur Wahrheit, wenn er unter Berufung auf Leo X I I I . einen Freiheitsbegriff ablehnt, der die Bindung an die Wahrheit nicht kennt. 1 3 I n demselben Schreiben mahnt er zum „Gehorsam gegenüber der Wahrheit" und warnt vor den Folgen des Irrtums und dessen Auswirkungen i n Ideologien, die Haß und Ungerechtigkeiten legitimieren. 14

V m . Prinzipien des Friedens Auch das wohl grundlegende Dokument des päpstlichen Lehramts zum Frieden, die Enzyklika Johannes X X m . , Pacem i n terris, stellt unter den vier Prinzipien, die zum Frieden führen, neben Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit die Wahrheit an die Spitze: „Die Ordnung jedoch, die im menschlichen Zusammenleben waltet, ist ganz geistiger Natur: auf der Wahrheit aufruhend; ist sie nach den Geboten der Gerechtigkeit zu verwirklichen; sie verlangt, durch gegenseitige Liebe beseelt und zur Vollendung geführt zu werden; schließlich ist sie in ungeschmälerter Freiheit zu einer täglich menschenwürdigeren Harmonie zu gestalten". 15 Wenn der Papst auf die Förderung des Wahrheitswillens i n der Völkergemeinschaft — auch entgegen einem modernistischen Relativismus i n Theorie und Praxis, i n Wissenschaft und Alltagskultur — hinweist, dient er dem internationalen Gewissen. 16 Er wendet sich konkret gegen Pauschalurteile, so als gäbe es die prinzipielle Abstempelung von Menschen als „Gegner". Für ihn gibt es keine Resignation auf der Suche nach Wahrheit in der Ordnung der Völkergemeinschaft. Die Wahrheit steht immer zuletzt, nicht die Lüge. Dazu verweist er ausdrücklich auf die innere Logik und Wahrheit der h 12 13 h 15 16

Innsbruck 1954, 65 ff. a. a. O, 521. Vgl. Nr. 4. Nr. 17. Nr. 37. Vgl. Rudolf Weiler, a. a. O., 54 ff. (Weltgewissen).

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Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die ihren Weg der geschichtlichen Herausbildung bis zur heutigen Erkenntnis gegangen ist. Wie wichtig das Festhalten an der Wahrhaftigkeit i m Sinne der einmal erkannten Rechtsprinzipien und an der weiteren Suche nach Wahrheit i m internationalen Leben ist, zeigen die immer noch wirksamen politischen Ideologien mit ihren falschen Wahrheitsansprüchen oder ihren anthropologischen scientistischen Irrtümern. Überall i n der Welt entstehen die Probleme des Friedens aus Rassismus und Nationalismus, aus utilitaristischem Machtgebrauch i m Sinne egoistischer individueller wie sozialer Interessen. Die Mittel des Friedens liegen hier wieder im Streben nach Wahrheit, nach Verständnis und Verständigung und i n diesem Sinne i m Dialog.

IX. Toleranz und Wahrheit Der Papst spricht von „ehrenvoller Vereinbarung" als Frucht des Dialogs, von Überwindung des Mißtrauens, letztlich als Weg zur Kooperation. Wettrüsten ist niemals ein Weg aus der Krise, um Politik glaubhaft zu machen! Das bedeutet im Umgang mit der Wahrheit Toleranz, aber nicht Relativismus. „Auch zur Wahrheit", sagt uns der Papst, „gelangt man i m Dialog", und ruft nach „Bereitschaft zu einem aufrichtigen und beständigen Dialog". Die angesprochene Aufrichtigkeit ist das Kennzeichen der für einen solchen Dialog notwendigen Toleranz. Diese Toleranz nimmt den Partner des Dialogs in seiner Überzeugung ernst und also auch i n seiner grundsätzlichen Dialogfähigkeit als Mensch. Zugleich wahrt sie die eigene Überzeugung. Nur so ist der Weg zu „ehrenvollen Vereinbarungen" nach Johannes Paul II. offen, „ohne Preisgabe von Überzeugungen und wesentlichen Werten". 1 7 Toleranz ist also eine inhaltlich positive Tugend, weil sie nicht zuletzt durch ihren Beitrag zum „Klima der Aufrichtigkeit" i m Dienste der Wahrheit steht. Wahrheit bezieht die Richtigkeit der Aussagen und Inhalte aber letztlich aus der Übereinstimmimg derselben mit dem Menschsein. Der Papst nennt ausdrücklich „Natur und Ziel des Menschseins", Wahrheit also mit ihrem Fundament im Sein als Seinsordnung, die sich aus den Zweckbestimmungen der Existenz des Menschen ableitet. Eindeutig bezieht sich hier der Papst auf die Naturrechtsordnung „als Quelle wahren Friedens in Gerechtigkeit und Freundschaft". 18 Toleranz ist besonders auch zum richtigen Verständnis im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit gefordert. Den Bezug von Freiheit und Wahrheit in diesem Zusammenhang und zum Frieden hat Johannes Paul II. später in seiner Friedensbotschaft 1988 besonders behandelt: Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben.

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X. Der Friede ist machbar! Damit w i r d der Friedensbegriff vor allem auch i n der sittlichen Dimension als positiver inhaltlicher Begriff ausgewiesen, der als erfüllbare Aufgabe vor dem Menschen steht, der emanzipatorisch 19 zu verstehen ist und nach Friedensförderung verlangt. Für den Christen aus dem Glauben an die Wahrheit des Evangeliums folgt daraus i m Sinne der Schlußüberlegungen des Papstappells ein theologisches Argument für die volle Friedenskraft der Wahrheit. Diese ergibt sich fundamental aus dem Festhalten der Kirche an der Fähigkeit des Menschen zur Wahrheit kraft seiner Natur. Ebenso folgt daraus die Aufgabe der Kirche i m Dienste des Friedens, das Licht des Evangeliums zu verbreiten, mit der vollen Wahrheit den Frieden zu fördern. Wenn der Papst so den Friedensdienst der Kirche i n der Wahrheit begründet sieht und auf die Erkenntniskraft jedes Menschen, zur Wahrheit zu gelangen, verweist, ist der abschließende Appell an alle Menschen guten Willens zum Frieden klare Folgerung. So w i r d er durch das Tun der Wahrheit friedensfähig, und es w i r d dem Weltfrieden eine „neue Chance" gegeben. Die Wahrheit w i r d i n der ethischen Bestimmimg des Menschen zur „Energie" für den Weltfrieden.

iß Bei diesem Wortlaut sei auf die Naturrechtslehre Johannes Messners, Das Naturrecht, Berlin 7 1985, und seine Berufung auf die „existentiellen Zwecke" als Kriterium der Sittlichkeit verwiesen! iß Vgl. Rudolf Weiler, a. a. O., 69 ff.

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1981 „UM DEM

FRIEDEN ZU DIENEN, ACHTE DIE FREIHEIT"

An euch alle, die ihr am Aufbau des Friedens mitwirkt, an euch, die Verantwortlichen der Nationen, an euch, Brüder und Schwestern, Bürger dieser Welt, an euch, ihr jungen Menschen, die ihr von einer besseren Welt zu träumen wagt! A n euch alle, Männer und Frauen guten Willens, wende ich mich heute, um euch aus Anlaß des 14. Weltfriedenstages am 1. Januar 1981 einzuladen, über die Weltlage und das wichtige Anliegen des Friedens nachzudenken. Dazu bringt mich die feste Überzeugimg, daß der Frieden sehr wohl möglich ist, daß er aber zugleich eine immer neue Errungenschaft darstellt, einen Wert, der durch stets neue Anstrengung verwirklicht werden muß. Jede Generation erfährt auf neue Weise die ständige Herausforderung des Friedens in der Auseinandersetzung mit den täglichen Lebensproblemen. Ja, Tag für Tag muß das Ideal des Friedens von jedem einzelnen von uns i n konkrete Wirklichkeit übersetzt werden.

Um dem Frieden zu dienen , achte die Freiheit 1. Wenn ich heute als Gegenstand der Reflexion das Thema der Freiheit vorlege, dann schließe ich mich damit der Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIH. an, der die Freiheit dort als eine der „vier Säulen, die das Haus des Friedens tragen", bezeichnet hat. Die Freiheit entspricht einer tiefen Sehnsucht aller Menschen unserer heutigen Welt; das bezeugt unter anderem der häufige Gebrauch dieses Wortes „Freiheit", von den Gläubigen und den Atheisten, von den Wissenschaftlern und den Wirtschaftsführern, von den Menschen i n einer demokratischen Gesellschaft und von denen unter einem totalitären Regime. Jeder gibt diesem Wort einen besonderen Akzent und manchmal sogar eine grundverschiedene Bedeutung. Wenn w i r

Papst Johannes Paul II.

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dem Frieden dienen wollen, müssen w i r also verstehen, welches jene wahre Freiheit ist, die zugleich Wurzel und Frucht des Friedens ist. Verhältnisse,

die heute eine andere Besinnung erfordern

2. Der Friede muß i m Rahmen der Wahrheit geschaffen und auf die Gerechtigkeit gegründet werden; er muß von der Liebe beseelt und i n Freiheit gelebt werden (vgl. Pacem in terris). Ohne eine verbreitete tiefe Achtung der Freiheit erreicht der Mensch den Frieden nicht. Wir brauchen nur auf die Verhältnisse i n unserer eigenen Umgebimg zu schauen, um uns davon zu überzeugen. Denn das Panorama, das sich zu Beginn dieser achtziger Jahre unseren Augen bietet, scheint wenig ermutigend zu sein, wenn sich auch so viele Männer und Frauen, einfache Bürger wie auch verantwortliche Führer, mit aller Kraft, manchmal sogar angsterfüllt um den Frieden mühen. Ihre Sehnsucht nach wahrem Frieden w i r d aber nicht erfüllt, weil die Freiheit fehlt oder beeinträchtigt ist oder i n einem zweideutigen und sogar falschen Sinn ausgeübt wird. Was bedeutet denn die Freiheit von Völkern, deren Existenz, deren Wünsche und Verhaltensweisen von Furcht bestimmt sind anstelle von gegenseitigem Vertrauen, von Unterdrückung anstelle von freier Verwirklichung ihres Gemeinwohls? Die Freiheit ist verletzt, wenn die Beziehungen zwischen den Völkern nicht auf der Achtung der gleichberechtigten Würde eines jeden einzelnen gründen, sondern auf dem Recht des Stärkeren, auf dem Verhalten von Machtblöcken und auf militärischem oder politischem Imperialismus. Die Freiheit der Völker leidet Schaden, wenn die kleineren Nationen gezwungen sind, sich mit den größeren zu verbünden, um ihr Recht auf Selbständigkeit oder aufs Überleben gesichert zu wissen. Die Freiheit ist verletzt, wenn ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern aufgrund der ökonomischen oder finanziellen Vorherrschaft, wie sie von bessergestellten und starken Nationen ausgeübt wird, nicht mehr möglich ist. Und hat der Frieden i m Innern einer Nation, i m gesellschaftspolitischen Bereich, eine echte Chance, wenn ein freies Mitwirken an Entscheidungen, welche die Gemeinschaft betreffen, oder die freie Ausübung der Rechte des einzelnen nicht garantiert sind? Es gibt keine wahre Freiheit, die das Fundament des Friedens ist, wo alle Macht i n den Händen einer sozialen Klasse, einer Rasse oder einer Gruppe allein konzentriert ist oder wo das Gemeinwohl mit den Interessen einer einzigen Partei verwechselt wird, die sich mit dem Staat gleichsetzt. Es gibt keine wahre Freiheit, wenn die Freiheitsrechte der Einzelpersonen durch ein Kollektiv vereinnahmt werden, „indem man dem Menschen und seiner persönlichen wie sozialen Geschichte alle Trans-

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zendenz abspricht" (Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens, Nr. 26). Die wahre Freiheit fehlt gleichermaßen, wenn die verschiedenen Formen einer theoretisch vertretenen herrschaftsfreien Gesellschaft dazu führen, jegliche Autorität zurückzuweisen oder ständig i n Frage zu stellen, und i n ihrer extremen Spielart zu politisch motiviertem Terrorismus und zu blindwütenden Gewalttätigkeiten, ob spontan oder organisiert, ausarten. Es handelt sich nicht mehr um wahre Freiheit, wenn die innere Sicherheit des Staates zur einzigen und obersten Norm für die Beziehungen zwischen der politischen Autorität und den Bürgern erhoben wird, als wenn sie das alleinige oder hauptsächliche Mittel zur Erhaltung des inneren Friedens darstelle. Man kann i n diesem Zusammenhang nicht die Augen verschließen vor dem Problem einer systematischen oder selektiven Entführung und Verbannimg, deren Opfer so viele Menschen werden, darunter Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laienchristen, die sich für den Dienst am Nächsten einsetzen. 3. Im sozialen Bereich kann man schwerlich jene Männer und Frauen als wirklich frei bezeichnen, die keine Sicherheit für eine anerkannte und gerecht entlohnte Arbeit haben oder die, wie es i n so vielen Dörfern auf dem Lande vorkommt, immer noch so mancher Form von bedauerlicher Versklavung unterworfen sind, zuweilen Erbe einer Vergangenheit in Abhängigkeit oder einer kolonialen Mentalität. Andererseits gibt es auch keine ausreichende Freiheit für diejenigen, die sich infolge einer unkontrollierten Entwicklung der Industrie, der Städte oder der Bürokratie in einem gigantischen Räderwerk gefangen sehen, i n einem System vonMechanismen, die sie nicht gewollt haben oder noch nicht beherrschen und die keinen genügenden Raum mehr lassen für eine menschenwürdige soziale Entwicklung. Die Freiheit ist darüber hinaus, mehr als es scheinen mag, eingeschränkt i n einer Gesellschaft, die sich vom Dogma eines unbegrenzten materiellen Fortschritts, vom Besitzstreben oder vom Rüstungswettlauf bestimmen läßt. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die alle Gesellschaften trifft, droht, wenn sie nicht i m Zusammenhang mit den Grundsätzen einer anderen Ordnung gesehen wird, solche Maßnahmen auszulösen, die jenen Freiheitsraum noch mehr einschränken werden, dessen der Friede bedarf, um aufzublühen und zu reifen. Auch auf geistiger Ebene kann die Freiheit vielfältige Manipulationen erleiden. Dies ist der Fall, wenn die sozialen Kommunikationsmittel ihre Macht mißbrauchen, ohne sich um strenge Objektivität zu kümmern. Das trifft ferner zu, wenn psychologische Mittel ohne Rücksicht auf die Würde der Person eingesetzt werden. Ferner ist die Freiheit sehr unvollständig oder nur schwer auszuüben für Männer, Frauen und Jugendliche, deren Analphabetismus eine Art von ständiger Versklavung darstellt i n einer Gesellschaft, die Kultur voraussetzt.

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Papst Johannes Paul I

A n der Schwelle des Jahres 1981, das von den Vereinten Nationen zum Jahr des behinderten Menschen erklärt worden ist, müssen schließlich i n diesen Überblick auch unsere Brüder und Schwestern eingeschlossen werden, die körperlich oder geistig behindert sind. Ist sich unsere Gesellschaft ihrer Verpflichtimg genügend bewußt, solche Mittel zur Verfügung zu stellen, die es den Behinderten gestatten, leichter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und auch Zugang zu einer menschlichen Entwicklung zu haben, die ihren Personrechten sowie ihren Anliegen i n würdiger Weise entspricht?

Ermutigende Bemühungen und lobenswerte Verwirklichungen 4. Neben diesen typischen Beispielen von Behinderung der rechten Entfaltung der Freiheit durch mehr oder weniger schwerwiegende Umstände — die aber geändert werden könnten—gibt es indes auch eine andere, posititive Seite i m B i l d der Welt von heute auf ihrer Suche nach Frieden i n Freiheit. Es gibt ungezählte Männer und Frauen, die an dieses Ideal glauben, die sich einsetzen, um mit ihrer Freiheit dem Frieden zu dienen, ihn zu achten, zu fördern, zu fordern und zu verteidigen, und die zu den Anstrengungen und Opfern bereit sind, welche dieser Einsatz verlangt. Ich denke an die Staatsund Regierungschefs, die Politiker, die Verantwortlichen i n internationalen und gesellschaftlichen Leben auf allen Ebenen, die sich bemühen, die feierlich verkündeten Freiheiten allen zugänglich zu machen. Ich denke an all jene, die aus dem Wissen, daß Freiheit unteilbar ist, i m Wechsel der Situationen unbeirrbar auf neue Freiheitsverletzungen i m persönlichen, familiären, kulturellen, sozio-ökonomischen und politischen Leben i n aller Objektivität aufmerksam machen. Ich denke an die Männer und Frauen überall auf der Erde, die sich für eine Solidarität über alle Grenzen hinweg begeistert haben und für die es unmöglich ist, i n einer weltweit gewordenen Zivilisation ihre eigene Freiheit von jener Freiheit zu trennen, um deren Erlangung oder Bewahrung ihre Brüder und Schwestern i n anderen Kontinenten ringen. Ich denke besonders an die Jugendlichen, die daran glauben, daß man nur dann wahrhaft frei wird, wenn man sich um dieselbe Freiheit für die anderen bemüht. Die Verwurzelung

der Freiheit im Menschen

5. Die Freiheit ist i m wesentlichen dem Menschen eingeschrieben, sie gehört wesenhaft zur menschlichen Person und ist Merkmal seiner Natur. Denn die Freiheit der Person gründet i n ihrer transzendenten Würde, die ihr von Gott, ihrem Schöpfer, gegeben wurde und die sie auf Gott hin ausrichtet.

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Aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1, 27) gehört zum Menschen untrennbar die Freiheit, und keine Gewalt, kein Zwang von außen kann sie je aufheben; sie ist ein Grundrecht. Das gilt für den Menschen als Individuum wie als Glied der Gesellschaft. Der Mensch ist frei, weil er das Vermögen besitzt, sich i m Licht des Wahren und des Guten zu entscheiden. Er ist frei, weil er die Fähigkeit der Wahl besitzt, „personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder unter bloßem äußeren Zwang" (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 17). Frei sein, das heißt: wählen können und wollen; frei sein heißt, nach seinem Gewissen leben. Die Förderung freier Menschen in einer freien Gesellschaft 6. Der Mensch muß folglich die Möglichkeit haben, seine Entscheidungen i m Hinblick auf die von ihm bejahten Werte zu fällen. Das ist seine Verantwortimg, und Sache der Gesellschaft ist es, diese Freiheit unter Berücksichtigung des Gemeinwohls zu fördern. Der erste und grundlegende dieser Werte ist stets die Beziehung zu Gott, die sich i n den religiösen Überzeugungen ausdrückt. So w i r d die Religionsfreiheit zur Grundlage der anderen Freiheiten. Im Hinblick auf das Madrider Treffen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa konnte ich wiederholen, was ich seit Beginn meines Dienstes immer wieder betone: „Die Gewissens« und Religionsfreiheit .. i s t . . . ein ursprüngliches und unveräußerliches Recht der Person; mehr noch: insoweit sie den innersten Kern alles Geistigen betrifft, kann man sogar sagen, daß sie die i n jeder Person tief verankerte Begründung der anderen Freiheiten darstellt" (Die Religionsfreiheit und die Schlußakte von Helsinki, Nr. 5; vgl. L'Osservatore Romano 15. November 1980). Die verschiedenen veantwortlichen Stellen i n der Gesellschaft müssen die Ausübung der wahren Freiheit i n all ihren Äußerungen ermöglichen. Sie müssen bemüht sein, jedem Mann und jeder Frau die Möglichkeit einer vollen Selbstverwirklichung zu sichern. Sie müssen ihm einen rechtlich geschützten Freiraum zuerkennen, damit er als einzelner und auch i n Gemeinschaft nach dem Anspruch seines Gewissens leben kann. Auf eine solche Freiheit berufen sich ja auch die wichtigsten internationalen Erklärungen und Verträge, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die diesbezüglichen internationalen Konventionen, und ebenso die große Mehrheit der einzelnen Verfassungen. Das ist auch nicht mehr als gerecht; denn als Mandatsträger seiner Bürger muß der Staat die grundlegenden Rechte der Person nicht nur anerkennen, sondern auch schützen und fördern. Er wird diese positive Rolle wahrnehmen unter Beachtung der Gesetze und i n Ausrichtung auf das Ge-

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Papst Johannes Paul I

meinwohl nach den Forderungen des Sittengesetzes. Die frei gebildeten gesellschaftlichen Gruppen i m Zwischenbereich werden auf ihre Weise ebenfalls zum Schutz und zur Förderung der Freiheiten beitragen. Diese hohe Aufgabe stellt sich allen aktiven Kräften der Gesellschaft. 7. Doch ist die Freiheit nicht nur ein Recht, das man für sich selbst beansprucht; sie ist auch eine Pflicht, die man anderen gegenüber auf sich nimmt. U m wahrhaft dem Frieden zu dienen, muß die Freiheit jedes Menschen und jeder menschlichen Gemeinschaft die Freiheit und das Recht der anderen Menschen und Gemeinschaften achten. Darin findet sie ihre Begrenzung, aber auch ihre innere Logik und Würde. Denn der Mensch ist von Natur auf Gemeinschaft angelegt. Manche Formen von „Freiheit" verdienen diesen Namen nicht; die Freiheit muß wachsam verteidigt werden vor den verschiedensten Zerrbildern. So kann die Konsumgesellschaft i n ihrem Überfluß an nicht notwendigen Gütern i n einem gewissen Sinn einen Mißbrauch der Freiheit darstellen, wenn das immer unersättlichere Verlangen nach Gütern nicht dem Gesetz der Gerechtigkeit und der sozialen Liebe untergeordnet ist. Eine solche Konsumpraxis beschneidet nämlich die Freiheit der anderen; ja, aus der Sicht der internationalen Solidarität beeinträchtigt sie sogar das Leben ganzer Gesellschaften, die nicht über das Minimum verfügen, das sie für ihre Grundbedürfnisse bräuchten. Zonen extremen Elendes auf dieser Erde, Hunger und Unterernährung sind ernste Fragen an jene Länder, die sich frei entwickelt haben, ohne die zu beachten, welche oft nicht das Minimum hatten — und manchmal vielleicht auf deren Kosten. Ja, auch in den reichen Ländern selbst ist das ungezügelte Streben nach materiellen Gütern und allen möglichen Annehmlichkeiten für deren Nutznießer nur scheinbar freiheitsfördernd, weil es den materiellen Besitz als entscheidenden menschlichen Wert hinstellt, anstatt daß ein gewisser materieller Wohlstand nur als Voraussetzung und Mittel für die volle Entfaltung der Anlagen des Menschen — i n Zusammenarbeit und Harmonie mit seinen Mitmenschen — angesehen wird. I n gleicher Weise verwehrt eine rein materialistisch begründete Gesellschaft dem Menschen die Freiheit, wenn sie die individuellen Freiheiten dem Primat der Wirtschaft unterordnet, wenn sie i m Namen einer falschen ideologischen Vereinheitlichimg die geistig schöpferische Kraft des Menschen unterdrückt, wenn sie die Ausübung des Rechtes auf Zusammenschluß verweigert, wenn sie die Möglichkeit, das öffentliche Leben mitzugestalten, praktisch auf ein Nichts reduziert oder wenn sie auf diesem Gebiet so handelt, daß Individualismus und passive Distanz i m bürgerlichen und sozialen Leben zur allgemeinen Haltung werden.

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Schließlich ist zu sagen, daß die wahre Freiheit auch i n der permissiven Gesellschaft nicht gefördert wird, welche die Freiheit mit der Erlaubnis zur Willkür verwechselt und i m Namen der Freiheit eine Art von allgemeiner Sittenlosigkeit verkündet. Die Behauptung, der Mensch sei frei, sein Leben unabhängig von sittlichen Werten zu gestalten, und die Gesellschaft brauche diese Werte nicht zu schätzen und zu fördern, ist eine Karikatur der Freiheit. Eine solche Haltung zerstört Freiheit und Frieden. Es gibt zahlreiche Beispiele für diese irrige Auffassung von Freiheit, so die Vernichtung von Menschenleben durch geduldete oder legalisierte Abtreibung.

Die Förderung freier

Völker in einer freien Welt

8. Die Achtung der Freiheit der Völker und Nationen ist ein wesentlicher Bestandteil des Friedens. Es sind immer wieder Kriege ausgebrochen, und ganze Völker und Kulturen sind der Zerstörung anheimgefallen, weil die Souveränität eines Volkes oder einer Nation nicht geachtet worden ist. Alle Kontinente sind Zeugen und Opfer mörderischer Bruderkriege und Kämpfe gewesen, die durch den Versuch einer Nation, die Autonomie einer anderen zu beschränken, hervorgerufen wurden. Man kann sich sogar fragen, ob der Krieg nicht eine normale Gegebenheit unserer Zivilisation zu werden — oder zu bleiben — droht mit „begrenzten" bewaffneten Konflikten, die sich lange hinziehen, ohne daß sich die öffentliche Meinimg darüber empört, oder mit einer Kette von Bürgerkriegen. Die direkten und indirekten Gründe dafür sind vielfältig und komplex: territorialer Expansionismus, ideologischer Imperialismus, für dessen Erfolg man Waffen anhäuft, die die totale Vernichtung herbeiführen können, ferner fortgesetzte wirtschaftliche Ausbeutung, Überbetonung territorialer Sicherheit, ethnische Unterschiede, die durch den Waffenhandel ausgenutzt werden, und vieles andere mehr. Was auch immer der Grund sein mag, diese Kriege enthalten i n sich Unrecht, Menschenverachtung oder Haß und beeinträchtigen die Freiheit. Ich habe dies im vergangenen Jahr vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen unterstrichen: „Die Kriegslust i n ihrer ursprünglichen, grundlegenden Bedeutung keimt und reift dort, wo die unveräußerlichen Menschenrechte verletzt werden. Das ist eine neue Sicht der Sache des Friedens, zutiefst aktuell und zugleich wesentlicher und radikaler. Es ist eine Sicht, die das Entstehen des Krieges und in gewissem Sinne auch seine Substanz i n allen möglichen Formen der Ungerechtigkeit unter ihren verschiedensten Aspekten erblickt; diese greift zunächst die Menschenrechte an und zerreißt dadurch die organische Einheit der sozialen Ordnung und erschüttert schließlich das gesamte Gefüge der internationalen Beziehungen." (Nr. 11). 5 Johannes Paul n.

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9. Ohne den Willen, die Freiheit jedes Volkes, jeder Nation oder Kultur zu achten, und ohne einen diesbezüglichen weltweiten Konsens w i r d es schwierig sein, die Voraussetzungen für den Frieden zu schaffen. Dennoch muß man den Mut haben, sie i n Angriff zu nehmen. Dies verlangt von jeder Nation und ihren Regierungen den bewußten und öffentlichen Verzicht auf Ansprüche und Ziele, die die anderen Nationen beeinträchtigen, das heißt den Verzicht auf die Billigung jeglicher Doktrin nationaler oder kultureller Vorherrschaft. Ebenso muß man bereit sein, die inneren Entwicklungen der anderen Nationen zu achten, ihre Personalität inmitten der Menschheitsfamilie anzuerkennen und somit jede Art von Politik zu überprüfen und zu korrigieren, die praktisch eine Einmischung oder eine Ausbeutimg i m w i r t schaftlichen, sozialen oder kulturellen Bereich bedeuten könnte. I n diesem Zusammenhang möchte ich dafür plädieren, daß die Völkergemeinschaft sich noch mehr darum bemüht, jungen Nationen oder Entwicklungsländern zu helfen, die volle Verfügung über ihre eigenen Naturschätze und auf dem Gebiet der Ernährung und der wesentlichen Lebensbedürfnisse Autonomie zu erlangen. Ich bitte die reichen Länder, ihre Hilfe vor allem auf das vordringliche Anliegen zu richten, das extreme Elend wirksam zu beheben. Die entsprechende Überarbeitung der rechtlichen Mittel ist von Bedeutung für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Nationen. U m die Freiheit zu schützen, ist es wichtig, auch zur Kodifizierung jener konkreten Schlußfolgerungen beizutragen, die sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergeben. I n die Achtung der Identität der Völker möchte ich besonders auch das Recht eines jeden Volkes einschließen, seine religiösen Traditionen i m eigenen Land und durch die anderen Nationen respektiert zu sehen, sowie das Recht, sich im Bereich der Religion, der Kultur, der Wissenschaft und der Erziehung am freien Austausch zu beteiligen. In einem Klima des Vertrauens und der Verantwortung 10. Die beste Garantie für die Freiheit und ihre volle Verwirklichung liegt i n der Verantwortung der Menschen und Völker, i n den Anstrengungen, welche die einzelnen i n ihrem jeweiligen Bereich, i n ihrer unmittelbaren Umgebung, auf nationaler und internationaler Ebene konkret unternehmen. Denn die Freiheit ist nicht einfach gegeben. Sie muß ununterbrochen neu erworben werden. Sie ist verbunden mit dem Bewußtsein um die Verantwortung, die einem jeden obliegt. Man macht die Menschen nicht frei, ohne sie gleichzeitig aufgeschlossener und verantwortungsbewußter für die Belange des Gemeinwohls zu machen.

Botschaft zum Weltfriedenstag 198

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Es ist notwendig, dafür ein Klima gegenseitigen Vertrauens zu schaffen und zu festigen, ohne das die Freiheit sich nicht entfalten kann. Es ist allen offenkundig, daß dies die unerläßliche Voraussetzimg für einen wahren Frieden und dessen erste Ausdrucksform ist. Aber auch das Vertrauen ist wie die Freiheit und der Frieden nicht einfach gegeben: es muß erworben, es muß verdient werden. Wenn der einzelne Mensch seine Verantwortung für das Gemeinwohl nicht wahrnimmt und eine Nation sich für das Geschick der Welt nicht mitverantwortlich fühlt, ist das Vertrauen kompromittiert; erst recht, wenn man die anderen nur für seine eigenen egoistischen Ziele mißbraucht oder wenn man einfach Praktiken verfolgt, die darauf abzielen, die eigenen Interessen über die legitimen Interessen der anderen zu stellen. Nur das Vertrauen, das man sich durch konkreten Einsatz für das Gemeinwohl erworben hat, kann zwischen den Menschen und den Nationen die Achtung der Freiheit ermöglichen, die ein Dienst am Frieden ist. Die Freiheit der Kinder Gottes 11. Gestattet mir, daß ich mich abschließend noch eingehend an diejenigen wende, die mit mir i m Glauben an Christus verbunden sind. Der Mensch kann nicht wirklich frei sein noch die wahre Freiheit fördern, wenn er nicht die Transzendenz seines Seins über die Welt hinaus und seine Beziehung zu Gott anerkennt und lebt; denn die Freiheit ist immer die des Menschen, der nach dem Bild seines Schöpfers geschaffen ist. Der Christ findet i m Evangelium eine Bestätigung und Vertiefung dieser Überzeugung. Christus, der Erlöser des Menschen, macht frei. „Wenn euch der Sohn frei macht, dann seid ihr i n Wahrheit frei", sagt der Apostel Johannes (Joh 8, 36). Und der Apostel Paulus fügt hinzu: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit" (2 Kor 3, 17). Frei sein von Ungerechtigkeit, von Furcht, von Zwang, von Leid würde nichts nützen, wenn man i n der Tiefe des Herzens ein Sklave, ein Sklave der Sünde bleiben würde. Um wirklich frei zu sein, muß der Mensch von dieser Versklavung befreit und i n eine neue Kreatur verwandelt werden. Die radikale Freiheit des Menschen hat ihren Raum im innersten Kern des Menschen, dort wo er sich i n der Bekehrung des Herzens für Gott öffnet; denn im Herzen des Menschen liegen die Wurzeln aller Zwänge, aller Verletzungen der Freiheit. Schließlich kommt für den Christen die Freiheit nicht vom Menschen selbst: sie zeigt sich i m Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes und i n der Treue zu seiner Liebe. Hier findet der Jünger Christi die Kraft, um für die Freiheit i n der Welt zu kämpfen. Angesichts der Schwierigkeiten dieser Aufgabe läßt er sich nicht zu Untätigkeit oder Mutlosigkeit verleiten; denn er setzt seine Hoffnung auf Gott, der unterstützt und fruchtbar macht, was immer i n seinem Geist getan wird. *

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Die Freiheit ist das Maß der Reife eines Menschen und einer Nation. Somit kann ich meine Botschaft nicht beenden, ohne noch einmal den eindringlichen Aufruf zu wiederholen, den ich schon am Anfang an euch gerichtet habe: Wie der Frieden ist auch die Freiheit eine Anstrengung, die man immer wieder neu unternehmen muß, um dem Menschen sein volles Menschsein zu geben. Erwarten w i r nicht den Frieden vom Gleichgewicht des Schreckens! Nehmen w i r die Gewalt nicht als einen Weg zum Frieden! Beginnen w i r vielmehr damit, die wahre Freiheit zu respektieren: Der Frieden, der daraus erwächst, w i r d imstande sein, die Erwartung der Welt zu erfüllen; denn er w i r d gerecht sein und sich auf die unvergleichliche Würde des freien Menschen gründen. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1980. JOANNES PAULUS PP. E

U M D E M FRIEDEN Z U DIENEN, ACHTE DIE FREIHEIT Von Wladyslaw Bartoszewski *

Freiheit — es gibt kein zweites Wort, das so oft ertönt. Über die Bedeutimg des Wortes w i r d leider nicht immer nachgedacht. Wir haben es gelernt, trotz der schmerzlichen Erfahrungen der Geschichte, die Freiheit als eine Selbstverständlichkeit anzunehmen. Sehr oft w i r d der Begriff „Freiheit" aus seinem breiten Zusammenhang gerissen und isoliert betrachtet. Vor allem aber w i r d oft übersehen, daß der Freiheit die wichtige Aufgabe zukommt, „eine der vier Säulen, die das Haus des Friedens tragen", zu sein, wie es Papst Johannes X X I I I . so sinnbildlich i n seiner Enzyklika „Pacem i n terris" formulierte. Da die Freiheit für den Frieden eine unentbehrliche Voraussetzung ist, gilt es allen Menschen deutlich darzulegen, daß der Weg zum Frieden nur durch die Freiheit führt. Es wundert daher auch nicht, daß der Heilige Vater, Papst Johannes Paul II. als Thema seiner Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1981 die Freiheit i n ihrem engen Zusammenhang mit dem Frieden gewählt hat. „ Um dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit." Dieser lakonische, sehr schöne und kluge Satz sollte uns allen, den Menschen auf der ganzen Welt, ein Motto sein. Friede vor allem, scheint uns der Satz schon mit der Reihenfolge der Wörter „Friede" und „Freiheit" zu sagen. Auf die Freiheit w i r d hier aber als auf einen für den Frieden relevanten Wert hingewiesen. Die Botschaft des Heiligen Vaters entwickelt konsequent diese Behauptung, indem sie die Freiheit als Fundament des Friedens bezeichnet und sich nicht mit einer allgemeinen Definition der Freiheit zufriedengibt, sondern den Begriff der Freiheit zahlreichen Ebenen des menschlichen Daseins zuordnet. Der Lehrsatz der Vielschichtigkeit der Freiheit und der engen Verknüpfung von Freiheit und Frieden ist für ein besseres Verständnis der Labilität des Friedens von großer Bedeutung. Das Verständnis w i r d aber dadurch erschwert, daß nicht jeder Mensch, nicht jede Gemeinschaft oder Gruppe die Freiheit als eines der kostbarsten menschlichen Güter ansieht. Nicht viel besser sieht * Wladyslaw Bartoszewski, Dr. h. c. mult., ordentlicher Professor der Politischen Wissenschaften in München, Augsburg und Eichstätt, Historiker, Schriftsteller, derzeit Botschafter der Republik Polen in Österreich.

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es mit der Wertschätzung des Friedens aus. Die Bereitschaft zu gewaltsamen Lösungen von Problemen ist immer noch erschreckend groß i n der Welt. Diese Tatsache w i r d nur dadurch etwas gemildert, daß selbst gewaltsame Handlungen, die der Austragung eines Konfliktes dienen, letzten Endes auf die Erzwingung des „Friedens" abzielen. Meistens w i r d der Friede, verstanden als Zustand des Mangels von unmittelbarer Gewalt, dem gewaltsamen Konflikt (z. B. Krieg) vorgezogen. Es ist also wohl leichter, dem Menschen die Notwendigkeit des Friedens zu Bewußtsein zu bringen als die der Freiheit. Denn mögen auch manche Menschen den Wert der Freiheit nicht zu schätzen wissen und ihre Freiheit, sei es für eine privilegierte Stellung, sei es für eine bescheidene, aber (scheinbar) gesicherte Existenz preisgeben (oder sich dafür zumindest mit dem Verlust der Freiheit abfinden und den Zustand der Uii^ freiheit opportun akzeptieren), so w i r d doch der Friede — die Grundbedingung der Existenz schlechthin, die Antithese des die menschliche Existenz vernichtenden Krieges — von jedem Menschen, unabhängig von seinem geistigen Niveau oder Weltanschauung, als erstrebenswert angesehen. Den Menschen bewußt zu machen, daß Friede ohne Freiheit nur ein Trugbild ist und daß der Kampf für die Freiheit letztendlich auch dem Frieden zugute kommt, war und ist ein Anliegen der moralischen Autoritäten, allen voran der Katholischen Kirche. Es ist keine leichte Aufgabe, schon wegen der erwähnten Vielschichtigkeit der Begriffe „Freiheit" und „Frieden". Einer der größten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Karl Jaspers, hat 1958 drei Grundsätze formuliert, die auf die große Bedeutung der Freiheit für den Frieden hinweisen und gleichzeitig den Frieden als einen auf zwei Ebenen — der inneren und der äußeren — stattfindenden Zustand bezeichnen: „Erstens: Kein äußerer Friede ist ohne den inneren Frieden der Menschen zu halten. Zweitens: Friede ist allein durch Freiheit. Drittens: Freiheit ist allein durch Wahrheit". Und weiter, noch eindeutiger über das Verhältnis Freiheit — Friede: „Erst die Freiheit, dann der Friede in der Welt! Die umgekehrte Forderung: ,Erst Friede, dann Freiheit' täuscht. Denn ein durch Zufall oder durch Despotie oder geschickte Operation oder durch Angst aller Beteiligten für den Augenblick bestehender äußerer Friede ist nicht ein i m Grunde des Menschen selbst gesicherter Friede. Er würde aus dem faktischen Unfrieden, der Unfreiheit der einzelnen bald wieder zum Krieg führen."** Die Sache des Friedens hat ein besonderes Gewicht. Sie ist untrennbar von der Sache der Freiheit des einzelnen Menschen der Völker und verschiedener Gruppen, von Glaubensfreiheit und Weltanschauungsfreiheit, der M

Dankrede nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main im Oktober 1958.

Um dem Frieden zu dienen, achte die Freiheit

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Freiheit der Wahl der Lebensweise, des politischen und wirtschaftlichen Systems, von der Freiheit des Wortes und dem Freisein von Angst, auch der Angst, die die sozial Schwachen ihr ganzes Leben lang begleitet. So lange diese sowohl geistigen als auch materiellen Existenzbedingungen der Menschen nicht erfüllt sind, so lange werden wir die Fundamente eines dauernden Friedens nicht sichern. Selbst dann nicht, wenn wir uns ihnen i n einigen Fällen nähern würden. Der Zusammenhang Freiheit — Friede w i r d durch den Grundsatz der Wahrheit ergänzt. Dort, wo die Wahrheit unterdrückt wird, kann es auch keine Freiheit geben. Nicht zufällig sprechen w i r oft von „wahrer" Freiheit. Schon so viele Male wurde Unfreiheit als Freiheit dargestellt, ganze Völker wurden unterjocht unter dem Vorwand der Befreiung, selbst totalitäre Regime behaupteten so oft, die Freiheit sichern zu wollen. „Der Friede muß-im Rahmen der Wahrheit geschaffen und auf die Gerechtigkeit gegründet werden", sagt uns Johannes Paul II. i n seiner Botschaft. Gerechtigkeit bedeutet aber i m Grunde genommen immer das unbedingte Streben nach der Wahrheit, folglich kann die Gerechtigkeit als Ausdruck der Wahrheitssuche interpretiert werden. Dies ist i n der Organisation einer demokratischen Gesellschaft sichtbar, i n der alle Mechanismen der Gerechtigkeit letzten Endes der Wahrheitsfindung und nie einer höheren, behebig vom Machtapparat interpretierbaren Staatsräson dienen sollen. Der Spruch „Veritatem sequi et tuen iustitiam" bleibt ein unerschütterlicher Grundsatz, wenn Friede herrschen soll. Die Botschaft des Papstes berücksichtigt die verschiedenen Aspekte der Freiheit, auch diese, die sich aus dem wirtschaftlichen System der modernen Welt ergeben. Sie setzt klare Zeichen, indem sie z. B. das Gebot der internationalen Solidarität als moralisches Maß benützt, um so die Grenzen unserer (Konsum-)Freiheit zu verdeutlichen. Unter diesem internationalen Aspekt übt der Papst eine berechtigte K r i t i k an einer i m Grunde orientierungslosen materialistischen Konsumgesellschaft, deren Gier Ausbeutung und Elend der schwächeren und unterentwickelten Völker dieser Welt zur Folge hat und deren „Freiheit" — die meisten Mittel und Ressourcen unseres Planeten nur für sich zu beanspruchen und allein zu verbrauchen — die Freiheit der Ärmeren bedeutend beeinträchtigt. Die Existenz des vielzitierten Nord-SüdGefälles ist i n diesem Lichte eigentlich als Folge eines schweren Verstoßes der reichen Völker dieser Welt gegen das Gebot der Nächstenhebe anzusehen. Daß dieses Gefälle eine potentielle Bedrohung für den Frieden ist, braucht nicht betont zu werden, setzen sich doch schon seit Jahren so viele Politiker und Politikwissenschaftler mit diesem Problem auseinander.

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Dem Problem der modernen Konsumgesellschaft w i r d vom Papst auch i m gesellschaftlichen Aspekt besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zurecht weist der Heilige Vater darauf hin, daß „manche Formen von,Freiheit' diesen Namen nicht verdienen", wobei hier vor allem der ins Absurde wachsende Verbrauch von Gütern, der auf Kosten so mancher Mitmenschen gehen muß, und der seinem Wesen nach wohl eher eine Versklavung als Befreiung des auf diese rücksichtslose A r t Konsumierenden darstellt, angeprangert wird. In diesem Zusammenhang kommt auch eine kritische Haltung sowohl zum „die individuellen Freiheiten dem Primat der Wirtschaft unterordnenden" Totalitarismus wie auch zum „die Freiheit mit der Erlaubnis zur Willkür verwechselnden" Liberalismus zur Geltung. Auch das sogenannte „kapitalistische" Wirtschaftssystem, obwohl es die Voraussetzungen für die Entstehung der Demokratie geschaffen hat, w i r d hier wegen seiner manchmal nur scheinbaren Freiheitsförderung kritisiert, „weil es den materiellen Besitz als entscheidenden menschlichen Wert hinstellt, anstatt daß ein gewisser materieller Wohlstand nur als Voraussetzung und Mittel für die volle Entfaltung der Anlagen des Menschen — i n Zusammenarbeit und Harmonie mit seinen Mitmenschen — angesehen wird." Indem der Papst ausdrücklich auf den sozialen Aspekt der Freiheit hinweist, macht er uns auf die sich aus der wirtschaftlichen Schwäche des Einzelnen (und ganzer Gesellschaftsgruppen) ergebende Unfreiheit aufmerksam. Dieser Appell, das soziale Umfeld des Menschen und sein Bedürfnis nach einer gesicherten und menschenwürdigen Existenz zu achten, liegt ganz i m Sinne der Soziallehre der Kirche — insbesondere der Enzyklika „Laborem excercens". Der soziale Aspekt der Freiheit ist für den Frieden von großer, obschon nicht immer wahrgenommener Bedeutung. Das soziale Elend, das selbst i n den fortschrittlichsten und wohlhabendsten Ländern der Welt immer noch nicht ganz ausgestorben ist, und das für die Betroffenen i m Grunde genommen eine bedeutende Einschränkung ihrer Freiheit auf eine ungehinderte, freie geistige und kulturelle Entwicklung und Persönlichkeitsentfaltung darstellt, ist eine akute Bedrohimg für den sozialen Frieden. Diese Behauptung mit Beispielen zu belegen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, deshalb sei an dieser Stelle nur das Problem der Arbeitslosigkeit und der ihr oftmals folgenden Radikalisierung i m politischen Leben signalisiert. M i t der sozialen Problematik stehen auch die Grenzen der Freiheit i n engem Zusammenhang. Die Freiheit des einen steht der Freiheit des anderen Menschen gegenüber. Somit findet auch die äußere Freiheit des menschlichen Individuums seine natürlichen Grenzen. Diese Grenzen zu beachten, hilft den Frieden zwischen einzelnen Menschen, in der Familie, zwischen Nach-

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barn, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sichern. Völker und Nationen kann man i n einem gewissen Maß durchaus mit Individuuen vergleichen. Auch Nationen müssen, wollen sie i m Frieden miteinander leben, einander respektieren und „auf Ansprüche und Ziele, die die anderen Nationen beeinträchtigen", verzichten können. Aus dem Recht der individuellen oder gemeinschaftlichen Freiheit erwächst jedoch auch die Pflicht eines jeden Menschen, jeden Volkes oder Nation, die Freiheit des Anderen zu respektieren. Das Wort der Andere sei hier besonders betont und unterstrichen. Es ist nämlich auch das Respektieren von Menschen, Völkern, Nationen, die anders sind als wir, also die Toleranz — neben der Wahrheit und Gerechtigkeit die dritte treue Begleiterin der Freiheit —, die uns hilft, uns den Frieden zu wahren. Wie den äußeren und inneren Frieden gibt es auch die äußere und innere Freiheit. Die innere Freiheit des Menschen ist, i m Unterschied zu der äußeren, niemals ein objektiver Zustand. Sie ist nicht gegeben, man kann sie nur mühsam erlangen. Sie ist subjektiv, unzertrennlich mit dem Innersten, dem Herzen des Menschen verbunden. Es mag pathetisch klingen, aber selbst ein Sklave kann innerlich frei sein. Waren es nicht die ersten Christen — viele von ihnen Sklaven? I n unserer modernen, rasanten Zeit des Fortschritts, der Entwicklung, sollte nicht jeder von uns wenigstens einen kurzen Augenblick innehalten und sich selbst fragen: „wie kann ich frei werden?" Diese Art von Freiheit ist die schwierigste, denn wer ist nicht „ i n der Tiefe des Herzens ein Sklave, ein Sklave der Sünde". Es ist aber wichtig, nach dieser Freiheit zu streben und streben zu wollen. Dem Christen bleibt hier auch die Hoffnung auf Gott, seine Liebe und seine Hilfe. Im innigen, ehrlichen Gebet ist man frei, mit Gott verbunden. Vor einem ähnlichen Dilemma stehen wir, sobald w i r uns über den inneren Frieden Gedanken machen. Ist der innere Friede überhaupt möglich? Kann denn der Mensch den inneren Frieden finden, solange es i n der Welt so viel Ungerechtigkeit gibt? Es scheint, als wäre dies nicht zeit seines Lebens möglich. „Requiescat in pace" bedeutet, daß man seinen Frieden nur i n Gott finden kann. Es darf sich jedoch kein Christ, kein Mensch mit dieser Interpretation abfinden, es wäre zu einfach. Es ist nicht leicht, Mensch zu sein, denn das heißt, immer wieder seine Gottebenbildlichkeit unter Beweis zu stellen, und nach der Vollkommenheit zu trachten. Sicher werden weder die Welt noch die Menschen je vollkommen sein, aber w i r müssen alles tun — ganz im Sinne der päpstlichen Botschaft —, um erst die Freiheit zu erlangen, aus der dann der Friede für uns alle — Christen und Nichtchristen, Gläubige und Nichtgläubige, für uns Menschen — erwächst.

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1982 „FRIEDEN: GOTTES GESCHENK, DEN

MENSCHEN ANVERTRAUT"

A n euch Jugendliche, die morgen die großen Entscheidungen dieser Welt treffen werdet, an euch Männer und Frauen, die ihr heute Verantwortimg für das Leben der Gesellschaft habt, an die Familien und Erzieher, an die einzelnen und an Gemeinschaften, an die Staatsoberhäupter und Regierungen, an euch alle richte ich diese Botschaft am Beginn des Jahres 1982. Ich lade euch ein, zusammen mit mir über das Thema dieses neuen Weltfriedenstages nachzudenken: Frieden, Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut. Diese Wahrheit stellt sich uns immer dann vor Augen, wenn w i r unseren persönlichen Einsatz bestimmen und Entscheidungen hierzu treffen wollen. Diese Wahrheit spricht die ganze Menschheit an, alle Männer und Frauen, die sich füreinander und alle gemeinsam für die Welt verantwortlich wissen. 1. Schon am Ende des ersten Weltkrieges hat mein Vorgänger Papst Benedikt XV. diesem Thema eine Enzyklika gewidmet. Erfreut über die Einstellung der Kämpfe, hielt er es jedoch für unbedingt notwendig, Haß und Feindschaft i n einer von gegenseitigen Liebe beseelten Versöhnimg zu überwinden. Darum begann er seine Enzyklika mit folgenden Worten: „Frieden, dieses herrliche Gottesgeschenk, das, wie Augustinus sagt, „unter den vergänglichen Gütern dieser Erde das feinste ist, von dem man sprechen, das ersehnteste, das man sich wünschen, das beste, das man finden kann" (De Civ. Dei, X I X , c. XI)" (Enzyklika Pacem Dei munus: AAS 12 [1920] 209).

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Friedensbemühungen in einer zerrissenen Welt 2. Seitdem mußten meine Vorgänger diese Wahrheit oft i n Erinnerung rufen bei ihrem stetigen Bemühen, zum Frieden zu erziehen und zu ermutigen, für einen dauerhaften Frieden zu arbeiten. Heute ist der Frieden in der ganzen Welt eine vorrangige Sorge geworden, und dies nicht nur für jene, die für das Geschick der Völker Verantwortimg tragen, sondern vor allem für weite Teile der Bevölkerung und unzählige einzelne Menschen, die es sich hochherzig und unbeirrbar zur Aufgabe stellen, eine Friedensmentalität zu schaffen und zwischen den Völkern und Nationen einen wahrhaften Frieden zu errichten. Dies ist gewiß eine ermutigende Tatsache. Aber es läßt sich nicht verbergen, daß trotz der Anstrengungen, die von allen Männern und Frauen guten Willens unternommen werden, weiterhin schwere Bedrohungen über dem Frieden in der Welt liegen. Darunter finden sich einige i n Form von Streitigkeiten im Innern mehrerer Nationen; andere entstammen den tiefreichenden und starken Spannungen zwischen den Nationen und den einander entgegengesetzten Machtblöcken innerhalb der Weltgemeinschaft. Die verschiedenen Frontstellungen, deren Zeugen wir heute sind, unterscheiden sich gewiß von jenen, die w i r aus der Geschichte kennen, durch einige neue Merkmale. Zunächst nimmt man ihren globalen Charakter wahr: Selbst ein örtlich begrenzter Konflikt ist häufig Ausdruck von Spannungen, die anderswo in der Welt ihren Ursprung haben. Ebenso geschieht es oft, daß sich ein Konflikt noch weiter entfernt vom Ort seines Ausbruchs tief auswirkt. Weiterhin kann man von einem totalen Charakter sprechen: Die heutigen Spannungen mobilisieren alle Kräfte der Völker; außerdem finden die Suche nach dem eigenen Profit und sogar die feindselige Gesinnung selbst heute ihren Ausdruck ebenso i n der Führung des ökonomischen Lebens oder i n der technischen Anwendung der Wissenschaften wie auch i m Gebrauch der Massenmedien oder i m militärischen Bereich. Schließlich muß man den radikalen Charakter hervorheben: Der Einsatz bei diesen Konflikten ist das Überleben der gesamten Menschheit wegen der ungeheuren Zerstörungsgewalt der heutigen Waffenarsenale. Während viele Faktoren die Einheit der Menschheitsfamilie fördern könnten, erscheint diese somit als eine zerrissene Welt, i n der die Aufspaltungen i n Ost und West, i n Nord und Süd, i n Freund und Feindstärker sind als die einigenden Kräfte.

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Ein Grundproblem 3. Die Ursachen dieser Situation sind selbstverständlich vielfältig und liegen in unterschiedlichen Bereichen. Die politischen Ursachen sind natürlich leichter zu erkennen. Einzelne Gruppen mißbrauchen ihre Macht, um ganze Völker zu beherrschen. Getrieben vom ungezügelten Verlangen nach Ausdehnung, gelangen bestimmte Nationen dahin, ihren Wohlstand ohne Rücksicht, das heißt auf Kosten des Glücks der anderen, aufzubauen. Ein zügelloser Nationalismus läßt so Pläne für eine Vorherrschaft entstehen, i n deren Rahmen die Beziehungen zu den anderen Nationen als eine unerbittliche Alternative erscheinen: entweder Unterwerfimg und Abhängigkeit oder Konkurrenzkampf und Feindseligkeit. Eine tieferreichende Analyse enthüllt als Ursache dieser Situation die Anwendung gewisser geistiger Konzepte und Ideologien, die den Anspruch erheben, das einziggültige Fundament der Wahrheit über den Menschen, sein soziales Leben und seine Geschichte zu bieten. Vor dem Dilemma „Krieg oder Frieden" sieht sich der Mensch also konfrontiert mit sich selbst, seinem Wesen, dem Entwurf seines persönlichen wie gemeinschaftlichen Lebens, dem Umgang mit seiner Freiheit. Sollen die Beziehungen zwischen den Menschen wirklich unerbittlich verlaufen im Zeichen von Unverständnis und gnadenlosem Gegeneinander auf Grund irgendeiner schicksalhaften Gesetzmäßigkeit menschlicher Existenz? Oder haben die Menschen nicht vielmehr die besondere Berufung — im Unterschied zu den Tieren, die sich untereinander nach dem Gesetz des Dschungels bekämpfen — und die grundsätzliche Möglichkeit, mit ihresgleichen i n friedlichen Beziehungen zu leben und sich miteinander an der Gestaltung von Kultur, Gesellschaft und Geschichte zu beteiligen? Wenn der Mensch sich die Frage nach dem Frieden stellt, führt ihn dies letztlich zur Frage nach dem Sinn und den Bedingungen seiner eigenen Existenz als einzelner und i n Gemeinschaft. Der Frieden, ein Geschenk Gottes 4. Der Frieden ist nicht so sehr ein oberflächlicher Ausgleich unterschiedlicher materieller Interessen — der damit i n den Bereich der Quantität, der Sachen, gehörte —, sondern i m Kern seiner Wirklichkeit vielmehr ein Wert aus dem wesentlich menschlichen Bereich, nämlich des Menschen selbst, und darum von geistiger, sittlicher Art, eine Frucht aus Wahrheit und Tugend. Der Frieden entsteht aus dem Zusammenwirken von Menschen mit freiem Willen, die durch ihren Verstand auf das Gemeinwohl hingelenkt werden, das in Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe erreicht werden soll. Diese

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geistige, sittliche Ordnung stützt sich gerade auf die Gewissensentscheidung von Menschen, den Einklang ihrer wechselseitigen Beziehungen zu suchen, und dies unter Beachtung der Gerechtigkeit für alle und darum auch der grundlegenden Menschenrechte, die mit jeder Person zutiefst verbunden sind. Es ist nicht ersichtlich, wie eine solche moralische Ordnimg von Gott absehen könnte, dem Urquell des Seins, der grundlegenden Wahrheit und dem höchsten Gut. Schon i n diesem Sinne kommt der Frieden von Gott als seinem Fundament: er ist ein Geschenk Gottes. Indem sich der Mensch die Reichtümer und Güter des Universums kraft seiner geistigen Begabimg erarbeitet und aneignet — und gerade um ihretwegen sind oft Konflikte und Kriege entstanden —, „steht (er) vor der Tatsache, daß er zu allererst von Seiten der Natur und letzten Endes von Seiten des Schöpfers beschenkt w i r d " (Enzyklika Laborem exercens, 12). Gott ist aber nicht nur derjenige, der den Menschen die Schöpfung anvertraut, damit sie diese in solidarischer Weise verwalten und entwikkeln, zum Besten aller Menschen ohne Diskrimination; er ist auch derjenige, der dem Gewissen des Menschen jene Gesetze einprägt, welche ihn verpflichten, auf vielfältige Art und Weise das Leben und die ganze Person seines Nächsten zu achten, der ja wie er selbst als Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist, so daß damit Gott alle diese grundlegenden Menschenrechte garantiert. Ja, Gott ist wirklich die Quelle des Friedens: Er ruft zum Frieden auf und garantiert ihn zugleich; er schenkt ihn als Frucht der Gerechtigkeit. Darüber hinaus hilft Gott den Menschen, den Frieden zu verwirklichen oder ihn wiederzugewinnen. Denn der Mensch i n seiner begrenzten Existenz, dem Irrtum und dem Bösen unterworfen, geht gleichsam nur tastend und mit vielen Schwierigkeiten auf die Suche nach dem Gut des Friedens. Sein Geist ist von Scheinwahrheiten verdunkelt, von falschen Gütern angezogen, von irrationalen und egoistischen Instinkten i n die Irre geleitet. Von daher ergibt sich für ihn die Notwendigkeit, sich dem alles überragenden Licht Gottes zu öffnen, das i n sein Leben hereinstrahlt, es vom Irrtum reinigt und von aggressiven Leidenschaften befreit. Gott ist dem Herzen des Menschen nicht fern, der ihn um etwas bittet und die Gerechtigkeit zu erfüllen sucht; i n einem stetigen, i n Freiheit geführten Dialog zeigt Gott dem Menschen das Gut des Friedens als die Fülle der Lebensgemeinschaft mit ihm selbst und mit den Brüdern. I n der Bibel begegnet das Wort „Frieden" häufig i m Zusammenhang mit der Vorstellung von Wohlsein, Harmonie, Glück, Sicherheit, Eintracht, Heil, Gerechtigkeit sowie als das höchste Gut, das Gott, „der Herr des Friedens" (2 Thess 3,15) bereits jetzt schenkt und i n seiner Fülle verheißt: „Wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr (zur Stadt Jerusalem)" (Jes

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Das Geschenk Gottes, den Menschen anvertraut 5. Wenn der Frieden ein Geschenk ist, so ist doch der Mensch keineswegs von der Verantwortung befreit, ihn zu suchen und sich zu allen Zeiten seiner Geschichte darum zu bemühen, ihn durch persönliche und gemeinschaftliche Anstrengungen zu erreichen. Der von Gott geschenkte Frieden ist daher immer auch eine Errungenschaft und Verwirklichung des Menschen; denn er w i r d ihm gegeben, um frei angenommen und durch seine schöpferischen Willensentscheidungen Schritt für Schritt verwirklicht werden. I n ihrer Liebe zum Menschen läßt die göttliche Vorsehung diese ihrerseits niemals i m Stich, sondern drängt und führt ihn, selbst i n den dunkelsten Stunden der Geschichte, in geheimnisvoller Weise auf den Weg des Friedens zurück. Gerade die Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Tragödien i n Vergangenheit und Gegenwart müssen als Lehren der Vorsehung betrachtet werden; und dem Menschen kommt es zu, daraus die nötige Weisheit zu ziehen, um neue, rationalere und mutigere Wege zum Aufbau des Friedens zu erschließen. Der Bezug auf die Wahrheit Gottes gibt dem Menschen das Ideal und die notwendigen Energien, um ungerechte Situationen zu überwinden, sich von Ideologien der Macht und Vorherrschaft zu befreien und den gemeinsamen Weg zur wahren universellen Brüderlichkeit aufzunehmen. In der Treue zu Christus, der das „Evangelium des Friedens" verkündet und den Herzen Frieden geschenkt hat, indem er sie mit Gott versöhnte, haben die Christen — wie ich i m letzten Teil dieser Botschaft weiter ausführen werde — noch entscheidendere Gründe, den Frieden als ein Geschenk Gottes zu betrachten und zugleich mutig zu seiner Errichtimg i n dieser Welt beizutragen, und dies i n gleichem Maße, wie sie seine höchste Vollendung i m Reiche Gottes ersehnen. Sie wissen sich dabei eingeladen, ihre Anstrengungen mit den Bemühungen der Gläubigen anderer Religionen zu vereinen, die unermüdlich Haß und Krieg anprangern und sich von unterschiedlichen Zugängen her für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Es war wichtig, zunächst diese hoffnungsvolle Vision der Menschheit auf den Frieden hin i n ihren natürlichen Grundlagen zu betrachten und dabei die moralische Verantwortung als Antwort auf das Geschenk Gottes hervorzuheben. Dies alles erhellt und motiviert das Handeln der Menschen i m Bereich der Information, der Studien und des praktischen Einsatzes zugunsten des Friedens, drei Bereiche, die ich nun mit einigen Beispielen veranschaulichen möchte.

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Information 6. Der Weltfrieden hängt i n einem gewissen Maß von einer besseren Kenntnis ab, die die Menschen und Völker voneinander haben sollten. Diese Kenntnis ist natürlich bedingt durch die Information und deren Qualität. Wer mit Liebe und Achtung vor dem Mitmenschen die Wahrheit sucht und verkündet, tut ein Werk des Friedens. Das gleiche tun alle, die sich darum bemühen, Interesse zu wecken für die Werte der verschiedenen Kulturen, für das Eigenwesen der einzelnen Nationen, für den Reichtum an menschlichen Werten i n jedem Volk. E i n Werk des Friedens tun ferner jene, welche durch ihre Informationen weite Entfernungen überbrücken, so daß w i r uns wirklich mitbetroffen fühlen vom Schicksal der Männer und Frauen, die weit entfernt von uns Opfer von Krieg oder Unrecht sind. Gewiß könnte eine Überhäufung mit solchen Informationen, vor allem wenn sie von Katastrophen berichten, für die uns jedes Fassungsvermögen fehlt, zu Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit bei demjenigen führen, der bloßer Zuschauer bleibt, ohne jemals eine ihm mögliche Initiative zu ergreifen. Aber an sich ist die Rolle der Massenmedien hierbei durchaus positiv: Fortan ist jeder von uns aufgefordert, für alle seine Menschenbrüder der Nächste zu werden (vgl. Lk 10, 2937). Gute Information hat auch einen direkten Einfluß auf Erziehimg und politische Willensbildung. Wenn man will, daß die Jugendlichen für Friedensfragen aufgeschlossen seien und sich darauf vorbereiten, am Aufbau des Friedens mitzuwirken, müssen die Erziehungsprogramme der Information über die konkreten Situtionen, wo der Frieden bedroht ist, und über die notwendigen Voraussetzungen zu seiner Förderung unbedingt einen bevorzugten Platz einräumen. Die Menschen i n leitender Position werden ja mit ihren Kräften allein den Frieden nicht errichten können. Einen sicheren Frieden kann man nur erreichen, wenn unerschütterliche Entschiedenheit aller Menschen guten Willens dahintersteht. Die Männer und Frauen i n leitender Stellung müssen von einer öffentlichen Meinung getragen und motiviert sein, die sie ermutigt und ihnen gegebenenfalls auch ihre Mißbilligung ausdrückt. Konsequenterweise muß es dann für die Regierungen auch normal sein, der Öffentlichkeit alles zu erklären, was Friedensfragen berührt.

Studien, die zur Errichtung

des Friedens beitragen

7. Der Aufbau des Friedens hängt ebenso vom Fortschritt der entsprechenden Forschungen ab. Die wissenschaftlichen Studien über den Krieg und sein Wesen, über seine Ursachen, Mittel, Ziele und Einsätze enthalten zahl-

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reiche Hinweise auf die Bedingungen des Friedens. Seitdem solche Untersuchungen die Beziehungen zwischen Krieg und Politik deutlich sichtbar machen, zeigen sie damit, daß zur Regelung von Konflikten die Zukunft eher der Verhandlung gehört als den Waffen. Daraus ergibt sich, daß die Bedeutung des Rechts für die Erhaltung des Friedens zunehmen wird. Es war schon immer bekannt, wie i n jedem Staat die Förderung der Gerechtigkeit und die Beachtung der Menschenrechte durch die Arbeit der Juristen breite Unterstützung fanden. Deren Bedeutung ist jedoch ebenso groß, wenn es darum geht, die gleichen Ziele auf internationaler Ebene zu verfolgen und hierfür die juristischen Instrumente zu verfeinern, die den Frieden errichten und erhalten sollen. Seitdem jedoch die Sehnsucht nach Frieden den Menschen i n seiner innersten Tiefe bewegt, hängen Fortschritte auf dem Weg des Friedens ebenso von den Untersuchungen der Psychologen und Philosophen ab. Gewiß umfaßt die Lehre vom Krieg bereits Studien über die menschliche Aggressivität, über Todesverlangen, über den Herdentrieb, der ganze Völker unerwartet lähmen kann, bleibt jedoch noch viel zu sagen über die Furcht des Menschen, seine Freiheit anzunehmen, über seine Unsicherheit vor sich selbst und vor anderen. Eine bessere Kenntnis der Lebensregungen, des Gefühls der Sympathie, der Bereitschaft zur Liebe und zum Teilen tägt zweifellos dazu bei, die psychologischen Abläufe besser zu verstehen, die dem Frieden dienen. Die Psychologie ist so aufgerufen, durch solche Studien die Reflexion der Philosophen zu erhellen und zu ergänzen. Diese haben sich seit jeher Fragen zu Krieg und Frieden gestellt. Immer hatte die Philosophie ihre besondere Verantwortimg in diesem Bereich, und leider ist das Erbe jener berühmten Philosophen noch immer lebendig, die im Menschen „einen Wolf für den Menschen" gesehen haben und i m Krieg eine Notwendigkeit der Geschichte. Es ist allerdings auch wahr, daß mehrere Philosophen das Fundament für einen dauerhaften, ja sogar ständigen Frieden gelegt haben, indem sie beispielsweise feste theoretische Grundlagen für das internationale Recht vorlegten. Alle diese Bemühungen verdienen, aufgegriffen und vertieft zu werden; die Denker, die sich diesen Fragen widmen, können dabei den sehr reichen Beitrag einer Strömung heutiger Philosophie nützen, die dem Thema der Person eine überragende Bedeutung einräumt und in einzigartiger Weise dazu hilft, die Themen der Freiheit und der Verantwortung zu durchdringen. Die Reflexion über Menschenrechte, Gerechtigkeit und Frieden kann dort erhellende Hinweise finden.

6 Johannes Paul IL

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Papst Johannes Paul II.

Indirekte

Aktion

8. Wenn die Förderung des Friedens i n gewissem Sinne auf Information und Forschung angewiesen ist, so hängt sie doch vor allem von den Taten ab, die Menschen für dieses Ziel vollbringen. Bestimmte Formen der Aktion, wie sie hier gemeint sind, haben nur einen indirekten Bezug zum Frieden. Es wäre jedoch falsch, sie als nebensächlich anzusehen; denn, wie w i r durch einige Beispiele kurz andeuten werden, bieten fast alle Bereiche menschlicher Aktivität unerwartete Gelegenheiten, den Frieden zu fördern. Dies ist der Fall beim kulturellen Austausch i m weitesten Sinn des Wortes. Alles, was den Menschen ermöglicht, sich durch künstlerische Initiativen besser kennenzulernen, beseitigt damit Barrieren. Dort, wo das Wort versagt und die Diplomatie eine unsichere Hilfe ist, können Musik und Malerei, Theater und Sport die Menschen einander näherbringen. Dasselbe gilt für die wissenschaftliche Forschung: die Wissenschaft motiviert und versammelt eine universelle Gemeinschaft, bei der sich ohne Spaltung alle Menschen einfinden, die Wahrheit und Schönheit lieben. Wissenschaft und Kirnst nehmen so i n ihrem Bereich das Aufkommen einer universellen Friedensgemeinschaft vorweg. Selbst die Welt der Wirtschaft ist dazu berufen, die Menschen zueinander zu bringen, indem sie ihnen ihre gegenseitige Abhängigkeit und Ergänzungsbedürfigkeit deutlich macht. Zweifellos schaffen wirtschaftliche Beziehungen oft ein Feld unerbittlicher Auseinandersetzimg, gnadenloser Konkurrenz und manchmal sogar schamloser Ausbeutimg. Aber sollte es nicht möglich sein, diese gleichen Beziehungen i n solche des Dienstes, der Solidarität umzuwandeln und bereits dadurch eine der häufigsten Ursachen für Uneinigkeit zu entschärfen? Gerechtigkeit und Frieden im Innern der Nationen 9. Wenn der Frieden die Sehnsucht aller Menschen sein muß, so ist doch seine konkrete Errichtung eine Aufgabe, die direkt und vornehmlich den politischen Führern zukommt. Unter diesem Gesichtspunkt ist der hauptsächliche Ort für den Aufbau des Friedens immer der Staat als eine politisch organisierte Gemeinschaft. Wenn die Bildimg einer politischen Gemeinschaft zum Ziel hat, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, das Gemeinwohl zu fördern und alle Bürger zur Mitarbeit zu gewinnen, dann wächst der Frieden dieser Gemeinschaft nur i n dem Maße, wie diese drei verpflichtenden Aufgaben berücksichtigt werden. Der Frieden kann nur dort aufblühen, wo die grundlegenden Forderungen der Gerechtigkeit erfüllt werden.

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Die vorbehaltlose und praktizierte Achtung vor den unverlierbaren und unveräußerlichen Rechten des einzelnen Bürgers ist unabdingbare Voraussetzung dafür, daß Frieden i n einem Volk herrscht. I m Hinblick auf diese Grundrechte sind alle anderen Rechte gleichsam abgeleitet und zweitrangig. I n einem Volk, wo jene Rechte nicht geschützt sind, ist sogar die Idee des allgemeinen Charakters des Rechts tot, da i n diesem Falle nur einige wenige zu ihrem alleinigen Vorteil ein Prinzip der Diskrimination aufrichten, so daß schließlich die Rechte und selbst die Existenz der einen nach dem Gutdünken der Stärkeren aufgehoben sind. Ein solches Volk kann daher keinen inneren Frieden haben; es trägt in sich selbst den Keim der Spaltung, der Zerrissenheit. Aus demselben Grunde kann eine politische Gemeinschaft nur dann wirksam zum Aufbau des internationalen Friedens beitragen, wenn sie für sich selbst den Frieden erreicht hat, das heißt, wenn sie im eigenen Bereich die Förderung der Menschenrechte ernst nimmt. I n dem Maße, wie die Führer einer bestimmten Nation sich dafür einsetzen, eine vollkommen gerechte Gesellschaft aufzubauen, tragen sie schon entscheidend zur Errichtung eines wahrhaften, festen und dauerhaften Friedens bei (vgl. Enzyklika Pacem in terris, II). Gerechtigkeit und Frieden unter den Völkern 10. Wenn aber der innere Frieden eines jeden Volkes die notwendige Voraussetzung ist, damit wahrer Frieden gedeihen kann, so ist doch diese Bedingung nicht ausreichend. Die Verwirklichimg des Friedens auf Weltebene kann sich nämlich nicht ohne weiteres aus dem isolierten Willen der einzelnen Völker ergeben, die zudem oft zwiespältig sind und manchmal zueinander i m Gegensatz stehen. Um diesen Mangel zu beheben, haben die Staaten geeignete internationale Organisationen geschaffen, deren Hauptziel unter anderem ist, ihre Zielsetzungen untereinander abzustimmen und auf die Wahrung des Friedens sowie die Förderung der Gerechtigkeit unter den Völkern auszurichten. Durch die Autorität, die die großen internationalen Organisationen erlangt haben, und durch ihre Initiativen haben diese ein beachtliches Werk i m Interesse des Friedens vollbracht. Ohne Zweifel hat es auch Niederlagen gegeben; sie haben nicht schnell genug allen Konflikten zuvorkommen und sie verhindern können. Sie trugen jedoch dazu bei, vor aller Welt zu zeigen, daß Krieg, Blut und Waffen die Spannungen keineswegs vermindern. Sie haben sozusagen den erfahrungsmäßigen Beweis erbracht, daß die Menschen sogar auf Weltebene imstande gewesen sind, durch gemeinsame Anstrengungen zusammen nach dem Frieden zu suchen. 6*

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Die christliche Dynamik des Friedens 11. A n dieser Stelle meiner Botschaft möchte ich mich nun noch besonders an meine Brüder und Schwestern i n der Kirche wenden. Die Kirche unterstützt und ermutigt alle ernsthaften Bemühungen, die dem Frieden dienen. Sie zögert nicht zu sagen, daß das Wirken all jener, die sich mit besten Kräften für den Frieden einsetzen, i n den Heilsplan Gottes i n Jesus Christus eingeordnet ist. Den Christen aber ruft sie in Erinnerung, daß sie noch tiefere Gründe haben, wirksame Zeugen für das göttliche Geschenk des Friedens zu sein. Vor allem hat Christus durch seine Botschaft und sein Beispiel neue friedenstiftende Verhaltensweisen angeregt. Er hat die Friedensethik hoch über die gängigen Auffassungen von Gerechtigkeit und Anstand erhoben. Schon gleich am Anfang seiner Sendung ruft er aus: „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden" (Mt 5, 9). Er sendet seine Jünger aus, den Frieden von Haus zu Haus, von Ort zu Ort zu tragen (ebd. 10,11 -13). Er ermahnt sie, den Frieden jeder Art von Rache, selbst gewissen legitimen Ansprüchen vorzuziehen, wodurch er die Wurzel der Aggressivität aus den Herzen der Menschen reißen möchte (ebd. 5, 38-42). Er fordert, jene zu lieben, die durch Barrieren verschiedenster Art zu Feinden geworden sind (ebd. 5,43 - 48). Er führt als Beispiel Fremde an, die man gewöhnlich verachtet, so die Samariter (vgl. Lk 10, 33; 17, 16). Er lädt ein, stets demütig zu sein und grenzenlos zu verzeihen (vgl. Mt 18, 21-22). Die Bereitschaft, mit denen, die nicht einmal das Lebensnotwendige haben, zu teilen — was er zur Schlüsselfrage des Jüngsten Gerichtes gemacht hat —, muß auf radikale Weise dazu beitragen, brüderliche Beziehungen untereinander herzustellen. Diese Aufforderungen Jesu und sein Beispiel haben schon an sich einen großen Niederschlag i m Verhalten seiner Jünger gefunden, wie es die Geschichte seit zwei Jahrtausenden bezeugt. Das Wirken Christi liegt aber auf einer noch tieferen Ebene, die i n einer geheimnisvollen Verwandlung des Herzens besteht. Er hat i n der Tat verwirklicht, was die Engel bei seiner Geburt verkündet haben, nämlich daß „Friede ist auf der Erde bei den Menschen, die Gott liebt" (Lk 2,14), und das nicht nur, indem er ihnen die Liebe des Vaters offenbart, sondern sie vor allem durch sein Opfer mit Gott versöhnt. Denn es waren Sünde und Haß, die dem Frieden mit Gott und mit den Mitmenschen hinderlich i m Wege standen: Er hat sie durch sein Lebensopfer am Kreuze vernichtet und jene, die einst Feinde waren, i n einen Leib versöhnt (vgl. Eph 2, 16; Rom 12, 5). Deshalb waren die ersten Worte des Auferstandenen an die Apostel: „Der Friede sei mit euch" (Joh 20,19). Diejenigen, die glauben, bilden in der Kirche eine prophetische Gemeinschaft.

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Sie machen i m Heiligen Geist, der von Christus vermittelt wird, nach der Taufe und der i n ihr erfolgenden Eingliederung in den Mystischen Leib Christi die Erfahrung des Friedens, wenn Gott ihnen diesen durch das Sakrament der Versöhnimg und i n der eucharistischen Kommunion schenkt. Sie verkünden „das Evangelium vom Frieden" (Eph 6, 15); sie bemühen sich, ihn i n ihrem konkreten Alltag selbst zu leben; und sie verlangen nach der Zeit der vollkommenen Versöhnung, wo durch einen neuen Eingriff des lebendigen Gottes, der die Toten erweckt, der Mensch i n völliger Transparenz vor Gott und vor seinen Brüdern und Schwestern stehen wird. Diese Glaubenssicht stützt das Wirken der Christen für den Frieden. So stellt sich die Kirche schon allein durch ihre Existenz inmitten der Welt dar als eine Gemeinschaft von Menschen, die durch die Gnade Christi versöhnt i n Frieden leben, i n liebender Lebensgemeinschaft mit Gott und allen Brüdern und Schwestern über alle menschlichen Barrieren hinweg. Sie ist schon durch sich selbst — und bemüht sich darum, es konkret noch immer mehr zu werden — ein Geschenk und ein Ferment des Friedens, das von Gott der ganzen Menschheit angeboten ist. Gewiß, die Glieder der Kirche sind sich voll bewußt, daß sie oft noch Sünder sind, auch i n diesem Bereich; sie fühlen aber zumindest ihre große Verantwortimg, dieses Geschenk des Friedens ins Werk zu setzen. Deswegen müssen sie zuallererst ihre eigenen Spaltungen überwinden, um sich unverzüglich auf den Weg zur Fülle der Einheit in Christus zu begeben; auf diese Weise wirken sie mit Gott zusammen, um der Welt seinen Frieden zu schenken. Sie sollen natürlich auch mit allen Menschen guten Willens nach Kräften zusammenarbeiten, die in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und des internationalen Lebens sich für den Frieden einsetzen. Die Kirche wünscht, daß ihre Söhne und Töchter sich durch ihr Zeugnis und ihre Initiativen vorrangig um diejenigen bemühen, die dem Frieden die Wege bereiten und ihm zum Durchbruch verhelfen. Zugleich ist sie sich jedoch dessen bewußt, daß es sich auf diesem Gebiet um eine schwierige Aufgabe handelt, die viel Bereitschaft, Unterscheidungsvermögen und Zuversicht verlangt, um eine echte Herausforderung. Der Frieden, eine beständige Herausforderung

für den Christen

12. Der christliche Optimismus, der im siegreichen Kreuz Christi und in der Sendung des Heiligen Geistes gründet, berechtigt durchaus nicht zu Illusionen. Für den Christen ist der Frieden auf Erden immer eine Herausforderung wegen der Sünde, die i m Herzen des Menschen gegenwärtig ist. Gestützt von Glauben und Hoffnung setzt sich der Christ dafür ein, die Gesell-

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schaft gerechter zu machen; er kämpft gegen Hunger, Not und Krankheit; er nimmt sich der Fremden, der Gefangenen und all derer an, die am Rande der Gesellschaft leben (vgl. Mt 25, 35-36). Doch weiß er auch, daß alle diese Initiativen, selbst wenn sie etwas von der Barmherzigkeit und der Vollkommenheit Gottes zum Ausdruck bringen, i n ihrer Tragweite immer begrenzt, i n ihren Ergebnissen ungewiß und i n ihrer Motivierung mehrdeutig sind. Gott allein, der das Leben gibt, wird, wenn er alles in seinem Sohn vereinen w i r d (vgl. Eph 1, 10), die sehnsuchtsvolle Hoffnung der Menschen erfüllen, indem er selbst alles, was i m Lauf der Geschichte für Gerechtigkeit und Frieden i n seinem Geist getan worden ist, zur Vollendung führt. Deshalb w i r d der Christ, wenn er mit erneutem Eifer alles unternimmt, um kriegerischen Auseinandersetzungen zuvorzukommen oder sie zu beenden, sich nicht täuschen weder über seine Fähigkeit, dem Frieden zum Siege zu verhelfen, noch über die Tragweite seiner Bemühungen, die er zu diesem Zweck unternimmt. Infolgedessen interessiert er sich für alle Initiativen der Menschen, die dem Frieden dienen, und beteiligt sich oft an ihnen, wobei er diese mit Realismus und Selbstbescheidung betrachtet. Man könnte fast sagen, daß er sie auf zweifache Weise „verwirklicht": er führt sie aus mit aller Unzulänglichkeit des sündigen Menschen und zugleich setzt er sie in Beziehung zum Heilsplan Gottes. Der Christ weiß vor allem darum, daß Angriffslust, Hegemoniestreben und Manipulationsabsicht anderen gegenüber i m Herzen der Menschen schlummern und manchmal sogar ihre Intentionen beeinflussen, trotz eventueller Erklärungen oder Bekundungen pazifistischer Art. Er weiß ebenso, daß eine völlig und für immer friedliche menschliche Gesellschaft auf Erden leider eine Utopie ist und daß die Ideologien, die diese anpreisen, verständlicherweise unerfüllbare Hoffnungen nähren, was auch immer die Gründe für ihre Einstellung sein mögen: falsche Sicht der menschlichen Natur; Unvermögen, die Probleme i n ihrer Gesamtheit zu betrachten; Ausflucht, um die Angst zu verdrängen, oder bei wieder anderen kalkulierter Eigennutz. Der Christ ist sogar davon überzeugt — und das besonders, wenn er selbst die schmerzliche Erfahrung gemacht hat —, daß diese trügerischen Hoffnungen gradlinig zum Pseudo-Frieden der totalitären Regime führen. Diese realistische Sicht entmutigt jedoch keinesfalls die Christen i n ihrem Einsatz für den Frieden. I m Gegenteil, sie stärkt ihren Eifer; denn sie wissen auch, daß der Sieg Christi über Sünde, Haß und Tod den Menschen, die sich nach Frieden sehen, eine noch stärkere Motivierung zum Handeln bietet, als es die edelsten Auffassungen vom Menschen vermögen, und eine weit tiefere Hoffnung als jene, die sich an den kühnsten Träumen entfacht.

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Aus diesem Grund zögert der Christ nicht, während er sich voller Eifer darum bemüht, alle Formen kriegerischer Auseinandersetzung zu bekämpfen und ihnen zuvorzukommen, gleichzeitig i m Namen einer elementaren Forderung der Gerechtigkeit daran zu erinnern, daß die Völker das Recht und sogar die Pflicht haben, durch angemessene Mittel ihr Existenz und ihr Freiheit gegen einen ungerechten Angreifer zu verteidigen (vgl. Konst. Gaudium et spes, Nr. 79). I n Anbetracht des fast wesenhaften Unterschieds, der zwischen den klassischen Formen des Krieges und einem nuklearen oder bakteriologischen Krieg besteht, wie auch des Skandals des Rüstungswettlaufs angesichts der ungeheuren Nöte der Dritten Welt, unterstreicht jedoch dieses i m Prinzip sehr reale Recht nur um so mehr für die gesamte Menschheit die Dringlichkeit, sich wirksame Verhandlungsmöglichkeiten zu schaffen. So kann der atomare Schrecken, der unsere Zeit bedrängt, die Menschen dazu bewegen, ihr gemeinsames Erbe noch um diese sehr einfache Entdekkung zu bereichern, die ihnen leicht zugänglich ist, nämlich die Erkenntnis, daß der Krieg das barbarischste und unwirksamste Mittel ist, um Konflikte zu lösen. Mehr als jemals zuvor ist die menschliche Gesellschaft heute also genötigt, sich die Mittel zur gegenseitigen Verständigung und zum Dialog zu schaffen, die sie zum Überleben braucht, sowie jene Institutionen, die unerläßlich sind, um Gerechtigkeit und Frieden zu verwirklichen. Möge sie sich auch dessen bewußt werden, daß diese Aufgabe die menschlichen Kräfte übersteigt! Das Gebet für den Frieden 13. Im Verlauf der ganzen Botschaft habe ich an die Verantwortimg der Menschen guten Willens und besonders der Christen appelliert, da Gott den Frieden den Menschen anvertraut hat. Mit dem Realismus und der Hoffnung, die der Glaube gestattet, habe ich die Aufmerksamkeit der Bürger und der Regierenden auf eine gewisse Zahl von Initiativen und Verhaltensweisen gelenkt, die schon jetzt möglich und geeignet sind, den Frieden dauerhaft zu verwirklichen. Darüber hinaus oder mehr noch i m Kern dieser notwendigen Bemühungen, die vor allem als eine Angelegenheit der Menschen erscheinen könnten, ist der Frieden aber vor allem ein Geschenk Gottes — das darf man niemals vergessen — und muß deshalb stets von seiner Barmherzigkeit erbeten werden. Eine solche Überzeugung scheint die Menschen i n allen Kulturen beseelt zu haben, welche dem Frieden i n ihren Gebeten den ersten Rang eingeräumt haben. Man findet dies i n allen Religionen. Wieviel Menschen, die die mörderischen Kämpfe und die Konzentrationslager erlebt haben, wieviele Frauen

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Papst Johannes Paul II.

und Kinder, die infolge der Kriege i n größte Not geraten waren, haben sich nicht schon vor uns an den Gott des Friedens gewandt! Heute, da die Gefahren durch ihr Ausmaß und ihren grundsätzlichen Charakter eine einzigartige Schwere annehmen, da die Schwierigkeiten für die Verwirklichung des Friedens sich i n einer neuen, oft unlösbaren Weise stellen, können viele Menschen, sogar solche, die mit dem Gebet wenig vertraut sind, spontan den Zugang dazu finden. I n der Tat, unsere Zukunft ist in den Händen Gottes, der allein den wahren Frieden schenkt. Und wenn die Herzen der Menschen aufrichtig nach der Verwirklichung des Friedens trachten, ist es wiederum die Gnade Gottes, die ihre Absichten inspiriert und stärkt. Alle sind eingeladen, in diesem Sinn das Gebet des hl. Franz von Assisi zu sprechen, dessen achthundertsten Geburtstag w i r gerade feiern: Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens: daß ich liebe, wo man haßt; daß ich verzeihe, wo man beleidigt; daß ich Frieden stifte, wo Streit ist. Die Christen ihrerseits lieben es, für den Frieden zu beten, indem sie i n sich das Gebet so vieler Psalmen aufsteigen lassen, die voll sind von Bitten um Frieden und die von ihnen mit der allumfassenden Liebe Jesu gesprochen werden. Dies ist auch schon ein gemeinsamer und sehr tiefer Brauch bei allen ökumenischen Initiativen. Und auch andere Gläubige i n der Welt erwarten vom Allmächtigen das Geschenk des Friedens. Ebenso sind mehr oder weniger bewußt viele Menschen guten Willens bereit, dasselbe Gebet i n der Verborgenheit ihres Herzens zu sprechen. Möge so von den vier Enden der Erde ein inständiges Gebet zu Gott emporsteigen! Schon das wäre eine schöne Einmütigkeit auf dem Weg zum Frieden. Und wer könnte daran zweifeln, daß Gott diesen Gebetsruf seiner Kinder erhört: Herr schenke uns den Frieden! Gib uns deinen Frieden! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1981. JOANNES PAULUS P. E

FRIEDEN: GOTTES GESCHENK, D E N MENSCHEN ANVERTRAUT Von Rudolf Kirchschläger

I n all den Jahren, i n denen ich in der Republik Österreich mit öffentlichen Aufgaben betraut war, habe ich mich auch öffentlich zu den Friedensbotschaften bekannt, welche die Inhaber des Stuhles Petri zur Feier des jährlichen Weltfriedenstages erlassen haben.

I. Von der Bedeutung der päpstlichen Friedensbotschaften Jede dieser Botschaften enthält sowohl sehr wertvolle Grundsatzüberlegungen als auch sehr konkrete Anleitungen für die Wandlung des Heute zu einer friedlicheren Welt; sie sind daher zurecht an die Familien und Erzieher, an die Männer und Frauen, die Verantwortung für das Leben der Gesellschaft tragen, an die jungen Menschen, die bald die großen Entscheidungen dieser Welt treffen werden, und insbesondere auch an die Staatsoberhäupter und Regierungen gerichtet. Der Friede ist ja — wie schon Augustinus schrieb — „unter den vergänglichen Gütern dieser Erde das feinste, von dem man sprechen, das ersehnteste, das man sich wünschen, das beste, das man finden kann" 1 . Die i n den Friedensbotschaften enthaltenen Gedanken sind zeitlos. Sie behalten, solange w i r Menschen als Individuen nicht wirklich friedfertig werden und die Menschheit als Ganzes nicht friedvoller wird, ihre Gültigkeit und damit auch ihre Aktualität. Manchmal allerdings zögert unsere Lebenserfahrung, das eine oder andere Wort aus diesen Friedensbotschaften beim ersten Hören oder Lesen voll anzunehmen. „Der Frieden, Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut", gewählt als Titel der Friedensbotschaft 1982, ist ein solches Wort.

i Zitiert nach der Botschaft seiner Heiligkeit Papst Johannes' Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Jänner 1982, Vatikanstadt 1981, S. 6.

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Rudolf Kirchschläger II. Ist Friede möglich?

Viele mögen sich fragen, wo ist dieser Friede, wo ist dieses Geschenk Gottes i n unserer Zeit? Wohl hat sein Schimmer am Horizont aufgeleuchtet, damals i n den Jahren 1989 / 90, als i n einem an das Wunderbare grenzenden Aufbruch in Mittel- und Osteuropa Völker sich ihre Freiheit wiedererrungen haben und viele Menschen, allen voran die Jugend, sich die Kraft zum gewaltfreien Widerstand gegen ein unüberwindbar geschienenes System i n den Kirchen und Wallfahrtsorten i m Gebet gesucht und gefunden haben; damals auch, als die latente Drohung eines Nuklearkrieges zwischen den Supermächten und den ihnen zuzurechnenden militärischen Allianzen gewichen ist, und die Auf-, Um- und Nachrüstungsbeschlüsse echten Abrüstungsvereinbarungen gewichen sind und auch die Vereinten Nationen, etwa i n Angola, ihrer Friedensaufgabe gerecht werden konnten. I n der Zwischenzeit hat die Besetzung Kuwaits durch den Irak und die kriegerische Befreiungsaktion der Vereinten Nationen, haben auch die Nationalitätenkonflikte und Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Gliedstaaten in Europa, einschließlich der Sowjetunion, hat das Fortdauern der Konfliktsituationen i n Irland und auf Zypern — die Aufzählung ist nur beispielsweise — den Schimmer am Horizont zwar wieder verdunkelt, aber allein, daß er einmal sichtbar geworden ist, gibt ein realistisches Zeugnis dafür, daß Friede möglich ist 2 . Daß dieses, wenn auch nur kurzfristige Aufleuchten einer Friedensära i n einem auch nach außen sichtbaren Zusammenhang mit dem Gebet gestanden ist, läßt selbst jene Skeptiker nachdenklich werden, die meinen, daß das göttliche Friedensgebot ausschließlich dem Bereich religiösen Denkens zuzuweisen sei, das reale Geschehen i n der Welt sich aber nach anderen Gesetzen vollziehe. Der Mensch — so meinen sie — sei seiner Natur nach auf den Kampf ausgerichtet, und Kriege seien daher unvermeidlich. Sie glauben, kein „Geschenk Gottes", welches den Namen Frieden verdienen würde, in der Welt von heute oder i n den vergangenen Jahrhunderten finden zu können.

m . Der Friede — Teil der Schöpfung Jene, die so denken, übersehen, daß die Schöpfung an sich bereits ein Geschenk Gottes ist und daß i m Rahmen dieser Schöpfimg Gott dem Menschen auch den freien Willen zugewiesen hat, jene Gabe, die ihn nicht nur 2 Leitgedanke der Friedensbotschaft zum 1. Jänner 1977 von Papst Paul VI.

Frieden: Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut

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von allen anderen Lebewesen unterscheidet, sondern die i m wesentlichen auch die Abbildlichkeit des Menschen gegenüber seinem Schöpfer begründet hat 3 . Der Gebrauch dieses freien Willens durch den Menschen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind nicht nur i n den Erzählungen der Hebräischen Bibel und i m Neuen Testament eingehend dargestellt, sondern auch von jeder Generation der Menschheit neu erlebbar. Genauso dokumentiert und erlebbar ist auch das Gewissen des Menschen, dem jene Gesetze eingeprägt sind, „welche ihn verpflichten, auf vielfältige Art und Weise das Leben und die ganze Person seines Nächsten zu achten, der ja wie er selbst als Bild und Gleichnis Gottes geschaffen i s t " 4 . Das Gewissen des Menschen ist das deutlichste Zeichen dafür, daß nicht der Kampf und nicht der Krieg der Schöpfung inhärent ist, sondern der Frieden. Der Frieden war von Anbeginn ein Teil der Schöpfung, ein Geschenk Gottes wie die Schöpfung selbst, ein Teil jener Ordnung, vor der wir, wenn sie uns als kosmische Ordnung bewußt wird, nur i n Demut und im Wissen um unsere Begrenztheit staunen können. Aber es kann wohl auch der, der nicht an den göttlichen Ursprung der Schöpfung glauben kann, sondern die Welt und den Menschen als eine Entwicklungsstufe der Materie ansieht, nicht daran vorbeigehen, daß diese Entwicklung nach einem vernünftigen Gesetz erfolgt. Ein vernünftiges Gesetz aber schließt die Selbstvernichtung als Teil dieser vernunftgemäßen Entwicklung ebenso aus wie das Gesetz der göttlichen Liebe, das der Schöpfung innewohnt, diese Selbstvernichtung ausschließen muß.

IV. Der Friede als Aufgabe Der Mensch steht daher nicht nur i n menschlicher Pflicht, sondern auch i n der Erwartung Gottes, dieses Geschenk Gottes anzunehmen, welches der Idee der Schöpfung zugrunde liegt und wohl auch Teil des Seinsgrundes dieser Welt ist. Dies heißt mit anderen Worten, bereit zu sein, nicht nur Frieden von den anderen zu verlangen, sondern selbst Frieden zu tun, also zu praktizieren. Der Mensch soll aufgrund der freien Entscheidimg seines Willens Gerechtigkeit üben, der Wahrheit dienen und der Energie Liebe entsprechenden Raum geben.

3 Gen 1,26-27. 4 Friedensbotschaft 1982, S. 10.

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I n der gegenständlichen Friedensbotschaft ist sehr präzise festgehalten: „Der Frieden entsteht aus dem Zusammenwirken von Menschen mit freiem Willen, die durch ihren Verstand auf das Gemeinwohl hingelenkt werden", jenes Gemeinwohl , „das i n Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe erreicht werden soll" 5 . Gott hat i n und durch seine Schöpfung die Voraussetzungen für jene sittliche Ordnung geschaffen, die den Frieden zwischen den Menschen und Völkern möglich macht . Er hat diese Ordnimg i m Gewissen der Menschen grundgelegt. Er hat sie und mit ihr auch den Frieden dem Menschen anvertraut, aber nicht auferlegt. Es liegt an den Menschen, von diesem hohen anvertrauten Gut i n freier Entscheidung Gebrauch zu machen. Mit dem Geschenk des freien Willens ist wohl auch unabwendbar die Verantwortung für den Gebrauch dieser Freiheit verbunden. Ein freier Wille ohne Verantwortung widerspräche vernunftgemäß jedem Ordnungssystem.

V. Friede und Information I n jeder der Friedensbotschaften des jeweiligen Inhabers des Stuhles Petri sind daher auch konkrete Forderungen, Ratschläge und Anleitungen enthalten, die den Weg zu jenen freien Entscheidungen aufzeigen, aufgrund derer der Frieden bewahrt oder wiederhergestellt werden kann. I n der Friedensbotschaft zum 1. Jänner 1982 verweist Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul n . i n diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer wahrheitsgemäßen und umfassenden Information über die Situation in der Welt 6 . Dieses Wissen ist Voraussetzung für eine Verringerung der Gefahr der Manipulation des einzelnen Menschen oder ganzer Völker und damit auch Vorbedingung für die Fähigkeit, eine freie, selbstverantwortbare Entscheidung zu fällen. Sehr wirklichkeitsnah klingen die Worte der Botschaft, wenn es darin heißt: „Die Menschen i n leitender Position werden ja mit ihren Kräften allein den Frieden nicht errichten können. Einen sicheren Frieden kann man nur erreichen, wenn unerschütterliche Entschiedenheit aller Menschen guten Willens dahintersteht. Die Männer und Frauen i n leitender Stellung müssen von einer öffentlichen Meinung getragen und motiviert sein, die sie ermutigt und ihnen gegebenenfalls ihre Mißbilligung ausdrückt" 7 . Daß dazu auch die Freiheit gegeben sein muß, Zustimmung und Mißbilligung auch auszudrücken, ist ein unabdingbares Postulat an die staatliche Ordnung.

5 Friedensbotschaft 1982, S. 9. 6 Friedensbotschaft 1982, S. 13. 7 Friedensbotschaft 1982, S. 14.

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Im Hinblick auf das Maß der Verantwortung auch des Einzelnen für den Frieden, die durch mehr oder weniger gerechtfertigte zwischenmenschliche Sympathien oder auch durch parteipolitische Solidarität nicht geschmälert werden darf, hat der Einzelne auch die Pflicht, nicht allein auf jene Informationen zu vertrauen, die ihm Tag für Tag meist i m Übermaß i n das Haus gebracht werden, sondern auch selbst nach seinen Kräften nach wahrer Sachinformation Ausschau zu halten. Die Wahrheit ist nicht nur eine Bringschuld, sondern auch eine Holschuld!

VI. Direkte und indireke Aktionen für den Frieden Eine weitere konkrete Forderung der Friedensbotschaft nach „Studien, die zur Errichtung des Friedens beitragen" 8 , hat i n der Zwischenzeit durch die Errichtung des Konfliktverhütungszentrums i n Wien auf Grund der „Charta von Paris für ein neues Europa" vom 21. November 1990 seine zumindest teilweise Erfüllung gefunden. Daß an dem Zustandekommen dieser Charta auch die Delegation des Heiligen Stuhls ihren wertvollen Anteil hatte, sei geziemend vermerkt. Die i n der Friedensbotschaft erwähnte „ indirekte Aktion " für den Frieden 9 — gemeint sind der kulturelle Austausch, die wissenschaftliche Forschimg, der Sport und selbst die Wirtschaftsbeziehungen — können einen Beitrag zum Frieden darstellen, wenn sie von Menschen praktiziert werden, die charakterlich friedfertig sind und persönlich und politisch den Frieden suchen. Sie können aber auch, wenn es an diesen Voraussetzungen fehlt, zu maßlosem Konkurrenzdenken und kräftigen Ansätzen eines gefährlichen Chauvinismus führen.

VII. Erziehung zum Frieden Die Erziehung zur Friedfertigkeit ist daher das entscheidende Mittel, den Frieden zu bewahren und der vorbehaltlosen Annahme dieses Geschenks Gottes näherzukommen. Die Welt ist durch das Wissen um die Kernspaltung und durch die damit zusammenhängende Kenntnis der Produktion von Kernwaffen, deren Vernichtungspotenz sich immer noch steigert, in einen Abschnitt der Geschichte getreten, der sich von der kernwaffenfreien Zeit sehr grundsätzlich unterscheidet. Kriege der Zukunft tragen nicht nur die uns 8 Friedensbotschaft 1982, S. 14. 9 Friedensbotschaft 1982, S. 16.

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aus eigenem Erleben und aus der Geschichte bekannten Schrecken mit sich, sondern auch die Gefahr weiträumiger bis kontinentweiter Vernichtung der Menschen und auch der Umwelt. Und das Bedrückende ist: Niemand auf dieser Welt, keine geistliche und keine weltliche Kraft, w i r d es zustandebringen, dieses Wissen um die Produktion der Kernwaffen wieder aus der Erkenntnis der Menschen zu löschen, so als ob sie nicht erfunden wären. Eine Frucht, vom Baum der Erkenntnis genommen, kann weder geheim noch in einer feierlichen großen Zeremonie wieder auf den Baum der Erkenntnis zurückgehängt werden. M i t anderen Worten: Das Wissen um die Atomwaffen und ihre Erzeugung bleibt uns erhalten; es w i r d nicht verkleinert, sondern vergrößert. Wir werden uns auch damit abfinden müssen, daß mit Drohung, selbst mit Drohung militärischer Gewalt, auf Dauer wohl kaum eine Atomwaffenproduktion kleinerer, zurecht als verantwortungslos eingestufter Staaten hintangehalten werden kann. Der Krieg und die Drohung mit Krieg sind m m einmal nicht die geeigneten Mittel zur Durchsetzung auch sehr berechtigter Forderungen. Müssen aber die gegenwärtige und alle nachgeborenen Generationen mit der atomaren Drohimg leben, dann ist für sie eine Bewußtseinsbildung für den Frieden und eine Erziehung zur persönlichen Friedfertigkeit unerläßlich. Diese grundsätzliche, wohl Generationen dauernde Ausrichtung der Erziehung des Menschen zum Frieden ersetzt oder vermindert nicht die Gegenwartsverantwortung derer, denen politische und geistige Führungsaufgaben zukommen, eine bedingungslose Friedenspolitik zu führen und die Waffengewalt ausschließlich und allein nur für jenen Fall i n Erwägung zu ziehen, wo es gilt, die Existenz und die Freiheit gegen einen ungerechten Angreifer zu verteidigen 10. Wohl aber soll diese grundsätzliche Ausrichtung auch des Einzelnen auf den Frieden die Friedenspolitik der Regierungen und auch der internationalen Organisationen erleichtern und stärken. Die Wandlung des Menschen, jedes einzelnen, zu einem Träger des Friedens ist jene Wandlung, die zur Schöpfungsharmonie zurückführt und gleichzeitig für ein Überleben der Menschheit i n einer Jahrhunderte oder Jahrtausende umfassenden Zukunft unerläßlich ist.

V m . Der Friede beginnt im eigenen Haus Das Bekenntnis zum Frieden verlangt unabweislich nach einem Ich-Bezug. „Überall i n der Welt muß jeder, der Krieg und sonstige Gewalt ehrlich ver10 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et Spes", Art. 79.

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neint, bei sich selbst beginnen, muß i n seinem Wirkungsbereich den Frieden verwirklichen". Frieden verwirklichen bedeutet nicht, einfach Ruhe herzustellen oder Ruhe zu halten. „Frieden verwirklichen bedeutet vielmehr, an jenem ,Werk der Gerechtigkeit 4 zu arbeiten, das allein als Frucht den dauernden Frieden bringt. Friedenstifter sind daher auch nicht nur jene, die i n einem weltweiten oder regionalen Krieg den Frieden wiederherstellen oder ihn vermitteln; Friedenstifter sind auch jene, die i n ihrem Wirkungsbereich durch die Verwirklichimg von Gerechtigkeit, durch den i n die Tat umgesetzten Respekt vor der Würde und der Freiheit des Menschen die Voraussetzungen für einen Friedenszustand sowohl für ihre Zeit als auch für die Zukunft schaffen" u . Auch Karl Jaspers drückte diese Überlegung mit den Worten aus: „Der Friede beginnt i m eigenen Haus. Der Weltfriede beginnt mit dem inneren Frieden der Staaten... Die Friedlosigkeit i n der Innenpolitik macht auch den Frieden i n der Außenpolitik unmöglich" 1 2 . Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II. bestätigt i n seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1982 den weiten Zusammenhang zwischen innerem und äußerem Frieden mit den Worten: „Die vorbehaltlose und praktizierte Achtung vor den unverlierbaren und unveräußerlichen Rechten des einzelnen Bürgers ist unabdingbare Voraussetzung dafür, daß Frieden i n einem Volk herrscht . . . I n einem Volk, wo jene Rechte nicht geschützt sind, ist sogar die Idee des allgemeinen Charakters des Rechts t o t . . . Ein solches Volk kann daher keinen inneren Frieden haben; es trägt i n sich selbst den Keim der Spaltung, der Zerrissenheit. Aus dem selben Grunde kann eine politische Gemeinschaft nur dann wirksam zum Aufbau des internationalen Friedens beitragen, wenn sie für sich selbst den Frieden erreicht hat, das heißt, wenn sie i m eigenen Bereich die Förderung der Menschenrechte ernstnimmt" 1 3 .

IX. Die Christen und der Frieden Das ethische Gebot, das persönliche Leben und das Leben der Gemeinschaften auf das Friedensziel auszurichten, trifft alle Menschen, unabhängig auch von ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit. Die Friedensbotschaft wendet sich daher auch an alle Menschen. Zurecht aber verweist der Heilige Vater i n dem die Botschaft abschließenden Abschnitt auf die aus dem Glauben an Christus und aus seinem Beispiel und seinen Worten sich ergebende besondere Friedenspflicht der Christen , auf ihre „große Verantwortung, dieu Rudolf Kirchschläger: Der Friede beginnt im eigenen Haus, Wien 1980, S. 18-19. 12 Karl Jaspers: Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1958. 13 Friedensbotschaft 1982, S. 17-18.

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Rudolf Kirchschläger

ses Geschenk des Friedens ins Werk zu setzen" u , und auf die Notwendigkeit, den Frieden stets aufs Neue von der Barmherzigkeit Gottes zu erbitten 1 5 . Gläubige Menschen werden von der Gesellschaft stärker als Nichtglaubende mit kritischen Augen beobachtet. Sie werden nicht nur selbst, sondern an ihnen w i r d auch ihr Glaube gemessen. Die Friedensarbeit und die persönliche Friedfertigkeit der Christen ist daher auch entscheidend für die „Glaubwürdigkeit" der Friedenslehre der Kirche. So gesehen w i r d die Verantwortung, die auf allen Gliedern der Kirche ruht, unendlich groß.

X. Die Kirchen und der Frieden Wenden w i r wirklich alle Friedenshaltungen, die w i r von der Welt verlangen, auch i m Leben der Kirche an, alle Liebe, alles Suchen nach Gerechtigkeit und alle Gesprächsbereitschaft? Tragen die christlichen Kirchen der Bitte Jesu Christi an den Vater, „daß alle eins seien" 1 6 , wirklich Rechnung und geben sie der Welt ein Beispiel einer echten und auf göttliches Geschenk beruhenden Friedensgesinnung, oder verhalten sie sich i m Rahmen der Ökumene gar nicht so unähnlich der Praxis der Staaten, die miteinander zu reden aufhören, wenn zwischen ihnen eine Streitfrage auftritt? Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II. selbst verweist i n der Friedensbotschaft darauf, daß „die Glieder der Kirche sich voll bewußt sind, daß sie oft noch Sünder sind, auch i n diesem Bereich" 1 7 . Wir können auf dem Weg zu einem Frieden i n der Welt, welcher von der Friedfertigkeit und der Friedensbereitschaft des einzelnen bis hin zur Friedfertigkeit und Friedensbereitschaft der Völker führt, die Kirche und die Religionsgemeinschaften nicht beiseite stehen lassen. Sie prägen ihrer Sendung gemäß das Denken des Menschen. Ihr Beitrag für den Frieden als Annahme des Geschenkes Gottes durch die Menschen w i r d entscheidend sein. Der Heilige Vater hat wohl aus dieser Verantwortimg heraus zum Friedensgebet an Assisi am 12. Oktober 1986 eingeladen. Verbinden daher auch wir, wissend, daß Gott dem Irrenden und Fehlenden die versöhnende Hand reicht, mit dem guten Vorsatz für die Zukunft ein Gebet, das sich i n den „Gebeten der Hoffnung" von Thomas Suavet findet und da lautet:

14 15 iß 17

Friedensbotschaft 1982, S. 21. Friedensbotschaft 1982, S. 25. Joh 17,21. Friedensbotschaft 1982, S. 21.

Frieden: Gottes Geschenk, den Menschen anvertraut „Herr schenke uns jene Liebe, die den Willen zur Gerechtigkeit in sich trägt. Denn ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden." 18

18 Thomas Suavet: Gebete der Hoffnung, Graz 2 1963, S. 156. 7 Johannes Paul n.

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1983

„DER DIALOG FÜR DEN FRIEDEN: EINE FORDERUNG AN UNSERE ZEIT"

1. Für den 16. Weltfriedenstag am Beginn des neuen Jahres 1983 lege ich euch diese Botschaft vor zum Thema „Der Dialog für den Frieden: eine Forderung an unsere Zeit". Ich richte sie an alle, die teilhaben an der Verantwortimg für den Frieden: an die Regierungen der Völker, an die Beamten internationaler Gremien, an die Politiker und die Diplomaten, aber auch an die Bürger eines jeden Landes. Alle sind sie ja von der Notwendigkeit betroffen, den wahren Frieden vorzubereiten, ihn zu erhalten oder wiederherzustellen, und dies auf fester und gerechter Grundlage. Nun bin ich aber zutiefst davon überzeugt, daß der Dialog — ein echter Dialog — eine wesentliche Bedingung für einen solchen Frieden ist. Ja, dieser Dialog ist notwendig, nicht nur opportun; er ist schwierig, aber möglich, trotz der Hindernisse, die wir, realistisch gesehen, dabei beachten müssen. Er stellt deshalb eine echte Herausforderung dar, die ich Euch bitte anzunehmen. Ich tue das i n der alleinigen Absicht, um selbst und zusammen mit dem Heiligen Stuhl einen Beitrag zum Frieden zu leisten; denn als dem erstverantwortlichen Erben der Botschaft Christi, die vor allem eine Botschaft des Friedens für alle Menschen ist, liegt mir das Geschick der Menschheit sehr am Herzen. Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Dialog 2. Ich bin sicher, hiermit die grundlegende Sehnsucht der Männer und Frauen unserer Zeit zu treffen. Wird dieses Verlangen nach dem Frieden nicht von allen Regierungen i n ihren Wünschen an ihre Nation oder i n ihren Erklärungen an die Adresse anderer Staaten feierlich bekräftigt? Welche politische Partei würde es wagen, die Suche nach dem Frieden nicht i n ihr Programm aufzunehmen? Und was die internationalen Organisationen betrifft, so sind sie doch gegründet worden, um den Frieden zu fördern und zu sichern; und sie behalten dieses Ziel trotz aller Mißerfolge bei. Auch die öffentliche Meinung entscheidet sich für friedliche Lösungen, wenn sie nicht i*

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Papst Johannes Paul II.

durch Leidenschaften wie Stolz und ungerechtfertigte Verbitterung künstlich aufgeputscht ist. Ja, immer zahlreichere Bewegungen setzen sich dafür ein, wenn auch nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit und Aufrichtigkeit, das Bewußtsein dafür zu wecken, daß nicht nur jeder Krieg, sondern auch alles, was zum Krieg führen kann, beseitigt werden muß. Die Bürger i m allgemeinen wünschen sich, daß ein Klima des Friedens ihr Bemühen um Wohlergehen sichert, vor allem wenn sie zu ringen haben mit einer wirtschaftlichen Krise, die alle Werktätigen bedroht. Man muß jedoch mit dieser zum Glück weitverbreiteten Sehnsucht bis zur letzten Konsequenz gehen: den Frieden erreicht man nicht, den Frieden behält man nicht, ohne die entsprechenden Mittel dafür anzuwenden. Das alles überragende Mittel ist aber, den Weg des Dialogs zu beschreiten, das heißt, überall dort, wo der Frieden bedroht oder schon gebrochen ist, i n den Familien, i n der Gesellschaft, zwischen den Staaten oder zwischen den Blökken von Staaten, i n aller Geduld die Methoden und Phasen des Dialogs einzubringen. Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt die hohe Bedeutung des Dialogs 3. Die Erfahrung der Geschichte, auch aus jüngster Zeit, bezeugt tatsächlich, daß der Dialog für einen wirklichen Frieden unerläßlich ist. M i t Leichtigkeit könnte man Fälle aufzählen, i n denen der bewaffnete Konflikt unausweichlich erschien, wo aber der Krieg dennoch vermieden oder abgebrochen wurde, weil die streitenden Parteien an den Wert des Dialogs geglaubt und ihn auch miteinander über lange und ehrliche Verhandlungen hinweg geführt haben. Wenn es demgegenüber zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen ist—entgegen einer ziemlich verbreiteten Meinung kann man leider mehr als einhundertfünfzig bewaffnete Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg aufzählen —, dann deshalb, weil ein Dialog tatsächlich nicht stattgefunden hat oder weil er verfälscht, hinterhältig geführt oder bewußt eingeschränkt worden ist. Das Jahr, das gerade zu Ende geht, hat einmal mehr das traurige Schauspiel von Gewalt und Krieg geboten; Menschen haben gezeigt, daß sie es vorziehen, Waffen zu gebrauchen, anstatt eine Verständigung zu suchen. Ja, neben einigen Hoffnungszeichen w i r d das Jahr 1982 für viele Familien Trauer und Zerstörung hinterlassen, ein bitteres Gefühl von Tränen und Tod.

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Der Dialog für den Frieden ist notwendig 4. Wer wollte es also wagen, solche Kriege, von denen einige noch i m Gange sind, oder solche Kriegszustände oder die Bitterkeit, welche die Kriege zurücklassen, als Kleinigkeit anzusehen? Wer hätte den Mut, sich ohne Zittern noch viel ausgedehntere und schrecklichere Kriege, wie sie fortwährend drohen, vorzustellen? Muß man nicht alles tun , um den Krieg zu vermeiden, auch den „begrenzten Krieg", wie er von denjenigen beschönigend genannt wird, die nicht direkt davon betroffen sind, angesichts des Übels, das jeder Krieg darstellt, seines Preises an Menschenleben, an Leiden, an Zerstörung von all dem, was für das Leben und die Entwicklung des Menschen notwendig wäre, ohne die Störung der unerläßlichen Ordnimg und des sozialen Gefüges zu rechnen, die Vertiefung von Mißtrauen und Haß gegen den Nächsten, wie sie die Kriege mit sich bringen? Und heute, da selbst die konventionellen Kriege so mörderisch werden und man die dramatischen Folgen kennt, die ein Atomkrieg haben würde, ist die Notwendigkeit, den Krieg abzubrechen oder jede Kriegsdrohung zu beseitigen, noch drängender. U m so grundlegender erscheint folglich die Notwendigkeit, zum Mittel des Dialogs zu greifen und die dafür geforderte politische Tugend zu üben, um so den Einsatz der Waffen zu vermeiden.

Der Dialog für den Frieden ist möglich 5. Es gibt jedoch heute Menschen, die sich für Realisten halten und deshalb bezweifeln, daß der Dialog möglich und wirksam ist, wenigstens solange die Positionen so extrem und unvereinbar sind, daß sie ihnen keinen Raum für eine Verständigung zu lassen scheinen. Wie viele negative Erfahrungen und wiederholte Mißerfolge scheinen eine solche von Enttäuschung geprägte Sicht zu stützen! Und dennoch, der Dialog für den Frieden ist möglich, immer wieder möglich. Das ist keine Utopie. Selbst wo er unmöglich erschien und man zu einer kriegerischen Auseinandersetzung gekommen ist, ist es dann nicht auf jeden Fall nötig gewesen, nach den Zerstörungen des Krieges, der zwar die Stärke des Siegers gezeigt, aber i m Bereich der umstrittenen Rechte nichts gelöst hat, sich erneut um einen Dialog zu bemühen? U m es klar zu sagen: die Überzeugung, die ich hier ausspreche, beruht nicht auf diesem fatalen Umstand, sondern gründet auf einer Wirklichkeit, auf der tiefsten Natur des Menschen. Wer den christlichen Glauben teilt, ist davon noch leichter überzeugt, auch wenn er zugleich an die angeborene Schwäche und Sünde glaubt, die des Menschen Herz von Anfang an prägen. Jeder Mensch aber, ob gläubig

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oder nicht, kann und soll bei allem klaren Wissen um eine mögliche Verhärtung seines Bruders genügend Vertrauen bewahren i n den Menschen und seine Fähigkeit, vernunftgemäß zu handeln, i n seinen Sinn für das Gute, für Recht und Gerechtigkeit, auf seine Fähigkeit, zu hoffen und den Bruder zu lieben — die niemals vollständig entstellt werden —, um auf das Mittel des Dialogs und seine mögliche Wiederaufnahme zu setzen. Ja, die Menschen sind letztlich durchaus fähig, Spaltungen, Interessenkonflikte und sogar Gegensätze zu überwinden, die tiefgreifend zu sein scheinen, vor allem wenn jede Seite davon überzeugt ist, eine gerechte Sache zu verteidigen, wenn sie nur an die Tugend des Dialogs glauben und bereit sind, sich als Menschen zu begegnen, um eine friedliche und vernünftige Lösimg ihrer Konflike zu suchen. Ferner dürfen sie sich nicht durch wirkliches oder nur scheinbares Scheitern entmutigen lassen. Schließlich müssen sie sich dazu bereitfinden, immer wieder neu einen wirklichen Dialog anzubieten — wobei sie die Hindernisse aus dem Weg schaffen und die Fehler beim Dialog, von denen ich später noch sprechen werde, vermeiden — und diesen einzigen Weg, der zum Frieden führt, mit all seinen Anforderungen und Bedingungen bis zum Ende zu durchschreiten. Die Tugenden des wahren Dialogs 6. Ich halte es darum für nützlich, an dieser Stelle die Eigenschaften eines wahren Dialogs i n Erinnerung zu rufen. Sie gelten vor allem für den Dialog zwischen einzelnen Personen; aber ich denke auch und besonders an den Dialog zwischen sozialen Gruppen, zwischen politischen Kräften i n einer Nation, zwischen Staaten innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Sie gelten aber ebenso für den Dialog zwischen den umfangreichen Gruppierungen von Menschen, die sich i m ethischen, kulturellen, ideologischen oder religiösen Bereich unterscheiden und einander gegenüberstehen. Denn die Analytiker der Kriegsursachen geben zu, daß i n diesen Bereichen die meisten Konflikte ihre Wurzeln haben, wobei sich diese Konflikte dann auch mit den gegenwärtigen großen Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd verbinden. Der Dialog ist ein zentrales und unerläßliches Element i m ethischen Denken der Menschen, wie auch immer sie geartet sein mögen. Unter dem Aspekt von Austausch und Mitteilung unter den Menschen, wie die Sprache sie ermöglicht, ist der Dialog i n der Tat ein gemeinsam erstrebtes Ziel. — I m Grunde geht er aus von der Suche nach dem Wahren, dem Guten und dem Gerechten für jeden Menschen, für jede Gruppe und jede Gesell-

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schaft, sei es auf der Seite, mit der sich jemand solidarisiert, oder auch auf der sogenannten Gegenseite. — Er verlangt also i n erster Linie Offen-sein und Annehmen, das heißt, daß jeder seine Lage darlegt, aber auch die Darlegung der Situation, wie der andere sie gibt, anhört und aufrichtig nachfühlt, und zwar mit seinen Problemen, mit seinen Rechten, mit den Ungerechtigkeiten, die er empfindet, und den vernünftigen Lösungen, die er vorschlägt. Wie könnte sich Frieden einstellen, wenn eine der Seiten sich nicht einmal die Mühe macht, sich die Lebensbedingungen der anderen vor Augen zu halten? — Dialog setzt also voraus, daß jeder auf dieses Anders-sein, diese Besonderheit des anderen eingeht, daß er genau erfaßt, inwieweit er sich vom anderen unterscheidet, und dem Rechnimg trägt, auch wenn das zu Spannungen führen sollte. Dabei darf man natürlich nicht aus Feigheit oder Zwang das aufgeben, was man als wahr und gerecht erkennt; das gäbe einen schlechten Kompromiß. Erst recht darf man den anderen nicht zu einem Objekt machen; vielmehr ist er als Subjekt mit Verstand, Freiheit und Verantwortung zu achten. — Dialog ist zugleich die Suche nach dem, was den Menschen immer gemeinsam ist —, auch i n Spannungen, Gegensätzen und Konflikten. In diesem Sinne macht er den anderen zum Nächsten. Er läßt dessen Beitrag annehmen, die Verantwortung von Wahrheit und Gerechtigkeit mit ihm teilen. Er läßt alle sinnvollen Formeln einer ehrenhaften Verständigung vorschlagen und studieren und dabei die gerechte Verteidigung der Interessen und der Ehre der einen Seite verbinden mit dem von der Gerechtigkeit ebenso geforderten Verstehen und Achten der Gründe der anderen sowie mit den Forderungen des beiden gemeinsamen allgemeinen Wohls. Wird es übrigens nicht immer deutlicher, daß sich alle Völker der Erde wirtschaftlich, politisch und kulturell i n gegenseitiger Abhängigkeit befinden? Wer sich dieser Solidarität entziehen wollte, würde bald sich selber schaden. — Schließlich ist der wahre Dialog die Suche nach dem Guten mit friedlichen Mitteln; er ist der unbeirrbare Wille, alle Möglichkeiten von Verhandlung, Vermittlung oder Schiedsspruch zu versuchen und das Verbindende über das Trennende und über den Haß siegen zu lassen. Er ist Anerkennimg der unveräußerlichen Würde des Menschen. Er beruht auf der Achtimg des menschlichen Lebens. Er setzt alles auf die Sozialnatur der Menschen, auf ihre Berufung, fortwährend unter wachsender Annäherung i n Verstand, Wille und Herz gemeinsam unterwegs zu sein zu ihrem vom Schöpfer gegebenen Ziel: die Erde zu einer würdigen Heimat für alle zu machen.

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Als politische Tugend geübt, würde ein solcher Dialog ganz gewiß Früchte des Friedens bringen. Mein verehrter Vorgänger Papst Paul VI. hat dem Dialog einen großen Abschnitt seiner ersten Enzyklika „Ecclesiam suam" gewidmet. Er schrieb dort: „Wer einen Dialog b e g i n n t . . . , der imparteiisch, objektiv und redlich ist, erklärt sich eben dadurch für einen freien und ehrenhaften Frieden. Verstellung, Rivalität, Trug und Verrat sind dabei ausgeschlossen" (vgl. AAS 56,1964, S. 654). Diese Tugend des Dialogs verlangt von den verantwortlichen Politikern unserer Tage viel Klarheit, Redlichkeit und Mut — nicht nur anderen Völkern gegenüber, sondern auch gegenüber der öffentlichen Meinung ihres eigenen Volkes. Oft w i r d sie eine wahre Bekehrung voraussetzen. Aber es gibt angesichts der Kriegsgefahr keine andere Wahl. Und noch einmal: sie ist keine Illusion. Es wäre leicht, Zeitgenossen zu nennen, die sich i n der praktischen Übung dieser Tugend ausgezeichnet haben. Hindernisse für den Dialog, falsche Formen von Dialog 7. Es scheint mir hilfreich, nun gleichsam als Gegenstück einige besondere Schwierigkeiten zu nennen, die sich dem Friedensdialog entgegenstellen können. Ich meine hier nicht die Schwierigkeiten, die naturgemäß mit dem politischen Dialog gegeben sind, wie zum Beispiel die häufige Schwierigkeit, entgegengesetzte konkrete Interessen miteinander zu vereinbaren; oder jene andere, unzumutbare Lebensbedingungen bewußt zu machen, ohne daß man die andere Seite eines regelrechten Unrechts bezichtigen könnte. Ich denke vielmehr an das, was den normalen Dialogprozeß verhärtet. Ich gab schon zu verstehen, daß der Dialog blockiert w i r d durch die Vorentscheidung, kein Zugeständnis machen zu wollen, durch den Mangel an Zuhören, durch die Anmaßung, man selbst sei das alleinige Maß der Gerechtigkeit. Hinter dieser Haltung kann sich ganz einfach der blinde und taube Egoismus eines Volkes verbergen oder — häufiger — der Machtwille seiner Führer. Manchmal fällt sie übrigens mit einer übertriebenen und überholten Auffassimg von der Souveränität und Sicherheit des Staates zusammen. Dieser droht dabei zum Objekt eines Kultes zu werden, der nicht mehr diskutiert werden darf und der die verwerflichsten Maßnahmen rechtfertigt. Gestützt auf die mächtigen Instrumente, über welche die Propaganda verfügt, kann dieser K u l t — nicht zu verwechseln mit einer wohlverstandenen Vaterlandshebe — das Urteilsvermögen und sittliche Empfinden auch der wachsten Bürger trüben und zum Krieg verfuhren.

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Erst recht ist hier die bewußte taktische Lüge zu nennen, welche die Sprache mißbraucht, raffinierteste Techniken der Propaganda einsetzt, den Dialog zu Fall bringt und die Aggressionen anheizt. Solange schließlich heute manche Beteiligten von Ideologien leben, die allen Bekundungen zum Trotz im Widerspruch stehen zur Würde der menschlichen Person, zu ihren gerechten Ansprüchen nach den gesunden Prinzipien der Vernunft, des Naturrechts und des ewigen Gesetzes, von Ideologien, die i m Kampf die Triebkraft der Geschichte sehen, i n der Gewalt die Quelle des Rechts, i n Feindbildern das Abc der Politik, solange verläuft der Dialog stockend und steril, oder ist, wenn er überhaupt noch stattfindet, i n Wirklichkeit nur äußerlich und sinnentleert. Er wird dann äußerst schwierig, um nicht zu sagen, unmöglich. Eine weitgehende Kommunikationssperre zwischen den Ländern und Blöcken ist die Folge; sogar die internationalen Gremien sind gelähmt; das Scheitern des Dialogs droht zum Rüstungswettlauf zu führen. Aber selbst beim Eindruck einer solchen Blockierung i m Maße, wie sich die Beteiligten mit solchen Ideologien identifizieren, erscheint der Versuch eines vernünftigen Dialogs zur Entkrampfung der Situation und zur Arbeit an möglichen Friedensschritten in einzelnen Punkten immer noch notwendig. Dabei sollte man mit dem gesunden Empfinden rechnen, mit der Einsicht i n die Gefahr für alle und mit den Idealen, welche großenteils die Völker selbst bewegen.

Der Dialog auf nationaler Ebene 8. Der Friedensdialog muß zunächst auf nationaler Ebene geführt werden. Er soll soziale Konflikte lösen und das Gemeinwohl fördern. Unter Achtimg der Interessen der verschiedenen Gruppen ist durch den Dialog i n der Ausübung der demokratischen Freiheiten und Pflichten aller ein dauerndes friedliches Zusammenwirken möglich, gestützt auf Strukturen der Beteiligung und auf vielfältige Instanzen des Ausgleichs zwischen Unternehmern und Arbeitern. Die kulturellen, völkischen und religiösen Gruppen, die eine Nation bilden, sind dabei zu beachten und einzubeziehen. Wo der Dialog zwischen Regierung und Volk unglücklicherweise fehlt, ist der soziale Frieden bedroht oder sogar abwesend; das ist wie ein Kriegszustand. Aber Geschichte und Gegenwart zeigen, daß es vielen Staaten gelang und immer wieder gelingt, sich wirkungsvolle Mittel des Dialogs zu schaffen und damit ein echtes und dauerhaftes Zusammenwirken zu erreichen, das die bei ihnen entstehenden Konflikte löst oder gar verhindert. Sie geben sich i m übrigen Gesetze in stetiger Entwicklung, für deren Beachtung geeignete, dem Gemeinwohl entsprechende Behörden sorgen.

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Der Dialog auf internationaler

Ebene

9. Wenn sich der Dialog auf nationaler Ebene als fähig erwiesen hat, zu Ergebnissen zu führen, warum sollte es nicht auch auf internationaler Ebene so sein? Sicher, die Probleme sind dort komplizierter, die Beteiligten und die Interessen, um die es geht, sind zahlreicher und verschiedenartiger. Aber auch hierfür ist und bleibt der redliche und geduldige Dialog das vorrangige Mittel. Wo er zwischen den Nationen fehlt, muß man alles daransetzen, ihn zu beginnen. Wo er schwach ist, muß man ihn verbessern. Niemals dürfte man den Dialog abtun und sich zur Lösung von Konflikten der Gewalt der Waffen anvertrauen. Schwere Verantwortung liegt dabei nicht nur auf den sich feindlich gegenüberstehenden Parteien, deren Leidenschaften schwer zu meistern sind, sondern ebenso und noch mehr auf den mächtigeren Staaten, die jenen nicht helfen, den Dialog wieder aufzunehmen, sie geradezu zum Kriege drängen oder durch den Waffenhandel dazu verführen. Dem Dialog zwischen den Nationen muß die starke Überzeugung zugrunde Hegen, daß das Wohl eines Volkes letztlich nicht gegen das Wohl eines anderen Volkes zu erreichen ist. Alle haben ja dieselben Rechte, dieselben Ansprüche auf ein würdiges Leben für ihre Bürger. Wesentlich ist auch, weitere Fortschritte zu machen i m Überbrücken der überkommenen künstlichen Klüfte und Gegensätze zwischen den Blöcken. Vor allem aber muß man der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit der Nationen Rechnung tragen. Der Gegenstand des internationalen

Dialogs

10. Wenn man den Gegenstand des internationalen Dialogs näher bestimmen will, so kann man sagen, daß er sich besonders auf die Menschenrechte, auf die Gerechtigkeit unter den Völkern, auf die Wirtschaft, die Abrüstung und das internationale Gemeinwohl beziehen muß. So soll der Dialog darauf ausgerichtet sein, daß die Menschen und die menschlichen Gruppen in ihrer Besonderheit, i n ihrer Ursprünglichkeit — mit dem dafür geforderten Freiheitsraum — und vor allem in der Ausübung ihrer Grundrechte anerkannt werden. Man kann i n dieser Hinsicht auf eine internationale Rechtsordnung hoffen, die auf den Hilferuf jener besser hört, deren in dieser Hinsicht auf eine internationale Rechtsordnung die über die wirksamen und geeigneten Mittel verfügt, um sich Achtung zu verschaffen. Wenn Ungerechtigkeit i n all ihren Formen die erste Quelle für Gewalt und Krieg ist, dann ist natürlich der Dialog für den Frieden grundsätzlich vom Dialog für die Gerechtigkeit nicht zu trennen, der zugunsten jener Völker geführt wird, die von anderen benachteiligt und beherrscht werden.

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Der Dialog für den Frieden schließt mit moralischer Notwendigkeit auch eine Diskussion über die Regeln ein, die das Wirtschaftsleben bestimmen. Denn die Versuchimg zu Gewalt und Krieg w i r d stets i n den Gesellschaften vorhanden sein, i n denen die Habgier und der Wettlauf um die materiellen Güter eine wohlhabende Minorität dazu bringen, der großen Mehrheit der Menschen die Erfüllung ihrer elementarsten Rechte auf Nahrung, Erziehung, Gesundheit und Leben zu verweigern (vgl. IL Vatikan. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 69). Dies gilt auf der Ebene jedes einzelnen Landes, aber auch i n den Beziehungen zwischen den Ländern, vor allem wenn die bilateralen Beziehungen vorherrschend bleiben. Hier ermöglicht die Öffnung zu multilateralen Beziehungen, besonders i m Rahmen der internationalen Organisationen, einen Dialog, der weniger von Ungleichheit belastet ist und somit besser zur Gerechtigkeit führen kann. Natürlich umfaßt der Gegenstand des internationalen Dialogs auch den gefährlichen Rüstungswettlauf mit dem Ziel, ihn schrittweise zu verringern, wie ich es i n meiner Botschaft an die UNO i m vergangenen Juni angeregt habe und wie es auch jener anderen Botschaft entspricht, welche die Gelehrten der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften i n meinem Namen den Verantwortlichen der Nuklearmächte überreicht haben. Statt den Menschen zu dienen, richtet sich die Wirtschaft auf militärische Zielsetzungen aus. Entwicklung und Wohlstand werden der Sicherheit untergeordnet. Wissenschaft und Technik degradieren sich zu Gehilfen des Krieges. Der Heilige Stuhl w i r d nicht aufhören, mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hinzuweisen, den Rüstungswettlauf durch fortschreitende Verhandlungen unter Wahrung der Gegenseitigkeit zu verlangsamen. Er w i r d weiter alle Schritte, selbst die kleinsten, ermutigen, die i n diesem so entscheidenden Bereich einen vernünftigen Dialog bilden. Der Gegenstand des Dialogs für den Frieden darf sich aber nicht auf die Anprangerung des Rüstungswettlaufs beschränken. Es geht vielmehr darum, eine gerechtere internationale Ordnung zu suchen, einen Konsens über die gleichmäßigere Verteilung der Güter, der Dienstleistungen, des Wissens und der Information sowie die feste Entschlossenheit herbeizuführen, all dies auf das Gemeinwohl hinzuordnen. Ich bin mir bewußt, daß ein solcher Dialog, zu dem auch der Nord-Süd-Dialog gehört, sehr komplex ist; er muß aber entschlossen fortgeführt werden, um die Bedingungen für einen wahren Frieden an der Schwelle des 3. Jahrtausends vorzubereiten. Aufruf an die Verantwortlichen 11. Nach diesen Überlegungen möchte meine Botschaft vor allem ein Aufruf sein, die Herausforderung des Friedensdialogs anzunehmen.

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Ich richte ihn zuerst an euch, die Leiter von Staaten und Regierungen! Ermöglicht, damit euer Volk einen wahren sozialen Frieden kenne, alle Bedingungen für den Dialog und für ein geordnetes Vorgehen, die — wenn einmal richtig verwirklicht — das Gemeinwohl der Nation i n Freiheit und Unabhängigkeit nicht behindern, sondern es im Gegenteil auf lange Sicht hin fördern! Führt diesen Dialog mit den anderen Ländern von gleich zu gleich und helft den Konfliktparteien, die Wege des Dialogs, einer vernünftigen Aussöhnung und eines gerechten Friedens zu finden! Meinen Aufruf richte ich zugleich an euch Diplomaten, deren vornehme Aufgabe unter anderem darin besteht, die strittigen Fragen zu erörtern und sie durch Dialog und Verhandlungen zu lösen zu versuchen, um zu verhindern, daß man zu den Waffen greift, oder um an die Stelle des Militärs zu treten. Eine Arbeit von Geduld und Ausdauer, die der Heilige Stuhl um so mehr schätzt, als auch er diplomatische Beziehungen unterhält, in denen er sich darum bemüht, daß der Dialog als das geeignetste Mittel zur Überwindung der Schwierigkeiten angenommen wird. Vor allem möchte ich euch, den Verantwortlichen und Mitgliedern der internationalen Organisationen, und euch, die ihr i n internationalen Gremien arbeitet, erneut mein Vertrauen bekunden! Im Lauf des letzten Jahrzehnts sind eure Organisationen allzu oft zum Gegenstand von Manipulationsversuchen durch Nationen geworden, die solche Einrichtungen auszunutzen trachten. Dennoch bieten die zahlreichen gegenwärtigen gewalttätigen Zusammenstöße, Spaltungen und Blokkierungen, auf die die bilateralen Beziehungen stoßen, den großen internationalen Organisationen den Anlaß, in ihrer eigenen Tätigkeit eine qualitative Veränderung vorzunehmen, eventuell sogar in einigen Punkten ihre Strukturen zu erneuern, um so den neuen Realitäten Rechnung zu tragen und eine wirkliche Kraft zu werden. Seien eure Organisationen regional oder weltweit, sie haben eine außergewöhnliche Chance, die genutzt werden muß, nämlich jene Aufgabe in ihrer ganzen Fülle zurückzugewinnen, die ihnen von ihrem Ursprung, ihrer Charta und ihrem Mandat her zukommt: auf vorrangige Weise Ort und Instrument für einen wahren Friedensdialog zu werden. Statt sich von Pessimismus und Entmutigung bestimmen zu lassen, welche die Kräfte lähmen, haben sie die Möglichkeit, sich vielmehr als Orte der Begegnimg zu erweisen, wo i n kühnster Weise die Praktiken diskutiert werden können, die gegenwärtig i n den politischen, wirtschaftlichen, monetären und kulturellen Beziehungen vorherrschen. Ebenso richte ich einen besonderen Aufruf an euch, die ihr in den Massenmedien arbeitet! Die schmerzlichen Ereignisse, die die Welt i n der letzten Zeit erlebt hat, haben die Bedeutung einer gut orientierten öffentlichen Meinung dafür bekräftigt, daß ein Konflikt nicht i n einen Krieg ausartet. Denn

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die öffentliche Meinung kann kriegerische Bestrebungen bändigen oder i m Gegenteil diese bis zur Verblendung steigern. Als Gestalter von Radio- und Fernsehsendungen sowie von Zeitungen spielt ihr in diesem Bereich eine immer einflußreichere Rolle. Ich ermutige euch, das Gewicht eurer Verantwortimg zu sehen und die Rechte und Probleme und die Einstellung jeder Seite mit größer Objektivität aufzuzeigen, um dadurch das Verständnis und den Dialog unter den Gruppen, den Ländern und den Kulturen zu fördern. Schließlich muß ich mich an jeden einzelnen Mann und jede einzelne Frau sowie an euch Jugendliche wenden: Ihr habt vielfältige Gelegenheiten, die Barrieren des Egoismus, des Unverständnisses und der Aggression durch die Art und Weise abzubauen, wie ihr täglich den Dialog pflegt i n euren Familien, eurem Dorf, eurem Wohnvierel, i n den Vereinen eurer Stadt, eurer Region, wobei ich die nichtstaatlichen Organisationen eigens erwähnen möchte. Der Friedensdialog ist die Aufgabe aller.

Besondere Beweggründe für den Christen, die Herausforderung des Friedensdialogs anzunehmen 12. Und nun ermahne ich besonders euch Christen, euch entsprechend eurer jeweiligen Verantwortung an diesem Dialog voll zu beteiligen, ihn i m Geist der Bereitschaft, der Freimütigkeit und der Gerechtigkeit, den die Liebe Christi verlangt, fortzusetzen und ihn mit Ausdauer und Hoffnung, die euch der Glaube möglich macht, immer wieder neu aufzugreifen. Ihr wißt auch um die Notwendigkeit der Bekehrung und des Gebetes; denn das Haupthindernis für die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Frieden findet sich im Herzen des Menschen, in der Sünde (vgl. Gaudium et spes, Nr. 10), so wie im Herzen des Kain, der sich dem Dialog mit seinem Bruder Abel verweigert hat (vgl. Gen 4, 6-9). Jesus hat uns gelehrt, wie wir hören und teilen und auch für die anderen das tun sollen, was w i r für uns selbst wünschen, ferner wie w i r die Differenzen beilegen sollen, solange wir noch zusammen auf dem Wege sind (vgl. Mt 5,25) und wie w i r verzeihen sollen. Vor allem aber, er ist gekommen, um uns durch seinen Tod und seine Auferstehung von der Sünde zu befreien, die sich uns entgegenstellt, uns seinen Frieden zu geben und die Mauer niederzureißen, die die Völker trennt. Aus diesem Grund hört die Kirche nicht auf, den Herrn darum zu bitten, daß er den Menschen seinen Frieden schenke, wie es die Botschaft des letzten Jahres hervorgehoben hat. Die Menschen sind jetzt nicht mehr dazu verurteilt, einander unverständlich gegenüberzustehen oder sich sogar zu entzweien wie i n Babel (vgl. Gen 11,7-9). Beim Pfingstfest i n Jerusalem läßt der Heilige Geist die ersten Jünger des Herrn, ungeachtet der Verschiedenheit ihrer

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Sprache, den königlichen Weg des Friedens i n der Brüderlichkeit wiederfinden. Die Kirche bleibt der Zeuge für diese große Hoffnung. #



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Mögen die Christen sich immer mehr ihrer Berufung bewußt werden, gegen Sturm und Brandung die demütigen Hirten jenes Friedens zu sein, den Gott den Menschen i n der Weihnacht anvertraut hat. Mögen zusammen mit ihnen alle Menschen guten Willens diese Herausforderung für unsere Zeit annehmen, selbst i n schwierigsten Situationen alles zu tun, um den Krieg zu vermeiden und sich darum mit wachsender Überzeugung für den Weg einzusetzen, auf dem die Bedrohung abgewendet werden kann: den Dialog für den Frieden! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1982. JOANNES PAULUS PP. H

DER DIALOG FÜR D E N FRIEDEN: EINE FORDERUNG A N UNSERE ZEIT Von Helmut Liedermann *

Zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Jänner 1983 verkündete Seine Heiligkeit, Papst Johannes Paul IL eine Botschaft zum Thema „Der Dialog für den Frieden — eine Forderung an unsere Zeit". Eine Botschaft, gerichtet an alle, die teilhaben an der Verantwortimg für den Frieden: an die Regierungen der Völker, an die Beamten internationaler Gremien, an die Politiker und die Diplomaten, aber auch an die Bürger eines jeden Landes. Zutiefst ist der Papst überzeugt davon, daß ein echter Dialog eine Vorbedingung für den Frieden ist. 1

I. Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Dialog Damit trifft der Papst die grundlegende Sehnsucht der Menschen unserer Zeit. Wird dieses Verlangen nach dem Frieden nicht von allen Regierenden in ihren Wünschen an ihre Nation oder i n ihren Erklärungen an die Adresse anderer Staaten feierlich bekräftigt? Und sind nicht die internationalen Organisationen gegründet worden, um den Frieden zu fördern und zu sichern? Immer stärker w i r d der Ruf, nicht nur jeden Krieg, sondern auch alles, was zum Krieg führen kann, hintanzuhalten. Man muß jedoch, so weiter der Papst, bis zur letzten Konsequenz gehen: den Frieden erreicht man nicht und den Frieden bewahrt män nicht, ohne die entsprechenden Mittel dafür einzusetzen. Das alles überragende Mittel * Botschafter Dr. Helmut Liedermann war Leiter der österreichischen Delegation bei der Redaktionsphase der KSZE in Genf und beim ersten Folgetreffen in Belgrad. Anschließend österreichischer Botschafter in Jugoslawien und in der Sowjetunion. Er hat die Funktion des Exekutivsekretärs des Wiener Treffens der Vertreter der Teilnehmerstaaten der KSZE und des Gipfelvorbereitungsausschusses (1990) bekleidet und ist derzeit Exekutivsekretär der Wiener Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen sowie Generalsekretär der Open Skies-Konferenz. Der Verfasser gibt in dem Beitrag seine persönliche Auffassung wieder. i Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul IL zur Feier des Weltfriedentages am 1. Jänner 1983, Absatz 1.

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Helmut Liedermann

hierfür ist der Weg des Dialoges: das heißt, überall dort, wo der Friede bedroht oder schon gebrochen ist, i n den Familien, der Gesellschaft, zwischen den Staaten oder zwischen Blöcken von Staaten, in aller Geduld die Methoden und Phasen des Dialoges einzubringen.

II. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen die hohe Bedeutung des Dialoges M i t Leichtigkeit könnte man Fälle aufzählen, die bezeugen, daß der Dialog für einen wirklichen Frieden unerläßlich ist. Kriege wurden vermieden oder abgebrochen, weil die Streitparteien an den Wert des Dialoges geglaubt haben. Wenn es demgegenüber seit dem Zweiten Weltkrieg dennoch zu vielen bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen ist, dann deshalb, weil kein Dialog stattgefunden hat oder er verfälscht, unaufrichtig geführt oder bewußt eingeschränkt worden ist.

m . Der Dialog für den Frieden ist notwendig Es muß alles geschehen, den Krieg zu vermeiden, auch den „begrenzten Krieg", wie er von denjenigen beschönigend genannt wird, die nicht direkt davon betroffen sind, angesichts des Übels, das jeder Krieg darstellt, seiner Opfer an Menschenleben, an Leiden, an Zerstörung von all dem, was für das Leben und die Entwicklung des Menschen notwendig wäre — ohne die Störung der unerläßlichen Ordnung und des sozialen Gefüges zu rechnen, die Vertiefimg von Mißtrauen und Haß gegen den Nächsten, welche die Kriege mit sich bringen. Auch wissen w i r heute um die mörderischen Folgen selbst konventioneller Kriege und die dramatischen Auswirkungen von Atomkriegen. Um so grundlegender erscheint die Notwendigkeit, zum Mittel des Dialoges zu greifen und die dafür erforderliche politische Tugend zu üben, damit der Einsatz von Waffen vermieden wird.

IV. Der Dialog für den Frieden ist möglich Es gibt aber Menschen, die bezweifeln, daß ein Dialog möglich und w i r k sam ist, solange die Positionen so extrem und unvereinbar sind, daß kein Raum zur Verständigung gegeben zu sein scheint.

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Selbst dann, wenn eine kriegerische Auseinandersetzung stattfand, die zwar die Stärke des Siegers gezeigt, aber i m Bereich der umstrittenen Rechte nichts gelöst hat, ist es notwendig, sich erneut um einen Dialog zu bemühen. Die Menschen sind durchaus fähig, Spaltungen, Interessenskonfl i kte und sogar tiefgreifende Gegensätze zu überwinden, wenn auch jede Seite davon überzeugt ist, eine gerechte Sache zu verteidigen, sofern beide Seiten an die Tugend des Dialogs glauben und bereit sind, sich als Menschen zu begegnen, um eine friedliche und vernünftige Lösimg ihrer Konflikte zu suchen.

V. Die Tugenden des wahren Dialoges Die Eigenschaften eines wahren Dialoges gelten für den Dialog zwischen einzelnen Personen, aber auch zwischen sozialen Gruppen, zwischen politischen Kräften in einer Nation und zwischen Staaten innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft. Ebenso für den Dialog zwischen den umfangreichen Gruppierungen von Menschen, die sich i m ethischen, kulturellen, ideologischen oder religiösen Bereich unterscheiden und einander gegenüberstehen; i n diesen Bereichen haben die meisten Konflikte ihre Wurzeln. Für die Lösung von Konflikten ist der Dialog ein zentrales und unerläßliches Element im ethischen Denken der Menschen. Was verlangt er: — I n erster Linie Offen-sein und Annehmen, das heißt, daß jeder seine Lage darlegt, aber auch die Darlegung der Situation, wie der andere sie sieht, einhört und aufrichtig nachfühlt. — Dialog ist zugleich die Suche nach dem, was den Menschen immer gemeinsam ist — auch i n Spannungen, Gegensätzen und Konflikten. I n diesem Sinne macht er den anderen zum Nächsten. Es gilt, eine gerechte Verteidigung der Interessen und der Ehre der eigenen Sache zu verbinden mit dem von der Gerechtigkeit ebenso geforderten Verstehen und Achten der Gründe der anderen sowie mit den Forderungen des beiden gemeinsamen allgemeinen Wohls. Wird es nicht immer deutlicher, daß sich alle Völker der Erde wirtschaftlich, politisch und kulturell in gegenseitiger Abhängigkeit befinden? Wahrer Dialog ist also die Suche nch dem Guten mit friedlichen Mitteln. Er ist der unbeirrbare Wille, alle Möglichkeiten von Verhandlung, Vermittlung oder Schiedsspruch auszuschöpfen und das Verbindende über das Trennende siegen zu lassen. Er ist die Anerkennung der unveräußerlichen Würde des Menschen, beruht auf der Achtung des menschlichen Lebens und setzt auf die Sozialnatur der Menschheit. 8 Johannes Paul IL

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Schon Papst Paul VI. hat dem Dialog einen großen Abschnitt seiner ersten Enzyklika „Ecclesiam suam" vom 6. 8.1964 gewidmet. Er schrieb darin: Wer einen Dialog beginnt, der unparteiisch, objektiv und redlich ist, erklärt sich eben dadurch für einen freien und ehrenhaften Frieden. 2

VI. Wahrer Einsatz für den Frieden A m 17. Mai 1985 hielt Papst Johannes Paul II. eine Ansprache bei einer Friedensfeier i n Ypern 3 , einer Stadt mitten i n den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges; sie ist Symbol des unermeßlichen Leidens, welches Kriege mit sich bringen. Zugleich ist aber diese Stadt Sinnbild des Wiederaufbaues und der Erkenntnis, daß der Friede unentbehrlich und das Streben nach Frieden für jeden von uns eine Pflicht ist. Die Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit darf nie von der übergeordneten Aufgabe getrennt werden: der Sicherung des Friedens. Die Problematik des Friedens kann nicht mehr mit Worten oder einseitigen Parolen behandelt werden. Tiefe Überzeugung und totaler Einsatz sind erforderlich. Entschlossener Friedenswille muß mit klaren Begriffen verbunden werden. Diese Aufgabe ist manchmal schwierig, wenn w i r vielen unterschiedlichen Interessen gegenüberstehen. Der Einsatz für den Frieden muß mit einem klaren Begriff der Grundsätze und Werte verknüpft werden, die auf dem Spiel stehen. Je größer die Bedrohung für die Menschheit wird, desto mehr muß die menschliche Reife zunehmen. Wenngleich der Heilige Stuhl sich mit aller Entschiedenheit für den Frieden einsetzt, ist also ein deutlicher Trennungsstrich zu jenen pazifistischen Kräften erkennbar, welche sich der Illusion hingeben, daß es für die Sicherung des Friedens ausreicht, nur davon zu sprechen oder sich auf ihn zu berufen. 4 Papst Johannes Paul II. hat i n seiner Botschaft für den Frieden i m Jahre 1983 5 jenen Pazifismus zurückgewiesen, der dem Frieden keineswegs dient, weil er nur eine simple Wahrimg der Ruhe sein würde, der Friede aber die Frucht der Gerechtigkeit ist, welche die Achtung der menschlichen Grundrechte zur Voraussetzung hat. 2 AAS 56, 1964, S. 654. 3 Papst Johannes Paul II., Ansprache bei der Friedensfeier in Ypern, 17. Mai 1986; Quellen zum Friedensverständnis der Katholischen Kirche 1985, herausgegeben von Hubert Mader. 4 Helmut Liedermann, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten; Festschrift für Rudolf Weiler zum 60. Geburtstag, Berlin, S. 144. 5 Ebenda.

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Es wäre gefährlich, sich mit einem beschränkten Erfolg zufriedenzugeben. Man darf also nicht von Frieden sprechen, nur weil es keinen Krieg gibt. Frieden ist ein Ganzes von unverletzlichen Werten: der Freiheit der menschlichen Person und dem Respekt vor seiner Würde, der Gerechtigkeit und der Solidarität, des Erbarmens und der Nächstenliebe, des Muts zur Wahrheit und Hoffnung. Die Gefahren und Bedrohungen, die den Frieden beeinträchtigen, können nur durch menschlichen Fortschritt und wahre Werte gebannt werden. 6 I n diesem Zusammenhang hat Papst Johannes Paul II. immer wieder auf die Bedeutung des Dialogs hingewiesen, so auch i n seiner Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 8. Dezember 1986. I n dieser seiner Botschaft sprach der Papst über die Notwendigkeit eines neuen internationalen Ordnungssystems. Der rechte Weg zu einer Weltgemeinschaft, i n der Gerechtigkeit und Friede ohne Grenzen unter allen Völkern und auf allen Kontinenten herrschen werden, ist der Weg der Solidarität, des Dialoges und der universellen Brüderlichkeit Das ist der einzig mögliche Weg. Politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen und Systeme müssen von den Werten der Solidarität und des Dialogs geprägt sein; diese wiederum erfordern eine institutionelle Stütze i n Form von speziellen Organen der Weltgemeinschaft, die auf das Gemeinwohl aller Völker achten. Eines ist deutlich: U m wirklich eine Weltgemeinschaft dieser A r t zu erreichen, müssen geistige Einstellungen und politische Ansichten, die durch Machtgelüste und Ideologien, durch die Verteidigung der eigenen Privilegien und Besitzstände vergiftet sind, aufgegeben werden; an ihre Stelle muß die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen i m Geiste gegenseitigen Vertrauens treten. Diese Forderung, die Einheit der Menschheitsfamilie ernst zu nehmen, w i r k t sich sehr konkret für unser Leben und unseren Einsatz für den Frieden aus. Das bedeutet vor allem, daß w i r jene Art zu denken ablehnen müssen, die spaltet und ausnutzt. Es bedeutet, daß w i r uns einer neuen Solidarität verpflichten, der Solidarität mit der ganzen Menschheitsfamilie. 7 Auf dem Weg zu einer neuen Solidarität ist der Dialog ein unverzichtbares Element. Der Dialog ist ein Weg — so weiter Papst Johannes Paul II. —, auf dem die Menschen sich gegenseitig besser kennen lernen und dabei die guten Hoffnungen und friedlichen Anliegen entdecken, die allzu oft i n ihren Herzen 6 Quellen zum Friedensverständnis der Katholischen Kirche 1985, herausgegeben von Hubert Mader, S. 11. 7 Ebenda, S. 44.

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verborgen bleiben. Echter Dialog geht über Ideologien hinaus; die Menschen begegnen sich dabei i n der Wirklichkeit ihres eigenen Lebens. Dialog baut vorgefaßte Meinungen und künstliche Barrieren ab. Dialog bringt die Menschen i n Kontakt miteinander als Mitglieder einer einzigen Menschheitsfamilie, mit allem Reichtum ihrer verschiedenen Kulturen und geschichtlichen Erfahrungen. Eine Bekehrung des Herzens verpflichtet die Menschen, eine allumfassende Brüderlichkeit zu fördern; Dialog hilft, dieses Ziel zu erreichen. 8

VII. Einsatz des Heiligen Stuhls für den Frieden im Rahmen der KSZE Ein Beweis dafür ist der Prozeß, der durch die am 1. August 1975 i n Helsinki auf höchster politischer Ebene unterzeichnete Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eingeleitet wurde. Obwohl der Heilige Stuhl sich mit seinen Aktivitäten nicht nur auf Europa beschränken kann und der Vatikan keine der herkömmlichen politischen Ziele verfolgt, kam dennoch sein elementares Interesse an der Gewährleistung des Friedens und der Entwicklung der Zusammenarbeit in Europa im Rahmen der KSZE von Anbeginn deutlich zum Ausdruck; handelt es sich doch bei den i n der Konferenz behandelten Fragen um solche, die nicht nur politische, sondern auch bedeutende moralische Gesichtspunkte aufweisen. Mehr denn je sieht sich die Menschheit heute angesichts der stürmischen Entwicklung auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet großen Herausforderungen gegenüber, weil diese Entwicklung analoge Fortschritte i n Bereichen der Moral und des Verantwortungsbewußtseins für ein friedliches Nebeneinander und Miteinander der Staaten und Völker bedingt. Die KSZE, so sagte der damalige Sekretär des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche und jetzige Kardinal Achille Silvestrini, anläßlich der Eröffnimg des Wiener Treffens der Teilnehmerstaaten der KSZE am 4. November 1986, ist eine der Strukturen dieses Dialogs und nicht die geringste. 9

8 Ebenda, S. 45. 0 Helmut Liedermann, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten; Festschrift für Rudolf Weiler zum 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 142.

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V m . Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten — Voraussetzung für den Frieden Soweit der Heilige Stuhl außenpolitische Initiativen ergreift und entsprechende Aktionen setzt, sind diese auf die Verantwortung der Staaten für das Gemeinwohl ihrer Völker und die Wahrung der Grundrechte gerichtet. Deren Achtung ist auch eine wesentliche Voraussetzung für die Heilsfindung durch den einzelnen Menschen. Der Heilige Stuhl sieht sich von der Sendung der Katholischen Kirche her verpflichtet, an der Verwirklichung des Weltgemeinwohles und der Wahrung der Grundrechte mitzuwirken, schreibt der Präsident des österreichischen Bundesrates, Univ. Prof. Dr. Herbert Schambeck, i n seiner Einleitung zu den Reden und Aufsätzen Kardinal Agostino Casarolis. Wo die Grundrechte verletzt werden, sagte Schambeck i m Rahmen einer Rede beim Marianischen Weltkongreß in Kevelaer (BR Deutschland) am 17. September 1967, sind alle Friedensappelle unglaubwürdig, denn allen Menschen, nicht nur den Mächtigen, kommt die gleiche Würde zu, die von allen zu achten ist. Eine Friedenssicherung auf Kosten der Freiheit ist daher für Christen unannehmbar. Der Friede muß nämlich auf gegenseitiger Achtung aufbauen. 10 Die Menschenrechte sind weltweit ein Begriff von großer Aktualität und Bedeutung. I n der Vorstellungswelt der Menschheit schon lange vorhanden, wurden sie doch erst verhältnismäßig spät in das positive Recht transformiert. Die Entwicklung der Menschenrechte hängt eng zusammen mit dem allen Menschen innewohnenden Streben nach persönlicher Freiheit. Sie sind ein Sammelbegriff mit i m wesentlichen übereinstimmenden Elementen, wenn auch unterschieden werden muß zwischen dem juristisch-normativen und dem humanwissenschaftlichen Begriff mit naturrechtlichen Wurzeln und humanitär-moralischem sowie politologischem Hintergrund. Es ist naheliegend, daß sich Philosophie und Rechtswissenschaft, aber auch die Katholische Kirche damit befaßt haben, welche Folgerungen sich daraus für die Menschen sowie für den Staat und seine Rechtsordnung ergeben. I m Kampf um diese Rechte stehen Menschen verschiedener Nationalitäten und Hautfarbe, verschiedener sozialer Gruppierungen und verschiedener Glaubensbekenntnisse i n unterschiedlichen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen unserer Welt i n einer Reihe. Es fehlt nicht an Beteuerungen auf politischer Ebene und kaum eine Regierung versäumt es, die Menschenrechte formal anzuerkennen, ohne daß bisher i m Anwendungsbereich ein io Ebenda, S. 143.

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weltweiter Durchbruch erzielt werden konnte. Dennoch besteht Grund zur Hoffnung, weil der Ruf nach vorbehaltloser Verwirklichung der Menschenrechte überall immer stärker wird. Das Christentum stellt der Vielfalt der Staaten die Einheit der Weltkirche gegenüber, die zwar i m Irdischen besteht, aber auf ein überirdisches Gottesreich verweist. Der Mensch hört auf, nur Staatsbürger zu sein. Er wird zugleich Glied des Gottesreiches auf Erden und genießt als solches eine besondere, vom Staat unabhängige Würde. Daraus ergeben sich bestimmte Rechte, die ihm keine irdische Gemeinschaft entziehen kann. Die Ordnung des Staates w i r d also durch eine übergeordnete begrenzt Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 stellt an die Spitze ihrer Präambel die Feststellung, daß die Anerkennimg der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens i n der Welt bildet. Auch i n der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa von Helsinki (KSZE) vom 1. 8.1975 anerkennen die Teilnehmerstaaten die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen ist, die ihrerseits erforderlich sind, um die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen ihnen sowie zwischen allen Staaten zu gewährleisten. I m Abschließenden Dokument des Wiener Treffens 1986 der Vertreter der Teilnehmerstaaten der KSZE bekunden die Teilnehmerstaaten ihre Entschlossenheit, die wirksame Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit, für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu garantieren, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine volle Entfaltung wesentlich sind. Sie erkennen an, daß alle zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und anderen Rechte und Freiheiten von überragender Bedeutung sind und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln i n vollem Umfang verwirklicht werden müssen. Wenn man sich mit der Geschichte und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten befaßt, ergibt sich ein weit gespannter Bogen, der auch die aufschlußreiche und tiefgründige Enzyklika „Sollicitudo rei socialis" von Papst Johannes Paul II. vom 30. 9.1987 mit umfaßt. Die soziale Sorge der Kirche mit dem Ziel einer wahren Entwicklung der Menschen und der Gesellschaft, welche die menschliche Person i n allen ihren

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Dimensionen achten und fördern soll, hat sich stets i n verschiedenster Weise bekundet, sagt Papst Johannes Paul IL i n der Einleitung. Ausgehend von der Enzyklika „Rerum Novarum" von Papst Leo XHL vom 15. Mai 1891 als bleibenden Bezugspunkt, 11 hat das Lehramt der römischen Päpste diesen Problemkreis immer wieder behandelt, wobei es einige Male die Veröffentlichungen der verschiedenen Dokumente mit sozialem Bezug mit dem Jahresgedenken dieser Enzykliken zusammenfallen ließ. Dabei haben es die Päpste nicht versäumt, i n solchen Stellungnahmen auch neue Aspekte der Soziallehre der Kirche zu behandeln. I n diesem bedeutenden Gebäude nimmt die Enzyklika „Populorum progressio" von Papst Paul VI. vom 26. März 1967 mit ihrer Vielfalt der Gedanken einen besonderen Platz ein. 1 2 Neu an der Enzyklika „Populorum progressio" ist die Weite des Horizonts, mit dem sie in klarer Erkenntnis die soziale Frage konkret behandelt, der eine breite Dimension bescheinigt wird, ohne daß sie ihre Bedeutimg auf nationaler oder ethischer Ebene eingebüßt hätte. I m Gegenteil dürfen die Probleme der Länder oder Regionen nicht als verstreute Inseln ohne Verbindung untereinander gesehen werden, weil sie i n wachsendem Maße von Faktoren abhängen, die jenseits der staatlichen oder regionalen Grenzen liegen und deren Behandlung i n hohem Maße auch moralische Aspeke aufweist.

IX. Dialog im Rahmen des KSZE-Prozesses 1. Vorbemerkungen Inmitten einer geschichtlichen Wende stehen w i r heute i n Europa am Beginn einer neuen Ära, welche die Nachkriegsepoche abzulösen i m Begriff ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich nicht nur eine machtpolitische, sondern auch eine ideologische Trennungslinie mitten durch den europäischen Kontinent gebildet, der wenigstens insofern stets eine Einheit gewesen war, als die europäischen Staaten trotz aller i m Laufe der Jahrhunderte immer stärker hervorgetretenen nationalen Differenzierungen und Differenzen, ja selbst blutigen kriegerischen Auseinandersetzungen, i m gleichen geistigen Boden wurzelten. Die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüberstehenden, unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme hatten nicht nur einen ideologischen, sondern auch einen politischen Antagonismus zur Folge; ein Antago11 Leo X I I I . Enzyklika „Rerum novarum" v. 15. Mai 1891: Leonis X m . P. M. Acta, X I (Rom 1892), 97-144. 12 Paul VI. Enzyklika „Populorum progressio" v. 26. März 1967, 257-299.

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nismus, der ein militärisches Potential mit allen seinen Gefahren i n einer Größenordnung hervorgebracht hat, wie es bisher noch nie der Fall gewesen ist. Jetzt befinden w i r uns i n Europa am Beginn einer neuen Entwicklung. M i t der fortschreitenden Überwindung der ideologischen und politischen Gegensätze wächst das Bewußtsein europäischer Gemeinsamkeit. Es bildet sich ein Europa heraus, i n dem sich alte und neue Demokratien zusammenfinden. A m Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, i n dem die Völker Europas so viel Leid erdulden mußten, findet Europa in seine Gesamtheit zu sich selbst. Die geschichtliche Wende, die wir erleben, ist das Ergebnis langwieriger und mühevoller Entwicklungen, zu denen die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa (KSZE) einen bedeutenden Beitrag geleistet hat. 2. Gleichgewicht Zu oft hat sich das Gleichgewicht der Kräfte für sich allein als zu labil und damit für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit als nicht ausreichend erwiesen. Deshalb erhebt sich die Frage, welche zusätzlichen Faktoren allen europäischen Staaten, ob klein oder groß, ein verläßliches und vertrauenswürdiges Mehr an Sicherheit bieten können; Frieden und Sicherheit werden nur unter der Voraussetzimg i n einem möglichst hohen Ausmaß gewährleistet sein, wenn es gelingt, eine enge Verpflechtung von geordneten Verhaltensmaßregeln der Staaten auf politischem, wirtschaftlichem und nicht zuletzt militärischem Gebiet zu schaffen — Verhaltensmaßregeln, deren Verletzung mehr Nachteile als Vorteile mit sich bringt, so daß die Achtung fremder Interessen auch i m eigenen Interesse gelegen ist.

3. KSZE nicht Selbstzweck Daraus ergibt sich, daß die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa nicht Selbstzweck sein durfte, sondern nur Mittel zum Zweck, nach Faktoren zu suchen, die geeignet sind, uns ein höheres Ausmaß an Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa zu bringen. Sicherheit ist ebenso wie Entspannung kein Vorgang, den man auf einer Konferenz nur zu beschließen braucht, sondern das Ergebnis eines allmählichen Prozesses, der durch eine ganze Reihe von Faktoren mitbestimmt wird. Es war also ganz wesentlich, bei der Redaktion der Schlußakte der KSZE, die am 1. August 1975 i n Helsinki auf höchster Ebene unterzeichnet wurde, politische Leerformeln zu vermeiden, somit nichts anderes zu tun, als wohl-

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klingende Phrasen niederzuschreiben, die uns keinen einzigen Schritt vorwärts bringen würden, ja sogar das Gegenteil von dem hätten bewirken können, was die Völker von dieser Konferenz erwarten. Denn ebenso wie die Sicherheit für den einen nicht unbedingt Sicherheit für den anderen bedeutet, können abstrakte Begriffe, die nicht mit konkretem Inhalt erfüllt werden, einer durchaus unterschiedlichen Auslegung unterzogen werden. 4. Verhandlungsinhalt Das alles sind Erwägungen, die uns mitten hinein in die Frage der Tagesordnung der KSZE führen, somit diejenigen Fragen, mit denen sich die Konferenz zu beschäftigen hatte und hat. Neben Belangen der Sicherheit einschließlich militärischer Natur und Zusammenarbeit i n den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik sowie der Umwelt, hat die Schlußakte der KSZE i m Rahmen der zwischenstaatlichen Beziehungen neue Gebiete erschlossen, indem sie die „menschliche Dimension" als unverzichtbares Element für die Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa aufgenommen hat. Die Schlußakte geht davon aus, daß Menschen ebenso wie Regierungen eine lebenswichtige Rolle bei der Schaffung von Stabilität auf internationaler Ebene zukomme und daß ein freier Fluß von Menschen, Ideen und Informationen ein unerläßliches Element für alle Aspekte der Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa ist. Der dritte Hauptabschnitt der Schlußakte der KSZE von Helsinki — auch Dritter Korb genannt — enthält Verhaltensnormen für die Teilnehmerstaaten, die vorher noch nie Gegenstand internationaler Vereinbarungen waren: Familienbesuche und -zusammenführung, Eheschließungen zwischen Bürgern verschiedener Staaten, Reisen aus persönlichen oder beruflichen Gründen u. a. mehr. Verhaltensnormen, die anläßlich der Folgetreffen der Konferenz i n Madrid und Wien noch bedeutend präzisiert worden sind. Dieses Feld praktischer Anwendung des Prinzips der Menschenrechte und Grundfreiheiten zeigt sehr deutlich, welche dynamische Wirkung von der KSZE ausgegangen ist; sie war ein wesentlicher Impuls für die Veränderungen, die seither i n Europa eingetreten sind und hat geholfen, Menschen und Völker in Europa einander näherzubringen. 5. Wirtschaftliche

Zusammenarbeit

Eine europäische Sicherheitspartnerschaft bedingt aber auch eine solche auf wirtschaftlichem Gebiet, weil diese eine unerläßliche Voraussetzung für die Schaffimg der erforderlichen politischen Freiräume darstellt, i n denen

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sich eine solide Zusammenarbeit des freien Unternehmertums entwickeln, neue Arbeitsplätze geschaffen und der Lebensstandard der Menschen gehoben werden kann. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit gewinnt zunehmend auch eine politische Dimension, die maßgeblich zur Vertrauensbildung beiträgt und auch den Verlauf von Abrüstungsverhandlungen fördert. Aus allen diesen Gründen kommt der i m März / A p r i l 1990 i n Bonn veranstalteten Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit i n Europa große Bedeutung zu, an der auch Praktiker teilgenommen haben. Zu den Kernaussagen des Schlußdokuments der Konferenz gehört der untrennbare Zusammenhang zwischen der Achtung der Menschenrechte, der Nichtdiskriminierung, dem politischen Pluralismus, freien Wahlen, Demokratie, der Herrschaft des Rechts und der auf privater Initiative beruhenden Marktwirtschaft mit einer sozialen und umweltpolitischen Komponente. Noch keine internationale Konferenz hat einen so umfangreichen Katalog von Themen behandelt, wie dies i m Rahmen der KSZE der Fall ist; Themen, die alle für die Sicherheit und Zusammenarbeit und für den Frieden in Europa von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die KSZE hat damit wesentlich dazu beigetragen, das Gesicht Europas zu verändern. I m August 1975, als sich die Staats- bzw. Regierungschefs aus 35 Ländern i n Helsinki einfanden, um die Schlußakte der KSZE zu unterzeichnen, war der europäische Kontinent noch tief gespalten. Heute wissen wir, daß damals die Wende eingeleitet wurde, die w i r jetzt erleben. Nicht Konfrontation, sondern Kooperation steht jetzt auf der Tagesordnung. Die Europäer haben jetzt die Chance, eine neue Ordnung zu errichten, die hegemoniales Denken und die Politik der Bevormundung, aber auch engstirnigen Nationalismus überwindet. Voraussetzung dafür ist ein friedliches Miteinander, weshalb auch der Abrüstungs- und Rüstungskontrolle sehr große Bedeutung zukommt.

6. Übergreifende

Sicherheitsstrukturen

I n den neunziger Jahren dieses Jahrhunderts hegt es an uns allen, das Gesicht Europs neu zu gestalten. Es gilt, sich auch i m Rahmen der KSZE mit neuen übergreifenden Sicherheitsstrukturen zu befassen, die mehr Stabilität für ganz Europa und mehr Sicherheit für jeden einzelnen Staat, ob groß oder klein, mit sich bringen. Auch bedarf es eines wirksamen Instrumentariums der friedlichen Streitbeilegung. Wenn auf Gewalt als Mittel zur Lösung von Streitfällen zwischen

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den Staaten verzichtet wird, bedarf es anderer, und zwar friedlicher Mittel, um eine Beilegung solcher Streitfälle zu finden. I m Rahmen des KSZE-Prozesses finden derzeit i n Wien Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte i n Europa und Verhandlungen über Vertrauens» und Sicherheitsbildende Maßnahmen statt, welche an die erfolgreich verlaufene Stockholmer Konferenz (1984-86) anknüpfen. Die Stockholmer Konferenz hat ein Dokument verabschiedet, das einen bedeutsamen Fortschritt i n Richtimg auf Schaffung von mehr Vertrauen durch Verpflichtungen mit sich brachte, die auf Offenlegung von Natur und Zweck militärischer Aktivitäten (Verifikation vor Ort) gerichtet sind. Die Abrüstung darf gegenüber der politischen Entwicklung nicht zurückbleiben. Aufgabe aller Teilnehmerstaaten an den Verhandlungen ist es, sich gemeinsam auf eine Reduzierung von Streitkräften und Waffen zu einigen und damit i m Zusammenhang stehende ökonomische, gesellschaftliche, technologische und ökologische Fragen einer gemeinsamen Lösimg zuzuführen. 7. Pariser KSZE-Gipfel Der zweite Höhepunkt i m bisherigen Verlauf des KSZE-Prozesses war der Pariser Gipfel (19.-21.11. 1990). Unmittelbar vor dessen offizieller Eröffnung haben die Staats- und Regierungschefs der 22 Staaten, die an den Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte i n Europa teilnahmen, eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, aus der u. a. ersichtlich ist, daß sie i n dem anbrechenden neuen Zeitalter europäischer Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen wollen. Sie anerkennen i n der Erklärung, daß Sicherheit unteilbar und die Sicherheit eines jeden ihrer Länder untrennbar mit der Sicherheit aller Teilnehmerstaaten der KSZE verbunden ist. Sie verpflichten sich, nur solche militärische Potentiale aufrecht zu erhalten, die zur Kriegsverhütimg und für eine wirksame Verteidigung notwendig sind. I n der Erklärung w i r d überdies die bereits i n der Charta der Vereinten Nationen und i n der Schlußakte der KSZE von Helsinki enthaltene Verpflichtimg bekräftigt, sich der Androhung oder Anwendimg von Gewalt zu enthalten, die gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet ist. 8. Vertrag

über Konventionelle

Streitkräfte

in Europa

Ferner haben die Staats- und Regierungschefs der 22 Staaten einen Vertrag über Konventionelle Streitkräfte i n Europa unterzeichnet, der zu niedrigeren

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Niveaus der Streitkräfte führen wird. Die beispielslose Reduzierung der Streitkräfte durch diesen Vertrag w i r d entsprechend dem Wortlaut der vom Pariser Gipfel verabschiedeten Charta — gemeinsam mit neuen Ansätzen für Sicherheit und Zusammenarbeit innerhalb des KSZE-Prozesses — das Verständnis von Sicherheit in Europa verändern und den gegenseitigen Beziehungen eine neue Dimension verleihen. 9. Charta von Paris für ein neues Europa Der Gipfel selbst fand seinen Ausklang mit der Unterzeichnung der „Charta von Paris für ein neues Europa". Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit, heißt es i n diesem Dokument. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht i n Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an. Nun ist die Zeit gekommen, i n der sich jahrzehntelang gehegte Hoffnungen und Erwartungen der Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit sowie soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle Länder. Die Staats- und Regierungschefs verpflichteten sich, die Demokratie als die einzige Regierungsform aufzubauen, zu festigen und zu stärken. I n diesem Bestreben werden die Staats- und Regierungschefs an folgendem festhalten: Menschenrechte und Grundfreiheiten sind allen Menschen von Geburt an zu eigen; sie sind unveräußerlich und werden durch das Recht gewährleistet. Sie zu schützen und zu fördern, ist die vornehmste Pflicht jeder Regierung. Ihre Achtung ist wesentlicher Schutz gegen staatliche Übermacht. Deren Einhaltung und uneingeschränkte Ausübung bilden die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Die Staats- und Regierungschefs werden gewährleisten, daß dem einzelnen wirksame innerstaatlich wie internationale Rechtsmittel gegen jede Verletzung seiner Rechte zur Verfügung stehen. Der vom Abschließenden Dokument des Wiener Folgetreffens der Teilnehmerstaaten der KSZE (1986-1989) geschaffene Mechanismus der menschlichen Dimension ht sich bewährt. Deshalb sind die Staats- und Regierungschefs entschlossen, ihn durch Einführung neuer Verfahren auszubauen; diese sehen die Mitarbeit von Experten oder die Heranziehimg einer Liste von hervorragenden Persönlichkeien mit Erfahrung i n Menschenrechtsfragen vor.

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Demokratische Regierung gründet sich auf den Volkswillen, der seinen Ausdruck i n regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen findet. Demokratie beruht auf Achtung vor der menschlichen Person und Rechtsstaatlichkeit Sie ist der beste Schutz für freie Meinungsäußerung, Toleranz gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen und Chancengleichheit für alle. Die Demokratie, ihrem Wesen nach repräsentativ und pluralistisch, erfordert Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft, Bindung der staatlichen Gewalt an das Recht sowie eine unparteiische Rechtspflege. Niemand steht über dem Gesetz. Wirtschaftliche Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Verantwortimg für die Umwelt sind unerläßliche Voraussetzungen des Wohlstands. I n der Charta bekräftigen die Staats- und Regierungschefs ihr Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen und beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten der KSZE zu entwickeln. Sie begrüßen die Unterzeichnung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte i n Europa und die i m Rahmen der Wiener Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen am 12.12.1990 erfolgte Annahme eines substantiellen, neuen Satzes Vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen, der zu mehr Offenheit und Vertrauen zwischen allen Teilnehmerstaaten führen soll. Beide sind bedeutende Schritte hin zu erhöhter Stabilität und Sicherheit i n Europa. 10. Fortsetzung der Wiener Verhandlungen Die Wiener Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und die Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte i n Europa werden seit dem Pariser Gipfel fortgesetzt und sollen möglichst bis zum nächsten Folgetreffen der Teilnehmerstaaten der KSZE i n Helsinki 1992 abgeschlossen werden. 11. Neue Strukturen und Institutionen

des KSZE-Prozesses

Auf der Grundlage des Dokuments des Kopenhagener Treffens (Konferenz über die Menschliche Dimension) wurde vom Pariser Gipfel für November 1991 ein Expertenseminar i n Oslo einberufen, mit dem Ziel, die demokratischen Institutionen zu stärken und den Rechtsstaat zu fördern. I n Paris wurde anerkannt, daß die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten als Teil der allgemein verbindlichen Menschenrechte uneinge-

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schränkt geachtet werden müssen. I m Bewußtsein der dringenden Notwendigkeit, i m Hinblick auf nationale Minderheiten die Zusammenarbeit zu verstärken und deren Schutz zu verbessern, hat i m Juli 1991 ein Expertentreffen i n Genf stattgefunden. Die Intensivierung der Konsultationen zwischen den Teilnehmerstaaten der KSZE auf allen Ebenen ist von vorrangiger Bedeutung für die künftige Gestaltung ihrer Beziehungen. Zu diesem Zweck wurde i n Paris folgendes vereinbart: — Ein neues Treffen der Staats- und Regierungschefs i n Helsinki anläßlich des KSZE-Folgetreffens 1992 und danach anläßlich weiterer Folgetreffen. — Die Außenminister werden regelmäßig, mindestens einmal i m Jahr, als Rat zusammentreten. Dieses Treffen w i r d das zentrale Forum für politische Konsultationen i m KSZE-Prozeß bilden. Das erste Treffen des Rates hat 1991 i n Berlin stattgefunden. — „Ein Ausschuß Hoher Beamter " hat die Aufgabe, Treffen des Rates vorzubereiten und dessen Beschlüsse durchzuführen. — Die Teilnehmerstaaten können auch Treffen ren.

anderer Minister vereinba-

— Zur administrativen Unterstützung dieser Konsultationen wurde i n Prag ein Sekretariat eingerichtet. — Folgetreffen der Teilnehmerstaaten werden i n Hinkunft i n der Regel alle zwei Jahre stattfinden, um den Teilnehmerstaaten Gelegenheit zu geben, eine Bestandsaufnahme der eingetretenen Entwicklungen vorzunehmen, die Verwirklichung eingegangener Verpflichtungen zu überprüfen und weitere Schritte i m KSZE-Prozeß i n Erwägung zu ziehen. Das nächste, und damit vierte Folgetreffen findet i m Jahre 1992 i n Helsinki statt. — In Wien wurde ein „Konfliktverhütungszentrum " geschaffen, das den Rat der Außenminister beim Abbau der Gefahr von Konflikten unterstützen soll. Damit i m Zusammenhang wurde i m Dokument 1990 der Wiener Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen ein Mechanismus für Konsultationen und Zusammenarbeit i n bezug auf ungewöhnliche militärische Aktivitäten geschaffen. Demzufolge werden die Teilnehmerstaaten bezüglich jeglicher ungewöhnlicher und unvorhergesehener Aktivitäten ihrer Streitkräfte, die außerhalb ihrer normalen Friedensstandorte i n der Anwendungszone für Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen stattfinden, militärisch bedeutsam sind und bezüglich derer ein Teilnehmerstaat Besorgnis hinsichtlich seiner Sicher-

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heit äußert, i n Übereinstimmung mit den i n diesem Dokument vorgesehenen Bestimmungen einander konsultieren und zusammenarbeiten. Der Konsultativausschuß des Konfliktverhütungszentrums, der sich aus Vertretern aller Teilnehmerstaaten der KSZE zusammensetzt, veranstaltet u. a. auch jährliche Treffen zur Beurteilung der Durchführung der vereinbarten Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen. — Ferner wurde beschlossen, i n Warschau ein „Büro für freie Wahlen" einzurichten, um Kontakte und den Informationsaustausch i m Zusammenhang mit Wahlen i n den Teilnehmerstaaten zu erleichtern. — I n Anerkennung der wichtigen Rolle, die Parlamentarier i m KSZE-Prozeß spielen können, sprachen sich die Staats- und Regierungschefs für eine stärkere Einbeziehimg der Parlamentsarbeit i n der KSZE aus, insbesondere durch Schaffung einer parlamentarischen Versammlung der KSZE unter Beteiligung von Parlamentsmitgliedern aus allen Teilnehmerstaaten. X . Schlußbemerkungen Vor 16 Jahren haben sich die Vertreter unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Systeme mit verschiedenen Wertvorstellungen am 1. August 1975 i n Helsinki auf die Schlußakte der KSZE geeinigt. Die vorangeganenen Verhandlungen waren von der Zielvorstellung begleitet, die Bereitschaft für gemeinsame Wertvorstellungen zu fördern und den Weg für ein Neues Europa zu ebnen. Z u Beginn des KSZE-Prozesses wurden diejenigen, die an seinen Erfolg glaubten, von vielen belächelt und als Menschen abgetan, die von unrealistischen Wunschvorstellungen beseelt sind. Aber nach einer kurzen Spanne von 15 Jahren seit Unterzeichnung der Schlußakte der KSZE in Helsinki haben w i r gesehen, daß die Wertvorstellungen, von denen die Schlußakte der Konferenz getragen wird, nicht mehr bestritten sind, sondern von ganz Europa anerkannt werden. Es sind menschliche Werte, die Bannerträger waren i m Kampf um die demokratischen Veränderungen, die sich seither in Ost- und Mitteleuropa angebahnt und den Sieg davongetragen haben. Der Sinn des KSZE-Prozesses lag niemals darin, Taten durch wortreiche Beteuerungen zu ersetzen. Es geht vielmehr darum, Worte durch eine vorbehaltlose Verwirklichung der übernommenen Verpflichtungen glaubwürdig zu machen. Nur so werden w i r den Frieden dauerhaft sichern können. Und darauf richten sich die Hoffnungen der Menschen i n den Teilnehmerstaaten der Konferenz als Katalysator dessen, was sie von ihr erwarten.

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Helmut Liedermann

Es liegt i m Interesse aller Teilnehmerstaaten der KSZE, daß es auch in Hinkunft gelingen wird, nicht nur die Kontinuität des KSZE-Prozesses sicherzustellen, sondern der Verwirklichung aller Verhaltensnormen, zu denen sich die Teilnehmerstaaten verpflichtet haben, immer näher zu kommen und den dynamischen Weg des KSZE-Prozesses substantiell und erfolgreich fortzusetzen. Auch der Erfolg des KSZE-Prozesses beweist die Richtigkeit dessen, was Papst Johannes Paul II. immer wieder betont: „Der Dialog für den Frieden — eine Forderung an unsere Zeit". Denn die Staaten sind keine abstrakten und wesenlosen Gebilde, sondern eine organisierte Gemeinschaft von Menschen, und es sind Menschen, die Politik machen, die miteinander leben und auskommen müssen.

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1984 „DER FRIEDEN ENTSPRINGT EINEM NEUEN HERZEN"

Verantwortliche des politischen Lebens der Nationen, Gestalter des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens, junge Menschen, die ihr eine brüderliche und solidarische Welt erhofft, ihr alle, Männer und Frauen, die ihr den Frieden ersehnt! A n euch wende ich mich am Beginn des Jahres 1984, das sich überall voller Fragen und Sorgen, aber auch reich an Hoffnungen und Möglichkeiten ankündigt. Mein Appell für diesen 17. Weltfriedenstag kommt aus der Tiefe meines Herzens, und ich weiß, daß ich mich darin mit der Sehnsucht vieler Männer und Frauen treffe, die i n einer gespaltenen Welt nach Brüderlichkeit verlangen. Die Botschaft, die ich an euch riche, ist zugleich einfach und anspruchsvoll; denn sie betrifft jeden von euch persönlich, jeden lädt sie dazu ein, seinen Anteil an Mitarbeit beim Werk des Friedens i n der Welt einzubringen, ohne diese Verpflichtung auf andere abzuwälzen. Das Thema, das ich heute eurem Denken und Handeln vorlege, ist dieses: „Der Frieden entspringt einem neuen Herzen".

1. Eine paradoxe Situation Man kann heute nicht umhin, von den dunklen Schatten und Bedrohungen betroffen zu sein, ohne andererseits die Lichtpunkte und Hoffnungen vergessen zu wollen. Zweifellos ist der Frieden gefährdet, und die Ungerechtigkeit nimmt überhand. I n mehreren Ländern sind unerbittliche Kriege i m Gang; sie ziehen sich i n die Länge, obwohl die Zahl der Toten, die Leiden und Zerstörungen zunehmen und ohne daß man anscheinend auf dem Weg zu einer Lösung vorankommt. Andere Länder sind von Gewalt und fanatischem Terrorismus heimgesucht; und es sind gerade die Unschuldigen, die allzu oft den Preis dafür bezahlen, während die Leidenschaften sich verschärfen und die Angst 9 Johannes Paul IL

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zu extremen Folgen zu führen droht. I n vielen Regionen werden die Menschenrechte verletzt und die Freiheiten verhöhnt, werden Einkerkerungen unrechtmäßig aufrechterhalten und summarische Hinrichtungen aus parteiischen Gründen durchgeführt; und die Menschheit i n diesem 20. Jahrhundert, das eine Zunahme von Deklarationen und Appellationsinstanzen erlebt hat, ist darüber kaum informiert oder erweist sich, wenn sie es doch ist, als ohnmächtig, um diese Mißstände zu stoppen. Zahlreiche Länder kämpfen mühsam darum, Hunger, Krankheit und Unterentwicklung bei sich zu besiegen, während die Besitzenden ihre Positionen noch verstärken und der Rüstungswettlauf immer weiter die Hilfsmittel bedenkenlos verschlingt, die anderswo besser eingesetzt werden könnten. Die Anhäufung von konventionellen, chemischen, bakteriologischen und vor allem atomaren Waffen liegt wie eine schwere Drohung über der Zukunft der Nationen, besonders i n Europa, und macht die Bevölkerung zu Recht betroffen. Man spürt i n der öffentlichen Meinimg eine neue tiefe Unruhe, und ich verstehe dies sehr gut. Die heutige Welt ist gleichsam i n einem Netz von Spannungen gefangen. Die Spannimg zwischen Ost und West, wie sie allgemein genannt wird, beeinflußt nicht nur die Beziehungen zwischen den direkt davon betroffenen Nationen, sondern prägt auch viele andere schwierige Situationen anderswo i n der Welt und verschlimmert sie sogar. I n einer solchen Lage muß man sich die furchtbare Gefahr vergegenwärtigen, die diese wachsende Spannung und Polarisierung i n großem Maßstab darstellen, vor allem wenn man an die Mittel von gewaltiger und unerhörter Zerstörungskraft denkt, die bereitstehen. Und obwohl die Verantwortlichen sich dieser Gefahr sehr bewußt sind, verspüren sie eine große Schwierigkeit, um nicht zu sagen ihre Ohnmacht, diese Entwicklung anzuhalten und Wege zu finden, um die Spannungen durch konkrete Schritte zur Entspannung, zur Abrüstung und zur Verständigung zu verringern, was ermöglichen würde, größere Anstrengungen auf vorrangige Ziele i m Bereich des ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritts zu richten. Wenn die Spannung zwischen Ost und West mit ihren ideologischen Hintergründen alle Aufmerksamkeit i n Beschlag nimmt und i n einer großen Zahl von Ländern vor allem der nördlichen Hemisphäre Angst erzeugt, so darf sie doch nicht eine andere, noch grundlegendere Spannung, jene zwischen Nord und Süd, verdecken, die an das Überleben selbst eines großen Teiles der Menschheit rührt. Es handelt sich um den zunehmenden Gegensatz zwischen den Ländern, die die Chance gehabt haben, ihre Entwicklung zu beschleunigen und ihren Reichtum zu mehren, und den Ländern, die i n ihrer Unterentwicklung gefangen sind. Dort liegt eine weitere mächtige Quelle

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für Bitterkeit und Angst, für Opposition und Revolte, und das um so mehr, weil diese Quelle durch vielfältige Ungerechtigkeiten gespeist wird. Angesichts dieser übergroßen Probleme lege ich das Thema der Erneuerung des „Herzens" vor. Man könnte meinen, dieser Vorschlag sei zu einfach und dieses Mittel nicht angemessen. Und doch erlaubt die hier vorgelegte Analyse, wenn man sie genau bedenkt, zur Wurzel des Problems vorzudringen; sie ist von der Art, daß gerade jene Voraussetzungen, die den Frieden bedrohen, einer Prüfung unterzogen werden. Das Unvermögen, das der Menschheit nicht gestattet, die Spannungen aufzulösen, macht deutlich, daß die Hemmungen oder, auf der anderen Seite, die Hoffnungen aus einer tieferen Schicht stammen, als es die Systeme selbst sind.

2. Der Krieg entsteht im Herzen des Menschen Es ist meine tiefe Überzeugung, es ist das Leitmotiv der Bibel und des christlichen Denkens, es ist, wie ich hoffe, die Erkenntnis vieler Menschen guten Willens, daß der Krieg i m Herzen des Menschen geboren wird. Der Mensch ist es, der tötet, und nicht sein Schwert oder, heute, seine Raketen. Das „Herz" i m Sinne der Bibel ist das innerste der menschlichen Person i n ihrer Beziehimg zum Guten, zum Nächsten, zu Gott. Es handelt sich dabei nicht i n erster Linie um seine Gefühle, sondern um sein Gewissen, seine Überzeugungen, die Weltanschauungen, die einer hat, wie auch die Leidenschaften, die ihn bewegen. Mit dem Herzen ist der Mensch empfänglich für die absoluten Werte des Guten, für Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Frieden. Z u einer Entartung des Herzens kommt es besonders, wenn das Gewissen dasjenige gut oder schlecht nennt, was es seinen materiellen Interessen oder seinem Machtwillen zuliebe wählen oder ablehnen möchte. Auch die Vielschichtigkeit von Machtausübung hindert nicht, daß es bei der Vorbereitung, Auslösung und Ausbreitung eines Konfliktes stets eine Verantwortung des individuellen Gewissens gibt; daß diese Verantwortung von einer Gruppe geteilt wird, ändert nichts am Prinzip. Dieses Gewissen ist aber oft beeinflußt, um nicht zu sagen beherrscht, von politischen und ideologischen Gesellschaftssystemen , die ebenfalls das Werk des menschlichen Geistes sind. I m Maße wie sich die Menschen von Systemen verführen lassen, die ein umfassendes Menschenbild vorlegen, das in manichäischer Weise jedes andere ausschließt, und die aus dem Kampf gegen die anderen Weltanschauungen, aus ihrer Beseitigung oder Beherrschung die Bedingung für Fortschritt machen, schließen sie sich i n eine Kriegsmentalität 9*

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ein, welche die Spannungen verschärft, und werden so fast unfähig für einen Dialog. Manchmal w i r d die unbedinge Zustimmung zu solchen Systemen zu einer Art von Anbetimg der Macht, der Kraft, des Reichtums, zu einer Form von Sklaverei, die sogar den Regierenden selbst die Freiheit nimmt. Über die eigentlichen ideologischen Systeme hinaus gibt es außerdem zahlreiche Leidenschaften, die das menschliche Herz entstellen und es zum Krieg drängen. Die Menschen können sich hinreißen lassen zu rassischer Überheblichkeit und als Folge davon zu Haß gegen andere oder auch zu Eifersucht und Begehrlichkeit angesichts des Landes oder der Schätze der anderen oder allgemein zu Machtstreben und Ehrgeiz, zum Willen, ihre Herrschaft über andere Völker auszudehnen, die sie verachten. Gewiß, die Leidenschaften entstehen oft aus konkreten Enttäuschungen der einzelnen und der Völker, wenn ihnen von anderen die Garantie ihrer Existenz verweigert wurde oder wenn Gesellschaftssysteme hinsichtlich einer guten demokratischen Praxis und einer gerechten Verteilung der Güter i n Rückstand geraten sind. Ungerechtigkeit ist bereits ein großes Laster im Herzen des Menschen, der ausbeutet. Manchmal aber werden die Leidenschaften sogar absichtlich geschürt. Ein Krieg kann schwerlich ausgelöst werden, wenn die Bevölkerung auf beiden Seiten nicht starke Gefühle der Feindschaft füreinander empfindet oder wenn sie nicht davon überzeugt wird, daß die umstrittenen Ansprüche ihre jeweiligen Lebensinteressen berühren. Das ist dann die Erklärung für ideologische Manipulationen, wie sie von einem aggressiven Willen ausgehen. Wenn erst einmal die Kämpfe ausgelöst sind, gibt es nur noch ein Ansteigen der Feindseligkeit; denn sie findet ständig Nahrung i n den Leiden und Grausamkeiten, die sich auf beiden Seiten ansammeln. Es kann dann sogar zu Haßpsychosen kommen. Die Hinwendung zu Gewalt und Krieg kommt also letztlich aus der Sünde des Menschen, aus der Verblendung seines Geistes und der Entartung seines Herzens, die sich beide auf das Motiv der Ungerechtigkeit berufen, um Spannungen und Konflikte zu schaffen oder zu verschärfen. Ja, der Krieg w i r d im sündigen Herzen des Menschen geboren, angefangen bei der Eifersucht und Gewalt, die das Herz des Kain bei der Begegnung mit seinem Bruder Abel nach jener alten biblischen Erzählung befallen haben. Handelt es sich aber nicht tatsächlich um einen noch tieferen Bruch, wenn die Menschen fähig werden, sich über die Unterscheidung von Gut und Böse zu einigen und über die Werte des Lebens, dessen Quelle und Garant Gott ist? Erklärt das nicht die Irrwege des „Herzens" des Menschen, dem es nicht mehr gelingt, mit seinen Artgenossen auf der Grundlage der Wahrheit mit aufrichtigem Geist und wohlwollendem Herzen Frieden zu schließen?

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3. Der Frieden entspringt einem neuen Herzen Wenn die gegenwärtigen Systeme, die das „Herz" des Menschen hervorgebracht hat, sich als unfähig für die Erhaltung des Friedens erweisen, dann muß eben dieses „Herz" des Menschen erneuert werden, um die Systeme, Institutionen und Methoden erneuern zu können. Der christliche Glaube kennt ein Wort, um diese grundlegende Änderung des Herzens zu bezeichnen: es ist die „Bekehrung". Allgemein gesprochen, handelt es sich darum, die Klarsieht und Unparteilichkeit zusammen mit der Freiheit des Geistes, den Sinn für Gerechtigkeit mit der Achtimg vor den Menschenrechten, den Sinn für einen angemessenen Ausgleich mit weltweiter Solidarität zwischen den Reichen und den Armen, das gegenseitige Vertrauen und die brüderliche Liebe wiederzufinden. Es ist vor allem nötig, daß die Personen und die Völker eine wahre Freiheit des Geistes erlangen, um sich unfruchtbarer Verhaltensweisen der Vergangenheit sowie des i n sich verschlossenen und einseitigen Charakters von philosophischen und sozialen Systemen bewußt zu werden, die von fragwürdigen Voraussetzungen ausgehen und den Menschen mit seiner Geschichte auf ein begrenztes Feld von materiellen Kräften einengen, die nur auf die Macht der Waffen oder der Wirtschaft setzen, die die Menschen i n Kategorien einschließen, bei denen ausschließlich das Gegeneinander vorherrscht, die einbahnige Lösungn anpreisen, die die komplexen Wirklichkeiten i m Leben der Nationen mißachten und diese daran hindern, sich i n Freiheit damit zu befassen. Es muß also zu einer Prüfung dieser Systeme kommen, die offenkundig i n Sackgassen führen und Dialog und Verständigung einfrieren lassen, die das Mißtrauen fördern und Bedrohung und Gefahr vermehren, ohne die wirklichen Probleme zu lösen und echte Sicherheit zu bieten, ohne die Völker wirklich glücklich in Frieden und Freiheit zu machen. Diese Umwandlung i n der Tiefe des Geistes und des Herzens erfordert gewiß großen Mut, den Mut der Demut und der Einsicht; sie muß, ausgehend vom Gewissen der einzelnen Personen, das kollektive Denken erreichen. Ist es eine Utopie, darauf zu hoffen? Die Ohnmacht und die Gefahr, i n der sich unsere Zeitgenossen befinden, drängen sie dazu, diese Rückkehr zur Wahrheit , die allein sie befreit und befähigt, bessere Systeme zu schaffen, nicht auf später aufzuschieben. Das ist die erste Bedingung für ein „neues Herz". Die anderen positiven Elemente sind gut bekannt. Es genügt, sie hier kurz zu erwähnen. Der Frieden ist nur dann echt, wenn er die Frucht der Gerechtigkeit ist; „opus iustitiae pax", sagte schon der Prophet Jesaja (vgl. Jes 32, 17): Gerechtigkeit zwischen den Sozialpartnern, Gerechtigkeit zwischen den Völkern. Eine Gesellschaft ist aber nicht gerecht, nicht menschlich, wenn

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sie nicht die Grundrechte der menschlichen Person achtet. Kriegerische Gesinnung dagegen entsteht und reift dort, wo die unveräußerlichen Rechte des Menschen verletzt werden. Selbst wenn die Diktatur und der Totalitarismus das Seufzen der augebeuteten und unterdrückten Menschen für einige Zeit ersticken, bewahrt der rechtdenkende Mensch die Überzeugung, daß nichts diese Verletzung der Menschenrechte zu rechtfertigen vermag. Er hat den Mut, für die anderen, die leiden, seine Stimme zu erheben und weigert sich, vor der Ungerechtigkeit zu kapitulieren, sich mit ihr zu kompromittieren. Derjenige, der den Frieden zutiefst will, wird sogar — so paradox dies auch klingt — jeden Pazifismus zurückweisen, der nur Feigheit oder eine simple Wahrung der Ruhe sein würde. Jene, die versuchen, anderen ihre Herrschaft aufzuzwingen, werden stets dem Widerstand von einsichtigen und mutigen Männern und Frauen begegnen, die bereit sind, die Freiheit zu verteidigen, um die Gerechtigkeit zu fördern. Die Redlichkeit w i l l auch, daß man die Gerechtigkeit und Solidarität i n den Beziehungen mit den armen Ländern und vor allem mit jenen verstärkt, die Elend und Hunger erdulden. Der Ausspruch Pauls VI. ist bereits die Überzeugung vieler geworden: „Die Entwicklung ist der neue Name für den Frieden". Die reichen Länder sollten also von ihrem kollektiven Egoismus lassen, um den gegenseitigen Austausch und die Hilfeleistungen i n neuen Kategorien zu überdenken, indem man sich einer weltweiten Sicht öffnet. Mehr noch, das neue Herz setzt sich dafür ein, daß Kriegsangst und Kriegspsychose allmählich verschwinden. Es ersetzt das Axiom, nach dem der Frieden sich aus dem Gleichgewicht der Rüstung herleitet, durch den Grundsatz, daß der wahre Frieden sich nur i n gegenseitigem Vertrauen verwirklichen kann (vgl. Enzyklika Pacem in terris, Nr. 113). Gewiß, ein solches Herz w i r d zugleich wachsam und hellsichtig bleiben, um die Lügen und Manipulationen aufzudecken und mit Umsicht voranzugehen. Aber es wagt, unaufhörlich jenen Dialog zu führen und wieder aufzunehmen, der das Thema meiner Botschaft i m vergangenen Jahr gewesen ist. Das neue Herz ist schließlich dasjenige, das sich von der Liebe inspirieren läßt. Schon Pius X I . hat gesagt, daß es „keinen wahren äußeren Frieden unter den Menschen und Völkern geben kann, wo nicht der Geist des Friedens den Verstand und die Herzen beseelt..; den Verstand, um die Forderungen der Gerechtigkeit zu erkennen und zu achten; die Herzen, damit sich zur Gerechtigkeit die Liebe gesellt und dies sogar die Gerechtigkeit übersteigt. Denn wenn der Frieden das Werk und die Frucht der Gerechtigkeit i s t . . . , ist er doch mehr der Liebe als der Gerechtigkeit zuzuschreiben" (Ansprache vom 24. Dezember 1930, AAS 1930, S. 535). Es geht darum, auf die Gewalt, auf Lüge und Haß zu verzichten, in den Absichten und Gefühlen und im

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ganzen Verhalten ein brüderlich gesinnter Mensch zu werden, der die Würde und die Bedürfnisse des anderen anerkennt und mit ihm zusammenzuarbeiten sucht, um eine Welt des Friedens aufzubauen. 4. Appell an die Verantwortlichen für Politik und öffentliche Meinung Da man also zu einem neuen Herzen gelangen und eine neue Mentalität des Friedens schaffen muß, kann und soll jeder Mann und jede Frau, was auch immer ihr Platz i n der Gesellschaft ist, bei der Errichtung eines wahrhaften Friedens i n ihrem Lebensbereich, i n der Familie, i n der Schule, i m Betrieb, i n der Stadt, ihren Teil an Verantwortung wirklich übernehmen. I n seinen Sorgen, seinen Gesprächen und in seinem Wirken soll sich jeder für alle seine Brüder und Schwestern verpflichtet fühlen, die zu derselben Menschheitsfamilie gehören, auch wenn sie i m Widerstreit miteinander leben. Natürlich gibt es in der Verantwortung Grade. Jene der Staatsoberhäupter, der politischen Führer, ist entscheidend für die Herstellung und Entfaltung friedlicher Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Nation und unter den Völkern. Mehr als andere müssen sie davon überzeugt sein, daß der Krieg in sich irrational ist und das ethische Prinzip von der friedlichen Lösung der Konflikte der einzige menschenwürdige Weg ist. Gewiß, man muß auch die Gewalt mitbedenken, die i n der Geschichte der Menschen i n so massiver Form auftritt. Es ist Realismus i m Dienst der grundlegenden Sorge um Gerechtigkeit, der i n einer solchen Geschichte die Beibehaltung des Prinzips von der legitimen Verteidigung fordert. Aber die entsetzlichen Risiken von Waffen mit ungeheurer Vernichtungskraft müssen Entwicklungen i n die Wege leiten, die zur Zusammenarbeit und Abrüstimg führen und den Krieg praktisch undenkbar machen. Der Frieden muß errungen werden. Um so mehr muß das Gewissen den verantwortlichen Politikern verbieten, sich i n gefährliche Abenteuer ziehen zu lassen, wo Leidenschaft über die Gerechtigkeit die Oberhand gewinnt, dafür das Leben ihrer Mitbürger nutzlos zu opfern, die Konflikte bei den anderen zu schüren, die Unsicherheit des Friedens i n einer Region als Vorwand zu benutzen, um ihre Hegemonie auf neue Gebiete auszudehnen. Die Verantwortlichen müssen dies alles i n ihrem Herzen und Gewissen erwägen und jeden Machiavellismus verbannen; sie werden darüber ihren Völkern und Gott Rechenschaft geben. Aber ich wiederhole, der Frieden ist die Pflicht aller. Die internationalen Organisationen haben ebenfalls eine große Bedeutung dafür, daß umfassende Lösungen gegenüber parteiischen Gesichtspunkten die Oberhand gewinnen.

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Mein Appell richtet sich besonders an diejenigen, die durch die Medien einen Einfluß auf die öffentliche Meinung ausüben, an alle jene, die i n der Erziehungsarbeit unter Jugendlichen und Erwachsenen tätig sind: Ihnen ist die Aufgabe anvertraut, den Geist des Friedens zu formen. Kann man i n der Gesellschaft nicht i n einer besonderen Weise auf die Jugendlichen bauen? Angesichts einer bedrohlichen Zukunft, die sie ahnen, sehnen sie sich ohne Zweifel mehr als andere nach dem Frieden, und viele sind bereit, sich dafür hochherzig und mit allen Kräften einzusetzen. Sie sollen ihre Erfindungsgabe hierfür unter Beweis stellen, dabei jedoch eine klare Sicht bewahren; ebenso sollen sie Mut zeigen, alle Aspekte langfristiger Lösungen zu bedenken! Alle Männer und Frauen sollen schließlich ihren Beitrag für den Frieden leisten und sich dabei entsprechend ihrer Veranlagung und ihrer jeweiligen Aufgaben gegenseitig ergänzen. So können die Frauen, die mit dem Geheimnis des Lebens eng verbunden sind, viel für die Förderung einer Friedensgesinnung tun, indem sie die Erhaltung des Lebens gewährleisten und davon überzeugt sind, daß wahre Liebe die einzige Kraft ist, die die Welt für alle bewohnbar zu machen vermag. 5. Appell an die Christen Christen, Jünger Jesu, die inmitten der Spannungen unserer Zeit leben, w i r müssen uns daran erinnern, daß es kein Glück gibt, es sei denn für die „Friedensstifter" (vgl. Mt 5, 9). Die katholische Kirche lebt das Heilige Jahr der Erlösung: Sie ist als ganze eingeladen, sich vom Herrn erfassen zu lassen, der i m Augenblick vor der äußersten Bezeugung seiner Liebe sagt: „Meinen Frieden gebe ich euch" (vgl. Joh 14, 27). I n ihr muß jeder die Verkündigung des Heils und die Kraft der Hoffnung mit allen Brüdern teilen. Die Bischofssynode über die Versöhnung und die Buße erinnert an das erste Wort Christi: „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium" (Mk 1, 15). Die Botschaft der Väter der Synode zeigt uns, auf welchem Weg wir voranschreiten müssen, um wahrhaftig Friedensstifter zu sein: „Das Wort ruft uns zur Buße. »Bekehre dein Herz 4 , sagt es,,bitte um Vergebung und laß dich mit dem Vater versöhnen'. Der Ratschluß des Vaters für unsere Gesellschaft ist, daß w i r wie eine einzige Famlie in Gerechtigkeit und Wahrheit, i n Freiheit und Liebe leben" (vgl. UOsservatore Romano, 28. Okober 1983). Diese Familie w i r d nur dann in tiefem Frieden geeint sein, wenn w i r den Aufruf vernehmen, zum Vater zurückzukehren, uns mit Gott selber zu versöhnen.

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Auf diesen Aufruf antworten, mit Gottes Plan zusammenarbeiten, bedeutet, uns von Gott bekehren zu lassen. Wir vertrauen dabei nicht nur auf unsere Kraft, nicht nur auf unseren Willen, der allzu oft schwach ist. Möge unser Leben sich verwandeln lassen, denn „alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat" (2 Kor 5, 18). Entdecken w i r wieder neu die Macht des Gebetes: Beten heißt, mit dem in Einklang zu treten, den w i r anrufen, dem w i r begegnen, der uns das Leben schenkt. Die Erfahrung des Gebetes machen, bedeutet, die Gnade anzunehmen, die uns verwandelt; der Heilige Geist, der sich mit unserem Geist verbindet, veranlaßt uns, unser Leben nach dem Wort Gottes zu gestalten. Beten besagt, am Einwirken Gottes auf die Geschichte teilzunehmen: Der souveräne Herr der Geschichte, er hat die Menschen zu seinen Mitarbeitern machen wollen. Paulus sagt uns von Christus: „Er selbst ist unser Friede. Er vereinigte Juden und Heiden und riß durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder" (Eph 2,14). Wir wissen, welche Macht des Erbarmens uns i m Sakrament der Versöhnung verwandelt. Es schenkt sie uns i n reicher Fülle. I n aller Redlichkeit können w i r uns darum nicht mit den Spaltungen und Zerwürfnissen abfinden, die uns entzweien, die w i r denselben Glauben teilen. Wir können nicht untätig hinnehmen, daß die Konflikte fortdauern, die die Einheit der Menschheit zerstören, die doch berufen ist, ein Leib zu werden. Wenn w i r uns feierlich Vergebung zusprechen, können w i r uns dann noch endlos bekämpfen? Können w i r noch Gegner bleiben, während w i r denselben lebendigen Gott anrufen? Können wir, wenn das Liebesgebot Christi unser Gesetz ist, stumm und tatenlos bleiben, wenn die verwundete Welt erwartet, daß w i r uns i n die erste Reihe zu denen stellen, die den Frieden aufbauen? Demütig und i m Bewußtsein unserer Schwäche treten w i r an den eucharistischen Altar , wo jener, der sein Leben für die große Schar seiner Brüder hingibt, uns ein neues Herz schenkt, wo er uns einen neuen Geist eingibt (vgl. Ez 36, 26). Aus unserer tiefsten Armut und Verwirrung sagen wir durch ihn Dank, denn er vereinigt uns durch seine Gegenwart und durch das Geschenk seiner selbst; er, der „kam und Frieden verkündete: euch, den Fernen, und uns, den Nahen" (Eph 2, 17). Und wenn es uns gegeben ist, ihn zu empfangen, so ist es unsere Aufgabe, durch unseren brüderlichen Einsatz auf allen Baustellen des Friedens seine Zeugen zu sein.

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Schluß Der Frieden hat vielfältige Formen. Es gibt den Frieden zwischen den Nationen, den Frieden i n der Gesellschaft, den Frieden zwischen den Bürgern, den Frieden zwischen den religiösen Gemeinschaften, den Frieden in den Betrieben, i n den Wohnvierteln und Orten und besonders den Frieden i n der Familie. Während ich mich an die Katholiken und auch an die anderen christlichen Brüder und die Menschen guten Willens wende, habe ich auf eine gewisse Anzahl von Hindernissen für den Frieden hingewiesen. Sie sind schwerwiegend und ziehen ernste Gefahren nach sich. Da sie aber vom Geist, vom Willen und „Herzen" der Menschen abhängen, können diese sie mit Gottes Hilfe überwinden. Sie müssen sich dagegen wehren, dem Fatalismus und der Mutlosigkeit zu erliegen. Positive Zeichen werden schon im Dunkel sichtbar. Die Menschheit w i r d sich der unumgänglichen Solidarität bewußt, die Völker und Nationen verbindet und erforderlich ist für die Lösung der meisten großen Probleme: Arbeitsbeschaffung, Nutzung der irdischen und kosmischen Schätze, Förderung der weniger begüterten Länder, Sicherheit. Die kontrollierte allgemeine Abrüstung wird von vielen als eine Lebensnotwendigkeit betrachtet. Instanzen mehren sich, um alles ins Werk zu setzen, damit der Krieg vom Horizont der Menschheit verschwindet. Die Appelle zum Dialog, zur Zusammenarbeit und zur Versöhnung nehmen ebenfalls zu, und zahlreiche Initiativen treten ans Licht. Der Papst ermutigt sie. „Selig, die Frieden stiften!" Möge der hochherzige Einsatz stets mit einem klaren Blick verbunden sein! Der Frieden werde immer aufrichtiger und schlage Wurzeln i m Herzen der Menschen! Es werde der Schrei der gequälten Menschen gehört, die auf den Frieden warten! Jeder setze alle Energien eines erneuerten und brüderlichen Herzens ein, um Frieden i n der ganzen Welt zu schaffen! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1983. JOANNES PAULUS PP. H

DER FRIEDEN ENTSPRINGT EINEM NEUEN HERZEN Von P. Heinrich Segur SJ

I. Erstaunliche Parallelen Es ist immer interessant, wichtige Dokumente vergangener Jahre neu zu lesen. Im Rückblick zeigt sich das eine richtig getroffen, das andere inzwischen überholt, wieder anderes i n ganz neuem Licht. Das gilt auch für die Botschaft Papst Johannes Paul IL zum 17. Weltfriedenstag 1984: „Der Frieden entspringt einem neuen Herzen". Diese Behauptimg mag i n den Ohren gestandener Politiker weltfremd, nicht verwirklichbar, kurz „antipolitisch" klingen. Nun gibt es bisweilen Zufälle, die vielleicht gar keine sind. Jedenfalls schrieb der tschechische Dichter, ehemalige Dissident und spätere Staatspräsident der neuen CSFR zur selben Zeit seine vielleicht beste Rede: „Politik und Gewissen". Wer die beiden Texte liest, ist erstaunt, wie sehr sie einander entsprechen. „Doch,,antipolitische Politik 1 ist möglich", schreibt Havel und erklärt, was er darunter versteht: „,Politik von unten', Politik des Menschen, nicht des Apparates. Politik, die aus dem Herzen kommt, nicht aus der These". 1 Es lohnt sich, i n unserem Beitrag näher auf diese Ausführungen einzugehen. Ähnlich wie der Papst geht er an die Wurzel der Probleme und stellt scharfsichtig fest: „Es ist paradox: Der Mensch der Ära der Wissenschaft und Technik meint, das Leben zu verbessern, weil er imstande ist, die Komplexheit der Natur und die allgemeinen Gesetze ihres Funktionierens zu verstehen und auszunützen — und gerade von dieser Komplexheit und von diesen Gesetzen wird er täglich überrumpelt und überlistet." Die Wurzel dieser absurden Entwicklung ist aber menschliches Fehlverhalten. „Nicht die Wissenschaft als solche ist schuld, sondern der Hochmut des Menschen der wissenschaftlichen Ära. Der Mensch ist eben nicht Gott, und Gott zu spielen rächt sich grausam . . . er hat sich seiner Verantwortung als einer »Illusion der Subjektivität 4 entledigt — und an Stelle all dessen installiert er die — wie es sich heute zeigt — von allen bisherigen gef ährlichste Illusion: die Fiktion einer vom konkreten Menschen befreiten Objektivität, das Koni Vaclav Havel, Am Anfang war das Wort, Hamburg 1990, S. 112.

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strukt eines rationalen Verständnisses des Alls, ein abstraktes Schema angeblicher »historischer Notwendigkeit' und als Gipfel all dessen, die Vision eines wissenschaftlich berechenbaren und rein technischen erreichbaren ,Wohls aller', das nur i n Forschungsinstituten ausgedacht und i n Industrieund Bürokratiefabriken i n die Wirklichkeit umgesetzt zu werden braucht". I m weiteren Verlauf der Rede, die Havel als Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Toulouse vorgetragen hat, zeigt er auf, daß der verhängnisvolle Ursprung des modernen Staates und der modernen Politik i n einem abstrakten Vernunftbegriff liegt, „ i n dem der menschliche Verstand sich vom Menschen zu »befreien' beginnt, von seiner persönlichen Erfahrung, von seinem persönlichen Gewissen und also auch von dem, worauf sich i n den Dimensionen der Lebenswelt jede Verantwortung einzig bezieht, nämlich von seinem absoluten Horizont". 2 Unter diesem Begriff meint Havel Gott, wie aus anderen Ausführungen hervorgeht. Wir könnten versucht sein, zu meinen, diese Gedanken gingen uns i m Westen wenig an. Dazu Havel: „Ich glaube, was die Beziehimg Westeuropas zu den totalitären Systemen angeht, wäre der größte Fehler, den es machen könnte, der, der ihm offenbar am meisten droht: die totalitären Systeme nicht als das zu begreifen, was sie i n letzter Instanz sind, nämlich als den gewölbten Spiegel der ganzen modernen Zivilisation und einen harten — und vielleicht letzten—Aufruf an diese Zivilisation zu einer Generalrevision ihres Selbstverständnisses." 3 Also der Aufruf zu „einem neuen Herzen"? Der Papst ruft i n seiner Friedensbotschaft auf, aus einem „neuen Herzen", einer neuen Gesinnung , aus einem wachen Gewissen und aus einer persönlich wahrgenommenen Verantwortung jene Impulse zu setzen, die zu einem gerechten und dauerhaften Frieden führen. „Man könnte meinen, dieser Vorschlag sei zu einfach, und dieses Mittel nicht angemessen", gibt Johannes Paul II. selbst zu bedenken. Also, eine „antipolitische Politik"? Vielleicht, doch der Papst ist zuversichtlich. Er ist überzeugt, die von ihm vorgelegte Analyse erlaube „zur Wurzel des Problems vorzudringen; sie ist von der Art, daß gerade jene Voraussetzungen, die den Frieden bedrohen, einer Prüfung unterzogen werden. Das Unvermögen, das der Menschheit nicht gestattet, die Spannungen aufzulösen, macht deutlich, daß die Hemmungen oder, auf der anderen Seite, die Hoffnungen aus einer tieferen Schicht stammen als es die Systeme selbst sind". 4 Dazu wieder eine Entsprechung in Havels Rede: „Noch nie ist es gelungen, 2 Ebenda, S. 93. 3 Ebenda, S. 96. 4 Botschaft Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages 1984, S. 6.

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ein Böses zu beseitigen, indem man seine Symptome beseitigte. Es ist notwendig, seine Ursachen zu beseitigen". 5

II. Biblische Schlüsselbegriffe zur Botschaft Um den christlichen Gehalt der Botschaft stärker herauszuarbeiten, soll nun auf die Schlüsselbegriffe wie Herz, Gerechtigkeit und Frieden eingegangen werden. 1. Herz Während i n der deutschen Sprache das Wort „Herz" eine Metapher für Liebe, Gefühl, Treue und andere Gegebenheiten des affektiven Lebens ist, hat es i n der hebräischen Sprache einen viel weiteren Sinn. Das Hebräische spricht häufig von Herz, wo w i r Gedächtnis oder Geist, Bewußtsein oder Gewissen sagen würden. Das hat seinen Grund i m biblischen Denken, das die Unterscheidung von Körper und Seele, von Leib und Geist nicht kennt. Es denkt noch ganzheitlich. Daher ist das Herz auch der Sitz der physischen Lebenskraft. Das Herz ist vor allem die Mitte des Menschen, die Mitte seines ganzen Wesens, aus dem sein ganzes Verhalten entspringt. Dem werden nicht nur die Affekte zugeschrieben, sondern, was unserem Empfinden eher fremd ist, auch das Denken. Das Erfassen der Wahrheit und der Vorgang des Denkens ist nicht, wie wir es heute gewohnt sind, ein rein rationaler Vorgang im Sinn eines abstrakten Vernunftdenkens, sondern ein gesamtmenschlicher. Gute und böse Gedanken wohnen i m Herzen. Dem biblischen Denken ist ein säkularisiertes Weltbild völlig fremd. Gott legt den Menschen die Wahrheit ins Herz. Es bestimmt auch das religiöse Verhalten. Die Bekehrung, die Umkehr, kommt daher aus einem „neuen Herzen w. Was dem Herzen des Menschen entspringt, zielt auf Verwirklichung. Dies zeigt der rabbinische Ausspruch: „Welches ist der gute Weg, auf dem der Mensch sich halten soll? . . . Ein gutes Herz! . . . Welches ist der schlechte Weg, von dem der Mensch sich fernhalten soll? . . . Ein böses Herz" (Abot 2,9). Was der Mensch verwirklicht, muß er vor Gott und vor seinem eigenen Gewissen verantworten. Das ist festzuhalten, obwohl i m Alten Testament ein zufriedenstellender Fachausdruck für Gewissen fehlt. Der Sache nach ist er aber zweifellos vorhanden. Der Versuch, menschliches Tun aus der Verantwortimg des Gewissens zu entlassen, ist der Bibel fremd. Es ist allerdings die Versuchung unseres modernen, westlich geprägten Denkens. 5 Vaclav Havel, S. 99.

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2. Gerechtigkeit Wenn w i r i n unserer westlich-abendländisch geprägten Rechtskultur das Wort „Gerechtigkeit" hören, denken w i r zumeist an ein System von Gesetzen, gesatzte und nicht gesatzte, von Normen, Vorschriften und Pflichten. Wir denken an einklagbare Ansprüche, vertraglich übernommene Lasten u. a. m. Gerechtigkeit ist dann eine Tugend, die den genannten Gegebenheiten i n redlicher Ausgewogenheit Rechnimg trägt. Daher ist die Waage das Symbol dieses Verständnisses von Gerechtigkeit. Weiters denken w i r an einen Mechanismus von Belohnung und Bestrafung, welcher der Durchsetzung solcher Gerechtigkeit dient. Dieser Mechanismus steht bisweilen unter dem Verdacht von Härte, Lieblosigkeit, Verständnislosigkeit und Unbarmherzigkeit, wie es der sarkastische Spruch: „fiat justitia, pereat mundus" (es geschehe die Gerechtigkeit, die Welt gehe zugrunde) nahelegt. Natürlich finden w i r auch i n der Bibel Stellen, i n denen „ Gerechtigkeit " den Sinn unseres gewohnten Begriffs hat. Bestimmend ist jedoch, zumal i m Alten Testament, ein anderer Begriffsinhalt. Bezugspunkt ist die von Gott i n die Schöpfung und i n seine Heilspläne gelegte Ordnung. Der Mensch, der sie erfaßt und befolgt, offenbart auf diese Weisen Eigenschaften des unsichtbaren, transzendenten Gottes in dieser Welt i n der Sichtbarkeit seines eigenen Lebens. Er w i r d zum „Gerechten" i m vollen biblischen Sinn des Begriffs, denn dieses Leben w i r d zum Ausdruck der alles überragenden Gerechtigkeit Gottes. I n dieser Sicht w i r d die Verletzung auch zwischenmenschlicher Gerechtigkeitsansprüche zur Entweihung Gottes selbst. Von hier w i r d verständlich, warum i m Alten Testament die Gerechtigkeit der „höchste Lebenswert" ist (Gerhard von Rad). Auffallend für uns moderne Menschen ist auch, daß dem Begriff „Gerechtigkeit" i n der Bibel nicht der Makel von Verständnislosigkeit und Härte anhaftet, sondern ganz i m Gegenteil, der Vorzug von Barmherzigkeit und Versöhnimg. In Verbindung von „Recht" und „Weisheit" nimmt der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff Züge an, die w i r teils „ritterlich", teils „caritativ" nennen würden: Schutz des Schwachen, der vom Elend Getroffenen, Waisen und Witwen, aber auch ganz allgemein die Forderung rechten Gewichtens und rechten Maßes. Gerade dieser wesentliche Gehalt i m biblischen Begriff von Gerechtigkeit ist i m gängigen deutschen Begriff nicht enthalten. Der Gerechte i m biblischen Sinn w i l l alles i n der Welt, i n der inneren wie i n der äußeren Welt, an seinen richtigen Ort stellen. Die Vernachlässigimg dieses Bemühens ist der Grund für das Überhandnehmen von Unordnung und Bosheit. Gerechtigkeit, aber auch ihr Gegenteil, nehmen ihren Ausgang vom menschlichen Herzen.

Der Frieden entspringt einem neuen Herzen

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3. Frieden Wenn w i r mit unserem Sprachempfinden das Wort „Frieden" hören, denken w i r an den inneren und äußeren Frieden. Der innere Friede ist mehr oder weniger dann gegeben, wenn w i r i n Harmonie mit uns selbst leben, d. h., wenn die Verwirklichung unseres Lebens dem Verlauf unserer Erwartungen entsprechend verläuft. Der äußere Frieden ist gegeben, wenn durch rechtliche, politische oder militärische Maßnahmen das menschliche Zusammenleben i m wesentlichen garantiert ist. Das meint auch das lateinische Wort für Frieden „pax", das stammverwandt ist mit „pactum", Vertrag. Die Bibel gibt dem Wort „Frieden" einen deutlich weiteren Sinn. Der Friede stellt sich vor allem durch die Zuwendung Gottes ein. Aus ihr entspringt das „Heil", das i n der Bibel sowohl die natürliche Schöpfung als auch die übernatürlich-gnadenhafte Neuschöpfung umfaßt. Die Herkunft des hebräischen Wortes für Frieden, shalom, weist auf den göttlichen Friedenswillen hin, der mit dem Vollendetsein der Schöpfung gegeben ist. Wenn w i r die Schöpfungsordnimg i n ihrer — verletzlichen — Vollendung wahren, dienen w i r dem Frieden, den die Bibel immer und grundsätzlich als Gabe Gottes sieht. I n diesem Sinn sind auch die Worte Jesu in den Abschiedsreden zu verstehen: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch. Euer Herz änstige sich nicht und verzage nicht" (Jo 14, 27). I n der kirchlichen Verkündigung hat i m Verlauf der Jahrhunderte das Wort „Frieden" einen starken gesellschaftspolitischen Aspekt erhalten, ohne allerdings seiner biblischen Sinngebung verlustig gegangen zu sein. In besonderem ist auf den Einfluß aus dem römischen Rechtsdenken zu verweisen. Die Idee der „pax romana" als Programm politischer Friedensverwirklichung hat auf das abendländische Denken großen Einfluß genommen. m . Die Friedensbotschaft aus biblischer Sicht Wie sieht nun der Beitrag zum Frieden aus, den der Papst i n seiner Botschaft 1984 vorlegt? Er setzt, wie w i r bereits gesehen haben, an der Wurzel des Problems an und appelliert zur Erneuerung des Herzens. Aus dem Herzen entspringen ja nicht nur die guten Gefühle wie Liebe, Ehrfucht, Freude, Friedfertigkeit, Güte und die schlechten wie Haß, Neid, Streitsucht, Eigensucht u. a. m., sondern auch die guten wie die bösen Gedanken und gedanklichen Systeme wie Weltanschauungen, Nationalismus, Ideologien u. a. m. Wo das Herz des Menschen die Welt als Schöpfung erkennt und i n ihr den Schöpfer erahnt, w i r d es auch zu einer Schöpfungsordnung vorstoßen, die

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es von der Schöpfungsidee her zu verstehen sucht. Gerade hier, wo der Mensch zu den tiefsten Fragen vorstößt, mit denen er sich seit jeher befaßt hat, zeigt sich, wie Denken und Ahnen ineinander übergehen. Der Mensch erkennt auch, daß die Schöpfungsordnung einen Bezug hat zu seinem Wollen, genauer, zu seinem ethisch verantworteten Wollen. I n seinem Gewissen erfährt er, daß er sie zu respektieren hat und sie nicht mißachten darf. Wer sie respektiert, ist i n der Sprache der Bibel „gerecht", wer sie mißachtet „ungerecht". Aus einem gerechten Herzen kommen Gedanken des Friedens, aus denen der innere und äußere Frieden entspringt, eine Konsequenz der Harmonie mit der Schöpfungsordnung und ein Beitrag zu ihrer Vollendung. Doch lehrt die Bibel, daß das Herz des Menschen zum Bösen neigt, und er nicht fähig ist, das zu tun, was er i m Grunde will. Die Bibel führt diese Schwäche auf die Erbsünde und ihre Folgen zurück. Paulus bekennt i n seinem Brief an die Gemeinde von Rom: „Ich begreife mein Handeln nicht: ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse... Das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht w i l l " (Rom 7,15-19). Hier schlägt sich eine allgemeine Menschheitserfahrung nieder. Solches Tun verletzt den inneren und äußeren Frieden. Er ist also durch menschliche Kräfte allein weder voll zu erreichen noch dauerhaft sicherzustellen. Darum muß er von Gott erbeten werden. Er ist, soweit vorhanden, ein Ergebnis des göttlichen Heilswillens. Der Friede entspringt einem von Gottes Heilswillen geheilten, gerechten und erneuerten Herzen. Das ist der tiefe Sinn der Worte des Propheten Jesaja: „Die Wirkung der Gerechtigkeit w i r d Friede sein, die Frucht des Rechtes ewige Sicherheit" (Jes 32,17).

IV. Drei tragende Themen Vor diesem nun etwas herausgearbeiteten biblischen Hintergrund verstehen w i r vielleicht besser die drei tragenden Themen der Botschaft. 1. Der Krieg entsteht im Herzen des Menschen Der Papst denkt besonders an politische und ideologische Gesellschaftssysteme, die das Gewissen i n einer Weise beeinflussen, daß es Gefahr läuft, nur das gut bzw. schlecht zu nennen, was den jeweiligen Interessen nützt bzw. schadet. Eine „Entartung des Herzens" ist die Folge. „ I m Maße, wie sich die Menschen von Systemen verführen lassen, die ein umfassendes Menschenbild vorlegen, das i n manichäischer Weise jedes andere ausschließt,

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und die aus dem Kampf gegen die anderen Weltanschauungen, aus ihrer Beseitigung oder Beherrschung die Bedingung für Fortschritt machen, schließen sie sich i n eine Kriegsmentalität ein, welche die Spannungen verschärft, und werden so fast unfähig für einen Dialog". 6 Menschen mit solchen „entarteten Herzen" sind der Nährboden für kriegerische Auseinandersetzungen. „Ein Krieg kann schwerlich ausgelöst werden, wenn die Bevölkerung auf beiden Seiten nicht starke Gefühle der Feindschaft füreinander empfindet." 7 2. Der Frieden entspringt einem neuen Herzen Das eben Ausgeführte ist gleichsam die Kontrastfolie, auf welcher der Appell zu einer grundlegenden Änderung der Gesinnung, zu einer „Generalrevision des Selbstverständnisses" (Havel), kurz, zu einer Änderung des Herzens i m vollen Licht erkennbar wird. Es gilt, „die Klarsicht und Unparteilichkeit zusammen mit der Freiheit des Geistes, den Sinn für Gerechtigkeit mit der Achtung vor den Menschenrechten, den Sinn für einen angemessenen Ausgleich mit weltweiter Solidarität zwischen den Reichen und den Armen, das gegenseitige Vertrauen und die brüderliche Liebe wiederzufinden". Dem Papst ist „die Freiheit des Geistes" ein besonderes Anliegen. Sie ermöglicht, unbefangen und objektiv die verschiedenen philosophischen und gesellschaftlichen Systeme und ihre z. T. fragwürdigen Voraussetzungen kritisch zu prüfen sowie Grundrechte der menschlichen Person zu erfassen und zu achten. Menschen, in denen sich „diese Umwandlung i n der Tiefe des Geistes und des Herzens" vollzieht, werden jeden „Pazifismus zurückweisen, der nur Feigheit oder eine simple Wahrung der Ruhe sein würde". 8 3. Eine neue Mentalität des Friedens zu schaffen ist Aufgabe aller Aus „neuem Herzen" kann nur dann Friede werden, wenn sich viele Menschen i n ihren Lebensbereichen von diesem Appell leiten lassen. Daher ergeht der Appell zunächst an alle, wer immer sie sind und wo immer sie stehen, an erster Stelle aber an die Staatsoberhäupter und Politiker. Insbesondere müssen sie zur Überzeugung finden, daß die „friedliche Lösung der Konflikte der einzig menschenwürdige Weg i s t " . 9 Der Papst nennt noch andere Gruppen: Journalisten i n ihrem Einflußbereich auf die öffentliche Meinung sowie 6 7 8 9

Friedensbotschaft, S. 7. Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 13.

10 Johannes Paul IL

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Erzieher i n ihrer Aufgabe, i n Jugendlichen den Geist des Friedens zu fördern. Sie sollen wissen, daß der Friede letztlich Geschenk Gottes ist. „Auf diesen Aufruf antworten, mit Gottes Plan zusammenarbeiten, bedeutet, uns von Gott bekehren zu lassen. Wir vertrauen dabei nicht nur auf unsere Kraft, nicht nur auf unseren Willen, der allzu oft schwach ist. Möge unser Leben sich verwandeln lassen, denn ,alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat' (2 Kor 5,18)". 1 0 V. Bückblicke und Ausblicke Zwischen 1984, dem Jahr der Veröffentlichung der Friedensbotschaft und 1989, dem denkwürdigen Jahr, in dem die demokratischen Revolutionen i n Mittel- und Osteuropa einsetzten und eine Lawine nationaler Emanzipationen nach sich gezogen haben, liegen nur fünf Jahre. Inzwischen ist die gesamte weltpolitische Lage wesentlich verändert. Wer die mit großer Genauigkeit, Sachkenntnis und Fleiß erstellte Analyse dieser Vorgänge durch Lothar Rühl i n seinem Buch „Zeitenwende i n Europa" liest, w i r d staunend feststellen, wieviel Gedankengut aus dem „sündigen Herzen des Menschen", geboren i n den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft , am Werk war. Allein das Kapitel über die Breschnew-Ära ist ein Beispiel über die „Irrwege des Herzens des Menschen". Der Leser ist erstaunt über das Ausmaß an Lüge, Desinformation, Korruption, Unterdrückung, Überwachung und Parteiterror. Selbst die besten Geheimdienste hätten, so der ehemalige Staatssekretär i m Bonner Verteidigungsministerium, nicht das volle Ausmaß des sich anbahnenden Zusammenbruchs erkannt, obwohl es Breschnew und seiner Umgebimg bekannt gewesen sein mußte. 1 1 „Der Friede entspringt einem neuen Herzen". Die demokratischen Revolutionen i n Mittel- und Osteuropa waren vor allem deshalb so wirksam, weil sich wieder einmal i n der Geschichte der Menschheit die nicht ungef ährlichen Worte Victor Hugos als wahr erwiesen haben, daß „etwas stärker ist als alle Armeen der Welt:-eine Idee, deren Zeit gekommen ist". Doch Ideen allein schaffen keine Wirklichkeiten. Sie liegen ihnen allerdings zugrunde. Gegenwärtig w i r d immer klarer, daß die Verwirklichung eines „Europa vom Atlantik bis zum Ural" ungeheure Anstrengungen verlangt. Die anfänglichen Vorstellungen, eine Wiederholung der erfolgreichen west10 Ebenda, S. 16. 11 Lothar Rühl, Zeitenwende in Europa, Stuttgart 1990, vgl. „Der Niedergang der Sowjetunion am Ende der Breschnew-Ära und Gorbatschows Programm zur Erneuerung der Sowjetmacht", S. 131 f.

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europäischen Einigungsbemühungen werde sich nun i n Mittel- und Osteuropa einstellen, zeigen sich als zu einfach und zu optimistisch gedacht. Nach dem 2. Weltkrieg waren nicht ohne Schwierigkeiten und nicht ohne den Mut weitschauender Politiker aus Feinden schließlich Partner geworden. Erst sechs, nunmehr zwölf Staaten taten sich zur europäischen Gemeinschaft zusammen. Doch auch sie sind noch lange nicht am Ziel ihres Integrationsprozesses angekommen. Die Integration der westeuropäischen Staatengemeinschaft mit den mittelund osteuropäischen Staaten aus dem ehemaligen kommunistischen Machtbereich zu einem „Europa vom Atlantik bis zum Ural" ist um vieles schwieriger. Dennoch ist sie, oder wäre sie, unserer Generation aufgegeben, sollten aus den alten Gegensätzen, die Europa bisher spalteten, frei — unfrei, nicht neu folgen: reich — arm. Eine solche Neuauflage von Gegensätzen Hefe auf eine ständige Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens auf unserem Kontinent hinaus. „Der Friede entspringt einem neuen Herzen", schrieb der Papst in seiner Botschaft zum 17. Weltfriedenstag. Die Zeit, i n der w i r leben, ist ein „Aufruf an die Zivilisation zu einer Generalrevision ihres Selbst Verständnisses", schrieb zur selben Zeit Havel in seiner bereits genannten Rede. Wird es gelingen, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, daß nur Gesellschaftssysteme Dauer haben, die i n Gott, im „absoluten Horizont", verankert sind und welche den Staatsbürgern die Freiheit lassen, ihre eigenen Belange i n Eigeninitiative und Selbstverantwortung zu regeln? Jedenfalls ist ein Grundpfeiler der katholischen Soziallehre das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge die Gesellschaft den Einzelnen, aber auch der umfassendere gesellschaftliche Verband den kleineren Lebenskreisen nicht abnehmen darf, was diese aus eigener Kraft ebenso gut oder gar besser leisten können. Wird es gelingen, den Ausgleich von reich und arm durch eine neue Kultur der Solidarität, der Mitverantwortung und des Teilens — wenigstens einigermaßen — zu erreichen? Die inzwischen erschienene Sozialenzyklika „Centesimus annus" spricht hierzu eine deutliche Sprache. Sie ruft nach einer Gerechtigkeit, wie sie die Bibel als „höchsten Lebenswert" versteht. Wer die Entwicklung der letzten Jahre verfolgt, wird Hoffnung schöpfen, aber auch Sorge haben. Er w i r d Ansätze einer Politik i m Sinn der jüngsten Sozialenzyklika erkennen, zugleich aber auch erstaunlichen Geiz und bedrückende Verständnislosigkeit an der Basis der Gesellschaft sowie die machiavellistischen Strategien politischer und wirtschaftlicher Macht wahrnehmen. 10*

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„Der Frieden entspringt einem neuen Herzen". Seit 1984 hat sich die Weltlage wesentlich geändert. Die Feststellung der Botschaft zeigt sich daher in einem stark veränderten Zusammenhang. Ist sie unaktuell geworden? Hat sie sich überholt? Hat sie sich als „antipolitisch" erwiesen? Jedenfalls ist eine Politik nach diesem Grundsatz möglich, vielleicht nötiger als vor 1984. Sie ist eine, um es mit Vaclav Havel zu sagen, „,Politik von unten' Politik des Menschen, nicht des Apparates. Politik, die aus dem Herzen kommt, nicht aus der These".

BOTSCHAFT SEINER H E I L I G K E I T PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1985 „FRIEDEN UND JUGEND, ZUSAMMEN UNTERWEGS"

A n euch alle, die ihr an die Dringlichkeit des Friedens glaubt, an euch, Eltern und Erzieher, die ihr danach verlangt, den Frieden zu fördern, an euch, Politiker, die ihr für die Sache des Friedens unmittelbar Verantwortung tragt, an euch, Männer und Frauen i m Dienst der Kultur, die ihr i n der heutigen Zivilisation Frieden zu schaffen sucht, an euch alle, die ihr um des Friedens und der Gerechtigkeit willen leidet, und vor allem an euch junge Menschen i n aller Welt, deren Entscheidungen i m eigenen Leben und deren Aufgaben i n der Gesellschaft die Aussichten für den Frieden heute und morgen bestimmen werden, an euch alle und an alle Menschen guten Willens richte ich meine Botschaft zum 18. Weltfriedenstag; denn Frieden ist ein entscheidendes Anliegen, eine unausweichliche Herausforderung, eine große Hoffnung.

1. Die Probleme und die Hoffnungen begegnen uns täglich

der Welt

Es ist wahr: die Herausforderung des Friedens begleitet uns fortwährend. Wir leben i n einer schwierigen Zeit, unter vielfältiger Bedrohung durch Krieg und zerstörerische Gewalt. Tiefe Meinungsverschiedenheiten richten verschiedene soziale Gruppen, Völker und Nationen gegeneinander. Soviele ungerechte Situationen gibt es, die nur deshalb nicht i n offene Konflikte ausbrechen, weil die Gewalt derer, die die Macht innehaben, so groß ist, daß sie den Machtlosen alle Kraft und Gelegenheit nimmt, ihre Rechte einzufordern. Ja, es gibt heute Menschen, die durch totaligäre Regime und ideologische Systeme daran gehindert werden, das Grundrecht auszuüben, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden. Männer und Frauen erleiden heutzutage unterträgliche Beleidigungen ihrer Menschenwürde durch Rassendiskrimi-

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nierung, Verbannung und Tortur. Sie sind Opfer von Hunger und Krankheit. Sie werden daran gehindert, ihren religiösen Glauben auszuüben oder ihre eigene K u l t u r zu entwickeln. Es ist wichtig, die tiefsten Ursachen dieser Konfliktsituation zu erkennen, die den Frieden unsicher und anfällig macht. Eine wirksame Förderimg des Friedens verlangt, daß w i r uns nicht darauf beschränken, die schlimmen Folgen der gegenwärtigen Situation von Krise, Konflikt und Unrecht nur zu beklagen; was w i r tatsächlich tun müssen, ist, die Wurzeln dieser Folgen zu beseitigen. Diese Ursachen finden w i r vor allem i n den Ideologien, die unser Jahrhundert beherrscht haben und dies immer noch tun: Sie zeigen sich i n politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen und haben die Kontrolle darüber, wie die Menschen denken. Diese Ideologien sind von einer totalitären Einstellung gekennzeichnet, welche die Würde und die transzendentalen Werte der menschlichen Person und ihrer Recht mißachtet und unterdrückt. Eine derartige Einstellung sucht sich auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftliche Ebene mit einer solchen Härte i n Ziel und Methode durchzusetzen, daß sie sich jedem echten Dialog und wirkliche Austausch von Ideen verschließt. Einige dieser Ideologien sind sogar zu einer Art von falscher, weltlicher Religion geworden, die beansprucht, der ganzen Menschheit das Heil zu bringen, ohne jedoch irgendeinen Beweis ihrer Wahrheit vorzulegen. Gewalt und Ungerechtigkeit haben aber auch tiefe Wurzeln i m Herzen jeder Person, jedes einzelnen von uns, i m täglichen Denken und Verhalten der Menschen. Wir brauchen nur zu denken an Konflikte und Entzweiungen i n den Familien, zwischen Eheleuten, zwischen Eltern und Kindern, i n der Schule, i m Beruf, i n den Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen den Generationen. Denken wir auch an die Fälle, wo das grundlegende Lebensrecht der schwächsten und schutzlosesten Menschen verletzt wird. Angesichts dieser und zahlreicher anderer Übel ist es dennoch nicht berechtigt, die Hoffnung aufzugeben — so stark sind die Energien, welche fortwährend i n den Herzen der Menschen aufbrechen, die an Gerechtigkeit und Frieden glauben. Die gegenwärtige Krise kann und muß eine Gelegenheit zur Umkehr und zur Erneuerung der Einstellungen werden. Die Zeit, i n der w i r leben, ist nicht nur eine Periode der Gefahren und Sorgen; sie ist auch eine Stunde der Hoffnung.

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2. Frieden und Jugend, zusammen unterwegs Die augenblicklichen Schwierigkeiten sind wirklich ein Test für unsere Menschlichkeit. Sie können Wendepunkte auf der Straße zu einem dauerhaften Frieden werden; denn sie wecken die kühnsten Träume und entbinden die besten Kräfte i n Geist und Herz. Schwierigkeiten sind eine Herausforderung für alle; Hoffnung ist das Gebot für jeden. Heute aber möchte ich euch auf die Rolle aufmerksam machen, die die Jugend i m Bemühen um den Frieden übernehmen sollte. Da w i r uns darauf vorbereiten, i n ein neues Jahrhundert und ein neues Jahrtausend einzutreten, müssen w i r uns bewußt werden, daß die Zukunft des Friedens und darum auch die Zukunft der Menschheit in besonderer Weise den moralischen Grundentscheidungen anvertraut ist, die eine neue Generation von Männern und Frauen zu fällen berufen ist. I n nur wenigen Jahren werden die jungen Menschen von heute die Verantwortung für das Leben der Familien und der Völker, für das Gemeinwohl aller und für den Frieden i n ihren Händen halten. Jugendliche i n aller Welt haben bereits begonnen, sich zu fragen: Was kann ich tun? Was können w i r tun? Wohin führt uns der Weg? Sie möchten ihren Beitrag leisten, um die verwundete und geschwächte Gesellschaft zu heilen. Sie wollen neue Lösungen für alte Probleme anbieten. Sie möchten eine neue Zivilisation brüderlicher Solidarität errichten. Indem ich mich von solchen jungen Menschen anregen lasse, möchte ich jedermann dazu einladen, über diese Dinge nachzudenken. I n besonderer und direkter Weise aber w i l l ich mich an die Jugendlichen von heute und von morgen wenden. 3. Junge Menschen, habt keine Angst vor eurer eigenen Jugend Dies ist der erste Appell, den ich an euch, junge Männer und Frauen von heute, richten möchte: Habt keine Angst! Habt keine Angst vor eurer eigenen Jugend und vor jener tiefen Sehnsucht nach Glück und Wahrheit, nach Schönheit und bleibender Liebe! Manchmal w i r d gesagt, die Gesellschaft habe Angst vor dieser mächtigen Sehnsucht junger Menschen, ja ihr selbst hättet Angst davor. Habt aber keine Angst! Wenn ich auf euch Jugendliche schaue, empfinde ich große Dankbarkeit und Hoffnung. Die Zukunft bis weit i n das nächste Jahrhundert hinein liegt i n euren Händen. Die Zukunft des Friedens liegt i n euren Herzen. U m die Geschichte so, w i r ihr es könnt und müßt, zu gestalten, müßt ihr sie von den falschen Wegen befreien, denen sie folgt. U m dies zu tun, müßt ihr Menschen sein mit einem tiefen Vertrauen i n den Menschen und einem tiefen Vertrauen i n die Größe menschlicher Berufung — einer Berufung, der man mit Respekt vor der Wahrheit sowie

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vor der Würde und den unverletzlichen Hechten der menschlichen Person entsprechen muß. Was ich i n euch aufbrechen sehe, ist ein neues Bewußtsein für eure Verantwortung und ein frisches Gespür für die Bedürfnisse eurer Mitmenschen. Zusammen mit vielen anderen seid ihr erfüllt vom Hunger nach Frieden. Ihr seid beunruhigt durch soviel Ungerechtigkeit um euch herum. Ihr verspürt eine ungeheure Gefahr i n den gigantischen Waffenvorräten und i n der Bedrohung durch einen Atomkrieg. Ihr leidet darunter, wenn ihr den weitverbreiteten Hunger und die Unterernährung seht. Ihr sorgt euch um die Umwelt für heute und für die kommenden Generationen. Ihr fühlt euch bedroht durch Arbeitslosigkeit, und viele von euch leben bereits ohne Arbeit und ohne Aussicht auf eine sinnvolle Tätigkeit. Ihr seid empört über die große Zahl von Menschen, die politisch und geistig unterdrückt werden und ihre grundlegenden Menschenrechte als einzelne oder als Gemeinschaft nicht ausüben können. A l l dies kann das Gefühl aufkommen lassen, das Leben habe wenig Sinn. I n dieser Lage können einige von euch versucht sein, vor ihrer Verantwortung zu fliehen: i n die Traumwelt von Alkohol und Drogen, i n kurzlebige sexuelle Beziehungen ohne Verpflichtung zu Ehe und Familie, i n Gleichgültigkeit, Zynismus und sogar Gewalt. Seid wachsam gegenüber einer betrügerischen Welt, die euch ausbeuten und eure kraftvolle, energische Suche nach Glück und Sinn fehlleiten möchte. Zieht euch aber nicht zurück von der Suche nach wahren Antworten auf die Fragen, vor denen ihr steht! Habt keine Angst! 4. Die unausweichliche Frage: Was denkt ihr vom Menschen? Die erste und vordringliche unter den Fragen, die ihr euch stellen müßt, ist diese: Was denkt ihr vom Menschen? Worin besteht für euch die Würde und Größe des Menschen? Das sind Fragen, die ihr jungen Leute euch selbst stellen sollt, die ihr aber auch der vorhergehenden Generation, euren Eltern und all denjenigen stellt, die auf verschiedenen Ebenen die Verantwortimg für die Sorge um die Güter und Werte der Welt gehabt haben. Der Versuch, diese Fragen offen und ehrlich zu beantworten, kann alt und jung dazu bringen, ihr eigenes Handeln und ihren Lebensweg zu überdenken. Haben nicht tatsächlich die Menschen, vor allem i n den entwickelteren und reicheren Staaten, sehr oft einer materialistischen Sicht des Lebens nachgegeben? Meinen Eltern nicht mitunter, ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern erfüllt zu haben, wenn sie ihnen über die Grundbedürfnisse hinaus noch mehr materielle Güter als Antwort auf ihre Lebenswünsche geboten haben?

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Geben sie dadurch nicht an die jungen Generationen eine Welt weiter, arm an Frieden und Gerechtigkeit? Hat nicht ebenso in anderen Nationen die Faszination gewisser Ideologien den jungen Generationen ein Erbe an neuen Formen von Versklavung hinterlassen, ohne die Freiheit, jenen Werten zu folgen, die das Leben i n all seinen Aspekten wahrhaft vervollkommnen? Fragt euch, was für eine Art von Menschen ihr selbst und eure Mitmenschen sein wollen, welche Art von Kultur ihr errichten möchtet. Stellt euch diese Fragen und fürchtet euch nicht vor den Antworten, selbst wenn diese von euch eine Änderung an der Richtung eurer Gedanken und Bindungen fordern. 5. Die Grundfrage:

Wer ist euer Gott?

Jene erste Frage führt zu einer noch tieferen und grundlegenderen: Wer ist euer Gott? Wir können unseren Begriff vom Menschen nicht definieren, ohne ein Absolutes, eine Fülle der Wahrheit, der Schönheit und des Guten zu bestimmen, von der w i r unser Leben leiten lassen. So ist es wahr, daß der Mensch, „das sichtbare Abbild des unsichtbaren Gottes", die Frage danach, wer er oder sie ist, nicht beantworten kann, ohne gleichzeitig zu erklären, wer sein oder ihr Gott ist. Es ist unmöglich, diese Frage auf die Privatsphäre des Menschen zu beschränken. Es ist unmöglich, diese Frage von der Geschichte der Völker zu trennen. Heutzutage ist man der Versuchung ausgesetzt, Gott i m Namen des eigenen Menschseins zurückzuweisen. Wo immer es eine solche Zurückweisimg gibt, fällt ein immer dunklerer Schatten tödlicher Furcht nieder. Furcht entsteht, wo immer Gott im Gewissen der Menschen stirbt. Jedermann weiß, wenn auch nur dunkel und mit Schaudern, daß, wo immer Gott i m Gewissen der menschlichen Person stirbt, daraus unvermeidlich der Tod des Menschen als Abbild Gottes folgt. 6. Eure Antwort: Entscheidungen auf der Grundlage von Werten Welche Antworten ihr auch immer auf diese beiden miteinander verbundenen Fragen gebt, sie werden für den Rest eures Lebens die Richtung bestimmen. Jeder von uns mußte während seiner Jugendzeit mit diesen Fragen ringen und an einem bestimmten Punkt zu einem gewissen abschließenden Urteil hierüber kommen, das dann unsere folgenden Entscheidungen und Wege, unser ganzes künftiges Leben geformt hat. Die Antworten, die ihr jungen Menschen auf diese Fragen gebt, werden ebenso bestimmen, wie ihr auf die großen Herausforderungen von Frieden und Gerechtigkeit antwortet. Wenn ihr euch dafür entschieden habt, daß ihr selbst euer eigener Gott sein

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wollt ohne Rücksicht auf andere, dann werdet ihr Werkzeuge von Spaltung und Feindschaft, Werkzeuge sogar von Krieg und Gewalt. Indem ich dies betone, möchte ich euch auf die Bedeutung von Entscheidungen hinweisen, die Werte beinhalten. Werte sind die Grundlagen von Entscheidungen, die nicht nur euer eigenes Leben bestimmen, sondern auch die Politik und die Strategien, die das Leben i n der Gesellschaft formen. Und denkt daran, daß es nicht möglich ist, die gesellschaftlichen von den personalen Werten zu trennen. Auch geht es nicht an, i n diesem Widerspruch zu leben: an andere und an die Gesellschaft Forderungen zu stellen und selbst ein persönliches Leben i n Zügellosigkeit zu führen. Ihr müßt euch also entscheiden, auf welchen Werten ihr die Gesellschaft erbauen wollt. Eure Wahl jetzt w i r d darüber entscheiden, ob ihr i n Zukunft die Tyrannei ideologischer Systeme erleiden werdet, welche das gesellschaftliche Kräftespiel auf die Logik des Klassenkampfes einschränkt. Die Werte, die ihr heute wählt, werden darüber entscheiden, ob die Beziehungen zwischen den Völkern weiterhin überschattet bleiben von bedrohlichen Spannungen, die eine Auswirkung sind von heimlichen oder offen propagierten Plänen, alle Völker Regimen zu unterwerfen, wo Gott nicht zählt und wo die Würde der menschlichen Person den Forderungen einer Ideologie geopfert wird, die versucht, das Kollektiv absolut zu setzen. Die Werte, denen ihr euch i n der Jugend verpflichtet, werden darüber bestimmen, ob ihr euch zufrieden gebt mit dem Erbe einer Vergangenheit, in der Haß und Gewalt die Liebe und Versöhnung ersticken. Von den heutigen Entscheidungen eines jeden von euch w i r d die Zukunft eurer Brüder und Schwestern abhängen.

7. Der Wert des Friedens Die Sache des Friedens, die beständige und unausweichliche Herausforderung unserer Tage, hilft euch, euch selbst und eure Werte zu entdecken. Die Tatsachen sind offenkundig und erschreckend. Millionen ausgegeben für Waffen; materielle Mittel und geistige Talente ausschließlich eingesetzt, um Waffen herzustellen; politische Instanzen, die zuweilen nicht aussöhnen und Völker einander näherbringen, sondern eher noch Barrieren errichten und Nationen voneinander trennen. Unter diesen Umständen kann ein sinnvoller Patriotismus einer fanatischen Parteinahme zum Opfer fallen, und ein lobenswerter Dienst für die Verteidigung des eigenen Landes kann zum Gegenstand von Mißdeutung und sogar von Spott werden (vgl. Gaudium et spes, Nr. 79). Inmitten von vielen verführerischen Einladungen, nur den eigenen Vorteil zu suchen, müssen Männer und Frauen, die den Frieden wollen, lernen, zunächst auf die Werte des Lebens zu achten und dann zuversichtlich

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daranzugehen, diese Werte konkret zu verwirklichen. Der Ruf zum Friedensstifter hat als feste Grundlage den Ruf zur Bekehrung des Herzens, wie ich i n der Botschaft zum letztjährigen Weltfriedenstag dargelegt habe. Er gewinnt dann weiter Kraft aus der Verpflichtimg zu einem aufrichtigen Dialog und zu ehrlichen Verhandlungen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen, verbunden mit einer realistischen Einschätzung der gerechten Forderungen und legitimen Interessen aller Partner. Der Wille zum Frieden wird danach trachten, die Waffen zu verringern, deren ungeheure Zahl den Herzen der Menschen Angst macht. Er w i r d darangehen, Brücken zu bauen—von kultureller, wirtschaftlicher, sozialer und politischer A r t —, die einen stärkeren Austausch unter den Völkern erlauben. Er w i r d den Frieden fördern als eine Sache, die auch der andere möchte, nicht durch Parolen, die trennen, oder durch Aktionen, die unnötigerweise Leidenschaften wecken, sondern mit einem ruhigen Vertrauen, das die Frucht ist aus einer Entscheidung für wahre Werte und für das Wohl der Menschheit.

8. Der Wert der Gerechtigkeit Das Wohl der Menschheit ist letztlich der Grund, warum ihr die Sache des Friedens zu eurer eigenen machen müßt. Indem ich dies sage, fordere ich euch auf, euch von der ausschließlichen Konzentration auf die Friedensbedrohung, wie sie gewöhnlich als das Ost-West-Problem angeführt wird, abzuwenden und statt dessen die ganze Welt ins Auge zu fassen und ebenso an die sogenannten Nord-Süd-Spannungen zu denken. Wie früher schon möchte ich auch heute betonen, daß diese beiden Ziele — Frieden und Enwicklung — voneinander abhängen und deshalb zusammen angestrebt werden müssen, wenn die jungen Menschen von heute eine bessere Welt von morgen erben sollen. Ein Aspekt dieser Abhängigkeit ist der Einsatz von Mitteln für einen Zweck, die Rüstung, anstatt für einen anderen, die Entwicklung. Aber die wirkliche Verbindung ist hierbei nicht einfach der Einsatz von Mitteln, so wichtig dies auch sein mag; sie besteht vielmehr zwischen den Werten, die jemanden für den Frieden, und den Werten, die jemanden für eine echte Entwicklung verpflichten. Denn so gewiß wie der wahre Frieden mehr erfordert als nur die Abwesenheit von Krieg oder den bloßen Abbau von Waffensystemen, so kann auch Entwicklung i n ihrem wahren und vollen Sinne niemals allein auf einen Wirtschaftsplan oder eine Reihe von technischen Projekten beschränkt werden, so wertvoll diese auch sein mögen. I m gesamten Bereich des Fortschritts, den w i r Gerechtigkeit und Frieden nennen, müssen jeweils dieselben Werte zugrunde gelegt werden, die sich aus der Vorstellung erge-

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ben, die w i r vom Menschen und von Gott i n seiner Beziehung zur ganzen Menschheit haben. Dieselben Werte, die jemanden dazu bringen, ein Friedensstifter zu sein, sind auch die Werte, die jemanden bewegen, die allseitige Entwicklung jedes Menschen und aller Völker zu fördern. 9. Der Wert, mitwirken

zu können

Eine Welt von Gerechtigkeit und Frieden kann nicht durch Worte allein geschaffen werden, und sie kann auch nicht durch äußere Kräfte auferlegt werden: Sie muß gewollt und herbeigeführt werden durch die Mitarbeit aller. Es gehört wesentlich zum Menschen, einen Sinn für Mitwirkung zu haben, um teilzunehmen an den Entscheidungen und Bemühungen, die das Geschick der Welt bestimmen. Gewalt und Ungerechtigkeit haben i n der Vergangenheit oft ihre tiefsten Ursachen i m Gefühl der Menschen gehabt, des Rechtes beraubt zu sein, ihr Leben selbst zu gestalten. Und auch i n Zukunft lassen sich Gewalt und Ungerechtigkeit nicht vermeiden, wenn und wo das Grundrecht auf Mitwirkung i n den gesellschaftlichen Entscheidungen bestritten wird. Dieses Recht aber muß mit Klugheit ausgeübt werden. Das komplizierte Leben i n der modernen Gesellschaft erfordert, daß die Menschen die Entscheidungsvollmacht ihren Anführern übertragen. Sie müssen aber darauf vertrauen können, daß ihre Führer Entscheidungen treffen zum Wohl ihres Volkes und aller Völker. Mitwirkung ist ein Recht, aber es bringt auch Verpflichtungen mit sich: nämlich dieses Recht auszuüben i n Achtimg vor der Würde des Menschen. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Bürgern und ihren Führern ist die Frucht praktizierter Mitwirkung, und solche Mitwirkung ist ein Grundstein für die Errichtung einer friedlichen Welt.

10. Das Leben: ein Weg voller Entdeckungen Euch alle, junge Menschen in der Welt, lade ich ein, i n diesem größten geistigen Abenteuer, vor dem eine Person stehen kann, eure Verantwortung zu übernehmen: das Abenteur, menschliches Leben zu gestalten, im persönlichen wie i m gesellschaftlichen Bereich, und dabei die Berufung des einzelnen zu achten. Denn zu Recht sagt man, das Leben sei ein Weg voller Entdekkungen: die Entdeckung eures eigenen Wesens, die Entdeckung der Werte, die euer Leben formen, die Entdeckung der Völker und Nationen, denen alle i n Solidarität verbunden sind. Wenn auch diese Entdeckungsfahrt i n der Jugendzeit stärker zutage tritt, so ist sie doch eine Fahrt, die kein Ende kennt. Während eurer ganzen Lebenszeit müßt ihr die Werte bejahen und immer wieder neu bejahen, die euch selbst und die Welt formen: die Werte,

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die das Leben fördern, die die Würde und Berufung des Menschen wiedergeben, die eine Welt in Frieden und Gerechtigkeit erbauen. Es gibt unter den jungen Menschen eine erstaunliche weltweite Einmütigkeit über die Notwendigkeit des Friedens, und dies stellt eine mächtige Kraftquelle dar zum Besten aller. Junge Menschen sollten sich aber nicht zufriedengeben mit einer nur instinktiven Sehnsucht nach Frieden: Diese Sehnsucht muß i n eine feste moralische Überzeugung umgewandelt werden, welche die volle Breite menschlicher Probleme umfaßt und sich auf Werte stützt, die mit ganzem Herzen bejaht werden. Die Welt braucht junge Menschen, die reichlich aus den Quellen der Wahrheit getrunken haben. Ihr müßt auf die Wahrheit hören, und dafür braucht ihr ein reines Herz; ihr müßt die Wahrheit verstehen, und dafür braucht ihr tiefe Demut; ihr müßt euch der Wahrheit unterstellen und sie annehmen, und dafür braucht ihr die Kraft, den Versuchungen des Stolzes, der Selbstsucht und der Manipulation zu widerstehen. Ihr müßt i n euch ein tiefes Gespür für Verantwortimg entwikkeln. 11. Die Verantwortung

christlicher

Jugend

Dieses Gespür für Verantwortimg und für die Bejahung moralischer Werte möchte ich euch nachdrücklich ans Herz legen, euch christlichen Jugendlichen und, zusammen mit euch, allen unseren Brüdern und Schwestern, die sich zu unserem Herrn Jesus Christus bekennen. Als Christen seid ihr euch bewußt, Kinder Gottes zu sein, Anteil am göttlichen Wesen zu haben und i n Christus von der Fülle Gottes umfangen zu sein (vgl. 1 Joh 3, 2; 2 Petr 1, 4; Eph 3, 19). Der auferstandene Herr schenkt euch als seine erste Gabe Frieden und Versöhnung. Gott, der ewige Frieden, hat durch Christus, den Fürsten des Friedens, mit der Welt Frieden geschlossen. Dieser Frieden ist uns ins Herz gegeben, und er reicht tiefer als alle Unrast eures Geistes, als alle Angst eures Herzens. Gottes Frieden nimmt sich eures Geistes und eures Herzens an. Gott gibt euch seinen Frieden jedoch nicht wie einen Besitz, den ihr horten könntet, sondern wie einen Schatz, den ihr nur dann besitzt, wenn ihr ihn mit anderen teilt. I n Christus könnt ihr an die Zukunft glauben, auch wenn ihr ihre Gestalt noch nicht erkennen könnt. Ihr dürft euch dem Herrn der Zukunft anvertrauen und so eure Mutlosigkeit überwinden, die ihr vor der Größe der Aufgabe und dem zu zahlenden Preis empfindet. Den niedergeschlagenen Jüngern auf dem Weg nach Emmaus sagt der Herr: „Mußte nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?" (Lk 24, 26). Der Herr spricht dieselben Worte zu einem jeden von euch. Habt also keine Angst,

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Papst Johannes Paul I

euer Leben für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen; denn ihr wißt, daß der Herr mit euch ist auf all euren Wegen. 12. Internationales

Jahr der Jugend

I n diesem Jahr, das die Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Jugend erklärt haben, ist es mein Wunsch gewesen, meine jährliche Botschaft zum Weltfriedenstag an euch, an die jungen Menschen i n aller Welt, zu richten. Möge dieses Jahr für jeden ein Jahr tieferen Einsatzes für Frieden und Gerechtigkeit sein. Welche Entscheidungen auch immer ihr trefft, tut es mit Mut und lebt danach i n Treue und Verantwortimg. Welche Wege auch immer ihr beschreitet, tut es mit Hoffnung i n die Zukunft, die ihr mit Gottes Hilfe gestalten könnt; Vertrauen auf Gott, der auf euch schaut i n allem, was ihr sagt und tut. Diejenigen von uns, die euch vorangegangen sind, möchten mit euch die tiefe Verpflichtung für den Frieden teilen. Eure Alterskameraden werden sich euren Bemühungen anschließen. Die euch nachfolgen, werden bei euch Anregung finden, solange ihr die Wahrheit sucht und nach echten moralischen Werten lebt. Die Herausforderung des Friedens ist groß, noch größer aber ist der Lohn; denn i m Einsatz für den Frieden werdet ihr das Beste für euch selbst entdecken, wenn ihr das Beste für alle anderen sucht. Ihr wachst heran, und mit euch wächst auch der Frieden. Möge dieses Internationale Jahr der Jugend auch für Eltern und Erzieher eine Gelegenheit sein, ihre Verantwortung für die jungen Menschen neu i n den Blick zu nehmen. Allzu oft werden ihre Führung zurückgewiesen und ihre Leistungen i n Frage gestellt. Und doch haben sie so viel an Weisheit, Kraft und Erfahrung zu bieten. Ihre Aufgabe, die Jugend auf der Suche nach Lebenssinn zu begleiten, kann von niemandem anders übernommen werden. Die Werte und Modelle, die sie den Jugendlichen vor Augen stellen, müssen aber auch i n ihrem Leben deutlich sichtbar werden; sonst überzeugen ihre Worte nicht, und ihr Leben ist ein innerer Widerspruch, den die jungen Menschen mit Recht zurückweisen. A m Ende dieser Botschaft verspreche ich mein tägliches Gebet während dieses Internationalen Jahres der Jugend, daß die jungen Menschen auf den Ruf zum Frieden antworten. Ich bitte alle meine Brüder und Schwestern eindringlich, sich meinem Gebet zu unserem Vater i m Himmel anzuschließen, daß er uns alle, die w i r Verantwortung für den Frieden tragen, vor allem aber die jungen Menschen erleuchtet, so daß Jugend und Frieden tatsächlich gemeinsam voranschreiten können! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1984. JOANNES PAULUS PP. E

FRIEDEN U N D JUGEND ZUSAMMEN UNTERWEGS Von Egon Kapellan

I. Jugend als Verheißung Die Vereinten Nationen hatten das Jahr 1984 zum Internationalen Jahr der Jugend erklärt. Papst Johannes Paul II. wollte deshalb seine Botschaft zum Weltfriedenstag dieses Jahres „vor allem" an die jungen Menschen i n aller Welt richten, „deren Entscheidungen i m eigenen Leben und deren Aufgaben i n der Gesellschaft die Aussichten für den Frieden heute und morgen bestimmen werden". Die Kirche treibt keinen Kult mit den jungen Menschen und biedert sich ihnen nicht an, so wie Politiker- und Modeschöpfer es oft tun. I n Abwandlung eines Wortes des deutschen Historikers Leopold von Ranke, der gesagt hat „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott", weiß die Kirche, daß jedes Lebensalter „unmittelbar zu Gott" ist. Das Heil ist dem K i n d oder dem Jugendlichen nicht prinzipiell näher als dem Greis oder dem Menschen i n der Mitte des Lebens. Das K i n d und der jugendliche Mensch sind aber vielleicht offenbar für noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten zum Guten und zugleich verletzbarer durch Böses als der Mensch in der Lebensmitte. Über all das hinaus ist der junge Mensch i n der Sicht der Kirche so etwas wie eine Ikone Gottes, weil Gottes „letzte", alle anderen Offenbarungen einschließende und überbietende Offenbarung uns in Jésus Christus ein jugendliches Antlitz zeigt. Wer Jesus sieht, der hat Gott gesehen. Jesus ist jung gestorben, in einem Alter, das die Römer als „juventus" — Jugend — bezeichnet haben. Er ist — darauf hat Hans Urs von Balthasar hingewiesen — nicht alt geworden wie viele Weise der Welt, wie Buddha, Laotse, Sokrates und Piaton. Er hat sich nicht milde von den Illusionen der irdischen Welt distanziert wie die alten Weisen. Er hat das Irdische, so wie es ist, umarmt bis zur Annagelung am Kreuz. Und so hat er es erlöst. Wenn auch jeder Mensch für die Kirche in gewissem Sinn ein Abbild Gottes, eine Ikone Jesu Christi ist, so ist es darum der junge Mensch i n besonderer Weise. Er ist eine Verheißimg für die ganze Menschheit und besonders für die Kirche. Diese Verheißung w i r d vom Papst i n der Botschaft zum 18. Weltfriedenstag mehrfach angesprochen. So, wenn er den Jugendlichen sagt: „Die Zukunft

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Egon Kapella

bis weit i n das nächste Jahrhundert hinein Hegt i n euren Händen. Die Zukunft des Friedens hegt i n euren Herzen." Und Johannes Paul II. fügt hinzu: „Euch alle, junge Menschen in der Welt, lade ich ein, i n diesem größten geistigen Abenteuer, vor dem eine Person stehen kann, eure Verantwortung zu übernehmen: das Abenteuer, menschliches Leben zu gestalten, i m persönlichen wie i m gesellschaftlichen Bereich, und dabei die Berufung des einzelnen zu achten. Denn zu Recht sagt man, das Leben sei ein Weg voller Entdekkungen: die Entdeckung eures eigenen Wesens, die Entdeckung der Werte, die ein Leben formen, die Entdeckung der Völker und Nationen, denen alle i n Solidarität verbunden sind. Wenn auch diese Entdeckungsfahrt i n der Jugendzeit stärker zutage tritt, so ist sie doch eine Fahrt, die kein Ende kennt." I n diesen Zitaten w i r d benannt, was i m Leitwort für den Weltfriedenstag 1984 miteinander verbunden ist: die Jugend, der Friede und das Auf-demWeg-Sein. Das Leitwort lautet ja „Friede und Jugend, zusammen unterwegs ". Und am Schluß seiner Botschaft bittet der Papst alle an Gott Glaubenden um ihr Gebet, damit Gott „vor allem die jungen Menschen erleuchte, so daß Jugend und Frieden tatsächlich gemeinsam voranschreiten können".

n. Frieden als Weg Wie ein Webmuster ist das Bild des Weges den Texten der Bibel eingefügt. Das Leben ist ein Weg. Auch der Glaube ist ein Weg. Die großen Gestalten des Alten Testaments, die Erzväter und Erzmütter des jüdischen und des christlichen Glaubens, sind Wanderer unter dem Wandelstern einer göttlichen Verheißung: Abraham, Isaak, Jakob, Moses und schließlich das ganze Volk sind unterwegs auf dem langen Weg in das versprochene Land. Jede zwischenzeitliche Erfüllung ist nur Rast vor einem neuen Aufbruch. Jesus selbst ist Wanderer durch Galiläa und Samaria und immer wieder hinauf nach Jerusalem. Dem König Herodes läßt er sagen: „Ich treibe Dämonen aus und heile Kranke, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich mein Werk vollenden. Doch heute und morgen und am folgenden Tag muß ich weiterwandern" (Lk 13, 32). Der irdische Weg Jesu vollendet sich vor den Toren Jerusalems auf dem Kreuz, das dort für ihn aufgerichtet ist. Aber mit seiner Auf erstehimg beginnt der Weg der Kirche, auf dem sich Jesus Christus immer wieder als Mitgehender offenbart. Die Erzählung von den beiden Jüngern, mit denen er nach Emmaus unterwegs war (Lk 24, 13-35), bezeugt dies auf besonders berührende Weise. Das Neue Testament berichtet i n der Apostelgeschichte davon, daß die Christen i n Ephesus und anderswo als

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Anhänger des (neuen) Weges und das Christentum bündig als der (neue) Weg bezeichnet wurden (Apg 19, 9; 22, 4 usw.). Das mit vielen Bedeutungen befrachtbare Symbol des Weges kann nicht nur auf das Leben und auf den christlichen Glauben, sondern auch auf den Frieden bezogen werden. Papst Johannes Paul tut dies i m Titel und i m Schlußwort seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1984. Frieden ist unter den Bedingungen der gefallenen, wenn auch prinzipiell erlösten Schöpfung ein oft nur mühsam erreichbares und bleibend gefährdetes Gut. Als einer der Wesenszüge des Reiches Gottes ist der Friede wie das Reich Gottes i n der Geschichte nur inchoativ gegeben. Er ist auf vielfältige Weise schon da und zugleich noch nicht da. Kurz gesagt: Friede ist keine pure Utopie, aber er ist ein Weg, der erst jenseits der Geschichte an seinem Ziel sein wird.

EQ. Die Herausforderung des Friedens „Einer wird kommen und den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen", sagt Nelly Sachs, Nobelpreisträgerin für Literatur 1966, in einem ihrer Gedichte. Der Planet Erde w i r d von der Dichterin als Spielball i n der Hand von Mächtigen dargestellt, die ihr gefährliches Spiel mit Tod und Teufel betreiben. Gleiches meint der Papst, wenn er in der Botschaft zum Weltfriedenstag 1985 den jungen Menschen sagt: „Ihr seid beunruhigt durch soviel Ungerechtigkeit um euch herum. Ihr verspürt eine ungeheure Gefahr in den gigantischen Waff envorräten und in der Bedrohung durch einen Atomkrieg. Ihr leidet darunter, wenn ihr den weitverbreiteten Hunger und die Unterernährung seht. Ihr sorgt euch um die Umwelt für heute und für die kommenden Generationen. Ihr fühlt euch bedroht durch Arbeitslosigkeit. Ihr seid empört über die große Zahl von Menschen, die politisch und geistig unterdrückt werden und ihre grundlegenden Menschenrechte als einzelne oder als Gemeinschaft nicht ausüben können. A l l dies kann das Gefühl aufkommen lassen, das Leben habe wenig Sinn. Solche Strukturen des Unrechts sind aber nicht ein bloß objektives Problem. Sie haben auch tiefe Wurzeln im Herzen jeder Person, sagt der Papst. Zur Behebung der Krise bedarf es einer Bekehrung, einer Erneuerung der Einstellungen. I n poetischer Sprache hat die Dichterin Nelly Sachs der weltweit besonders unter jungen Menschen verbreiteten Sehnsucht nach Frieden, Schalom, Eirene, Pax Ausdruck gegeben. Und sie führt ihr Gedicht fort mit einer Anrufung des Friedens: „Frieden, du großes Augenlid, das alle Unruhe verschließt auf seinem himmlischen Wimpernkranz. " Viele wollen diesen Frieden, aber nicht 11 Johannes Paul H

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wenige verweigern sich seinen Anforderungen, wollen den Preis dafür nicht bezahlen. Es bedarf der Erziehung zum Frieden. Diese Erziehung erhält ihre Inspiration durch ein Menschenbild, das den Menschen nicht zum Wolf für andere werden läßt, sondern das düstere Wort des Thomas Hobbes „Homo homini lupus" verwandelt zur programmatischen Aussage „Homo homini homo". Diese Erziehimg w i r d mit einer riesigen positiven Schubkraft versehen, wenn sie i m Horizont des biblischen Gottesbildes geschieht. Erziehung zum Frieden ist Hinführung zur Entscheidung für Werte, die als Fundament ebenso das private Haus des Lebens wie das gemeinsame Haus der Gesellschaft tragen. Es handelt sich um ein reiches Ensemble an Werten. Der Papst betont i n seiner Botschaft besonders den Wert der Gerechtigkeit und den Wert, „mitwirken zu können".

IV. Friedenserziehung Erziehung zu Werten, die den kleinen und den großen Frieden tragen, ist — mit Worten des Papstes ausgedrückt — „Hinführung zum großen geistigen Abenteuer, vor dem eine Person stehen kann: das Abenteuer, menschliches Leben zu gestalten, im persönlichen wie im gesellschaftlichen Bereich, und dabei die Berufung des einzelnen zu achten." Diese Friedenserziehung erfordert Denkarbeit, ein angestrengtes Denken. Man muß sich umfassend informieren, bevor man beansprucht, auf ernstzunehmende Weise mitzureden —, obwohl und weil es hier nicht um eine Doktorfrage geht, sondern um Fragen auf Leben und Tod für alle. Die Friedenserziehung erfordert weiters das Gespräch, den Dialog über den Zaun, über Grenzen hinweg: miteinander reden, um nicht aufeinander zu schießen; Bereitschaft, nicht nur Gespräche zu führen, sondern — nach einem Wort Hölderlins — Gespräch zu sein („Viel hat erfahren der Mensch, der Himmlischen viele genannt, seit ein Gespräch w i r sind und hören können voneinander"). Die Friedenserziehung erfordert schließlich die Bereitschaft zu asketischer Selbstbeschränkung und eine daraus resultierende Praxis i n allen Bedeutungen des zu rehabilitierenden Begriffes „Fasten": Fasten als Raumschaffen, damit andere Platz haben und auch „Brot" haben als geteilte Nahrung, als geteilter Lebensraum, als i n Hören und Reden geteilte Zeit. Askese als Beitrag zur Minderung oder Lösung der Probleme von Dritter Welt, Umwelt und Arbeitswelt. Die Kraft zu all dem erwächst den Christen vor allem aus dem Gebet.

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Diese Friedenserziehung gilt allen . Sie gilt besonders dem Kind, dem Erwachsenen von morgen: jenem Kind, das Jesus i n die Mitte der streitenden Jünger stellte, indem er sagte, sie müßten vom K i n d etwas Heilsnotwendiges lernen, nämlich das Vertrauen. Friede ist i n gewissem Maß, i n hohem Maß lernbar. Die globalen Chancen für einen Erfolg dieses Lernens erscheinen vielen freilich als sehr gering.

V. Der Friede Christi Die päpstlichen Botschaften zum Weltfriedenstag gelten nicht nur den Christen, sondern allen Menschen guten Willens. Inmitten der Botschaft von 1984 an die Jugendlichen i n aller Welt hält der Papst jedoch inne und spricht die christlichen Jugendlichen an: „Gott, der ewige Frieden, hat durch Christus, den Fürsten des Friedens mit der Welt Frieden geschlossen. Dieser Friede ist uns ins Herz gegeben, und er reicht tiefer als die Unrast eures Geistes, als alle Angst eures Herzens." „Einer w i r d kommen und den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen . . . " . Die Christen beziehen diese jüdische und nach Überzeugung des Judentums noch immer nicht eingelöste Hoffnung auf den Messias, auf Jesus. Die Bergpredigt Jesu ist eine Einladung, eine Zumutimg an Menschen, Gewalt abzubauen, aufzugeben. „ I h r habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann laß ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab" (Mt 5, 38-41). Der Evangelist zitiert zunächst das bisher gültige Gesetz zur Regelung der Vergeltung: Auge für Auge. Dieses Gesetz w i l l nicht — wie man heraushören könnte — zur Rache reizen; es w i l l i m Gregenteil die zügellose Rache eindämmen. Die Strafe darf die Größe der Tat nicht überschreiten. Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt i n der Rechtssprechung bis heute. Jesus bricht aber diese Ordnung auf etwas Größeres hin auf. Es geht i m Handlungsmodell der Bergpredigt nicht so sehr darum, keinen Widerstand gegen ungerechte Gewalt zu leisten, sondern es geht um ein aktives, freilich alternatives Verhalten. Es geht um eine neue Initiative, die eine neue Situation schafft. Die zweite Wange hinhalten; auch den Mantel hergeben, der gar nicht gepfändet werde durfte, weil der Arme ihn nachts als Decke brauch-

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te; den doppelten Weg mitgehen — das sind nicht Konsequenzen aus neuen und noch dazu strengeren Gesetzesvorschriften, sondern Beispiele für ein schöpferisches Verhalten; für eine schöpferische Liebe, die die Rechtsebene nicht auflöst, sondern überschreitet und das Böse an der Wurzel überwinden will. Der Jünger Christi, der sich so verhält, setzt vertrauensbildende Maßnahmen, wirbt beim Gegner für den gemeinsamen Friedensprozeß. Jesus hat dieses Modell gelebt. Es hat Konflikte nicht erspart, sondern hat sie noch zugespitzt. I n diesem Sinn gilt das Wort: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mt 10, 34). Er gibt aber den Jüngern kein Schwert i n die Hand, sondern erzählt ihnen Geschichten vom Vertrauen: etwa das Gleichnis von den Lilien auf dem Feld. Diese neue Grundhaltung ist nicht als „rein religiös" zu verstehen. Sie ist i n höchstem Maße auch politisch relevant. Sie irritiert irdische Macht, weil sie sich deren Verfügungsgewalt entzieht. VI. Gott tötet nicht Alexander Solschenizyn erzählt in seinem Buch „Der Archipel Gulag", die Situation der Inhaftierten habe sich erst gebessert, als die Spitzel nachts umgebracht wurden. Beim Niederschreiben dieser Erinnerungen scheinen ihm die humanitätsschweren Bücher seiner Bibliothek mit ihren mattschimmernden Einbänden vorwurfsvoll zuzublinken wie Sterne durch Wolkenstreifen: Man darf nichts i n der Welt durch Gewalt zu erreichen suchen! Wer zum Schwert, zum Messer, zum Gewehr greift, w i r d nur zu rasch seinen Henkern und Bedrückern gleich. Und der Gewalt w i r d kein Ende sein . . . Und Solschenizyn sagt weiter: Hier am Schreibtisch, i m warmen, sauberen Arbeitszimmer bin ich damit völlig einverstanden. Doch wer grundlos zu 25 Jahren Lager verdammt wird, wer seinen Namen verliert und vier Nummern aufgeheftet bekommt, die Hände immer auf dem Rücken halten muß, jeden Morgen und Abend gefilzt wird, täglich bis zur Erschöpfung robotet . . . , für den hören sich alle Reden der großen Menschenfreunde wie das Geschwätz satter Spießer an . . . Nicht umsonst hat das Volk aus langer Bedrückung die Lehre gezogen: „ M i t Güte kommt man gegen das Böse nicht an . . . . Dennoch gibt es seit Jesus die Lichtspur, von jenen Menschen geschrieben, die sich ganz seinem Beispiel ausliefern. Viel von solchem Licht geht von Franziskus aus. Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel fand an den Hoffassaden seines Gefängnisses neben Schimpfworten, neben Namen von Angehörigen der Häftlinge drei Worte, die jemand mit Blut an die Wand geschrieben hatte. Sie lauteten: Gott tötet nicht.

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VII. Haus des Friedens Weltbekannt ist das Haus der ökumenischen Bruderschaft von Taize i n Burgund als ein Haus des Friedens und für den Frieden. Hunderttausende zumeist junge Menschen haben i n den letzten Jahrzehnten hier verweilt. Eine Zeitlang hatten die Mönche ein Stück weißer Pappe an die Stufen zu ihrer Kirche gelehnt und einen berührenden Appell zum Frieden daraufgeschrieben: „Ihr, die ihr hier eintretet, versöhnt euch. Der Mann mit der Frau, der Vater mit dem Sohn, die Mutter mit der Tochter, der Einheimische mit dem Fremden, der Mensch mit Gott." Ergreifend wehrlos war dieses Wort. Ein achtlos daran Vorbeigehender konnte das Stück Pappe mit dem Fuß umstoßen und den Friedensappell zum Verschwinden bringen. Gewiß sind aber Unzählige nicht achtlos daran vorbeigegangen, sondern haben sich ein wenig oder auch radikal verwandeln lassen durch diesen Huf zum Frieden. Taiz6 ist ein großes Dauercamp auf dem Weg zum Frieden. Auch die von Papst Johannes Paul II. zusammengerufenen Weltjugendtreffen — 400.000 junge Christen i n Santiago di Compostela, mehr als eine Million junge Christen 1991 in Tschenstochau — waren große Raststätten auf dem Weg zu mehr Frieden für die Menschheit , die wissend oder ahnungslos der richtenden letzten Begegnung mit dem Gott des Friedens entgegengeht und auf diesem Weg Utopien vom ewigen Frieden nie einlösen wird.

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1986 „DER FRIEDE, WERT OHNE GRENZEN NORD-SÜD, OST-WEST: EIN EINZIGER FRIEDE"

1. Friede als universaler

Wert

Zum Beginn des neuen Jahres erneuere ich unter dem Antrieb Christi, des Friedensfürsten, die Verpflichtung auf die Sache des Friedens, zu der sich der Papst und die ganze katholische Kirche bekennen. Zugleich richte i c h an jeden einzelnen und an alle Völker der Erde meinen aufrichtigen Gruß und beste Wünsche: Friede sei mit euch allen! Friede sei i n allen Herzen! Friede ist ein so wichtiger Wert, daß er immer wieder neu verkündet und stets gefördert werden muß. Es gibt kein menschliches Wesen, dem Friede nicht zum Vorteil gereicht. Es gibt kein menschliches Herz, das nicht erleichtert ist, wenn Friede herrscht. Alle Nationen der Welt können ihre miteinander verbundene Zukunft nur dann verwirklichen, wenn sie gemeinsam den Frieden als universalen Wert fördern. Zu diesem 19. Weltfriedenstag i m Internationalen Jahr des Friedens, das die Vereinten Nationen verkündet haben, biete ich jedermann als Botschaft der Hoffnung meine tiefe Überzeugung an: „Friede ist ein Wert ohne Grenzen". Er ist ein Wert, der Antwort gibt auf die Hoffnungen und Sehnsüchte aller Menschen und Nationen, von jung und alt, von allen Männern und Frauen guten Willens. Das ist meine Botschaft an jeden einzelnen, insbesondere aber an die Lenker der Welt. Die Frage des Friedens als eines universalen Wertes muß mit äußerster intellektueller Redlichkeit, mit ehrlichem Herzen und wachem Verantwortungsbewußtsein für sich selbst und für die Völker der Erde angegangen werden. Ich möchte die Verantwortlichen für politische Entscheidungen, welche die Beziehungen zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West betreffen, bitten, sich davon überzeugen zu lassen, daß es NUR EINEN FRIEDEN geben kann. Alle, die über die Zukunft dieser Welt entscheiden, ungeachtet ihrer politischen Einstellung, ihres ökonomischen Systems oder ihres

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religiösen Bekenntnisses, sind aufgefordert, zur Errichtung eines einzigen gemeinsamen Friedens beizutragen auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit und der Würde und Rechte jeder menschlichen Person. Diese Aufgabe erfordert eine tiefe Offenheit für die ganze Menschheit und die Überzeugung, daß alle Nationen der Welt aufeinander bezogen sind. Diese gegenseitige Beziehung drückt sich i n der Abhängigkeit aus, die sich als höchst vorteilhaft oder auch als tief zerstörerisch erweisen kann. Darum bilden weltweite Solidarität und Zusammenarbeit ethische Forderungen, die sich an das Gewissen der einzelnen wie auch an die Verantwortung aller Nationen richten. In diesem Kontext ethischer Forderungen möchte ich mich zum 1. Jänner 1986 an die ganze Welt wenden und den universalen Wert des Friedens verkünden. 2. Bedrohungen des Friedens Wenn w i r diese Sicht vom Frieden am Beginn eines neuen Jahres vorlegen, sind w i r uns zutiefst bewußt, daß der Friede gegenwärtig noch ein Wert ist, der auf sehr schwachen Fundamenten ruht. Auf den ersten Bück scheint unser Ziel, Frieden zu einer absoluten Verpflichtung zu machen, utopisch zu sein, weil unsere Welt i m Bereich von einander entgegenstehenden politischen, ideologischen und ökonomischen Gruppen allzu deutlich ein übertriebenes Eigeninteresse zeigt. I m Griff solcher Systeme werden führende Persönlichkeiten und Gruppen dazu verleitet, ihre Sonderinteressen und ihre ehrgeizigen Ziele i m Bereich von Macht, Fortschritt und Wohlstand zu verfolgen, ohne hinreichend auf die Notwendigkeit und Pflicht internationaler Solidarität und Zusammenarbeit zugunsten des Gemeinwohls aller Völker der Menschheitsfamilie zu achten. In dieser Situation bilden sich dauerhafte Blöcke, die Völker, Gruppen und einzelne spalten und i n einen Gegensatz zueinander bringen und so den Frieden anfällig machen und schwere Hindernisse für den Fortschritt errichten. Positionen verhärten sich dann, und der übertriebene Wunsch, den eigenen Vorteil zu wahren oder den erlangten Anteil zu vergrößern, w i r d oft zur alles beherrschenden Handlungsmaxime. Das führt zur Ausbeutung der anderen, und die Spirale entwickelt sich auf eine Polarisierung hin, die sich von den Früchten des Eigeninteresses und des wachsenden Mißtrauens gegenüber anderen nährt. I n einer solchen Lage leiden gerade der Kleine und der Schwache, der Arme und der ohne Stimme am meisten. Das kann unmittelbar zutreffen, wenn ein armes und relativ wehrloses Volk gewaltsam in Abhängigkeit gehalten wird. Das kann auch indirekt geschehen, wenn wirtschaftliche Macht dazu mißbraucht wird, um Völkern ihren rechtmäßigen

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Anteil zu verweigern und sie i n sozialer und wirtschaftlicher Abhängigkeit zu halten, wodurch Unzufriedenheit uund Gewalt erzeugt werden. Beispiele hierfür gibt es heute leider allzu viele. Die gespenstische Wirklichkeit atomarer Waffen, die ihren Ursprung gerade i n diesem Gegensatz von Ost und West hat, bleibt das dramatischste und deutlichste Beispiel hierfür. Kernwaffen sind so stark i n ihrer Zerstörungspotenz und atomare Strategien sind so umfassend i n ihren Planzielen, daß die Vorstellungskraft der Leute oft von Angst gelähmt ist. Diese Angst ist nicht imbegründet. Der einzige Weg, um eine Antwort auf solche berechtigte Angst vor den Folgen atomarer Zerstörung zu geben, ist der Fortschritt in den Verhandlungen zur Verringerung von Kernwaffen und zur beidseitigen Vereinbarung von Maßnahmen, welche die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges vermindern. Ich möchte die Atommächte noch einmal bitten, ihre sehr große moralische und politische Verantwortung i n diesem Bereich zu bedenken. Es handelt sich hier um eine Verpflichtung, die einige Staaten auch rechtlich durch internationale Verträge übernommen haben; für alle aber ist es eine Verpflichtung auf Grund einer grundsätzlichen Mitverantwortung für Frieden und Entwicklung. Aber die Drohung mit Kernwaffen ist nicht die einzige Weise, wie Konflikte fortdauern und sich vertiefen. Der wachsende Handel mit Waffen — konventioneller, aber höchst entwickelter Art — führt zu schlimmen Folgen. Während die Großmächte den direkten Konflikt vermieden haben, sind ihre Rivalitäten oft i n anderen Teilen der Welt ausgetragen worden. Lokale Probleme und regionale Grundsätze werden dadurch vertieft und verlängert, daß reichere Länder Waffen dorthin liefern und die örtlichen Konflikte mit Idelogien von Märchen beladen werden, die regionale Vorteile suchen, indem sie die Lage der Armen und Wehrlosen ausnutzen. Bewaffnete Konflikte sind nicht die einzige Weise, wie die Armen einen ungerechten Anteil an den Lasten der heutigen Welt tragen. Die Entwicklungsländer stoßen auch dann noch auf ungeheure Herausforderungen, wenn sie von einer solchen Geißel verschont sind. I n ihren vielfältigen Dimensionen bleibt Unterentwicklung selbst eine noch stets wachsende Bedrohung für den Weltfrieden. Tatsächlich besteht ja zwischen den Ländern des „Nord-Blocks" und denen des „Süd-Blocks" ein tiefer sozialer und wirtschaftlicher Graben, der reich von arm trennt. Die Statistiken der letzten Jahre weisen i n einigen Ländern Zeichen der Besserung auf, ebenso aber auch die offensichtliche Verbreiterung des Grabens i n allzu vielen anderen Ländern. Hinzu kommt die unvorhersehbare und schwankende finanzielle Situation mit ihrer direk-

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ten Auswirkung für hochverschuldete Länder, die darum ringen, eine gewisse positive Entwicklung zu nehmen. Bei dieser Lage ist der Friede als universaler Wert i n großer Gefahr. Auch wenn dort, wo Ungerechtigkeit herrscht, i m Augenblick kein eigentlicher bewaffneter Konflikt besteht, so ist diese doch i n der Tat Ursache und möglicher Ausgangspunkt für Konflikte. Jedenfalls kann es keinen Frieden im vollen Sinne seines Wertes zusammen mit Ungerechtigkeit geben. Friede kann nicht auf das bloße Fehlen von Konflikten eingeschränkt werden; er bedeutet vielmehr die ausgeglichene Ruhe einer vollentfalteten Ordnimg. Er geht verloren durch soziale und wirtschaftliche Ausbeutung von Seiten spezieller Interessengruppen, die überstaatlich arbeiten oder als Eliten innerhalb von Entwicklungsländern wirken. Der Friede geht verloren durch soziale Spaltungen, die zwischen Staaten oder innerhalb der Staaten die Reichen i n einen Gegensatz zu den Armen bringen. Er geht verloren, wenn Gewaltanwendung bittere Früchte von Haß und Spaltung hervorbringt. Er geht verloren, wenn wirtschaftliche Ausbeutung und innere Spannungen i m sozialen Gefüge das Volk wehrlos und enttäuscht werden lassen, eine leichte Beute für die zerstörerischen Mächte der Gewalt. Der Friede ist i n seinem Wert ständig bedroht durch verdeckte Interessen, durch unterschiedliche und entgegengesetzte Auslegungen und sogar durch schlaue Ausnutzung i m Dienst von Ideologien und politischen Systemen, deren letztes Ziel die Macht ist. 3. Überwindung der gegenwärtigen Situation Es gibt Stimmen, die behaupten, diese Situation sei naturgegeben und unvermeidlich. Die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und zwischen den Staaten, so sagt man, seien von ständigen Konflikten bestimmt. Diese theoretische und politische Auffassung formt dann ein Gesellschaftsmodell und ein System internationaler Beziehungen, die von Konkurrenz und Gegensatz beherrscht werden, wobei der Stärkste siegt. Ein Friede, der aus einer solchen Auffassung geboren wird, kann nur eine Art von Kompromiß sein, eingegeben vom Prinzip der Realpolitik, und als Kompromiß sucht ein solcher Friede nicht so sehr die Spannungen durch Gerechtigkeit und Ausgleich wirklich zu lösen, als vielmehr mit den Differenzen und Konflikten lediglich so fertig zu werden, daß man ein gewisses Gleichgewicht erreicht, das alles unangetastet läßt, was den Interessen der vorherrschenden Seite entspricht. Es ist klar, daß ein „Friede", der auf sozialen Ungerechtigkeiten und ideologischen Konflikten errichtet wird, niemals ein wahrer Friede für die Welt werden kann. Ein solcher „Friede" kann nicht die wesentlichen Ursachen der Span-

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nungen i n der Welt bewältigen oder der Welt jene Einsichten und Werte vermitteln, welche die durch die Pole Nord-Süd und Ost-West dargestellten Spaltungen überwinden könnten. Denjenigen, die meinen, Blöcke seien unvermeidlich, antworten wir, daß es möglich, ja sogar notwendig ist, neue Arten von Gesellschaft und interna tionaler Beziehungen aufzubauen, die Gerechtigkeit und Frieden auf festen und allgemein anerkannten Grundlagen sichern werden. I n der Tat, ein gesunder Realismus zeigt, daß solche neuen Gesellschaftsformen nicht einfachhin von oben herab oder von außen auferlegt oder allein durch irgendwelche technische Methoden erreicht werden können. Das kommt daher, weil die tiefsten Wurzeln von Widerstreit und Spannung, die den Frieden verletzen und die Entwicklung hemmen, i m Herzen des Menschen gesucht werden müssen. Vor allem das Herz und die Einstellung der Menschen müssen sich ändern, und das erfordert eine Erneuerung, eine Bekehrung der einzelnen Personen. Wenn w i r die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre untersuchen, können w i r nicht nur tiefe Verwundungen, sondern auch Zeichen einer festen Entschlossenheit bei vielen unserer Zeitgenossen und bei ganzen Völkern beobachten, die gegenwärtigen Hindernisse zu überwinden, um ein neues internationales Ordnungssystem ins Leben zu rufen. Das ist der Weg , den die Menschheit einschlagen muß, wenn sie i n eine Periode von universalem Frieden und umfassender Entwicklung gelangen soll. 4. Der Weg der Solidarität und des Dialogs Jegliches neue internationale Ordnungssystem, das fähig sein will, das Blockdenken und die gegensätzlichen Kräfte zu überwinden, muß sich auf die persönliche Entschlossenheit eines jeden stützen, die grundlegenden und vorrangigen Bedürfnisse der Menschen zum ersten Gebot internationaler Politik zu machen. Heutzutage haben unzählige Menschen i n allen Teilen der Welt ein lebendiges Gespür für ihre grundsätzliche Gleichheit, ihre menschliche Würde und ihre unveräußerlichen Rechte erworben. Zugleich wächst das Bewußtsein dafür, daß es i n der Menschheit eine tiefe Gemeinsamkeit der Interessen, der Berufung und Bestimmung gibt und daß alle Völker i n der Vielfalt und dem Reichtum ihrer unterschiedlichen nationalen Eigenarten berufen sind, eine einzige Familie zu bilden. Hinzu kommt die Erkenntnis, daß die Vorräte dieser Erde nicht unbegrenzt, die Bedürfnisse aber unendlich groß sind. Anstatt darum diese Vorräte zu vergeuden oder für Waffen tödlicher Zerstörung zu verwenden, müssen sie vor allem dazu gebraucht werdne, die vorrangigen und grundlegenden Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.

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Ebenso ist es wichtig festzustellen, daß das Bewußtsein dafür wächst, daß Aussöhnung, Gerechtigkeit und Friede zwischen einzelnen und zwischen Nationen — angesichts der Entwicklungsstufe, die die Menschheit erreicht hat, und der äußerst schweren Bedrohungen, die über ihrer Zukunft hegen — nicht bloß ein ehrenwerter Appell für einige Idealisten ist, sondern eine Bedingung für das Überleben des Lebens selbst. Folglich ist heute die Errichtung einer auf Gerechtigkeit und Frieden gründenden Ordnung lebensnotwendig, und zwar als eine klare sittliche Forderung, die für alle Völker und Regierungsformen, unabhängig von Ideologien und Gesellschaftssystemen, gilt. Die Notwendigkeit, mit und über dem besonderen Gemeinwohl einer Nation das Gemeinwohl der ganzen Staatenfamilie mitzuberücksichtigen, ist ganz gewiß eine ethische und rechtliche Pflicht. Der rechte Weg zu einer Weltgemeinschaft, i n der Gerechtigkeit und Friede ohne Grenzen unter allen Völkern und auf allen Kontinenten herrschen werden, ist der Weg der Solidarität, des Dialogs und der universalen Brüderlichkeit. Das ist der einzig mögliche Weg. Politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen und Systeme müssen von den Werten der Solidarität und des Dialogs geprägt sein; diese wiederum erfordern eine institutionelle Stütze i n Form von speziellen Organen der Weltgemeinschaft, die auf das Gemeinwohl aller Völker achten. Eines ist deutlich: U m wirklich eine Weltgemeinschaft dieser Art zu erreichen, müssen geistige Einstellungen und politische Ansichten, die durch Machtgelüste und Ideologien, durch die Verteidigimg der eigenen Privilegien und Besitzstände vergiftet sind, aufgeben werden; an ihre Stelle muß die Bereitschaft für Austausch und Zusammenarbeit mit allen im Geiste gegenseitigen Vertrauens treten. Diese Forderung, die Einheit der Menschheitsfamilie ernst zu nehmen, w i r k t sich sehr konkret für unser Leben und unseren Einsatz für den Frieden aus. Das bedeutet vor allem, daß w i r jene Art zu denken ablehnen, die spaltet und ausnutzt. Es bedeutet, daß w i r uns einer neuen Solidarität verpflichten, der Solidarität mit der ganzen Menschheitsfamilie. Es bedeutet, die NordSüd-Spannungen i n den Bück zu nehmen und sie durch eine neue Beziehung, durch soziale Solidarität mit allen, zu ersetzen. Diese soziale Solidarität nimmt den heute bestehenden Graben ehrlich zur Kenntnis, findet sich aber nicht damit ab, i n einer Art von ökonomischem Determinismus. Sie erkennt an, wie komplex das Problem ist, das man allzu lange sich selbst überlassen hat, das aber immer noch gelöst werden kann durch Männer und Frauen, die sich brüderlich solidarisch wissen mit jedem anderen auf dieser Erde. Es ist wahr, daß es Änderungen bei den Modellen wirtschaftlichen Wachstums i n allen Teilen der Welt,nicht nur in den ärmsten, gegeben hat. Aber

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der Mensch, der den Frieden als einen universalen Wert ansieht, möchte diese Gelegenheit nutzen, um die Unterschiede zwischen Nord und Süd zu verringern , und jene Beziehungen fördern, welche diese näher zueinander bringen. Ich denke dabei an die Preise für Grundstoffe, an den Bedarf für technisches Fachwissen, an die Fortbildung der Arbeitskräfte, an die mögliche Produktivität von Millionen von Arbeitslosen, an die Schulden armer Nationen sowie an einen besseren und verantwortungsbewußteren Einstz von Geldmitteln in den Entwicklungsländern. Ich denke ferner an so viele Faktoren, die einzeln Spannungen hervorgerufen und i n ihrer Bündelimg die Nord-Süd-Beziehungen polarisiert haben. All das kann und muß geändert werden. Wenn soziale Gerechtigkeit das Mittel ist, um zu einem Frieden für alle Völker zu gelangen, dann bedeutet dies, daß w i r den Frieden betrachten als eine unteilbare Frucht von gerechten und aufrichtigen Beziehungen auf jeder Ebene des menschlichen Lebens auf dieser Erde — sozial, wirtschaftlich, kulturell und ethisch. Diese Bekehrung zu einer Haltung sozialer Solidarität dient auch dazu, die Mängel i m gegenwärtigen Ost-West-Verhältnis zu beleuchten. I n meiner Botschaft an die II. Sondersitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen über Abrüstung habe ich viele der Elemente untersucht, um das Verhältnis zwischen den zwei größten Machtblöcken von Ost und West zu verbessern. Alle jene Wege, die ich damals und auch danach noch empfohlen habe, stützen sich auf die Solidarität der Menschheitsfamilie, die gemeinsam auf dem Weg des Dialogs voranschreitet. Der Dialog kann viele Türen öffnen, die sich auf Grund der Spannungen geschlossen haben, welche die Ost-West-Beziehungen gekennzeichnet haben. Der Dialog ist ein Weg, auf dem die Menschen sich gegenseitig besser kennenlernen und dabei die guten Hoffnungen und friedlichen Anliegen entdeckten, die allzu oft i n ihren Herzen verborgen bleiben. Echter Dialog geht über Ideologien hinaus; die Menschen begegnen sich dabei i n der Wirklichkeit ihres eigenen Lebens. Dialog baut vorgefaßte Meinungen und künstliche Barrieren ab. Dialog bringt die Menschen i n Kontakt miteinander als Mitglieder einer einzigen Menschheitsfamilie, mit allem Reichtum ihrer verschiedenen Kulturen und geschichtlichen Erfahrungen. Eine Bekehrung des Herzens verpflichtet die Menschen, eine allumfassende Brüderlichkeit zu fördern; Dialog hilft, dieses Ziel zu erreichen. Heutzutage ist ein solcher Dialog notwendiger denn je. Sich selbst überlassen, werden Waffen und Waffensysteme, militärische Strategien und Allianzen zu Instrumenten der Einschüchterung, gegenseitiger Beschuldigung und entsprechender Angst, wie sie heute so viele Menschen befällt. Der Dialog wertet diese politischen Instrumente i n ihrer Beziehimg zum menschlichen

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Papst Johannes Paul

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Leben. Ich denke dabei vor allem an die verschiedenen Gesprächsrunden i n Genf, die durch Verhandlungen versuchen, die Rüstungen zu verringern und zu begrenzen. Dann gibt es aber auch die verschiedenen offiziellen Gespräche, die i m Zusammenhang des multilateralen Prozesses geführt werden, der mit der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa von Hensinki begonnen hat, ein Prozeß, der nächstes Jahr i n Wien überprüft und fortgesetzt werden wird. Was den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd betrifft, kann man an die wichtige Rolle denken, die bestimmten Körperschaften wie der UNCTAD anvertraut ist, und auch an die Vereinbarungen von Lomé, i n denen sich die Europäische Gemeinschaft verpflichtet hat. Ich denke auch an die Arten von Dialog und Austausch, zu denen es kommt, wenn Grenzen geöffnet werden und die Menschen frei reisen können. Ich meine auch den Dialog, der sich ergibt, wenn eine Kultur durch den Kontakt mit einer anderen reicher wird, wenn Schüler und Studenten sich frei austauschen können, wenn Arbeiter sich frei versammeln dürfen, wenn junge Menschen ihre Kräfte für den Weg in die Zukunft vereinen, wenn ältere Menschen mit ihren Angehörigen wiedervereint werden. Der Weg des Dialogs ist ein Weg der Entdeckungen, und je mehr w i r einander entdecken, um so mehr können w i r die Spannungen der Vergangenheit durch friedliche Bindungen ersetzen. 5. Neue Beziehungen auf der Grundlage von Solidarität

und Dialog

I m Geist der Solidarität und mit den Mitteln des Dialogs werden w i r den Respekt lernen — für jede menschliche Person, — für die echten Werte und Kulturen anderer, — für ihre berechtigte Autonomie und Selbstbestimmung; i m selben Geist werden w i r lernen, — über uns selbst hinauszublicken, um das Wohl anderer zu verstehen und zu fördern; — mit unseren eigenen Möglichkeiten i n sozialer Solidarität beizutragen zu Entwicklung und Wachstum, wie Billigkeit und Gerechtigkeit sie fordern; — die Strukturen zu schaffen, die sicherstellen, daß soziale Solidarität und Dialog die bleibenden Merkmale der Welt, i n der w i r leben, sein werden. Die Spannungen, die aus den zwei Machtblöcken entstehen, werden erfolgreich durch vielseitige Beziehungen i m Geist von Solidarität und Dialog ersetzt werden, wenn w i r lernen, stets den Vorrang der menschlichen Person

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zu betonen. Es geht um die Würde der Person und die Verteidigung ihrer Menschenrechte; denn diese leiden immer i n der einen oder anderen Weise durch solche Spannungen und Verzerrungen unter den Machtblöcken, die w i r soeben näher betrachtet haben. Das kann i n Ländern geschehen, wo zwar viele persönliche Freiheiten garantiert sind, wo jedoch Individualismus und Konsumismus die Werte des Lebens entstellen und verfälschen. Es geschieht i n Gesellschaften, wo die Person im Kollektiv untergeht. Es kann auch geschehen i n jungen Staaten, die wohl Wert darauf legen, die Kontrolle ihrer eigenen Angelegenheiten i n die Hand zu bekommen, die aber oft von den Mächtigen zu bestimmten politische Entscheidungen gezwungen oder von der Verlockung unmittelbaren Gewinnes auf Kosten der Völker selbst verführt werden. I n all diesen Fällen müssen w i r stets den Vorrang der Person betonen. 6. Christliche Sicht und Verpflichtung Meine Brüder und Schwestern i m christlichen Glauben finden i n Jésus Christus, i n der Botschaft des Evangeliums und i m Leben der Kirche tiefe Beweggründe und noch stärker Motivationen, um sich für die Verwirklichung eines allumfassenden Friedens in der heutigen Welt einzusetzen. Der christliche Glaube hat seinen Brennpunkt i n Jesus Christus, der am Kreuz seine Arme ausbreitet, um die zerstreuten Kinder Gottes zu vereinen (vgl. Joh 11, 52), die trennenden Mauern niederzureißen (vgl. Eph 2, 14) und die Völker in Brüderlichkeit und Frieden zu versöhnen. Das über die Welt errichtete Kreuz umfängt zeichenhaft Nord und Süd, Ost und West und hat die Kraft, sie miteinander zu versöhnen. Christen wissen i m Licht des Glaubens, daß der letzte Grund dafür, daß die Welt ein Schauplatz von Spaltungen, Spannungen, Rivalitäten, Blöcken und ungerechten Unterschieden ist anstatt ein Ort echter Brüderlichkeit, die Sünde ist, das heißt die sittliche Unordnung des Menschen. Christen wissen aber auch, daß die Gnade Christi, die diese Lage des Menschen verändern kann, ständig der Welt angeboten wird; denn „wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden" (Rom 5, 20). Die Kirche, die das Werk Christi fortsetzt und seine erlösende Gnade austeilt, hat als Ziel gerade die Versöhnung von allen Menschen und Völkern in Einheit, Brüderlichkeit und Frieden. „Förderung von Einheit", so sagt das Zweite Vatikanische Konzil, „hängt ja mit der letzten Sendimg der Kirche zusammen, da sie ,in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit' ist" (Gaudium et spes, 42). Die Kirche, die eine einzige und universale Gemeinschaft ist bei aller Verschiedenheit der Völker, welche sie zusammenführt, „kann

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Papst Johannes Paul I

. . . ein ganz enges Band zwischen verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilden. Nur müssen diese ihr Vertrauen schenken und ihr wahre Freiheit zur Erfüllung dieser ihrer Sendung ehrlich zuerkennen" (ebd.). Diese Sicht und diese Forderungen, die sich ganz aus der Herzmitte des Glaubens ergeben, sollten vor allem alle Gläubigen dazu veranlassen, sich immer mehr jener Situationen bewußt zu werden, die mit dem Evangelium nicht im Einklang stehen, um sie zu bereinigen und zu korrigieren. Gleichzeit i g sollten die Christen die positiven Zeichen anerkennen und wertschätzen, die bezeugen, daß Anstrengungen unternommen werden, um solche Situationen zu beheben, Anstrengungen, die sie wirksam unterstützen, fördern und stärken sollen. Von lebendiger Hoffnung beseelt und fähig, zu hoffen gegen alle Hoffnung (vgl. Rom 4,18), müssen Christen die Barrieren der Ideologien und Systeme überwinden, um mit allen Menschen guten Willens ins Gespräch zu kommen, neue Beziehungen zu knüpfen und neue Formen von Solidarität zu schaffen. I n dieser Hinsicht möchte ich allen, die sich in freiwilligen Diensten auf internationaler Ebene und i n anderen Hilfsbereichen einsetzen, welche sich um die Schaffung von Brücken für Austausch und Brüderlichkeit über die verschiedenen Blöcke hinaus bemühen, ein Wort der Wertschätzung und Anerkennung sagen.

7. Das Internationale

Jahr des Friedens und ein Schlußappell

Liebe Freunde, Brüder und Schwestern! Am Beginn eines neuen Jahres erneuere ich meinen Aufruf an euch alle, Feindschaften zu überwinden und sich aus den Fesseln der Spannungen, die es in der Welt gibt, zu befreien. Ich rufe euch auf, die Spannungen zwischen Nord und Süd, Ost und West i n neue Beziehungen sozialer Solidarität und des Dialogs zu verwandeln. Die Vereinten Nationen haben 1986 zum Internationalen Jahr des Friedens erklärt. Diese gute Initiative verdient unsere Ermutigimg und Förderung. Welchen besseren Weg könnte es geben, um die Zielsetzung des Jahres des Friedens zu unterstützen, als diesen, die Beziehungen von Nord und Süd und Ost und West zur Basis eines allumfassenden Friedens zu machen! Euch, den Politikern und Staatsmännern, rufe ich zu: Führt die Menschen so, daß sie zu neuen Anstrengungen i n dieser Richtung angespornt werden. Euch, die Geschäftsleute und die Verantwortlichen i m Finanz- und Handelsbereich, rufe ich dazu auf, eure Verantwortung für alle eure Brüder und Schwestern erneut zu überprüfen.

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A n euch, die militärischen Planer, Beamten, Wissenschaftler und Technologen, appelliere ich: Benutzt eure Erfahrung dazu, den Dialog und die Verständigung zu fördern. Euch, die Leidenden, die körperlich Behinderten, lade ich ein, eure Gebete und euer Leben aufzuopfern, damit die Barrieren niedergerissen werden, die die Welt spalten. Euch alle, die ihr an Gott glaubt, ermahne ich, in dem Bewußtsein zu leben, unter der Vaterschaft Gottes eine einzige Familie zu bilden. A n euch alle und jeden einzelnen, an jung und alt, schwach und stark, richte ich den Aufruf: Betrachtet den Frieden als den großen einigenden Wert eures Lebens. Wo immer ihr auf diesem Planeten lebt, bitte ich euch dringend, i n Solidarität und aufrichtigem Dialog fortzufahren. Friede, ein Wert ohne Grenzen: Nord-Süd, Ost-West, überall ein Volk, geeint in einem einzigen Frieden. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1985. JOANNES PAULUS PP. H

12 Johannes Paul IL

DER FRIEDE, WERT OHNE GRENZEN, NORD-SÜD, OST-WEST: E I N EINZIGER FRIEDE Von Robert Prantner

Papst Johannes Paul IL proklamierte zum 1. Januar des Jahres 1989, dem Hochfest der Gottesmutter Maria und zugleich „Weltfriedenstag" des neuen Kalenderabschnitts, ein Thema von globaler Dimension i m dreifachen Sinne des Wortes: „Der Friede, Wert ohne Grenzen, Nord-Süd, Ost-West, ein einziger Friede". Die Formulierung dieser lapidaren geistigen Markierung entbehrt jeder literarisch eleganten metrischen Note. Ja, die Synthax, vom Sprachwissenschafter hinterfragt, ist unvollständig. Es reihen sich Subjekte aneinander, es fehlt das Prädikat. Dennoch erinnert diese Wahl der Wörter, zu einem gewaltigen Wort geformt, an Blaise Pascals Feuer-Geist, erfahren i m Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs. Nicht dem Gott der Philosophen.

I. Der umfassende Charakter des Friedens Der weltumspannende, also globale Charakter ist i n dreifachem Sinne gegeben: Da ist zunächst der Friede, der als nahezu unauslotbarer Begriff i n Rede steht und Länder wie Meere, Kontinente, Kulturen, Rassen, Sprachen und alle Lebensstufen des menschlichen Daseins betrifft. Er w i r d als Wert apostrophiert, als Orientierungsleuchte, an welcher der Zeiten Ströme zu messen sind. Und zwar als Wert, nicht eingeschränkt, begrenzt, definiert, nicht relativiert für Menschen, Verhältnisse, Befindlichkeiten und Entwicklungsstufen, sondern ohne Grenzen. Und dann wie eine Apposition, wie eine Notiz auf dem Abrißblatt des Tages: Nord-Süd, Ost-West. Die Himmelsrichtungen, die beiden Koordinaten fortführend, die einander i m Schnittpunkte der Windrose berühren: i m Norden wie i m Süden, i m Osten wie im Westen: überall, ohne Zielpunkt, ohne Stop und Erfüllung, ohne Varianten der Bezüge, ein einziger Friede.

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n. Die Dimensionen des Friedens Die Universalität des Friedens — also „ohne Grenzen" — enthält mehrere Dimensionen: zunächst den Bereich des Herzens, also der Wesensmitte des Menschen. Dieser Friede „mit sich selbst" bleibt ein Torso, w i r d er nicht von jenem Frieden umschlossen, der i n der Harmonie mit dem vom Schöpfergott der Natur des Menschen eingepflanzten Streben nach Erfüllung des Sittengesetzes zur Besitzerlangung des höchsten Gutes, des „summum bonum", also Gottes selbst, besteht. Kein Friede mit seinem eigenen Wesen, wenn kein Friede mit Gott und kein Friede mit den Zellen, Einheiten und Gruppen der Gesellschaft, wenn nicht zuvor Beständigkeit des Lebens kraft einer wohl ausgeformten Orientierung der individuellen eigenen Existenz durch Zielstrebigkeit der wesenhaften Lebenszwecke. Eine zweite Dimension stellt Friede als eine i n ein Verhalten umgesetzte Denkweise dar. Kein Friede ohne Friedfertigkeit, Güte, Zuwendung, ohne die Praxis der ausgleichenden Gerechtigkeit und der sozialen Liebe. „Es gibt kein menschliches Herz, das nicht erleichtert ist, wenn Friede herrscht", sagt der Papst nach der Feststellung, daß es kein menschliches Wesen gibt, dem Friede nicht zum Vorteil gereicht. Dies betrifft alle Wachstumskreise der menschlichen Gesellschaft bis zu den Völkern und Staaten des Globus: „Alle Nationen der Welt können ihre miteinander verbundene Zukunft nur dann verwirklichen, wenn sie gemeinsam den Frieden als universalen Wert fördern" (Botschaft 1989, 1). Diesem Frieden entgegen steht die Gesinnung der Feindschaft, also Feindseligkeit, deren Triebfeder Gleichgültigkeit, Ablehnimg, ja Haß sein können. Der negative Habitus, dem Frieden oppositionell entgegenpraktiziert, artikuliert sich i m Streit, Konflikt mit den Attitüden der gewaltsamen Ausdrucksform, i n Gruppenkämpfen, wie Bürgerkriegen oder organisierter, gesellschaftszerstörender Gruppenkriminahtät und i n grenzenüberschreitenden kriegerischen Handlungen, die zum Kriege führen mögen, der das gesamte infrastrukturelle politische System miteinbezieht.

m . Krieg und Terrorismus Den erwähnten Dimensionen ist es eigen, daß sie aus ihrem Wesen her ineinander übergreifen und nicht etwa i n ethisch separabler Weise auseinandergehalten werden können. Die versuchten Abgrenzungen verfließen und werden nur gleichsam durch die Instrumentarien der menschlichen Begriffsetzung voneinandergeschieden. Wie Friede einzig und universell ist, so ist 12*

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dem aggressiv durchbrechenden Haß i n den Gestalten verschiedener „StreitModelle" eine adäquate Einzigkeit und Universalität zu eigen. I n der Mitte der Achtzigerjahre w i r d der Friede — vorwiegend i n Europa — durch politisch motivierten Terrorismus bedroht. Wenn Papst Johannes Paul IL i n der Einleitung zu seiner Friedensbotschaft 1986 die Interdependenz aller Nationen skizziert und einen Kontext ethischer Forderungen erdflächendeckend von Norden nach dem Süden, aus dem Westen i n den Osten durch „tiefe Offenheit" der ganzen Menschen als unabdingbar darstellt, so verlangt die Akzeptanz eines „einzigen Friedens" auch die Erkenntnis der Zusammenhänge einer „einzigen Friedlosigkeit", eines „einzigen Streites", eines „einzigen Konfliktes", eines „einzigen apokryphen oder offenen Stromes des zerstörerischen Hasses". Dem militärisch orientierten Strategen, dem Friedensbewahrung, Friedenswiederherstellung und eine diesen Aufgaben vorausgesetzte Friedensgesinnung aufgetragen sind, vermag der i n Sachbereichen und -bezügen denkende wissenschaftliche Fachmann einen scheinbar sehr unterschiedlichen Bereich gefährlicher Zündstoffe und Konfliktfelder entgegenzuhalten. Der Ethiker w i r d unbeirrbar die Abhängigkeiten und inneren Verbindungslinien der verschiedenen Friedensbrüche aufzeigen und jede nur methodisch sinnvolle Katalogisierung und Separation zwischen politischen (staatlichen) Kriegen und gesellschaftlichen (gruppengenetischen) Gewalttaten der politischen Kriminalität relativieren. Dies führt zu einer Deduktion des politischen Extremismus bis zur schrekkensverbreitenden tödlichen Gewalt des organisierten Terrors und Verbrechens. I n diesem Sinne begreift Papst Johannes Paul II. Frieden als einen Wert, „der auf sehr schwachen Fundamenten ruht" (Botschaft 1989, 2), weil die Welt i m Bereich von einander entgegenstehenden politischen , ideologischen und ökonomischen Gruppen allzu deutlich ein übertriebenes Eigeninteresse zeigt: „ I m Griff solcher Systeme werden führende Persönlichkeiten und Gruppen dazu verleitet, ihre Sonderinteressen und ihre ehrgeizigen Ziele i m Bereich von Macht, Fortschritt und Wohlstand zu verfolgen, ohne hinreichend auf die Notwendigkeit und Pflicht internationaler Solidarität und Zusammenarbeit zugunsten des Gemeinwohls aller Völker der Menschheitsfamilie zu achten" (a.a.O., 2). Zielen Angriffskriege zumeist auf die Unterwerfung einer Nation, mitunter auf den Erwerb eines zu okkupierenden Stück Landes, stets aber auf einen Sieg durch Erreichung der Vor-Macht-Stellung ab, so führt die Ideologie politisch extremer Weltanschauungen zur Zielvorstellung einer ganzheitlichen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, ja des umfassenden systempolitischen Istzustandes. Artet sie zur Aktivierung kriminell be-

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schreibbarer Gewalt aus, Furcht und Schrecken verbreitend, so w i r d ihr die Etikette des „Terrors" und — systemverlängert — des „Terrorismus" zugesprochen. Sowohl die extreme Verhaltensweise aus der Nichtbewältigung des politischen Prozesses wie auch jene aus der Nichtbewältigung des gesellschaftlichen Prozesses führen zu Modell findungen „anderer" zwischenmenschlicher, gesellschaftsbezogener und letztendlich staatsfunktioneller Verhaltens- und Zustandsvarianten. Nichtbewältigung des politischen Prozesses besteht im Mangel an Bereitwilligkeit, Konfliktharmonisierung durch Konfliktkanalisierung i n den Gestalten demokratischer politischer Verhaltensspielregeln zu vollziehen. Die Absage an den langwierigen, schwierigen, mühsamen und nicht unmittelbar erfolgversprechenden Weg des parlamentarischen Wettbewerbs durch Wahlen, Mehrheitsbildungen und Umsetzungen derselben i n Staatsregierungen führt zur Tendenz nach dem raschen Umsturz, zur Revolution, die den langen „Marsch durch Institutionen" scheinbar vermeiden läßt. Anderseits bedroht auch die Nichtbewältigung des gesellschaftlichen Prozesses die Pflege des Friedenszustandes zwischen Klein- und Großgruppen eines Volkes. Dem gesellschaftlichen Prozeß sind einige, durchaus vermehrbare Merkmale zu eigen: die Unverläßlichkeit zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse in einem Staatsvolk, i n der Bevölkerung aneinanergebundener teilsouveräner Staaten, ja der gesamten (mehr oder minder integrierten) Völkergemeinschaft. Dies äußert sich konkret und punktuell i n der nicht voraussehbaren Stabilität oder Instabilität eigener, erreichter Positionen der Machtinhabung, in der Unverläßlichkeit des gesamten Compactum wissenschaftlicher, technologischer, soziologisch kaum erahnbarer Neuformierungen der Gesellschaft i n mittel- und langfristiger, ja selbst kurzfristiger Prognosenstellung. Dem versucht der extreme Politiker durch geputschte Neufassung von Verhältnissen zur Verewigung eigener Positionsformen entgegenzutreten.

IV. Radikalismus und Gewalt Pflegt man die Nichtbewältigung des politischen Prozesses als „Linksextremismus" zu bezeichnen, so spricht man im Falle des Versagens im gesellschaftlichen Zukunftsbegriff von politischem „Rechtsextremismus". Die Begriffe stehen i n Bezug zu jenen beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, die sich einerseits auf den Marxismus-Leninismus, anderseits auf Faschismus nach der italienischen Variante und auf den Nationalsozialismus des Dritten Reiches Adolf Hitlers berufen.

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Extremen, den Frieden i m höchsten Maße gefährdenden gesellschaftlichen Formationen sind die beiden Attribute des „Radikalen" und des „Gefährlichen" beizugeben. Der extremistisch bedrohte Frieden w i r d in den Gemeinwesen mit einer radikalen Infragestellung folgender konstitutionell begründeter und gewährleisteter Rechtseinrichtungen, Elemente der Rechtsordnung und staatlicher Grundbefindlichkeiten konfrontiert: — das Recht des Volkes, die Staatsgewalt i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebimg, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung auszuüben und Volksvertretung i n allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, — die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, — das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, — die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, — die Unabhängigkeit der Gerichte, — der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und — die im Verfassungs- oder Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.

V. Der Terrorismus Die „Gefährlichkeit" realisiert sich durch Bereitschaft und Anwendung von Waffengebrauch i n stufenartig bedrohlicheren Varianten. Angst und Schrecken — Terror i m Vollsinn des Begriffes zum System gereift — bilden „Gesellschaftskrieg" und „Terrorismus": es ist der systematische Einsatz von Mord und Zerstörung und die Drohung mit Tötung und Vernichtimg, um Individuen, Gruppen, Gemeinschaften und Regierungen den politischen Veränderungszielen der „Terroristen" gefügig zu machen. Die Internationale Konferenz über Terrorismus, die 1979 i n Jerusalem stattfand, und an der sich zahlreiche Wissenschafter und Praktiker aus Ländern der damals freien Welt beteiligten, fand zur Formulierung: „Terrorismus ist die vorsätzliche und systematische Ermordung, Verstümmelung und Bedrohung von Unschuldigen, um Furcht zur Erreichung politischer Ziele zu erreichen". In logischer Konsequenz extremistischen Grundsatzdenkens zielt Terrorismus ebenfalls auf Systemüberwindung durch den gewaltsamen Versuch, unge-

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löste Konflikte schlagartig, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste, zu beseitigen. 1. Elemente des Terrorismus Gemeinsam stellen sich Terrorismus Elemente dar:

und seine Varianten durch folgende

— Begehen oder Androhimg schwerer Gewalttaten — organisiertes Zusammenwirken der Täter i n Planung und Ausführung — eine über reinen Eigennutz hinausgehende politische Motivation — Publizität der kriminellen Aktivitäten zur Erreichung von Aufmerksamkeit wie von Furcht und Schrecken unter der Bevölkerimg einer Region oder eines Staatsterritoriums — Versuch der Schaffung oder Mobilisierung eines breiten extremistischen Kräftepotentials i n Sympathisantenringen verschiedener Affinität — primäre Zielobjekte des Terrors sind Einrichtungen und Repräsentanten des Staates oder von Schlüsselunternehmen der Wirtschafts- und Finanzwelt, deren Produkte i m Zusammenhang mit politischen, ökonomischen, ideologischen, militärischen Reizthemen stehen. Terroristen streben die Entstehung und Verschärfung von Gegensätzen zwischen staatlichen Organen und Bürgern an, die letztlich zu Aufstand, Bürgerkrieg und Revolution führen sollen. Eine solche revolutionäre Situation muß aus der Perspektive des Terroristen nötigenfalls erst „herbeigebombt" werden. Daß dies i n einer liberalen und sozialen Demokratie i n hohem Maße von der überwiegenden Mehrheit der Bürger empört abgelehnt wird, beweist den hohen Realitätsverlust der Vertreter einer extremistischpolitischen Gewalt des Untergrunds.

2. Historische Vorbilder Elemente einer terroristischen Theorie wurden schon von der Untergrundorganisation „Narodnaja Volja" (Volkswille) i m zaristischen Rußland i n den späten Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet. Danach dienten Gewaltakte — der Schwächimg der Regierung durch Beseitigung von besonders exponierten Persönlichkeiten, — der internen Ausschaltung von „Auskundschaftern",

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— der „Bestrafung" von Verantwortlichen für „repressive Maßnahmen", — der Untergrabung des Ansehens von Regierenden und der Demonstration der Möglichkeit eines Kampfes gegen sie, — der Förderung des revolutionären Geistes der Massen und der Orientierungshilfe i m Kampf. Dazu t r i t t als „Vorteil" der terroristischen Gruppe die Operationsweise nach dem Überraschungseffekt, die geringere Zahl und Beweglichkeit der nötigen Personen und der Schrecken der „Mächtigen" vor der geheimen, unvorhersehbaren Aktion. Übrigens vermag terroristische Aktivität auch die Rolle eines „Ersatzkrieges" zu übernehmen: Geht es nämlich bei „nichtterritorialen" Kampfparteien nicht um die Okkupation eines Gebietes, so w i r d doch die Irritierung und Destabilisierung eines rivalisierenden Staates erreicht. Man denke dabei etwa an die von den Gewaltregimen der ehemaligen DDR und UdSSR nach 1989 eingestandene Unterstützung des subversiven Terrors i n der BRD und i n der Republik Südafrika durch geheime Logistik, Ausbildung von Terroristen, Waffenlieferungen und verdeckt agierende, geheimdienstliche Führungsoff i ziere des sowjetischen „Komitees für Staatssicherheit" (KGB) und des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (StSD; auch STASI). Während für terroristische Bewegungen i n unterentwickelten Ländern materielle gesellschaftliche Gründe ins Spiel treten, so müssen für analoge Bewegungen i n hochentwickelten Ländern, die i n der Regel kleiner sind, eher psychologische Gründe angenommen werden. Sie laufen auf eine subjektiv erschreckend verbreitete Sinnkrise i n westlichen Wohlfahrtsstaaten hinaus. 3. Spielarten des Terrorismus Typologisch sind nationale Befreiungsbewegungen, regionale oder separatistische ethnische Bewegungen, Sozialrevolutionäre Bewegungen i n industrialisierten Ländern, defensive Vereinigungen zum Schutz von Gruppenprivilegien, sowie Oppositionsbewegungen i n totalitären Systemen zu unterscheiden. Ihnen gemeinsam ist die Methode zuzuschreiben, durch wiederholte Anwendimg von Gewalt Schrecken zu verbreiten und dabei konspirativ als Einzelner, in Gruppen, aber auch „von Staats wegen" zu agieren, die unmittelbaren Opfer entweder zufällig oder aus symbolischen Gründen zu wählen, mit der Tat eine Botschaft zu verbinden und Panik zu erzeugen, um den Hauptadressaten zu gewünschten Handlungen zu bewegen.

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Die europäischen Terrorgruppen, die vom Marxismus-Leninismus getragen waren oder sich an dieser zerbrochenen Ideologie anlehnten, reduzierten sich nach dem Kalenderjahr der Friedensbotschaft 1986 auf einige wenige, die grenzüberschreitend, i n einem Euro-Terror-Verbund nach wie vor von nicht zu unterschätzender Gefährlichkeit sind. Neben der nordirischen IRA und der baskischen Separatistenbewegung ETA sind nach der weitgehenden Zerschlagung der Action directe (AD) Frankreichs, der Prima linea der Brigate rosse Italiens, sowie der Kämpfenden Kommunistischen Zellen (CCC) Belgiens, die kooperativ agierenden, wenn nicht teils sogar liierten Gruppen „Rote Armee Fraktion", „Revolutionäre Zellen" und „Militante Autonome" sehr ernst zu nehmen, die nicht mehr wie i n der ersten Generation des europäischen Terros stellvertretend elitär agieren, sondern sich mit den „arbeitenden Massen" verbinden, um gegen „Kapitalismus, Ausbeutung, Neokolonialismus i n der Dritten Welt" und „Militarismus i m atlantischen Verteidigungsbündnis" zu kämpfen (Anti-NATO und Anti-Kernkraft-Institutionen im starken, verdeckten Verbund mit radikalen Grün-Alternativen). 4. Beispiel RAF Wie sehr „ein einziger Friede" korrespondierend sich von „einer einzigen Ebene der Gewalt" abhebt, zeigt die Strukturierung der „Roten Armee Fraktion", welche nahezu prototypisch auch für andere Bewegungen ähnlicher Gefährlichkeit steht. Die RAF gliedert sich i n drei bis vier Ebenen. Die Kommandoebene führt zur Erreichung ihres Zieles, der Zerschlagung des „Imperialismus", Mordanschläge durch einzelne Kommandos durch. Die Mitglieder dieser Kommandos stammen aus dem Kreis der wenigen i m Untergrund lebenden Angehörigen des Kernbereiches, die sich als ideologisch verschworene Kampfgemeinschaft verstehen. Durch die Einhaltung einer absoluten Konspiration, durch eine umfassende Nutzung technischer Möglichkeiten und durch ihre vielfache internationale Vernetzimg bleiben sie für die Sicherheitsbehörden nahezu unerreichbar. I n der zweiten, der „kämpfenden" Ebene, begehen sogenannte „Militante" zur Unterstützung der Aktivitäten des Kommandobereiches Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Sachwerte. Sie leben i n der Legalität, handeln aber illegal. Auf diese Art und Weise erreichen die Schäden beachtliche Größenordnungen. Die dritte Ebene ist vom sogenannten „Umfeld" besetzt, dessen engerer Kreis nicht mehr als einige hundert Menschen umfaßt. Sie leben nicht i m Untergrund und unterstützen die Kommandoebene vor allem durch Propaganda, aber auch durch logistische Hilfestellung. Aus diesem Kreise rekru-

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tiert etwa die „Rote Armee Fraktion" ihren Nachwuchs, während die außerordentlich gefährliche feministische Kampf- und Terrorgruppe „Rote Zora" ihre Streiterinnen eher aus der alternativen Frauenszene empfängt. I m engeren Umfeld bewegen sich seit dem Weltwährungsfonds-Kongreß i n Berlin 1988 auch die „autonomen Militanten". Man schätzt ihre Größenordnung mit wenigen tausend Personen ein, die entweder Angehörige der inhaftierten RAF-Mitglieder sind oder sich sonst als Sympathisanten der RAF verstehen. Dieser Personenkreis überlappt sich mit dem autonom-anarchistischen Spektrum. Die vierte Ebene bilden schließlich — und dies gilt vor allem für die BRD — die Inhaftierten, die i n zunehmendem Maße seit dem Jahre 1986 wieder Einfluß auf die gesamte Terrorbewegung nehmen. Die „Revolutioären Zellen", voneinander eher abgeschottet, agieren in gewissem Sinne „nach Feierabend". Ihre Mitglieder gehen tagsüber regulären Berufen nach, sie tendieren vor allem auf die Erzielung von Sachschäden. Ab dem Jahre 1985 haben schlagartig Terrorgruppen aus dem Nahen Osten ihr Operationsfeld Europa neu besetzt und ebenfalls einen Verbund mit politisch extrem orientierten Neomarxisten hergestellt. Sie finden auch im anarchistischen und grün-alternativ orientierten Szenenbereich ihren Nachwuchs.

VI. Dem Terrorismus den Boden entziehen! Auch in dieser Perspektive erblickt Papst Johannes Paul IL (Botschaft, 2) den Frieden als universellen (also die gesamte Gesellschaft durchwaltenden) Wert in großer Gefahr. Freilich haben die Staaten ihre naturrechtlich gemeinwohlbezogene Verantwortung wahrzunehmen und Ungerechtigkeiten ebenso radikal zu beseitigen, wie Extremisten und Terroristen diese zum Vorwand ihrer Gewalt reklamieren. Daher Papst Johannes Paul IL: „ . . . es kann keinen Frieden im vollen Sinne seines Wertes zusammen mit Ungerechtigkeit geben. Frieden kann nicht auf das bloße Fehlen von Konflikten eingeschränkt werden; er bedeutet vielmehr die ausgeglichene Ruhe einer vollentfalteten Ordnung. Er geht verloren durch soziale und wirtschaftliche Ausbeutung von Seiten spezieller Interessengruppen, die überstaatlich arbeiten oder als Eliten innerhalb von Entwicklungsländern wirken. Der Friede geht verloren, wenn Gewaltanwendung bittere Früchte von Haß und Spaltung hervorbringt. Er geht verloren, wenn wirtschaftliche Ausbeutimg und innere Spannungen im sozialen Gefüge das Volk wehrlos und enttäuscht werden lassen, eine leichte Beute für die zerstörerischen Mächte der Gewalt."

Der Friede, Wert ohne Grenzen

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Soll die gegenwärtige Situation überwunden werden (Botschaft, 3), so sind Werteinsichten zu vermitteln und sich anzueignen. Diese lassen sich nicht mit kompromißorientierten „realpolitischen" Halbheiten verbinden. Sie verlangen die totale Umkehr eines jeden einzelnen Menschen, die „Metanoia", die Johannes der Täufer fordert. Und dies i m Geiste solidarischer Brüderlichkeit und Gesprächsbereitschaft und den daraus folgenden „Dialog" (Botschaft, 4). Dies müßte zu einer Umkehr des Menschen führen, aus der auch die Glaubwürdigkeit der „neuen Beziehungen " mit den Völkern des „armen Südens" entstehen wird. Der Preis für Menschenwürde bleibt eben die Tat der sozialen Gerechtigkeit. Die „Neuen Beziehungen auf der Grundlage von Solidarität und des Dialogs" (Botschaft, 5) erheischen den Respekt — „ . . . für jede menschliche Person, — für die echten Werte und Kulturen anderer, — für ihre berechtigte Autonomie und Selbstbestimmung." Sie wollen „Strukturen schaffen, die sicherstellen, daß soziale Solidarität und Dialog die bleibenden Merkmale der Welt, in der w i r leben, sein werden". Es geht um die Wiederherstellung der Würde der menschlichen Person, und damit um den zentralen Wert, den w i r i m Gefüge der Christlichen Soziallehre i n dieser erkennen. Christen müssen die Barrieren der Systeme und Ideologien überwinden, die den „einen, einzigen Frieden" durch integrierenden und doch ewig spaltenden Haß bedrohen. Dies tangiert auch die Gesamtproblematik der ideologischen Wurzeln des politischen Extremismus und Terrorismus. Papst Johannes Paul IL appellierte 1986 an die Christen: „Der christliche Glaube hat seinen Brennpunkt i n Jesus Christus, der am Kreuze seine Arme ausbreitet, um die zerstreuten Kinder Gottes zu vereinen (vgl. Jo 11, 52), die trennenden Mauern niederzureißen (vgl. Eph 2,14) und die Völker i n Brüderlichkeit und Frieden zu versöhnen." Das über die Welt errichtete Kreuz umfängt zeichenhaft Nord und Süd, West und Ost und hat die Kraft, sie miteinander zu versöhnen." (Botschaft, 6).

VII. Friede als Hoffnung Die Vereinten Nationen hatten das Jahr 1986 zum „Internationalen Jahr des Friedens" erklärt. Ein halbes Dutzend Jahre danach brechen neue Konflikte an und alte Hoffnungen i n sich zusammen. Der Golfkrieg aktualisierte konventionelles Kriegsgeschehen, nationale und Bürgerkriege am Balkan

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Robert Prantner

verpflanzten den Waffenlärm wieder i n das Herz Europas. I m Zerrbild des raschen Wandels aber sei die felsenfest verankerte und klare Aussicht auf jene Hoffnung erwähnt, die da lautet: „Friede, ein Wert ohne Grenzen: Nord-Süd, West-Ost; überall ein Volk, geeint in einem einzigen Frieden".

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1987 „ENTWICKLUNG UND

SOLIDARITÄT: ZWEI SCHLÜSSEL ZUM FRIEDEN"

1. Ein Aufruf an alle ... Mein Vorgänger Papst Paul VI. hat alle Menschen guten Willens dazu aufgerufen, am ersten Tag eines jeden bürgerlichen Jahres einen Weltfriedenstag zu begehen, als Hoffnung und Versprechen zugleich, daß „Frieden die Entwicklung der Zukunft bestimmen werde" (AAS 59, 1967, S. 1098). Zwanzig Jahre danach erneuere ich diesen Aufruf, indem ich mich an jedes Mitglied der Menschheitsfamilie wende. Ich lade euch ein, zusammen mit mir über den Frieden nachzudenken und den Frieden zu feiern. Inmitten von Schwierigkeiten — wie w i r sie heute kennen —, den Frieden zu feiern, bedeutet, unser Vertrauen auf die Menschheit zu bekunden. Aufgrund dieses Vertrauens richte ich meinen Aufruf an jedermann, i n der Zuversicht, daß w i r gemeinsam lernen können, den Frieden als eine universale Sehnsucht aller Völker der Welt zu feiern. Wir alle, die w i r diese Sehnsucht teilen, können so eins werden in unseren Gedanken und Bemühungen, den Frieden zu einem Ziel zu machen, das von allen für alle erreicht werden kann. Das Thema, das ich für die Botschaft dieses Jahres gewählt habe, ist von dieser tiefen Wahrheit über die Menschheit angeregt worden: Wir sind eine einzige Menschheitsfamilie. Allein durch unsere Geburt i n diese Welt hinein haben w i r mit jedem anderen Menschenwesen zusammen ein gemeinsames Erbe und dieselbe Abstammung. Diese Gemeinsamkeit enfaltet sich in allem Reichtum und aller Vielfalt der Menschenfamilie: i n verschiedenen Rassen, Kulturen, Sprachen und geschichtlichen Wegen. Und w i r sind aufgerufen, die elementare Solidarität der Menschheitsfamilie als die grundlegende Bedingung für unser Zusammenleben auf dieser Erde anzuerkennen. Das Jahr 1987 bedeutet auch den 20. Jahrestag der Veröffentlichung von Populorum progressio. Diese berühmte Enzyklika Pauls VI. war ein feierlicher Aufruf zur Zusammenarbeit für eine umfassende Entwicklung der Völ-

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Papst Johannes Paul II.

ker (vgl. Populorum progressio, 5). Der Satz Pauls VI.: „Entwicklung ist der neue Name für Frieden" (ebd. 76 u. 87) stellt ein Schlüsselwort dar für unsere Suche nach dem Frieden. Kann wahrer Frieden bestehen, wenn Männer, Frauen und Kinder nicht i n voller menschlicher Würde leben können? Kann es einen dauerhaften Frieden i n einer Welt geben, die von sozialen, w i r t schaftlichen und politischen Verhältnissen beherrscht wird, die eine Gruppe oder Nation zum Schaden einer anderen begünstigen? Kann echter Frieden errichtet werden ohne eine wirksame Anerkennimg jener wundervollen Wahrheit, daß w i r alle gleich sind an Würde, gleich, weil geformt nach dem B i l d Gottes, der unser Vater ist? 2. ... zum Nachdenken über

Solidarität...

Diese Botschaft zum 20. Weltfriedenstag ist eng mit der Botschaft verbunden, die ich i m letzten Jahr über das Thema „Nord-Süd, Ost-West: ein einziger Friede" an die Welt gerichtet habe. I n jener Botschaft sage ich: „Die Forderung, die Einheit der Menschheitsfamilie ernstzunehmen, w i r k t sich sehr konkret auf unser Leben und unseren Einsatz für den Frieden aus. Das bedeutet vor allem, daß w i r . . . uns mit einer neuen Solidarität verpflichten, der Solidarität mit der ganzen Menschheitsfamilie . . . eine neue Beziehung ... soziale Solidarität mit allen" (Nr. 4). Die soziale Solidarität der Menschheitsfamilie anzuerkennen, bringt die Verpflichtung mit sich, auf dem aufzubauen, was uns miteinander verbindet. Das bedeutet, die gleiche Würde aller Menschen mit bestimmten grundlegenden und unveräußerlichen Menschenrechten wirksam und ausnahmslos zu fördern. Das berührt alle Bereiche unseres individuellen Lebens ebenso wie unser Leben i n der Familie, i n der Volksgemeinschaft, zu der w i r gehören, und i n der Welt. Sobald w i r wirklich begreifen, daß w i r Brüder und Schwestern in einer gemeinsamen Menschheit sind, dann können wir unsere Einstellungen zum Leben i m Licht der Solidarität formen, die uns eint. Das gilt i n besonderer Weise für alles, was mit jenem grundlegenden und universalen Projekt zu tun hat: dem Frieden. I m Leben von uns allen hat es Augenblicke und Ereignisse gegeben, die uns i n bewußter Anerkennung der einen Menschheit miteinander verbunden haben. Seitdem w i r zum erstenmal Bilder der Erde vom Weltraum her sehen konnten, ist es zu einem deutlichen Wandel i m Verständnis unseres Planeten i n seiner unermeßlichen Schönheit und Gefährdung zugleich gekommen. Mit Hilfe der Ergebnisse der Weltraumforschung wurde uns deutlich, daß der Ausdruck „gemeinsames Erbe der gesamten Menschheit" von da an einen neuen Sinn bekommen hat. Je mehr w i r unsere künstlerischen und kulturel-

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len Reichtümer miteinander teilen, um so mehr entdecken w i r unser gemeinsames Menschsein. Vor allem junge Menschen haben ihren Sinn für Einheit durch regionale und weltweite sportliche oder ähnliche Unternehmungen vertieft und dadurch ihre brüderlichen und schwesterlichen Bindungen gestärkt. 3. ... wie sie bereits verwirklicht

wird

...

Wie oft haben w i r i n den letzten Jahren zugleich die Gelegenheit gehabt, als Brüder und Schwestern die Hand auszustrecken, um Menschen zu helfen, die von Naturkatastrophen getroffen waren oder unter Krieg und Hunger litten. Wir sind Zeugen eines wachsenden gemeinsamen Verlangens — über politische, geographische oder ideologische Grenzen hinweg —, den benachteiligten Mitgliedern der Menschheitsfamilie zu Hilfe zu kommen. Das so tragische und noch immer fortdauernde Leiden unserer Brüder und Schwestern i n den Gegenden Afrikas südlich der Sahara führt bereits weltweit zu Formen und Projekten dieser Solidarität unter den Menschen. Von den zwei Gründen, die mich i m Jahre 1986 bewegten, den Internationalen Friedenspreis „Papst Johannes X X I I I . " an das thailändische Katholische Büro für Katastrophenhilfe und Flüchtlinge (COERR) zu verleihen, war der erste dieser, daß dadurch die Aufmerksamkeit der Welt auf die ständige Not jener, die sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, gelenkt werden konnte; und der zweite Grund war, den Geist der Zusammenarbeit hervorzuheben, den soviele Gruppen — katholische und auch andere — bei ihrer Antwort auf die Bedürfnisse dieser hartgeprüften heimatlosen Menschen bewiesen haben. Ja, Geist und Herz des Menschen können mit großer Hilfsbereitschaft auf die Leiden anderer antworten, und sie tun es auch bereits. I n dieser Antwort können w i r eine wachsende Verwirklichung sozialer Solidarität entdecken, die i n Wort und Tat bezeugt, daß w i r eins sind, daß wir diese Einheit anerkennen müssen und daß diese ein wesentliches Element für das Gemeinwohl der einzelnen und der Völker darstellt. Diese Beispiele zeigen, daß w i r i n vielfältiger Weise zusammenarbeiten können und es auch bereits tun und daß w i r durch solches Zusammenwirken das Gemeinwohl fördern können. Wir müssen jedoch noch mehr tun. Wir müssen eine positive Grundeinstellung zur Menschheit und zu den Beziehungen einnehmen, die uns mit jeder Person und jeder Gruppe i n der Welt verbinden. Hierbei können w i r dann allmählich erkennen, wie die Verpflichtimg zur Solidarität mit der ganzen Menschheitsfamilie ein Schlüssel zum Frieden ist. Projekte, die das Wohl der Menschheit oder den guten Willen unter den Völkern fördern, sind bereits ein Schritt zur Verwirklichng von Solidarität. Das Band von Sympathie und Liebe, das uns dazu bewegt, den

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Papst Johannes Paul I

Leidenden zu helfen, macht auf andere Weise unsere Einheit offenbar. Aber die zugrundeliegende Herausforderung an uns alle besteht darin, eine Haltung von sozialer Solidarität mit der ganzen Menschheitsfamilie zu erlangen und allen sozialen und politischen Situationen mit einer solchen Haltung zu begegnen. So haben zum Beispiel die Vereinten Nationen das Jahr 1987 zum Internationalen Jahr des Schutzes für die Heimatlosen erklärt. Auf diese Weise lenken sie die Aufmerksamkeit auf einen Bereich großer Sorge und fördern eine Haltung der Solidarität — menschlich, politisch und wirtschaftlich — mit Millionen von Familien, denen die wesentliche Umgebung für ein angemessenes Familienleben fehlt. 4. ... und wie sie behindert wird

...

Leider gibt es auch zahlreiche Beispiele für Hindernisse auf dem Weg zur Solidarität, für politische und ideologische Einstellungen, die den Aufbau von Solidarität tatsächlich behindern. Solche Einstellungen oder politischen Programme übersehen oder leugnen die grundlegende Gleichheit und Würde der menschlichen Person. Dabei denke ich insbesondere an: — eine Fremdenfeindlichkeit, die Nationen in sich selbst abkapselt oder Regierungen dazu bringt, diskriminierende Gesetze gegen Menschen i n ihren Ländern zu erlassen; — das Schließen der Grenzen i n einer willkürlichen und ungerechtfertigten Weise, so daß Menschen effektiv die Möglichkeit genommen wird, an einen anderen Ort zu ziehen und ihr Los zu verbessern, sich mit ihren Angehörigen zu vereinen oder einfach ihre Familie zu besuchen oder sich mit Verständnis und Sorge um andere zu kümmern; — Ideologien, die Haß oder Mißtrauen predigen, Systeme, die künstliche Barrieren errichten. Rassenhaß, religiöse Intoleranz, Klassenschranken sind nur allzu gegenwärtig i n vielen Gesellschaften, und das i n offener wie auch i n versteckter Weise. Wenn führende Politiker solche Aufspaltungen zu staatsinternen Systemen oder politischen Strategien i m Verhältnis zu anderen Nationen machen, dann stoßen solche Vorurteile an den Kern menschlicher Würde. Sie werden zu einer mächtigen Quelle von Gegenmaßnahmen, welche Spaltung, Feindschaft, Unterdrückung und Kriegsstimmung noch verstärken. Ein weiteres Übel, das i n diesem vergangenen Jahr den Menschen soviel Leid und Zerstörung gebracht hat, ist der Terrorismus.

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Zu all diesem bietet wirkliche Solidarität ein Gegenmittel. Wenn nämlich das wesentliche Merkmal der Solidarität i n der grundlegenden Gleichheit aller Männer und Frauen zu finden ist, dann ist jegliche Politik, die der elementaren Würde und den Menschenrechten jeder Person oder Gruppe von Personen widerspricht, eine Politik, die zu verwerfen ist. Dagegen sind politische Initiativen und Programme zu fördern, die offene und aufrichtige Beziehungen zwischen den Völkern herstellen, gerechte Bündnisse i n die Wege leiten und Menschen i n ehrlicher Zusammenarbeit vereinen. Solche Maßnahmen übersehen nicht die wirklichen sprachlichen, rassischen, religiösen sozialen oder kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern; noch leugnen sie die großen Schwierigkeitenen bei der Überwindung langfristiger Spaltungen und Ungerechtigkeiten. Aber sie geben den Elementen, die verbinden, den Vorrang, wie klein auch immer sie erscheinen mögen. Dieser Geist der Solidarität ist offen für den Dialog. Er findet seine Wurzeln i n der Wahrheit, und er bedarf selber der Wahrheit, um sich zu entfalten. Es ist ein Geist, der eher aufzubauen als zu zerstören, eher zu vereinen als zu entzweien sucht. Da Solidarität i n ihrer Tendenz universal ist, kann sie viele Formen annehmen. Regionale Abkommen, um das Gemeinwohl zu fördern und bilaterale Verhandlungen zu ermutigen, können dazu dienen, Spannungen abzubauen. Der Austausch von Technologie oder Informationen, um Katastrophen abzuwenden, oder die Lebensqualität von Menschen in einem bestimmten Gebiet zu verbessern, w i r d zur Solidarität beitragen und weitere Maßnahmen auf einer umfassenderen Ebene erleichtern.

5. Überlegungen zur Entwicklung

...

Vielleicht bedarf es i n keinem anderen Sektor menschlicher Bemühungen mehr der sozialen Solidarität als im Bereich der Entwicklung . Vieles von dem, was Paul VI. vor zwanzig Jahren i n seiner Enzyklika, der wir hier gedenken, gesagt hat, trifft besonders heute zu. Er sah mit großer Klarheit, daß die soziale Frage weltweit geworden ist (vgl. Populorum progressio, 3). Er war unter den ersten, die die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt haben, daß wirtschaftlicher Fortschritt i n sich selbst ungenügend ist; es bedarf zugleich des sozialen Fortschritts (vgl. ebd., 35). Vor allem hat er betont, daß die Entwicklung ganzheitlich sein muß, das heißt die Entwicklung einer jeden Person und der ganzen Person (vgl. ebd., 14-21). Diese war für ihn vollkommener Humanismus: die umfassende Entwicklung der Person i n all ihren Dimensionen und offen für das Absolute, das „dem menschlichen Leben den wahren Sinn gibt" (ebd.). Solch ein Humanismus ist das gemeinsame Ziel, das für jeden angestrebt werden soll. „Es kann keinen Fortschritt 13 Johannes Paul IL

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auf die vollkommene Entfaltung des Menschen hin geben", so sagte er, „ohne die gleichzeitige Entwicklung der ganzen Menschheit i m Geist der Solidarität" (ebd., 43). Jetzt, zwanzig Jahre später, möchte ich dieser Lehre Pauls VI. meine Hochachtung bezeugen. Unter den veränderten Umständen von heute sind diese tiefen Einsichten, besonders hinsichtlich der Bedeutung solidarischer Gesinnung für die Entwicklung, immer noch gültig und werfen ein helles Licht auf neue Herausforderungen. 6. ... und zu ihren Anwendungen heute Wenn w i r über die Verpflichtung zur Solidarität auf dem Gebiet der Entwicklung nachdenken, dann ist die erste und grundlegende Wahrheit diejenige, daß Entwicklung eine Frage ist, die es mit Menschen zu tun hat. Menschen sind das Subjekt echter Entwicklung, und Menschen sind auch das Ziel echter Entwicklung. Die ganzheitliche Entwicklung der Menschen ist Ziel und Maß aller Entwicklungsprojekte. Daß alle Menschen i m Mittelpunkt der Entwicklung stehen, ist eine Folgerung aus der Einheit der Menschheitsf amilie; und das ist so, unabhängig von allen technischen oder wissenschaftlichen Entdeckungen, die es i n Zukunft noch geben mag. Menschen müssen das Zentrum von allem sein, was getan wird, um die Lebensbedingungen zu verbessern. Menschen müssen i n jedem echten Entwicklungsprozeß aktiv handelnde und nicht nur passiv empfangende sein. Ein weiteres Prinzip für eine Entwicklung i m Geist der Solidarität ist die Notwendigkeit, solche Werte zu fördern, die den einzelnen und der Gesellschaft von wirklichem Nutzen sind. Es ist nicht genug, sich der Notleidenden anzunehmen und ihnen beizustehen. Wir müssen ihnen helfen, die Werte zu entdecken, die sie befähigen, ein neues Leben aufzubauen und i n Würde und Gerechtigkeit ihren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Alle Menschen haben das Recht, nach dem, was gut und wahr ist, zu streben und es auch zu erlangen. Alle haben das Recht, jene Dinge zu wählen, die ihr Lebensniveau anheben; und das Leben i n der Gesellschaft ist dabei keineswegs moralisch neutral. Soziale Entscheidungen haben Konsequenzen, die das wahre Wohl der Person i n der Gesellschaft entweder fördern oder vermindern. I m Bereich der Entwicklung, besonders der Entwicklungshilfe, sind Programme angeboten worden, die den Anspuch erheben, „wertfrei" zu sein, in Wirklichkeit aber Gegenwerte zum Leben darstellen. Wenn man Regierungsprogramme oder Hilfsmaßnahmen betrachtet, die Gemeinschaften oder Länder indirekt zwingen, antikonzeptionelle Programme und Abtreibungs-

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pläne als Preis für wirtschaftliches Wachstum hinzunehmen, dann muß deutlich und mit Nachdruck gesagt werden, daß solche Angebote die Solidarität der Menschheitsfamilie verletzen, weil sie die Werte menschlicher Würde und Freiheit leugnen. Was von der persönlichen Entfaltung durch die Wahl von Werten gilt, die das Leben vervollkommnen, das gilt auch von der Entwicklung der Gesellschaft. Was immer wahre Freiheit verhindert, richtet sich gegen die Entwicklung der Gesellschaft und der sozialen Einrichtungen. Ausbeutimg, Drohungen, gewaltsame Unterdrückung, Verweigerung von Entwicklungsmöglichkeiten durch einen Gesellschaftssektor gegenüber einem anderen sind unannehmbar und widersprechen dem wahren Begriff menschlicher Solidarität. Solche Maßnahmen mögen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Nationen eine Zeitlang leider erfolgreich erscheinen. Je länger jedoch solche Bedingungen bestehen, um so wahrscheinlicher werden sie zur Ursache von weiterer Unterdrückung und wachsender Gewalttätigkeit. Der Same der Zersetzung ist schon in der institutionalisierten Ungerechtigkeit ausgesät. Irgendeinem Bereich einer bestimmten Gesellschaft oder irgendeiner Nation die Mittel für eine erfolgreiche Entwicklung zu verweigern, kann nur zu Unsicherheit und sozialer Unruhe führen. Es erzeugt Haß und Spaltung und zerstört die Hoffnung auf Frieden. Die Solidarität, die eine ganzheitliche Entwicklung fördert, besteht i n allem, was den legitimen Frieden jeder Person und die berechtigte Sicherheit jeder Nation schützt und verteidigt. Ohne diesen Frieden und diese Sicherheit fehlen die eigentlichen Bedingungen für die Entwicklung. Nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Nationen müssen imstande sein, sich an den Entscheidungen zu beteiligen, die sie selbst betreffen. Die Freiheit, die Nationen haben müssen, um ihr Wachstum und ihre Entwicklung als gleichwertige Partner i n der Völkerfamilie sicherzustellen, hängt von ihrer gegenseitigen Achtung ab. Das Streben nach wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Überlegenheit auf Kosten der Rechte anderer Nationen setzt alle Projekte für echte Entwicklung oder für wahren Frieden aufs Spiel. 7. Solidarität

und Entwicklung:

zwei Schlüssel zum Frieden

Aus diesen Gründen habe ich vorgeschlagen, daß w i r i n diesem Jahr Solidarität und Entwicklung als Schlüssel zum Frieden bedenken. Jede dieser Wirklichkeiten hat ihre eigene besondere Bedeutimg. Beide sind erforderlich für die Ziele, die w i r anstreben. Solidarität ist von Natur aus ethisch, weil sie die Bejahung von Werten für die Menschheit als solche einschließt. Darum ist ihre Bedeutung für das menschliche Leben auf diesem Planeten und für 1*

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die internationalen Beziehungen ebenfalls von ethischer Qualität: Unsere gemeinsamen menschlichen Bande fordern, daß w i r i n Harmonie zusammenleben und das fördern, was füreinander gut ist. Diese ethische Bedeutung ist der Grund, warum Solidarität ein wesentlicher Schlüssel zum Frieden ist. I m selben Licht erhält auch Entwicklung ihre volle Bedeutung. Es geht bei ihr nicht mehr länger nur darum, gewisse Situationen oder wirtschaftliche Verhältnisse zu verbessern. Entwicklung w i r d letztlich zu einer Frage des Friedens; denn sie hilft zu erreichen, was für die anderen und für die menschliche Gemeinschaft insgesamt gut ist. I m Zusammenhang echter Solidarität besteht keine Gefahr der Ausbeutung oder des Mißbrauchs von Entwicklungsprogrammen zum Nutzen von nur wenigen. Vielmehr w i r d Entwicklung so zu einem Prozeß, der verschiedene Mitglieder der gleichen menschlichen Familie einbezieht und sie alle bereichert. Wie Solidarität uns die ethische Grundlage für unser Handeln gibt, so w i r d Entwicklung zu einem Angebot, das der Bruder seinem Mitbruder macht, so daß beide voller leben können i n aller Verschiedenheit und Komplementarität, die die Wertzeichen menschlicher Zivilisation darstellen. Aus dieser Dynamik erwächst die harmonische „Ruhe der Ordnimg", die wahrer Friede ist. I n der Tat, Solidarität und Entwicklung sind zwei Schlüssel zum Frieden. 8. Einige moderne Probleme

...

Viele der Probleme, denen sich die Welt am Beginn des Jahres 1987 gegenübersieht, sind tatsächlich vielschichtig und erscheinen beinahe unlösbar. Dennoch, wenn w i r an die Einheit der menschlichen Familie glauben, wenn w i r betonen, daß Frieden möglich ist, können unsere gemeinsamen Überlegungen über Solidarität und Entwicklung als Schlüssel zum Frieden viel Licht auf diese schwierigen Fragen werfen. Gewiß könnte das anhaltende Problem der Auslandsschulden vieler Entwicklungsländer mit neuen Augen betrachtet werden, wenn alle Beteiligten diese ethischen Überlegungen gewissenhaft in die vorzunehmende Abwägung und die vorzuschlagenden Lösungen einbeziehen würden. Viele Aspekte dieser Frage — Protektionismus, Rohstoffpreise, Prioritäten bei den Geldanlagen, Einhaltung der übernommenen Verpflichtungen wie auch die Berücksichtigung der inneren Lage der Schuldnerländer — würden davon Nutzen haben, wenn man in Solidarität jene Lösungen sucht, die eine stabile Entwicklung fördern. Im Bezug auf Wissenschaft und Technik zeigen sich neue und gewaltige Unterschiede zwischen den technologisch Besitzenden und den Habenicht-

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sen. Solche Ungleichheiten fördern nicht den Frieden und die harmonische Entwicklung, sondern verstärken vielmehr schon bestehende ungleiche Verhältnisse. Wenn Menschen das Subjekt der Entwicklung sind und das Ziel, auf das sie ausgerichtet ist, w i r d ein offeneres Teilen anwendbarer technologischer Errungenschaften mit technologisch weniger entwickelten Ländern zu einem ethischen Imperativ der Solidarität; ebenso auch die Weigerung, solche Länder zum Versuchsgebiet für zweifelhafte Experimente oder zu einem Ablageplatz für fragwürdige Produkte zu machen. Internationale Behörden und verschiedene Staaten unternehmen i n diesen Bereichen bemerkenswerte Anstrengungen. Solche Anstrengungen sind ein wichtiger Beitrag für den Frieden. Jüngste Beiträge über die wechselseitige Beziehung zwischen Abrüstung und Entwicklung — zwei der bedrängendsten Probleme, die die Welt heute herausfordern — weisen auf die Tatsache hin, daß die gegenwärtigen OstWest-Spannungen und das Nord-Süd-Gefälle ernsthafte Bedrohungen für den Weltfrieden darstellen. Es w i r d zunehmend deutlich, daß eine friedvolle Welt, i n der die Sicherheit der Völker und Staaten garantiert ist, tatkräftige Solidarität i m Bemühen um Entwicklung und Abrüstimg zugleich verlangt. Alle Staaten erfahren mit Sicherheit die Konsequenzen der Armut anderer Staaten; allen Staaten gereicht es ebenso sicher zum Schaden, wenn bei den Abrüstungsverhandlungen Ergebnisse ausbleiben. Auch können wir die sogenannten örtlich begrenzten Kriege nicht vergessen, die einen hohen Tribut an menschlichem Leben fordern. Alle Staaten haben Verantwortung für den Weltfrieden, und dieser Friede kann erst dann sicher sein, wenn die Sicherheit, die auf Waffen beruht, stufenweise ersetzt w i r d durch eine Sicherheit , die auf der Solidarität mit der Menschheitsfamilie beruht. Noch einmal, ich rufe zu weiteren Anstrengungen auf, die Waffen auf das notwendige Minimum für eine berechtigte Verteidigung zu reduzieren, wie auch zu verstärkten Maßnahmen, um den Entwicklungsländern zu helfen, selbständig zu werden. Nur so kann die Staatengemeinschaft i n wahrer Solidarität leben. Es gibt noch eine andere Bedrohung für den Frieden, die weltweit die Wurzeln selbst jeder Gesellschaft schwächt: der Niedergang der Familie. Die Familie ist die Urzelle der Gesellschaft. Die Familie ist der erste Ort, wo Entwicklung stattfindet oder eben nicht stattfindet. Wenn sie heil und gesund ist, dann sind die Möglichkeiten für die allseitige Entwicklung der ganzen Gesellschaft groß. Dies ist jedoch allzu oft nicht der Fall. In zu vielen Gesellschaften ist die Familie auf einen zweitrangigen Platz abgedrängt worden. Sie w i r d von verschiedenen Formen der Einmischung in ihrer Bedeutung relativiert, und oft findet sie i m Staat nicht jenen Schutz und jene Hilfe, die sie braucht. Nicht selten ist sie der ihr zustehenden Mittel

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beraubt, auf die sie ein Anrecht hat, damit sie gedeihen und eine Atmosphäre schaffen kann, i n der ihre Mitglieder aufleben können. Das Vorkommen von zerbrochenen Familien, von Familienmitgliedern, die des Überlebens wegen zur Tennung gezwungen oder nicht einmal imstande sind, ein Obdach zur Familiengründung oder den Unterhalt für ihre Familien zu finden, das alles sind Zeichen von moralischer Unterentwicklung und von einer Gesellschaft, deren Wertordnung verwirrt ist. Ein grundlegender Maßstab für die Gesundheit eines Volkes oder einer Nation ist das Gewicht, das sie den Bedingungen für die Entwicklung der Familien beimessen. Bedingungen, die für die Familien segensreich sind, fördern die Harmonie von Gesellschaft und Nation, und diese wiederum stärken den Frieden zu Hause und i n der Welt. Wir sehen heute schreckliche Bilder von kleinen Kindern, die verlassen sind oder gezwungen, auf Arbeitssuche zu gehen. Wir finden Kinder und Jugendliche in Slums und i n großen unpersönlichen Städten, wo sie nur dürftigen Unterhalt und wenig oder keine Hoffnung für die Zukunft finden. Der Niedergang der Familienstruktur, die Zersplitterung ihrer Mitglieder, besonders der jungen Leute, und die daraus folgenden Krankheiten, von denen sie befallen sind — Drogenmißbrauch, Alkoholismus, flüchtige und sinnleere sexuelle Beziehungen, Ausbeutung durch andere — sind alles Gegenzeichen zur Entwicklung der ganzen Person, die durch die soziale Solidarität der Menschheitsfamilie gefördert wird. In die Augen einer anderen Person zu schauen und darin die Hoffnungen und Ängste eines Bruders und einer Schwester zu sehen, heißt, die Bedeutung von Solidarität zu entdecken. 9. . . . eine Herausforderung

für uns alle

Auf dem Spiel steht dabei der Friede: der bürgerliche Friede innerhalb der Nationen und der Weltfriede zwischen den Staaten (vgl. Populorum progressio, 55). Papst Paul VI. sah dies klar bereits vor zwanzig Jahren. Er erkannte die innere Vebindung zwischen den Forderungen der Gerechtigkeit i n der Welt und der Möglichkeit von Frieden für die Welt. Es ist kein bloßer Zufall, daß gerade i m Jahr der Veröffentlichung des Rundschreibens Populorum progressio auch der jährliche Weltfriedenstag eingeführt wurde, eine Initiative, die ich gern fortgeführt habe. Paul VI. hat bereits den Kern der diesjährigen Überlegungen über Solidarität und Entwicklung als Schlüssel zum Frieden ausgedrückt, wenn er feststellte: „Der Friede besteht nicht einfach i m Schweigen der Waffen, i m immer schwankenden Gleichgewicht der Kräfte. Er muß Tag für Tag aufgebaut werden i n Richtung auf eine von Gott gewollte Ordnung, die auch eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen einschließt! (ebd., 76).

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10. Die Verpflichtung

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der Gläubigen und insbesondere der Christen

Wir alle, die an Gott glauben, sind überzeugt, daß diese harmonische Ordnimg, nach der sich alle Völker sehnen, nicht allein durch menschliche Anstrengungen kommen kann, so notwendig diese auch sind. Dieser Friede — der persönliche Friede mit sich selbst und der Friede mit den anderen — muß gleichzeitig i n Gebet und Meditation gesucht werden. Wenn ich das sage, steht vor meinen Augen und ruht i n meinem Herzen die tiefe Erfahrung des kürzlichen Weltgebetstages für den Frieden i n Assisi. Religiöse Führer und Vertreter der christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und der Weltreligionen bekundeten dort ihre lebendige Solidarität i n Gebet und Meditation für den Frieden. Es war eine sichtbare Verpflichtung von Seiten jedes Teilnehmers—und der vielen anderen, die sich geistig mit uns vereinten —, den Frieden zu suchen, Friedensstifter zu sein, alles denkbar Mögliche in tiefer Gemeinschaft des Geistes zu tun, um für eine Gesellschaft zu wirken, i n der Gerechtigkeit aufblühen und Friede überfließen wird (vgl. Ps 72, 7). Der gerechte Richter, den uns der Psalmist beschreibt, ist einer, der den Armen und Leidenden Gerechtigkeit schenkt: „Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen. Von Unterdrückung und Gewalttat befreit er s i e . . ( e b d . , 13 f.). Diese Worte stehen heute vor unseren Augen, wenn w i r darum beten, daß die Sehnsucht nach Frieden, die das Treffen i n Assisi kennzeichnete, die treibende Kraft für alle Gläubigen und i n einer besonderen Weise für die Christen sein möge. Denn Christen können i n diesen inspirierten Psalmworten die Gestalt unseres Herrn Jesus Christus erkennen, des Einen, der der Welt seinen Frieden brachte, des Einen, der den Verwundeten und Leidenden Heilung schenkte, um „den Armen eine gute Nachricht zu bringen . . . und die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen" (Lk 4,18). Jesus Christus ist der Eine, den w i r „unseren Frieden" nennen, und der „die trennende Wand der Feindschaft niederriß" (Eph 2,14), um Frieden zu stiften. Ja, eben dieser Wunsch, Frieden zu stiften, der beim Gebetstreffen i n Assisi so deutlich wurde, läßt uns darüber nachdenken, wie dieser Welttag i n Zukunft gefeiert werde sollte. Auch w i r sind aufgerufen, zu sein wie Christus, Friedensstifter durch Versöhnung zu sein, Ihm bei der Aufgabe, Frieden auf diese Erde zu bringen, zu helfen, indem w i r die Sache der Gerechtigkeit für alle Völker und Nationen unterstützen. Und niemals dürfen w i r seine Worte vergessen, die jeden vollkommenen Ausdruck menschlicher Solidarität zusammenfassen: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen" (Mt 7, 12). Wenn sie dieses Gebot brechen, müßten Christen erkennen, daß sie Spaltung verursachen und sündigen. Diese Sünde hat ernste Auswirkungen auf die Gemeinschaft

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der Gläubigen und auf die gesamte Gesellschaft. Sie beleidigt Gott selbst, den Schöpfer und Erhalter des Lebens. Die Tugend und Weisheit, die Jesus bereits zur Zeit seines verborgenen Lebens mit Maria und Josef i n Nazaret zeigt (vgl. Lk 2,51 f.), ist ein Modell für unsere eigenen Beziehungen miteinander i n der Familie, i n unseren Nationen, i n der Welt. Der Dienst an anderen durch Wort und Tat, der das öffentliche Leben Jesu kennzeichnet, ist ein Anstoß für uns, daß damit die Solidarität der Menschheitsfamilie radikal vertieft worden ist. Sie hat ein transzendentes Ziel erhalten, das alle menschliche Anstrengung für Gerechtigkeit und Frieden adelt. Schließlich eröffnet uns Christen der höchste A k t von Solidarität, den die Welt kennengelernt hat — der Tod Jesu Christi am Kreuz für alle — den Weg, den auch wir gehen müssen. Wenn unsere Arbeit für den Frieden voll wirksam sein soll, muß sie an der umformenden Kraft Christi teilhaben, dessen Tod allen Menschen, die i n diese Welt geboren werden, Leben schenkt, und dessen Sieg über den Tod die letzte Garantie dafür ist, daß die Gerechtigkeit, die Solidarität und Entwicklung fordern, zu einem dauerhaften Frieden führen wird. Möge die Anerkennung als Erlöser und Herr, welche die Christen Jesus Christus entgegenbringen, alle ihre Anstrengungen leiten. Mögen ihre Gebete sie i n ihrer Verpflichtung für die Sache des Friedens durch die Entwicklung der Völker i m Geist sozialer Solidarität bestärken. 11. Schlußappell Und so beginnen wir gemeinsam ein neues Jahr: 1987. Möge es ein Jahr werden, i n dem die Menschheit endlich das Trennende der Vergangenheit überwindet, ein Jahr, i n dem die Menschen mit ganzem Herzen den Frieden suchen. Ich setze meine Hoffnung darauf, daß diese Botschaft für jeden einzelnen eine Gelegenheit sei, seine Verpflichtung zur Einheit der menschlichen Familie i n Solidarität zu vertiefen. Möge sie ein Ansporn sein, der uns alle ermutigt, das wahrhaft Gute für all unsere Brüder und Schwestern in einer ganzheitlichen Entwicklung zu suchen, die alle Werte der menschlichen Person der Gesellschaft fördert. A m Anfang dieser Botschaft habe ich erklärt, daß das Thema der Solidarität mich dazu drängte, sie an jedermann zu richten, an jeden Mann und an jede Frau i n dieser Welt. Ich wiederhole nun diesen Aufruf an jeden einzelnen von euch; i n besonderer Weise aber möchte ich ihn wie folgt richten: — an euch alle, Regierende und Verantwortliche für internationale Gremien: Zur Wahrung des Friedens appelliere ich an euch, eure Anstrengungen für eine ganzheitliche Entwicklung der einzelnen und der Nationen zu verdoppeln;

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— an euch alle, die ihr am Weltgebetstag für den Frieden i n Assisi teilgenommen habt oder damals geistig mit uns vereint wart: Ich appelliere an euch, daß w i r für den Frieden i n der Welt gemeinsam Zeugnis ablegen; — an euch alle, die ihr Reisen linternehmt oder an kulturellem Austausch teilhabt: Ich appelliere an euch, daß ihr euch als bewußte Werkzeuge versteht für ein besseres gegenseitiges Verständnis, für mehr Respekt und Achtung voreinander; — an euch, meine jüngeren Brüder und Schwestern, die Jugend der Welt: Ich appelliere an euch, daß ihr jede Möglichkeit wahrnehmt, um i n brüderlicher Solidarität mit jungen Menschen allüberall neue Bande des Friedens zu knüpfen. Und darf ich zu hoffen wagen, daß ich auch von denen gehört werde, die Gewalt und Terror ausüben? Diejenigen unter euch, die mir wenigstens zuhören wollen, möchte ich nochmals bitten, wie ich es früher schon getan habe, vom gewaltsamen Verfolgen eurer Ziele, auch wenn diese i n sich gerecht sein mögen, abzulassen. Ich bitte euch, nicht weiter Unschuldige zu töten und zu verletzen. Ich bitte euch, damit aufzuhören, sogar den Zusammenhalt der Gesellschaft zu untergraben. Der Weg der Gewalt kann weder für euch selbst noch für irgendjemand anders zu wahrer Gerechtigkeit führen. Wenn ihr es wollt, könnt ihr immer noch umkehren. Ihr könnt eure eigene Menschlichkeit beweisen und euch zur menschlichen Solidarität bekennen. Ich appelliere an euch alle, wo immer ihr lebt, was auch immer ihr tut, i n jedem Menschen das Antlitz eines Bruders oder einer Schwester zu sehen. Was uns verbindet, ist soviel mehr als das, was uns trennt und scheidet: Es ist unser gemeinsames Menschsein. Friede ist immer ein Geschenk Gottes, doch hängt er auch von uns ab. Und die Schlüssel zum Frieden sind i n unserer Reichweite. Es liegt an uns, sie zu benutzen, um alle Türen zu öffnen! Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1986. JOANNES PAULUS PP. I I

ENTWICKLUNG U N D SOLIDARITÄT: ZWEI SCHLÜSSEL Z U M FRIEDEN Von P. Johannes Schasching SJ

Schon das Datum dieser Botschaft ist bedeutsam: Vor 20 Jahren hatte Paul VI. sein Rundschreiben über die „Entwicklung der Völker" (Populorum progressio) veröffentlicht. I n der westlichen Welt, aber auch i n den Entwicklungsländern, bestand i n jenen Jahren eine gewisse Euphorie. Das Wirtschaftswunder Europas bestätigte die Richtigkeit des Marshall-Planes. Warum sollte nicht auch für die Entwicklungsländer ein ähnliches Programm gefunden werden? Die Vereinten Nationen hatten schon 1945 die Grundlage dafür geschaffen und i n den folgenden Jahren kam es zur Gründung einer Reihe von Sonderorganisationen, die gerade für die Entwicklungsländer von großer Bedeutimg sein sollten. Es folgten eine Reihe von bilateralen und multinationalen Abkommen zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern über Kapitaltransfer und technische Hilfe. Mehrere Entwicklungsländer hatten i n der Zwischenzeit ihre politische Unabhängigkeit erlangt und es bestand große Hoffnung, daß sie nun den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbau selber i n die Hand nehmen würden. Der Westen bot ihnen Kredite zu günstigen Bedingungen an und die Entwicklungsländer waren überzeugt, daß sie aufgrund des damit eingeleiteten wirtschaftlichen Aufschwunges nicht nur den regelmäßigen Zinsendienst leisten könnten, sondern auch das Darlehen zurückzahlen würden. Es war bedeutsam, daß Paul VI. schon 1967 diesen Optimismus nicht teilte. Und das aus einem zweifachen Grund. Für ihn war dieser Optimismus zu sehr auf den wirtschaftlich-technischen Fortschritt gegründet. Darum betonte er i n seinem Rundschreiben „Populorum progressio" gerade für die Entwicklungsländer die Notwendigkeit einer „ganzheitlichen Entwicklung das heißt einer Entwicklung, die sich nicht einseitig auf die materielle Dimension beschränkt, sondern gleichzeitig die soziale und geistig-kulturelle Entwicklung anstrebt. Sein zweites Bedenken: Paul VI. hatte den Eindruck, daß die Entwicklungsprojekte der westlichen Welt noch zu sehr unter einem egoistischen Vorzeichen standen. Das heißt mit anderen Worten: daß sie nicht imstande waren, jene umfassende Solidarität auszulösen, die die Industrieländer auch zu einschneidenden Verzichten und Korrekturen ihrer privi-

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legierten Positionen veranlaßten. Damit aber war nicht nur das Werk der Entwicklung der Völker, sondern auch der Friede gefährdet. Paul VI. formulierte 1967 seine Sorge i n den Worten: „Wenn heute niemand mehr bezweifeln kann, daß Entwicklung gleichbedeutend ist mit Friede , wer sollte dann nicht mit ganzer Kraft an dieser Entwicklung mitarbeiten?" (Populorum progressio 87) Zwanzig Jahre später wiederholte Johannes Paul II. diese Besorgtheit i n seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Jänner 1987. Man könnte seine Ausführungen i n drei Gedankenkreise zusammenfassen:

I. Die philosophisch-theologische Grundlegung Es ist bedeutsam, daß sich der Appell Johannes Pauls II. nicht ausschließlich an die Gläubigen richtet, sondern „an jedes Mitglied der Menschheitsfamilie". Darum kommt es ihm darauf an, der Forderung nach Entwicklung und Solidarität eine Begründimg zu geben, die nicht ausschließlich religiöser, sondern bereits philosophischer Natur ist. Dieses Fundament stellt die „gleiche Würde aller Menschen" dar, die sich konkret i n den „grundlegenden und unveräußerlichen Menschenrechten" darstellt. Die Erkenntnis dieses „gemeinsamen Menschseins" hat eine lange und bisweilen tragische Geschichte durchlaufen. Heute aber gehört sie zur Grundüberzeugung der Menschheit und hat i n der Erklärung der Menschenrechte vom Jahr 1948 ihren verpflichteten Charakter erhalten. Diese „gleiche Würde aller Menschen" verpflichtet zu einer universalen Solidarität, um jene Güter und Werte zu verteidigen, die für die Menschheitsfamilie von grundlegender Bedeutung sind. Dazu gehört vor allem der Wert des Friedens. Es versteht sich von selbst, daß Johannes Paul IL bei dieser zweifellos bedeutsamen philosophisch-ethischen Begründung der Solidarität nicht stehenbleibt, sondern gerade für die Verpflichtung der Christen die theologische Dimension hinzufügt. Durch die Botschaft Christi und durch seinen Kreuzestod wurde „die Solidarität der Menschheitsfamilie radikal vertieft", indem sie in einen transzendenten Bezug hineingestellt wurde. I m Mittelpunkt dieser Botschaft und dieses Todes aber steht die Wirklichkeit der Versöhnung und der Friedensstiftung. „Jesus Christus ist der Eine, den w i r unseren Frieden nennen und der die trennende Wand der Feindschaft niederriß". Damit enthält die Friedensstiftung durch Solidarität für den Christen einen direkten Heilsbezug aber auch eine Hoffnung, „daß die Gerechtigkeit, die Solidarität und Entwicklung fördern, zu einem dauerhaften Frieden führen wird". Es ist bedeutsam, darauf hinzuweisen, daß Johannes Paul II. gerade in diesem Zusammenhang auf das ökumenische Ereignis von Assisi hinweist, wo sich

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1977 Vertreter der Weltreligionen und der christlichen Kirchen zu einem gemeinsamen Gebetstag für den Frieden getroffen hafen. Diese Begegnung, die „ i n tiefer Gemeinschaft des Geistes" geschah, wurde zu einer Verpflichtung, „um für eine Gesellschaft zu wirken, in der Gerechtigkeit aufblühen und Frieden überfließen w i r d " (Psalm 72,7). II. Hindernisse für Entwicklung und Solidarität Wenn heute über die Schwierigkeiten gesprochen wird, die Entwicklung und Solidarität verhindern bzw. verzögern, werden sofort sehr konkrete Faktoren angeführt: die Bevölkerungsexplosion der Entwicklungsländer, die Verschuldung, die Aufrüstung usw. Es ist bezeichnend, daß die Botschaft zum Weltfriedenstag 1987 zuerst auf ein viel grundsätzlicheres und schwierigeres Problem hinweist: es ist dies das Fehlen der „positiven Grundeinstellung zur MenschheitUm es mit anderen Worten zu sagen: der mangelnde Bewußtseinsstand und die so schwierige Bewußtseinsveränderung. Mit dieser Feststellung hat Johannes Paul II. tatsächlich den kritischen Punkt des Problems benannt mit dem eine Reihe konkreter Probleme zusammenhängen. Einige Sozialwissenschaftler formulieren die Problematik so: eine vorindustrielle bäuerlich-handwerkliche Wirtschaft und Gesellschaft konnte durchaus mit der Haltung der Solidarität rechnen, weil jene Voraussetzungen erfüllt waren, die für ihre Funktion wesentlich sind: Der einzelne muß den Empfänger seines solidarischen Handelns kennen und er muß gleichzeitig davon überzeugt sein, daß sich der Empfänger des solidarischen Handelns dem Spender gegenüber genauso verhalten würde. In einer komplexen und globalen Wirtschaft und Gesellschaft aber sind diese Voraussetzungen kaum gegeben und darum bleibt der Appell an persönliche Solidarität wirkungslos oder zumindest wirkungsarm. U m aber die trotzdem notwendigen Aktionen zur Entwicklung und zur Sicherung des Friedens setzen zu können, braucht es immer stärker den Einbau von öffentlichen und privaten Institutionen. Aber auch diese Institutionen sind i n ihrem Wirkungsbereich beschränkt, weil sie ohne die Zustimmimg ihrer Mitglieder nur beschränkt oder überhaupt nicht handlungsfähig sind. Das gilt insbesondere für staatliche Einrichtungen, die dem Urteil und der Zustimmung des Wählerwillens unterliegen. Es ist i n diesem Zusammenhang nicht möglich, auf die Berechtigung aber auch Grenze dieser Aussagen einzugehen. Eines aber ergibt sich aus der Friedensbotschaft selber: Es gibt einen Mangel an einer „positiven Grundeinstellung zur Menschheit", das heißt ein Defizit an Bewußtsein für die Notwendigkeit und Dringlichkeit weltweiter Solidarität.

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Die gleiche Friedensbotschaft für das Jahr 1987 enthält aber auch sehr konkrete Einzelaussagen darüber, wie Entwicklung und Solidarität behindert und verhindert werden. Es muß bereits am Anfang darauf hingewiesen werden, daß eine Reihe dieser konkreten Hindernisse auch nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus weiterhin bestehen. A n erster Stelle nennt das päpstliche Dokument die „Fremdenfeindlichkeit", durch die sich Nationen in sich selber abkapseln. Diese Haltung hängt eng mit der bereits erwähnten mangelnden „positiven Grundeinstellung zur Menschheit" zusammen. Daß diese Haltung keineswegs im Abbau begriffen ist, zeigen die Ereignisse der letzten Jahre in voller Deutlichkeit. Dahinter stehen Ideologien, „Rassenhaß, religiöse Intoleranz, Klassenschranken". Sie führen zu diskriminierenden Maßnahmen wie „das Schließen der Grenzen", Verweigerung der Einwanderung und ungleiche Behandlung. Es ist auffallend, daß die päpstliche Friedensbotschaft i n diesem Zusammenhang auch die Diskriminierung der Frauen und der Familien anführt. Wenn „das wesentliche Merkmal der Solidarität in der grundsätzlichen Gleichheit aller Männer und Frauen zu finden ist", dann ist jede Politik, die den Menschenrechten von gesellschaftlichen Gruppen widerspricht, zu verwerfen". Diese Aussage hat nicht nur Bedeutung für die Industrieländer, sie gilt i n besonderer Weise für die Entwicklungsländer selber, wo die Diskriminierung der Frauen i n nicht wenigen Ländern eine glaubwürdige Solidarität verhindert. Es ist bedeutsam, daß Johannes Paul IL gerade in diesem Zusammenhang auf den „Niedergang der Familie hinweist". „Die Familie ist der erste Ort wo Entwicklung stattfindet oder eben nicht stattfindet." Darum sind gerade in den Entwicklungsländern alle Maßnahmen, die zu einer Auflösimg der Familie und zu einer Bedrohung des Lebens führen, tödlich, weil sie „die Urzelle der Gesellschaft" und damit auch die Urzelle der Entwicklung treffen. Es ist nur zu berechtigt, daß Johannes Paul II. unter den konkreten Hindernissen für Entwicklung und Solidarität die Verschuldung der Entwicklungsländer anführt. Niemand gibt sich einer Täuschung hin, wie komplex das Problem der Auslandsschulden ist und daß die Lösung dieses Problems auf verschiedenen Ebenen und nur unter Berücksichtigung mehrerer Faktoren möglich ist. Das Friedensdokument weist aber darauf hin, daß es geradezu grotesk erscheinen muß, wenn von den Entwicklungsländern auf der einen Seite die Einhaltung ihrer Verpflichtungen verlangt wird, sie aber auf der anderen Seite durch den Protektionismus der Industrieländer daran gehindert werden, i n das Welthandelssystem einzutreten.

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Ein Hindernis für Solidarität und Entwicklung darf nicht übersehen werden. Es sind dies die „gewaltigen Unterschiede zwischen den technologisch Besitzenden und den Habenichtsen". Dabei betont das Friedensdokument ausdrücklich, daß es sich hier nicht um jedweden Technologietransfer handeln kann, sondern um „anwendbare technologische Errungenschaften", das heißt, Technologien, die den Bedürfnissen der Entwicklungsländer entsprechen und nicht „zum Versuchsgelände für zweifelhafte Experimente oder zu einem Ablageplatz für fragwürdige Produkte" führen. Es ist nicht zu verwundern, daß Johannes Paul IL noch auf ein gerade damals höchst aktuelles konkretes Problem hinweist: die militärische Rüstung . Die Blockbildung Ost - West verschlang riesige Summen an Rüstungsausgaben, die für die Entwicklungsländer dringend gebraucht worden wären. Sie bedeuteten eine ernste Bedrohimg für den Weltfrieden und erzeugten i n den Entwicklungsländern die von Johannes Paul II. als „stellvertretende Kriege" bezeichneten gewaltsamen Auseinandersetzungen. Darum ist nach dem Friedensdokument daraufhin zu arbeiten, daß „die Sicherheit, die auf Waffen beruht, stufenweise ersetzt w i r d durch eine Sicherheit, die auf der Solidarität mit der Menschheitsfamilie beruht".

m . Wege der Verwirklichung Es ist verständlich, daß eine Friedensbotschaft nicht alle konkreten Wege zu Entwicklung und Solidarität und damit zum Frieden aufzeigen kann. Trotzdem erhellt die Botschaft des Papstes eine Reihe von Aussagen, die richtungsweisend sind. Eine erste Aussage gilt dem berechtigten Optimismus. Es ist einfach nicht wahr, daß Menschen nur egoistisch handeln und daß deshalb Solidarität ein utopisches Ziel sei. Johannes Paul EL weist auf die eindrucksvollen Leistungen hin, die „von katholischen, aber auch anderen Gruppen" erbracht wurden und noch erbracht werden. Diese gesellschaftlichen Initiativen tragen neben der materiellen und sozialen Hilfe wesentlich dazu bei, daß i n den breiten Massen der so notwendige Bewußtseinswandel gefördert wird. Es geht i n diesen Werken der Solidarität und des Friedens daher nicht sosehr um quantitative Leistungen, sondern um qualitative Bewußtseinsveränderungen, die durch andere Kräfte nicht ersetzt werden können. Freilich fügt das Dokument hinzu: „ W i r müssen jedoch noch mehr tun." Der Papst weist aber gleichzeitig auf die Initiativen hin, die von den politischen Instanzen aufgegriffen wurden. Ausdrücklich erwähnt er, daß die Vereinten Nationen das Jahr 1987 zum Jahr des Schutzes für die Heimatlosen

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erklärt haben. Daß der politische Faktor in der Verwirklichung der Solidarität und damit i n der Förderung des Friedens eine zunehmende Rolle spielt, steht für Johannes Paul II. außer Frage. Darum sind „politische Initiativen und Programme zu fördern". I n engem Anschluß an Paul VI. betont Johannes Paul II. noch einmal, daß nur eine „ganzheitliche Entwicklung der Menschen Ziel und Maß aller Entwicklungsprojekte" sein kann. Nur so werden die Entwicklungsländer selber instand gesetzt, „ein neues Leben aufzubauen und i n Würde und Gerechtigkeit ihren rechtmäßigen Platz i n der Gesellschaft einnehmen". Geschieht das nicht, werden die Entwicklungsländer überfremdet, entstehen dort privilegierte Schichten, die mehr auf den eigenen Vorteil bedacht sind als auf die Entwicklung des eigenen Volkes. A n diese Aussage schließt sich eine dringende Aufforderung des Friedensdokumentes an: Die Entwicklung der Völker kann nicht von außen importiert oder nach westlichen Mustern aufgezwungen werden. „Die Nationen müssen imstande sein, sich an den Entscheidungen zu beteiligen, die sie selber betreffen." Das braucht von Seiten der Geberländer ein ausgeprägtes Verständnis für die kulturellen Traditionen der Entwicklungsländer, für ihr soziales Gefüge und für ihre tragenden Werte. A m Schluß dieser Aussagen wiederholt Johannes Paul II. eine Warnimg, die er bereits bei den Hindernissen für Solidarität und Entwicklung ausgesprochen hatte. Eine Reihe von Entwicklungsländern machte i n den vergangenen Jahren unter anderem zwei negative Erfahrungen. Die eine bestand darin, daß unter dem Vorwand von Entwicklung Ausbeutung und Vorherrschaft ausgeübt wurde. Asoziale Verhaltensweisen, die i n den westlichen Industrieländern längst verpönt und gesetzlich verfolgt wurden, konnten sich i n den Entwicklungsländern halten, vor allem dann, wenn sie von einer internen Führungsschicht mitgetragen wurden. Dadurch kam es in nicht wenigen Fällen zu einem grundsätzlichen Mißtrauen, das „Haß erzeugte und die Hoffnung auf Frieden zerstörte". Solange solche Mißverständnisse bestehen, wird es schwer sein, an die Solidarität zu glauben und sich daran zu beteiligen. Die zweite negative Erfahrung bestand i n der Tatsache, daß die Entwicklungshilfe gelegentlich mit dazu benützt wurde, auf Dauer wirtschaftlichen , politischen und militärischen Einfluß zu gewinnen. „Das Streben nach wirtschaftlicher, militärischer oder politischer Überlegenheit auf Kosten der Rechte anderer Nationen, setzt alle Projekte für echte Entwicklung oder für den wahren Frieden aufs Spiel." So sagt es i n aller Deutlichkeit das päpstliche Friedensdokument. Wie bereits erwähnt kann es Johannes Paul IL nicht darum gehen, für die Vielfalt der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situationen der Ent-

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Wicklungsländer konkrete Anweisungen zu geben, wie Solidarität, Entwicklung und Frieden verwirklicht werden können. Es geht ihm i n seinem Friedensdokument vor allem darum, den beiden Schlüsselbegriffen für den Frieden „Entwicklung und Solidarität" eine philosophisch-theologische Grundlegung zu geben, die Hindernisse aufzuzeigen, die ihrer Anwendimg i m Wege stehen und die Grundsätze zu formulieren, auf welchen Wegen sie trotz aller Schwierigkeiten zu verwirklichen sind. Entscheidend ist für Johannes Paul II. die Einsicht, daß es i n der Frage der Entwicklung „nicht mehr länger nur darum geht, gewisse Situationen oder wirtschaftliche Verhältnisse zu verbessern. Entwicklung w i r d letztlich zu einer Frage des Friedens".

4. Vorläufer und Nachfolger Es ist abschließend notwendig, die Botschaft Johannes Pauls IL zum Weltfriedenstag 1987 noch i n einen anderen Kontext zu stellen. I m gleichen Jahr mit Datum vom 30. Dezember 1987 veröffentlichte der Papst sein zweites soziales Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis", das i n ausführlicher Weise dem gleichen Thema gewidmet ist wie seine Botschaft zum Weltfriedenstag. Diese Enzyklika läßt die Friedensbotschaft von 1987 i n einem neuen Licht verstehen, zeigt aber i n voller Deutlichkeit, wie ernst es dem Papst mit seiner Friedensbotschaft ist. Man könnte sie geradezu als Vorläuferin für „Sollicitudo rei socialis " bezeichnen. M i t einer bisher selten gehörten Härte zeichnet die Sozialenzyklika das Bild der Gegenwart: Trotz mancher Fortschritte in den zwanzig Jahren seit der Veröffentlichung der Enzyklika Pauls VI. „Populorum progressio" ist die Gesamtbilanz der Entwicklung der Völker als negativ zu bezeichnen. Und das nicht bloß deshalb, weil nicht wenige Entwicklungsländer i n diesen zwanzig Jahren ärmer geworden sind, sondern weil die Entwicklungspolitik nicht selten unter einem Leitbild stand, das als Zerrbild der Entwicklung zu bezeichnen ist. I n einer völlig neuen Analyse versucht „Sollicitudo rei socialis" die tiefere Problematik der Entwicklungsfrage aufzuzeigen. Für gewöhnlich wird diese Problematik i m wirtschaftlichen, sozialen und politischen Versagen sowohl der Industrieländer als auch der Entwicklungsländer dargestellt. Johannes Paul II. geht einen wesentlichen Schritt weiter und entwirft eine theologische Analyse der Entwicklungsproblematik . Das heißt konkret: Die eigentlichen Hintergründe der Unterentwicklung sind nicht wirtschaftlicher oder politischer Art, sondern theologischer , genauer gesagt moralischer Art . Johannes Paul IL nennt sie „Strukturen der Sünde". „Sünde und Strukturen der Sünde

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sind Kategorien, die nicht oft auf die Situationen der Welt von heute angewendet werden. Man gelangt aber nicht leicht zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit, wie sie sich unseren Augen darbietet, wenn man der Wurzel der Übel, die uns bedrängen, nicht auch einen Namen gibt" (36). Diese Strukturen, die selbstverständlich ihre Wurzel immer i m konkreten Tun der Menschen haben, werden vor allem durch zwei Handlungen und Verhaltensweisen herbeigeführt: „Auf der einen Seite die ausschließliche Gier nach Profit und auf der anderen Seite das Verlangen nach Macht " (37). Da es sich bei diesen Verhaltensweisen eindeutig um ein moralisches Versagen handelt, ergibt sich von selber, daß diese Strukturen der Sünde letztlich nur durch eine moralische Umkehr und Bekehrung überwunden werden können: Die Umkehr aus Habsucht und Herrschsucht hin zur Haltung und Tugend der Solidarität. „Die Solidarität muß zur Verwirklichimg des göttlichen Planes sowohl auf individueller wie auch auf nationaler und internationaler Ebene beitragen, die entarteten Mechanismen und die Strukturen der Sünde von denen w i r bereits gesprochen haben, können nur durch die Übung jener menschlichen und christlichen Solidarität überwunden werden, zu der die Kirche einlädt und die sie unermüdlich fördert" (40). „Auf solche Weise wird Solidarität, wie w i r sie vorschlagen, der Weg zum Frieden und zugleich zur Entwicklung" (39). Es erscheint bedeutsam, auf diese innere Beziehimg zwischen der Friedensbotschaft von 1987 und der i m gleichen Jahr veröffentlichten Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis" ausdrücklich hinzuweisen. Für Johannes Paul IL sind die Fragen von Solidarität, Entwicklung und Frieden für die heutige Welt aber auch für die Kirche von einer solchen Bedeutung, daß er in seinen Pastoralreisen, Ansprachen und Sozialenzykliken immer wieder darauf zurückkommt. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus ist dies zur großen Herausforderung der westlichen Welt geworden. I n seiner Enzyklika „Centesimus annus" sagt Johannes Paul II.: „Gewaltige Mittel können durch den Abbau des riesigen Militärpotentials, das i m Ost-West-Konflikt aufgebaut worden war, verfügbar gemacht w e r d e n . . . " . „ I n den Entwicklungsländern zeichnen sich am Horizont dramatische Krisen ab, wenn nicht rechtzeitig international aufeinander abgestimmte Maßnahmen ergriffen werden . . . " (57) „ . . . Darum heißt der andere Name für Frieden Entwicklung" (52).

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BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1988

„RELIGIONSFREIHEIT, BEDINGUNG FÜR FRIEDLICHES ZUSAMMENLEBEN"

A m ersten Tag des Jahres freue ich mich, einer nunmehr bereits zwanzigjährigen Initiative treu zu bleiben und mich wieder an die Verantwortlichen der Nationen und der internationalen Organisationen und an alle Brüder und Schwestern i n der Welt wenden zu können, denen die Sache des Friedens am Herzen hegt. Davon bin ich tief überzeugt, daß ein gemeinsames Nachdenken über den unschätzbaren Wert des Friedens i n gewisser Weise bereits bedeutet, damit zu beginnen, ihn zu schaffen. Das Thema, das ich dieses Jahr unserer gemeinsamen Aufmerksamkeit empfehlen möchte—Religionsfreiheit , Bedingung für friedliches Zusammenleben —, ergibt sich aus einer dreifachen Überlegung. Zunächst ist die Religionsfreiheit als unauslöschliche Forderung aus der Würde jedes Menschen der Grundstein des Gebäudes der Menschenrechte und darum ein unersetzlicher Faktor für das Wohl der Personen und der ganzen Gesellschaft wie auch für die personale Verwirklichung eines jeden. Daraus folgt, daß die Freiheit der einzelnen und der Gemeinschaften, die eigene Religion zu bekennen und auszuüben, ein wesentliches Element des friedlichen Zusammenlebens der Menschen darstellt. Der Friede, der auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen geschaffen und gefestigt werden will, ist mit seinen Fundamenten tief i n der Freiheit und i n der Offenheit der Gewissen für die Wahrheit verankert. Der Sache des Friedens schaden also, und zwar i n schwerwiegender Weise, alle offenen oder versteckten Formen einer Verletzung der Religionsfreiheit ebenso wie jene Übergriffe, welche die anderen Grundrechte der Person beeinträchtigen. Vierzig Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren w i r i m Dezember des kommenden Jahres gedenken werden, müssen w i r feststellen, daß Millionen von Personen i n verschiedenen Teilen der Welt immer noch wegen ihrer religiösen Überzeugung leiden; sie sind Opfer von einschränkenden und unterdrückenden Gesetzgebungen, manchmal sogar von offenen Verfolgungen, meistens jedoch von einer hinter14*

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hältigen Praxis der Diskrimination der Gläubigen und ihrer Gemeinschaften. Diese Zustände, für sich allein schon untragbar, stellen auch eine negative Belastung für den Frieden ar. Schließlich möchte ich das Gebetstreffen vom 27. Oktober 1986 in Assisi i n Erinnerung rufen und die dort gemachte Erfahrung auswerten. Diese große Begegnung von Brüdern, die i m Gebet um den Frieden vereint waren, ist ein Zeichen für die Welt gewesen. Ohne synkretische Vermengungen oder Anpassung haben Vertreter der hauptsächlichen Religionsgemeinschaften der ganzen Welt gemeinsam ihrer Überzeugung Ausdruck geben wollen, daß der Friede ein Geschenk des Himmels ist; sie wollten ihre Verpflichtung, diesen Frieden zu erbitten, ihn anzunehmen und fruchtbar zu machen, i n konkreten Entscheidungen für Achtung, Solidarität und Brüderlichkeit, tatkräftig bekunden. 1. Würde und Freiheit der menschlichen Person Der Friede ist nicht nur das Fehlen von Streit und Krieg, sondern die „Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst der menschlichen Gesellschaft eingestiftet hat" (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 78). Sie ist das Werk der Gerechtigkeit und fordert darum die Achtung vor den Rechten wie auch die Erfüllung der eigenen Pflichten eines jeden Menschen. Es besteht eine innere Verbindung zwischen den Forderungen der Gerechtigkeit, der Wahrheit und des Friedens (vgl. Enzyklika Pacem in Terris, 35). Dieser vom Schöpfer gewollten Ordnung entsprechend ist die Gesellschaft dazu aufgerufen, sich für den Dienst am Menschen und am Gemeinwohl einzurichten und zu wirken. Die tragenden Elemente dieser Ordnung können von der Vernunft entdeckt und i n der geschichtlichen Erfahrung erkannt werden; und die heutige Entwicklung der Sozialwissenschaften hat das Bewußtsein, daß die Menschheit hiervon hat, noch bereichert, trotz aller ideologischen Entstellungen und Konflikte, welche dieses Wissen zuweilen zu verdunkeln scheinen. Während die katholische Kirche ihre Sendung, das allein von Christus kommende Heil (vgl. Apg 4,12) zu verkünden, in Treue erfüllen will, wendet sie sich darum ohne Unterschied an jeden Menschen und lädt ihn ein, die Gesetze der Naturordnimg anzuerkennen, die das Zusammenleben der Menschen lenken und die Bedingungen des Friedens bestimmen. Fundament und Ziel der sozialen Ordnung ist die menschliche Person als Subjekt unveräußerlicher Rechte, die sich nicht von außen empfängt, sondern die aus ihrer Natur selbst entspringen: Nichts und niemand können sie zerstören, kein äußerer Zwang kann sie auslöschen, weil sie ihre Wurzel im tiefsten

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Wesen des Menschen haben. Entsprechend erschöpft sich die menschliche Person nicht i n ihren gesellschaftlichen kulturellen und geschichtlichen Bedingungen; denn es ist dem Menschen, der eine Geistseele besitzt, zu eigen, einem Ziel zuzustreben, das die wechselnden Bedingungen seiner Existenz übersteigt. Keine menschliche Macht darf sich der Verwirklichimg des Menschen als Person entgegenstellen. Aus dem ersten und grundlegenden Prinzip der sozialen Ordnung, der Ausrichtung der Gesellschaft auf die Person, leitet sich die Forderung ab, daß sich jede Gesellschaft so gestalten soll, daß sie es dem Menschen ermöglicht und ihm sogar dabei hilft, seine Berufimg in voller Freiheit zu verwirklichen. Freiheit ist die vorzüglichste Auszeichnung des Menschen. Angefangen von ihren innersten Entscheidungen muß jede Person sich i n einem A k t bewußter Selbstbestimmimg, vom eigenen Gewissen beseelt, ausdrücken können. Ohne Freiheit sind die menschlichen Akte leer und wertlos. Die Freiheit, mit der der Mensch vom Schöpfer ausgestattet ist, ist die ihm fortwährend gegebene Fähigkeit, mit dem Verstand die Wahrheit zu suchen und mit dem Herzen dem Guten anzuhangen, zu dem er von Natur aus hinstrebt, ohne irgendeiner Art von Druck, Zwang oder Gewalt ausgesetzt zu sein. Es gehört zur Personwürde, dem moralischen Anspruch des eigenen Gewissens bei der Suche nach der Wahrheit entsprechen zu können. Und weil die Wahrheit — wie das IL Vatikanische Konzil unterstrichen hat — „auf eine Weise gesucht werden muß, die der Würde der menschlichen Person und ihrer Sozialnatur eigen ist" (Erklärung über die Religionsfreiheit, 3), „erhebt sie nicht anders Anspruch als kraft der Wahrheit selbst" (ebd., 1). Damit die Freiheit des Menschen bei der Suche nach der Wahrheit und bei dem hiermit verbundenen Bekenntnis seiner religiösen Überzeugungen vor jeglichem Zwang durch einzelne, durch gesellschaftliche Gruppen oder irgendwelche andere menschliche Gewalt geschützt sei, muß sie i n der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft eindeutig garantiert werden, das heißt, vom bürgerlichen Gesetz als unveräußerliches subjektives Recht anerkannt und festgesetzt werden (vgl. ebd., 2). Ganz gewiß bedeuten Gewissens- und Religionsfreiheit nicht eine Relativierung der objektiven Wahrheit, die zu suchen jeder Mensch moralisch verpflichtet ist; sie sind i n einer geregelten Gesellschaft lediglich die institutionelle Übersetzung jener Ordnung, in der es Gottes Wille ist, daß seine Geschöpfe sein ewiges Bundesangebot als freie und verantwortliche Personen erkennen, annehmen und leben können.

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Insofern das bürgerliche und soziale Recht auf Religionsfreiheit den innersten Bereich des Geistes berührt, erweist es sich als Bezugspunkt und i n gewisser Weise als Maßstab der anderen Grundrechte. Es geht ja darum, den empfindlichsten Bereich der Autonomie der Person zu achten und ihr Raum zu geben, damit sie sowohl i n ihren privaten Entscheidungen als auch i m gesellschaftlichen Leben nach dem Spruch ihres Gewissens handeln kann. Der Staat kann nicht eine direkte oder indirekte Kompetenz über die religiösen Überzeugungen der Personen beanspruchen. Er kann sich nicht das Recht anmaßen, das Bekenntnis und die öffentliche Ausübimg der Religion einer Person oder Gemeinschaft aufzuerlegen oder zu unterbinden. I n diesem Bereich ist es Pflicht der zivilen Autoritäten sicherzustellen, daß die Rechte der einzelnen und der Gemeinschaften i n gleicher Weise geachtet werden, und zugleich eine gerechte öffentliche Ordnung zu wahren. Auch i m Falle, daß ein Staat einer bestimmten Religion eine besondere Rechtsstellung zuspricht, ist es seine Pflicht, das Recht auf Gewissensfreiheit aller Bürger gesetzlich anzuerkennen und wirksam zu achten, wie auch der Ausländer, die dort der Arbeit wegen oder aus anderen Gründen, wenn auch nur zeitweise, wohnen. Keinesfalls darf sich der staatliche Apparat an die Stelle des Gewissens der Bürger setzen noch den religiösen Gemeinschaften den Lebensraum entziehen oder deren Platz einnehmen. Die rechte gesellschaftliche Ordnung fordert, daß alle — einzeln oder i n Gemeinschaft — die eigene religiöse Überzeugung in Achtung vor den anderen bekennen können. Als ich mich am 1. September 1980 an die Staatsoberhäupter wandte, die die „Schlußakte von Helsinki" unterzeichnet haben, wollte ich unter anderem betonen, daß die authentische Religionsfreiheit fordert, daß auch die Rechte, die sich aus der sozialen und öffentlichen Dimension des Glaubensbekenntnisses und der Zugehörigkeit zu einer entfalteten religiösen Gemeinschaft herleiten, garantiert werden. Hierzu habe ich i n einer Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß „gerade die Achtung vor der Personwürde zu fordern scheine, daß auch die Institutionen, die von ihrem Wesen her dem religiösen Leben dienen, mitbeteiligt werden, wenn der gerechte Umfang der Ausübung von Religionsfreiheit i m Blick auf nationale Gesetze oder internationale Konventionen erörtert oder beschlossen w i r d " (vgl. Insegnamenti di Giovanni Paolo II: 1979, Bd. II, 2, S. 538).

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2. Ein gemeinsames Erbe Man muß anerkennen, daß die Prinzipien, von denen gerade die Rede gewesen ist, heute gemeinsames Erbe des größten Teils der zivilen Rechtsordnungen wie auch der Organisation der internationalen Gemeinschaft sind. Letztere hat hierzu entsprechende normative Dokumente erlassen. Sie sind inzwischen Bestandteil der Kultur unserer Zeit, wie es die immer ernsthaftere und eingehendere Erörterung zeigt, die besonders i n diesen Jahren i n Versammlungen und Kongressen von Wissenschaftlern und Experten über jeden konkreten Aspekt der Religonsfreiheit herangereift ist. Trotzdem geschieht es häufig, daß das Recht auf Religionsfreiheit nicht richtig verstanden und genügend geachtet wird. Da gibt es vor allem mehr oder weniger zufällige Formen spontaner Intoleranz, Frucht mitunter von Unwissenheit und Anmaßung, die Personen und Gemeinschaften verletzen, indem sie Polemiken, Spannungen und Auseinandersetzungen verursachen und dadurch den Frieden und einen solidarischen Einsatz für das Gemeinwohl beeinträchtigen. I n verschiedenen Ländern beschränken oder annullieren gesetzliche Vorschriften und administrative Praktiken im konkreten Handeln die Rechte, welche die Konstitutionen den einzelnen Gläubigen und religiösen Gruppen formell zuerkennen. Schließlich gibt es auch heute noch Gesetzgebungen und Regelungen, die das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht berücksichtigen oder für dieses völlig imbegründete Einschränkungen vorsehen, ganz zu schweigen von den Fällen wirklich diskriminierender Maßnahmen und mitunter offener Verfolgung. Vor allem i n den letzten Jahren sind verschiedene öffentliche und private, nationale und internationale Vereinigungen entstanden, um diejenigen zu verteidigen, die in vielen Teilen der Welt wegen ihrer religiösen Überzeugungen Opfer von Situationen sind, die unrechtmäßig und beschämend für die ganze Menschheit sind. Auf verdienstvolle Weise verschaffen diese gegenüber der öffentlichen Meinung den Klagen und den Protesten der Brüder und Schwestern Gehör, die dafür oft selbst keine Stimme mehr besitzen. Für ihren Teil hört die katholische Kirche nicht auf, denen, die wegen ihres Glaubens Diskriminierungen und Verfolgungen erdulden, ihre Solidarität zu bekunden, indem sie sich beständig, mit Geduld und Ausdauer dafür einsetzt, daß diese Situationen überwunden werden. Dazu sucht der Heilige Stuhl seinen spezifischen Beitrag i n den internationalen Versammlungen zu leisten, in denen der Schutz der Menschenrechte und der Friede erörtert

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werden. Auf der gleichen Linie liegt der konkrete Einsatz, den der Heilige Stuhl und seine Vertreter i m Kontakt mit den politisch Verantwortlichen i n aller Welt unternehmen und der notwendigerweise diskreter, aber nicht weniger intensiv ist. 3. Die Religionsfreiheit

und der Friede

Es kann keinem entgehen, daß die religiöse Dimension, die i m Gewissen des Menschen ihre Wurzel hat, eine besondere Bedeutung für das Thema das Friedens besitzt und daß jeder Versuch, ihre freie Bekundung zu verhindern oder einzuengen, unweigerlich und mit schwerwiegenden Nachteilen auf die Möglichkeit des Menschen zurückwirkt, mit seinesgleichen friedlich zusammenzuleben. Eine erste Überlegung drängt sich auf. Wie ich i n dem schon erwähnten Brief an die Staatsoberhäupter, die die „Schlußakte von Helsinki" unterzeichneten, geschrieben habe, stützt die Religionsfreiheit, insofern sie die innerste Sphäre des Geistes berührt, die anderen Freiheiten und ist gleichsam deren Seinsgrund. Obgleich das Bekenntnis einer Religion zuallererst i n inneren Akten des Geistes besteht, bezieht es den gesamten Erfahrungsbereich des menschlichen Lebens ein und somit auch alle seine Ausdrucksformen. Ferner trägt die Religionsfreiheit auf entscheidende Weise zur Formung von wahrhaft freien Bürgern bei, insofern sie gestattet, die Wahrheit über den Menschen und die Welt zu suchen und sich zu ihr zu bekennen und so i n jedem Menschen ein volles Bewßtsein von seiner Würde und eine motivierte Übernahme seiner eigenen Verantwortlichkeiten fördert. Ein ehrliches Verhältnis zur Wahrheit ist wesentliche Voraussetzung für authentische Freiheit (vgl. Enzyklika Redemptor hominis, 12). I n diesem Sinne kann man gewiß sagen, daß die Religionsfreiheit ein Faktor von großer Bedeutimg ist, um das sittlich kohärente Verhalten eines Volkes zu stärken. Die bürgerliche Gesellschaft kann sich auf die Gläubigen verlassen, da sie sich wegen ihrer tiefen Überzeugungen nicht nur nicht von Ideologien und totalitären Strömungen leicht vereinnahmen lassen, sondern sich auch darum bemühen, i m Einklang mit ihren Grundanliegen zu handeln, die auf all das ausgerichtet sind, was wahr und gerecht ist, eine unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Friedens (vgl. Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae, 8). Aber mehr noch. Der religiöse Glaube, der den Menschen veranlaßt, sein Menschsein auf neue Weise zu verstehen, führt ihn dazu, sich i n aufrichtiger

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persönlicher Hingabe ganz auf die Seite der anderen Menschen zu stellen (vgl. Enzyklika Dominum et vivificantem , 59). Er bringt die Menschen zusammen und eint sie, er macht sie zu Brüdern, er läßt sie aufmerksamer, verantwortungsbewußter und eifriger i n ihrem Einsatz für das Gemeinwohl werden. Es handelt sich nicht nur darum, sich bereiter zur Mitarbeit mit den anderen zu fühlen, weil man i n den eigenen Rechten bestärkt und beschützt ist, sondern eher darum, aus den unerschöpflichen Quellen des rechten Gewissens höhere Beweggründe zu gewinnen, um sich für die Schaffung einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft einzusetzen. I m Innern eines jeden Staates — oder besser gesagt, i m Innern eines jeden Volkes — wird diese Notwendigkeit einer solidarischen Mitverantwortung heute besonders stark empfunden. Doch, so fragte sich schon mein verehrter Vorgänger Papst Paul VI., wie kann ein Staat volles Vertrauen und eine volle Mitarbeit fordern, wenn er sich — i n der Weise eines „negativen Konfessionalismus" — als atheistisch bekennt und, während er erklärt, in einem gewissen Umfang die persönlichen Glaubensüberzeugungen zu achten, i n Wirklichkeit gegen den Glauben eines Teils seiner Bürger Stellung bezieht? (vgl. Ansprache an das Diplomatische Korps, 14. Januar 1978). Man sollte sich statt dessen darum bemühen, daß die Konfrontation zwischen der religiösen und der agnostischen oder atheistischen Weltanschauung, die eines der „Zeichen der Zeit" unserer Epoche ist, redliche und achtbare menschliche Dimensionen bewahrt, ohne den Grundrechten des Gewissens jedes Mannes und jeder Frau auf der Erde zu schaden (vgl. Ansprache von Johannes Paul H. vor den Vereinten Natinen, 2. Oktober 1979, Nr. 20). Wir erleben heute — jenseits der noch andauernden Situationen von Krieg und Ungerechtigkeit — eine Entwicklung zu einer fortschreitenden Einheit der Völker und Nationen auf verschiedenen Ebenen in Politik, Wirtschaft, Kultur usw. Dieser Dynamik, die anscheinend nicht aufzuhalten ist, doch immer wieder schweren Hindernissen begegnet, verleiht die religiöse Überzeugung einen tiefreichenden Impuls von nicht geringer Bedeutung. Indem sie nämlich verbietet, für die Beilegung von Konflikten auf Methoden der Gewalt zurückzugreifen, und zu Brüderlichkeit und Liebe erzieht, trägt sie dazu bei, Verständigung und Versöhnung zu fördern, und kann sie neue sittliche Energien für die Lösung von Fragen vermitteln, denen gegenüber die Menschheit heute schwach und ohnmächtig erscheint. 4. Die Verantwortung

des religiösen Menschen

Den Pflichten des Staates hinsichtlich der Ausübimg des Rechtes auf Religionsfreiheit entsprechen bestimmte schwere Verantwortlichkeiten der Män-

218

Papst Johannes Paul I

ner und Frauen, sei es i m persönlichen religiösen Bekenntnis, sei es i n der Organisation und i m Leben der jeweiligen Gemeinschaften. A n erster Stelle sind die Verantwortlichen der religiösen Konfessionen gehalten, ihre Lehre darzulegen, ohne sich von persönlichen, politischen und sozialen Interessen beeinflussen zu lassen, und auch i n einer Art und Weise, die den Erfordernissen des Zusammenlebens entspricht und die Freiheit eines jeden achtet. Entsprechend müßten alle Mitglieder der verschiedenen Religionen — einzeln und als Gemeinschaft — auf jeden Fall ihre Überzeugung bekunden und ihren K u l t und jede andere ihnen eigene Aktivität gestalten i n Achtung vor den Rechten der anderen, die nicht jener Religion angehören oder gar keinen Glauben bekennen. Gerade i m Bereich des Friedens, jener tiefsten Sehnsucht der Menschheit, kann jede religöse Gemeinschaft und jeder einzelne Gläubige die Echtheit des eigenen Bemühens um Solidarität mit den Brüdern ermessen. Wie vielleicht niemals zuvor i n der Vergangenheit schaut die Welt heute, was den Frieden anbelangt, mit einer besonderen Erwartung auf die Religionen. Man kann i m übrigen mit Freude feststellen, daß sich bei den Verantwortlichen der religiösen Bekenntnisse wie bei den einfachen Gläubigen ein immer wacheres Augenmerk, ein immer lebendigeres Verlangen findet, für den Frieden zu wirken. Diese guten Vorsätze verdienen ermutigt und i n geeigneter Weise miteinander verbunden zu werden, um sie immer wirksamer zu machen. U m dies zu erreichen, muß man bis zur Wurzel vordringen. Genau das ist i m vergangenen Jahr geschehen: Die Verantwortlichen der wichtigsten Weltreligionen sind meinem brüderlichen Aufruf gefolgt und zusammengekommen, um miteinander — jeder freilich i n Treue zu seiner eigenen religiösen Überzeugung — ihre gemeinsame Verpflichtimg bei der Errichtung des Friedens zu bekräftigen. Von Assisi aus gesehen handelt es sich i n der Tat um eine verbindliche und verpflichtende Gabe, um ein Geschenk, das es zu pflegen und zur Reife zu bringen gilt: i n gegenseitiger Annahme und Achtung, i m Verzicht auf ideologische Drohung und Gewalt, i n der Förderung von Institutionen und Regeln für Übereinkunft und Zusammenarbeit unter den Völkern und Nationen, vor allem aber i n der Erziehung zu einem Frieden, der auf einer weit höheren Ebene zu sehen ist als nur in der gewiß notwendigen und erwünschten Reform der Strukturen, zu einem Frieden also, der die Umkehr der Herzen voraussetzt.

Botschaft zum Weltfriedenstag 198

5. Die Verpflichtung

219

der Jünger Christi

M i t Freude erkennen w i r an, daß unter den christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dieser Prozeß bereits glücklich begonnen ist. Ich möchte wünschen, daß er einen neuen Impuls empfängt und sich zu einer noch breiteren Beteiligung aller religiösen Menschen der Welt an der großen Herausforderung des Friedens ausweitet. Als Hirte der universalen Kirche würde ich meinen Auftrag verraten, wenn ich meine Stimme nicht für die Beachtimg des unveräußerlichen Rechtes des Evangeliums erhöbe, „allen Geschöpfen" (Mk 16,15) verkündet zu werden, und nicht daran erinnerte, daß Gott die staatliche Gemeinschaft auf den Dienst an der menschlichen Person hingeordnet hat, der die Freiheit zusteht, nach der Wahrheit zu suchen und an ihr festzuhalten. Der Einsatz für Wahrheit und Freiheit, für Gerechtigkeit und Frieden kennzeichnet die Jünger des Herrn. Wir tragen ja i n unserem Herzen die aus der Offenbarung stammende Gewißheit, daß Gott, der Vater, durch den gekreuzigten Sohn, der „unser Friede ist" (Eph 2, 14), uns zu einem neuen Volk gemacht hat, das als Lebensbedingung die Freiheit von Kindern Gottes und als Verfassung das Gebot der Bruderliebe hat. Als Volk des Neuen Bundes wissen wir, daß unsere Freiheit ihren höchsten Ausdruck i n der vollen Annahme des göttlichen Rufes zum Heil findet, und bekennen mit dem Apostel Johannes: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat — und die sich i m menschgewordenen Sohn gezeigt hat — erkannt und gläubig angenommen" (1 Joh 4,16). Aus diesem freien und befreienden A k t des Glaubens entspringen eine neue Sicht der Welt, eine neue Art der Begegnung mit den Brüdern, eine neue Weise, in der Gesellschaft wie ein Sauerteig zu leben. Es ist das „neue Gebot" (Joh 13, 34), das uns der Herr gegeben hat; es ist „sein Friede" (Joh 14, 27) — nicht jener stets unvollkommene der Welt —, den Er uns hinterlassen hat. Ich weiß gut, daß diese gewaltige Aufgabe unsere armen Kräfte übersteigt. Bei wie vielen Spaltungen und Verständnislosigkeiten tragen w i r Christen unseren Anteil an Verantwortung, und wie viel gilt es i n unserem eigenen Herzen, i m Innern der Familien und der Gemeinschaften unter dem Zeichen der Versöhnung und der brüderlichen Liebe noch zu tun! Auch müssen w i r erkennen, daß die Bedingung der Welt diese Aufgabe nicht erleichtern. Die Versuchung zu Gewalt ist immer i n der Nähe. Egoismus, Materialismus und Stolz machen den Menschen immer weniger frei und die Gesellschaft immer weniger offen für die Forderungen der Brüderlichkeit. Wir dürfen uns aber nicht entmutigen lassen: Jesus, unser Herr und Meister, ist bei uns alle Tage bis zum Ende der Welt (vgl. Mt 28, 20).

220

Papst Johannes Paul I

Meine Gedanken wenden sich i n besonders mitfühlender Weise an die Brüder und Schwestern, denen die Freiheit genommen ist, ihren christlichen Glauben zu bekennen; an die vielen die um Christi Namen willen verfolgt werden; an jene, die seinetwegen verstoßen und erniedrigt werden. Zutiefst wünsche ich, daß diese Brüder und Schwestern unsere geistige Nähe, unsere Solidarität und die Stärkung durch unser Gebet erfahren mögen. Wir wissen, daß ihr Opfer, wenn es mit demjenigen Christi vereint wird, Früchte wahren Friedens hervorbringt. Brüder und Schwestern i m Glauben, der Einsatz für den Frieden stellt ein Zeugnis dar, das uns heute i n den Augen der Welt glaubwürdig macht, vor allem i n den Augen der Generationen, die heranwachsen. Die große Herausforderung an den Menschen von heute, der Einsatz seiner wahren Freiheit, ist i n der Seligpreisimg des Evangeliums enthalten: „Selig, die Frieden stiften" (Mt 5, 9). Die Welt braucht den Frieden, die Welt ersehnt den Frieden brennend. Beten w i r darum, daß allen Männern und Frauen Religionsfreiheit gewährt werde, damit sie diesen Frieden leben können. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1987. JOANNES PAULUS PP. U

RELIGIONSFREIHEIT — BEDINGUNG FÜR FRIEDLICHES ZUSAMMENLEBEN Von Heribert F. Köck

A. Einleitende Bemerkungen I. Das Verhältnis von Frieden und Menschenrechten Die Einsicht, daß die Achtung grundlegender Menschenrechte eine entscheidende Vorausetzung für den inneren Frieden eines Staates, aber auch für das friedliche Zusammenleben i n der internationalen Gemeinschaft ist, hat sich i m 20. Jahrhundert mehr und mehr verbreitet, wenn sie sich auch noch nicht überall endgültig durchgesetzt hat. Eine Reihe von internationalen Dokumenten legt für diese Einsicht Zeugnis ab; weltweit ist hier vor allem auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1 9 4 8 a u f die Europäische Menschenrechtskonvention der Europaratstaaten von 19502 und auf die Schlußakte von Helsinki der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 3 zu verweisen. Zahlreiche internationale Abkommen zu Einzelfragen ergänzen den internationalen Menschenrechtsschutz, der freilich bis heute auf der universellen Ebene noch weit davon entfernt ist, lükkenlos und ausreichend effektiv zu sein 4 . n. Religionsfreiheit und Frieden Z u den weithin anerkannten, aber noch nicht überall realisierten Menschenrechten gehört die Religionsfreiheit, welcher Papst Johannes Paul IL 1 GV-Res. 217 (EI) vom 10. Dezember 1948, General Assembly Official Records 3rd Sess., Resolutions Part I, 71 ff. 2 United Nations Treaty Series CCm, 221 ff. 3 30 Europa-Archiv (1975), D 734 ff.; 14 International Legal Materials (1975), 1292 ff.

4 Dies gilt insbesondere für den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, der zwar gewisse Beschwerde- und Kontrollrechte vorsieht, aber kein Durchsetzungsverfahren zugunsten der Menschenrechte im eigentlichen Sinn. Vgl.

dazu Peter Fischer und Heribert Franz Köck, Allgemeines Völkerrecht, 3. Aufl.. Eisen-

stadt 1991, S. [ * * * ]

222

Heribert F. Köck

seine Botschaft zum Weltfriedenstag 1988 widmete 5 . Dabei legte der Papst einen besonderen Akzent auf die Religionsfreiheit als eine Bedingung für friedliches Zusammenleben 6 . I m folgenden soll nun der Begriff der Religionsfreiheit näher erörtert, ihre Position i m Gesamt der Menschenrechte 7 geklärt und untersucht werden, inwieweit sie zu den Voraussetzungen des innerstaatlichen wie internationalen Friedens gezählt werden kann.

B. Religionsfreiheit als Grundfrage staatlicher Existenz I. Religionsfreiheit — ein Problem der conditio humana Religionsfreiheit wie Glaubens - und Gewissensfreiheit überhaupt ist ein typisches Problem der pluralistischen Gesellschaft 8. Wo weltanschauliche Unif ormität herrscht, besteht kein praktischer Bedarf nach Religionsfreiheit , und dieselbe w i r d zu einer akademischen Frage. Eine solche, weltanschaulich faktisch uniforme Gesellschaft ist freilich nicht mehr als eine Hypothese, welche man gleichsam als Gedankenexperiment setzen kann, die sich aber höchstens zufällig und vorübergehend realisieren wird. Der Grund dafür hegt i n der besonderen conditio humana, welche den Menschen i m Umfang seiner Erkenntnis notwendigerweise begrenzt macht, was bei einer Vielfalt von Menschen auch eine Vielfalt des jeweiligen persönlichen Erkenntnisstandes mit sich bringt. I n diesem Sinne ist jede menschliche Gesellschaft, eben weil sie aus Menschen zusammengesetzt ist, eine grundsätzlich pluralistische. Damit ist aber auch das Problem der Religionsfreiheit jeder menschlichen Gesellschaft und der gesamten Menschheit i n jedem Stadium ihrer Entwicklung grundsätzlich aufgegeben. 5 In der Folge beziehe ich mich auf den von der Librería Editrice Vaticana herausgegebenen offiziellen deutschen Text „Botschaft von Papst Johannes Paul II. zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1988", Vatikanstadt 1987. 6 So schon der Titel: „Religionsfreiheit, Bedingung für friedliches Zusammenleben". 7 Dieser Gesamtzusammenhang bettet nicht nur das Recht auf Religionsfreiheit in den größeren Bereich der Menschenrechte ein, sondern führt auch zur Forderung, „daß . . . die Rechte, die sich aus der sozialen und öffentlichen Dimension des Glaubensbekenntnisses und der Zugehörigkeit zu einer entfalteten religiösen Gemeinschaft herleiten, garantiert werden." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, Nr. 1, auf 8 des zit. Textes. Vgl. auch die Ansprache Johannes Pauls II. vom 1. September 1980 an die Staatsoberhäupter, die die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet haben, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo I I 1980 / II, . . . 8 Vgl. W. Kerber/Red., Pluralismus, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie VII (Darmstadt 1989), 988 ff. Vgl. auch Heribert Franz Köck , Kirche und Staat — Zum Problem der Kompetenzabgrenzung in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Kirche und Staat. Fritz Eckert zum 65. Geburtstag (Berlin 1976), 77 ff.

Religionsfreiheit

223

II. Der historische Aspekt 1. Religionsfreiheit

im Mittelalter

Gelegentlich w i r d die Gesellschaft des christlich-abendländischen Mittelalters als Beispiel für weltanschauliche Homogenität angeführt. Das Beispiel ist aber verfehlt, wie die fortlaufende Auseinandersetzimg der geistlichen und weltlichen Gewalt i m Mittelalter mit den verschiedensten Formen der Ketzerbewegung zeigt 9 . Die Gesellschaft und ihre politische Erscheinungsform, der Staat, waren i m Mittelalter i n diesem Sinne keineswegs faktisch uniform, sondern vielmehr totalitär, wobei der Unterschied zu den modernen totalitären Regimen nur darin bestand, daß Religionsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit damals noch nicht entsprechend problematisiert, geschweige denn theoretisch aufgearbeitet waren, und der Machtapparat daher dem Streben von Minderheiten nach Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit mit einer Naivität gegenübertrat, die sein Verhalten entschuldbarer macht als die totalitären Repressionen i m 20. Jahrhundert.

2. Religionsfreiheit

und Glaubensspaltung

Tatsächlich war es auch die Religionsfreiheit, welche neben der persönlichen Freiheit des Individuums i m Sinne eines Schutzes vor willkürlicher Festnahme durch die Obrigkeit schon früh eingefordert wurde. Der wichtigste faktische Anstoß hierzu war die Glaubensspaltung i m Abendland am Beginn der Neuzeit, wenngleich die Reformatoren ursprünglich so wenig wie die alte Kirche von einer grundsätzlichen und allgemeinen Glaubens- und Gewissensfreiheit ausgingen oder sie für alle Menschen einforderten. Vielmehr traten beide Konfessionen, wo sie herrschend waren, für die Durchsetzung ihres Ausschließlichkeitsanspruches e i n 1 0 , während sie dort, wo sie 0 Vgl. Friedrich Kempf\ Ketzer und Reformbewegungen bei Klerus und Laien (1000-1050). Das Abendland an der Wende zum Hochmittelalter, in: Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte I I I — Die mittelalterliche Kirche / Erster Halbband: Vom kirchlichen Frühmittelalter zur Gregorianischen Reform (Freiburg / Basel/Wien 1966), 388 ff.; Hans Wolter, Häretische Bewegungen und die Anfänge der kirchlichen Inquisition, in: ibid. I H / Zweiter Halbband: Vom kirchlichen Hochmittelalter bis zum Vorabend der Reformation (1968), 123 ff.; ders., Häresie und Inquisition im 13. Jahrhundert, ibid. 263 ff. io Auch der Augsburger Religionsfriede von 1555; vgl. den gleichnamigen Beitrag von Ernst Walten Zeeden, in: Josef Höf er und Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche (2. Auflage Freiburg 1957), 1081 ff.; auch Erwin Iserloh, Die deutsche Fürstenreformation. Das Scheitern des Universalismus und der Augsbuger Religionsfriede, in: Jedin (oben Anm. 9) IV — Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation (1967) 217 ff. auf 319 ff.

224

Heribert F. Köck

eine Minderheit darstellten, Duldung forderten 11 . Daß eine solche Duldung seitens eines Staates zur Vermeidung eines größeren Übels für das Gemeinwohl (also z. B. zur Hintanhaltung innerer Wirren) geübt werden durfte, setzte sich freilich bald durch. 3. Religionsfreiheit

und Aufklärung

Das Toleranzprinzip, welches i m 17. und 18. Jahrhundert eine große Rolle spielte und selbst i m 19. Jahrhundert noch von gewisser Bedeutung war, wurde philosophisch freilich auf der Grundlage eines religiösen Indifferentismus entwickelt 1 2 , welcher der Sache nicht förderlich war. Von daher erklärt sich auch der langdauernde und zähe Widerstand, welcher von Seiten der katholischen Kirche dem Prinzip der Religionsfreiheit entgegengesetzt wurde 1 3 und der selbst nach dem Zweiten Vatikanum i n traditionalistischen katholischen Reihen noch weit verbreitet erscheint 14 . 4. Katholische Kirche und Religionsfreiheit Tatsächlich war die kirchliche Position zur Religionsfreiheit bis ins 20. Jahrhundert, nämlich noch einschließlich des Pontifikats Pius XII., vom Grundsatz getragen, daß der Irrtum nicht dasselbe Recht auf Existenz und Verbreitung habe wie die Wahrheit, weshalb prinzipiell nur der wahren, nämlich der katholischen Religion ein Ausübungs- und Missionsrecht zustünde 1 5 . Dabei wurde freilich übersehen, daß es beim Problem der Religionsfreiheit gar nicht u m das Verhältnis der Wahrheit zum Irrtum und umgekehrt Vgl. Joseph Lecler, Toleranz. I. Geschichtlich, in: Höfer / Rahner (oben Anm. 10) 239 ff. 12 Vgl. ibid. 241 f. 13 „Tolerantismus", „Indifferentismus" und „Liberalismus" wurden mehrfach, und zwar von den Päpsten Leo XII., Gregor XVI. und Pius IX. verurteilt, wobei insbesondere des letzteren Enzyklika Quanta cura mit ihrem Annex, dem Syllabits errorum vom 8. Dezember 1964, 3 Acta Sanctae Sedis (1867 / 68) 163 ff., zu erwähnen ist. 14 Vgl. etwa Wigand Siebel, Katholisch oder konziliar. Die Krise der Kirche heute (München/Wien 1978), 37 ff. 15 Wobei diese Positionen schon von Leo X m . in seiner Enzyklika Immortale Dei vom 1. November 1885,18 Acta Sanctae Sedis (1885 / 86), 162 ff., mit der Einschränkung formuliert worden war, die Kirche verurteile damit die Staatsoberhäupter nicht, die, um ein Gut zu erreichen oder ein Übel zu vermeiden, in der Praxis tolerieren, daß verschiedene Kulte im Staat ihren Platz einnehmen. Eine umfassende und wegen der Position des Autors, Alfredo Ottaviani, als Kardinal und Präfekt des Hl. Offiziums (der späteren Glaubenskongregation) offiziöse Darstellung dieser Position findet sich in seinen Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici I I — Ecclesia et Status 4. Aufl. unter Mitarbeit von Giuseppe Darmizia (Vatikanstadt 1960), 63 ff. (De tolerantia falsorum cultuum).

225

Religionsfreiheit

geht, sondern v o n Menschen zueinander m i t i h r e r s u b j e k t i v e n Überzeugung, insbesondere aber u m das Verhältnis

v o n Mensch

und Obrigkeit

E r k e n n t n i s k l a r ausgesprochen u n d d a m i t die Religionsfreiheit bares Menschenrecht a u c h i n der katholischen ist das Verdienst des Zweiten

Vatikanischen

Kirche Konzils

16

.

Diese

als u n a b d i n g -

beheimatet

z u haben,

11

.

m . Religionsfreiheit und politische Ordnung 1. Die Würde des D i e Religionsfreiheit

Menschen

g r ü n d e t i m Recht jedes Menschen, n a c h der W a h r h e i t

z u suchen, sie anzunehmen u n d sich i h r gemäß z u verhalten. Dieses Recht ist e i n Ausfluß der Würde des Menschen 18,

der v o n G o t t i n einer zweifachen

Freiheit geschaffen w u r d e , n ä m l i c h e i n m a l diesem G o t t selbst gegenüber, i h n als das summum

bonum anzunehmen, m i t der Konsequenz, ganz allge-

m e i n gewissenhaft n a c h d e m W a h r e n u n d G u t e n z u suchen u n d dasselbe gemäß der so gewonnenen E r k e n n t n i s z u v e r w i r k l i c h e n 1 9 , d a n n aber a u c h als F r e i h e i t gegenüber den anderen Menschen, der Gesellschaft Staat, die sich nicht zum Richter

und dem

über das Gewissen des E i n z e l n e n aufwerfen

dürfen.

16 Vgl. Erwin Melichar, Religionsfreiheit, in: Höfer / Rahner (oben Anm. 10) V m (1963), 1175 ff.; auch Rudolf Hofmann, Gewissen II. Moraltheologisch, in: ibid. IV (i960), 861 ff.; und H. Reiner, Gewissen, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie H I (Darmstadt 1947), 574 ff. 17 Vgl. seine Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae vom 7. Dezember 1965, 58 Acta Apostolicae Sedis (1966), 929 ff.; sowie dazu die Einleitung und den Kommentar von Pietro Pavan in: Lexikon für Theologie und Kirche — Das Zweite Vatikanische Konzil I I (Freiburg / Basel / Wien 1967), 704 ff., wo auch auf 713 ff. die im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgte, von den deutschen Bischöfen genehmigte, leicht verbesserte Fassung der deutschen Übersetzung von 1967 abgedruckt ist. iß Demgemäß ist der erste Teil der Weltfriedenstagsbotschaft 1988 auch dem Thema „Würde und Freiheit der menschlichen Person" gewidmet. Der Papst führt dort aus, „Fundament und Ziel der sozialen Ordnung [sei] die menschliche Person als Subjekt unveräußerlicher Rechte, die sie nicht von außen empfängt, sondern die aus ihrer Natur selbst entspringen: nichts und niemand können sie zerstören, kein äußerer Zwang kann sie auslöschen, weil sie ihre Wurzel im tiefsten Wesen des Menschen haben." Auf 5 f. des zit. Textes. iß Nach Auffassung des Papstes erschöpft sich die menschliche Person nicht in ihren gesellschaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Bedingungen; „denn es ist dem Menschen, der eine Geistseele besitzt, zu eigen, einem Ziel zuzustreben, das die wechselnden Bedingungen seiner Existenz übersteigt. Keine menschliche Macht darf sich der Verwirklichung des Menschen als Person entgegenstellen." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 1, auf 6 des zit. Textes. 15 Johannes Paul IL

226

Heribert F. Köck

2. Die Freiheit des Menschen Diese Gewissensfreiheit 20, die freilich gepaart ist mit der subjektiven Verpflichtung des Einzelnen, nach der Wahrheit zu suchen und sich ihr entsprechend zu verhalten 2 1 , schließt auch die faktische Möglichkeit der Entscheidung zum Bösen ein, eine Freiheit, die der Entscheidimg zum Guten erst ihren ethischen Wert verleiht 2 2 . Überdies zeigt die menschliche Erfahrung, daß das Gewissen auch irren kann, wobei die früher häufig gemachte Unterscheidung zwischen dem unverschuldet und dem verschuldet irrenden Gewissen insoweit verfehlt ist, als sich die ethische Qualität eines Gewissensaktes immer nur nach der Haltung des Menschen hic et nunc, also i n der konkreten Situation, bestimmen, nicht aber von einer etwaigen früheren falschen Haltung bzw. Entscheidung abhängen k a n n 2 3 . Wegen dieser von Gott gewollten Freiheit des Menschen gibt es keine irdische Instanz — also weder eine staatliche noch eine kirchliche — die ihre Entscheidimg an die Stelle des Gewissensurteils des Einzelnen setzen und ihn zu Annahme und Realisierung einer solchen heteronomen Entscheidung zwingen dürfte 2 4 . Hier gilt vielmehr die fundamentale Einsicht: „Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch." 2 5 20 Dieser Gewissensfreiheit war die päpstliche Weltfriedensbotschaft 1991 gewidmet; vgl. dazu Anm. 22. 21 „ Ganz gewiß bedeuten Gewissens- und Religionsfreiheit nicht eine Relativierung der objektiven Wahrheit, die zu suchen jeder Mensch moralisch verpflichtet ist."; Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 1, auf 7 des zit. Textes. 22 Vgl. dazu ausführlich Heribert Franz Köck, Freiheit — Wahrheit — Frieden. Zu Motto der päpstlichen Botschaft zum Weltfriedenstag 1991: Wenn Du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen!, in: 66 Wiener Blätter zur Friedensforschung (1991/1), 2 ff.; [auch in: Denkanstöße, Schriftenreihe der Militärseelsorge in Österreich, Heft 5 (1991), 88 ff.]; auf 9; mit Verweisung auf die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils, 58 Acta Apostolice Sedes (1966), 1025 ff. Art. 17. 23 Vgl. Köck (oben Anm. 22), 8 f. — Es kommt nicht von ungefähr, daß jene, die das Gewissen nochmals der Autorität unterordnen wollen, die Möglichkeit eines unverschuldet irrenden Gewissens in Frage stellen, mit dem Argument, ein solches würde den christlichen Missionsauftrag sinnlos machen. Damit wird aber nicht nur eine Erfahrungstatsache, die auch das I. Vatikanum anerkannt (Gaudium et spes, Art. 16, vorletzter Satz), geleugnet, sondern die Kirche (gegen Ad gentes divinitus, Art. 7) von der via ordinaria zur via exclusiva gemacht. Das Argument beruht daher auf einer Petitio principii. 24 Vgl. in diesem Zusammenhang 139 Theologisch-Praktische Quartalsschrift (1991), 3. Heft, welches ganz dem Thema Gewissen und Gewissensbildung gewidmet ist. Es bringt neben einem Ausschnitt aus der Weltfriedensbotschaft Papst Johannes Pauls n. von 1991 (auf 233) Beiträge von Maximilian Aichern ("Gewissenhaft leben"), 235 ff., Josef Janda ("Ignatianischer Gehorsam damals und heute"), 251 ff. und KarlHeinz Ducke ("Gewissensbildung — Ein kirchlicher Beitrag zur Demokratieentwicklung"), 258 ff. Einen praktischen Aspekt des Problems untersucht schließlich Heribert Schmitz ("Mandat und Nihil obstat des Theologieprofessors"), 265 ff.

Religionsfreiheit

3. Religionsfreiheit

227

und pluralistische Gesellschaft

Läßt sich das Recht auf Religionsfreiheit wie auf Glaubens- und Gewissensfreiheit ganz allgemein 2 6 , welches hier auf der Grundlage jenes Menschenbildes entwickelt wurde, das jenem der philosophia perennis 21 und der besonderen Ausfaltung der christlichen Naturrechtslehre entspricht, auch für eine weltanschaulich pluralistische Gesellschaft begründen, deren Charakteristikum es gerade ist, daß sie sich zu keiner wie immer gearteten Auffassung als zu der für sie bestimmenden bekennt? Diese Frage ist von Bedeutung, weil es von ihrer Beantwortung abhängt, ob die Religionsfreiheit i n der modernen Welt eingefordert werden kann, ohne daß der Verdacht entsteht, hier werde der Gesellschaft und dem Staat ein Konzept aufgedrängt, welches seine Grundlage wiederum nur i n einem bestimmten Gruppeninteresse hat. U m einen solchen Ideologieverdacht 28 auszuräumen, muß es sich zeigen lassen, daß es zum Wesen gerade der pluralistischen Gesellschaft gehört, ihren Gliedern Religionsfreiheit zuzugestehen, dem Einzelnen i n Sachen Religion also wieder etwas zu gebieten noch etwas zu verbieten. a) Die Staatszwecke i n einer pluralistischen Gesellschaft U m diese Frage zu beantworten, muß ganz allgemein die Frage nach den Staatszwecken i n einer pluralistischen Gesellschaft gestellt werden. I n diesem Zusammenhang erscheint der Schutz des Lebens und der Sicherheit des Menschen als erster Staatszweck 29. Selbst dort, wo ein agnostischer Standpunkt die Erkenntnis dieses Staatszweckes verneint, macht doch die politische Entscheidung für den Staat zumindest die Anerkennung dieses Staatszweckes notwendig, weil anders ein Staat gar nicht gedacht werden kann, wie die Geschichte der Staats- und Rechtsphilosophie i n der Neuzeit seit 25 So die klassische Formulierung von Johannes Paul II. in seiner Weltfriedenstagsbotschaft 1991, auf S. 5 des offiziellen deutschen Textes (Vatikanstadt 1990). 26 Johannes Paul II. nennt die Gewissens- und Religionsfreheit „die institutionelle Übersetzung jener Ordnung, in der es Gottes Wille ist, daß seine Geschöpfe sein ewiges Bundesangebot als freie und verantwortliche Personen erkennen, annehmen und leben können". Weltfriedenstagsbotschaft 1988, Nr. 1, auf 7 des zit. Textes. 27 Vgl. H. Schneider, Philosophie, immerwährende, in: Ritter / Gründer (oben Anm. 8), VD (1989), 898 ff. 28 Zum Begriff der Ideologie vgl. U. Dierse und R. Romberg, Ideologie, in: Ritter / Gründer (oben Anm. 8) IV (1976), 158 ff.; Arno Baruzzi, Ideologie, in: Staatslexikon m (7. Aufl. Freiburg/ Basel /Wien 1987), 28 ff. 29 Vgl. Heribert Franz Köck, Der erste Staatszweck in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Herbert Miehsler, Erhard Mock, Bruno Simma und Ilmar Tammelo (Hrsg.), Ius humanitatis. Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross (Berlin 1980), 89 ff. 15*

228

Heribert F. Köck

Thomas Hobbes zeigt 3 0 . Wer aber — wie der Anarchist — die Anerkennung dieser Grundlage des Staates verweigert, also auf seiner eigenen Freiheit zur Gewaltanwendung gegen das Leben und die Sicherheit der anderen besteht, der kann sich wiederum nicht beklagen, wenn diese anderen mit dem Instrument des staatlichen Machtapparates gegen ihn vorgehen, um ihm gegenüber das Machtmonopol des Staates durchzusetzen. Damit ist aber der Schutz von Leben und Sicherheit des Einzelnen als raison d'être des Staates auch für die pluralistische Gesellschaft ausreichend begründet 31 . Eine entsprechende Begründimg muß sich auch für die Religionsfreiheit i n der pluralistischen Gesellschaft finden lassen, w i l l sich die Forderung nach ihr nicht dem Vorwurf aussetzen, hier handle es sich lediglich um ein ideologisch begründetes Postulat. Die Anerkennung des Rechtes auf Religionsfreiheit muß sich daher — als solche oder i m größeren Zusammenhang — als ebenso konstitutiv für den Staat nachweisen lassen wie das Recht auf Schutz des Lebens und der Sicherheit. M i t anderen Worten: es muß sich zeigen lassen, daß, wer den Staat will , auch die Religionsfreiheit wollen muß. b) Der Kernbereich menschlichen Lebensvollzuges Nun ist es eine allgemeine menschliche Erfahrung, daß die Reduktion der grundlegenden Staatszwecke auf den Schutz von Leben und Sicherheit zu dürftig ist, um einen Staat zu legitimieen. Der Mensch w i l l nicht nur irgendwie leben i m Sinne von schlechtweg existieren, sondern w i l l so leben, daß und wie er dies für gut befindet. I n diesem Sinn ist z. B. das Streben nach Glück (pursuit ofhappiness) als grundlegendes Menschenrecht ausdrücklich i n der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 32 festgeschrieben. Dieser Lebensvollzug i n Freiheit kann nun freilich unter den verschiedensten Gesichtspunkten erfolgen; es ist aber unbestreitbar, daß die Entscheidungen des Menschen i n der Sinnfrage des menschlichen Lebens selbst mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen zum Kernbereich des menschlichen Lebensvollzugs gehören 33 . Sich also diese Frage nach dem Sinn des Lebens, so Vgl. Alfred Verdross , Abendländische Rechtsphilosophie (2. Aufl. Wien 1963), 113 ff.

31 Vgl. Köck (oben Anm. 29), 97 f. 32 Diese Déclaration of Independence vom 4. Juli 1776 ist in Faksimile und in Transkription abgedruckt in: Encyclopaedia Britannica V I I (Aufl. 1967), 160 und 161. Auch dort werden unter den „Unalienable Rights" zuvorderst enannt: „Life, Liberty and the pursuit of Happiness." 33 Zurecht weist ja der Papst darauf hin, daß „die Religionsfreiheit auf entscheidende Weise zur Formung von wahrhaft freien Bürgern [beiträgt], insofern sie gestattet, die Wahrheit über den Menschen und die Welt zu suchen und sich zu ihr zu bekennen und so in jedem Menschen ein volles Bewußtsein von seiner Würde und eine motivier-

Religionsfreiheit

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nach dem Woher und Wohin des Menschen zu stellen und aus der selbst gegebenen Antwort entsprechende Konsequenzen zu ziehen, gehört somit zum Grundbedürfnis des Menschen 34 . Ja, die wie immer getroffene Entscheidung des Einzelnen i n diesem Bereich bzw. die Freiheit, die entsprechende Antwort zu suchen und zu finden, macht erst den spezifischen Wert des menschlichen Lebens aus. Menschliche Existenz, der dieser Freiheitsbereich verschlossen bleibt, bedeutet unmenschliches Dahinvegetieren. Eine Selbstbeschränkung auf solches Dahinvegetieren ist dem Menschen aber nicht zumutbar 3 5 . c) Das Gemeinwohl Daraus ergibt sich, daß auch i n der pluralistischen Gesellschaft der Staatszweck nicht auf das bloße Leben und auf die bloße Sicherheit i m Sinne von Ruhe und Ordnung reduziert werden kann, sondern unter Leben stets ein solches mit einem Mindestmaß an Freiheit zu verstehen ist, wobei dieses Mindestmaß an Freiheit auch ein sinnerfülltes Leben erlauben muß 3 6 . Dies entspricht i m übrigen der klassischen Lehre vom Gemeinwohl, welches ebenfalls nicht i m Gut des bloßen Friedens, sondern eines Friedens mit einem Mindestmaß an Freiheit und Gerechtigkeit besteht 37 . Religionsfreiheit i m Sinne einer Freiheit des Einzelnen, die Sinnfrage nach dem eigenen Leben tere Übernahme seiner eigentlichen Verantwortlichkeit fördert. Ein ehrliches Verhältnis zur Wahrheit ist wesentliche Voraussetzung für authentische Freiheit." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, Nr. 3; auf 11 des zit. Textes; mit Verweisung auf die Enzyklika

Redemptor hominis, N. 12. 34 Vgl. Ch. Grawe, A. Hügli, M. Kiefhaber, R. Romberg undR. Konersmann, Mensch, in: Ritter / Gründer (oben Anm. 8) V (1980), 1059 ff.

35 Vgl. Paul Overhage, Alois Halder, Josef Schmid und Karl Rahner, Mensch, in: Höfer / Rahner (oben Anm. 10), V I I (1962), 278 ff.; auch Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums (8. Aufl. Freiburg / Basel / Wien 1977), Erster Gang: Der Hörer der Botschaft, 35 ff., besonders die Abschnitte „Der Mensch als Person und Subjekt", 37 ff., „Der Mensch als Wesen der Transzendenz", 42 ff., „Der Mensch als das Wesen der Verantwortung und Freiheit", 46 ff., und „Die personale Daseinsfrage als Heilsfrage", 50 ff. 36 „Die Freiheit, mit der der Mensch vom Schöpfer ausgestattet ist, ist die ihm fortwährend gegebene Fähigkeit, mit dem Verstand die Wahrheit zu suchen und mit dem Herzen dem Guten anzuhangen, zu dem er von Natur aus hinstrebt, ohne irgendeiner Art von Druck, Zwang oder Gewalt ausgesetzt zu sein. Es gehört zur Personwürde, dem moralischen Anspruch des eigenen Gewissens bei der Suche nach der Wahrheit entsprechen zu können." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 1, auf 6 des zit. Textes. 37 Vgl. Hermann Josef Wallraff, Gemeinwohl, in Höfer / Rahner (oben Anm. 10) IV (1960), 657 f.; Valentin Zsifkovits, Gemeinwohl, in: Alfred Klose, Wolf gang Mantl und Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon (2. Aufl. Innsbruch / Wien / München / Graz / Köln 1980), 854 ff.; R. Herzog et al., Gemeinwohl, in: Ritter (oben

Anm. 16) m (1974), 248 ff.; Walter Kerber, Alexander Schwan und Alexandr Hollerbach, Gemeinwohl, in: Staatslexikon I I (7. Aufl. 1986), 857 ff.

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zu stellen, sie zu beantworten und sich der Antwort gemäß zu verhalten, gehört also zu den unabdingbaren Voraussetzungen eines Staates 3*. Ein Staat, der die Religionsfreiheit nicht garantiert, verliert daher seine raison d'être. Wer aber den anderen ein solches Leben i n Sicherheit und einem Mindestmaß an Freiheit nicht zugestehen will, wer sich vielmehr das Recht herausnimmt, i n diesem Bereich i n die Lebenssphäre des andern oder der anderen einzugreifen, der muß es sich gefallen lassen, daß der oder die anderen zur Abwehr seines tatsächlichen oder potentiellen Eingriffes die Zwangsgewalt des Staates gegen ihn mobilisieren. Es handelt sich hier um nichts anderes als einen Anwendungsfall der i m frühen Mittelalter als Grundlage des Naturrechts betrachteten sog. Goldenen Regel 39.

C. Religionsfreiheit und Glaubens- und Gewissensfreiheit Aus dem bisher Gesagten ergibt sich eine doppelte Begründung für das Recht auf Religionsfreiheit. Einerseis gründet es i n der Würde des Menschen-l0, andererseits ist seine Gewährung i n der pluralistischen Gesellschaft eine Voraussetzung für die Anerkennung des Staates durch den Einzelnen. Bevor w i r nunmehr auf das naheliegende Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und friedlichem Zusammenleben näher eingehen, wollen w i r noch kurz der Frage nachgehen, ob die Glaubens- und Gewissensfreiheit nur eine säkularisierte Form der Religionsfreiheit oder umgekehrt dieselbe nur eine spezifische Ausformung der Glaubens- und Gewissensfreiheit darstellt. Der historische Befund legt das erstere nahe 41 . Hat sich doch aus der Forderung nach Religions- i m Sinne von Konfessionsfreiheit ganz allgemein die Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit entwickelt, welche auch die negative Religionsfreiheit i n sich schließen, also ganz allgemein die Freiheit darstellen, eine bestimmte Religion oder Weltanschauung zu haben oder nicht zu haben, zu bekennen oder nicht zu bekennen, auszuüben oder nicht auszuüben 42 . Betrachtet man das Problem aber systematisch, so zeigt 38 Johannes Neumann, Kirche als Sinnträger in einer pluralen Gesellschaft? Anmerkungen zum Selbstverständnis der (katholischen) Kirche, in: Schambeck (oben Anm. 8), 27 ff. 39 Vgl. den Abschnitt über „Die naturrechtliche Grundnorm" bei Verdross (oben Anm. 30), 69 ff. *o Vgl. nochmals die Ausführungen Johannes Pauls II. in der Weltfriedenstagsbotschaft 1988, oben Anm. 36. Felix Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt I — Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Wien 1974), 69 ff. und passim.

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sich, daß die Religionsfreiheit, w i l l man sie nicht mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit zusammenfallen lassen, nur eine Ausformung derselben darstellt. Denn die Religionsfreiheit ist das Recht des Einzelnen, allein oder gemeinsam mit anderen die entsprechenden Konsequenzen aus jenen Antworten zu ziehen, die er sich selbst auf die Frage nach Gott als dem Urgrund alles Seins gegeben h a t 4 3 . Auch wer bei der Beantwortung der menschlichen Sinnfrage nicht bis zu diesem Urgrund vorstößt, hat Anspruch auf Glaubensund Gewissensfreiheit, also auf die Freiheit, seinem Gewissen gemäß auf diese Frage keine oder eine verneinende Antwort zu geben; da Religion aber die Beziehung zu Gott als dem Urgrund des Lebens i s t 4 4 , stellt die Religionsfreiheit nur die Freiheit der Betätigung oder Nichtbetätigung dieses Bezuges dar. M i t anderen Woren: auch dem Atheisten kommt Glaubens- und Gewissensfreiheit zu; Religionsfreiheit i m eigentlichen Sinn aber nur dem religiösen Menschen. Die Unterscheidung zwischen Glaubens- und Gewissensfreiheit auf der einen und Religionsfreiheit auf der anderen Seite ist aber nur dort von Bedeutung, wo das positive Recht an die einzelnen Begriffe verschiedene Folgerungen knüpft; abgesehen davon aber handelt es sich bei jeder dieser Freiheiten um ein unabdingbares Menschenrecht, so daß allfällige begriffliche oder zumindest terminologische Schwankungen keine besondere Rolle spielen.

D. Verstöße gegen die Religionsfreiheit und ihre Konsequenzen I. Verstöße von seiten des Staates Die Bedeutung der Religionsfreiheit für das friedliche Zusammenleben der Menschen und Staaten ergibt sich aus ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Würde des Menschen als eines freien Wesens einerseits und als konstitutives Element des Staates i n einer pluralistischen Gesellschaft andererseits. Jeder Verstoß gegen die Religionsfreiheit — sei es durch das Verbot des Bekenntnisses oder der Ausübung einer bestimmten Religion (wobei das 42 Vgl. Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte (Wien 1963), 350 ff. 43 „Insofern das bürgerliche und soziale Recht auf Religionsfreiheit den innersten Bereich des Geistes berührt, erweist es sich als Bezugspunkt in gewisser Weise als Maßstab der anderen Grundrechte." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 1, auf 7 des zit. Textes.

44 Vgl. Heinz-Robert Schlette, Karl Rahner und Heinrich Fries, Religion, in: Höfer / Rahner (oben Anm. 10) V m (1963), 1164 ff.; auch Heinrich Fries, Fundamentaltheologie (Graz / Wien / Köln 1985), passim.

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Recht der Ausübung immer auch das Recht der Verbreitung, also der Missionierung, einschließt) oder jeder Religion überhaupt 4 5 (also die Verpflichtimg zum Atheismus) oder durch das Gebot einer bestimmten Religion (also die Vorschrift, eine bestimmte Religion anzunehmen oder zu bekennen) 46 — verletzt die Würde des Menschen schwerwiegend und damit diesen i n seinem Innersten und gefährdet damit gleichzeitig das gute Funktionieren, ja die Existenz des Staates selbst. Denn der Mensch w i r d sich gegen eine solche Vergewaltigung zur Wehr setzen, soweit er dazu i n der Lage i s t 4 7 . Nach der klassischen Staats- und Rechtsphilosophie übt er damit nur ein natürliches Widerstandsrecht gegen ungerechte Anordnungen oder Forderungen des Staates aus 4 8 ; vom Standpunkt einer auf die pluralistische Gesellschaft aufbauenden Staatslehre aber zieht er einfach die nur nach dem Reziprozitätsprinzip rational begründbare Anerkennung desselben zurück und geht nach eigenem Ermessen zur Wahrung dessen vor, was ihm i n seinem Innersten als das Wichtigste erscheint. Daher weist schon das Streben des Staates nach Selbsterhaltung diesen auf die Respektierung der Religionsfreiheit hin.

II. Verstöße von seiten der Gesellschaft Verletzungen dieser Religionsfreiheit sind freilich nicht nur durch den Staat gegenüber dem Einzelnen, sondern auch durch den Einzelnen gegenüber einem anderen oder durch bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen 45 Johannes Paul II. kritisiert in diesem Zusammenhang einerseits gesetzliche Vorschriften und administrative Praktiken, welche in verschiedenen Ländern die Rechte, welche die Konstitution der einzelnen Gläubigen und religiösen Gruppen an sich formell zuerkennen, beschränken oder annullieren; andererseits beklagt er, daß es auch noch heute Gesetzgebungen und Regelungen gäbe, die das Grundrecht auf Religionsfreiheit gar nicht berücksichtigten oder für dieses völlig imbegründete Einschränkungen vorsähen. Vgl. Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 2, auf 9 des zit. Textes. 46 „Auch im Falle, daß ein Staat einer bestimmten Religion eine besondere Rechtsstellung ausspricht, ist es seine Pflicht, das Recht auf Gewissensfreiheit der Bürger gesetzlich anzuerkennen und wirksam zu achten, wie auch der Ausländer, der dort der Arbeit wegen oder aus anderen Gründen, wenn auch nur zeitweise, wohnen." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 1, auf 8 des zit. Textes (Hvhbg. vom Verf.). 47 In diesem Sinne sagt die Präambel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, „es [sei] wesentlich, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrükkung als letztem Mittel gezwungen wird." 48 Vgl. Heribert Franz Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten (Berlin 1987), 61 ff. und passim; allgemein Johannes Messner, Das Naturrecht — Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik (7. Aufl. Berlin 1984), 796 ff. und passim; auch Herbert Schambeck, Widerstand, in: Katholisches Soziallexikon (oben Anm. 37), 3343 ff.; und Christian Starck, Widerstandsrecht, in: Staatslexikon V (1989) 989 ff.

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gegenüber dem Einzelnen oder anderen Gruppierungen möglich. Diese innergesellschaftlichen Übergriffe 49 und die Reaktionen darauf sind geeignet, die Ruhe und Ordnung des Staates schwerwiegend zu stören und das Gemeinwohl zu beeinträchtigen, ja vom pluralistischen Standpunkt aus, den Staat sogar i n seiner Existenz selbst in Frage zu stellen, nämlich dann, wenn sich der Einzelne durch ihn nicht ausreichend gegenüber den Angriffen oder Eingriffen anderer geschützt fühlt. U m diese nachteiligen Konsequenzen für das Gemeinwohl, ja für seine eigene Existenz hintanzuhalten, w i r d der Staat daher bemüht sein müssen, die Religionsfreiheit des Einzelnen oder bestimmter Gruppen auch gegen innergesellschaftliche Angriffe und Übergriffe zu verteidigen 50 . Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für das Verhältnis der Staaten untereinander und der gesamten internationalen Gemeinschaft zu ihnen, welches ebenfalls durch Konflikte, welche i n irgendeiner Weise geeignet sein können, die Religionsfreiheit zu verletzen, gefährdet sind. Diese Einsicht hegt etwa auch der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1981 zugrunde, mit der die Declaration on the Elimination of All Forms of Intolerance and of Diskrimination Based on Religion or Believe verabschiedet wurde 5 1 .

40 Der Papst nennt in diesem Zusammenhang „vor allem mehr oder weniger zufällige Formen spontaner Intoleranz, Frucht mitunter von Unwissenheit und Anmaßung, die Personen und Gemeinschaften verletzen, indem sie Polemiken, Spannungen und Auseinandersetzungen verursachen und dadurch den Frieden und einen solidarischen Einsatz für das Gemeinwohl beeinträchtigen." Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 2, auf 9 des zit. Textes. so Tatsächlich nimmt der Grund- und Freiheitsrechteschutz in den Staaten mit freiheithch-demokratisch-rechtsstaathcher Ordnung beide Aspekte — Abwehr gegen Eingriffe des Staates, Abwehr gegen Angriffe Dritter — wahr, wenn auch (wegen des mit Hinsicht auf letztere sich erst allmählich entwickelnden Bewußtseins) mit unterschiedlicher Akzentuierung. Vgl. dazu allgemein Gino Concetti (Hrsg.), I Diritti Umani — Dottrina e prassi (Rom 1982), Dritter Teil: I diritti umani negh ordinamenti positivi,

mit Beiträgen von Herbert Schambeck, Giovanni Codevilla, Giovanni Bognetti und Maurice Bormans. 51 Res 3 6 / 5 5 vom 25. November 1981. Vgl. Luigi Bressan, Libertä religiosa nel diritto internazionale (Padua 1989), besonders 75 ff. Vgl. auch Concetti (Anm. 50), Zweiter Teil: I diritti umani nei documenti degli organismi internazionali, mit Beiträ-

gen von Franco Alberto Casadio, Ugo Villani, Guido Napoletano, Guiseppe Schiavone, Antonio Farace und Annamaria Vallone, Marina Cerne, Giancarlo Ferone, Ugo Genesio, Guiseppe Sperduti und Heribert Franz Köck. Vgl. auch Erich Kussbach, Die Vereinten Nationen und der Schutz des religiösen Bekenntnisses, in: 24 österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (1973), 267 ff.

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E. Religionsfreiheit und Religionsgemeinschaften I. Religionsgemeinschaften im allgemeinen Da die päpstliche Weltfriedenbotschaft 1988 die beiden abschließenden Teile der „Verantwortung des religiösen Menschen" 52 und der „Verpflichtimg der Jünger C h r i s t i " 5 3 für die Religionsfreiheit widmet, ist es angebracht, sich auch der Frage des Verhältnisses der Religionsgemeinschaften i m allgemeinen und der christlichen Kirchen i m besonderen zur Religionsfreiheit zu widmen und zu untersuchen, i n welcher Weise sie in diesem Zusammenhang zum friedlichen Zusammenleben beitragen können. I n diesem Zusammenhang ist vorweg festzustellen, daß das Recht auf Religionsfreiheit, das jeder Mensch besitzt, für keine Religionsgemeinschaft oder Kirche ein Hindernis darstellen kann, als Gruppe ihre Religion auszuüben und als Institution zu verkünden, was sie unter Wahrheiten der Religion versteht 54 . I n diesem Zusammenhang ist aber in einer solchen Art und Weise vorzugehen, „die den Erfordernissen des Zusammenlebens entspricht und die Freiheit eines jeden achtet" 5 5 . Auch hier gilt also der Grundsatz, daß die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen nach einer allgemeinen Regel vereinbar sein muß 5 6 . I m übrigen empfiehlt der Papst eine aktive Kooperation der Religionsgmeinschaften und Kirchen „gerade i m Bereich des Friedens, jener tiefsten Sehnsucht der Menschheit", weil dabei „jede religiöse Gemeinschaft und jeder einzelne Gläubige die Echtheit des eigenen Bemühens um Solidarität mit den Brüdern ermessen" kann 5 7 .

52 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 4. 53 Ibid., N. 5.

54 Vgl. Dignitatis humanae (oben Anm. 17), Art. 4. 55 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 4; auf 13 der zit. Ausgabe. 56 Entsprechend formuliert Johannes Pauli IL in seiner Weltfriedenstagsbotschaft 1991: „Wenn eine beanspruchte Freiheit zu Freizügigkeit im Sinne eines Freibriefes oder zum Vorwand wird, die Rechte anderer einzuschränken, hat der Staat die Pflicht, die unveräußerlichen Rechte seiner Bürger gegen derartige Mißbräuche auch gesetzlich zu schützen." Auf 15 des in der Vatikanstadt 1990 herausgegebenen offiziellen deutschen Textes. Die Formulierung erinnert an die Kant'sche Definition des Rechts als des ,,Inbegriff[es] der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen in einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1. Aufl. Königsberg 1797, 2. Aufl. 1798, in: Immanuel Kant, Werk in zehn Bänden (hrsg. von Wilhelm Weischedl) V I I (Darmstadt 1968), 337. Auf diesen Zusammenhang ist schon hingewiesen bei Köck (oben Anm. 22). 57 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 4; auf 14 des zit. Textes.

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n . Religionsfreiheit und christliche Kirchen Was der Papst hier für das Verhältnis der verschiedenen Religionen untereinander fordert, gilt seiner Auffassung nach i n noch verstärktem Maße für die Beziehungen der christlichen Kirchen untereinander. So wie 1986 die Verantwortlichen der wichtigsten Weltreligionen bei einem von ihm initiierten Treffen in Assisi 58 ihre gemeinsame Verpflichtimg bei der Errichtung des Friedens bekräftigt hätten 5 9 , müßten vor allem die christlichen Kirchen und Gemeinschaften diesen Prozeß weiter pflegen und zur Reife bringen. Der Papst sieht bereits positive Anzeichen dafür, daß damit unter den Christen der verschiedenen Konfessionen ein glücklicher Anfang gemacht worden sei. Es sei jedoch wünschenswert, daß dieser Prozeß „einen neuen Impuls empfängt und sich zu einer noch breiteren Beteiligung aller religiösen Menschen der Welt an der großen Herausforderung des Friedens ausweitet." 6 0

DI. Religion und Katholische Kirche Der Appell des Papstes muß i n diesem Zusammenhang jedoch nicht nur interkonfessionell, sondern auch intrakonfessionell verstanden werden. Wenn Johannes Paul II. beklagt, „bei wie vielen Spaltungen und Verständnislosigkeiten . . . w i r Christen unseren Anteil an Verantwortung [trügen]" 6 1 , so weiß er, daß es ursprünglich immer innerkirchliche Konflikte waren — von der Zeit der Urkirche bis herauf i n unsere Tage —, die nicht im Geiste Christi gelöst wurden und wo menschliche Verständnislosigkeit zu den vielen Kirchenspaltungen 62 beigetragen hat. Die Mahnung des Papstes: „Wie viel gilt es i n unserem eigenen Herzen, i m Inneren der Familien und der Gemeinschaften unter dem Zeichen der Versöhnimg und der brüderlichen Liebe 58 27. Oktober 1986. 59 Dieser Verpflichtung steht nach Auffassung des Papstes freilich auch ein Partizipationsrecht der Religionsgemeinschaften gegenüber, wie er schon in seiner Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1979 der Überzeugung Ausdruck gegeben hat, daß „gerade die Achtimg vor der Person-Würde zu fordern scheine, daß auch die Institutionen, die von ihrem Wesen her dem religiösen Leben dienen, mitbeteiligt werden, wenn der gerechte Umfang der Ausübung von Religionsfreiheit im BHck auf nationale Gesetze oder internationale Konventionen erörtert oder beschlossen wird." Insegnamenti di Giovanni Paolo I I 1979 / n , 2, 538; zit. nach Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 1, auf 8. 60 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 5; auf 15 des zit. Textes. 61 Ibid., N. 5, auf 16. 62 Vgl. Joseph Brosch, Schisma. I. Begriff und Geschichte, in: Höfer / Rahner (oben Anm. 10) I X (1964), 404 ff. Vgl. auch die im Anmerkungsapparat bei Heinrich Fries und Karl Rahner, Einigung der Kirchen — Reale Möglichkeit, Quaestiones Disputatae 100 (5. Aufl. Freiburg /Basel /Wien 1983), zitierte Literatur.

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noch zu t u n ! " 6 3 gilt daher auch für die Gemeinschaft der Kirche selbst. „ W i r tragen ja", wie der Papst sagt, „ i n unserem Herzen die aus der Offenbarung stammende Gewißheit, daß Gott, der Vater, durch den gekreuzigten Sohn, der ,unser Friede ist 4 (Eph 2,14), uns [d. h. die Kirche] zu einem neuen Volk gemacht hat, das als Lebensbedingung die Freiheit von Kindern Gottes und als Verfassimg das Gebot der Bruderliebe h a t . " 6 4 Wenn der Papst i n diesem Zusammenhang von einem „freien und befreienden A k t des Glaubens" 6 5 spricht, so zeigt dies, daß das Recht auf Religionsfreiheit nicht gleichsam an der Kirchentür abgegeben werden muß. Vielmehr gibt es auch innerhalb der Kirche Religionsfreiheit, die sich von jener, wie sie gegenüber der politischen Gewalt eingefordert werden kann, nicht i n der Art, sondern nur i n ihrem Gegenstand unterscheidet. Subjekt dieser Freiheit ist jedes Glied der Kirche i n je seiner individuellen Position als Glied des Volkes Gottes. Ort dieser Freiheit, die das Zweite Vatikanische Konzil eingemahnt und näher umschrieben h a t 6 6 , sind die legitimen kirchlichen Freiräume, deren Grenzen sich aus dem Wesen der Kirche selbst und dem ihr anvertrauten depositumfidei ergeben 67 . Die Grenzen dieser Freiräume i m konkreten Falle zu ermitteln, ist zwar gelegentlich ein schwieriges, der Kirche jedoch — als einer zwar von Gott gestifteten, aber aus Menschen zusammengesetzten Institution — auf Dauer aufgegebenes Unterfangen. Dieser Prozeß muß getragen sein von jener vom Papst angesprochenen „neuen Sicht der 63 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 5, auf 16 des zit. Txtes. 64 Ibid., N. 5, auf 15. 65 Ibid., N. 5, auf 16. 66 Vgl. Gaudium et spes (oben Anm. 22), Art. 17 ("Die hohe Bedeutung der Freiheit"), auch Art. 16 ("Die Würde des sittlichen Gewissens"), und Art. 62, der sich unter dem Titel „Das rechte Verhältnis der menschlichen und mitmenschlichen Kultur zur christlichen Bildung", in grundlegender Weise auch mit der Freiheit der Wissenschaft und der Meinungsäußerung innerhalb der Kirche befaßt und der in der Aussage gipfelt, er müsse „den Gläubigen, Klerikern wie Laien, die entsprechende Freiheit des Forschens, des Denkens sowie demütiger und entschiedener Meinungsäußerung zuerkannt werden in allen Bereichen, in denen sie Sachkompetenz besitzen". Die im Auftrag der deutschen Bischöfe besorgte deutsche Übersetzung, in: Lexikon für Theologie und Kirche — Das Zweite Vatikanische Konzil m (Freiburg / Basel / Wien 1968), 281 ff., gibt statt „Sachkompetenz" das Wort „Zuständigkeit". Daß es sich hier aber nicht etwa um eine Zuständigkeit im juristischen Sinne, sondern tatsächlich um Sachkompetenz handelt, zeigt der lateinische Text, wo es heißt: „ . . . in iis in quibus peritia gaudent". — Robert Tucci weist in seinem ibid., 447 ff., abgedruckten Kommentar auf 484 f. darauf hin, daß im Zusammenhang mit Art. 62 ein Konzilsvater gefordert hatte, aus der Formulierung „mentem suam in humilitate et fortitudine aperiendi" das Wort „fortitudo" zu streichen, was zur Folge gehabt hätte, daß den Gliedern der Kirche dann nur mehr die demütige, nicht aber die entschiedene Meinungsäußerung zugestanden gewesen wäre. Dies wurde jedoch von der zuständigen Konzilskommission mit der Begründung abgelehnt, in diesem Zusammenhang „fortitudo non est inutilis". 67 Vgl. Karl Rahner, Lehramt, in: Höfer/Rahner (oben Anm. 10) V I (1961), 884 ff.

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Welt", welche eben aus dem „freien und befreienden A k t des Glaubens entspringt" und „eine neue Art der Begegnung mit den Brüdern, eine neue Weise, in der Gesellschaft wie ein Sauerteig zu leben", zur Folge hat 6 8 . Nach den Worten des Papstes ist „der Einsatz für Wahrheit und Freiheit, für Gerechtigkeit und Frieden" ein Kennzeichen der Jünger Christi 6 9 . Die Selbstdarstellung der Kirchen als eines neuen Volkes, das — wie der Papst sagt — „als Lebensbedingung die Freiheit von Kindern Gottes und als Verfassimg das Gebot der Bruderliebe h a t " 7 0 , ist die beste Legitimation für die Forderung von Freiheiten nach außen. Solche Freiheiten einschließlich der Religionsfreiheit können von der Kirche dann am wirksamsten eingemahnt werden, wenn sie selbst i n ihrem Innern jenes augustinische Prinzip lebt, welches jeder menschlichen Gemeinschaft als Richtschnur ihrer grundlegenden Ordnung dienen kann: „ I n necessariis unitas, i n dubiis libertas, i n omnibus Caritas". Oder, wie es auch die christliche Naturrechtslehre als Leitsatz formuliert: „So viel Ordnung wie nötig, so viel Freiheit wie möglich."71

E. Religionsfreiheit: Auftrag und Hoffnung Freiheit, auch Religionsfreiheit , und das von ihr mitbedingte friedliche Zusammenleben, sind als „Werk der Gerechtigkeit" 7 2 zwar Menschenwerk , aber gleichzeitig immer auch eine Gabe des hebenden Gottes . Denn — wie der Papst abschließend ausführt — „die Bedingungen der Welt [erleichtern] diese Aufgabe n i c h t . . . Die Versuchung zur Gewalt ist immer i n der Nähe. Egoismus, Materialismus und Stolz machen den Menschen immer weniger frei und die Gesellschaft immer weniger offen für die Forderungen der Brüderlichkeit." 7 3 Wenn es unter diesen Umständen, allen Widrigkeiten zum Trotz, die Hoffnung auf Freiheit aufrecht zu halten gilt, findet der Christ

68 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 5, auf 16 des zit. Textes. 60 Ibid., auf 15. 70 Ibid. 71 Dieser Grundsatz kommt vor allem in dem in der katholischen Soziallehre erarbeiteten Subsidiaritätsprinzip zum Ausdruck, welches der Sicherung von Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereichen dient. Nach Johannes Messner (oben Anm. 48), 300, kann es „darum auch positiv ausgedrückt werden als Verantwortungs-, Rechtsund Freiheitsvorrangsprinzip". (Hervorhebung im Original) 72 Schon Pius XII. hat dies in seinem Wahlspruch „Opus Iustitiae Pax" zum Ausdruck gebracht. Vgl. dazu Antonio Kardinal Samore, Pius X U , mutiger Diener des Friedens, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Pius XU. zum Gedächtnis (Berlin 1977), 169 ff. 73 Weltfriedenstagsbotschaft 1988, N. 5, auf 16 des zit. Textes.

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eine Grundlage für diese Hoffnung auch in seinem Glauben. Denn — wie der Papst sagt —: „ W i r dürfen uns . . . nicht entmutigen lassen. Jesus, unser Herr und Meister, ist bei uns alle Tage bis zum Ende der Welt (vgl. M t 28, 2 0 ) . " 7 4

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1989

„UM FRIEDEN ZU SCHAFFEN, MINDERHEITEN ACHTEN"

Einleitung 1. „Seit dem 19. Jahrhundert hat sich überall i n der Welt i m politischen Bereich eine Tendenz entwickelt und durchgesetzt, nach der die Menschen desselben Volksstammes unabhängig sein wollen und eine einzige Nation bilden möchten. Weil dies jedoch aus einer Reihe von Gründen nicht immer verwirklicht werden kann, ergibt sich, daß ethnische Minderheiten sich häufig innerhalb der nationalen Grenzen eines anderen Volksstammes befinden; daraus entstehen ziemlich schwierige Probleme" (Enzyklika Pacem in terris, HI, 35). M i t diesen Worten hat mein verehrter Vorgänger Papst Johannes X X m . vor 25 Jahren auf eine der heikelsten Fragen i n der gegenwärtigen Gesellschaft hingewiesen; i m Verlauf der Jahre ist sie sogar immer dringlicher geworden, weil sie sowohl die Gestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens i m Innern eines jeden Landes als auch das Leben der internationalen Gemeinschaft betrifft. I n der Absicht, für den nächsten Weltfriedenstag ein spezifisches Thema zu wählen, halte ich es darum für angebracht, die Frage der Minderheiten zur gemeinsamen Besinnung vorzulegen. Dabei sind w i r uns alle wohl bewußt, daß — nach den Worten des II. Vatikanischen Konzils — „der Friede nicht lediglich darin besteht, daß kein Krieg ist, und auch nicht allein auf das Zustandebringen eines Gleichgewichtes entgegengesetzter Kräfte eingeschränkt werden darf" (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 78), sondern ein dynamischer Prozeß ist, der alle Elemente und Ursachen beachten muß, die den Frieden fördern oder stören. Es steht außer Zweifel, daß i n diesem Augenblick internationaler Entspannung — eine Folge von Übereinkünften und Vermittlungen —, welche auch mögliche Lösungen für jene Völker erkennen lassen, die noch Opfer blutiger Konflikte sind — die Frage der Minderheiten erheblich an Bedeutung ge-

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winnt und daher für jeden führenden Politiker oder Verantwortlichen von religiösen Gruppen und für jeden Menschen guten Willens Gegenstand aufmerksamer Überlegungen wird. 2. I n fast allen Gesellschaften gibt es heute Minderheiten als Gemeinschaften, die aus verschiedenen kulturellen Traditionen, aus rassischer und ethnischer Zugehörigkeit, aus religiösen Glaubensüberzeugungen oder auch aus besonderen geschichtlichen Umständen hervorgegangen sind; einige stammen bereits aus einer ferneren Vergangenheit, während sich andere erst i n jüngerer Zeit gebildet haben. Die Umstände, i n denen sie leben, sind so unterschiedlich, daß es fast unmöglich ist, ein vollständiges Bild davon zu geben. Einerseits gibt es Gruppen, auch ziemlich kleine, die imstande sind, ihre eigene Identität zu bewahren und zu behaupten, und die i n die Gesellschaften, zu denen sie gehören, gut integriert sind. I n einigen Fällen gelingt es diesen Minderheitsgruppen sogar, die zahlenmäßige Mehrheit i m öffentlichen Leben zu beherrschen. Andererseits finden sich Minderheiten, die keinen Einfluß haben und ihre Rechte nicht voll wahrnehmen können, sondern vielleicht i n leidvollen und schwierigen Verhältnissen leben. Dieses kann solche Gruppen zu stumpfer Resignation, in einen Zustand der Agitation oder sogar zur Rebellion führen. Weder Passivität noch Gewalt sind jedoch angemessene Wege zu einem wahren Frieden. Einige Minderheiten haben noch eine weitere Erfahrung gemeinsam: nämlich abgesondert oder an den Rand geschoben zu werden. Es ist auch wahr, daß sich eine Gruppe manchmal bewußt dafür entscheiden kann, im Abseits zu leben, um die eigene Kultur zu schützen; noch häufiger aber kommt es vor, daß die Minderheiten vor Barrieren stehen, die sie von der übrigen Gesellschaft isolieren. Während sich die Minderheit i n einem solchen Fall i n sich selbst abzukapseln sucht, kann die mehrheitliche Bevölkerung eine ablehnende Haltung gegen die Minderheitsgruppe als ganze oder gegen ihre einzelnen Mitglieder einnehmen. Wenn das geschieht, sind sie nicht i n der Lage, aktiv und schöpferisch zu einem Frieden beizutragen, der sich auf die Annahme der berechtigten Unterschiede gründet. Grundprinzipien 3. I n einer nationalen Gesellschaft, die aus verschiedenen Menschengruppen besteht, gibt es zwei allgemeine Prinzipien, auf die unmöglich verzichtet werden kann; sie müssen sogar zur Grundlage jeder gesellschaftlichen Struktur gemacht werden. Das erste Prinzip ist die unveräußerliche Würde jeder menschlichen Person, ohne Unterschiede gleich welcher rassischen, ethnischen, kulturellen

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und nationalen Herkunft oder welchen religiösen Bekenntnisses; keine Person existiert für sich allein, sondern findet ihre vollere Identität erst in der Beziehung zu den anderen, zu Personen oder Gruppen. Dasselbe kann man auch von Gruppen von Menschen sagen. Denn auch sie haben ein Recht auf die Identität ihrer Gemeinschaft, die i n Übereinstimmung mit der Würde eines jeden Mitgliedes geschützt werden muß. Dieses Recht bleibt auch dann unveränderlich bestehen, wenn die Gruppe oder eines ihrer Mitglieder gegen das Gemeinwohl handeln sollte. I n solchen Fällen muß die mutmaßliche unerlaubte Handlung von den zuständigen Autoritäten geprüft werden, ohne daß die gesamte Gruppe deswegen verurteilt wird; denn das widerspräche der Gerechtigkeit. Die Mitglieder von Minderheiten sind ihrerseits verpflichtet, die anderen mit der gleichen Achtimg und Wertschätzimg ihrer Würde zu behandeln. Das zweite Prinzip betrifft die grundlegende Einheit des Menschengeschlechts, das seinen Ursprung i n einem einzigen Schöpfergott hat, der i n der Sprache der Heiligen Schrift „aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen hat, damit es die ganze Erde bewohne" (Apg 17, 26). Die Einheit des Menschengeschlechts besagt, daß die gesamte Menschheit über ihre ethnischen, nationalen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus eine Gemeinschaft bildet, die keine Diskriminierung unter den Völkern zuläßt und auf gegenseitige Solidarität ausgerichtet ist. Die Einheit verlangt auch, daß die Verschiedenheiten unter den Mitgliedern der Menschheitsfamilie für die Stärkung der Einheit selbst fruchtbar gemacht werden, anstatt neue Spaltungen zu verursachen. Die Verpflichtung, die Verschiedenheit anzunehmen und zu schützen, betrifft nicht nur den Staat oder die Gruppen. Jede Person als Mitglied der einen Menschheitsfamilie muß den Wert der Verschiedenheit unter den Menschen verstehen und achten und ihn auf das Gemeinwohl hinordnen. Ein offener Geist, der bestrebt ist, das kulturelle Erbe der Minderheiten, dem er begegnet, besser zu begreifen, w i r d dazu beitragen, Haltungen zu überwinden, welche gesunde gesellschaftliche Beziehungen behindern. Es handelt sich hierbei um einen Prozeß, der kontinuierlich fortgeführt werden muß; denn solche Haltungen wiederholen sich nur allzu oft unter neuen Formen. Der Friede innerhalb der einen Menschheitsfamilie erfordert eine konstruktive Entfaltung all dessen, was uns als Individuen und als Völker unterscheidet und unsere Identität darstellt. Auf der anderen Seite erfordert er eine Bereitschaft aller gesellschaftlichen Gruppen, mögen sie einen Staat bilden oder nicht, zum Aufbau einer friedlichen Welt beizutragen. Die Kleingruppe wie die Großgruppe sind an gegenseitige Rechte und Pflichten gebunden, deren Beachtung den Frieden festigen hilft. 16 Johannes Paul IL

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Rechte und Pflichten der Minderheiten 4. Eine der Zielsetzungen des Rechtsstaates ist es, daß alle Bürger sich gleicher Würde und gleicher Rechte vor dem Gesetz erfreuen können. Trotzdem stellt die Existenz von Minderheiten als erkennbare Gruppen innerhalb eines Staates die Frage nach ihren besonderen Rechten und Pflichten. Viele dieser Rechte und Pflichten beziehen sich gerade auf das Verhältnis, das zwischen den Minderheitsgruppen und dem Staat besteht. In einigen Fällen sind diese Rechte i n das Gesetzbuch aufgenommen worden, und die Minderheiten erfreuen sich dadurch eines besonderen Rechtsschutzes. Dennoch aber finden sich Minderheiten, auch wo der Staat einen ähnlichen Schutz zusichert, nicht selten Diskriminierungen ausgesetzt und sind tatsächlich ausgeschlossen: I n solchen Fällen hat der Staat selbst die Pflicht, die Rechte der Minderheitsgruppen zu fördern und zu begünstigen, da der innere Friede und die innere Sicherheit nur durch die Achtimg der Rechte all jener garantiert werden können, die seiner Verantwortung unterstehen. 5. Das erste Recht der Minderheiten ist das Recht auf Existenz. Dieses Recht kann auf verschiedene Weise mißachtet werden bis hin zu den extremen Fällen, i n denen es durch offenkundige oder indirekte Formen von Völkermord verneint wird. Das Recht auf Leben ist als solches unveräußerlich, und ein Staat, der Handlungen vornimmt oder duldet, die darauf abzielen, das Leben seiner Bürger, die Minderheitsgruppen angehören, zu gefährden, würde das elementarste Gesetz, das die soziale Ordnung regelt, verletzen. 6. Das Existenzrecht kann auch auf subtilere Weise beeinträchtigt werden. Einige Völker, besonders die sogenannten Eingeborenen und Urbewohner, haben zu ihrer Erde immer eine besondere Beziehung gehabt, die sich mit ihrer Identität selbst, mit den eigenen stammesmäßigen, kulturellen und religiösen Traditionen verbindet. Wenn die Eingeborenenbevölkerungen ihres Bodens beraubt werden, verlieren sie ein lebenswichtiges Element ihrer eigenen Existenz und laufen Gefahr, als Volk zu verschwinden. 7. Ein anderes Recht, das es zu schützen gilt, ist das Recht der Minderheiten, die eigene Kultur zu bewahren und zu entfalten. Es ist nicht selten, daß Minderheitsgruppen von kultureller Auslöschung bedroht werden. An einigen Orten ist nämlich eine Gesetzgebung eingeführt, die ihnen das Recht, ihre eigene Sprache zu sprechen, nicht anerkennt. Manchmal werden auch Herkunfts- und Landschaftsnamen zwangsweise geändert. Dann wieder sehen die Minderheiten ihre künstlerischen und schriftstellerischen Ausdrucksformen ignoriert und finden i m öffentlichen Leben keinen Raum für ihre Feste und Feiern, was zum Verlust eines beträchtlichen kulturellen

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Erbes führen kann. Eng mit diesem Recht verbunden ist jenes, mit Gruppen Beziehungen zu unterhalten, die ein gemeinsames kulturelles und geschichtliches Erbe haben und auf dem Territorium anderer Staaten leben. 8. A n diesem Punkt w i l l ich nur kurz das Recht auf Religionsfreiheit erwähnen, da dieses schon der Gegenstand der Botschaft zum Weltfriedenstag des vergangenen Jahres gewesen ist. Dieses Recht steht außer den einzelnen Personen allen religiösen Gemeinschaften zu und schließt die freie individuelle und gemeinschaftliche Bekundung der religiösen Überzeugung mit ein. Daraus folgt, daß es den religiösen Minderheiten möglich sein muß, ihren K u l t gemeinschaftlich nach den eigenen Riten zu feiern. Sie müssen auch imstande sein, durch einen geeigneten Unterricht für die religiöse Erziehung Sorge zu tragen und über die notwendigen Mittel zu verfügen. Ferner ist es sehr wichtig, daß der Staat den Schutz der Religionsfreiheit wirksam sichert und fördert, besonders wenn es neben einer starken Mehrheit von Gläubigen einer bestimmten Religion eine oder mehrere Minderheitsgruppen gibt, die einem anderen Bekenntnis angehören. Schließlich muß den religiösen Minderheiten eine entsprechende Freiheit für Kontakte und Beziehungen mit anderen Gemeinschaften garantiert werden, sowohl innerhalb wie auch außerhalb der eigenen nationalen Grenzen. 9. Die Grundrechte des Menschen sind heute i n verschiedenen internationalen und nationalen Dokumenten offiziell anerkannt. So wichtig auch solche rechtlichen Instrumente sein können, sie genügen noch nicht, um Haltungen zu überwinden, die i n Vorurteilen und Mißtrauen tief verwurzelt sind, noch um jene Denkweisen auszumerzen, die zu direkten Handlungen gegen Mitglieder von Minderheitsgruppen verleiten. Die Übertragung des Gesetzes in das konkrete Verhalten bildet einen langen und langsamen Prozeß, besonders i m Blick auf die Überwindung von ähnlichen Haltungen, aber darum ist dieser Prozeß nicht weniger dringend. Nicht nur der Staat, sondern auch jeder einzelne hat die Pflicht, das Mögliche zu tun, um dieses Ziel zu erreichen. Der Staat kann jedoch dabei eine wichtige Rolle ausüben durch die Förderimg von kulturellen Initiativen und Begegnungen, die das gegenseitige Verständnis erleichtern, wie auch von Erziehungsprogrammen, die dazu beitragen, die jungen Menschen zur Achtimg gegenüber den anderen anzuleiten und alle Vorurteile zurückzuweisen, von denen viele auf Unwissenheit beruhen. Hierbei haben auch die Eltern eine große Verantwortung, da die Kinder viel durch Beobachtung lernen und so geneigt sind, die Haltungen der Eltern gegenüber anderen Völkern und Gruppen zu übernehmen. Es besteht kein Zweifel, daß die Entwicklung einer Kultur, die auf der Achtung gegenüber den anderen gründet, für den Aufbau einer friedlichen 16*

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Gesellschaft wesentlich ist; leider aber ist es auch evident, daß die konkrete Verwirklichung einer solchen Achtung heute noch auf nicht geringe Schwierigkeiten stößt. Konkret muß der Staat darüber wachen, daß keine neuen Formen der Diskriminierung entstehen, wie z. B. bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Die Maßnahmen der öffentlichen Einrichtungen i n diesem Bereich werden lobenswerterweise oft durch großzügige Initiativen freiwilliger Vereinigungen, religiöser Organisationen und Personen guten Willens ergänzt, die darauf abzielen, die Spannungen abzubauen und eine größere soziale Gerechtigkeit zu fördern, indem sie den vielen Brüdern und Schwestern helfen, eine Beschäftigung und eine würdige Unterkunft zu finden. 10. Heikle Probleme entstehen, wenn eine Minderheitsgruppe Forderungen stellt, die besondere politische Verwicklungen mit sich bringen. Mitunter strebt eine solche Gruppe nach Unabhängigkeit oder zumindest nach einer größeren politischen Selbständigkeit. Ich möchte erneut betonen, daß i n dieser heiklen Lage Dialog und Verhandlungen der verpflichtende Weg sind, um den Frieden zu erreichen. Die Bereitschaft der Parteien, sich gegenseitig anzunehmen und miteinander zu sprechen, ist eine unerläßliche Voraussetzung, um zu einer gerechten Lösung verwickelter Probleme zu gelangen, die den Frieden ernsthaft bedrohen können. Hingegen kann die Verweigerung des Dialogs der Gewalt Tür und Tor öffnen. I n manchen Konfliktsituationen maßen sich terroristische Gruppen ungebührlicherweise das ausschließliche Recht an, i m Namen der Minderheiten zu sprechen, wodurch sie diese der Möglichkeit berauben, sich frei und offen ihre eigenen Vertreter zu wählen und ohne Einschüchterungen nach angemessenen Lösungen zu suchen. Ferner leiden die Mitglieder dieser Minderheiten selbst nur allzu oft unter den Gewaltakten, die mißbräuchlicherweise i n ihrem Namen verübt werden. Anhören mögen mich diejenigen, die den unmenschlichen Weg des Terrorismus eingeschlagen haben: Blind zuschlagen, Unschuldige töten oder blutige Repressalien durchführen begünstigt keineswegs eine gerechte Würdigimg der von den Minderheiten erhobenen Forderungen, für die jene sich angeblich einsetzen! (vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 24). 11. Jedes Recht bringt entsprechende Pflichten mit sich. Auch die Mitglieder der Minderheitsgruppen haben Pflichten, die ihnen gegenüber der Gesellschaft und dem Staat, i n dem sie leben, obliegen: an erster Stelle jenem, wie alle anderen Bürger für das Gemeinwohl mitzuwirken. Denn auch die Min-

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derheiten haben zur Schaffung einer friedlichen Welt, die die reiche Vielfalt aller ihrer Bewohner widerspiegelt, ihren spezifischen Beitrag zu leisten. Zweitens hat eine Minderheitsgruppe die Pflicht, die Freiheit und die Würde eines jeden ihrer Mitglieder zu fördern und die Entscheidungen eines jeden einzelnen von ihnen zu achten, auch wenn einer sich entscheiden sollte, sich der Kultur der Mehrheit anzuschließen. In Situationen wirklichen Unrechts kann den Minderheitsgruppen, die ins Ausland ausgewandert sind, die Aufgabe zufallen, für die Mitglieder ihrer Gruppe, die in der Heimat weiterhin unterdrückt werden und ihre Stimme nicht erheben können, die Achtung ihrer legitimen Rechte zu fordern. I n diesen Fällen muß man aber große Klugheit walten lassen und klar unterscheiden, besonders dann, wenn man nicht i n der Lage ist, objektive Informationen über die Lebensverhältnisse der betroffenen Bevölkerung zu erhalten. Alle Mitglieder von Minderheitsgruppen, wo immer sie sich befinden, müssen die Berechtigimg ihrer Forderungen i m Licht der geschichtlichen Entwicklung und der konkreten Wirklichkeit bewußt abwägen. Dies nicht zu tun, würde das Risiko mit sich bringen, in der Vergangenheit gefangen und ohne Perspektive für die Zukunft zu bleiben.

Um Frieden zu schaffen 12. In den vorhergehenden Überlegungen zeichnen sich die Umrisse einer gerechteren und friedlicheren Gesellschaft ab. Wir alle sind verpflichtet, zu deren Herbeiführung mit allen unseren Kräften beizutragen. Ihre Verwirklichimg erfordert einen hohen Einsatz, um nicht nur die offenkundige Diskriminierung, sondern auch alle jene Barrieren zu beseitigen, die die Gruppen trennen. Die Versöhnung i n Gerechtigkeit, die die berechtigten Erwartungen aller Mitglieder der Gemeinschaft achtet, muß die Regel sein. Über allem und i n allem findet das geduldige Bemühen, um das Zusammenleben friedlich zu gestalten, Kraft und Vollendung in der Liebe, die alle Völker umfängt. Diese Liebe kann sich i n unzähligen konkreten Formen i m Dienst an der rechten Vielfalt des Menschengeschlechtes ausdrücken, das eines ist durch Herkunft und Bestimmung. Das wachsende Bewußtsein, das man heute auf allen Ebenen für die Lage der Minderheiten wahrnimmt, ist in unserer Zeit ein Zeichen begründeter Hoffnung für die neuen Generationen und für die Erwartungen dieser Minderheitsgruppen. Denn die Achtung ihnen gegenüber muß i n gewisser Weise als der Prüfstein für ein harmonisches gesellschaftliches Zusammenleben und als Beweis für die von einem Land und seinen Einrichtungen erreichte

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gesellschaftliche Reife angesehen werden. I n einer wirklich demokratischen Gesellschaft den Minderheiten die Teilnahme am öffentlichen Leben zu gewährleisten, ist ein Zeichen für einen gehobenen gesellschaftlichen Fortschritt. Er gereicht all jenen Nationen zur Ehre, i n denen allen Bürgern i n einem Klima wirklicher Freiheit eine solche Teilnahme garantiert ist. 13. Schließlich möchte ich einen besonderen Aufruf an meine Schwestern und Brüder i n Christus richten. Wir alle wissen i m Glauben, welches auch unser ethnischer Ursprung sein mag und wo immer w i r leben, daß die einen und die anderen i n Christus „ i n dem einen Geist Zugang zum Vater" haben, weil w i r „Hausgenossen Gottes" geworden sind (vgl. Eph 2, 18. 19). Als Glieder der einen Familie Gottes können w i r unter uns keine Spaltungen oder Diskriminierungen dulden. Als der Vater seinen Sohn auf die Erde gesandt hat, hat er ihm eine universale Heilssendung aufgetragen. Jesus ist gekommen, damit alle „das Leben haben und es i n Fülle haben" (Joh 10, 10). Kein Mensch, keine Gruppe ist von dieser Sendung der einenden Liebe, die nun uns aufgetragen ist, ausgeschlossen. Auch w i r müssen beten, wie es Jesus am Vorabend vor seinem Tod mit den einfachen und erhabenen Worten getan hat: „Wie du, Vater, in mir bist und ich i n dir bin, sollen auch sie i n uns sein" (Joh 17, 21). Dieses Gebet muß unser Lebensprogramm und unser Zeugnis darstellen. Denn als Christen erkennen w i r einen gemeinsamen Vater an, der unter den Menschen keinen bevorzugt, „die Fremden liebt und ihnen Nahrung und Kleidung gibt" (Dt 10, 18). 14. Wenn die Kirche die Diskriminierung i m allgemeinen oder — wie i n dieser Botschaft — von jener besonderen spricht, welche die Minderheitsgruppen trifft, so wendet sie sich vor allem an die eigenen Mitglieder, wie immer auch ihre Stellung oder Verantworung innerhalb der Gesellschaft sein mögen. Wie es i n der Kirche keinen Platz für Diskriminierung geben kann, so kann auch kein Christ bewußt Strukturen oder Verhaltensweisen ermutigen oder fördern, die Menschen von Menschen, Gruppen von Gruppen trennen. Dasselbe muß auch denen gesagt werden, die zur Gewalt ihre Zuflucht nehmen und diese unterstützen. 15. Abschließend möchte ich meine geistige Verbundenheit mit jenen M i t gliedern von Minderheitsgruppen zum Ausdruck bringen, die zu leiden haben. Ich kenne ihre leidvolle Lage und die Gründe für einen berechtigten Stolz. Ich bete dafür, daß die Prüfungen, die sie erdulden, bald enden und alle sich i n Sicherheit ihrer Rechte erfreuen können. Meinerseits bitte ich

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um den Beistand des Gebetes, auf daß der Friede, den w i r suchen, immer mehr der wahre Friede sei, der auf den „Eckstein" (Eph 2, 20-22) erbaut ist, der Christus selber ist. Gott segne alle mit dem Geschenk seines Friedens und seiner Liebe. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1988. JOANNES PAULUS PP. U

U M FRIEDEN Z U SCHAFFEN, MINDERHEITEN ACHTEN Volksgruppen- und Minderheitenschutz

als europäische Aufgabe

Von Felix Ermacora

Nicht jede Minderheit ist eine Minderheit, das kann man heute nach dem Standard der gegenwärtigen Diskussion sagen! I n der Substanz hat die Botschaft Johannes Paul IL zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1989 recht. Diese Botschaft ist vom Humanitären uneingeschränkt zu begrüßen. Sie sollte die Minderheitenpolitik eines Staates bestimmen, aber auch für die Minderheiten selbst gilt diese Botschaft. Die humanitäre Botschaft des Heiligen Vaters zieht sich nicht auf die Positionen zurück, die i n der fordernden und abwägenden Staatspolitik gemacht werden. Die Botschaft spricht von Minderheiten i m allgemeinen, sie spricht von Eingeborenen und Ureinwohnern, von religiösen Minderheiten und sie zeigt, daß keine neuen Formen von Diskriminierungen wie z. B. bei der Wohnungs- und Arbeitssuche bestehen dürfen. Die Botschaft hat einen komplexen Begriff der Minderheit vor Augen. Hier gilt es, Klärendes hervorzuheben, w i l l man das Minderheitenproblem der Gegenwart juristisch und politisch richtig begreifen und nicht durch falsch verstandene Begriffe die politische Problematik verdecken, die heute mit dem Minderheitenproblem verbunden wird. Das humanitäre Anliegen der Botschaft ist zugleich ein menschenrechtliches, das jedermann betrifft. Aber i n der Staatspolitik und i n der Politik der internationalen Organisationen ist Minderheit nicht immer jene Minderheit, die es aus menschenrechtlichen Gründen zu schützen gelte.

I. Was versteht man unter einer Minderheit? Wenn die Staatspolitik und die internationalen Organisationen wie die Vereinigten Nationen und der Europarat, aber auch die EG und die KSZE von Minderheiten, die schutzwürdig sind, sprechen, so meinen sie damit die sogenannten „nationalen Minderheiten " (Ausdruck i n der europäischen Terminologie) 1 oder sie meinen sprachliche, ethnische und religiöse Minderhei-

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ten (Ausdruck der UN-Terminologie) 2 , sie meinen i n keinem Fall Minderheiten, deren Angehörige Arbeit und Wohnung suchen, die Zigeuner und Asylanten sind. Diese werden i n der modernen Terminologie als „neue Minderheiten" bezeichnet. 3 Nach dem derzeitigen Stand der internationalen Diskussion, die von den Staatspraktiken und der Völkerrechtswissenschaft bestritten wird, genießen nur die „klassischen Minderheiten" — wenn überhaupt — internationalen oder nationalen Schutz als Minderheit, die übrigen Kategorien von Menschengruppen werden als Minderheitengruppen nicht für schutzwürdig angesehen. Wenn überhaupt, so gibt es zwei Gruppen von Minderheiten: die Minderheiten nach internationalem und zumeist nationalem Recht und Gruppen i n einer Minderheitenposition, die nicht Minderheiten im Rechtssinne sind. 4 Ist diese Unterscheidimg artifiziell oder hat sie ihren zureichenden Grund des Werdens und des Seins oder ist sie gar willkürlich? Die Unterscheidung ist aus der Entwicklung des Minderheitenbegriffes einerseits und aus der gegenwärtigen Bevölkerungsbewegung i n Europa andererseits zu verstehen. 5 Die Begriffe ethnische, sprachlich, religiöse und rassische Minderheiten haben sich jedenfalls seit dem 19. Jahrhundert allmählich an Hand der Staatenpraxis herausgebildet. 6 Sie haben sich seit dem Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit verfestigt und sind zum festen Bestandteil der Dogmatik und der Lehre geworden. 7 Von diesen Gesichtspunkten aus hat es bis zum Beginn der Aera der Vereinigten Nationen keinen Zweifel und keinen wie immer gearteten Einbruch i n die Doktrin gegeben. Als eine wesentliche Voraussetzung, daß eine Gruppe von Menschen überhaupt als Minderheitengruppe angesehen werden konnte, war die Charakteristik der Seßhaftigkeit und der Staatsangehörigkeit jenes Staates, i n dem die Menschen traditionsgemäß leben. Minderheitenschutz wurde, wenn 1 Der Ausdruck „nationale Minderheiten" findet sich im Art. 14 der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten (im folgenden EMRK abgekürzt). 2 Der Ausdruck in der UN-Terminologie findet sich im Art. 27 des Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte (im folgenden Pakt abgekürzt). Die Texte finden sich in der Ausgabe Felix Ermacora (Hrsg.), Internationale Menschenrechtstexte, 3. Auflage, 1982, Reclam 7956. 3 Der Ausdruck ist in der internationalen Terminologie gängig geworden. 4 Dazu gehören vor allem die in Frankreich siedelnden Bretonen und Katalanen, die von Frankreich nicht als Minderheiten im Rechtssinne anerkannt werden. s Über die Entwicklung des Minderheitenbegriffes siehe Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Bd. I 1974, S. 349 ff. 6 Ebenda. 7 Siehe dazu Ermacora, The protection of minorities before the United Nations, in: Receuil des Cours, vol. 182 (1984), S. 251 ff.

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überhaupt, nur Gruppen zuerkannt, die sich durch sprachliche, ethnische, religiöse, rassische Merkmale von der Mehrheit der Bürger in einem gegebenen Territorium unterschieden . Und an diesen Charaktermerkmalen der Angehörigen einer Gruppe und der Gruppe selbst, hat man i n Definitionen und Staatspraktiken weitgehend festgehalten. Die meistanerkannten Definitionen i n diesem Bereich stammen von Capotorti und Dechäne. 8 Moderne, besser progressive Theoretiker, die auch die neuen Minderheiten berücksichtigen wollen, sind gegen diese Definition bis jetzt vergebens angegangen. Wenn es also einen spezifischen Minderheitenschutz gibt oder einen Schutz vor rassischer Diskriminierung, 9 dann kommt er nach geltendem Völkerrecht, aber auch nach geltendem nationalen Recht nur dieser Kategorie von Menschen zu, deren Schicksal gegenüber die Vereinten Nationen „nicht indifferent" sein wollen. 1 0 Es wäre aber verfehlt anzunehmen, daß Personen, die sich durch ethnische, sprachliche, religiöse, rassische Merkmale von anderen Menschen i n einem Staate unterscheiden, aber nicht zu Minderheiten im obigen Sinne gehören, Freiwild i n Europa wären. Nein, sie genießen die allgemeinen Menschenrechte , in deren Mittelpunkt vor allem das Diskriminierungsverbot 11 steht, aber sie genießen keine Gruppenrechte, sieht man von der Vereins- und Versammlungsfreiheit ab, die ihnen auch als Ausländer zukommt. 1 2 Für sie gilt selbstverständlich auch das Verbot, ihnen mit dem Vorurteil zu begegnen. Diese Personenkategorien stehen darüber hinaus i n einem, nicht immer befriedigenden, aber dennoch i n einem Rechtsstatus, der durch spezielle Normen abgedeckt ist, das Asyl- und Flüchtlingsrecht, das Fremdenrecht, das Ausländerbeschäftigungsrecht, das Recht der EG, zu dem die sogenannten vier Freiheiten gehören. Solange es i n Europa keine einheitliche Staatenpolitik gibt, Fremden Minderheitenqualität zuzuerkennen, wird man daran festzuhalten haben, daß auf sie spezieller Minderheitenschutz nicht anwendbar ist.

8 Capotorti F., Study of the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, New York 1979. Sales Nr. E. 78. XIV. 1; Dechfenes' Definition findet sich u. a. in der von dem Sekretariat der U N erarbeiteten Kompilation im U N Dokument E / CN. 4 /1191 / WG. 5 / CRP. 1. 0 In diesem Zusammenhang sind vor allem die Deklaration und das Internationale Übereinkommen über das Verbot rassischer Diskriminierung zu erwähnen, wobei der Begriff des Rassischen auch die ethnische Herkunft mit erfaßt. Siehe die entsprechenden Texte in der in Anm. 2 genannten Ausgabe. io Dazu gehört vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Menschenrechtspakte sowie die verschiedenen Formen des DiskriminierungsVerbotes, siehe die Texte in der in Anm. 2 genannten Ausgabe. Die Ermahnung an das Nicht-"indifferent"-Bleiben findet sich vor allem in der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 217 C (HE) v. 10.12.1948. 12 Siehe z. B. Art. 11 MRK.

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Obwohl sich für europäische Ureinwohner wie die Lappen (Sami) allmählich der Ausdruck „eingeborene Minderheiten" (indigenous minorities) einzubürgern scheint, werden sie i n der Arbeit der Vereinten Nationen nicht zu den Minderheiten gerechnet, sondern sie genießen einen privilegierteren Status als Minderheiten. 13 Es gibt aber keinen international rechtlich fixierten Ausdruck von Minderheiten, so daß die Anerkennung von Minderheiten zur innerstaatlich zu bestimmenden Angelegenheit gehört. 14

II. Der aktuelle Anlaß Die Botschaft des Papstes zum 1. Januar 1989 wurde zu einem Zeitpunkt verkündet, als niemand voraussehen konnte, daß der Minderheitenschutz binnen zweier Jahre zu einem der brennendsten euroäischen Problem werden sollte. Weder haben sich die Friedensverträge von 1947, der Europarat noch die EG seit ihrer Entstehung i n den Jahren 1950 und 1957 ernsthaft um den Minderheitenschutz gekümmert. Die Existenz von Minderheiten wollte nicht tangiert werden. Dort, wo es besonders gewichtige Fragen dieser Art i m westlichen Europa gegeben hat, hat man sich auf bilaterale Weise um die friedliche Lösimg der Probleme bemüht. Die Behandlung der Südtirolfrage ist ein herausragendes Beispiel. 15 I m Europäischen Osten jedoch vertrauten die Staatsführungen nach 1948 der stalinistisch-leninistischen Ideologie, um den schwelenden Problemen Herr zu werden oder man setzte auf die Druckmittel des Nationalismus, wie i n Rumänien. 16 Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime i m Osten Europas ist der Griff der kommunistischen Parteien, der sich um Volksgruppen und Minderheiten klammerte, verschwunden. Der Wille zur Identität unterdrückter Minderheiten und Völkerschaften wurde frei. Selbstbestimmungsforderungen und das Verlangen nach einem wirksamen Volksgruppen- und Min13 Siehe dazu die Ausführungen bei Ermacora in Anm. 7, S. 279 f., insbesondere die entsprechende Ergänzung in der deutschen Übersetzung dieser Vorlesungsreihe F. Ermacora, Der Minderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen, Ethnos 31 (1988). i* Während die gegenwärtige internationale Diskussion zumindest unter den europäischen Staaten dazu neigt, Minderheitenfragen nicht mehr ausschließlich in die innerstaatlichen Wirkungsbereiche fallend (Art. 2 Z. 7 der Charta) anzusehen, ist die Frage der Anerkennung einer Minderheit noch immer primär wesentlich eine innerstaatliche Angelegenheit. 15 Siehe dazu die Übersichten bei Ermacora, Südtirol und das Vaterland Österreich, 1984. iß Siehe dazu die heute noch immer gültige Übersicht in dem Beitrag von Ermacora, Bedrohtes Volkstum, in Willms (Hrsg.), Handbuch zur Deutschen Nation, Bd. 2,1987, S. 501 ff.

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derheitenschutz sind aufgebrochen. Der Europarat hat als erster die Notwendigkeit erkannt, Versäumnisse nachzuholen. I n seinem Schöße sind zwei Konventionsentwürfe erarbeitet worden, die heute i n politischer Beratimg stehen. 17 Die KSZE hat i n der Konferenz zu Kopenhagen (Juni 1990) der Minderheitenfrage breiten Raum eingeräumt, und heute verharrt man i n diesem Bereich auf einem grundlegenden Bekenntnis zu Minderheiten- und Volksgruppenschutz. 18 Die Moskauer KSZE-Konferenz i m Oktober 1991 hat Grundlinien eines Streitschhchtungsmechanismus erarbeitet 19 , und das EGParlament bemüht sich seit Jahren um eine politische Leitlinie für einen Minderheitenschutz. 20 I m bilateralen Bereich haben sich die Bundesrepublik Deutschland und Polen sowie die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakei zu einem Bekenntnis für den Volksgruppenschutz durchgerungen. 21

ED. Offene Fragen Trotz dieser Bemühungen sind die Kernprobleme bis heute ungelöst gebheben. Diese grundlegenden Probleme sind: Kommt das Selbstbestimmungsrecht derheiten zu?

der Völker Volksgruppen und Min-

Wie hat eine Autonomie für Volksgruppen und Minderheiten auszusehen, welches sind die Mindestkriterien einer solchen Autonomie? Wie hat ein internationales gruppen auszusehen?

Garantiesystem für Minderheiten und Volks-

Sind es die Gruppen selbst, die zu schützen sind, oder genügt es, den Angehörigen von Minderheiten und Volksgruppen Rechte einzuräumen und Pflichten aufzuerlegen; wo hegt der Mindeststandard? 17 Siehe den Text der European Commission for the democracy through law: Preliminary Draft European Convention of Minorities und den Text der Standing Conference on regional Languages in Europe, European Charter for regional and minority languages. is Siehe vor allem das Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE v. 29. 6. 1990. iß Document of the Moscow Meeting of the Conference on Human Dimensions of the CSCE. 20 Entwurf einer Charta der Volksgruppenrechte in den Staaten der Europäischen Gemeinschaften, Doc. PE 121.211. 21 Siehe den Art. 2 0 Abs. 1 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, ähnlich im Art. 20 des deutsch-tschechischen Vertrages.

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Inwieweit ist die Forderung nach Loyalität einer Minderheit oder Volksgruppe zur Rechtspflicht zu erheben? Alle diese Fragen sind i n der Praxis nicht gelöst, um sie w i r d intellektuell und politisch nach wie vor gerungen. 22 Wenngleich es keinen geschlossenen Katalog von Minderheiten- und Volksgruppenrechten gibt, so haben die vergangenen 45 Jahre doch Rechtsregeln erzeugt, die Minderheiten und Volksgruppen zugute kommen können. Diese Rechtsregeln sind i m internationalen Recht i n verschiedenen Texten verstreut zu finden und binden zumeist alle europäischen Staaten. Zu diesen Regeln gehören: 23 das Verbot des Völkermordes einschlielich des Verbots der Vertreibung, das Verbot der Diskriminierung von Gruppen und Gruppenangehörigen aus Gründen, die i n ihrer ethnischen, sprachlichen, rassischen oder religösen Verschiedenheit liegen, das Gebot, Minderheitenangehörigen die Chance zu geben, ihre Gruppencharakteristika zu bewahren und damit — indirekt — das Gebot, die Gruppe als solche lebensfähig zu erhalten. Man konnte sich allerdings nicht entschließen, aus diesen niedergelegten Regeln einen schriftlichen Kodex zu formen.

IV. Hindernisse für Minderheitenschutz Das scheiterte bis jetzt an Staaten, die nicht gewillt sind, diesen kodifikatorischen Schritt zu tun. Es gibt eine Gruppe europäischer Staaten, die aus einer Reihe von Gründen dem Volksgruppen- und Minderheitenschutz gegenüber skeptisch sind: Frankreich, das ganz offen erklärt, auf seinem Territorium keine Minderheiten zu haben und sich daher an eine Minderheitenschutzverpflichtung in internationalen Texten nicht gebunden erachtet, 24 Griechenland und Zypern, die Mazedonier und die türkische Volksgruppe auf Zypern nicht als Volksgruppe anerkennen will, geschweige denn ihr eine eigentliche Staatlichkeit zuerkennt; Rumänien, das sich i n seinem „Nationalisierungs- und Assimilierungsprogramm" der ungarischen Volksgruppe gegenüber behindert sieht; Jugoslawien, das nunmehr bei der Anerkennung 22 Besonders hervorstechend das vom Wiener Institut für Staats- und Verwaltungsrecht im November 1991 veranstaltete Symposion über Volksgruppen- und Minderheitenfragen in Mittel- und Osteuropa, auf dem die wesentlichen dogmatischen Probleme für sich erörtert worden sind. 23 Ich habe diese Regeln in der in Anm. 7 angeführten Vorlesungsreihe, a. a. O, S. 303 ff., 310 ff. aufgezeigt und erörtert. 24 Herausragend ist der Vorbehalt der Republik Frankreich zum Art. 27 des Paktes, der von Frankreich als nicht anwendbar bezeichnet wird, weil es dort keine Minderheiten gebe.

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von Volksgruppen und Minderheiten fürchtet, daß der Verfall der Nichteinmischungsklausel dazu führen müßte, daß fremde Staaten und zwischenstaatliche Organisationen der jugoslawischen Eigenständigkeit den Gnadenstoß geben könnten; 2 5 die Türkei , die i m Armenien- und Kurdenproblem Volksgruppen und Religionsprobleme sieht, die sie zu größeren internationalen Verpflichtungen führen müßten, als sie schon übernommen hat.

V. Wirksamer Rechtsschutz Man erkennt somit, daß trotz der bedeutenden Ansätze zu neuem Volksgruppen- und Minderheitenschutz gewichtige Kräfte dem Fortschritt den Weg versperren. Die Staaten scheinen nur zögernd bereit zu sein, Rechtsschutz zu gewähren oder zuzulassen. Es muß aber zu allererst eine Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft sein, mit ihren Volksgruppen ohne ein verderbliches Vorurteil zu leben. Es bedarf für einen Minderheitenschutz gewisser staatlicher Rahmenbedingungen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört die demokratische Staatsform und hier wiederum der Parlamentarismus. Die demokratische Staatsform allein gewährt das Gespräch zwischen den politischen Gruppen 26 und das Parlament ist eine der Fora, wo dieses Gespräch öffentlich wird. Zu den Rahmenbedingungen gehört die Achtung der allgemeinen Menschenrechte, so wie sie i n der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossen worden ist, 2 7 aufgezeichnet sind. Dort findet sich auch die Achtimg des Rechtes auf Eigentum ausgesprochen. 28 Zum innerstaatlichen Rahmen eines Minderheitenschutzsystems gehört auch der soziale und wirtschaftliche Mindeststandard , wie er i n den meisten demokratischen Verfassungen vorgezeichnet ist. Ferner ist dazu ein richterliches Garantiesystem zu rechnen, durch das allein die Gewähr dafür geboten wird, daß Streitigkeiten auf friedlichem Wege beigelegt werden. I n einem solchen innerstaatlichen Rahmen kann der Schutz von Minderheiten und Volksgruppen gedeihen.

25 Siehe dazu den jüngstens erschienenen Aufsatz von J. Dengler. 26 Dazu hat H. Kelsen Grundlegendes ausgeführt in seiner Studie: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2 1929 (Neudruck 1963). 27 Siehe den Text in der in Anm. 2 angeführten Textsammlung. 28 Siehe den Art. 17 der Allgemeinen Erklärung.

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VI. Die „fürsorgende" Macht Auf internationaler Ebene drängt sich das Instrument der Schutzmacht auf. 2 9 Daß der Ausdruck i n bezug auf Minderheiten und Volksgruppen nicht korrekt ist, hat die Wissenschaft längst klargemacht. I m völkerrechtlichen Sinne bedeutet Schutzmacht vielmehr einen Staat, der die Interessen eines anderen Staates und seiner Bürger, die wegen eines Konfliktes international nicht vertreten sind, wahrnimmt. 3 0 U m diese A r t der Schutzmacht geht es in bezug auf Volksgruppen und Minderheiten nicht. Vielmehr ist es die fürsorgende Macht, die einen internationalen Status hat und für Volksgruppen und Minderheiten eintreten darf, ohne daß ihr Eintreten von vorneherein als eine Einmischimg i n fremde staatliche Angelegenheiten gesehen wird. Das beste Beispiel für die Fürsorge, die eine Macht einer Minderheit angedeihen läßt, ist das Schicksal der Südtiroler Minderheit in Italien. Hier hat sich Österreich, seit der Tiroler Landesteil von Italien i m Jahre 1920 annektiert worden ist, um die Belange Südtirols gekümmert. War diese Sorge i n der Zwischenkriegszeit von wenig Erfolg gekrönt, so hat Österreich seine Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen von 1946 effektiv wahrnehmen können. 3 1 Aber es gibt „vergessene Minderheiten, sie haben keine Schutzmacht. Dazu gehören vor allem die Zigeuner oder genuine Volksgruppen wie die Basken und Bretonen oder die Ladiner, die ohne staatliche Protektion um ihre Existenz kämpfen. Schutzmacht zu sein, ist eine sensible Funktion in den internationalen Beziehungen, weil die Effektivität des Eintretens einer Schutzmacht für eine Minderheit oder Volksgruppe davon abhängt, ob die Politik des Staates bereit ist, die Interessen der Volksgruppe oder Minderheit auch ernsthaft wahrzunehmen. Rasch w i r d ein Eintreten für eine Minderheit oder Volksgruppe als ein böswilliger A k t angesehen, vor dem ein Staat auch als Schutzmacht zurückschreckt. Vor allem, wenn andere lebenswichtige staatliche Interessen mit am Spiele stehen. I m menschenrechtlichen Bereich ist die Schutzmachtfunktion allen jeden Mitgliedern einer Konvention überantwortet, die mit dem Mittel der Staatenbeschwerde die Möglichkeit haben, wegen Menschenrechtsverletzungen gegen einen anderen Staat vor internationalen Organen aufzutreten. 32 Alle internationalen Menschenrechtsschutzsysteme 20 Zum Schutzmachtbegriff siehe Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, S. 933. 30 Eingehende Erörterung über diese Frage im Zusammenhang mit dem Minderheitenproblem von Hafner auf dem in Anm. 22 angeführten Symposion. In Druck. 31 Siehe die Verweise in dem Werk Ermacoras, Anm. 15 dieses Beitrages. 3

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kennen das Instrument der Staatenbeschwerde, doch genützt wurde dieses Instrument nur i n wenigen zählbaren Fällen aufgrund der europäischen Menschenrechtskonvention. 3 3 Aus den Erfahrungen mit diesen Staatenbeschwerden w i r d deutlich, daß dieses Instrument sensibel ist, zu dem nicht ohne öffentlichen Druck gegriffen wird. Die Tatsache, daß kein Staat für die Zigeuner oder die Kurden mit einer Staatenbeschwerde aufgetreten ist, spricht für sich. Dies wäre sowohl vor dem Europarat als auch vor Organen der Vereinten Nationen möglich.

VII. Zu einem internationalen Garantiesystem? Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma, sei es das Fehlen einer Schutzmacht, sei es das Versagen einer Schutzmacht, ist ein internationales Garantiesystem. Nur dieses kann die internationale Verantwortlichkeit für den Schutz von Minderheiten und Volksgruppen begründen. Es ist dies eine kollektive Verantwortung. 34 Das ist die wesentliche Bedeutung einer internationalen Garantie der Menschenrechte an und für sich und damit auch der Rechte zum Schutz für Minderheiten und Volksgruppen. Wenngleich die staatliche Verantwortlichkeit für Volksgruppen und Minderheiten zu allererst kommen muß, so w i r d i n der Gegenwart um die internationale kollektive Verantwortlichkeit gerungen, weil man so hofft, dadurch auf den Fortschritt i m nationalen Prozeß einwirken zu können. Europa ringt i m gegebenen Zeitpunkt um zwei Fragen, die lange Zeit in der Versenkung verschwunden waren: a) was muß der internationale Mindeststandard sein, der hinsichtlich des Inhaltes von Minderheiten- und Volksgruppenschutzrechten zu garantieren ist und b) wie kann dieser Mindeststandard am besten durchgesetzt werden? Der Mindeststandard, der inhaltlich zu garantieren ist, muß sich an den Bedürfnissn der Minderheiten und Volksgruppen orientieren. Und diese Bedürfnisse sind das Überleben und die Erhaltung der Identität der Minderhei-

32 Siehe dazu Art. 26 EMRK, Art. 41 Pakt u. a., kritische Ausführungen bei Ermacora, Über die Staatenbeschwerde in Fragen der Menschenrechte, FS-Bridel, 1968, S. 167. 33 Siehe dazu European Commission on Human Rights (Hrsg.), Stock Taking of the Practice of the European Commission on Human Rights, 1987. 34 Die Betonung über die kollektive Verantwortung für die Achtung der europäischen Menschenrechte findet sich erstmals im Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission im Falle Österreich gegen Italien, Appl 788/60.

Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten

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ten. Sie konzentrieren sich auf die Sprache, auf die schulische Bildimg, auf das Verbot der demographischen Veränderung, auf den Zugang zu öffentlichen Ämtern und auf die Verhinderung der Diskriminierung i n allen Lebensbereichen. Das sind die inhaltlichen Kernfragen, die es i n einem Schutzsystem zu garantieren gilt. Das sind die Grundbedürfnisse von Volksgruppen und Minderheiten, die es zu erkennen und zu achten gilt. Je nach der Lage der Minderheiten t r i t t dann noch die Autonomie hinzu, die — wie die Erfahrung lehrt — i m Bereich von Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie i n der lokalen Selbstverwaltung gewährt w i r d oder werden kann. Diese Grundbedürfnisse gilt es abzusichern. Diese Absicherimg kommt i n erster Linie dem Angehörigen einer Volksgruppe und Minderheit zu. Er muß berufen sein, ihre Rechte ohne Hinderung geltend zu machen. Das w i r d i m Fall der subjektiven Rechte geschehen können. Wenn es hingegen um Gruppenrechte geht, dann muß die Absicherung der Rechte der Gruppen selbst bzw. ihren Vertretern obliegen. Die Gruppen müssen eine Prozeßstandschaft erhalten. Politische Parteien oder Volksgruppenverbände müssen das Recht erhalten, für die Gruppe als solche einzutreten. 35 M i t welchen Mitteln ist das internationale Garantiesystem auszustatten? Die europäische Erfahrung der Gegenwart lehrt, daß das Individuum i m europäischen Menschenrechtssystem eine relativ sichere Garantie hat, daß Menschenrechte durchgesetzt werden können. 36 Hier gibt es drei Modelle, die kumulativ ineinandergreifen können. Diese Modelle hat das internationale Recht schon seit 1907 für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten entwickelt. 3 7 Sie sind auch i m Falle des internationalen Volksgruppen- und Minderheitenschutzes tauglich. Es handelt sich um die kontradiktorische Tatsachenermittlung i m Konfliktfalle, um die Vermittlung i m Konflikt und um die Entscheidung über eine Rechtsverletzung. Die letztere kann zwei Formen annehmen: eine schiedsrichterliche Entscheidimg, die auf Billigkeit gründet oder eine richterliche Entscheidung, die aufgrund geschriebenen Rechtes ergeht. Man hat den Eindruck, daß alle diese Modelle i n den derzeitigen Projekten eines europäischen Minderheiten- und Volksgruppenschutzes verwirklicht sind: i m KSZE-Mechanismus, 3 8 ' 3 9 und in den Plänen der E G . 4 0 35 Theodor Veiter hat diese Gesichtspunkte in seiner Schrift, Nationale Autonomie, 1938 klassisch herausgearbeitet. 36 Siehe darüber Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985. 37 Es handelt sich hier um das I. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten v. 18. 10. 1907. M Siehe vor allem das Moskauer Dokument, vgl. Anm. 19. 17 Johannes Paul IL

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Felix Ermacora

Diese Modelle schließen sich nicht ans. Sie ergänzen sich und konkurrieren sich nicht. Allerdings kann man nicht übersehen, daß es oft unterschiedliche Kräfte sind, die hinter den derzeitigen i m Entwurf befindlichen Instrumenten stehen. Sie können auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Das U m und Auf der Mechanismen und ihrer Effektivität hegt i n der Frage, was dann geschehen soll, wenn ein Staat, obwohl auf seinem Territorium Volksgruppen siedeln, nicht bereit ist, diese anzuerkennen und ihre Eigenart zu schützen oder wenn ein Staat sich über die Gebote eines internationalen Volksgruppen« und Minderheitenschutzes hinwegsetzt. Bis heute versagt das internationale Recht weitgehend, hier Abhilfe zu schaffen. Die internationale Zwangsordnung ist nicht so ausgeprägt, daß sie i n jedem Falle funktionieren könnte, es sei denn, die Staatengemeinschaft wäre bereit, i n kollektiver Verantwortlichkeit ihren Sanktionsmechanismus i n Gang zu setzen. 41 So muß man diese Frage der Entwicklung überlassen!

V m . Gegen falschen Nationalismus! Noch etwas anderes gilt es anzumerken. Wenn man die gegenwärtige Lage von Volksgruppen- und Minderheitenkonflikten beobachtet, so hat man den Eindruck, als würden sich die Völkerschaften als Nationalisten konfrontieren. Einmal mehr ist die Frage nach dem Wert von Nation und Nationalismus gestellt. 4 2 Sie hat mehr als ein Jahrhundert die internationalen Beziehungen i n Europa beherrscht. Die Frankfurter Paulskirche, die erste große demokratische Bürgerversammlung Mittel- und Osteuropas, soweit dieses i n das österreichische Kaiserreich eingegliedert war, führte zur ersten großen demokratischen Konfrontation von Wert und Reife von Nationen und Nationalitäten. Ich persönlich b i n der Auffassung, daß Nation und Volk Gemeinschaftwerte sind, die es zu erhalten gilt, daß aber der Nationalismus eine Pervertierung des Nationalen ist, auf dem Hegemonie, Rassenhaß und Vorurteil gründen. Gefährlich wäre es aber, die Gemeinschaftwerte mit der Verurteilung von Nationalismus zugleich zu verurteilen. Das gilt es zu vermeiden.

39 Siehe vor allem die Art. 48 ff. EKONV. 40 Siehe Anm. 20. 41 Einen solchen gibt es im europäischen Bereich nicht institutionalisiert, wohl aber im UN-Bereich. Staaten müßten sich auf das allgemeine Völkerrecht zurückziehen und wären hier mit der menschenrechtlichen Intervention wegen massiver und systematischer Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Siehe dazu Ermacora, Geiselbefreiung als humanitäre Intervention im Lichte der UN-Charta, von der Heydte Festschrift, 1977, S. 147 ff. 42 Siehe dazu Ermacora , Allgemeine Staatslehre, 1970,S.58ff.

Um Frieden zu schaffen, Minderheiten achten

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Und das richtig zu sehen und die Beurteilung in ein richtiges Lot zu bringen, muß einem Erziehungsprozeß überantwortet werden. Er kann vom Recht nur zum Teil, soweit es Rechtskultur gibt, bewältigt werden. Die Hauptsache ist i n den vrschiedenen Erziehungsprozessen zu erreichen: i m Elternhaus, i n der Schule, i n den Kirchen, aber auch i n den politischen Parteien.

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BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1990 „FRIEDE MIT GOTT, DEM SCHÖPFER FRIEDE MIT DER

GANZEN SCHÖPFUNG"

Einleitung 1. I n unseren Tagen bemerkt man ein wachsendes Bewußtsein dafür, daß der Weltfriede außer durch den Rüstungswettlauf , die regionalen Konflikte und die noch immer bestehenden Ungerechtigkeiten zwischen den Völkern und Nationen auch durch den Mangel an der gebührenden Achtung gegenüber der Natur, durch die Ausbeutimg ihrer Ressourcen und durch die fortschreitende Verschlechterung der Lebensqualität bedroht ist. Eine solche Situation schafft ein Gefühl der Ungewißheit und Unsicherheit, das seinerseits Formen von kollektivem Egoismus, Güterhäufung und eigenmächtigem Handeln begünstigt. Angesichts der verbreiteten Verschlechterung der Umwelt w i r d sich die Menschheit nunmehr dessen bewußt, daß sie nicht fortfahren kann, die Güter der Erde so zu gebrauchen, wie sie es in der Vergangenheit getan hat. Die öffentliche Meinung wie die verantwortlichen Politiker sind darüber in Sorge, Wissenschaftler der verschiedenen Fachbereiche erforschen die Ursachen. Es bildet sich so ein ökologisches Bewußtsein , das nicht unterdrückt werden darf, sondern vielmehr gefördert werden muß, so daß es sich weiterentwickelt und ausreift, indem es i n konkreten Programmen und Initiativen einen angemessenen Ausdruck findet. 2. Nicht wenige ethische Werte, die für die Entwicklung einer friedlichen Gesellschaft von grundsätzlicher Bedeutung sind, haben eine direkte Beziehung mit der Umweltfrage. Die gegenseitige Abhängigkeit vieler Herausforderungen, denen sich die heutige Welt stellen muß, unterstreicht die Notwendigkeit von koordinierten Lösungen, die in einer kohärenten sittlichen Weltanschauung gründen. Eine solche Sicht stützt sich für den Christen auf die religiösen Überzeugungen, die sich von der Offenbarung herleiten. Deshalb möchte ich am

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Papst Johannes Paul

Anfang dieser Botschaft auf den biblischen Schöpfungsbericht hinweisen und wünschen, daß jene, die unsere Glaubensüberzeugungen nicht teilen, hier ebenfalls nützliche Anregungen für eine gemeinsame Linie i n den Überlegungen und Initiativen finden können. I. „Gott sah, daß es gut war" 3. Auf den Seiten der Genesis, welche die erste Selbstoffenbarung Gottes an die Menschheit enthalten (Gen 1-3), wiederholen sich wie ein Refrain die Worte „ Gott sah, daß es gut war". Als Gott aber, nachdem er den Himmel und das Meer, die Erde und alles, was sie enthält, erschaffen hatte, Mann und Frau erschafft, ändert sich der Ausdruck i n bemerkenswerter Weise: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut„ (Gen 1, 31). Gott vertraute Mann und Frau die übrige Schöpfung an, und dann — so lesen w i r — ruhte er, „nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte" (Gen 2, 2). Die Berufung von Adam und Eva, an der Verwirklichimg des göttlichen Planes mit der Schöpfung teilzunehmen, forderte jene Fähigkeiten und Gaben heraus, die die menschliche Person von jeder anderen Kreatur unterscheidet, und begründete zugleich eine geordnete Beziehung zwischen den Menschen und allem Geschaffenen. Nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen, sollten Adam und Eva ihre Herrschaft über die Erde mit Weisheit und Liebe ausüben (Gen 1, 28). Durch ihre Sünde zerstörten sie jedoch die bestehende Harmonie, da sie sich vorsätzlich dem Plan des Schöpfers widersetzten. Das führte nicht nur zur Entfremdung des Menschen von sich selber, zu Tod und Brudermord, sondern auch zu einer gewissen Auflehnung der Erde ihm gegenüber (vgl. Gen 3,17-19; 4,12). Alles Geschaffene wurde der Vergänglichkeit unterworfen und wartet seitdem i n geheimnisvoller Weise darauf, befreit zu werden, um zusammen mit allen Kindern Gottes zur Freiheit und Herrlichkeit zu gelangen (vgl. Rom 8, 20-21). 4. Die Chinesen bekennen, daß sich i m Tod und i n der Auferstehung Christi das Werk der Versöhnung der Menschheit mit dem Vater vollzogen hat, der „durch ihn alles ... versöhnen (wollte). Alles i m Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut" (Kol 119-20). Die Schöpfung wurde so erneuert (vgl. Apk 21, 5). Über sie, die zuerst der „Sklaverei" des Todes und der Verderbnis unterworfen war (vgl. Rom 8, 21), hat sich ein neues Leben ergossen, während w i r „einen neuen Himmel und eine neue Erde (erwarten), i n denen die Gerechtigkeit wohnt" (2 Petr 3, 13). So hat der Vater uns „das Geheimnis seines Willens kundgetan, wie er es gnädig i m voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, i n Christus alles zu vereinen" (Eph 1, 10).

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5. Die biblischen Überlegungen erhellen besser die Beziehung zwischen dem menschlichen Handeln und der Integrität der Schöpfung. Wenn der Mensch vom Plane Gottes, des Schöpfers, abweicht, verursacht er eine Unordnung, die sich unausweichlich auf die übrige Schöpfung auswirkt. Wenn der Mensch nicht mit Gott i m Frieden ist, ist die Erde selbst nicht i m Frieden: „Darum soll das Land verdorren, jeder, der darin wohnt, samt den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels; auch die Fische i m Meer sollen zugrunde gehen" (Hos 4, 3). Die Erfahrung dieses „Leidens" der Erde ist auch jenen gemeinsam, die nicht unseren Glauben an Gott teilen. Denn die zunehmenden Verwüstungen in der Natur durch das Verhalten von Menschen, die gleichgültig sind gegenüber den innersten und doch klar erkennbaren Erfordernissen der Ordnung und der Harmonie, die i n ihr walten, hegen vor aller Augen. Man fragt sich darum mit Sorge, ob es für die hervorgerufenen Schäden noch eine Abhilfe geben kann. Es ist offensichtlich, daß eine geeignete Lösimg nicht einfach i n einer besseren Verwaltung oder i n einem weniger irrationalen Gebrauch der Ressourcen der Erde bestehen kann. Auch wenn man den praktischen Nutzen solcher Maßnahmen anerkennt, scheint es doch notwendig, zu den Ursachen vorzudringen und sich mit der tiefen moralischen Krise insgesamt auseinanderzusetzen, von der die Verschlechterung der Umwelt einer der besorgniserregendsten Aspekte ist . II. Die ökologische Krise: ein sittliches Problem 6. Einige Elemente der gegenwärtigen ökologischen Krise enthüllen auf deuthche Weise ihren sittlichen Charakter. Zu ihnen ist an erster Stelle die unterschiedslose Anwendung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts zu zählen. Viele i n jüngster Zeit gemachte Entdeckungen haben der Menschheit unleugbare Vorteile gebracht; ja, sie zeigen sogar, wie edel die Berufung des Menschen ist, verantwortlich am schöpferischen Wirken Gottes i n der Welt teilzunehmen. Man muß jedoch feststellen, daß die Anwendung einiger Entdeckungen am industriellen und landwirtschaftlichen Bereich langfristig negative Folgen verursacht. Das hat überdeutlich gezeigt, wie kein Eingriff in einen Bereich des Ökosystems davon absehen kann , seine Folgen in anderen Bereichen und allgemein für das Wohl künftiger Generationen mitzubedenken. Die allmähliche Verminderung der Ozonschicht und der daraus folgende „Serra-Effekt" haben durch die wachsende Verbreitung der Industrien, der großen städtischen Zusammenballungen und des Energieverbrauchs inzwischen kritische Dimensionen erreicht. Industriemüll, Gasprodukte aus der

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Papst Johannes Paul I

Verbrennung von fossilen Brennstoffen, unkontrollierte Abholzungs- und Kühlmittel wie von Spraygas: A l l das schadet bekanntlich der Atmosphäre und der Umwelt. Daraus leiten sich vielfältige meteorologische und atmosphärische Veränderungen ab, deren Wirkungen von Gesundheitsschäden bis zur möglichen künftigen Überschwemmung niedrig gelegener Landstriche reichen. Während i n einigen Fällen der Schaden vielleicht nicht mehr zu beheben ist, kann er i n vielen anderen Fällen noch aufgehalten werden. Es ist jedoch notwendig, daß die ganze menschliche Gemeinschaft — einzelne, Staaten und internationale Organisationen — ihre eigenen Verantwortungen ernsthaft wahrnimmt. 7. Das tiefste und schwerwiegendste Zeichen dafür, daß der ökologischen Frage moralische Implikationen innewohnen, besteht aber im Mangel an Achtung vor dem Leben, den man in vielen die Umwelt belastenden Verhaltensweisen antrifft. Oft gewinnen Produktionsgründe die Oberhand über die Würde des Arbeiters, und wissenschaftliche Interessen kommen vor dem Wohl der einzelnen Personen, wenn nicht sogar vor dem ganzer Bevölkerungsgruppen. I n solchen Fällen ist die Verschmutzung oder die Zerstörung der Umwelt Frucht einer verkürzten und unnatürlichen Sicht, die bisweilen eine echte und direkte Mißachtimg des Menschen darstellt. I n gleicher Weise werden feine ökologische Gleichgewichte durch eine unkontrollierte Zerstörung von Tier- und Pflanzenarten oder durch eine unvorsichtige Ausnutzung der Ressourcen gestört; und das alles — es empfiehlt sich, daran zu erinnern — gereicht, auch wenn es i m Namen des Fortschritts und des Wohlstands geschieht, i n Wirklichkeit nicht zum Vorteil der Menschheit. Schließlich kann man nicht ohne tiefe Sorge auf die ungeheuerlichen Möglichkeiten der biologischen Forschung blicken. Vielleicht ist man noch nicht imstande, die durch eine undifferenzierte genetische Manipulation und eine leichtfertige Entwicklung neuer Arten von Pflanzen und Formen von tierischem Leben der Natur zugefügten Störungen richtig abzuschätzen; ganz zu schweigen von nicht annehmbaren Eingriffen i n die Ursprünge des menschlichen Lebens selbst. Keinem entgeht, wie i n einem so heiklen Bereich die Gleichgültigkeit oder die Verweigerung fundamentaler ethischer Normen den Menschen an die Schwelle der Selbstzerstörung bringen. Die Achtung vor dem Leben und, an erster Stelle, vor der Würde der menschlichen Person ist die fundamentale inspirierende Norm eines gesunden wirtschaftlichen, industriellen und wissenschaftlichen Fortschritts.

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Die Komplexität des ökologischen Problems ist allen offenkundig. Es gibt jedoch einige Grundprinzipien, die unter Achtung der rechtmäßigen Autonomie und der besonderen Kompetenz derer, die sich dafür einsetzen, die Forschung auf geeignete und dauerhafte Lösungen ausrichten können. Es handelt sich um Prinzipien, die wesentlich sind für die Errichtimg einer friedlichen Gesellschaft, welche weder die Achtung vor dem Leben noch den Sinn für die Integrität des Geschaffenen außer acht lassen kann. III. Auf der Suche nach einer Lösung 8. Theologie, Philosophie und Wissenschaft stimmen i n der Sicht eines harmonischen Universums überein, d. h. i n der Vorstellung eines wirklichen „Kosmos", ausgestattet mit einer eigenen Integrität sowie einem inneren und dynamischen Gleichgewicht. Diese Ordnung gilt es zu respektieren : Die Menschheit ist berufen, diese Ordnung mit kluger Umsicht zu erforschen, zu entdecken und sie dann so zu gebrauchen, daß ihre Integrität erhalten bleibt. Andererseits ist die Erde wesentlich ein gemeinsames Erbe , deren Früchte allen zugute kommen sollen. „Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt", hat das II. Vatikanische Konzil neu betont (Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 69). Das schließt direkte Implikationen für unser Problem ein. Es ist nämlich ungerecht, daß einige wenige Privilegierte fortfahren, überflüssige Güter aufzuhäufen, indem sie vorhandene Ressourcen verschwenden, wenn gleichzeitig unzählige Menschen im Elend oder auf der Ebene des Existenzminimums leben. Es ist die dramatische Dimension des ökologischen Problems selbst, die uns lehrt, wie sehr die Gier und der Egoismus, sowohl i n ihrer individuellen wie kollektiven Ausprägung, der Ordnung des Geschaffenen entgegengesetzt sind, i n die auch die gegenseitige Abhängigkeit voneinander eingeschrieben ist. 9. Die Begriffe von Ordnung i m Universum und vom gemeinsamem Erbe unterstreichen beide die Notwendigkeit eines Verwaltungssystems der Ressourcen der Erde, das auf internationaler Ebene besser koordiniert ist. Die Dimensionen der Umweltprobleme überschreiten i n vielen Fällen die Grenzen der einzelnen Staaten: Ihre Lösung kann somit nicht allein auf nationaler Ebene gefunden werden. Es sind i n jüngsten Zeit einige verheißungsvolle Schritte auf ein solches internationales Vorgehen festzustellen, aber die vorhandenen Instrumente und Einrichtungen sind für die Entwicklung eines koordinierten Aktionsplanes noch unzureichend. Politische Hindernisse, Formen von überzogenem Nationalismus und wirtschaftliche Interessen, um nur an einige Faktoren zu erinnern, verlangsamen oder verhindern geradezu

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die internationale Zusammenarbeit und die Durchführimg wirksamer langfristiger Initiativen. Die betonte Notwendigkeit einer konzertierten Aktion auf internationaler Ebene führt gewiß nicht zu einer Verminderung der Verantwortung der einzelnen Staaten. Diese müssen nämlich nicht nur die approbierten Normen zusammen mit den Autoritäten anderer Staaten i n die Praxis umsetzen, sondern auch i m eigenen Innern eine angemessene sozio-ökonomische Ordnung fördern mit besonderer Aufmerksamkeit für die am meisten verwundbaren Bereiche der Gesellschaft. Jeder Staat hat i m Bereich des eigenen Territoriums die Aufgabe, der Verschlechterung der Atmosphäre und der Biosphäre vorzubeugen, indem er unter anderem die Auswirkungen der neuen technologischen oder wissenschaftlichen Entdeckungen aufmerksam kontrolliert und den eigenen Bürgern die Garantie bietet, nicht Umwelt verschmutzenden Faktoren oder Giftmüll ausgesetzt zu sein. Man spricht heute immer nachdrücklicher vom Recht auf eine sichere Umwelt als einem Recht, das i n eine den heutigen Erfordernissen angepaßte Charta der Menschenrechte aufgenommen werden muß. IV. Die Dringlichkeit

einer neuen Solidarität

10. Die ökologische Krise macht die dringende moralische Notwendigkeit einer neuen Solidarität deutlich, besonders i n den Beziehungen zwischen den Entwicklungsländern und den hochindustrialisierten Ländern. Die Staaten müssen sich immer solidarischer zeigen und sich einander ergänzen, indem sie gemeinsam die Entwicklung einer natürlichen, sozial friedlichen und gesunden Umwelt fördern. Man kann z. B. von den weniger industrialisierten Ländern nicht verlangen, auf die eigenen jungen Industrien gewisse restriktive Umweltschutznormen anzuwenden, wenn die Industriestaaten diese nicht selbst zuerst i n ihrem Innern anwenden. Ihrerseits dürfen die Länder, die sich auf dem Weg der Industrialisierung befinden, die von anderen Ländern i n der Vergangenheit begangenen Fehler moralisch nicht wiederholen, indem sie fortfahren, die Umwelt mit belastenden Produkten, exzessiven Abholzungen oder unbegrenzter Ausbeutung nicht regenerierbarer Ressourcen zu schädigen. I m selben Zusammenhang muß man auch dringend eine Lösung für das Problem der Behandlung und der Beseitigung des Giftmülls finden. Kein Plan, keine Organisation w i r d jedoch imstande sein, die als notwendig erkannten Veränderungen herbeizuführen, wenn die Verantwortlichen der Nationen der ganzen Welt nicht wirklich von der absoluten Notwendigkeit dieser neuen Solidarität überzeugt sind, die die ökologische Krise fordert

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und die für den Frieden wesentlich ist. Diese Notwendigkeit wird zugleich günstige Gelegenheiten für die Festigung der friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten bieten. 11. Man muß auch hinzufügen, daß kein richtiges ökologisches Gleichgewicht erreicht werden wird, wenn die strukturellen Formen der Armut i n der Welt nicht direkt angegangen werden. So haben z. B. die ländliche Armut und die Landverteilung i n vielen Ländern zu einer Landwirtschaft für den reinen Lebensunterhalt und zu einer Auslastung der landwirtschaftlichen Anbauflächen geführt. Wenn der Boden nichts mehr hervorbringt, siedeln viele Bauern i n andere Gebiete um, was oft den Prozeß unkontrollierter Abholzung verstärkt, oder sie lassen sich i n Ballungszentren der Städte nieder, die bereits arm an Strukturen und Dienstleistungen sind. Darüber hinaus sind einige stark verschuldete Länder dabei, ihre natürliche Lebensgrundlage mit der Folge nicht mehr gutzumachender ökologischer Schäden zu zerstören, nur um neue Exportgüter zu gewinnen. Es wäre jedoch nicht annehmbar, i n dieser Situation die Verantwortung für die negativen Umweltfolgen nur den Armen anzulasten, die sie verursacht haben. Vielmehr muß man den Armen, denen wie allen anderen die Erde anvertraut ist, helfen, ihre Armut zu überwinden; das verlangt aber eine mutige Strukturreform und neue Muster für die Beziehungen zwischen den Staaten und den Völkern. 12. Es gibt aber noch eine andere große Gefahr, die uns bedroht: den Krieg. Die moderne Wissenschaft verfügt leider schon über die Fähigkeit, die Umwelt für kriegerische Zwecke zu verändern, und ein solcher Eingriff könnte langfristig unvorhersehbare und noch schwerere Folgen haben. Obwohl internationale Verträge den chemischen, bakteriologischen und biologischen Krieg verbieten, ist es eine Tatsache, daß i n den Laboratorien die Forschimg für die Entwicklung neuer Angriffswaffen fortgesetzt wird, die imstande sind, die natürlichen Gleichgewichte zu verändern. Heute würde jeglicher Krieg auf Weltebene unschätzbare ökologische Schäden verursachen. Aber auch die örtlichen und regionalen Kriege, wie begrenzt sie auch sein mögen, zerstören nicht nur menschliches Leben und die Strukturen der Gesellschaft, sondern schaden auch dem Grund und Boden, indem sie die Ernten und die Vegetation vernichten sowie Gelände und Gewässer vergiften. Die den Krieg überleben, sind gezwungen, unter viel schwierigeren natürlichen Bedingungen ein neues Leben zu beginnen. Diese verursachen für sie wiederum Situationen von großen sozialen Schwierigkeiten mit negativen Konsequenzen auch für die Umwelt. 13. Die moderne Gesellschaft w i r d für das ökologische Problem keine Lösung finden, wenn sie nicht ihren Lebensstil ernsthaft überprüft. In vielen

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Teilen der Welt neigt er zu Hedonismus und Konsumismus und bleibt indifferent gegenüber den Schäden, die durch diese verursacht werden. Wie ich schon bemerkt habe, zeigt die Schwere der ökologischen Situation, wie tief die moralische Krise des Menschen ist. Wenn das Gespür für den Wert der Person und des menschlichen Lebens fehlt, interessiert man sich auch nicht mehr für die anderen und für die Erde. Einfachheit, Mäßigung, Disziplin und Opfergeist müssen das Leben eines jeden Tages prägen, auf daß nicht alle gezwungen werden, die negativen Konsequenzen zu tragen, die durch die Gleichgültigkeit von wenigen verursacht worden sind. Darum ist eine Erziehung zur ökologischen Verantwortung dringend notwendig: Verantwortung gegen sich selbst, Verantwortimg gegenüber den anderen: Verantwortung gegenüber der Umwelt. Es geht um eine Erziehimg, die nicht einfach auf dem Gefühl oder auf einer imbestimmten Augenblicksstimmung beruhen kann. Ihr Ziel darf weder ideologisch noch politisch sein noch kann ihr Ansatz sich auf die Ablehnung der modernen Welt oder auf den vagen Wunsch nach einer Rückkehr zum „verlorenen Paradies" stützen. Die richtige Erziehung zur Verantwortung beinhaltet eine authentische Bekehrung i n der Denk- und Verhaltensweise. Diesbezüglich haben die Kirchen und die anderen religiösen Einrichtungen, die governativen und nichtgovernativen Organismen, ja, alle Bereiche der Gesellschaft eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Die erste Erzieherin bleibt jedoch die Familie, i n der das K i n d den Nächsten zu achten und die Natur zu lieben lernt. 14. Schließlich kann man auch den ästhetischen Wert der Schöpfung nicht außer acht lassen. Der Kontakt mit der Natur ist i n sich selbst sehr erholsam, und die Betrachtung ihrer Schönheit schenkt Frieden und innere Ruhe. Die Bibel spricht oft von dem Wert und der Schönheit der Schöpfung, die berufen ist, Gott zu preisen (vgl. z. B. Gen 1, 4 ff.; Ps 8, 2; 104, 1 ff.; Weish 13, 3-5; Sir 39, 16.33; 43, 1-9). Vielleicht etwas schwieriger, aber nicht weniger intensiv kann die Betrachtung der vom menschlichen Genius geschaffenen Werke sein. Auch die Städte können eine ihnen eigene Schönheit haben, die die Menschen dazu veranlassen muß, ihre Umgebung zu schützen. Eine gute Städteplanung ist ein wichtiger Aspekt des Umweltschutzes, und der Respekt für die morphologischen Eigenschaften des Geländes ist eine unerläßliche Forderung für jede ökologisch richtige Ansiedlung. Insgesamt darf die Beziehung, die zwischen einer angemessenen ästhetischen Erziehung und der Erhaltung einer gesunden Umgebung besteht, nicht vernachlässigt werden.

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V. Die ökologische Frage: eine Verantwortung

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für alle

15. Die ökologische Frage hat heute solche Dimensionen angenommen, daß die Verantwortung alle betrifft. Ihre verschiedenen Aspekte, die ich dargestellt habe, zeigen die Notwendigkeiten von koordinierten Anstrengungen, um die entsprechenden Pflichten und Aufgaben der einzelnen, der Völker, der Staaten und der internationalen Gemeinschaft festzulegen. Das geschieht nicht nur i m gleichen Schritt mit den Versuchen, den wahren Frieden herzustellen, sondern es bekräftigt und verstärkt auch diese objektiv. Wenn man die ökologische Frage i n den umfassenderen Zusammenhang der Sache des Friedens i n der menschlichen Gesellschaft stellt, w i r d man sich besser dessen bewußt, wie wichtig es ist, darauf zu achten, was uns die Erde und die Atmosphäre zu erkennen geben: I m Universum besteht eine Ordnimg, die respektiert werden muß; die menschliche Person, ausgestattet mit der Möglichkeit freier Entscheidungen, hat eine schwere Verantwortung für die Erhaltung dieser Ordnung, auch i m Hinblick auf das Wohl künftiger Generationen. Die ökologische Krise — ich wiederhole es noch einmal — ist ein moralisches Problem. Auch die Männer und Frauen, die keine besonderen religiösen Überzeugungen besitzen, erkennen es aufgrund ihrer eigenen Verantwortung für das Allgemeinwohl als ihre Pflicht an, zur Sanierung der Umwelt ihren Beitrag zu leisten. U m so mehr müssen diejenigen, die an Gott, den Schöpfer, glauben und folglich überzeugt sind, daß i n der Welt eine fest umschriebene und zielstrebige Ordnung besteht, sich aufgerufen fühlen, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Die Christen insbesondere stellen fest, daß ihre Aufgaben i m Bereich der Schöpfung, ihre Pflichten gegenüber der Natur und dem Schöpfer Bestandteil ihres Glaubens sind. Sie sind sich folglich des weiten Feldes ökumenischer und interreligiöser Zusammenarbeit bewußt, das sich hier vor ihnen auftut. 16. Zum Schluß dieser Botschaft möchte ich mich noch direkt an meine Brüder und Schwestern der katholischen Kirche wenden, um sie an die wichtige Verpflichtung zu erinnern, für die ganze Schöpfung Sorge zu tragen. Der Einsatz des Gläubigen für eine gesunde Umwelt entspringt unmittelbar aus seinem Glauben an Gott, den Schöpfer, aus der Wertung der Folgen der Erbsünde und der persönlichen Sünden sowie aus der Gewißheit, von Christus erlöst zu sein. Die Achtung vor dem Leben und vor der Würde der menschlichen Person beinhaltet auch die Achtung vor und die Sorge für die Schöpfung, die berufen ist, mit dem Menschen zusammen Gott zu verherrlichen (vgl. Ps 148 und 96).

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Der hl. Franz von Assisi, den ich 1979 zum himmlischen Patron der Umweltschützer erklärt habe (vgl. Apost. Schreiben Inter sanctos: AAS 71 [1979], 1509 f.) bietet den Christen das Beispiel der authentischen und vollen Achtung vor der Integrität der Schöpfung. Als Freund der Armen und gehebt von Gottes Geschöpfen hat er alle — Tiere, Pflanzen, Naturkräfte, auch die Schwester Sonne und den Bruder Mond — eingeladen, den Herrn zu ehren und zu preisen. Vom Poverello von Assisi erhalten w i r das Zeugnis, daß wir uns i m Frieden mit Gott auf bessere Weise der Aufgabe widmen können, den Frieden mit der ganzen Schöpfung herbeizuführen, der vom Frieden unter den Völkern nicht zu trennen ist. Möge sein begeisterndes Vorbild uns helfen, den Geist der „Brüderlichkeit" mit allen guten und schönen Dingen, die vom allmächtigen Gott geschaffen sind, immer lebendig zu erhalten und uns an unsere schwere Pflicht erinnern, sie zu achten Lind mit Sorgfalt zu hüten i m Sinn umfassendster und tiefster menschlicher Brüderlichkeit. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1989. JOANNES PAULUS PP. E

FRIEDE MIT GOTT D E M SCHÖPFER, FRIEDE MIT DER GANZEN SCHÖPFUNG Von Hermann Haupt

I. Einleitung I n seiner Friedensbotschaft 1990 ruft der Papst eindringlich auf zum Schutz von Natur und Umwelt, zur vollen Verantwortung aller für die Schöpfung; und er versteht darunter eigentlich das A l l als Ganzes vom Makrokosmos bis zum Mikrokosmos . Aber das Schwergewicht seiner Überlegungen legt er natürlich auf unseren Planeten Erde und besonders auf die Menschen, die sie bewohnen. Und er meint, daß die Übereinstimmimg mit Gottes Plan („der Friede mit Gott") auch den Frieden der Menschen mit der ganzen Schöpfung, das heißt auch der Menschen untereinander, und damit ein insgesamt harmonisches Leben auf der Erde zur Folge hat.

n. Die Stellung der Erde im Kosmos Betrachten wir zunächst die Stellung der Erde i m Kosmos. Nur von einem Stern unter rund hundert Milliarden Fixsternen unserer Milchstraße (nämlich von der Sonne) wissen w i r sicher, daß er von neun großen Körpern, den Planeten, umkreist wirt. Neben den Wandelsternen gibt es noch eine Reihe von Kleinkörpern, Asteroiden, Kometen und Meteoriten i m Sonnensystem. Aber nur auf einem von diesen Begleitern der Sonne gibt es Leben: Auf unserer Erde. Um die Fixsterne, so auch um unsere Sonne, kann man ein Gebiet definieren, die Ökosphäre, wo die Strahlungsverhältnisse die Existenz von Leben erlauben. I n unserer Ökosphäre findet sich nun — wie gesagt — tatsächlich als fünftgrößter Planet die Erde i n einem so günstigen Abstand von der Sonne, daß die Temperaturen für das Leben erträglich und förderlich sind. Dabei wollen w i r hier unter Lebewesen die uns aus dem Alltag vertrauten Erscheinungsformen alles Lebendigen verstehen. Ein höheres Leben w i r d dann existieren können, wenn einerseits die Temperaturen so sind, daß H 2 0 (Wasser) i n flüssiger Form bestehen kann. Andererseits muß auch die zum

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Hermann Haupt

Atmen nötige Atmosphäre mit Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff und anderen Elementen und deren Verbindungen vorhanden sein. Wenn Menschen von Frieden im Weltraum sprechen, so meinen sie damit ausschließlich das Sonnensystem, das nach den Fortschritten der Raketentechnik tatsächlich i n den letzten Jahren für Menschen und ihre Raumflugkörper zugänglich geworden ist. I n der Diplomatensprache heißt dieser Bereich „outer space", i m Gegensatz zum inneren Bereich, dem Luftraum oder „aerespace". Die Vereinten Nationen haben ein ständiges Komitee eingesetzt zur friedlichen Nutzimg dieses „äußeren Weltraumes" („COPUOS" = Committee on the peaceful uses of outer space). Hier ergibt sich schon der erste Streitpunkt: Seit Jahrzehnten können sich die Staaten-der Welt nicht einigen, wo die Grenze zwischen dem „Luftraum" und dem „Weltraum" verläuft. Ersterer ist nämlich national und untersteht den Ländern, über denen er sich ausbreitet; letzterer hingegen ist international und daher für alle in grundsätzlich gleicher Weise zugänglich. Allerdings verfügen nur die Weltmächte über die technischen Möglichkeiten zur Beherrschung dieses „Weltraumes" durch ihre Raketen, denn alle anderen Länder können nur dann eigene Programme durchführen, wenn ihnen der Mitflug bei Raummissionen der Großen gestattet wird. Da aber dabei vielfach Atomkraft als Raketenantrieb benützt wird, bzw. auf dem militärischen Sektor sogar Atomwaffen geflogen werden, ist es i m Interesse gewisser Staaten, diese Grenze nicht genau zu definieren. Dabei wäre es vom wissenschaftlichen Standpunkt gar nicht so schwer, zu einer Einigung zu kommen: Dort, wo kein Ballon oder Flugzeug weiter aufsteigen kann, weil die Luft zu dünn wird, und dort, wo erdumlaufende Satelliten nicht mehr oben bleiben können, sondern abstürzen, weil die Atmosphärendichte zu groß ist, dort wäre diese Grenze festzusetzen. (Exakt ist dies mit einer gewissen zeitlich und örtlich variablen Bandbreite sicher durchführbar.) m . Gefahren des Unfriedens aus dem Weltraum Die friedliche Nutzung des Weltraumes beinhaltet ein breites Spektrum von positiv zu wertenden Anwendungen der Raumfahrt. Hochentwickelte Flugkörper erlauben uns heute, die ganze Erde mittels Fernerkundung zu überwachen. Dadurch ist es möglich, Wasser und Rohstoffvorräte aufzuspüren, das Wetter und seine kurz- und langfristigen Änderungen zu kontrollieren sowie die Landesvermessung auf globaler und sogar auf regionaler Ebene durchzuführen. Auch schädliche Einflüsse (wie das Abbrennen der Regenwälder, das „Ozonloch" usw.) können rasch erkannt und ihre Bekämpfung kann entsprechend zielstrebig angegangen oder zumindest unterstützt wer-

Friede mit Gott dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfung

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den. (Diese von uns Menschen verursachten und inzwischen weltweit bekanntgewordenen Schäden sind auch vom Papst i n seiner Botschaft explizit genannt und auf die Rücksichtslosigkeit und Profitgier der Erdenbewohner zurückgeführt worden.) Darüber hinaus helfen Satelliten auch bei der Verhütimg von Naturkatastrophen, etwa bei Vulkanausbrüchen oder Erdbeben. Nicht zu unterschätzen ist die heute zu großer wirtschaftlicher Bedeutung gelangte Nachrichtenübermittlung durch Satelliten, denn die weltweite Übertragung von Telefongesprächen, Radio- und Fernsehsendungen ist aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Hier zeigen sich aber gleich wieder neue Konfliktpunkte: Die Regierungen der Welt müßten sich darauf einigen, den Raum wirklich nur zum gemeinsamen Nutzen aller Staaten zu gebrauchen. Tatsächlich ist es aber so, daß den armen Ländern vielfach nicht diese Möglichkeit eingeräumt wird, weil sie nicht i n der Lage sind, die dafür geforderten horrenden Beträge zu bezahlen. Es entsteht also eine sehr starke Abhängigkeit der armen Entwicklungsländer von den reichen entwickelten Ländern. Des weiteren w i r d der Weltraum i n oft unverantwortlicher Weise mit M ü l l und Strahlung verseucht: Einerseits werden abgebrannte Antriebsstufen sowie abgesprengte Teile der Flugkörper einfach i m Weltraum belassen und jeder Abfall, der „beim Fenster hinausgeworfen wird", fliegt weiter mit i n der Bahn, die das zugehörige Raumschiff einnahm. Das könnte zunächst den Erdenbürgern egal sein, aber der Nutzen der extrem teuren wissenschaftlichen Experimente w i r d dadurch i n Frage gestellt. Bestimmte Zonen sind nämlich schon derart durch diesen M ü l l verunreinigt, daß man die eigentlichen Meßgeräte wieder über die ursprünglicheren Bahnen hinausbefördern muß, damit noch ein ersprießliches Resultat zu erwarten ist. Durch die zahlreichen Teile und Trümmer i n den einzelnen Bahnen kann es auch leicht zu Zusammenstößen kommen und der positive Effekt wird wieder zunichte gemacht. Da nur i n gewissen Frequenzbändern effizient gesendet werden kann, sind auch die Radiowellenbereiche bereits überfüllt, d. h. die Sendungen stören einander, und es kann kaum mehr etwas verbessert werden. Es müßte also getrachtet werden, die beschriebenen „Risiken" wieder zu vermindern, indem man, soweit dies technisch überhaupt möghch und finanziell verkraftbar ist, diesen M ü l l beseitigt oder durch geeignete „Ablagerung" unschädlich macht. Noch besser wäre es freilich, von Anfang an die Verseuchung des Weltraumes durch internationale Übereinkünfte zu verhindern. Es zeigt sich also i n allen diesen Fragen, daß — wie schon i n der Friedensbotschaft angedeutet — auch die Benützung des Weltraumes durch den Menschen eine starke moralische Komponente aufweist und daß ökologisches Verantwortungsbewußtsein friedensstiftend wirken kann. 18 Johannes Paul IL

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Hermann Haupt

IV. Friede zwischen Natur und Religion I n seinem Schreiben sagt der Papst ausdrücklich, daß jede Abweichung von Gottes Plan zwangsläufig Unordnung und Unfrieden i n der ganzen Natur zur Folge hat. Dies sollte i m vorigen Abschnitt an einigen Beispielen aus dem Weltraum illustriert werden. Nur eine moralische und letzten Endes religiöse Beziehung des Menschen zur Natur kann also ein Garant für den Frieden sein. Sind aber Religion und die den Kosmos erforschende Naturwissenschaft überhaupt vereinbar? Bilden nicht beide Bereiche in ihren Grundaussagen einen unüberbrückbaren Widerspruch? Besonders i m vorigen Jahrhundert hatte sich diese Frage zugespitzt: Die objektiv streng logisch und mathematisch argumentierende Naturwissenschaft schien nicht nur keinen Gott zu brauchen; sie betrachtete sich selbst als einsichtige Norm der Welterkenntnis schlechthin. Dem gegenüber schienen die auf Offenbarungen beruhenden Religionen i n manchen ihrer Aussagen i n direktem Widerspruch zur Naturwissenschaft geraten zu sein. Viele Äußerungen berühmter Naturwissenschaftler, Ärzte und Künstler sind uns i n diesem Zusammenhang überliefert, die sich deutlich vor allem gegen die christliche Religion richteten. Eine gezielte Maßnahme, die zeigen sollte, daß zwischen Religion und Naturwissenschaft kein Widerspruch besteht, war daraufhin unter anderem die Gründung der Vatikanischen Sternwarte durch Papst Leo X I I I . am 14. März 1891, also vor hundert Jahren. Die Kirche wollte damit das Streben nach menschlicher und göttlicher Wahrheit fördern und einen Beitrag zu einer der vornehmsten Wissenschaften der Menschheit einbringen. Dieses Institut hat sich bis heute zu einer erstklassigen, international hochangesehenen Forschungsstätte entwickelt, die unter Führung von Patres des Jesuitenordens bedeutende Beiträge zur Erforschimg des Kosmos geliefert hat und immer noch leistet. So nimmt es eigentlich wunder, daß auch heute noch viele Naturwissenschaftler und Astronomen ungläubig, agnostisch oder zumindestens völlig liberal sind. Einerseits sollte doch die Frage, woher das ganze Weltall stammt und warum es gerade so ist, wie es ist (das Problem der Kontingenz), zu denken geben. Andererseits könnte zumindest die Schönheit des Sternenhimmels und seiner durch modernste Farbfotos erschlossenen Tiefen die Bewunderung über diese herrliche Schöpfimg anregen. Tatsächlich ist für breite Schichten des „gewöhnlichen" Volkes das Firmament ein Faszinosum, zu dem viele voll Wißbegier und Ehrfurcht und mit vielen Fragen aufblicken. Sicher muß zugegeben werden, daß für manche dabei eine esoterische Komponente mitschwingt, aber als Berufsastronom ist man immer wieder über-

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rascht, wie viele auch i m täglichen Leben an den Wundern der Gestirne nicht vorbeischauen, sondern sensibel darauf reagieren. Nim ist es aber i n Wirklichkeit doch so, daß die Naturwissenschaft keine Gottesbeweise i m alten Sinn hef ern kann, die mathematisch-logisch die Existenz und Wirksamkeit eines göttlichen Wesens denknotwendig erfordern. Ebensowenig kann es auf der anderen Seite den Naturwissenschaften gelingen, die Existenz Gottes als Widerspruch zur menschlichen Vernunft und Forschung zu erweisen. Dies ist schon deswegen ganz unmöglich, weil Naturwissenschaften und Religion auf unterschiedlichen Ebenen arbeiten. Beide suchen zwar die Wahrheit, gehen aber nach ganz verschiedenen Methoden vor. Diese Einsicht ist heute weitgehend Allgemeingut geworden und w i r d durchwegs anerkannt. Wenn nun beide Bereiche letztlich die Wahrheit ansteuern — und es kann nur eine Wahrheit geben —, so müßten sie schlußendlich konvergieren und dieses gemeinsame Ziel widerspruchsfrei erreichen können. Es muß allerdings klar sein, daß nicht die Naturwissenschaft und die Religion irgendwann völhg zusammenfließen. Nein, nur im einzelnen Menschen kann es zu einer Synthese kommen: Er kann ein ganzer Wissenschaftler und trotzdem ein voll gläubiger Mensch sein. Und wenn er das wird, ja wenn alle Menschen so werden, dann ist die Übereinstimmung mit dem Plan Gottes sichergestellt, dann herrscht Friede mit dem Schöpfer und mit seiner ganzen Schöpfung.

18*

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1991 „WENN DU DEN

FRIEDEN WILLST, ACHTE DAS GEWISSEN JEDES MENSCHEN"

Die vielen Völker, die die eine Menschheitsfamilie bilden, suchen heute immer häufiger die tatsächliche Anerkennung und den Rechtsschutz der Gewissensfreiheit, die für die Freiheit jedes Menschen wesentlich ist. Den verschiedenen Aspekten dieser für den Frieden i n der Welt grundlegenden Freiheit habe ich bereits zwei Botschaften zum Weltfriedenstag gewidmet. Für das Jahr 1988 habe ich zur gemeinsamen Besinnung über die Religionsfreiheit eingeladen. Die Gewähr des Rechts, öffentlich und i n allen Bereichen des staatlichen Lebens seine religiösen Überzeugungen auszusprechen, stellt ein unerläßliches Element des friedlichen Zusammenlebens unter den Menschen dar. „Der Friede — schrieb ich zu jenem Anlaß — ist mit seinen Fundamenten tief i n der Freiheit und i n der Offenheit der Gewissen für die Wahrheit verankert" . 1 I m darauf folgenden Jahr führte ich diese Betrachtung weiter, indem ich einige Gedanken über die imbedingt notwendige Achtung der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten vorlegte, „eine der heikelsten Fragen i n der gegenwärtigen Gesellschaft ..., weil sie sowohl die Gestaltung des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens i m Innern eines jeden Landes als auch das Leben der internationalen Gemeinschaft betrifft". 2 Dieses Jahr möchte ich spezifische Betrachtungen anstellen über die Bedeutung der Achtung des Gewissens eines jeden Menschen als unerläßliches Fundament für den Frieden i n der Welt. I Gewissensfreiheit

und Friede

Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben i n der Tat dem Bedürfnis, konkrete Schritte zu unternehmen, um die volle Achtung der Gewissensfreiheit sowohl auf gesetzlicher Ebene wie i n den menschlichen Beziehungen zu gewährleisten, eine neue Dringlichkeit verliehen. Diese raschen Verände1 Botschaft zum Weltfriedenstag 1988, Einführung (O. R. dt., 18.12. 87, S. 1). 2 Botschaft zum Weltfriedenstag 1989, Nr. 3 (O. R. dt., 22. 12. 88, S. 1).

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rungen bezeugen mit aller Klarheit, daß die Person nicht wie eine Art Gegenstand behandelt werden kann, gelenkt ausschließlich von Kräften, über die sie keine Kontrolle hat. I m Gegenteil, trotz ihrer Hinfälligkeit entbehrt sie als Person nicht der Fähigkeit, aus freien Stücken das Gute zu suchen und kennenzulernen, das Böse zu erkennen und zurückzuweisen, sich für die Wahrheit zu entscheiden und sich dem Irrtum zu widersetzen. Denn als Gott den Menschen schuf, hat er ihm ein Gesetz ins Herz geschrieben, das jeder entdecken kann (vgl. Rom 2, 15), und das Gewissen ist eben die Fähigkeit, gemäß diesem Gesetz zu unterscheiden und zu handeln. Ihm zu gehorchen ist eben die Würde des Menschen. 3 Keine menschliche Autorität hat das Recht, in das Gewissen eines Menschen einzugreifen. Dieses ist auch gegenüber der Gesellschaft Zeuge für die Transzendenz des Menschen und als solches unantastbar. Es ist jedoch nicht ein über die Wahrheit und den Irrtum gestelltes Absolutes; ja, seine innerste Natur schließt die Beziehung zur objektiven, allgemeinen und für alle gleichen Wahrheit ein, die alle suchen können und sollen. I n dieser Beziehimg zur objektiven Wahrheit findet die Gewissensfreiheit ihre Rechtfertigung als notwendige Vorbedingung für die Suche nach der dem Menschen gemäßen Wahrheit, zu der alle verpflichtet sind, und für die Zustimmung zu ihr, sobald sie entsprechend erkannt wurde. Das schließt seinerseits ein, daß alle das Gewissen jedes Einzelnen achten müssen und nicht versuchen dürfen, irgendjemandem die eigene „Wahrheit" aufzudrängen, trotz des unverkürzt bestehenden Rechts, sich zu ihr zu bekennen, ohne freilich deshalb den Andersdenkenden zu verachten. Die Wahrheit setzt sich nur kraft ihrer selbst durch. Einem Menschen die volle Gewissensfreiheit, insbesondere die Freiheit zum Suchen nach der Wahrheit, zu verweigern oder der Versuch, ihm eine besondere Weise des Wahrheitsverständnisses aufzudrängen, läuft seinem innersten Recht zuwider. Es bewirkt auch eine Verschärfung der Abneigungen und Spannungen, die zu schwierigen und feindseligen Beziehungen oder sogar zu einem offenen Konflikt i m Innern der Gesellschaft zu führen drohen. Es ist also die Gewissensebene, wo sich das Problem, einen echten und dauerhaften Frieden zu gewährleisten, stellt und man sich wirksamer mit diesem Problem auseinandersetzen kann. II. Die absolute Wahrheit ist nur in Gott zu finden Die Gewähr für die Existenz der objektiven Wahrheit hegt i n Gott, der absoluten Wahrheit, und die Suche nach der Wahrheit ist auf der objektiven 3 Vgl. n. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt

von heute Gaudium et spes, Nr. 16.

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Ebene identisch mit der Suche nach Gott. Das sollte genügen, die innige Beziehung zwischen Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit zu beweisen. Andererseits erklärt sich so, warum die systematische Leugnung Gottes und die Errichtung eines Regimes, dessen konstitutives Element diese Leugnung Gottes ist, der Gewissensfreiheit wie auch der Religionsfreiheit diametral entgegengesetzt sind. Wer hingegen die Beziehung zwischen der letzten Wahrheit und Gott selbst anerkennt, w i r d auch den Nichtglaubenden nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht des Suchens nach der Wahrheit zuerkennen, das sie dann zur Entdeckung des göttlichen Geheimnisses und dessen demütiger Annahme führen kann. III. Gewissensbildung Jeder Mensch hat die ernste Pflicht, sein Gewissen zu bilden, und zwar i m Licht der objektiven Wahrheit, deren Kenntnis niemandem verweigert w i r d und von niemandem verhindert werden kann. Für sich selbst das Recht, nach dem Gewissen zu handeln, zu fordern und i n Anspruch zu nehmen, ohne gleichzeitig die Pflicht anzuerkennen, sich um die Bildimg des eigenen Gewissens nach der Wahrheit und dem Gesetz zu bemühen, das von Gott selber unseren Herzen eingeschrieben worden ist, besagt i n Wirklichkeit, daß man nur seine eigenen begrenzten Gesichtspunkte fördern und durchsetzen will. Das ist weit davon entfernt, ein wirksamer Beitrag zu der schwierigen Aufgabe zu sein, den Frieden i n der Welt aufzubauen. I m Gegensatz dazu w i r d die Wahrheit leidenschaftlich gesucht, befolgt und zum Besten der eigenen Fähigkeiten gelebt. Dieses aufrichtige Suchen nach der Wahrheit führt nicht nur zur Achtung gegenüber dem Suchen der anderen, sondern auch zu dem Verlangen, gemeinsam zu suchen. Bei der wichtigen Aufgabe der Gewissensbildung kommt der Familie eine vorrangige Rolle zu. Es ist die ernste Pflicht der Eltern, ihren Kindern vom frühesten Alter an zu helfen, die Wahrheit zu suchen und nach ihr zu leben, das Gute zu suchen und es zu fördern. Grundlegend für die Gewissensbildung ist ferner die Schule, wo das Kind und der Jugendliche mit einer größeren Welt, die häufig ganz anders als das Familienmilieu ist, i n Berührung kommen. Tatsächlich ist die Erziehung niemals moralisch indifferent, auch wenn sie ihre sittliche und religöse „Neutralität" zu verkünden sucht. Die Art und Weise, wie die Kinder und Jugendlichen geformt und erzogen werden, spiegelt notwendigerweise manche Werte wider, die Einfluß darauf haben, wie sie zum Verstehen der anderen und der ganzen Gesellschaft geführt werden. In Übereinstimmung mit der Natur und der Würde der menschlichen Person und mit dem Gesetz Gottes muß

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den Jugendlichen daher während ihrer Schulzeit dabei geholfen werden, die Wahrheit zu erkennen und zu suchen, die Forderungen und Grenzen der wahren Freiheit anzunehmen und das entsprechende Recht der anderen zu achten. Die Bildung des Gewissens ist gefährdet, wenn eine gründliche religiöse Erziehung fehlt. Wie kann ein junger Mensch die Forderungen der Menschenwürde voll begreifen, ohne auf die Quelle eben dieser Würde, den Schöpfer des Menschen, Bezug zu nehmen? diesem Zusammenhang ist die Rolle der Familie, der katholischen Kirche, der christlichen Gemeinschaften und der anderen religiösen Einrichtungen vorrangig, und der Staat muß i n Übereinstimmung mit den Gesetzen und den internationalen Erklärungen 4 ihre Rechte auf diesem Gebiet sicherstellen und unterstützen. Die Familie und die religiösen Gemeinschaften müssen ihrerseits ihren Einsatz für den Menschen und seine objektiven Werte immer mehr bekräftigen und vertiefen. Unter den vielen anderen Einrichtungen und Organen, die bei der Gewissensbildung eine besondere Rolle entfalten, sind auch die sozialen Kommunikationsmittel zu erwähnen. I n unserer modernen, von rascher Kommunikation gezeichneten Welt könnten die Massenmedien eine äußerst wichtige, ja wesenthche Rolle bei der Förderimg der Suche nach der Wahrheit entfalten, indem sie vermeiden, nur die begrenzten Interessen dieser oder jener Person, dieser oder jener Gruppe oder Ideologie vorzulegen. Diese Medien bilden für eine immer größere Anzahl von Menschen oft die einzige Informationsquelle. Wie verantwortungsvoll also muß von ihnen im Dienst an der Wahrheit Gebrauch gemacht werden! IV. Die Intoleranz: eine ernste Bedrohung für den Frieden Eine ernste Bedrohung für den Frieden stellt die Intoleranz dar, die sich i n der Ablehnung der Gewissensfreiheit äußert. Aus den Ereignissen der Geschichte haben w i r i n schmerzlicher Weise erfahren, zu welchen Ausschreitungen Intoleranz führen kann. Die Intoleranz kann jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens erfassen und sich i n der Ausgrenzung oder Unterdrückung der Personen und Minderheiten äußern, die hinsichtlich ihrer gültigen Lebensweisen ihrem Gewissen folgen. I m öffentlichen Leben läßt die Intoleranz keinen Raum für die Pluralität politischer oder sozialer Entscheidungen und nötigt so allen eine einförmige Ansicht von der staatlichen und kulturellen Organisation auf. 4 Vgl. u. a. zur Anerkennung dieses Rechts in jüngster Zeit die Erklärung der Vereinten Nationen von 1981 über die Beseitigung aller auf die Religion oder die Überzeugung gestützten Formen von Intoleranz und Diskriminierung, Art. 1.

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Was die religiöse Intoleranz angeht, so kann man nicht leugnen, daß es trotz der feststehenden Lehre der katholischen Kirche, wonach niemand zum Glauben gezwungen werden darf, 5 i m Laufe der Jahrhunderte zu nicht wenigen Schwierigkeiten und sogar Konflikten zwischen Christen und Angehörigen anderer Religionen gekommen ist. 6 Das IL Vatikanische Konzil hat das formell zugegeben, als es erklärte, daß „bisweilen i m Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt — i m Wechsel der menschlichen Geschichte — eine Weise des Handelns vorgekommen ist, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt w a r " . 7 Auch heute bleibt noch viel zu tun, um die religöse Intoleranz zu überwinden, die i n verschiedenen Teilen der Welt aufs engste mit der Unterdrückimg der Minderheiten verbunden ist. Wir sind leider Zeugen von Versuchen, anderen entweder direkt, mit Hilfe einer Proselytenmacherei, die sich der Mittel tatsächlicher Nötigung bedient, oder durch die Verweigerung gewisser gesellschaftlicher oder politischer Rechte eine bestimmte religiöse Idee aufzuzwingen. Besonders heikel sind die Situationen, wo eine eigentlich religiöse Bestimmung Gesetz des Staates w i r d oder werden soll, ohne daß dabei der Unterscheidung zwischen den Kompetenzen der Religion und jenen der politischen Gesellschaft gebührend Rechnung getragen wird. Die Gleichsetzung von religiösem und staatlichem Gesetz kann die Religionsfreiheit i n der Tat unterdrücken und sogar andere unveräußerliche Menschenrechte einschränken oder verweigern. I n diesem Zusammenhang möchte ich wiederholen, was ich i n der Botschaft zum Weltfriedenstag 1988 gesagt habe: „Auch im Falle, daß ein Staat einer bestimmten Religion eine besondere Rechtsstellung zuspricht, ist es seine Pflicht, das Recht auf Gewissensfreiheit aller Bürger gesetzlich anzuerkennen und wirksam zu achten, wie auch der Ausländer, die dort der Arbeit wegen oder aus anderen Gründen, wenn auch nur zeitweise, wohnen". 8 Das gilt auch für die bürgerlichen und politischen Rechte der Minderheiten und für jene Situationen, wo ein erbitterter Laizismus i n Namen der Achtung des Gewissens den Gläubigen de facto das Recht verwehrt, ihrem Glauben öffentlich Ausdruck zu verleihen. Die Intoleranz kann auch das Ergebnis eines gewissen Fundamentalismus sein, der eine wiederkehrende Versuchung darstellt. Er kann leicht zu schwerwiegenden Gesetzwidrigkeiten führen, wie zur radikalen Unterdrükkung jeder öffentlichen Äußerung von Andersartigkeit oder sogar überhaupt s Vgl. u. a. II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis

humanae, Nr. 12.

6 Vgl. u. a. II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu

den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, Nr. 3. 7 Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis 8 Nr. 1 (O. R. dt., 18. 12. 87, S. 9).

humanae, Nr. 12.

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zur Verwehrung, sich frei zu äußern. Auch der Fundamentalismus kann zur Ausschließung des anderen vom gesellschaftlichen Leben oder, auf religiösem Gebiet, zu Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel der „Bekehrung" führen. Wie sehr einem auch die Wahrheit der eigenen Religion am Herzen liegen mag, so gibt das doch niemandem, weder Einzelnen noch Gruppen, das Recht zu dem Versuch, die Gewissensfreiheit all jener, die andere religiöse Überzeugungen haben, zu unterdrücken oder sie dadurch zum Verrat an ihrem Gewissen zu verleiten, daß man ihnen i m Falle, daß sie ihre Religion wechseln, bestimmte soziale Privilegien und Rechte anbietet bzw. verweigert. I n anderen Fällen geht man so weit, Menschen sogar unter Anwendung strenger Strafmaßnahmen zu verwehren, sich frei für eine andere Religion als die, der sie i m Augenblick angehören, zu entscheiden. Derartige Bezeigungen von Intoleranz fördern klarerweise nicht den Frieden i n der Welt. Um die Auswirkungen der Intoleranz zu beseitigen, genügt es nicht, die ethnischen und religiösen Minderheiten zu „schützen", wodurch man sie nämlich zu einer Klasse von „Minderbürgern" oder Individuen macht, die unter Vormundschaft des Staates stehen. Das könnte auf eine Form von Diskriminierung hinauslaufen, die die Entwicklung einer harmonischen und friedvollen Gesellschaft behindert, ja verhindert. Vielmehr wird das unauslöschliche Recht, seinem Gewissen zu folgen und seinen Glauben allein oder i n Gemeinschaft zu bekennen und zu praktizieren—immer unter der Voraussetzung, daß dabei die Forderungen der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden — anerkannt und garantiert. Paradoxerweise kann es vorkommen, daß diejenigen, die zuvor Opfer verschiedener Formen von Intoleranz gewesen sind, Gefahr laufen, ihrerseits neue Situationen von Intoleranz zu schaffen. Das Ende jahrzehntelanger Unterdrückimg i n einigen Teilen der Welt, während welcher das Gewissen des einzelnen nicht geachtet und das, was dem Menschen am kostbarsten war, unterdrückt wurde, darf nicht zum Anlaß für neue Formen von Intoleranz werden, so schwer auch die Versöhnung mit dem früheren Unterdrücker sein mag. Die Gewissensfreiheit ist, richtig verstanden, auf Grund ihrer Natur immer der Wahrheit verschrieben. Darum führt sie nicht zu Intoleranz, sondern zu Toleranz und Versöhnung. Diese Toleranz ist nicht eine passive Tugend, denn sie hat ihren Ursprung i n der tätigen Liebe und trachtet, sich zu wandeln und zu einen positiven engagierten Einsatz zu werden, um Freiheit und Frieden für alle sicherzustellen.

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V. Die Religionsfreiheit:

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eine Kraft für den Frieden

Die Bedeutung der Religionsfreiheit veranlaßt mich, nachdrücklich zu betonen, daß das Recht auf Religionsfreiheit nicht bloß eines unter den anderen Menschenrechten ist; „ja, dieses Recht ist das grundlegendste, weil die Würde jedes Menschen ihre erste Quelle und seiner Wesensbeziehung zu Gott, dem Schöpfer und Vater, hat, nach dessen Bild und Gleichnis er geschaffen ist; weil er mit Vernunft und freiem Willen begabt i s t " . 9 „Die Religionsfreiheit ist als unauslöschliche Forderung aus der Würde jedes Menschen der Grundstein des Gebäudes der Menschenrechte" 10 und deshalb der tiefgründigste Ausdruck der Gewissensfreiheit. Man kann nicht übersehen, daß das Recht auf Religionsfreiheit die Identität der menschlichen Person selbst berührt. Einer der bezeichnendsten Aspekte, die die heutige Welt charakterisieren, ist die Rolle der Religion beim Erwachen der Völker und bei der Suche nach der Freiheit. I n vielen Fällen hat es der religiöse Glaube vermocht, die Identität ganzer Völker unversehrt zu bewahren und sogar zu stärken. I n den Nationen, wo die Religion behindert oder sogar verfolgt wurde durch den Versuch, sie unter die überwundenen Erscheinungen der Vergangenheit zu verbannen, hat sie sich erneut als mächtige Befreiungskraft erwiesen. Der religiöse Glaube ist den Völkern und den einzelnen Menschen so wichtig, daß sie zu seiner Bewahrung i n vielen Fällen zu jedwedem Opfer bereit sind. I n der Tat birgt jeder Versuch, einem Menschen das, was ihm am teuersten ist, vorzuenthalten oder es zu unterdrücken, die Gefahr i n sich, schließlich zu offener oder verborgener Auflehnimg zu führen. VI. Die Notwendigkeit

einer gerechten Gesetzesordnung

Trotz der verschiedenen Erklärungen auf nationalem und internationalem Gebiet, die das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit verkünden, gibt es noch immer zu viele Versuche religiöser Unterdrückung. Ohne eine begleitende Rechtsgarantie durch geeignete Instrumente ist es solchen Erklärungen allzu oft beschieden, toter Buchstabe zu bleiben. Daher sind die neuerlichen Anstrengungen zu schätzen, die unternommen werden, um der bestehenden Gesetzesregelung 11 durch die Schaffung neuer, wirksamer und zur Festigung 0 Ansprache an die Teilnehmer des 5. Internationalen Juridischen Kolloquiums der Päpstlichen Lateran-Universität, 10. März 1984, Nr. 5 (DAS, 1984, S. 1057). 10 Vgl. Botschaft zum Weltfriedenstag 1988, Einführung (O. R. dt., 18.12. 87, S. 1). 11 Vgl. u. a. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 18; Schlußakte von Helsinki 1, a) VII; Vereinbarung über die Rechte des Kindes, Art. 14.

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der Religionsfreiheit geeigneter Mittel mehr Kraft zu verleihen. Dieser volle gesetzliche Schutz muß wirklich jeden religiösen Zwang als ernstes Hindernis für den Frieden ausschließen. I m Gegenteil, „diese Freiheit besteht darin, daß alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so daß i n religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder i n Verbindung mit anderen — innerhalb der gebührenden Grenzen — nach seinem Gewissen zu handeln". 1 2 Der gegenwärtige geschichtliche Augenblick macht die Stärkung der Rechtsmittel dringlich, die geeignet sind, die Gewissensfreiheit auch i m politischen und sozialen Bereich zu fördern. Die stufenweise und stetige Entwicklung einer international anerkannten Gesetzesregelung w i r d i n diesem Zusammenhang eine der sichersten Grundlagen für den Frieden und für den Fortschritt der Menschheitsfamilie bilden können. Gleichzeitig kommt es wesentlich darauf an, daß parallele Anstrengungen auf nationaler und auch regionaler Ebene unternommen werden, um sicherzustellen, daß alle Menschen, wo immer sie wohnen, durch international anerkannte gesetzliche Normen geschützt sind. Der Staat ist verpflichtet, die grundlegende Gewissensfreiheit nicht nur anzuerkennen, sondern sie zu fördern, immer jedoch i m Lichte des natürlichen Sittengesetzes und der Notwendigkeiten des Gemeinwohls sowie unter Achtimg der Würde eines jeden Menschen. Erwähnenswert ist i n diesem Zusammenhang, daß die Gewissensfreiheit nicht das Recht zu einer unterschiedslosen Anwendung des Einspruchs aus Gewissensgründen gibt. Wenn eine beanspruchte Freiheit zur Freizügigkeit i m Sinne eines Freibriefes oder zum Vorwand wird, die Rechte anderer einzuschränken, hat der Staat die Pflicht, die unveräußerlichen Rechte seiner Bürger gegen derartige Mißbräuche auch gesetzhch zu schützen. A n alle, die öffentliche Verantwortung tragen — seien es Staatsoberhäupter oder Regierungschefs, Gesetzgeber, Beamte und andere — möchte ich einen besonderen und dringenden Appell richten, daß sie mit allen notwendigen Mitteln die wahre Gewissensfreiheit all derer, die i n ihrem Jurisdiktionsbereich wohnen, sicherstellen und dabei den Rechten der Minderheiten besondere Aufmerksamkeit schenken. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, es dient auch dazu, die Entwicklung einer friedlichen und harmonischen Gesellschaft zu fördern. Schließlich scheint es beinahe überflüssig, 12 II. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis

nae, Nr. 2.

huma-

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noch einmal zu beteuern, daß die Staaten die strenge moralische und gesetzliche Pflicht haben, die von ihnen unterzeichneten internationalen Übereinkommen einzuhalten. VII. Eine pluralistische

Gesellschaft und Welt

Das Bestehen anerkannter internationaler Normen schließt nicht aus, daß es bestimmte Staats- oder Regierungsformen geben kann, die einer spezifischen sozio-kulturellen Realität entsprechen. Diese Staatsformen müssen jedoch jedem Bürger volle Gewissensfreiheit gewähren und dürfen keinesfalls einen Vorwand für die Verweigerung oder Beschränkung der allgemein anerkannten Rechte darstellen. Das trifft um so mehr zu, wenn man bedenkt, daß in unserer heutigen Welt selten die gesamte Bevölkerung eines Landes ein und derselben religiösen Überzeugung oder ein und demselben Volksstamm bzw. ein und derselben Kultur angehört. Die Massenwanderungen und Bevölkerungsbewegungen führen i n verschiedenen Teilen der Welt zu einer multinationalen und multireligiösen Gesellschaft. I n diesem Zusammenhang gewinnt die Achtimg des Gewissens aller eine neue Dringlichkeit und stellt neue Herausforderungen an alle Bereiche und Strukturen der Gesellschaft sowie an die Gesetzgeber und die Regierenden. Wie sollen in einem Land die verschiedenen Traditionen, Gepflogenheiten, Lebensweisen und religiösen Pflichten respektiert werden, während gleichzeitig die eigene Kultur unversehrt erhalten bleiben soll? Wie soll eine gesellschaftlich führende Kultur die neuen Elemente annehmen und integrieren, ohne die eigene Identität zu verlieren und unliebsame Gegensätze zu erzeugen? Die Antwort auf diese schwierigen Fragen ist in einer sorgfältigen Erziehung zur Achtung des Gewissens des anderen zu finden, die sich Mittel bedient wie der Kenntnis anderer Kulturen und Religionen und dem ausgewogenen Verständnis für die bestehenden Verschiedenheiten. Welches bessere Mittel der Einheit i n der Vielfalt könnte es geben als das Bemühen aller bei dem gemeinsamen Suchen nach Frieden und bei der gemeinsamen Bejahung der Freiheit, die das Gewissen eines jeden erleuchtet und aufwertet? Für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben ist auch zu wünschen, daß die verschiedenen Kulturen einander achten und sich gegenseitig bereichern. Ein echtes Bemühen um Inkulturation dient auch dem Verständnis zwischen den Religionen. I m Bereich dieses Verständnisses zwischen den Religionen ist i n den letzten Jahren viel geschehen, um eine aktive Zusammenarbeit bei den gemeinsamen Aufgaben zu fördern, die sie der Menschheit gegenüber auf die vielen Werte

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gründen, die die großen Religionen gemeinsam haben. Zu dieser Zusammenarbeit, wo immer sie möglich ist, möchte ich ebenso ermutigen wie zu den offiziellen Gesprächen, die zwischen den Vertretern der großen religiösen Gruppen i m Gange sind. Der Heilige Stuhl hat dafür ein Organ — den Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog, dessen besondere Zielsetzimg es ist, den Dialog und die Zusammenarbeit mit den anderen Religionen zu fördern, immer freilich i n absoluter Treue zur katholischen Identität und unter voller Achtung der Identität der anderen. Sowohl die Zusammenarbeit wie der interreligiöse Dialog stellen, wenn sie voll Zuversicht, Achtung und Aufrichtigkeit erfolgen, einen Beitrag zum Frieden dar. „Der Mensch muß seinen Geist und sein Gewissen entwickeln, das häufig dem Menschen von heute fehlt. Die Vernachlässigung der Werte und die Identitätskrise, die unsere Welt durchziehen, zwingen uns zu ihrer Überwindung und zu erneutem Suchen und Fragen. Das innere Licht, das i n unserem Gewissen geboren wird, erlaubt, der Entwicklung einen Sinn zu geben, sie auf das Wohl des Menschen hin zu orientieren, jedes Menschen und aller Menschen, gemäß dem Plan Gottes". 1 3 Dieses gemeinsame Suchen i m Lichte des Gesetzes des Gewissens und der Gebote der eigenen Religion w i r d dadurch, daß es uns auch mit den Ursachen der gegenwärtigen sozialen Ungerechtigkeiten und der Kriege konfrontiert, einen sohden Grund für die Zusammenarbeit bei der Suche nach den notwendigen Lösungen legen. Die kathohsche Kirche hat sich gern dafür eingesetzt, jede Form aufrichtiger Zusammenarbeit i m Hinblick auf die Friedensförderung zu unterstützen. Sie w i r d weiterhin ihren besonderen Beitrag zu dieser Zusammenarbeit vor allem dadurch leisten, daß sie die Gewissen ihrer Mitglieder zum Offensein für die anderen, zur Achtung des anderen, zur Toleranz, die nicht zu trennen ist von der Suche nach der Wahrheit, und zur Solidarität erzieht. 14 VIII. Das Gewissen und der Christ Die Jünger Jesu Christi, die gehalten sind, bei der Suche nach der Wahrheit ihrem Gewissen zu folgen, wissen, daß man nicht allein auf das eigene moralische Unterscheidungsvermögen vertrauen darf. Die Offenbarung erleuchtet ihr Gewissen und läßt sie das große Geschenk Gottes an den Menschen erkennen: die Freiheit. 1 5 Gott hat nicht nur dem Herzen eines jeden, i n jene 13 Johannes Paul II., Ansprache bei der Begegnung mit der muslimischen Jugend, Casablanca, 20. August 1985, Nr. 9 (AAS 78 [1986] 101-102). 14 Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps, 11. Januar 1986, Nr. 12 (O. R. dt., 31.1. 86, S. 11). 15 Vgl. Sir 17, 6.

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„verborgenste Mitte und das Heiligtum i m Menschen, wo er allein ist mit G o t t " , 1 6 das natürliche Gesetz eingeschrieben, sondern er hat ihm sein eigenes Gesetz i n der Heiligen Schrift geoffenbart. I n ihr finden w i r die Aufforderung oder, besser, das Gebot, Gott zu lieben und dieses sein Gesetz zu befolgen. Er hat uns seinen Willen zu erkennen gegeben. Er hat uns seine Gebote geoffenbart, indem er uns „das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück" vor Augen stellte, und er ruft uns auf, „das Leben zu wählen . . . , indem w i r den Herrn, unseren Gott, lieben, auf seine Stimme hören und uns an ihm festhalten; denn er ist unser Leben, er ist die Länge unseres Lebens . . . " . 1 7 I n der Fülle seiner Liebe achtet er die freie Wahl des Menschen hinsichtlich der höchsten Werte, nach denen dieser auf der Suche ist, und auf diese Weise offenbart er seine volle Achtung für das kostbare Geschenk der Freiheit des Gewissens. Seine Gesetze selbst, die vollkommener Ausdruck seines Willens und seiner absoluten Unversöhnlichkeit gegenüber dem moralisch Bösen sind und m i t denen er eben der Suche nach dem Endziel Richtung geben will, sind dafür Zeugen, weil sie dem Gebrauch der Freiheit dienen und ihn nicht schon i m voraus behindern wollen. Aber es genügt Gott nicht, seine große Liebe für die Schöpfimg und für den Menschen kundzutun. Er „hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben h a t . . . Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, daß seine Taten i n Gott vollbracht sind". 1 8 Der Sohn hat nicht gezögert, sich als die Wahrheit zu verkünden 1 0 und uns zu versichern, daß diese Wahrheit uns befreien w i r d . 2 0 Bei der Suche nach der Wahrheit wendet sich der Christ der göttlichen Offenbarung zu, die i n Christus i n ihrer ganzen Fülle gegenwärtig ist. Christus hat der Kirche den Sendungsauftrag erteilt, diese Wahrheit zu verkündigen, und die ganze Kirche hat die Pflicht, ihr treu zu sein. Meine schwere Aufgabe als Nachfolger des Petrus besteht eben darin, diese beständige Treue dadurch sicherzustellen, daß ich meine Brüder und Schwestern i n ihrem Glauben stärke. 2 1

16 II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von

heute Gaudium et spes, Nr. 16. 17 Dtn 30, 15-20. iß Joh 3, 16. 20.

19 Vgl. ibid. 14, 6. 20 Vgl. ibid. 8, 32 21 Vgl. Lk 22, 32.

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Mehr als jeder andere muß sich der Christ verpflichtet fühlen, sein Gewissen nach der Wahrheit zu bilden. Wie demütig und gewissenhaft muß er angesichts der Herrlichkeit des unentgeltlichen Geschenkes der Offenbarung Gottes i n Christus auf die Stimme des Gewissens hören! Wie sehr muß er seinem begrenzten Licht mißtrauen, wie schnell muß er beim Lernen sein, wie zurückhaltend beim Verurteilen! Eine der zu allen Zeiten wiederkehrenden Versuchungen, auch unter Christen, besteht darin, sich zur Norm der Wahrheit zu erheben. I n einer vom Individualismus geprägten Zeit kann diese Versuchimg verschiedenartige Ausdruckstormen finden. Merkmal dessen, der i n der Wahrheit ist, ist demütig zu heben. So lehrt das göttliche Wort: Die Wahrheit w i r d i n der Liebe aufgebaut. 22 Durch dieselbe Wahrheit, die wir bekennen, sind w i r daher dazu aufgerufen, die Einheit und nicht die Spaltung, die Versöhnung und nicht den Haß oder die Intoleranz zu fördern. Der unentgeltliche Zugang zur Wahrheit überträgt uns die kostbare Verantwortung, nur jene Wahrheit zu verkünden, die zur Freiheit und zum Frieden für alle führt: die i n Jesus Christus Fleisch gewordene Wahrheit. A m Ende dieser Botschaft lade ich alle ein, weiter nachzudenken über die Notwendigkeit der Achtung des Gewissens eines jeden i m eigenen Bereich und i m Lichte der eigenen besonderen Verantwortlichkeiten. I n jedem Bereich des sozialen, kulturellen und politischen Lebens findet die Achtung der, immer der Wahrheit verpflichteten, Gewissensfreiheit verschiedene, wichtige und unmittelbare Anwendungen. Wenn w i r unter Achtung des Gewissens der anderen miteinander die Wahrheit suchen, werden w i r auf den Wegen der Freiheit weitergehen können, die nach Gottes Plan i n den Frieden einmünden. Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1990. JOANNES PAULUS PP. U

22 Vgl. Eph 4, 15.

WENN D U D E N FRIEDEN WILLST, ACHTE DAS GEWISSEN JEDES MENSCHEN Gewissen und Wahrheit Von Josef Ratzinger

Die Frage nach dem Gewissen ist heute, besonders i m Bereich der katholischen Moraltheologie, zum Kernpunkt des Moralischen und seiner Erkenntnis geworden. Diese Auseinandersetzimg kreist um die Begriffe Freiheit und Norm, Automomie und Heteronomie, Selbstbestimmimg und Fremdbestimmung durch Autorität. Das Gewissen erscheint dabei als das Bollwerk der Freiheit gegenüber den Einengungen der Existenz durch die Autorität. Dabei werden dann zwei Konzeptionen des Katholischen gegenübergestellt: Ein erneuertes Verständnis seines Wesens, das den christlichen Glauben vom Grund der Freiheit her und als Prinzip der Freiheit entfaltet, und ein überholtes, „vorkonziliares" Modell, das die christliche Existenz der Autorität unterwirft, die das Leben bis i n die intimen Bereiche hinein normiert und dadurch ihre Macht über die Menschen aufrechtzuerhalten versucht. So scheinen Gewissensmoral und Autoritätsmoral als zwei gegensätzliche Modelle i m Kampf miteinander zu liegen; die Freiheit des Christenmenschen würde dann durch den Ursatz moralischer Überlieferung gerettet, daß das Gewissen die oberste Norm ist, der der Mensch — auch gegen die Autorität — zu folgen hat. Wenn die Autorität, das heißt i n diesem Fall das kirchliche Lehramt, in Dingen der Moral spricht, so könnte sie demnach dem Gewissen Material für seine eigene Urteilsbildung liefern, die aber doch das letzte Wort behalten müßte. Diese Letztinstanzlichkeit des Gewissens w i r d von manchen Autoren auf die Formel gebracht, das Gewissen sei unfehlbar. A n dieser Stelle kann nun allerdings Widerspruch aufsteigen. Daß man einem klaren Gewissensspruch immer folgen muß, zumindest nicht gegen ihn handeln darf, ist unbestritten. Aber ob das Gewissensurteil oder was man für ein solches ansieht, auch immer recht habe, ob es unfehlbar sei, ist eine andere Frage. Denn wenn es so wäre, würde dies ja heißen, daß es keine Wahrheit gibt — zumindest i n Sachen der Moral und der Religion, also i m Bereich der eigentlichen Grundlagen unserer Existenz. Denn die Gewissensurteile widersprechen sich; es gäbe also nur eine Wahrheit des Subjekts, die 19 Johannes Paul n.

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sich auf dessen Wahrhaftigkeit reduzieren würde. Aus dem Subjekt würde dann keine Tür und kein Fenster herausführen ins Ganze und ins Gemeinsame hinein. Wer dieses zu Ende denkt, w i r d zur Erkenntnis kommen, daß dann aber auch keine wirkliche Freiheit existiert und daß die vermeintlichen Gewissenssprüche nur Reflexe sozialer Vorgegebenheiten sind. Das müßte dann zu der Einsicht führen, daß die Gegenüberstellung von Freiheit und Autorität irgend etwas ausläßt; daß es noch etwas Tieferes geben muß, wenn Freiheit und damit Menschsein einen Sinn haben sollen.

I. Ein Gespräch über das irrige Gewissen und erste Schlußfolgerungen Auf diese Weise ist wohl sichtbar geworden, daß uns die Frage nach dem Gewissen tatsächlich i n den Kernbereich des moralischen Problems und so der Frage nach der Existenz des Menschen überhaupt führt. I n möchte nun versuchen, diese Frage nicht i n Form einer streng begrifflichen und dann notwendig reichlich abstrakten Erwägung darzustellen, sondern möche auf „narrativem" Wege vorgehen, indem ich zunächst von der Geschichte meines eigenen Umgangs mit diesem Problem erzähle. Es kam mir zum ersten Mal mit seiner ganze Dringlichkeit i n der Anfangszeit meiner akademischen Wirksamkeit vor die Augen. Ein älterer Kollege, dem die Not des Christseins i n unserer Zeit auf der Seele lag, äußerte damals in einem Disput die Meinung, man müsse eigentlich Gott dankbar sein, daß er so vielen Menschen schenke, guten Gewissens ungläubig zu werden. Denn wenn ihnen die Augen aufgingen und sie gläubig würden, wären sie nicht imstande, i n dieser unserer Welt die Last des Glaubens und seine morahschen Verpflichtungen zu ertragen. Nun aber, da sie guten Gewissens einen anderen Weg gingen, könnten sie dennoch zum Heil gelangen. Was mich an dieser Behauptung schockierte, war zunächst nicht die Idee eines von Gott selbst gegebenen irrigen Gewissens, um mit dieser List die Menschen retten zu können, sozusagen die Idee einer von Gott zum Heil der Betreffenden geschickten Verblendung. Was mich störte, war die Vorstellung, daß danach der Glaube eine kaum zu ertragende und wohl nur für starke Naturen zu meisternde Last wäre, beinahe eine Art Strafe, jedenfalls eine Zumutung nicht leicht zu bewältigender Art. Er würde danach das Heil nicht erleichtern, sondern erschweren. Froh sein müßte demnach, wem nicht aufgebürdet wird, glauben zu müssen und sich dem Joch der Moral des Glaubens der katholischen Kirche zu beugen. Das irrige Gewissen, das einen leichter leben läßt und einen menschlicheren Weg zeigt, wäre dann die eigentliche Gnade, der normale Weg zum Heil. Die Unwahrheit, das Fernbleiben der Wahrheit, wäre dem Menschen besser als

Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen

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die Wahrheit; nicht die Wahrheit würde ihn befreien, sondern von ihr müßte er befreit werden. Der Mensch wäre besser i m Dunkel zu Hause als i m Licht; der Glaube nicht gutes Geschenk des guten Gottes, sondern eher ein Verhängnis. Wie sollte, wenn es so steht, Freude am Glauben aufkommen? Wie gar der Mut, ihn anderen weiterzugeben? Wäre es dann nicht besser, sie damit zu verschonen oder gar sie davon abzuhalten? Vorstellungen dieser Art haben in den letzten Jahrzehnten zusehends die Bereitschaft zur Evangelisierung gelähmt: Wer den Glauben als schwere Last, als moralische Zumutung sieht, mag andere nicht dazu einladen; er läßt sie besser i n der vermeintlichen Freiheit ihres guten Gewissens. Der so sprach, war ein redlicher Gläubiger und, ich würde sagen: ein strenger Katholik, der seine Pflicht mit Überzeugung und Genauigkeit erfüllte. Aber er drückte dabei eine Form von Glaubenserfahrung aus, die nur beunruhigen kann und deren Ausbreitung für den Glauben tödlich sein müßte. Die geradezu traumatische Aversion vieler gegen das, was sie für „vorkonziliaren" Katholizismus halten, beruht meiner Überzeugung nach auf der Begegnung mit solchen nur noch Last gebliebenen Glauben. Hier stehen freilich Fragen der grundsätzlichsten Art auf: Kann solcher Glaube eigentlich Begegnung mit der Wahrheit sein? Ist die Wahrheit über Mensch und Gott so traurig und so schwer, oder liegt die Wahrheit nicht gerade i n der Überwindimg solcher Gesetzlichkeit? Liegt sie nicht doch i n der Freiheit? Aber wohin führt dann die Freiheit? Welchen Weg weist sie uns? Wir werden am Schluß auf diese Grundprobleme christlicher Existenz im Heute zurückkommen müssen; vorab müssen w i r aber zum Kern unseres Themas, zur Sache des Gewissens zurückkehren. A m erwähnten Argument hatte mich, wie schon gesagt, zunächst die Karikatur von Glaube erschreckt, die ich darin zu finden glaubte. I n einem zweiten Überlegungsgang erschien mir aber auch der Gewissensbegriff falsch, der dabei vorausgesetzt wurde. Das irrige Gewissen schützt den Menschen vor den Zumutungen der Wahrheit und rettet ihn dadurch — so hatte ja das Argument gelautet. Das Gewissen erschien hier nicht als das Fenster, das dem Menschen den Durchblick zur gemeinsamen, uns alle gründenden und tragenden Wahrheit öffnet und uns so Gemeinschaft des Wollens und der Verantwortung aus der Gemeinsamkeit des Erkennens heraus ermöglicht. Gewissen ist da nicht die Erschlossenheit des Menschen für den ihn tragenden Grund, die Kraft des Vernehmens für das Höchste und Wesentliche. Es erscheint vielmehr als der Schutzmantel der Subjektivität, i n dem der Mensch sich vor der Wirklichkeit bergen und verbergen kann. Insofern war hier eigentlich die Gewissensidee des Liberalismus vorausgesetzt. Das Gewissen öffnet nicht den Weg zur rettenden Straße der Wahrheit, die es entweder gar nicht gibt oder die uns überfordert. 19*

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Es w i r d so zur Rechtfertigung für die Subjektivität, die sich nicht i n Frage stellen lassen möchte, wie auch für den sozialen Konformisus, der als Mittelwert zwischen den verschiedenen Subjektivitäten das Zusammenleben ermöglichen soll. Verpflichtung zur Wahrheitssuche wie Zweifel an der Durchschnittshaltung und ihren Gewohnheiten entfallen. Das Überzeugtsein vom Eigenen wie auch umgekehrt die Anpassimg an die anderen genügen. Der Mensch ist auf seine oberflächliche Überzeugung reduziert, und je weniger Tiefe er hat, um so besser für ihn. Was mir an diesem Gespräch nur am Rande bewußt geworden war, zeigte sich wenig später i n greller Deutlichkeit bei einem Disput i m Kollegenkreis über die rechtfertigende Kraft des irrigen Gewissens. Irgend jemand warf gegen diese These ein, wenn das allgemein gelten würde, dann wären ja auch die SS-Leute gerechtfertigt und i m Himmel zu suchen, die i n fanatischer Überzeugung und als mit einer völligen Gewissenssicherheit ihre Untaten vollbracht hatten. Ein anderer antwortete darauf mit der großen Selbstverständlichkeit, so sei es i n der Tat. Es bestehe überhaupt kein Zweifel, daß Hitler und seine Mittäter, zutiefst von ihrer Sache überzeugt, gar nicht anders handeln durften und daher-bei aller objektiven Schrecklichkeit ihres Tuns — subjektiv moralisch gehandelt hätten. Da sie nun einmal ihrem — wenn auch fehlgeleiteteten — Gewissen folgten, müsse man ihr Handeln als für sie moralisch anerkennen und könne daher auch an ihrer ewigen Rettung nicht zweifeln. Seit jenem Gespräch weiß ich mit aller Sicherheit, daß irgend etwas an der Theorie von der rechtfertigenden Kraft des subjektiven Gewissens nicht stimmt, daß-mit anderen Worten — ein Gewissensbegriff falsch ist, der zu solchen Ergebnissen führt. Das feste subjektive Überzeugtsein und das daraus folgende Fehlen von Zweifel und Skrupel rechtfertigt den Menschen nicht. Etwa dreißig Jahre später fand ich bei dem Psychologen Albert Görres i n knappen Worten die Erkenntnisse zusammengefaßt, die ich damals langsam auf den Begriff zu bringen versuchte und deren Entfaltung den Kern unserer Überlegungen bilden soll. Görres weist darauf hin, daß das Schuldgefühl, die Fähigkeit, Schuld zu erkennen, zum seelischen Haushalt des Menschen wesentlich gehört. Das Schuldgefühl, das eine falsche Gewissensruhe aufbricht und die Wortmeldung des Gewissens gegen meine selbstzufriedene Existenz genannt werden könnte, ist dem Menschen so nötig wie der körperliche Schmerz als Signal, das Störungen der normalen Lebensfunktion erkennen läßt. Wer nicht mehr fähig ist, Schuld zu sehen, ist seelisch krank, „ein lebendiger Leichnam, eine Charaktermaske", wie Görres sagt. „Keine Schuldgefühle haben unter anderem Unmenschen, Monstren. Vielleicht hatte Hitler keine oder Himmler oder Stalin. Vielleicht haben MafiaPatrone keine, aber vermutlich sind deren Leichen nur gut i m Keller ver-

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steckt. Auch die abgetriebenen Schuldgefühle . . . Alle Menschen brauchen Schuldgefühle." Übrigens hätte schon ein Blick in die Schrift vor solchen Diagnosen und vor einer solchen Theorie der Rechtfertigung durch das irrende Gewissen bewahren können. I m Psalm 19,13 steht der ewig bedenkenswerte Satz: „Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von der Schuld, die mir nicht bewußt ist!" Das ist nicht alttestamentlicher Objektivismus, sondern tiefste menschliche Weisheit: Das Nicht-mehr-Sehen von Schuld, das Verstummen des Gewissens i n so vielen Bereichen ist eine gefährlichere Erkrankung der Seele als die immerhin noch als Schuld erkannte Schuld. Wer nicht mehr bemerkt, daß Töten Sünde ist, ist tiefer gefallen, als wer noch das Schändliche seines Tuns erkennt, weil er von der Wahrheit und von der Bekehrung weiter entfernt ist. Nicht umsonst erscheint i n der Begegnimg mit Jesus der Selbstgerechte als der wahrhaft Verlorene. Wenn der Zöllner mit all seinen unbestrittenen Sünden vor Gott gerechter dasteht als der Pharisäer mit all seinen wirklich guten Werken (Lk 18, 9-14), so liegt das nicht daran, daß etwa die Sünden des Zöllners keine Sünden wären und die guten Taten des Zöllners keine guten Taten. Es bedeutet nicht, daß das Gute des Menschen vor Gott nicht gut und sein Böses nicht böse oder eben nicht gar so wichtig ist. Der Grund für dieses paradoxe Urteil Gottes zeigt sich genau von unserer Frage her: Der Pharisäer weiß nicht mehr, daß auch er Schuld hat. Er ist mit seinem Gewissen völlig i m reinen. Aber dieses Schweigen des Gewissens macht ihn undurchdringlich für Gott und die Menschen, während der Schrei des Gewissens, der den Zöllner umtreibt, ihn der Wahrheit und der Liebe fähig macht. Jesus kann deswegen bei den Sündern wirken, weil sie nicht hinter dem Paravent ihres irrenden Gewissens unzugänglich geworden sind für die Veränderungen, die Gott von ihnen — von uns — erwartet. Er kann deswegen bei den „Gerechten" nicht wirken, weil kein Bedarf für Vergebung und Bekehrung mehr besteht; weil ihr Gewissen sie nicht mehr anklagt, sondern rechtfertigt. Das gleiche finden w i r auf andere Weise bei Paulus wieder, der uns sagt, daß die Heiden sehr wohl auch ohne Gesetz wußten, was Gott von ihnen erwartet (Rom 2,1-16). Die ganze Theorie von der Rettung durch Unkenntnis bricht an diesem Vers zusammen: Es gibt die gar nicht abzuweisende Gegenwart der Wahrheit i m Menschen — jener einen Wahrheit des Schöpfers, die in der heilsgeschichtlichen Offenbarung auch schriftlich geworden ist. Der Mensch kann die Wahrheit Gottes auf dem Grund seines Geschöpfseins sehen. Sie nicht zu sehen, ist Schuld. Sie wird nicht gesehen, wenn und weil sie nicht gewollt wird. Dieses Nein des Willens, das die Erkenntnis hindert,

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ist Schuld. Denn, daß die Signallampe nicht aufleuchtet, ist Folge eines gewollten Wegschauens von dem, was w i r nicht sehen mögen. A n dieser Stelle unserer Überlegungen ist es möglich, erste Konsequenzen zur Beanwortung der Frage nach dem Wesen des Gewissens zu ziehen. Wir können jetzt sagen: Es geht nicht an, das Gewissen des Menschen mit dem Selbstbewußtsein des Ich, mit seiner subjektiven Gewißheit über sich und sein moralisches Verhalten zu identifizieren. Dieses Bewußtsein kann einerseits bloßer Reflex des sozialen Umfelds und der dort verbreiteten Meinungen sein. Es kann andererseits auf einen Mangel an Selbstkritik, an Höhen und die Tiefe der eigenen Seele verweisen. Was nach dem Sturz der marxistischen Systeme i m Osten Europas zutage kam, bestätigt diese Diagnose. Die wachsten und lautersten Geister der befreiten Völker sprechen von einer ungeheuren seelischen Verwahrlosimg, die i n den Jahren der geistigen Verbildung eingetreten sei; von einer Abstumpfung des moralischen Sinns, die als Verlust und Gefahr schwerer wiege als die wirtschaftlichen Schäden, die eingetreten sind. Der neue Moskauer Patriarch hob dies zum Beginn seines Wirkens i m Sommer 1990 eindrucksvoll hervor: Die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen, die i n einem System des Betrugs lebten, habe sich verdunkelt. Die Gesellschaft habe die Fähigkeit zur Barmherzigkeit eingebüßt, und die menschlichen Gefühle seien verlorengegangen. Eine ganze Generation sei für das Gute, für Taten der Menschlichkeit verloren. „Wir müssen die Gesellschaft zu den ewigen moralischen Werten zurückführen", das heißt: das fast erloschene Gehör für den Zuspruch Gottes i m Herzen des Menschen wieder entwickeln. Der Irrtum, das irrende Gewissen, ist nur im ersten Augenblick bequem. Dann aber w i r d das Verstummen des Gewissens zur Entmenschlichung der Welt und zur tödlichen Gefahr, wenn man ihm nicht entgegenwirkt. Anders ausgedrückt: Die Identifikation des Gewissens mit dem Oberflächenbewußtsein und die Reduktion des Menschen auf seine Subjektivität befreit nicht, sondern versklavt; sie macht uns erst vollends abhängig von den herrschenden Meinungen und erniedrigt das Niveau der herrschenden Meinungen selbst von Tag zu Tag. Wer das Gewissen mit oberflächlicher Überzeugtheit gleichsetzt, identifiziert es mit einer schein-rationalen Sicherheit, die aus Selbstgerechtigkeit, Konformismus und Trägheit gewoben ist. Das Gewissen w i r d zum Entschuldigungsmechanismus degradiert, während es doch die Transparenz des Subjekts für das Göttliche und so die eigentliche Würde und Größe des Menschen darstellt. Die Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewißheit bedeutet zugleich den Entzug der Wahrheit. Wenn der Psalm in Vorwegnahme der jesuanischen Sicht von Sünde und Gerechtigkeit um Befreiung von unbewußter Schuld bittet, so weist er auf diesen Zusam-

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menhang hin: Gewiß, dem irrenden Gewissen muß man folgen. Aber der Entzug der Wahrheit, der vorausgegangen ist und der sich nun rächt, ist die eigentliche Schuld, die den Menschen in falsche Sicherheit wiegt und ihn am Schluß i n der weglosen Wüste allein läßt.

n. Systematische Konsequenzen: Die zwei Ebenen des Gewissens 1. Anamnesis Versuchen wir, daraus nun auf eine mehr begriffliche Weise die Schlußfolgerungen für eine rechte Bestimmimg des Wesens von Gewissen zu ziehen. Der mittelalterlichen Tradition möchte ich darin recht geben, daß der Gewissensbegriffzwei Ebenen umfaßt, die man gut unterscheiden, aber auch stets aufeinander beziehen muß. Viele unannehmbare Thesen zur Frage des Gewissens scheinen mir darauf zu beruhen, daß man entweder die Unterscheidung oder die Beziehung vernachlässigt hat. Der Hauptstrom der Scholastik hat die zwei Ebenen des Gewissens i n den Begriffen Synderesis und Conscientia ausgedrückt. Das Wort Synderesis (Synteresis) war aus der stoischen Mikrokosmoslehre in die mittelalterliche Gewissenstradition geraten. Es blieb i n seiner genauen Bedeutung unklar und wurde so zu einem Hindernis für eine sorgsame Entfaltung dieser wesentlichen Ebene der ganzen Frage nach dem Gewissen. Ich möchte deshalb, ohne i n geistesgeschichtliche Dispute einzutreten, dieses problematische Wort durch den viel deutlicher bestimmten platonischen Begriff der Anamnesis ersetzen, der nicht nur sprachlich klarer sowie philosophisch tiefer und reiner ist, sondern vor allem auch mit wesentlichen Motiven des biblischen Denkens und der von der Bibel her entwikkelten Anthropologie zusammenklingt. Mit dem Wort Anamnesis soll hier genau das ausgesagt sein, was Paulus im zweiten Kapitel des Römerbriefs so ausgedrückt hat: „Wenn also Heiden, die das Gesetz nicht haben, von sich aus tun, was das Gesetz will, sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie erweisen, daß das vom Gesetz geforderte Werk in ihre Herzen geschrieben ist, wobei ihr Gewissen Zeugnis a b l e g t . . . " (2,14 f.). Derselbe Gedanke findet sich eindrucksvoll entfaltet i n der großen Mönchsregel des heiligen Basilius. Dort lesen wir: „Die Liebe zu Gott beruht nicht auf einer von außen uns auferlegten Disziplin, sondern sie ist konstitutiv als Fähigkeit und Notwendigkeit unserem Vernunftwesen eingestiftet." Basilius spricht mit einem i n der mittelalterlichen Mystik wichtig gewordenen Wort von dem „Funken göttlicher Liebe, der i n uns eingeborgen ist". I m Geist der johanneischen Theologie weiß er, daß die Liebe i m Halten der Gebote besteht, und deswegen bedeutet der uns schöpfungsmäßig eingesenkte Funke der Liebe

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dies: „Fähigkeit und Bereitschaft zum Vollzug aller göttlichen Gebote haben w i r i m voraus innen empfangen... sie sind nicht etwas von außen Auferlegtes." Das gleiche auf seinen einfachen Kern zurückführend sagt Augustinus dazu: „Wir könnten nicht urteilend sagen, daß das eine besser sei als das andere, wenn uns nicht ein Grundverständnis des Guten eingeprägt wäre." Das bedeutet: Die erste, sozusagen ontologische Schicht des Phänomens Gewissen besteht darin, daß uns so etwas wie eine Urerinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) eingefügt ist; daß es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt. Sein Sein selbst klingt von seinem Ursprung her mit dem einen zusammen und steht i m Widerspruch mit dem anderen. Diese Anamnese des Ursprungs, die sich aus der gottgemäßen Konstitution unseres Seins ergibt, ist nicht ein begrifflich artikuliertes Wissen, ein Schatz von abrufbaren Inhalten. Sie ist sozusagen ein innerer Sinn, eine Fähigkeit des Wiedererkennens, so daß der davon Angesprochene und inwendig nicht verborgene Mensch das Echo darauf i n sich erkennt. Er sieht: Das ist es, worauf mein Wesen hinweist und hin will. Auf dieser Anamnese des Schöpfers, die mit dem Grund unserer Existenz identisch ist, beruht Möglichkeit und Recht der Mission. Das Evangelium darf, ja, muß den Heiden verkündet werden, weil sie selbst im Verborgenen darauf warten (vgl. Jes 42, 4). Die Mission rechtfertigt sich dann, wenn ihre Adressaten bei dem Begegnen mit dem Wort des Evangeliums wieder erkennen: Ja, das ist es, worauf ich gewartet habe. I n diesem Sinn kann Paulus sagen: Die Heiden sind sich selbst Gesetz — nicht i n der Weise des neuzeitlich-liberalistischen Autonomiegedankens mit seiner Unübersteiglichkeit des Subjekts, sondern i n dem viel tieferen Sinn, daß mir nichts so wenig gehört wie ich mir selbst, daß mein eigenes Ich der Ort der tiefsten Selbstüberschreitung und des Berührtseins von dem ist, woher ich komme und wohin ich gehe. Paulus drückt in diesen Sätzen die Erfahrung aus, die er selbst als Heidenmissionar gemacht hatte und die vorher schon Israel im Umgang mit den „Gottesfürchtigen" erleben durfte: Israel hatte i n der Heidenwelt erleben können, was die Boten Jesu Christi erneut bestätigt fanden. Ihre Verkündigung antwortete einer Erwartung. Sie traf auf ein ihr vorgängiges Grundwissen um die wesentlichen Konstanten des in den Geboten schriftlich gewordenen Gotteswillens, das sich i n allen Kulturen findet und sich um so reiner entfaltet, je weniger zivilisatorische Eigenmacht dieses Urwissen verstellt. Je mehr der Mensch aus der „Gottesfurcht" lebt — man vergleiche die Corneliusgeschichte (bes. Apg 10, 34) —, desto konkreter und klarer wird diese Anamnese auch wirksam.

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Nehmen w i r noch einmal eine Formulierung des heiligen Basilius auf: Die Gottesliebe, die i n den Geboten konkret ist, w i r d uns nicht von außen auferlegt, betont der Kirchenlehrer, sondern sie ist uns i m voraus eingesenkt. Der Sinn für das Gute ist uns eingeprägt, formuliert es Augustinus. Nur von hier aus kann man Newmans bekanntes Wort recht verstehen, bei einem eventuellen Toast auf die Religion werde er den Papst hochleben lassen, aber noch vor ihm das Gewissen. Der Papst kann dem gläubigen Katholiken nicht Gebote auferlegen, weil er es w i l l oder weil er es für nützlich findet. Ein solcher neuzeitlich-voluntaristischer Begriff von Autorität kann den wahren theologischen Sinn des Papsttums nur verstellen. Das wahre Wesen des Petrusamtes ist i n der Neuzeit wohl gerade deswegen so unverständlich geworden, weil w i r Autorität bloß noch von Anschauungen her denken können, i n denen es zwischen Subjekt und Objekt keine Brücke mehr gibt und daher alles, was nicht aus dem Subjekt kommt, nur äußerlich auferlegte Fremdbestimmimg sein kann. Von der Anthropologie des Gewissens her, wie w i r sie i n diesen Überlegungen allmählich zu ertasten versuchen, stellen sich die Dinge ganz anders dar. Die unserem Sein eingesenkte Anamnese braucht sozusagen die Nachhilfe von außen, damit sie ihrer selbst inne wird. Aber dies Äußere ist doch nicht etwas ihr Entgegengesetztes, sondern ihr zugeordnet: Es hat mäeutische Funktion, legt ihr nicht Fremdes auf, sondern bringt ihr eigenes, ihre eigene innere Eröffnetheit für die Wahrheit zum Vollzug. Wo es um Glaube und Kirche geht, deren Radius vom erlösenden Logos her über die Gabe der Schöpfung hinausreichen, müssen w i r allerdings noch eine weitere Ebene hinzunehmen, die besonders i n den Johanneischen Schriften entwickelt ist. Johannes kennt die Anamnesis des neuen Wir, das uns i n der Einkörperung in Christus (ein Leib, d. h.: ein Ich mit ihm) zuteil geworden ist. Erinnernd begriffen sie, heißt es verschiedentlich i m Evangelium. Die Urbegegnung mit Jesus hat den Jüngern das gegeben, was nun alle Generationen durch ihre grundlegende Begegnung mit dem Herrn i n Taufe und Eucharistie empfangen: die neue Anamnese des Glaubens, die sich ähnlich wie die Schöpfungsanamnese i m ständigen Dialog von innen und außen entfaltet. Gegenüber der Anmaßung gnostischer Lehrer, die den Gläubigen einreden wollten, ihr naiver Glaube müsse ganz anders aufgefaßt und gewendet werden, konnte Johannes daher sagen: Ihr braucht solcher Belehrung nicht, als Gesalbte (Getaufte) wißt ihr alles (1 Joh 2, 20). Das bedeutet nicht ein inhaltliches Alles-Wissen der Gläubigen, aber es bedeutet die Untrüglichkeit des christlichen Gedächtnisses, das zwar immer lernt, aber aus seiner sakramentalen Identität heraus von innen her unterscheidet zwischen dem, was Entfaltung des Erinnerns und was seine Zerstörung oder Verfälschung ist. Die Kraft dieses Erinnerns und die Wahrheit des apostolischen Wortes erfahren w i r heute i n der Krise der Kirche ganz neu, wo weit mehr als die hierarchische

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Weisung die Unterscheidungskraft des einfachen Glaubensgedächtnisses zur Scheidung der Geister führt. Nur i n diesem Zusammenhang kann man den Primat des Papstes und seinen Zusammenhang mit dem christlichen Gewissen richtig verstehen. Der wahre Sinn der Lehrgewalt des Papstes besteht darin, daß er Anwalt des christlichen Gedächtnisses ist. Der Papst legt nicht von außen auf, sondern er entfaltet das christliche Gedächtnis und verteidigt es. Deshalb muß i n der Tat der Toast auf das Gewissen demjenigen auf den Papst vorangehen, weil es ohne Gewissen gar kein Papsttum gäbe. Alle Macht, die es hat, ist Macht des Gewissens—Dienst an der doppelten Erinnerung, auf der der Glaube ruht und die immer wieder neu geeinigt, erweitert und verteidigt werden muß gegen die Zerstörung des Gedächtnisses, das sowohl durch eine den eigenen Grund vergessende Subjektivität wie durch den Zwang sozialer und kultureller Konformität bedroht ist.

2. Conscientia Nach diesen Erwägungen über die erste — wesentlich ontologische — Ebene des Gewissensbegriffs müssen w i r uns nun dessen zweiter Schicht zuwenden, die i n der mittelalterlichen Tradition allein mit dem Wort Conscientia — Gewissen — bezeichnet wird. Vermutlich hat diese terminologische Tradition nicht unerheblich zur neuzeitlichen Schrumpfung des Gewissensbegriffs beigetragen. Weil zum Beispiel Thomas nur diese zweite Ebene als Conscientia bezeichnet, ist folgerichtig für ihn das Gewissen kein „habitus", das heißt keine dauernde seinshafte Quahtät des Menschen, sondern actus — ein Geschehen i m Vollzug. Thomas setzt aber dabei selbstverständlich die ontologische Grundlage der Anamnese (Synderesis) als gegeben voraus; er beschreibt diese Letztere als ein inneres Widersprechen gegen das Böse und eine innere Zugeordnetheit zum Guten i n uns. Der Gewissensakt wendet dieses Grundwissen i n den einzelnen Situationen an. Er gliedert sich nach Thomas i n drei Elemente: Das Wiedererkennen (recognoscere), das Zeugnisablegen (testificari) und schließlich das Urteilen (iudicare). Man könnte von einem Zusammenspiel zwischen Kontrollfunktion und Entscheidimgsfunktion sprechen. Thomas sieht diesen Vorgang von der aristotelischen Tradition her i m Modell eines Schlußverfahrens. Aber er betont sehr nachdrücklich das Spezifische dieses Handlungswissens, dessen Schlußfolgerungen nicht aus bloßem Wissen oder Denken kommen. Ob hier etwas erkannt oder nicht erkannt wird, hängt immer auch vom Willen ab, der Erkenntnis versperrt oder zur Erkenntnis führt. Es hängt also von einer schon gegebenen moralischen Prägung ab, die dann entweder wei-

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ter verformt oder weiter gereinigt wird. Auf dieser Ebene, der Ebene des Urteilens (Conscientia i m engeren Sinn) gilt, daß auch das irrige Gewissen bindet. Dieser Satz ist aus der rationalen Tradition der Scholastik heraus völlig klar. Niemand darf gegen seine Überzeugung handeln, wie es schon der hl. Paulus gesagt hatte (Rom 14, 23). Aber daß die gewonnene Überzeugung selbstverständlich i m Augenblick des Handelns bindet, bedeutet keine Kanonisierung der Subjektivität. Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen — man muß es sogar. Aber es kann sehr wohl Schuld sein, daß man zu so verkehrten Überzeugungen gelangt ist und den Widerspruch der Anamnese des Seins niedergetreten hat. Die Schuld liegt dann woanders, tiefer: nicht in dem jetzigen Akt, nicht i n dem jetzigen Gewissensurteil, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch i n meinem Innern. Deshalb bleiben Überzeugungstäter wie Hitler und Stalin schuldig. Diese krassen Exempel sollten aber nicht dazu dienen, uns über uns selbst zu beruhigen, sondern sie sollten uns aufschrecken und uns den Ernst der Bitte eindrücklich machen: Von meiner unerkannten Schuld befreie mich (Ps 19,13).

m . Epilog: Gewissen und Gnade A m Ende bleibt noch die Frage, von der w i r ausgegangen sind: Ist nicht doch die Wahrheit, so jedenfalls wie der Glaube der Kirche sie uns zeigt, für den Menschen zu hoch und zu schwer? Nun, w i r können darauf nach allem Überlegten sagen: Gewiß, der Höhenweg zur Wahrheit, zum Guten ist nicht bequem. Er fordert den Menschen. Aber nicht das bequeme Bleiben bei sich selbst erlöst ihn; darin verkümmert er und verliert sich. I n der Bergwanderung des Guten entdeckt er immer mehr die Schönheit, die i n der Mühsal der Wahrheit liegt und daß gerade sie für ihn das Erlösende ist. Aber damit ist doch noch nicht alles gesagt. Wir würden Christentum in Moralismus auflösen, wenn nicht eine Botschaft sichtbar würde, die über unser eigenes Tun hinausgeht. Ohne viele Worte kann uns dies i n einem Bild aus der griechischen Welt sichtbar werden, an dem w i r zugleich sehen, wie die Anamnese des Schöpfers sich i n uns ausstreckt auf den Erlöser hin und jeder Mensch ihn als Erlöser zu begreifen vermag, weil er auf unsere innerste Erwartimg antwortet. Ich meine die Geschichte von der Entsühnung des Muttermörders Orest. Er hatte den Mord als eine Gewissenstat begangen, was die Sprache des Mythos als Gehorsam gegen den Befehl eines Gottes, Apollo, bezeichnet. Aber m m jagen ihn die Erinyen, die wiederum als mythische Personifikationen des Gewissens anzusehen sind, das aus tieferem Erinnern ihm quälend vorhält, daß sein Gewissensentscheid, sein Gehorsam ge-

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gen den „Götterspruch" i n Wirklichkeit Schuld war. Die ganze Tragik des Menschen kommt i n diesem Streit der „Götter", i n diesem Widerspruch des Gewissens zum Vorschein. I m heiligen Gericht w i r d für Orest dann der weiße Stein Athenes zum Freispruch, zur Heiligung, in deren Kraft sich die Erinyen zu Eumeniden, zu Geistern der Versöhnung wandeln: die Sühne hat die Welt verändert. I n diesem Mythos w i r d nicht nur der Übergang vom System zur Blutrache zum geordneten Recht der Gemeinschaft dargestellt, sondern mehr. Hans Urs von Balthasar hat dieses Mehr so ausgedrückt: „ . . . Die stillende Gnade ist . . . immer Mit-Einstiftung des Rechts, nicht des alten gnadenlosen der Erinyenzeit, wohl eines gnadenvollen Rechts...". I n diesem Mythos spricht zu uns die Sehnsucht danach, daß der objektiv gerechte Schuldspruch des Gewissens und die daraus folgende zerstörerische innere Not nicht das Letzte sei, sondern daß es eine Vollmacht der Gnade gebe, eine Kraft der Sühne, die die Schuld verschwinden läßt und Wahrheit erst wirklich erlösend macht. Es ist die Sehnsucht danach, daß die Wahrheit uns nicht nur fordert, sondern auch verwandelnde Sühne und Verzeihimg sei, durch die — wie Aischylos es sagt — „die Schuld abgewaschen" und unser Sein über unser Vermögen hinaus von innen her verwandelt wird. Dies ist die eigentliche Neuheit des Christentums: Der Logos, die Wahrheit i n Person, ist auch die Sühne, die verwandelnde Vergebung über all unser eigenes Vermögen und Unvermögen hinaus. Darin besteht das wahrhaft Neue, auf dem das größere christliche Gedächtnis gründet, welches doch zugleich auch tiefste Antwort darauf ist, was die Anamnese des Schöpfers i n uns erwartet. Wo diese Mitte der christlichen Botschaft nicht genügend gesagt und gesehen wird, da wird die Wahrheit i n der Tat zum Joch, das zu schwer ist für unsere Schultern und von dem w i r uns zu befreien suchen müssen. Aber die so errungene Freiheit ist leer. Sie führt ins öde Land des Nichts, und sie zerfällt so von selbst. Das Joch der Wahrheit ist „leicht" geworden (Mt 11, 30), als die Wahrheit kam, uns hebte und unsere Schuld i n ihrer Liebe verbrannte. Erst wenn w i r dies von innen her wissen und erfahren, werden w i r frei, die Botschaft des Gewissens angstlos und freudig zu hören.

BOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT PAPST JOHANNES PAULS IL ZUR FEIER DES 25. WELTFRIEDENSTAGES A M 1. JANUAR 1992 „DIE GLÄUBIGEN VEREINT IM AUFBAU DES FRIEDENS"

1. A m kommenden 1. Januar wird, wie jedes Jahr, der Weltfriedenstag begangen — zum 25. Mal seit seiner Einrichtung. Und so ist es nur natürlich, daß sich anläßlich dieses Jubiläums meine Gedanken mit unveränderter Bewunderung und Dankbarkeit der liebenswürdigen Gestalt meines verehrten Vorgängers Paul VI. zuwenden, der mit einer glücklichen pastoral-pädagogischen Eingebung alle „wahren Freunde des Friedens" eingeladen hat, sich zusammenzuschließen, um über dieses „wichtigste Gut" der Menschheit nachzudenken. Aber ebenso natürlich ist es, wenn w i r i m Abstand eines Vierteljahrhunderts die Vergangenheit insgesamt wieder betrachten, um festzustellen, ob das Anliegen des Friedens i n der Welt tatsächlich Fortschritte gemacht hat oder nicht und ob die schmerzlichen Ereignisse der letzten Monate — von denen manche leider noch immer andauern — i m Grund den Rückzug dieses Anliegens angezeigt haben, indem sie deutlich machten, wie real die Gefahr ist, daß sich die menschliche Vernunft von zerstörerischen Egoismen oder eingefleischtem Haß beherrschen lasse. Gleichzeitig hat die Tatsache, daß sich neue Demokratien schrittweise durchzusetzen vermochten, ganzen Völkern wieder Hoffnung gegeben, das Vertrauen i n einen fruchtbaren internationalen Dialog neu geweckt und die Aussichten auf eine ersehnte Aussöhnung und Befriedung eröffnet. I n solcher Verflechtung von Licht und Schatten w i l l diese Jahresbotschaft weder eine Bilanz noch ein Urteil, sondern nur eine neuerliche, brüderliche Aufforderimg sein, über das gegenwärtige Geschehen der Menschheit nachzudenken, um es in eine höhere sittlich-religiöse Schau zu erheben, an welcher sich zuallererst die Gläubigen inspirieren sollen. Auf Grund ihres Glaubens sind sie ja — als einzelne und alle zusammen — dazu berufen, Boten und Baumeister des Friedens zu sein: wie die anderen und mehr als die anderen sind sie dazu aufgerufen, mit Demut und Ausdauer nach entsprechenden Antworten zu suchen auf die Erwartungen von Sicherheit und Freiheit, Solidarität und gerechter Verteilung, die in dieser gleichsam kleiner

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werdenden Welt die Menschen vereinigen. Gewiß, der Einsatz für den Frieden betrifft jeden Menschen guten Willens, und das ist der Grund, warum die verschiedenen Botschaften jeweils an alle Mitglieder der Menschheitsfamilie gerichtet wurden. Doch dringend auferlegt ist die Verpflichtung allen, die sich zum Glauben an Gott bekennen, und noch mehr den Christen, die zu ihrem Führer und Meister den „Friedensfürsten" haben (Jes 9, 5). Sittliche und religiöse Natur des Friedens 2. Das Streben nach Frieden ist der menschlichen Natur angeboren und findet sich i n den verschiedenen Religionen. Es kommt zum Ausdruck i n dem Wunsch nach Ordnung und Ruhe, i n der Haltung der Verfügbarkeit gegenüber dem anderen, i n der auf gegenseitiger Achtung beruhenden Zusammenarbeit und Teilnahme. Diese vom Naturgesetz empfohlenen und von den Religionen i n Erinnerung gerufenen Werte erfordern zu ihrer Entfaltung die solidarische Mitwirkimg aller: der Politiker, der Leiter internationaler Organisationen, der Unternehmer und der Arbeiter, der Vereinigungen und Gruppen und der privaten Bürger. Es handelt sich um eine ganz klare Pflicht für alle, die sie um so mehr verpflichtet, wenn sie gläubig sind: denn den Frieden zu bezeugen, für ihn tätig zu sein und zu beten, ist einem kohärenten religiösen Verhalten eigen. Das erklärt, warum auch i n den heiligen Büchern der verschiedenen Religionen der Bezug zum Frieden i m Rahmen des Lebens des Menschen und seiner Beziehung zu Gott einen wichtigen Platz einnimmt. So zum Beispiel, wenn für uns Christen Jesus Christus, Sohn dessen, der „Pläne des Heils — d. h. des Friedens — und nicht des Unheils hat" (Jer 29, 11), „unser Friede ist" (Eph 2, 14), für unsere jüdischen Brüder das Wort „shalom" Glückwunsch und Segen i n einem Zustand der Harmonie des Menschen mit sich selbst, mit der Natur und mit Gott zum Ausdruck bringt, während für die muslimischen Gläubigen der Begriff „salam" so bedeutsam ist, daß er einen der leuchtenden göttlichen Namen darstellt. Man kann sagen, religiöses Leben muß, wenn es authentisch gelebt wird, Früchte des Friedens und der Brüderlichkeit hervorbringen, eine immer engere Bindung zur Gottheit zu fördern und eine immer solidarischere Beziehung der Menschen untereinander zu unterstützen. Den „Geist von Assisi" wiederbeleben 3. Von dieser Übereinstimmung hinsichtlich dieses Wertes überzeugt, habe ich mich vor fünf Jahren an die Verantwortlichen der christlichen Kirchen

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und der großen Weltreligionen gewandt und sie zu einem besonderen Gebetstreffen für den Frieden eingeladen, das i n Assisi abgehalten wurde. Die Erinnerung an jenes bedeutende Ereignis hat mir nahegelegt, die Aufmerksamkeit auf das Thema der Solidarität der Gläubigen für eben dieses Anliegen zu lenken. I n Assisi kamen, aus den verschiedenen Kontinenten, die geistlichen Führer der wichtigsten Religionen zusammen. Das war ein konkretes Zeugnis für die universale Dimension des Friedens, die Bestätigung, daß der Friede nicht bloß das Ergebnis geschickter politisch-diplomatischer Verhandlungen oder eigennütziger wirtschaftlicher Kompromisse ist, sondern wesentlich von dem abhängt, der das Herz der Menschen kennt und ihre Schritte ausrichtet und lenkt. Als Menschen, die um das Schicksal der Menschheit besorgt sind, haben w i r gemeinsam i n der Absicht gefastet, auf diese Weise unser Verständnis und unsere Solidarität mit den Millionen und Abermillionen von Menschen zum Ausdruck zu bringen, die i n der ganzen Welt Opfer des Hungers sind. Als Gläubige, denen die Geschehnisse der menschlichen Geschichte am Herzen liegen, sind w i r gemeinsam zu Pilgern geworden, indem wir schweigend über unseren gemeinsamen Ursprung und über unser gemeinsames Schicksal, über unsere Grenzen und Verantwortlichkeiten, über die Hilferufe und Erwartungen so vieler Brüder und Schwestern nachdachten, die unsere Hilfe i n ihrer Not erwarten. Was w i r uns damals getan haben, indem w i r beteten und unser starkes Engagement für den Frieden auf Erden unter Beweis stellten, müssen w i r weiter und immer noch tun. Wir müssen den unverfälschten „Geist von Assisi" nicht nur aus einer Verpflichtimg zu Konsequenz und Treue aufrechterhalten, sondern auch, um den künftigen Generationen einen Grund zur Hoffnung zu bieten. I n der Stadt des hl. Franziskus haben w i r einen gemeinsamen Weg begonnen, der weitergegangen werden muß, ohne natürlich die Suche nach anderen Wegen und neuen Mitteln für einen soliden, auf geistlichen Fundamenten aufgebauten Frieden auszuschließen. Die Kraft

des Gebetes

4. Bevor ich mich jedoch an die menschlichen Fähigkeiten wende, möchte ich wieder die Notwendigkeit eines eindringlichen und demütigen, vertrauensvollen und ausdauernden Gebetes beteuern, wenn w i r wollen, daß die Welt endlich zu einem Haus des Friedens werde: das Gebet ist i m wahrsten Sinne des Wortes die Kraft, um das zu erflehen und zu erreichen. Das Gebet flößt Mut ein und gibt Halt jedem, der dieses Gut liebt und nach eigenen Möglichkeiten und i n den verschiedenen Umgebungen, i n denen er jeweils

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lebt, fördern will. Während uns das Gebet die Begegnung mit Gott eröffnet, bereitet es uns auch auf die Begegnungen mit dem Nächsten vor, da es uns hilft, zu allen ohne jede Diskriminierung Beziehungen herzustellen, die von Achtung, Verständnis, Wertschätzung und Liebe bestimmt sind. Das religiöse Empfinden und der Geist des Gebetes lassen uns nicht nur i n unserer Innerlichkeit wachsen, sondern erleuchten uns auch hinsichtlich der wahren Bedeutung unseres Daseins i n der Welt, man kann auch sagen, die religiöse Dimension spornt uns an, mit größtem Eifer unseren Beitrag zum Aufbau einer geordneten Gesellschaft, i n der Frieden herrscht, zu leisten. Das Gebet ist das Band, das uns am wirksamsten verbindet, weil sich dank ihm die Gläubigen dort begegnen, wo Ungleichheiten, Unverständnis, Groll und Feindseligkeiten überwunden werden, nämlich vor Gott, dem Herrn und Vater aller. Insofern es wahrer Ausdruck der richtigen Beziehung zu Gott und zu den anderen Menschen ist, ist es bereits ein positiver Beitrag zum Frieden. Ökumenischer Dialog und inter-religiöse

Beziehungen

5. Das Gebet darf nicht das Einzige bleiben und muß unbedingt mit anderen konkreten Handlungen einhergehen. Jede Religion hat ihre Anschauung bezüglich der Taten, die zu vollbringen, und der Wege, die zu durchlaufen sind, um den Frieden zu erreichen. Während die katholische Kirche mit aller Klarheit ihre Identität, ihre Lehre und ihre Heilssendung für alle Menschen geltend macht, „lehnt sie nichts von alledem ab", was i n den anderen Religionen „wahr und heilig" ist. M i t aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar i n manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet" (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, 2). Ohne die Unterschiede absichtlich zu übersehen und zu verringern, ist die Kirche überzeugt, daß es i n Bezug auf die Friedensförderung manche Elemente oder Aspekte gib, die gemeinsam mit den Anhängern anderer Religionen und Bekenntnisse nutzbringend entwickelt und verwirklicht werden können. Das streben die inter- religiösen Kontakte und ganz besonders der ökumenische Dialog an. Dank diesen Formen der Gegenüberstellung und des Austausches konnten sich die Religionen ihrer gewiß nicht leichten Verantwortimg hinsichtlich des wahren Wohles der ganzen Menschheit klarer bewußt werden. Heute scheinen sie fester entschlossen, sich nicht von partei-

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liehen Interessen oder politischen Zielen instrumentalisieren zu lassen, und sind darauf bedacht, eine bewußtere und ausgeprägtere Haltung einzunehmen und die sozialen und kulturellen Wirklichkeiten in der Völkergemeinschaft mit Leben zu erfüllen. Das gestattet ihnen, als aktive Kraft i m Entwicklungsprozeß mitzuwirken und somit der Menschheit eine sichere Hoffnung zu bieten. Es ist bei nicht wenigen Gelegenheiten offenkundig geworden, daß sich ihr Einsatz als wirkungsvoller erwiesen hätte, wenn er gemeinsam und aufeinander abgestimmt durchgeführt worden wäre. Ein solches Vorgehen der Gläubigen kann entscheidend sein für die Befriedung der Völker und die Überwindung der immer noch bestehenden Spaltungen zwischen „Zonen" und Welten. Der Weg, der zurückgelegt werden muß 6. Um dieses Ziel einer aktiven Zusammenarbeit für die Sache des Friedens zu erreichen, ist noch ein weiter Weg zurückzulegen: Es ist der Weg des gegenseitigen Kennenlernens, das i n unserer Zeit von der Entwicklung der sozialen Kommunikationsmittel begünstigt und durch die Anbahnimg eines aufrichtigen und erweiterten Dialoges erleichtert wird; es ist der Weg des hochherzigen Verzeihens, der brüderlichen Versöhnung, der Zusammenarbeit auch in begrenzten oder Sekundärbereichen, die aber immer dasselbe Anliegen betreffen; es ist schließlich der Weg des täglichen Zusammenlebens, wo man Anstrengungen und Opfer miteinander teilt, um dasselbe Ziel zu erreichen. Auf diesem Weg ist es wahrscheinlich noch vor ihren Führern Sache der einzelnen Gläubigen, das heißt derjenigen, die sich zu einer Religion bekennen, die Mühe auf sich zu nehmen und gleichzeitig die Genugtuung zu haben, gemeinsam den Frieden aufzubauen. Die inter-religiösen Kontakte scheinen neben dem ökumenischen Dialog nunmehr die vorgeschriebenen Wege zu sein, damit so viele schmerzliche Verletzungen, die i m Laufe der Jahrhunderte geschehen sind, nicht mehr vorkommen und die noch vorhandenen schnell geheilt werden. Wer glaubt, muß Baumeister des Friedens vor allem durch das persönliche Vorbild seiner rechten inneren Haltung sein, die in konsequenten Handlungen und Verhaltensweisen auch nach außen projiziert wird: Gelassenheit, Ausgeglichenheit, Überwindimg der Triebe, Erfüllung von Haltungen, wie Verstehen, Verzeihen, hochherzige Hingabe, üben einen friedensstiftenden Einfluß unter den Menschen der eigenen Umgebung und der eigenen religiösen und zivilen Gemeinschaft aus. Deshalb fordere ich am kommenden Weltfriedenstag alle Gläubigen auf, eine ernsthafte Gewissensprüfung vorzunehmen, um besser darauf vorberei20 Johannes Paul n.

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tet zu sein, die Stimme des „Gottes des Friedens" (vgl. 1 Kor 14, 33) zu hören und sich mit erneutem Vertrauen dem großen Vorhaben zu widmen. Denn ich bin überzeugt, daß sie — und ich hoffe auch, die Menschen guten Willens — diesen meinen neuerlichen Appell aufnehmen werden, dessen Eindringlichkeit auf die Dringlichkeit des Augenblicks abgestimmt ist. Gemeinsam den Frieden in Gerechtigkeit bauen 7. Das Gebet und der einhellige Einsatz der Gläubigen für den Frieden müssen sich mit den Problemen und berechtigten Bestrebungen der Menschen und der Völker auseinandersetzen. Der Friede ist ein grundlegendes Gut, das mit der Achtung und der Förderung der wesentlichen Werte des Menschen verbunden ist: mit dem Hecht auf das Leben i n allen Phasen seiner Entwicklung; mit dem Recht auf Anerkennimg unbhängig von Rasse, Geschlecht und religiöser Überzeugung; mit dem Recht auf die für das Leben notwendigen materiellen Güter; mit dem Recht auf Arbeit und die gerechte Verteilung ihrer Früchte für ein geordnetes und solidarisches Zusammenleben. Als Menschen, als Gläubige und mehr noch als Christen müssen w i r uns verpflichtet fühlen, diese Werte der Gerechtigkeit zu leben, die i n dem obersten Gebot der Liebe ihre Krönung finden: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (Mt 22, 39; Mk 12, 31; Lk 10, 27). Noch einmal erinnere ich daran, daß die strenge Beachtung der Religionsfreiheit und des entsprechenden Rechts Grundsatz und Fundament des friedlichen Zusammenlebens ist. Es ist mein Wunsch, daß die Religionsfreiheit nicht nur eine anerkannte Verpflichtung sei, sondern von den politischen und religiösen Führern und von den Gläubigen selbst wirklich i n die Tat umgesetzt werden möge: von ihrer tatsächlichen Anerkennung erhält die transzendente Dimension der menschlichen Person Gewicht. Es wäre eine Verirrung, würden sich die Religionen oder Gruppen ihrer Anhänger bei der Auslegung oder Praktizierung des jeweiligen Glaubensgutes zu Formen von Fundamentahsmus oder Fanatismus hinreißen lassen und die Kämpfe und Konflikte mit den anderen durch religiöse Motivierungen rechtfertigen. Wenn es einen Kampf gibt, der des Menschen würdig ist, dann der gegen die eigenen unmäßigen Leidenschaften, gegen jede Art von Egoismus, gegen die Versuche von Veruntreuung auf Kosten des anderen, gegen jede Art von Haß und Gewalt: mit einem Wort, gegen all das, was also das genaue Gegenteil von Frieden und Versöhnung ist.

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Notwendige Unterstützung von seiten der Verantwortlichen der Nationen 8. Endlich fordere ich die Verantwortlichen der Nationen und der internationalen Gemeinschaft auf, stets größte Achtung für das religiöse Gewissen jedes Menschen und für den qualifizierten Beitrag der Religion zum Fortschritt der Zivilisation und zur Entwicklung der Völker zu beweisen. Sie sollen nicht der Versuchimg nachgeben, sich der Religionen zu bedienen, indem sie sie besonders dann als Mittel ihrer Macht benutzen, wenn es darum geht, sich dem Gegner militärisch zu widersetzen. Die zivilen und politischen Autoritäten selber sollen den Religionen Achtung und rechtliche Garantien — auf nationaler und internationaler Ebene — gewährleisten und dadurch vermeiden, daß der Beitrag der Religionen zum Aufbau des Friedens an den Rand gedrängt, i n die Privatsphäre verbannt oder überhaupt ignoriert wird. Nochmals fordere ich die öffentlichen Autoritäten jeden Ranges auf, sich mit wachsamem Verantwortungsbewußtsein darum zu bemühen, Kriegen und Konflikten zuvorzukommen, das Recht und die Gerechtigkeit triumphieren zu lassen und gleichzeitig eine Entwicklung zu fördern, die allen und an erster Stelle denen zum Besten gereicht, die von den Ketten des Elends, des Hungers und des Leidens gefesselt sind. Die i n der Abrüstung bereits erzielten Fortschritte verdienen Anerkennung: die Wirtschafts- und Finanzmittel, die bisher für die Herstellung und den Handel so vieler Todeswerkzeuge aufgewandt wurden, sollen jetzt für und nicht mehr gegen den Menschen verwendet werden können! Ich bin sicher, daß sich Millionen von Männern und Frauen aus der ganzen Welt, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Stimme hören zu lassen, diesem positiven Urteil anschließen.

Ein besonderes Wort für die Christen 9. A n dieser Stelle kann ich es nicht unterlassen, eine besondere Aufforderung an alle Christen zu richten. Der gemeinsame Glaube an den Herrn Christus verpflichtet uns, einhellig Zeugnis zu geben vom „Evangelium vom Frieden" (Eph 6, 15). Es ist an erster Stelle unsere Sache, uns den anderen Gläubigen zu öffnen, um gemeinsam mit ihnen mutig und mit Ausdauer das großartige Werk des Aufbaus jenes Friedens in Angriff zu nehmen, nach dem sich die Welt sehnt, den sie sich aber nicht endgültig zu geben vermag. „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch", hat Jesus zu uns gesagt (Joh 14,27). Diese göttliche Verheißung erfüllt uns mit Hoffnung, daß der Friede möglich ist, denn bei Gott ist nichts unmöglich (vgl. Lk 1, 37). Der wahre Friede ist in der Tat immer ein Geschenk Gottes; für uns 20*

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Christen ist er ein wertvolles Geschenk des auferstandenen Herrn (vgl. Joh 20, 19.26). Auf die großen Herausforderungen der heutigen Welt, liebe Schwestern und Brüder der katholischen Kirche, müssen w i r dadurch antworten, daß w i r unsere Kräfte mit denen aller jener vereinen, die einige Grundwerte, angefangen von den religiösen und sittlichen, mit uns teilen. Und von diesen Herausforderungen muß jene des Friedens noch angegangen werden. Ihn gemeinsam mit den anderen Gläubigen aufzubauen bedeutet, jene evangelische Seligpreisung bereits i m Geiste zu leben, die den anderen gewiß nicht als letzte an die Seite gestellt ist: „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden" (Mt 5, 9). Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 1991. JOANNES PAULUS PP. E

DIE GLÄUBIGEN VEREINT I M AUFBAU DES FRIEDENS* Von Herbert Schambeck

I. Der Friede — eine Sehnsucht der Liebe Vom Frieden zu sprechen, bedeutet eine Sehnsucht der Menschen auszudrücken; eine Sehnsucht, die der einzelne Mensch bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unausgesprochen, immer mit sich trägt. Es ist die Sehnsucht nach einem Leben ohne Zwang und Gewalt, i n menschlicher Würde und persönlicher Freiheit, in sozialer Gerechtigkeit und einer intakten Umwelt. Der Friede scheint auch das Ziel aller Staaten zu sein, wobei aber oft nur die Verfolgung der staatlichen Interessen mit anderen Mitteln als militärischer Gewalt gemeint ist. Und letztlich ist der Friede auch das Ziel der Völkergemeinschaft, die sich i n der Charta der Vereinigten Nationen dazu bekennt, die künftigen Generationen von der Geisel des Krieges zu bewahren.

II. Schicksalsgemeinschaft Menschheit Je mehr sich die Menschen und Staaten auch auf Grund der technischen Entwicklung einander nähergekommen sind, ja noch mehr voneinander abhängig wurden, desto mehr wurde die Erfüllung der Friedenssehnsucht des einen vom Vorhandensein der Friedenswilligkeit des anderen abhängig, erweist sich die Menschheit auf Erden auch i n dieser Hinsicht als eine Schicksalsgemeinschaft. Diese gegenseitige schicksalshafte Bezogenheit der Menschheit zeigte sich in diesem Jahrhundert besonders i n zwei Weltkriegen, aber auch in vielen anderen Konflikten, die zwar regional bedingt waren, jedoch weltweite Auswirkungen hatten; es sei in diesem Zusammenhang u. a. an den jüngsten Golfkonflikt (1990 / 91) erinnert. Neben militärischen Auseinandersetzungen gibt es auch Gefährdungen für den Frieden anderer Natur, etwa durch die Technik, deren Fortschritt das notwendige Wachstum der Wirtschaft * Vortrag, gehalten am 22. Jänner 1992 in der UNO-City in Wien im Rahmen der Feier der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhls bei den Internationalen Organisationen in Wien anläßlich des 25. Päpstlichen Weltfriedenstages.

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herbeiführen kann, damit auch Arbeitsplätze schafft und der sozialen Sicherheit dient; andererseits kann aber eine falsch eingesetzte und ethisch nicht kontrollierte Technik die Umwelt gefährden und damit auch die Existenz von Menschen. Tschernobyl bleibt i n diesem Zusammenhang ebenso i n Erinnerimg wie viele andere umweltgefährdende Katastrophen. Nicht unerwähnt seien aber auch die Gefährdungen des Amazonas sowie Grönlands und die Größe des Ozonlochs, deren Folgen über die unmittelbare territoriale Region hinausreichen. Viele weitere Beispiele ließen sich nennen, welche zeigen, das die Menschheit heute wie vielleicht noch nie zuvor über die Grenzen der Kontinente i n der Sicherung ihrer Existenz und des Friedens aufeinander angewiesen ist. Über alle Grenzen der Staaten und Kontinente erfahren sich die Menschen als Teile der einen Schöpfungsordnung, die ihnen zur Wahrung des Friedens aufgetragen ist und welche die gläubigen Menschen als besonderen Gewissensauftrag ansehen sollten. m . Ein Vierteljahrhundert Päpstlicher Weltfriedenstag Es ist deshalb anerkennens-und dankenswert, daß seit 25 Jahren die Kirche durch die Stimmen des jeweiligen Nachfolgers Petri diesen Friedensauftrag der Menschheit i n jährlichen Weltfriedensbotschaften i n Erinnerung, ja noch mehr i n das Gewissen ruft. Diese 25 päpstlichen Friedensbotschaften verpflichten zu ihrer Beachtung zwar primär die Katholiken, sie sind aber als eine Einladung zu einem gemeinsamen Bemühen um den Frieden an alle Menschen gerichtet. Papst Johannes Paul II. hat 1992 besonders alle Menschen, die nach ihren religiösen Überzeugungen leben, aufgerufen, eine Friedensgemeinschaft zu werden und als „Gläubige vereint i m Aufbau des Friedens" zu wirken. Das Motto dieses 25. päpstlichen Weltfriedenstages kann i m Zusammenhang mit der am 1. Mai 1991 erfolgten Verkündigung der neuen Sozialenzyklika Centesimus annus und der am 13. Dezember 1991 zu Ende gegangenen Europäischen Bischofssynode mit ihren Beschlüssen gesehen werden. I n allen drei Dokumenten, also der neuen Sozialenzyklika, den Beschlüssen der Europäischen Bischofssynode sowie dieser 25. päpstlichen Weltfriedensbotschaft, geht es um eine weltweite Brüderlichkeit, die auch zugleich sozial ist. Jede dieser bisherigen 25 päpstlichen Weltfriedensbotschaften hat einen eigenen Aspekt des Bemühens um den Frieden angesprochen, jede dieser Botschaften ist aber auch i m Hinblick auf die jeweilige Situation der Zeit zu betrachten. So war die 1. Weltfriedensbotschaft 1968 durch Papst Paul

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VI. noch zur Zeit des politischen West / Ost-Gegensatzes, der Konfrontation der Machtblöcke und vor allem auch der Teilung Europas verkündet worden. Mit der sogenannten vatikanischen Ostpolitik, die schon als Notwendigkeit Papst Pius XII. erkannte, Papst Johannes X X m . initiierte und die in ihrer ersten Ausführung mit dem Namen des späteren Kardinalstaatssekretärs Agostino Casaroli verbunden bleibt, suchte der Heilige Stuhl diesen Gegensatz zu mildern und zur Wahrung der Menschenrechte, insbesondere der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit beizutragen. Der Heilige Stuhl konnte dies später i n der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fortsetzen — und wie w i r heute auch feststellen können — erfolgreich, was der Korb H I der Schlußakte von Helsinki zeigt, auf deren Formulierung nicht zuletzt auch der österreichische Botschafter Dr. Helmut Liedermann Einfluß genommen hat.

IV. Heutige Bedrohung des Friedens Heute nach 25 Jahren ist dieser Gegensatz von West nach Ost weggefallen. Die Mauer i n Berlin und der Eiserne Vorhang, der auch einen Großteil der österreichischen Grenzen ausmachte, wurde beseitigt. Die Teilung in einen freien Westen und einen kommunistischen Osten i n Europa sowie der Gegensatz der ideologischen Machtblöcke in der Welt existieren nicht mehr. Diese erfreuliche Entwicklung i n der Politik heißt aber noch lange nicht, daß es keinen Gegensatz unter den Menschen mehr gibt und daß Friede eingezogen wäre. Friedlosigkeit und sehr schmerzliche Unterschiede, ja Konfrontationen bestehen weiter unter den Menschen. Ich meine die Unterschiede i n Staaten mit verschiedenen Nationahtäten und ethnischen Minderheiten in Gegensätzlichkeit und solche Staaten, wo derartige Konfrontationen nicht gegeben sind; ich meine die Unterscheidung i n reichere und ärmere Staaten sowie i n Staaten mit einem verständnisvollen Miteinander der einzelnen Länder und Regionen und solche des bürgerkriegsähnlichen Kampfes, wie z. B. i m Bereich des früheren Jugoslawien, vergessen w i r aber auch nicht den Unterschied zwischen Staaten, deren Bevölkerung das Weite sucht und solchen Staaten, deren Bevölkerung diese Heimatlosigkeit erspart bleibt.

V. Wegweisungen des Papstes Diese erlebbare und überprüfbare Zeitsituation gilt es zu bedenken, wenn Papst Johannes Paul II. seine Weltfriedensbotschaft 1992 an alle Menschen, besonders an die, welche einen Glauben besitzen, richtet. Er w i l l uns auch

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den Wert des Friedens erneut als Ziel vor Augen halten, denn er weiß aus seinem eigenen Leben, was Unfreiheit und Unmenschlichkeit bedeuten. Papst Johannes Paul Et. w i l l die Menschen zu Pilgern für den Frieden und die Welt zu einem Haus des Friedens machen. Der Friede kann gerade in einer Zeit sogenannten technischen Fortschritts niemals das endgültige Ergebnis einer Art vollkommener Technologie, auch nicht der Diplomatie sein, von der bekanntlich die hl. Katharina von Siena sagte, die Diplomatie sei „die Kunst, Frieden zu schaffenDer Friede muß vielmehr das Ziel ständiger und umfassender Bemühungen aller sein, verlangt, wie Papst Johannes Paul II. erklärte, „die solidarische Mitwirkung aller: der Politiker, der Leiter internationaler Organisationen, Gruppen und der privaten Bürger". 1 Es kommt darauf an, „ohne jede Diskriminierung Beziehungen herzustellen, die von Achtung, Verständnis, Wertschätzung und Liebe bestimmt sind". 2 Papst Johannes Paul II. spricht sich auf diesem Weg zum Frieden für interreligiöse Beziehungen aus: sie verlangen einen „Weg des gegenseitigen Kennenlernens . . . , des hochherzigen Verzeihens, der brüderlichen Versöhnung, der Zusammenarbeit auch i n begrenzten oder Sekundärbereichen". 3 Dies verlangt jedem ein Beispiel ab, damit auch er ein „Baumeister des Friedens" 4 werden kann, nämlich ein Beispiel an Gelassenheit, Ausgeglichenheit, Verzeihen und Hochherzigkeit. 5

VI. Wesen und Voraussetzungen des Friedens Friede ist für Papst Johannes Paul II. nicht die Stille der sogenannten Grabesruhe, die jede eigenständige Meinungs- und Willensäußerung des Menschen unmöglich macht. Papst Johannes Paul II. spricht sich für einen Frieden aus, der auf Gerechtigkeit baut. Wörtlich erklärt er: „Der Friede ist ein grundlegendes Gut, das mit der Achtung und Förderung der wesentlichen Werte des Menschen verbunden ist: mit dem Recht auf das Leben i n allen Phasen seiner Entwicklung; mit dem Recht auf Anerkennimg unabhängig von Rasse, Geschlecht und religiöser Überzeugung; mit dem Recht auf die für das Leben notwendigen materiellen Güter; mit dem Recht auf Arbeit 1 Botschaft Papst Johannes Paul II. zur Feier des 2 5. Weltfriedenstages am 1. Januar 1992, Deutsche Ausgabe, Vatikanische Druckerei, S. 5. 2 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 7. 3 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 10. 4 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 10. 5 25. Weltfriedensbotschaft, a. a.'O., S. 10.

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und die gerechte Verteilung ihrer Früchte für ein geordnetes und solidarisches Zusammenleben." 6 Zu diesem Zweck fordert Papst Johannes Paul H „die öffentlichen Autoritäten jeden Ranges auf, sich mit wachsamem Verantwortungsbewußtsein darum zu bemühen, Kriegen und Konflikten zuvorzukommen, das Recht und Gerechtigkeit triumphieren zu lassen und gleichzeitig eine Entwicklung zu fördern, die allen und an erster Stelle denen zum Besten gereicht, die von den Ketten des Elends, des Hungers und des Leidens gefesselt sind". 7 Der Friede hat für Papst Johannes Paul II. eine politische, internationale, aber auch kulturelle, soziale und wirtschaftliche Seite. Er ist für ihn ein Weg, den Menschen Hunger und Durst zu nehmen, ihnen einen gesicherten Lebens- und Arbeitsplatz zu schaffen und auf diese Weise i n Anerkennung der Würde der Arbeit, die Papst Johannes Paul II. in seinen Sozialenzykliken Solhcitudo rei socialis und Centesimus annus betonte, die Entfaltung der Persönlichkeit des Menschens, zu der die Arbeit als Leistungserbringung beitragen kann, zu ermöglichen.

VII. Solidarität als Grundlage des Friedens Dieser Aufruf zu weltweiten Sicherung eines derartigen Friedens, der das politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben i n gleicher Weise erfaßt, ist gerade i n unserer Zeit von größter Aktualität, i n der man sich in verschiedenen Erdteilen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und anderer autoritärer sowie totalitärer Regime bemüht, den Weg zu einer neuen Demokratie i n Mittel- und Osteuropa zu finden, in welcher der einzelne Mensch nicht bloß Objekt der Machtausübung, sondern Subjekt der Staatswillensbildung sein soll. Alle Gläubigen sollten i n weltweiter Solidarität an der Schaffung dieser neuen Demokratie i n Mittel- und Osteuropa mitwirken. Die Verantwortung hierfür ist groß und der Weg hierzu ist schwierig. Wir erleben es besonders i n der Entwicklung der politischen Verhältnisse i n Mittel- und Osteuropa, vor allem auch i n unserer südlichen Nachbarschaft. Nach dem Wegfall der Zwangsherrschaft, einer Herrschaftsideologie wie die des Kommunismus, entstehen alte ethnische und sonst territorial bedingte Gegensätzlichkeiten neu und führen bis zu bürgerkriegsähnlichen kämpferischen Auseinandersetzungen. Man hat manchmal den begründeten Ein6 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 11. 7 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 13.

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druck von dem mangelnden Willen, aus der Geschichte von gestern für den Weg ins Morgen etwas dazulernen zu wollen. I n einer solchen Zeit des Umbruchs kommt es darauf an, daß die frühere ideologisch bedingte Zwangsherrschaft nicht von einer neuen Diktatur entweder einer Einzelperson oder einer Politikerclique abgelöst wird, sondern von einer demokratischen Ordnung. Die i n ihr gewährten Freiheiten und Grundrechte werden aber von einzelnen Menschen danach beurteilt werden, ob sie ihnen auch die materiellen Bedingungen für ihr Leben, also schlicht und einfach die menschliche Existenzgrundlage zu verschaffen und zu sichern vermögen. Man kann nämlich, auch dafür gibt es viele Beispiele, in Freiheit verhungern, i n Freiheit erfrieren oder sonstwie i n Freiheit verkommen. Die bloße Ankündigung der Vorteile der Marktwirtschaft auch mit sozialem Charakter allein genügt nicht, es wird am Weg hiezu die Caritas notwendig sein, nämlich die mitmenschliche Hilfe, die dem einzelnen Menschen sein Leben sichert, und es wird von den bisherigen Staaten mit freier Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft erforderlich sein, den Staaten mit neuen Demokratien ihre Erfahrungen i n Theorie und Praxis mit allen Vor- und Nachteilen zur Verfügung zu stellen, sowie ihnen i m Übergang auch materiell und sozial zu helfen. Je schneller dies geschieht, desto eher kann der Bewegimg der Sozial- und Wirtschaftsflüchtlinge begegnet werden; denn es ist zweckdienlicher, den i n Not geratenen Menschen in ihrer Heimat zu neuen Wegen zu helfen, damit sie ihre Heimat nicht verlassen müssen, als ihnen als Flüchtlinge und damit als Heimatlose Beistand zu leisten. Es wäre traurig, wenn das Ende dieses Jahrhunderts und Jahrtausends weiter von einer neuen Völkerwanderung auch i n Europa geprägt sein würde. V m . Redlichkeit und Toleranz Dieses heute erlebbare Erfordernis des gegenseitigen Helfens, beginnend mit dem Aufeinanderzugehen, Verstehen und Teilen, könnte eine neue Form der Mitmenschlichkeit entstehen lassen. Die Europäische Bischofssynode nannte sie i n ihrem Schlußdokument, verabschiedet am 13. Dezember 1991, „eine ursprüngliche Geschwisterlichkeit der Menschen als Prinzip solidarischen Zusammenlebens i n der Verschiedenheit der Menschen und Völker". 8 Dies verlangt nicht ein Negieren und Nivellieren der Unterschiedlichkeit, sondern deren Tolerieren und Koordinieren. Die Europäische Bischofssynode hat es schon hervorgehoben: „Wahre Gemeinschaft entsteht nur dann, wenn 8 Deutsche Ausgabe des Schlußdokuments der Europäischen Bischofskonferenz, S. 5.

Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens

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jeder die eigene Würde des Nächsten und die Unterschiedenheit als Reichtum wahrnimmt, ihm dieselbe Würde ohne Gleichmacherei zuerkennt und bereit ist, die eigenen Fähigkeiten und Gaben mitzuteilen". 9 Dieses Aufeinanderzugehen, das nicht auf ein Bewältigen des anderen, sondern auf ein verstehendes Miteinander gerichtet ist, verlangt eine Ablehnung jeder Form des Fundamentalismus und Fanatismus. Der interreligiöse Dialog kann auch nicht darin bestehen, daß die einen offen entgegenkommen und die anderen fundamentalistisch starr ablehnend bleiben! Papst Johannes Paul n . warnt i n dieser 25. Weltfriedensbotschaft besonders vor diesen Extremismen und vor der Rechtfertigung von Kämpfen und Konflikten mit anderen, auch religiösen Motivierungen. 10 Papst Johannes Paul II. betont vielmehr: „Wenn es einen Kampf gibt, der des Menschen würdig ist, dann der gegen die eigenen unmäßigen Leidenschaften, gegen jede Art von Egoismus, gegen die Versuche von Veruntreuung auf Kosten des anderen, gegen jede Art von Haß und Gewalt: mit einem Wort gegen all das, was also das genaue Gregenteil von Frieden und Versöhnimg i s t . " 1 1 Wer diese Zielvorstellungen Papst Johannes Paul II. mit dem heute von uns i m privaten und öffentlichen Leben Erfahrbaren vergleicht, der muß leider zumeist das Gegenteil des gewünschten feststellen: heblose Berechnung und eiskalte Macht bestimmen zumeist das Leben. Ihnen sollte man mit einer Kultur des Glaubens, des Herzens, des Verstehens und des Helfens begegnen. Jeder Kontinent ist i n der Lage, das Seine zum Entstehen einer neuen Menschlichkeit zu leisten, die weltweit wegweisend sein könnte. Ich denke z. B. an das unvergeßliche Beispiel von Mahatma Gandhi an Friedenshebe und Versöhnungsbereitschaft. Viele Eigenschaften von Völkern verschiedener Erdteile ließen sich nennen, die ein Beispiel sind, welche gemeinsam i n einer weltweiten Verbundenheit aller Menschen guten Willens einen neuen Frieden und mit ihm eine neue, wirksame Form an Humanität begründen lassen. Jeder kann jederzeit bei sich mit seinem Nächsten, i n seinem Vaterland und mit diesem in der Völkergemeinschaft beginnen.

IX. Ziel: Menschen lieber glücklich machen! Zur Erreichung dieses Zieles, das keiner internationalen Konferenzen und Proklamationen, sondern der verstehenden mitmenschlichen Haltung jedes Einzelnen bedarf, wünsche ich Ihnen die Verwirklichung der Empfehlung 8 Deutsche Ausgabe des Schlußdokuments, S. 8. 10 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 12. 11 25. Weltfriedensbotschaft, a. a. O., S. 12.

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Herbert Schambeck

einer Frau, die vor wenigen Jahren aus gleichem Anlaß hier an der gleichen Stelle gestanden ist, einer Frau, die w i r alle verehren und die uns unvergeßlich bleibt, nämlich Mutter Teresa, die mich bei meinem ersten Besuch bei ihr i n Calcutta, es war i m Herbst 1979 anläßlich der Generalversammlung der IAEO i n New Delhi, mit dem Wunsch verabschiedete, mit welchem auch ich m m schließe: „Lasse nie zu, daß ein Mensch nach der Begegnung mit Dir nicht glücklicher geworden ist!" Wenn w i r i m Sinne dieser Worte uns ständig bemühen, wo jeder steht, die Menschen glücklicher zu machen, dann haben w i r auch i m Sinne Papst Johannes Paul IL und der 25. Weltfriedensbotschaft die Chance, das Unsere zu leisten, um als Gläubige vereint zum Aufbau des Friedens beizutragen.

HERAUSGEBER- UND MITARBEITERVERZEICHNIS

Wladyslaw Bartoszewski, Prof. Dr. h. c., ao. und bev. Botschafter der Republik Polen bei der Republik Österreich. Felix Ermacora, Dr., DDr. h. c., o. Universitätsprofessor für öffentliches Recht an der Universität Wien. Hermann Haupt , Dr., o. Universitätsprofessor, Vorstand des Instituts für Astronomie i n Graz. Marian Heitger, Dr., o. Universitätsprofessor für Pädagogik an der Universität Wien, Vorstand des Instituts für Medienpädagogik am Internationalen Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaft in Salzburg. Egon Kapellan, Dr., Diözesanbischof der Diözese Gurk-Klagenfurt. Rudolf Kirchschläger, Österreich.

Dr., Dr. h. c. mult., Altbundespräsident der Republik

Heribert Franz Köck, Dr., M. c. 1., o. Universitätsprofessor für Völkerrecht, Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Linz, Mitglied der Ständigen Vertretung des Hl. Stuhls bei den internationalen Organisationen i n Wien. Helmut Liedermann, Dr., Exekutivsekretär der Verhandlungen über Vertrauens» und Sicherheitsbildende Maßnahmen (im Rahmen der KSZE). Robert Prantner, DDr., Dr. h. c., Hochschulprofessor für Ethik und Gesellschaftslehre, Gesandter und Geschäftsträger der Botschaft des Souveränen Malteser-Ritterordens i n Österreich. Josef Kardinal Ratzinger, Dr. Dr. h. c. mult., Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Herbert Schambeck, Dr. Dr. h. c., o. Universitätsprofessor für öffentliches Recht, politische Wissenschaften und Rechtsphilosophie an der Universität Linz, Präsident des Bundesrates der Republik Österreich, Mitglied der Delegation des Heiligen Stuhls zur Generalkonferenz der Internationalen Atomenergie-Organisation.

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Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis

Johannes Schasching SJ, Dr. Dr. h. c., o. Universitätsprofessor i. R. an der Päpstlichen Universität Gregoriana i n Rom. Heinrich Segur SJ, Leiter des Exerzitienreferats der Erzdiözese Wien. Donato Squicciarini, DDr., Titularerzbischof von Tiburnia, Apostolischer Nuntius i n Österreich, Ständiger Vertreter des Heiligen Stuhls bei den Internationalen Organisationen i n Wien. Kurt Waldheim, Dr. Dr. h. c. mult., Bundespräsident der Republik Österreich. Rudolf Weiler, DDr., Prälat, o. Universitätsprofessor für Ethik und Sozialwissenschaften an der Universität Wien.