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German Pages [192] Year 2015
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Für Mone, die es auf ihre Weise begleitet
Thomas Stölzel
Die Welt erkunden Sprache und Wahrnehmung in Therapie, Beratung und Coaching
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 3 Abbildungen und 2 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40376-2 Umschlagabbildung: www.shutterstock.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Mensch als sprechendes und wahrnehmendes Wesen . . . . . 10 Der Mensch als sprechendes Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 »Im Anfang war das Wort« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Exkurs über den Anfang und das Anfangen . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Wie reden wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 »Sprachspiele« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Exkurs über das Denglische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Das Zauberwort treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Etwas besprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Exkurs: Transitiv oder reflexiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Mit anderen Worten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Begriffe sind keine Einzelkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Anschauliche Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Genau und klar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die menschliche Sprache als zentrales Arbeitsinstrument . . . . . 94 Der Mensch als wahrnehmendes Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Was sich zeigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Exkurs über das Selbstverständliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Am »Nullpunkt« der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
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Inhalt
Systemaufstellungen – eine Anwendungsform der Phänomenologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Sich anmuten lassen – Phänomenologie im Umgang mit dem anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Dynamik des Dialogischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Gleitende Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 »Unaufmerksamkeitsblindheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Zwei Lebensinstrumente stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Tubus heuristicus – Der Mensch als Welterkunder . . . . . . . . . . . 172 Chronologische Liste der Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Vorwort
Wie sähe unsere Welt aus – ohne die Möglichkeit, sprechen und wahrnehmen zu können? Man braucht sich nur ein wenig mit dieser Frage zu beschäftigen, um zu erkennen, wie grundlegend diese beiden so selbstverständlichen Tätigkeiten sind. Sie bilden so etwas wie die beiden Lebensinstrumente, die den Klang unseres persönlichen Daseins modulieren. Alles, was wir erfahren können, wird durch sie überhaupt erst ermöglicht. Das mag manchem trivial, ja banal erscheinen. Doch dass gerade die vermeintlichen Banalitäten des Lebens eine besondere Rückseite haben – wendet man die sprichwörtliche Medaille –, ist oft bemerkt worden. Und so soll in diesem Buch gewissermaßen die Medaille umgedreht werden, um deutlich werden zu lassen, was zutage tritt, wenn existentielle Themen wie Sprache und Wahrnehmung anders betrachtet werden – und dies nicht allein im Kontext von Therapie, Beratung oder Coaching. Unter dem Titel: »Die Welt erkunden. Sprache und Wahrnehmung in Therapie, Beratung und Coaching«, steht eine konzentrierte Heranführung an zwei methodisch aufbereitete Zugänge, die für die persönliche wie berufliche Orientierung höchst relevant sind: Die Sprache als Erkenntnismittel und die phänomenologische Welterfahrung. Sie werden hier in einer Weise vorgestellt, die unmittelbar zum Selbstdenken, zur kritischen Hinterfragung wie zur Intensivierung der persönlichen Lebenswelt anregt. Dabei ist der Text so gestaltet, dass sich essayistische und erläuternde Partien mit Übungen und perspektivischen Angeboten abwechseln. Die praktischen Einheiten dienen dazu, die hier vorgestellten Thesen und Reflexionen an der eigenen Erfahrung besser überprüfen zu können und Philosophieren als konkreten Handlungsvollzug sichtbar werden zu lassen. Viele der hier dargestellten Methoden wurden durch die Arbeit mit Einzelnen, Gruppen, Teams oder Organisationen erprobt. Doch wendet der Text sich damit nicht allein an Therapeuten, Berater, Coaches, Seelsorger, Organisationsentwickler oder Philosophische Praktiker, sondern gleichermaßen an alle Leser,
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die ihre Erfahrungen tiefer verstehen und ihre Lebensmöglichkeiten genauer erkunden wollen – und dies anhand von zwei so elementaren und oft eigens nicht betrachteten Selbstverständlichkeiten. Das Buch setzt auf seine Weise die beiden Vorgängerbände – »Staunen, Humor, Mut und Skepsis. Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« und »Fragen – Lösen – Fragen. Philosophische Potentiale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung« – fort; es fasst sozusagen die losen Enden dieser Bände an zwei kardinalen Punkten: der Sprache und der Wahrnehmung. Ohne zu sehr in eigener Sache zu werben, kann ich sagen, dass der Gewinn für Leser, welche diese Bände bereits kennen oder jetzt kennenlernen wollen, größer ist. Das dritte Buch steht aber auch für sich und kann für sich gelesen und verwendet werden. Mit diesem Buch beende ich (fürs Erste) eine Zwischenbilanz meiner Arbeit der letzten zwanzig Jahre. Wie in den beiden anderen Büchern ist das grammatische Genus männlich. Das liegt nicht in dem Umstand begründet, dass ich diesem Geschlecht angehöre, sondern in der bislang nicht befriedigend gelösten Tatsache, beide Geschlechter gleichzeitig angemessen und sprachlich gelenk abzubilden. Die geneigten Leserinnen können also das »er« oder »ihn« als »sie« oder »ihr« lesen. Es bleibt mir noch, meinen Dank auszusprechen; und der gilt »ihr« wie »ihm« gleichermaßen. Ich danke auch hier Matthias Ohler für die konstruktive und bereichernde Zusammenarbeit in der früher gemeinsam geleiteten Fortbildungsreihe »Philosophisches Jahr« und anderen Seminaren und Supervisionen sowie für alle Anregungen und Hinweise, die ich von ihm erhalten habe; Peter Friedrich und Charlotte Friedli aus dem Fachbereich Psychosoziales Management der Fachhochschule Nordwestschweiz für ihr Engagement bei der Etablierung des CAS-Kurses »Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext« und ihr Interesse an den hier behandelten Themen; Fritz B. Simon, der die Anregung gegeben hat, diese Bücher überhaupt zu verfassen; Günter Presting, Sandra Englisch und Imke Heuer vom Vandenhoeck & Ruprecht Verlag für ihr beständiges Interesse an dem Thema und die Möglichkeit, noch einen dritten Band in ihr Programm aufzunehmen, sowie für die abermalige gute und professionelle Zusammenarbeit; Silke Strupat für ihre sorgfältige Durchsicht auch dieses Manuskripts. Zuletzt und wiederum zumeist danke ich meinem persönlichen Umfeld und hier an erster Stelle (die Widmung deutet es wiederum an)
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meiner lieben Frau Simone Stölzel für ihre abermalige Anteilnahme, Dialogbereitschaft und Unterstützung, mit der sie den Entstehungsprozess dieses Buches freundlich-kritisch begleitet hat. Und ich danke unseren Kindern Maura, Nikolai, Valentin und Milan für ihr Verständnis und ihre (von der Hoffnung getragene) Rücksichtnahme, ihr Vater möge nach Beendigung dieses Buches wieder leichter ansprechbar sein. Ich wünsche allen Lesern, die bereit sind, sich auf eine Überprüfung ihrer Sprach- und Wahrnehmungsmöglichkeiten einzulassen, viele Anregungen, Aufschlüsse und Anknüpfungspunkte, die ihre Arbeit und ihr Leben bereichern und sie anders mit dem Umstand in Kontakt bringen, was es heißt, – sprechend und wahrnehmend – auf der Welt zu sein und sich auf eigene Weise in ihr zu bewegen.
Thomas Stölzel
Der Mensch als sprechendes und wahrnehmendes Wesen Meine Muttersprache hat recht. Die Welt schaut so aus, wie meine Muttersprache sie beschreibt. Ernst von Glasersfeld Aufenthalte in zweisprachigen Städten, wie zum Beispiel in Fribourg, Bozen oder Frankfurt an der Oder, in denen die Dinge auch öffentlich zwei Namen haben, können sehr aufschlussreich sein. Sie bieten nicht nur Deutschsprachigen die Möglichkeit, leichter Französisch, Italienisch oder Polnisch zu lernen; sie irritieren (vor allem bei einsprachigen Menschen) eine willkürliche Verbindung, die für viele zur Gewohnheit, ja zur Selbstverständlichkeit geworden ist. »Für uns heißen alle Dinge mit Notwendigkeit gerade so, wie sie in unserer Sprache heißen, so und nicht anders. Die naive1 Identifikation der Dinge mit ihren Namen gibt uns die – trügerische – Gewissheit, mit unseren Worten von den Dingen selbst zu reden« (Wandruszka, 1979, S. 18). Wer sich auf diese Irritation einlässt, der kann spüren, wie sein Gewohnheitspanzer in Schwingung und sein Selbstverständlichkeitsgefühl ins Schwanken gerät. Denn die »richtige« Kongruenz zwischen Wort und dem durch dieses Wort bezeichneten Erscheinungsbild passt nicht mehr zusammen. Zwar sieht das wahrgenommene Ding noch ganz genauso aus, heißt jetzt aber anders. Genauer: Es hat einen zweiten Namen, der jedoch gleichberechtigt neben dem ersten steht. Und angenommen, ich nehme jetzt das andere Wort, das ja für dieselbe Sache steht, verändere ich dann auch das Bezeichnete? Fühlt sich der Gegenstand, das Thema, die Person anders an, wenn ich statt »Haus« »maison« »casa« oder »dom« sage? Wenn wir etwas wahrnehmen, hören wir (zumeist 1
Paul Auster berichtet von der Entscheidung einer amerikanischen Schulbehörde, den Fremdsprachenunterricht einzustellen. Gefragt, wie die Bewohner dies fänden, äußerte einer, der wohl keine Einzelmeinung, sondern eine für das Land der Weltmissionierer typische Ansicht vertrat: »Ich habe damit kein Problem, überhaupt kein Problem. Wenn Englisch gut genug für Jesus war, ist es auch gut genug für mich«. Die Weltbild-Befangenheit ist hier so groß, dass nicht nur ein ahistorisches Bewusstsein sichtbar, sondern die Haltung deutlich wird, nach der »die Wahrnehmung der Welt […] so stark von der Sprache geprägt« wird, dass sich die Idee bildet, »die Welt existiert nur in einer einzigen Sprache, nämlich der, die man selber spricht« (Auster u. Coetzee, 2014, S. 81 f.).
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stumm) den Eigennamen mit und erzeugen so einen stabilen Wechselwirkungsprozess zwischen Wort und Ding, zwischen Sprache und Wahrnehmung (ich sehe »eine Eiche« und höre »eine Eiche«). Dieser zumeist unbemerkte Wechselwirkungsprozess begründet das Fundament unseres alltäglichen Welterlebens und teilt damit das Schicksal anderer Fundamente: Er schwindet aus unserem Gewahrsein; wir bemerken diesen »Boden«, auf dem unsere gesamte Welterfahrung ruht, nicht mehr, so lange, bis wir uns von der eben skizzierten Irritation zumindest subtil aus unserem Gewohnheitsschlaf aufstören lassen. Wir leben in einer Welt der Benennungen2, wobei – anders als in konsequent zweisprachigen Städten, wie Fribourg, Bozen oder Frankfurt an der Oder – an den Dingen und Orten keine Namensschilder angebracht sind, um der einen Sprachgruppe die Wörter und Begriffe der anderen vor Augen zu bringen und sie so miteinander zu verbinden. Als Bewohner von Benennungswelten benennen wir auch die unsichtbaren »Dinge«, wie Gedanken, Gefühle und Empfindungen. Wenn etwas keinen Namen hat, wird ihm rasch einer gegeben, wobei mitunter leblose Maschinen, wie Computersysteme, persönliche Namen erhalten und so leichter den Anschein erwecken, sie seien ebenfalls Personen. Das begünstigt dann projektive Zuschreibungen (»Der Olaf kommt heute nicht richtig in Fahrt!«). Man kann sich fragen: Gibt es so etwas, das nicht nur keinen Namen hat, sondern über das sich auch nicht sprechen lässt? Die nachfolgende Übung gibt Ihnen die Möglichkeit, dieser Frage etwas nachzuspüren und dabei in ein anderes Verhältnis zum Sag- und Besprechbaren zu kommen.
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»Das Nennen ist den Wörtern anvertraut, das Sagen den Sätzen«, sagt der Sprachwissenschaftler Mario Wandruszka (1979, S. 10). »Wir können« – gibt der Dichter und Essayist Wilhelm Lehmann zu bedenken – »wenn wir uns sprachlich in der Welt zurecht finden, das heißt: Wesen und Dinge benennen wollen, nicht die Welt als Ganzes in den Mund nehmen […] Ein Etwas muß uns genügen. Ein Tischler ist ein Mann, der nicht nur Tische anfertigt. Derjenige, der ihn so nannte, griff aus dessen vielen Tätigkeiten eine heraus. Die Erzeugung eines sprachlichen Ausdruckes hängt also nicht nur von der Beschaffenheit des zu bezeichnenden Gegenstands ab, sondern auch von der Auffassungsgabe des Benennenden. […] Aus dem Gesagten geht hervor, daß es eigentlich keine Synonyma, mithin eigentlich keine Übersetzung gibt […] Die Sprache eines anderen Landes erlernen heißt […] einer neuen Weltempfindung inne zu werden« (Lehmann, 2011, S. 62).
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Unaussprechliches In einem Brief an Paul Engelmann hat Ludwig Wittgenstein ein zugeschärftes Diktum aufgestellt. Er erklärt seinem Briefpartner wie seinen späteren Lesern: »Das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – in dem Aussprechbaren enthalten« (zit. nach Engelmann, 1970, S. 17). Nutzen Sie dieses Diktum als Forschungssonde, um anhand Ihrer Spracherfahrungen zu erkunden, ob Sie Wittgenstein beipflichten können oder nicht. Angenommen, Sie glauben, dass es so etwas wie das »Unaussprechliche« gibt, beruhigt oder irritiert Sie das? Welche Auswirkungen hat diese Anwesenheit von Unaussprechlichen auf den Austausch mit anderen und auf das, was ausgetauscht und ausgesprochen wird?
Als Bewohner von Benennungswelten befinden wir uns ständig in kommunikativen Prozessen, sind – mündlich, schriftlich oder stumm – andauernd mit anderen oder uns selbst im Gespräch. Um Ihnen die Vielfalt der (normalen) Alltagskommunikation anschaulich zu machen, möchte ich hier ein Szenarium einrücken, das der Psychiater Jürgen Ruesch vor Augen führt, der gemeinsam mit Gregory Bateson das Grundlagenbuch »Kommunikation« herausgebracht hat (das, als es – 1951 – erstmals erschien, seiner Zeit um einiges voraus war). Ruesch lässt darin einen imaginären »Herrn A.« auftreten, der beispielhaft vorführt, was viele Nicht-Imaginäre, ohne es zu bemerken und zu beachten, in kommunikativer Hinsicht alles können und tun: »Am Morgen, wenn Herr A. sein Büro betritt, liest er die eingegangene Post (geschriebene Kommunikation). Beim Sortieren der Post stößt er auf einige Broschüren, die gestaltet wurden, um die Vorzüge verschiedener Geschäftsmaschinen zu beschreiben (bildhafte Kommunikation). Durch das geöffnete Fenster ist der schwache Lärm eines Radios zu hören; die Stimme eines Ansagers preist deutlich die Qualität einer Zahnpastamarke (gesprochene Kommunikation). Als seine Sekretärin den Raum betritt, grüßt sie ihn mit einem fröhlichen ›Guten Morgen!‹, was er seinerseits mit seinem freundlichen Kopfnicken beantwortet (gestische Kommunikation), während er sein Telefongespräch mit einem Geschäftspartner fortsetzt (gesprochene Kommunikation). Später am Morgen diktiert er seiner Sekretärin eine Anzahl Briefe, dann hält er eine Ausschußsitzung ab (Gruppenkommunikation), in der er die Ratschläge seiner Mitarbeiter sammelt. In dieser Versammlung wird die Auswirkung einer Anzahl neuer Regierungserlasse (Massenkommunikation) auf die Politik der Firma diskutiert. Im späteren Verlauf der Versammlung wird eine Resolution der Angestellten der Firma, welche den jährlichen Bonus betrifft (Massen-
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und Gruppenkommunikation), überdacht. Nachdem der Ausschuß sich vertagt hat, überquert Herr A. langsam die Straße, um in sein Restaurant zum Mittagsessen zu gehen; seine Gedanken kreisen dabei um nicht erledigte Arbeiten (Kommunikation mit sich selbst). Auf dem Weg sieht er seinen Freund, Herrn B., der in großer Eile das gleiche Speiselokal betritt (Kommunikation durch Handlung). Herr A. entscheidet sich dafür, allein und nicht mit seinem Freund zu Mittag zu essen, der wahrscheinlich seinen Kaffee herunterschütten und weitereilen wird (Kommunikation mit sich selbst). Während des Wartens studiert Herr A. die Speisekarte (Kommunikation durch gedrucktes Wort), aber der Geruch eines saftigen Steaks lenkt seinen Blick ab (chemische Kommunikation). Es riecht so appetitanregend, daß er selbst ein Steak bestellt. Nach dem Mittagessen entscheidet er sich, ein Paar Handschuhe zu kaufen. Er betritt einen Herrenladen und prüft mit seinen Fingerspitzen die verschiedenen Qualitäten des Leders (Kommunikation durch Berührung). Nachdem er gemächlich seinen Einkauf beendet hat, entschließt er sich, den Nachmittag freizunehmen und seinen Sohn bei einem versprochenen Ausflug in den Zoo zu begleiten. Auf dem Weg dorthin fragt John seinen Vater, den er beim Fahren durch die Straßen beobachtet, warum er immer bei rotem Licht anhält und bei grünem Licht nicht (Kommunikation durch visuelle Signale). Als sie sich dem Zoo nähern, heult ein Krankenwagen die Straße hinunter, und Herr A. fährt an den Straßenrand und hält (Kommunikation durch Geräusch). Als sie so dasitzen, erklärt er seinem Sohn, daß die Kirche auf der anderen Straßenseite die älteste in der Gemeinde ist, gebaut vor vielen Jahren und immer noch Wahrzeichen der Gemeinde (Kommunikation durch materielle Kultur). Nach dem Bezahlen des Eintrittsgeldes für den Zoo (Kommunikation durch Aktion), schlendern sie gemächlich zu den Elefanten. Hier lacht John über die Possen eines Elefanten, der Wasser durch seinen Rüssel auf einen Zuschauer sprüht (Kommunikation durch Aktion) und ihn fast in die Flucht jagt. Später am Nachmittag gibt Herr A. dem Druck seines Sohnes nach, und sie gehen ins Kino, um einen Trickfilm anzuschauen (Kommunikation durch Bilder). Zu Hause angekommen zieht Herr A. sich um, um an einem formellen offiziellen Abendessen und einer Theateraufführung teilzunehmen (Kommunikation durch die Künste)« (Ruesch u. Bateson, 1995, S. 33 ff.; Kursiva von T.S.).
Die persönliche Wortsprache – als Grundlage jeder verbalen Kommunikation – bildet eine der wenigen Konstanten im veränderungsanfälligen Leben eines Menschen; sie ist sein lingualer Wohnort, dessen Fundamente nicht von ihm selbst stammen. Zugespitzt gesagt, sind wir alle habituelle Nachplapperer gewesen, die – Laut für Laut, Wort für Wort, Satz für Satz – eine uns vorgegebene, vorgesprochene Spra-
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che nachahmend ‒ allmählich (mehr oder weniger) eine persönliche Sprache mit erkennbaren Verwendungseigenheiten und Gebrauchsweisen entwickelt und einen persönlichen Ausdruck gefunden haben. So gesehen, gilt für den Einzelnen, was Karl Kraus in seinem Gedicht »Bekenntnis« über sich sagt: »Ich bin nur einer von den Epigonen die in dem alten Haus der Sprache wohnen« (Kraus,1989, S. 93).
Wir bewegen uns, wenn wir auf individuelle Weise eine bestimmte Sprache (wie etwa das Deutsche, Englische, Russische etc.) verwenden, in einem spezifischen linguistischen Universum, in dem wir die Welt deutsch, englisch, russisch etc. erleben. In seinen »Cahiers«, in denen sich Paul Valéry allmorgendlich der Erforschung seines Bewusstseins widmete (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 76 f.), notiert er nach vielen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema3 die Einsicht: »Die Sprache ermöglicht uns, nicht hinschauen zu müssen« (zit. nach Stölzel, 2011, S. 240). In einem gedrängten und allgemeinverständlichen Satz erkundet Valéry das besondere Potential der Sprache im Hinblick auf die Wahrnehmung. Er sagt, was die Sprache kann, und sagt zugleich, welche Gefahren in diesem Vermögen der Sprache – wird es nicht eigens reflektiert – wirksam werden. Da wir die Namen der Dinge, Personen, Orte usw. ja kennen, meinen wir, sie nicht mehr genauer beachten und betrachten zu müssen. Dieses Nicht-genauer-Beachten und -Betrachten hat häufig fatale Auswirkungen. Es erzeugt und erhält ein vermeintliches Wissen einer anscheinend allzu bekannten Welt und führt zu vielen Fragen und Problemen, die im professionellen Kontext von Therapie, Beratung und Coaching aufscheinen und zur Sprache kommen. Ich möchte daher in diesem Buch ein wenig Grundlagenarbeit betreiben und Sie dazu einladen, gegenüber Ihrer gewohnten Wortsprache und Ihrer gewohnten Wahrnehmungsweise einen wohlwollendkritischen Forschungsabstand einzunehmen und sich dadurch sprachlich und wahrnehmend anders zu erfahren. Das bedeutet: die beiden 3 Der Valéry-Forscher und Hauptübersetzer der »Cahiers« von Valéry, Hartmut Köhler, bezeichnete ihn als den größten französischen Phänomenologen und einen der subtilsten Sprachdenker (vgl. Stölzel, 2014, S. 71 f.).
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unverzichtbaren »Lebensmittel« (Sprache und Wahrnehmung), die uns Menschen in besonderer Weise gegeben sind, zu zwei persönlich ausgestaltbaren Lebensinstrumenten weiterzuentwickeln. Unter den Charakteristika, die sich der Mensch selbst zugeschrieben hat, erscheint er nicht nur als Sprache habendes Wesen (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 65), als homo loquens, sondern auch als wahrnehmendes Wesen, als homo percipiens. Die nachfolgende Übung eröffnet Ihnen die Möglichkeit, in einen konkreten Kontakt mit Ihren persönlichen Wahrnehmungsweisen zu kommen.
Im Käfig meiner Wahrnehmungen Stellen Sie sich vor, um Sie herum sei ein filigraner, an verschiedenen Stellen offener Kokon, der jedoch für Ihre Umgebung unsichtbar sei und von dem auch niemand außer Ihnen etwas wisse. Die feinen Öffnungen dieses Kokons bilden die Wahrnehmungsschlitze, durch die Sie die Welt um sich herum sehen, hören, tasten, schmecken, riechen können. Bewegen Sie sich nun, angetan mit dieser unsichtbaren Hülle, in Ihrer vertrauten Alltagswelt. Gehen Sie mit diesem Harnisch Ihren beruflichen und persönlichen Projekten nach. Achten Sie darauf, durch welche Wahrnehmungsschlitze welche Botschaften »von außen« zu Ihnen dringen und welche Botschaften Sie durch die Schlitze hindurch senden. Nehmen Sie dabei die Ränder der Wahrnehmungsschlitze wahr. Beschäftigen Sie sich damit, was diese abdecken bzw. was noch ansatzweise in Ihr Wahrnehmungsfeld reicht. Beschäftigen Sie sich mit den Übergängen von »ansatzweise noch erkennbar« bis »nicht – für mich – wahrnehmbar«. Stellen Sie Vermutungen darüber an, was Ihnen – durch die Art und Enge Ihrer persönlichen Wahrnehmungsschlitze – nicht bemerkbar ist. Gehen Sie mit der Frage um, ob Sie mehr von der Ihnen anscheinend so bekannten Welt wahrnehmen möchten und welche Auswirkungen dies auf Ihre persönliche und berufliche Lebenssituation hätte.
Bei der Erkundung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit erweist sich das Wahrnehmen von Alltagssituationen oder anscheinend unauffälligen Gegenständen häufig als aufschlussreicher als das Wahrnehmen von besonderen und auffälligen Dingen oder Lebensmomenten. Denn gerade einen gewöhnlichen Gegenstand so anzublicken, dass man ihn wirklich sieht, setzt neben einer erhöhten Durchlässigkeit auch die Bereitschaft voraus, anders hinzublicken. Fast scheint es so, als ob die so betrachteten Dinge »zurückblicken« würden. Diese Seh-Arbeit eines Betrachters eröffnet zudem die Möglichkeit, dass etwas, eine Person, eine Situation
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oder ein Ding, sich anders zeigt, dass es jemandem geradezu erscheinen kann. James Joyce, der in seinen Büchern detailliert Bewusstseinsprozesse alltäglicher Menschen beschreibt, schildert in dem autobiographischen Romanfragment »Stephen der Held« die Wahrnehmungsweise der Epiphanie. Von seiner Figur Stephen Dedalus berichtet Joyce: »Unter einer Epiphanie verstand er4 eine jähe geistige Manifestation […] Er glaubte, daß es die Aufgabe des Schriftstellers sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und flüchtigsten aller Momente seien. Er sagte Cranly, die Uhr am Ballast Office sei einer Epiphanie fähig. […] Ich gehe ein ums andere Mal an ihr vorüber, spiele auf sie an, berufe mich auf sie, blicke flüchtig zu ihr hoch. Sie ist nur ein Artikel im Katalog des Dubliner Straßenmobiliars. Dann ganz auf einmal sehe ich sie, und plötzlich weiß ich, was sie ist: Epiphanie […] Stell dir meine flüchtigen Blicke auf diese Uhr als das Getaste eines geistigen Auges vor, das seine Vision auf einen ganz bestimmten Brennpunkt einzustellen versucht. In dem Moment, in dem der Brennpunkt da ist, ist das Objekt epiphaniert. […] Das Wahrnehmungsvermögen muß in Aktion erforscht werden […] Überlege, wie dein eigener Geist sich verhält, wenn mit irgendeinem, hypothetisch schönen, Gegenstand konfrontiert. Dein Geist teilt, um diesen Gegenstand wahrzunehmen, das gesamte Universum in zwei Teile, nämlich den Gegenstand, und die Leere, die nicht der Gegenstand ist. Um ihn wahrzunehmen, musst du ihn von allem anderen sondern: und dann begreifst du, dass er ein integrales Ding ist, das heißt ein Ding […] Der Geist betrachtet den Gegenstand als Ganzes und in seinen Teilen, in Beziehung zu sich selber und zu anderen Gegenständen, überprüft die Balance seiner Teile, bedenkt die Form des Gegenstands, dringt in alle Ritzen seiner Struktur ein. So empfängt der Geist den Eindruck von der Symmetrie des Gegenstandes. Der Geist erkennt, daß der Gegenstand im strikten Sinne des Wortes ein Ding ist, eine definitiv konstituierte Wesenheit […] Dies ist der Moment, den ich Epiphanie nenne. Zunächst erkennen wir, daß der Gegenstand ein integrales Ding ist, dann erkennen wir, daß er eine organisierte zusammengesetzte Struktur ist, faktisch ein Ding: schließlich, wenn die Beziehung der Teile vollkommen ist, wenn die Teile auf einen fixen Punkt eingestellt sind, erkennen wir, daß er das Ding 4
Der Begriff leitet sich von griechischen epiphaneia her, was das Erscheinen einer Gottheit oder eines Dämons bezeichnete, bevor es im Christentum aufgegriffen und für dessen Zwecke akzentuiert wurde. Zu Epiphanias, dem Dreikönigfest am 6. Januar, wird an das Erscheinen des sogenannten Gottessohns erinnert. Bei Joyce hingegen ist dieser alte Begriff säkularisiert und benennt eine gesteigerte, nicht sakrale Wahrnehmungsweise.
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ist, welches er ist. Seine Seele, seine Wesenheit, springt uns an aus dem Gewand seiner Erscheinung. Die Seele des gewöhnlichsten Gegenstands, dessen Struktur sich durch diese Blickeinstellung zeigt, scheint uns zu strahlen. Der Gegenstand vollbringt seine Epiphanie« (Joyce, 1979, S. 224 ff.).
Joyce verbindet in dieser Beschreibung vier Elemente miteinander: den Betrachter (genauer dessen »Geist«), die betrachtete Sache, den Zeitraum, in dem die Betrachtung stattfindet, und die eine Epiphanie ermöglichende Wahrnehmungsweise. Die Epiphanie erscheint bei ihm als eine literarische Technik, sich die vermeintlich triviale Alltagswelt anders zu erschließen, sich in ein anderes Verhältnis zu ihr zu setzen, sie neu zu entdecken, neu wahrzunehmen. Sie erscheint an dieser Stelle des Buches, das Sie gerade in Händen halten, als eine Form des gesteigerten Hinschauens, auf die Sie anders zurückkommen, die Sie sich anders erschließen können, wenn Sie sich mit den nachfolgenden Überlegungen auseinandergesetzt und die vorgestellten Übungen für sich erprobt haben. So gesehen, ist die Epiphanie ein Wahrnehmungsversprechen, das Sie durch Ihr eigenes Hinschauen überprüfen können. In heutiger Zeit, in der wir visuell leicht überreizt werden, da »uns die Welt als Bild zubereitet« wird (Th. Fuchs, 2003, S. 82), macht sich ein bewusstes Hinschauen besonders bemerkbar. Die visuelle Überreizung kann zu einer Form der gelenkten und verkrüppelten Wahrnehmung führen, die spiegelbildlich auf das Sprachvermögen zurückwirkt. »Die Worte, die wir in der Sprache gebrauchen, sind uns so vertraut, daß wir sozusagen in den Worten darin sind. Sie werden nicht Gegenstand. Wir leben in einer Sprache wie in einem Element, wie die Fische im Wasser« (Gadamer, 1995, S. 349). Was Gadamer von der Sprache sagt, gilt noch mehr von der persönlichen Wahrnehmung. Dieses Darinsein – in der eigenen Sprache und der eigenen Wahrnehmung – ist damit auch von zentraler Bedeutung für alle Prozesse, die in einer besonderen Form des Sprechens und Wahrnehmens stattfinden, wie im Raum von Therapie, Beratung und Coaching. Die nachfolgenden Überlegungen und Übungen unternehmen den Versuch, hierfür ein Bewusstsein zu schaffen oder ein bereits bestehendes zu vergrößern und zu verfeinern. Damit soll jetzt begonnen werden.
Der Mensch als sprechendes Wesen
»Im Anfang war das Wort« To begin at the begining. Dylan Thomas In der einer seiner Poetikvorlesungen »Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen«, die den Titel »Poetik des Anfangens« trägt, unterscheidet Peter Sloterdijk zwischen »anfangen« und »am Anfang anfangen«. Es sei unmöglich, gewissermaßen die erste Seite unseres Lebens selbst aufzuschlagen, um zu sehen, was dort stehe; denn »Seinsanfang und Sprachanfang« könnten »unter keinen Umständen zusammenfallen. Denn fängt die Sprache an, so ist das Sein schon da; will man mit dem Sein beginnen, versinkt man im schwarzen Loch der Sprachlosigkeit« (Sloterdijk, 1988, S. 38). Wo (und womit) müsste man sinnvollerweise beginnen, wenn man den Versuch unternimmt, eines der wesentlichen Arbeitsinstrumente für alle Formen von Therapie, Beratung, Coaching, Begleitung, Seelsorge, Selbstsorge – die Sprache – eigens zum Thema zu machen?5 Wenn hier von der Sprache die Rede ist, so ist damit vornehmlich die Wortsprache gemeint; was – vom Präverbalen ausgehend – ihre Nähe zur Zeichen-, Körper-, Bild- und Gebärdensprache usw. bis hin zu einer Syntax des Atmosphärischen nicht unberücksichtigt lässt. Im Zentrum stehen jedoch die Worte und Wörter (im Deutschen haben wir diesen Doppelplural) und das, was wir mit ihnen machen (können) sowie das, was sie mit uns machen (können). Bevor ich auf diese Interaktions-Verhältnisse etwas genauer zu sprechen komme, zunächst etwas zu dem eigentümlichen Phänomen des Anfangs bzw. des Anfangens, das sich durchaus nicht von sich aus versteht.
5 Vgl. hierzu »Aller Anfang ist ein Anfang«, in dem Jürgen Hargens systemische Eröffnungsfragen reflektiert und die Position vertritt: »Es ist für mich eine Grundregel, dass ich die erste Frage stelle. […] Das ist uns wichtig […] Der Anfang rahmt das, was folgt« (Hargens, 2004, S. 41).
Exkurs über den Anfang und das Anfangen
Anfänge genießen vielfache und vielfältige Beachtung. Sie sind als besondere Markierungen nicht selten in spezifischer Weise geladen und von Bedeutungszuschreibungen imprägniert. Das zeigt sich zum Beispiel an Taufakten von natürlichen wie von juristischen Personen; an Namensgebungen und Umständen also, mit denen und durch die etwas Bestimmtes beginnt. Lektoren lesen die eingegangenen Manuskripte stichprobenweise. Die erste stichprobenartige Annäherung gilt stets dem Anfang des Manuskripts und seinem Ende sowie einigen ausgewählten Textstücken. Dabei bekommt der Anfang eines Textes eine herausgehobene Bedeutung für die Einschätzung des Ganzen (so überliefert es einer der ehemals einflussreichsten Lektoren, Dieter Wellershoff). Auch zu den Anfängen von Briefen (oder heute E-Mails) wird häufig zurückgelesen6, um das, was zuerst gesagt, womit begonnen worden ist, in Kenntnis dessen, was danach gekommen oder gesagt worden ist, noch einmal eigens wahrzunehmen und der Frage nachzugehen: Wie hat der Brief (die E-Mail) eigentlich begonnen? Ähnliches gilt auch für Situationen, für Erfahrungen überhaupt. Es gibt gute, geglückte, als stimmig, richtig und passend empfundene, bisweilen sogar erstaunliche Anfänge – und von allem natürlich auch das Gegenteil. Anfänge haben, genauer betrachtet, eine doppelte Zeitlichkeit. Den Zeitraum oder Zeitpunkt des jeweiligen Anfangs wie dessen Erstreckung und »Mitgegenwart« (Ludwig Reiners) im weiteren Verlauf. Anfänge kön6 In der Geschichte »Das Sandbuch« von Jorge Luis Borges bekommt der bibliophile Erzähler von einem Unbekannten ein eigentümliches Buch angeboten, das er schließlich erwirbt. Bereits beim Aufschlagen fällt es durch erstaunlich hohe Seitenzahlen auf. Beim Versuch, den Anfang des Buches zu finden, scheint dieses sich zu »wehren«: Aufgefordert, die erste Seite zu suchen, drückte »ich […] meine linke Hand auf den Einband und schlug das Buch auf, indem ich den Daumen gegen den Zeigefinger drückte. Meine Bemühung war umsonst: es blieben stets einige Seiten zwischen dem Buchdeckel und meinem Daumen übrig. Sie schienen dem Buch zu entspringen« (Borges, 1982a, S. 95). Genauso wenig lässt sich ein Ende finden. Das Buch wird seinem neuen Besitzer schließlich so unheimlich, dass er es absichtsvoll in der Staatsbibliothek verliert – denn die völlige Anfangslosigkeit des Buches scheint eine zunehmend bedrohlichere Wirkung zu entfalten.
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nen dadurch auf besondere Weise (be-)stärken wie (be-)hindern; sie bilden etwas, auf das man stets zurückkommen, wie auch etwas, das man nur schwer oder kaum abschütteln kann.7 Viele Anfänge verlautbaren (wenigstens implizit), was am Anfang stehe oder gesagt werde, sei wichtig, entscheidend, es solle, es müsse beachtet werden. Zutreffend daran ist, dass Anfänge einen bestimmten Weg andeuten, nahelegen oder (zwingend) einschlagen, mit einem bestimmten Ton, Thema beginnen, welches das Folgende vorwegnimmt oder zumindest strukturierend darauf einwirkt. Das wird bei hermeneutischen Einsichten retrospektiver Art deutlich, wie: »Jetzt, da ich den Anfang kenne, sehe ich alles viel klarer, verstehe ich das Jetzige besser, kann es überhaupt erst richtig einschätzen«. Oder in Appellen und Bekundungen, wie: »Sie müssen erst den Anfang kennen, um überhaupt beurteilen zu können …«, oder: »Solange ich nichts vom Beginn der Sache weiß, kann ich sie nicht gut genug verstehen oder entscheiden, ob …« Jedem Anfang, so Hermann Hesse, wohne ein Zauber inne. Und der sogenannte Volksmund beschreibt den Anfang von etwas ebenso als leicht wie auch gerade als schwer8. Anfänge haben zudem (nicht ganz unbezüglicherweise) etwas von Eltern an sich. Für das, was aus ihnen folgt, ist es auch wichtig, sie weder zu über- noch zu unterschätzen; ihnen weder die Verantwortung für alles Kommende zuzuschieben noch sie gänzlich unbeachtet zu lassen. Die nachfolgende Übung gibt Ihnen die Möglichkeit, eigene Anfänge zu erkunden.
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Wer sich dafür interessiert, wie unterschiedlich man Geschichten beginnen (lassen) kann, dem sei die Sammlung »Roman-Anfänge« von Harald Beck (Beck, 1992) empfohlen. Der Anthologist hat »500 erste Sätze« gesammelt und in thematischen Rubriken als Variationsfolge verbunden. Konsequenterweise hat Beck dem auch eine ähnlich strukturierte Sammlung von »500 letzten Sätzen« (Beck, 1993) folgen lassen. Wenn er an einem Roman schreibe, erklärt der Schriftsteller Claude Simon, beginne er niemals mit dem, was der Leser als Anfang lesen werde. Manchmal schreibe er sogar das Ende vor dem Anfang. Und in dem Roman »Die Pest« von Albert Camus gibt es die Figur des Angestellten Grand, der seit langem an einem literarischen Werk arbeitet, aber über den ersten Satz nicht hinausgelangt. 8 Die Spanne, die man zurücklegen muss, um überhaupt zu einem, zu dem Anfang zu kommen, kann mitunter sehr lange, mühsam und reich an Umwegen sein. Dieter Wellershoff hat in »Der lange Weg zum Anfang« (Wellershoff, 2007) in einer retrospektiven Reflexion das Unterwegssein zu einem passenden Anfang als Prozess einer persönlichen und künstlerischen Krisenerfahrung beschrieben.
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Anfänge erkunden Therapeutischen oder beraterischen Herausforderungen wie auch solchen des Lebens kann man in der Weise begegnen, dass man sich zu dem jeweiligen Anfang von etwas (des sogenannten Problems, der Störung, der Krise, der Entwicklung etc.) in ein bezügliches Verhältnis setzt. Das bedeutet zum Beispiel, sich mit Fragen der Art zu beschäftigen: Wie viele und welche Anfänge bestimmen und prägen mein (Er-)Leben jetzt? Wie und wobei (be-)stärken oder (be-)hindern mich die jeweiligen Anfänge? Angenommen, einer bestimmten persönlichen oder beruflichen Entwicklung wäre ein anderer Anfang vorausgegangen, welche Wirkung hätte das? Und woran und wodurch erkenne ich, dass etwas sein »Glückshäutchen« verloren und eine Entwicklung eingesetzt hat, die mehr und anders ist als der jeweilige Anfang?9
Ein Anfang, so könnte man ganz grundsätzlich sagen, ist etwas, aus dem oder auf den etwas folgt – was das im Einzelnen auch sein mag. Ein Anfang, aus dem oder auf den nichts folgt, wäre, so verstanden, zumindest kein Anfang. Dieses Strukturelement des Anfangs ist weit leichter zu bestimmen als seine jeweilige Örtlichkeit. Die Frage, wo beginnt der (jeweilige) Anfang, impliziert die Frage: Wie viele und welche Anfänge gingen diesem voraus? Gibt es so etwas wie einen Uranfang, dem nichts vorausgeht? Einen existentiell-kreatürlichen, absoluten Nullpunkt?
Persönliche Nullpunkte Wer sich dem eigenen – vorsprachlichen – Lebensanfang mit Hilfe der Vorstellung annähern möchte, der kann beispielsweise ein Szenario variieren, das Vladimir Nabokov entworfen hat. Es lautet so: »Die Wiege schwingt über einem Abgrund, und der Hausverstand sagt uns, daß unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. Obschon beide eineiige Zwillinge sind, betrachtet man in der Regel den Abgrund vor der Geburt mit größerer Gelassenheit als jenen anderen, dem man (mit etwa viereinhalbtausend Herzschlägen in der Stunde) entgegeneilt. Ich weiß jedoch von einem Chronophobiker, den so etwas wie Panik ergriff, als er zum ersten Male einige Amateurfilme sah, die ein paar Wochen vor seiner Geburt aufgenommen worden waren. Er erblickte eine praktisch unveränderte Welt – dasselbe Haus, dieselben Leute –, und dann wurde ihm klar, daß es ihn dort nicht gab 9
Der Anfang von etwas befindet sich gewissermaßen in einer natürlichen Nachbarschaft zu dem sehr unterschiedlich bewerteten Phänomen des Zufalls. Vgl. hierzu: »Der Zufall als Anwalt der Freiheit«(Stölzel, Th., 2010b).
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und daß niemand sein Fehlen betrauerte. Er sah seine Mutter aus einem Fenster im ersten Stock winken, und diese unvertraute Geste verstörte ihn, als wäre sie irgendein geheimnisvolles Lebewohl. Aber was ihm besonderen Schrecken einjagte, war der Anblick eines nagelneuen Kinderwagens, der dort vor der Haustür selbstgefällig und anmaßend stand wie ein Sarg; selbst er war leer, als hätte sich im umgekehrten Lauf der Dinge sogar sein Skelett aufgelöst« (Nabokov, 1991, S. 19 f.). – Welche Empfindungen und Assoziationen löst der noch leere Kinderwagen, in dem Sie noch nicht liegen in Ihnen aus? Was bewirkt das Bild dieses Voranfangs?
Ich erinnere mich an ein gemeinsam unternommenes Gedankenspiel als 14-Jähriger (eines der Gespräche, die man in diesem Alter mit Gleichaltrigen mitunter führt). Wir versuchten uns vorzustellen, was am Rande des Weltalls, ja, des Kosmos sei; was hinter oder außerhalb von diesem wäre. Wir durchflogen im Geiste die unendlich anmutenden Räume der verschiedenen Galaxien auf der Suche nach einem Ende dieser Räume. Wir gelangten jedoch an keinen Rand, und die Vorstellung, dass da noch etwas dahinter sein müsse, hinter dem dann noch etwas anderes wäre, hinter dem wieder etwas anderes sich befände, das dann alles Bisherige umfasste oder gar hervorgebracht hätte, welches dann wieder von etwas anderem, noch Größeren und noch Umfassenderen …, das konsequente Weiterverfolgen dieser gedanklichen Suche erzeugte ein starkes Gefühl von Unwirklichkeit und begann uns allmählich kirre zu machen. Wir sahen uns gezwungen, dieses Gedankenspiel abzubrechen. Wenn wir auch nicht den Rand oder gar den Anfang des Kosmos fanden, fanden wir doch etwas anderes heraus, nämlich die beruhigende, die Sicherheit vermittelnde Idee, welche die Genealogie eines Anfangs vermitteln kann: die Idee eines sogenannten Schöpfergottes oder eine Schöpfergöttin, einer ersten Instanz – ob nun quasi personenhaft oder als ontologisches Prinzip – durch die alles seinen Anfang genommen hat. Damit ist ein weiteres Charakteristikum verbunden: Anfänge werden gemacht, konstruiert oder erfunden, und zwar von denjenigen, die einen »sicheren« Bezugspunkt suchen oder zu glauben brauchen. Anfänge erhalten dadurch einen Setzungscharakter. Diese Willkür gibt ihnen – spiegelbildlich zu ihrem Setzungscharakter – eine gewisse Freiheit – Art und Zeit des Anfangs zumindest mitzubestimmen. Dies zeigt sich beispielsweise in der – kulturanthropologisch – ganz unterschiedlich beantworteten Frage: Wann und wodurch fängt
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ein Mensch an, ein Mensch zu sein? Dass durch die jeweiligen Antworten (nicht zuletzt bei der Frage der Abtreibung) ethische Positionen berührt werden, kann man gut beobachten. In der Tat ist auf die Frage nach dem »genauen« Anfang eines Menschen ganz unterschiedlich geantwortet worden. Beginnt menschliches Leben bereits bei der Verschmelzung von Samen- und Eizelle, also bei der sogenannten Befruchtung? Oder erst ab dem dritten, fünften … oder neunten intrauterinen Monat? Bei der Geburt? Bei der konkreten Abnabelung? Beim Erreichen des ersten Lebensjahrs? Dann, wenn ein Kind (selbständig) laufen kann? Dann, wenn es (für sich) sprechen kann und damit anfängt, mündig zu werden? Dann, wenn es (wie bei manchen sogenannten primitiven Kulturen) geschlechtsreif geworden ist und zumindest potentiell einen anderen Menschen (oder »Menschenanwärter«) und damit einen anderen personalen Anfang mit hervorbringen kann? Innerhalb existentieller Praktiken, philosophischer Perspektiven oder kulturkritischer Positionen ist die besondere Erfahrung, die dem Anfang und dem Anfangen innewohnt, immer wieder thematisiert worden. Ich möchte am Ende dieses kleinen Exkurses auf drei Beispiele hinweisen, die geeignet sind, als Metahaltungen therapeutische oder beraterische Prozesse anzuregen und vor allem vor Chronifizierungen zu bewahren: 1. Den Anfänger-Geist kultivieren. Der Zen-Lehrer Shunryu Suzuki erklärt, Ziel aller Praxis sei es, sich eine Anfänger-Geisteshaltung (japanisch shoshin) zu erhalten oder eine solche wieder einzunehmen. Denn: »Des Anfängers Geist hat viele Möglichkeiten, der Experte10 hat nur wenige« (Suzuki, 1975, S. 22). Der Anfänger-Geist weist auch einige Gemeinsamkeiten mit der philosophischen Kompetenz des Staunens (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 142 f.) auf. Eine seiner besonderen Qualitäten besteht für Suzuki darin, dass es hierbei keinen Gedanken der Art: »Ich habe etwas erreicht«, gebe. 2. Die Perspektive der Natalität (der Gebürtlichkeit) beachten. Die Philosophin und Publizistin Hannah Arendt hat diesen Begriff geprägt und ins Diskursspiel eingebracht.11 Als Ergänzung der seit der Antike 10 Vgl. hierzu das Kapitel »Experte für sich selbst werden« in Stölzel, Th., 2013, S. 225 ff. 11 In ihrem Buch »Vita activa oder Vom tätigen Leben« (Arendt, 1967) bildet dieser Begriff eine Art Schlüsselkategorie des Handelnkönnens. Auf ihre je eigene Weise sind Denker wie Hans Blumenberg, Peter Sloterdijk oder Ludger Lütkehaus den Auswirkungen des Angefangenhabens als Geborne nachgegangen.
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auf das Sterben vorbereitenden Philosophie (ars moriendi) oder eines »Seins zum Tode« (Martin Heidegger) richtet die Natalität den Blick auf das Anfänglichwerden des Menschen durch seine Geburt in die Welt. Die Perspektive der Natalität bringt zudem die Geburtsvergessenheit ins Gewahrsein, die mehr ist ein bloß gynäkologisches Thema. In eines ihrer »Denktagebücher« notiert Arendt im April 1968: »Die Bedingung des Handelns ist die Gebürtlichkeit, die Bedingung des Denkens ist die Sterblichkeit« (Arendt, 2003, S. 681). Die Konzeption der Natalität steht damit in direktem Zusammenhang zu der Frage: Auf was, auf welchen Ausgangspunkt bezieht jemand sein Handeln? 3. Die Bedeutung des Dilettanten anerkennen (vgl. hierzu das Stichwort »Amateure« in: Chargaff, 2000, S. 9 f.). Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat der häufig in Misskredit stehenden Vorstellung vom Dilettanten eine andere Bedeutung gegeben. Als Konterbegriff zum Expertentum ist der Dilettantismus laut Friedell eine Form, »in der sich das Neue äußert« (Friedell, 1985, S. 270). Diese Kraft komme ihm zu, da beim Dilettanten wie beim mit ihm verwandten Amateur oder Laien12 Mensch und Tätigkeit unmittelbarer zusammenfänden und die Unbekümmertheit des Dilettanten in direkter Beziehung zum anfänglichen Tun stehe. Gerade weil er ein Anfänger ist, kann der Dilettant eine Frage stellen oder eine Perspektive einnehmen, auf die ein Fachmann kaum je kommen würde. Der Eröffnungssatz am Beginn des Johannesevangeliums »Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος« (»Im Anfang war das Wort«) deutet an, dass man bereits in antiker Zeit (welche ja selbst wiederum den Anfang insbesondere unserer europäischen Kultur bildet) die ganz grundlegende Bedeutung der menschlichen Wortsprache erkannt hat. Wobei Logos ein Wort ist, das einen großen Bedeutungshof aufweist. Es steht nicht allein für Sprache und Sprachvermögen; es bezeichnet zudem das Sammeln, Ordnen, Aufzählen, Rechnen, Auflesen und Herauslesen. Auch bestimmte Denkvorgänge werden durch dieses Wort ausgedrückt, was in den daraus abgeleiteten Begriffen anklingt, wie unter anderem in der Logik, der 12 In dem Moment, in dem der Wert von sogenannten Laienanalytikern, den Freud noch betont hat, innerhalb der psychoanalytischen Bewegung bekämpft und diese als schädlich betrachtet wurden, begann das anthropologische Modell der Laienanalyse an bestimmten Stellen zu erstarren und die Psychoanalyse nur noch eine Sache der Experten zu werden.
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Logistik, der Logopädie, dem Logarithmus, der Logographie, dem Logo bis hin zum Produktnamen Lego sowie den zahlreichen Logien wie der Biologie, der Geologie, der Psychologie, der Soziologie, der Paläontologie usw. Was man sich unter dem Logos im Einzelnen auch immer vorstellen, wie man die (Wort-)Sprache verstehen mag, so gibt es, was die große Bedeutung betrifft, die ihr zukommt oder zugeschrieben wird, wohl weitgehende Übereinstimmung. Die Menschensprache wird als eines der wichtigsten Lebensinstrumente empfunden, das über das Bewohnen eines gemeinsamen linguistischen Universums wie etwa des Deutschen, Englischen oder Französischen nicht nur eine stabile Zugehörigkeit und verlässliche Bindung ermöglicht, sondern das persönliche Denken, Fühlen und Wollen geradezu beheimatet. Die jeweilige sogenannte Muttersprache bildet überdies die differentia specifica, dasjenige, was den Menschen von allen anderen (auch von den nah verwandten) Lebewesen unterscheidet. Sie ist ein Haupterkennungsmerkmal des Menschen, ein wesentlicher Bestandteil seiner Menschenartigkeit; durch sie wird aus dem homo sapiens auch ein homo loquens, ein sprachhabendes13 Geschöpf. Dabei lassen sich zwei elementare Komponenten ausmachen, die jede Wortsprache (wie sie im Einzelnen auch immer beschaffen sein mag) aufweist: –– Austausch, Empathie – kommunikative Komponente – ihr kommt eine affektive Funktion zu, –– Organisation des Wollens, Fühlens, Denkens – epistemologische Komponente – ihr kommt eine kognitive Funktion zu. Ich möchte an dieser Stelle keine Sprachwissenschaft betreiben und begnüge mich damit, auf zwei wichtige und grundlegende Strukturbilder hinzuweisen, die Martin Buber und Karl Bühler vorgeschlagen haben. Diese gilt es auch bei der Sprachverwendung innerhalb der therapeutisch-beraterischen Kommunikation zu beachten. Buber unterscheidet drei Seinsweisen der Sprache: 1. präsenter Bestand, 2. potentieller Besitz, 3. aktuelles Begebnis (Buber, 1962, S. 443). 13 Der Linguist Mario Wandruszka sieht hier ein Bedingungsverhältnis zwischen Sprache und Denken: »Seit der Mensch über sich selbst nachdenkt, denkt er über seine Sprache nach« (Wandruszka, 1985, S. 7).
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Bühler hingegen beschreibt in seiner Sprachtheorie drei14 Hauptfunktionen, die sprachliche Äußerungen aufweisen: 1. Kundgabe- oder Ausdrucksfunktion, 2. Auslöse- und Signalfunktion, 3. Darstellungsfunktion. Und die beiden amerikanischen Ethno-Linguisten Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf stellten zu Beginn des 20. Jahrhundert, gegründet auf langjährige Feldforschungen, eine Vermutung über das Verhältnis von Sprache und Denken an, die als Sapir-Whorf-Hypothese wirksam geworden ist. Diese Hypothese verbindet zwei Prinzipien miteinander, die auch innerhalb therapeutischer und beraterischer Prozesse sowie im Coaching relevant sind: 1. sprachlicher Determinismus, 2. sprachliche Relativität. Laut Sapir-Whorf gliedern wir die sogenannte Natur (wie die Außenwelt überhaupt) in Strukturen, die durch unsere Muttersprachen vorgegeben sind: Die Kategorien und Typen, mit Hilfe derer wir die phänomenal wahrnehmbare Welt ordneten, fänden wir nicht einfach in dieser vor. Die Vielfalt der Eindrücke wie die Möglichkeiten unseres Reagierens darauf würden in dem linguistischen System in unserem Geist organisiert. Es sei das Abkommen, das die jeweilige Sprachgemeinschaft getroffen habe, das wesentlich darüber entscheide, in welchen Begriffen unser Erleben und Verarbeiten sich vollziehe, wie etwas gesehen und bewertet werde. Die Sprachen der Hopi- und Navaho-Indianer, die Sapir und Whorf lange untersuchten, vermeiden (im Unterschied etwa zu den indogermanischen Sprachen) verdinglichende Personalpronomina, wie zum Beispiel »das Ich«, und drücken die Beschreibungen, die Personen gelten, als metaperspektivisches Relationsgefüge aus: »Der, von dem gesagt wird, er habe das und das gemacht«. Dadurch wird in jeder Aussage, 14 Karl Popper hat diese um die »Argumentations- und Erklärungsfunktion« erweitert (1997, S. 427). Der Sprach- und Denkpsychologe Karl Bühler ist heute zu Unrecht weitgehend vergessen. Dabei bilden seine Konzeptionen die Grundlage von dem sehr populär gewordenen Ansatz »Miteinander reden«, mit dem Schulz von Thun aufgetreten und für viele Beratungspraktiker zu einer zentralen Quelle geworden ist.
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die über jemanden gemacht wird, die Perspektive des Beschreibers synchron mitausgedrückt. Durch diese grundlegende und unauflösliche »Doppelbelichtung« von Beschreiber und Beschriebenem haben sich illusionäre Zuschreibungen wie die sogenannte Objektivität, an der sich viele aufgeklärte Mitglieder der sogenannten wissenschaftlichen Welt zum Teil bis heute noch orientieren, innerhalb dieser vermeintlich primitiven Wissenskulturen der Indianer – allein aus syntaktischen Gründen – niemals etablieren können. Die Unterschiede, die es zwischen den einzelnen, mehr oder weniger verwandten Sprachen gibt, fallen jedoch nicht so groß aus, dass man beim Wechseln von einer in die andere gewissermaßen eine ganz neue, gänzlich verschiedene Welt beträte. Doch zeigen sie, wie deutsch, englisch, französisch usw. gefärbt sich unser Blick auf die Welt wie auf uns selbst darstellt. Können wir den konkreten Bestand der Sprachen, all das, was gesprochen, gehört, geschrieben, gelesen werden kann, zwar gut untersuchen und – was ich in einigen Aspekten im Folgenden tun möchte – in seinen Gebrauchsweisen, seinen Grenzen und Möglichkeiten für die therapeutisch-beraterischen Kommunikationsformen genauer betrachten, so liegt jedoch die Entstehung des Phänomens Wortsprache im Dunkeln. Genauer sind da zwei Dunkel: die Entstehung der (Menschen-)Sprache überhaupt und die Entwicklung der persönlichen Sprache eines Menschen. Jean Piaget, der durch sein Modell einer genetischen Epistemologie für die Erforschung der intellektuellen Strukturen der Kindesentwicklung wie für einen Denkstil wie den sogenannten Radikalen Konstruktivismus wichtig geworden ist, hat das nachhaltige Interesse an seinem Forschungsgegenstand als einen Kompensationsversuch bezeichnet. Sein Interesse habe eigentlich der Denkund Sprachentwicklung während der sogenannten Menschwerdung gegolten. Doch da es hier kein wirklich aussagekräftiges empirisches Material gebe, habe er sich denjenigen intensiv zugewandt, bei denen sich – ungemein gerafft – die intellektuelle Entwicklung der Spezies Individuum für Individuum wiederhole: »Das Wunderbare bei Kindern ist, daß man immer auf ein Individuum trifft, das bei Null anfängt« (Bringuier u. Piaget, 1996, S. 48). Es gehe ihm, Piaget, »darum, herauszubekommen, wie Erkenntnis entsteht, wie sich eine intelligente Struktur herausbildet. Beim zeitgenössischen Menschen gibt es eine gewaltige Anzahl bereits vorgefundener Strukturen mit unbekannter Entstehung. Jedes beliebig gesprochene Wort hat eine jahrtausendealte Geschichte
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hinter sich« (S. 48). Wie überaus komplex und empirisch kaum fassbar sich bereits der »normale« Erwerb der ersten, der sogenannten Muttersprache darstellt, hat der mit den Forschungen Piagets eng verbundene, konstruktivistische Psychologe und Epistemologe Ernst von Glasersfeld anhand eines besonderen Experiments berichtet. Ein junges Forscherehepaar sei an ihn mit dem Wunsch herangetreten, die Sprachentwicklung ihres vor kurzem geborenen, gemeinsamen Kindes im Rahmen einer Promotion genau mitzuverfolgen und zu untersuchen. Der anfängliche heuristische Elan der Eltern sei jedoch bald erlahmt angesichts der überbordenden (und für einen sprachmächtigen Erwachsenen) reichlich monotonen Fülle von Wiederholungen. Das Ansinnen, minimale sprachliche Entwicklungsschritte aufzuzeichnen, und zu kommentieren, wie sich der Prozess vom simplen Geräusche imitieren über das Lallen bis zum allmählichen, noch recht anfänglichen Artikulieren vollziehe, habe selbst die Geduld der Eltern überfordert und sie das Forschungsprojekt zumindest in dieser ermüdenden Ausführlichkeit aufgeben lassen. Für die überindividuelle Genese der (Menschen-)Sprache gibt der Publizist, Stilforscher und Sprachkritiker Wolf Schneider zu bedenken: »das fertige, artikulierte, mit einer bestimmten Bedeutung versehene Wort ist ein spätes Produkt der Sprachentwicklung – was alles muß ihm vorausgegangen sein! Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Jahren des Knurrens, Jaulens und Krächzens in Höhlen, an Lagerplätzen, beim Beerensuchen, auf der Jagd; eine Entwicklung, die vielleicht so unendlich langsam und so oft durch Sackgassen und Irrwege unterbrochen war, daß ein Anthropologe, wenn er sie auf Tonbändern nachvollziehen könnte, nur alle fünfzigtausend Jahre einen Fortschritt heraushören würde; und nie würde sich auf einen Punkt des Weges deuten lassen mit dem Freudenschrei: Von hier an besaßen unsere Ahnen ›Wörter‹, hier hat der Strom der Töne sinnvolle Zäsuren, oder gar: Hier ist zum erstenmal das Wunder geschehen, daß in eine willkürliche Lautverbindung Sinn einschnappte« (Schneider, 1976, S. 35 f.).
Heute sollen, den Verbalstatistikern zufolge, bis zu fünftausend unterscheidbare Sprachen gesprochen werden, das heißt Worte mit konkretem Sinn belegbar sein, die untergegangenen Sprachen, wie beispielsweise das Sumerische, Hethitische, Aramäische, Lateinische oder Langobardische sowie binnensprachliche Ausdifferenzierungen der einzelnen Dialekte, Idiolekte oder Soziolekte gar nicht mitgerechnet.
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Die seit der Antike entwickelte Theorie einer Ursprache, aus der alle lebenden und toten Sprachen hervorgegangen sein sollen, will ich hier nur erwähnen, ebenso die damit verbundenen, zum Teil fatalen Experimente von dem ägyptischen König Psammetrich I. und dem Stauferkaiser Friedrich II. Von Herodot wie von dem Chronisten Salimbene wissen wir, dass diese psycholinguistisch-interessierten Staatenlenker den natürlichen Spracherwerb von Kindern unterbanden (und die damit verbundene, wortsprachliche Zuwendung und Existenzbestätigung), um herauszufinden, welche Sprache diese (armen) Kinder ohne jegliches sprachliches Vorbild zu sprechen begännen, ja, ob diese (Ur-) Sprache dann möglicherweise gar eine heilige sein würde. Die (traurigen) Resultate sind bekannt. Die Kinder starben ausnahmslos, ohne eine wie auch immer geartete Ur- oder Heilige Sprache zum Besten gegeben zu haben und obwohl sie während dieser »unansprechenden« Tortur ausreichend verpflegt und auch sonst versorgt worden waren. Der Nebenbefund dieser Experimente gibt deutlich zu erkennen, welch bedeutendes, ja unverzichtbares »Lebensmittel« die Wortsprache, genauer das Ansprechen und Angesprochenwerden, das gemeinsame Sprechen und Miteinandersprechen für jeden Menschen bildet – wenn auch das zweifache Dunkel: wie »der« Mensch zur Sprache gekommen ist und wie »ich« zu meiner Sprache gekommen bin, nicht aufgehellt werden kann – abgesehen von der Erforschung der zunehmend sich verfeinernden Anatomie der Artikulationsorgane, der sogenannten Sprechwerkzeuge, wie Kehlkopf, Gaumen, Zunge und Lippen, die sich in paläologischer Zeit auszudifferenzieren begannen. Bei der Entwicklung der menschlichen Artikulationsorgane spielte der vielfach beschriebene aufrechte Gang bzw. die kulturgenerierende Aufrichtung des Menschen eine wichtige Rolle. Denn neben der Entwicklung anderer Feinmotoriken (Händigkeit) ergab sich aus dem aufrechten Gang unmittelbar »eine Verlagerung des Schlundkopfs mit der Folge, daß der Kehldeckel, der bei Säugetieren den Eingang zum Kehlkopf schließt, beim Menschen für gewöhnlich offensteht, so daß die Luft kein Hindernis zwischen der Lunge und den Lippen findet. So entstehen Laute ohne Mühe, ja es kann bei heftiger Bewegung des Körpers oder des Gemüts geradezu Anstrengung kosten, keinen Laut von sich zu geben« (Schneider, 1976, S. 36). Eine Ausnahme davon (das sollte nicht unerwähnt bleiben) bilden die sogenannten taubstummen Menschen; also diejenigen, denen ein
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»natürlicher« Spracherwerb infolge ihrer Taubheit nicht möglich war und die von sich aus keinen Laut von sich geben können. Sie leben in der Welt ohne Worte und Wörter, wenngleich auch sie nicht völlig sprachlos sind. Ihre Worte und Wörter sind Mienen und Gebärden, die vielfältig nuanciert, sogar flektiert werden können (Verbgebärde). In vielfach nach »außen« abgedichteten »Worthöhlen« leben die sogenannten Autisten: stumm und fragmentarisch mit selbst sprechend, weitgehend ohne Sprache als Kommunikationsmittel, das heißt diese als individuell-gestaltetes Medium der Begegnung zu nutzen.15 Wie weit wir auch zurückdenken mögen, an was wir uns im Einzelnen erinnern, stets sind wir, selbst sprechend und Sprache verwendend, von Sprache, von anderen Sprechern und Sprachverwendern umgeben, umtönt, umlettert. Denn auch das (nicht natürliche) Schreiben- und Lesenkönnen ist uns zuallermeist so selbstverständlich, dass wir uns den durchaus beschwerlichen Prozess des Schreiben- und Lesenlernens (den Eltern von Nahem mitverfolgen können) kaum wieder zu Bewusstsein bringen können. Hier herrscht weitgehend Amnesie. Die Sprache bildet wohl für die meisten Menschen die Lebenskontinuität. Was sich auch sonst in ihrem Leben verändern mag, was sie auch immer mit der Sprache anfangen, ob sie sie entwickeln, den Gebrauch zunehmend verfeinern und individualisieren, sie zu ihrer Sprache machen – oder nicht, sie, die Sprache bleibt ihr existentieller Begleiter in allen Lebenslagen und Lebensformen. Und so gilt, was ein so eigenwilliger Sprachdenker wie Martin Heidegger – für den die Sprache »das Haus des Seins« darstellt, – über sie sagt: »Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. Wir sprechen stets; auch dann, wenn wir kein Wort verlauten lassen, sondern nur zuhören oder lesen, sogar dann, wenn wir weder eigens zuhören noch lesen, stattdessen einer Arbeit nachgehen oder in der Muße aufgehen. Wir sprechen ständig in irgendeiner Weise. Wir sprechen, weil Sprechen uns natürlich ist. Es entspringt nicht erst aus einem besonderen Wollen. Man sagt, der Mensch habe die Sprache von Natur. Die Lehre gilt, der Mensch sei im Unterschied zu Pflanze und Tier das sprachfähige Lebewesen. Der Satz meint nicht nur, der Mensch besitze neben anderen Fähigkeiten auch 15 Den mühsamen Versuch, nach »außen« zum anderen hin zu gelangen, schildert aus der Innenperspektive Birger Sellin in dem Buch »ich will kein inmich mehr sein. botschaften aus dem autistischen kerker« (Sellin, 1993).
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diejenige zu sprechen. Der Satz will sagen, erst die Sprache befähige den Menschen, dasjenige Lebewesen zu sein, das er als Mensch ist. Als der Sprechende ist der Mensch: Mensch. Wilhelm von Humboldt hat dies gesagt. Doch es bleibt zu bedenken, was dies heißt: der Mensch. In jedem Fall gehört die Sprache in die nächste Nachbarschaft des Menschenwesens. Überall begegnet Sprache. Darum kann es nicht verwundern, daß der Mensch, sobald er sich denkend in dem umsieht, was ist, alsbald auch auf die Sprache trifft, um sie in einer maßgebenden Hinsicht auf das, was sich von ihr zeigt, zu bestimmen« (Heidegger, 1959, S. 11).
Das dauernde Umgebensein von Sprache als eines vorgefundenen, besonderen Ausdruckraums lädt zu verschiedenen Metaphern ein. Für Heidegger ist sie, in der ihm eigenen Pathetik, »das Haus des Seins«. Der für die Sprachphilosophie bedeutende und folgenreiche Denker Ludwig Wittgenstein hat zu Beginn seiner »Philosophischen Untersuchungen« ein beziehungsreiches Bild für die Sprache vorgeschlagen: »Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern« (Wittgenstein, 1971, S. 22).
»Haus des Seins«, »alte Stadt« es gibt für das Grundlegende der Sprache auch dynamischere Metaphern. Der Übersetzer, Essayist und Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt spricht von einem »Fluten der Sprache« und präzisiert dies in einem an Hölderlin angelehnten Bild: »Die Sprache des Menschen ist wie die See: Unzählbar sind ihre Gestade, ihre Inseln; über unbekannte, unsichtbare Tiefen nimmt man Kurs aufs Unendliche. Das Wasser ist stets dasselbe und ändert sich ständig, es fließt, weicht zurück, schmiegt sich an alles, was eintaucht, wechselt dauernd die Farbe, den Himmel über sich spiegelnd; in der Sonne schillert es blaßgrün bis tiefblau, je nach Breitengrad und Augenblick« (Goldschmidt, 1999, S. 15).
Welches Bild, welche Metapher haben und verwenden Sie für die Sprache? Ich möchte Ihnen abschließend eine Übung vorschlagen, die Sie dabei unterstützen kann, mit dem oft nicht genug beachteten Lebensins-
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trument Sprache, dieser wie aus dem Dunkeln gekommenen besonderen Ressource, diesem filigranen und dabei höchst wirksamen, Lösungswelten miterzeugenden Werkzeug achtsamer zu werden und es für Ihre Arbeit und Ihr Leben auf Ihre Weise weiterzuentwickeln.
Ich und meine Sprache Beschäftigen Sie sich zunächst mit folgender Frage: Welche Bedeutung gebe ich der Sprache in meinem Leben, welchen Platz gebe ich ihr, welche Rolle spielt sie? Um diese zugegebenerweise etwas weiträumige Frage gut für sich erschließen und besser für sich beantworten zu können, folgender Vorschlag zur Annäherung: Beobachten Sie eine Woche lang sich und das eigene Sprachverhalten, sowohl Ihren »lauten« (Sprechen, Hören) als auch Ihren »leisen« (Schreiben, Lesen) Gebrauch der Wortsprache in den verschiedenen Alltagskonstellationen, in den beruflichen ebenso wie in den privaten Situationen und bei den unterschiedlichen kommunikativen Herausforderungen. Machen Sie sich hierzu Notizen. Notieren Sie Aspekte und Verwendungsweisen, die Ihnen aufgefallen sind, sowie Fragen und Ideen, die Ihnen eingefallen sind. Lassen Sie dann etwas Zeit vergehen (vielleicht eine Woche oder etwas mehr). Nehmen Sie wahr, ob sich in der Zeit, in der Sie sich und Ihr Sprachverhalten nicht bewusst beobachtet und nichts notiert haben, etwas an Ihrem Sprachverhalten verändert hat. Befassen Sie sich schließlich mit der Frage, ob es Ihnen möglich scheint, ohne Sprache denken zu können. Falls Ihnen dies möglich scheint – welche Art von Gedanken denken Sie dann ohne Sprache?
Wie reden wir? […] nähmt Ihr mir das Wie, so vermöcht’ ich mich nicht zu erklären. Johann Wolfgang Goethe Etwa ab den 1970er Jahren hat sich – getragen von gruppendynamischen Selbsterfahrungen und einer Trivialisierung des psychoanalytischen Vokabulars – ein spezifischer Jargon entwickelt und verbreitet, der (vor allem bei unreflektiertem Gebrauch) leicht zu seiner eigenen Karikatur werden kann. Gemeint ist das sogenannte Psycho-Deutsch, eine Redeweise, in welcher der post- oder sonstwie moderne Mensch seine Gefühle benennt und seine Befindlichkeiten verlautbart.16 Der Wissenschaftsjournalist und Übersetzer Dieter E. Zimmer spricht da in Anlehnung an einen Romantitel von Peter Handke (»Die Stunde der wahren Empfindung«) von einem »Jargon der wahren Empfindung«. Und der hört sich beispielsweise so an: »Hast du dich heute schon eingebracht? Nö? Dann hast du also wieder mal abgeblockt? Du willst einfach keine Gefühle zulassen. Du solltest endlich erfahren lernen. Du müßtest die Dinge an dich heranlassen. Du müßtest dich öffnen. Du müßtest Ängste abbauen. Du müßtest Gefühle in dir hochkommen lassen. Ganz spontan. Es darf in dir nicht alles zu sein. Du mußt zu deinen Gefühlen stehen, zu deinen Ängsten, zu deinen Verletzlichkeiten. Du mußt deine Wut zulassen und sie dann auch vertreten. Du darfst auf keinen Fall abgehoben daherlabern; du mußt betroffen sein. Dann versuchst du, deine Ängste und Bedürfnisse ein bißchen auszuphantasieren. Vielleicht lernst du so umgehen mit deiner verlorenen Kindheit, kommen deine Energien ins Fließen, schaffst du es, auf die anderen zuzugehen und deine Probleme in Erfahrungen aufzulösen. Wenn du dabei einmal flippst, macht das nichts; die Gruppe fängt dich auf. Wir nämlich gehen offen miteinander um. Du, da kann ich irgendwie ganz viel mit anfangen, was du da sagst. Das faßt mich an, du. Wo könnte ich denn wohl mein verschüttetes Ich entdecken?« (Zimmer, 1988, S. 83).
16 1981, als die erste große Therapie- und Selbsterfahrungswelle abgeebbt war, veröffentlichte Botho Strauß sein Stück »Kalldewey, Farce«, worin er unter dem Motto: »Das Leben eine Therapie« ein bestimmtes Gruppenidiom karikierte (Strauß, 1991, S. 28 ff.).
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Spott ist hier natürlich billig, zumal wenn es einem der unreflektierte Gebrauch eines bestimmten Jargons so leicht macht, dass ein Sprachempfindlicher wie Zimmer lediglich einige zu Plattitüden gewordene Redeweisen montieren muss, um das Hohlgewordene daran sichtbar zu machen. Jargon – und den gibt es ja nicht nur beim sogenannten PsychoDeutsch – bezeichnet ein Sprachverhalten, dessen Gebrauch innerhalb einer bestimmten, relativ geschlossenen »Szene« weitgehend unbewusst geworden ist und das als ganz selbstverständlich, geradezu natürlich und dabei als richtig und angemessen empfunden wird. Jargonverwender (die sich natürlich so nicht bezeichnen würden) treten oft selbstsicher auf; sie glauben, die passenden Worte und Beschreibungsweisen gefunden zu haben und damit einen exklusiven Weg zur Darstellung dessen, was sie verkünden oder über das sie zumindest reden wollen. Man könnte sagen: Sie sind durch die regelmäßige Interaktion mit ihren gestanzt wirkenden Vokabularien chronifiziert und einer Selbstübertreibungs-Tendenz (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 89 ff.) anheimgefallen. Dazu neigen Fach- und Gruppensprachen (die sogenannten Soziolekte) ohnedies, wie viele linguistische Untersuchungen zeigen. Mag die Sprache auch in solchen Fällen noch immer als Erkenntnismittel gehandelt werden, so dienen sie und die ihr entnommenen Beschreibungsformen hier vor allem als Erkennungsemblem; sie unterstützen das Bedürfnis, zu einem bestimmten Kreis dazuzugehören, wie sie auch in gleicher Weise die Überprüfung der in diesem verwendeten und als sicher geltenden Ausdrucksweisen behindern oder gar verhindern. Fachsprachen begünstigen und versperren den Erkenntnisprozess. Was wäre also geboten? Eine Meta-Fachsprache, ein kritisches Okular gegen die (unvermeidliche) Jargonisierungs-Tendenz? Wenn es darum geht, die Einschränkungen des Jargons sichtbar zu machen und zudem das therapeutische und beraterische Miteinanderreden zu verbessern, dann gilt es, eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das Wie zu richten. Der Stoßseufzer Goethes, den ich als Leitzitat zu Beginn des Kapitels gesetzt habe, kann dafür als erster Richtungsgeber dienen. Indem Goethe den Zusammenhang von Modus und Kundgabe in einem beziehungsreichen Bild anschaulich machte, hat er eine zentrale Einsicht der Kognitionspsychologie vorweggenommen. Die Einsicht nämlich, dass mehr als zwei Drittel unserer mentalen Handlungen Vergleichshandlungen sind. Das reicht bis in die trivialste Alltagskommunikation hinein. Ich will das an einem Beispiel zu verdeutlichen versuchen: Angenommen, Sie treffen einen Menschen, der Sie (aus welchen Gründen
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auch immer) interessiert. Und weiter angenommen, der oder die stellt Ihnen die zur sozialen Konvention gewordene, das Gespräch eröffnende Frage: »Wie geht es Ihnen?« Und weiter angenommen, Sie würden diese Frage nicht mit einer konventionellen, eine wirkliche Auskunft verweigernden Floskel, wie zum Beispiel: »Danke, gut«, beantworten, sondern ehrlicher und persönlicher auf diese Nachfrage reagieren. Was müssten Sie dann »innerlich« tun, um dem anderen etwas von sich zu sagen? Sie müssten, um tatsächlich ehrlicher und persönlicher antworten zu können, die verschiedenen seelischen Zustände, die Sie bereits erlebt haben, überblickshaft wahrnehmen17 und mit Ihrem jetzigen Befinden korrelieren. Sie müssten vergleichen und damit an bereits gemachte Wie-Erfahrungen anknüpfen. Wie basal und tiefgreifend solche Wie-Prozesse sind, wie stark Analogien und Analogiebildungen unser Denken und Erleben strukturieren und damit auch die therapeutisch-beraterische Kommunikation und das Coaching, ist meiner Beobachtung nach oftmals weniger bewusst als es für eine zieldienliche Gesprächsführung nötig wäre. Die nächste Übung ermöglicht es, sich mit Hilfe von drei häufig verwendeten Wörtern einmal näher mit dem eigenen Sprachgebrauch und damit verbundenen Sprachsystem zu beschäftigen.
Drei Wörter Die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska (die für ihr Werk mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde) untersucht auf poetische Weise in ihren Gedichten auch (sprach-) philosophische Fragen. Ihr deutscher Übersetzer Karl Dedecius spricht von dem »Salz weiblicher Weisheit«, das sie dabei verstreue. In dem Gedicht »Die drei seltsamsten Wörter« behandelt sie drei Wörter und ihre spezifische Wirkung, die sich allein aus ihrem Gebrauch ergibt: Die drei seltsamsten Wörter Sag ich das Wort Zukunft, vergeht seine erste Silbe bereits im Zuvor.
17 Das geht mit Hilfe des Leibgedächtnis erstaunlich schnell und präzise und ist häufig von einem paraverbalen Gebrumm und einem tastenden »Hm, na ja« begleitet.
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Sag ich das Wort Stille, vernichte ich sie. Sag ich das Wort Nichts, schaffe ich etwas, das in keinem Nichtsein Raum hat. (Szymborska, 1997, S. 307) Nehmen Sie drei (oder mehr) Wörter, die Sie in Ihrem beruflichen wie persönlichen Leben oft verwenden. Betrachten Sie diese länger und für sich genommen (gewissermaßen ohne Kontext), um dann in der Folge die Auswirkung dieser Wörter zu ermitteln, die sich aus ihrem Gebrauch ergibt. Stellen Sie zum Beispiel Fragen der Art: Was eröffnet oder verschließt mir eben gerade dieses Wort? Was legt es nahe, zu tun oder zu unterlassen? Welche Assoziationen und Gefühle erweckt oder erstickt es? Bringen Sie dabei durchaus die Motive Ihrer Verwendung eben dieser Wörter mit zur Sprache. Ob Sie dies in Gedichtform oder in schematischer oder erzählender Weise tun, bleibt Ihnen überlassen. Wichtig ist das Aufmerksamwerden auf den Umstand, durch welchen »verbalen Vorbau« Sie Ihre Welt gliedern, gestalten und bewerten. Möglicherweise bemerken Sie, inwieweit Ihr Blick auf die Welt wie auf sich selbst nicht allein durch das eigene Sprachsystem, sondern bereits durch einzelne Wörter eingeengt und vorweggenommen wird.
Dass »die« Philosophie oftmals einen schlechten Leumund besitzt, der sich auch auf die therapeutisch-beraterischen Kreise sowie auf das Coaching ausdehnt, muss einen, wenn man die Darstellungsweise – das Wie – vieler philosophischer Bücher betrachtet, nicht überraschen. Dabei stoßen die Themen – das Was – philosophischer Texte häufig auf größeres Interesse, wie nicht zuletzt die starke und anhaltende Rezeption der Bücher von Jostein Gaarder und Richard David Precht zeigt. Bei manchen philosophischen Autoren drängt sich der Verdacht auf, sie wollten gar nicht gelesen und verstanden werden, zumindest nicht so leicht oder von der sogenannten breiten Masse. Zudem fordern sie dem Leser die Übernahme bestimmter Perspektiven ab – Terminologien eignet ja nicht selten etwas Diktatorisches. Ein geübter und leserfreundlicher Schreibhandwerker wie W. Somerset Maugham hat (ganz unabhängig vom Inhalt) nur zwei Arten von Texten unterschieden: –– solche, in denen es sich der Autor leicht macht und der Leser es dadurch schwer hat, –– solche, in denen es sich der Autor schwer macht und der Leser es dadurch leicht hat.
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Mit einem Wort gesagt: Einfachheit – bei Erhaltung der Komplexität – setzt viel Arbeit voraus. »Es gibt keinen Grund«, sagt Maugham, »warum Philosophen nicht auch Schriftsteller sein sollten. Aber gut zu schreiben, fällt einem nicht in den Schoß, sondern ist eine Kunst, die viel Arbeit verlangt […] Der Philosoph, der sich nicht um klaren Ausdruck bemüht, zeigt damit nur, daß er seinen Gedanken allenfalls akademische Bedeutung beimißt« (zit. nach Stölzel, 2009b, S. 33 f.). Es gibt an Philosophen interessierte Leser, die nicht den Inhalt, wohl aber dessen Darstellung bemängeln. Lichtenberg etwa, der in Göttingen ein Verteidiger der kritizistischen Theorien Kants war und über lange Spannen seines Lebens ein aufmerksamer Rezipient von dessen Werken, gelangte kurz vor seinem Tode zu der formelhaft geäußerten Ansicht: »Kantische Philosophie, ohne seine Sprache und dieses ist der wahre Weg« (Lichtenberg, 1968, S. 931). Lichtenberg rügt gerade auch als Sprachdenker eine über die Sachkomplexität hinausgehende Schwerverständlichkeit: »Es ist wenigstens von Herrn Kant nicht freundlich gegen seine Leser gehandelt, daß er sein Werk so geschrieben hat, daß man es studieren muß wie ein Werk der Natur,« denn während die Aussicht, in der Natur etwas Erstaunliches zu finden, eher möglich sei, sei dies »bei menschlichen Werken […] nicht zu erwarten« (Lichtenberg, S. 693). Und seinem Bruder schreibt er, die »Critik der reinen Vernunft ist ein Werck eines dreißigjährigen Studiums.18 Er [Kant] hat lange über philosophische Systeme Vorlesungen gehalten, dadurch sind ihm eine Menge von Dingen freylich geläufig geworden, die es unzähligen Menschen, selbst von Geiste, nicht sind, wenigstens nicht zu diesem Grade« (1992, S. 1018). Es lohnt sich, die Sprache der Sprachkritiker genauer zu betrachten; das schärft nicht zuletzt den Blick für die eigene Tendenz zum Jargon (siehe Marquard, 2007), auch im Feld der therapeutisch-beraterischen Kommunikation sowie im Coaching. Im Falle Lichtenbergs – einem
18 Kants Lebensweise ist sprichwörtlich und von vielen anekdotischen Darstellungen aufgegriffen worden. Inwieweit Kants solitär-eingezogener Lebenswandel neben der Unanschaulichkeit seines Stils auch die Verstiegenheit seiner Ansprüche an den Menschen mitbewirkt hat, deutet Lichtenberg in einem Sudelbuch-Eintrag an: »Daß Gott, oder was es ist, durch das Vergnügen im Beischlaf den Menschen zur Fortpflanzung gezogen hat, ist doch bei Kants höchstem Prinzip der Moral auch zu bedenken« (Lichtenberg, 1968, S. 803).
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Meister an Klarheit und Anschaulichkeit – gibt es da wenig zu beanstanden. Das verhält sich bei manchen bewussten Sprachverwendern anders. Theodor Wiesengrund-Adorno hat 1964 eine philosophischlinguistische Streitschrift veröffentlicht, in welcher er eine bestimmte Redeweise bloßstellt. Seine Kritik entzündet sich an einem speziellen Wortgebrauch. Im Mittelpunkt steht dabei ein Wort, das wir alltagsweise wie auch in der therapeutisch-beraterischen Kommunikation und im Coaching vor allem dann verwenden, wenn die »wahre«, tiefere, die oft dahinterliegende – eben die »eigentliche« – Bedeutung eines Themas, einer Frage, eines Motivs etc. zum Ausdruck gebracht werden soll (»Was wolltest du eigentlich sagen?« Oder: »Eigentlich habe ich das gar nicht vorgehabt« usw.). Der Gebrauch, den ein philosophischer Fachkollege von ihm von eben diesem Wort (sowie verwandten Begriffen) und dem damit verbundenen Gestus machte, wollte Theodor Wiesengrund-Adorno in seiner Schrift »Jargon der Eigentlichkeit« bloßstellen. Es ging ihm dabei mehr um das »Heideggern« (jenes expressionistische Begriffsdada, das sich in Wendungen wie »das nichtende Nichts« oder »die lichtende Lichtung« usw. ergeht) der Schüler und Nachahmer von Heidegger als um den ursprünglichen Hervorbringer dieses Jargons selbst, wenn dieser auch durch ein bestimmtes Pathos19 Spott geradezu herausgefordert hat. Der mangelnde innere Abstand zur eigenen Sprechweise begünstigt die Jargon-Bildung; das gilt für einen bestimmten PhilosophenJargon, wie zum Beispiel die »Heideggerei«, nicht weniger als für das
19 Die fachliche Kritik an Heideggers Ausdrucksweise – einem Pathos, das oft bis zum Kitsch reicht und zu seiner eigenen Karikatur wird – ist älter. Sein ehemaliger Schüler Günther Anders hat die heideggersche Diktion an verschiedenen Stellen kenntnisreich aufgespießt, zum Beispiel in »Wesen und Eigentlichkeit namentlich bei Heidegger« (Anders, 2001, S. 33 ff.). Anders, der selbst eine sehr verständliche Diktion betrieb, hat wiederholt auf das Thema eines angemessenen Sprachgebrauchs hingewiesen, so in »Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung« (Anders, 1992) und in »Über die Esoterik der philosophischen Sprache« (Anders, 1975). Dass Anders’ erste Ehefrau, die Philosophin Hannah Arendt, vor ihrer Ehe mit Anders die Geliebte und philosophische Muse Heideggers war, und diesem auch nach ihrer Zeit mit Anders zumindest philosophisch die Treue hielt, gibt der berechtigten Sprachkritik von Anders eine pikante Note. Anders Aufmerksamkeit auf den Sprachgebrauch ist zu Recht gewürdigt worden (vgl. Zill, 2007).
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Psycho-Deutsch. Der damit verbundene Mangel an Selbstironie20 kann zu einer stupenden Wortgläubigkeit, ja – im Falle Martin Heideggers – zu einer Art Wortreligiosität führen, so als schlummere in den Worten ein tieferer Sinn, eben die »eigentliche« Bedeutung, die es durch eine bestimmte Sprachheuristik zu ent-decken oder zu ent-bergen gelte. Der Mensch, in den Worten Heideggers »der Hirte des Seins (oder Seyns)«, könne von der Sprache selbst den »Anruf« empfangen oder ihn in einem »echten Gespräch« vernehmen. Mit Hilfe solcher Edelsubstantive verpackt Heidegger Banalitäten in das Odium existentieller Aura und erweckt den Eindruck einer Teilhabe am Transzendenten. Dass ein aus der Missionspraxis kommender Psychotheologe wie Bert Hellinger sich von diesem Duktus erklärtermaßen angezogen und sich als Leser Heideggers diesem nahe fühlt, ist keine allzu große Überraschung. Die Kritik am »Jargon der Eigentlichkeit« hat ihrerseits eine subtile Kritik erfahren. Diese bezieht sich auf den Sprach- und Denkstil des Sprachkritikers Wiesengrund-Adorno, auf den – wie Jean Améry sagt – »Jargon der Dialektik«. Améry, der dessen linguistische Kollegenschelte durchaus mitvollziehen kann, sieht sich die Sprache des »Heideggerei-Kritikers« genauer an und kommt zu der Überzeugung, dass auch »ein anderer Jargon im Begriffe [steht,] die Sprache aufzublähen. Dieser ist nicht reaktionär, im Gegenteil: Er gibt sich progressiv bis progressistisch. Er ist nicht raunend, sondern schneidend, nicht wuchtig-gewichtig, sondern scharf-elegant. Er trieft nicht von Serenität, sondern tritt aggressiv auf. Seine Heimat ist nicht die schneesturmumbrauste Skihütte, sondern […] das mit allem Komfort ausgestattete Arbeitszimmer, das Funk- oder Fernsehstudio, der Sitzungsraum konferierender Redaktoren. Es ist der Jargon der Dialektik […] Dort geht es hoch her mit Reflektiertheit und negativer Positivität, mit Verdinglichung, unglücklichem Bewußtsein« (Améry, 2004, S. 275). In manch einer Wendung erreicht dieser Jargon durchaus die »eigentliche« Tiefe der heideggerschen Ausdrucksweise, wie Améry unter anderem hintersinnig an folgendem Beispiel aufzeigt: »›Die Literatur‹, so müssen wir erfahren, ›besteht ebenso aus Schweigen wie aus 20 Im Unterschied zu Martin hat Fritz Heidegger zum Beispiel in seinen Fastnachtsreden das »Da-Da-Dasein« anders zur Sprache gebracht und damit seinerseits die häufig beobachtete Humorlosigkeit seines Bruders auszugleichen versucht.
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Worten. Was sie sagt, erhält ihren vollen Sinn durch das, was sie nicht sagt: Denn es ist gerade dieses, was sie sagen will‹« (S. 280). Gerade die der Dialektik innewohnende Kraft begünstige laut Améry: »daß die Dialektik leichter als irgendeine andere Methode philosophischen Denkens zum Jargon deformiert werden kann. Das Positive ist das Negative; das Wort ist das Schweigen; das Licht ist das Dunkel; der Überwältigte bewältigt« (S. 286). Und so sind manche Erzdialektiker (wie es Améry mit einem gewissen Schillern ausdrückt) unfreiwillig »auf den Heidegger gekommen«. Im Unterschied zu denen, die einen Jargon der Eigentlichkeit pflegen, das heißt Banalitäten aufblasen, fürchten sich die, welche einen Jargon der Dialektik pflegen, vor jeglicher Banalität, mehr noch (wie Améry aufzeigt) vor jeglichem Banalwirken. Der deutsche Stammhalter der adornoschen Philosophie, der sehr reputierte akademische Philosoph Jürgen Habermas betreibt in vielen seiner Texte eine Diktion, die Heinrich Mann wohl als »Tiefschwätzerei« bezeichnet hätte. Sein Kollege Karl R. Popper, dem es darum geht, »meine Ideen möglichst einfach zu formulieren« (Popper, 1984, S. 113), und der sich um eine verständliche Sprache bemüht (und damit auch um eine Demokratisierung des Wissens), hat den Versuch unternommen, Habermas vom Deutschen ins Deutsche zu übersetzen, das heißt er hat ihn entholzt und viele seiner Bandwurm-Nomina aufgelöst.21 Es überrascht daher nicht, dass seine Übersetzung kürzer ausgefallen ist als das Original. Er hat dabei deutlich gemacht, dass man Gedankengänge nicht komplexer (will sagen komplizierter) machen muss als nötig – außer man ist auf entsprechende Imponiereffekte aus. Tabelle 1 zeigt, wie sich das Ganze darstellt.
21 Es wäre sicher eine gute Sprachübung, das BGB zu verbalisieren. Und es wäre ohne Zweifel verdienstvoll, die drei Kantischen Kritiken in Popperscher Weise zu bearbeiten.
44 Der Mensch als sprechendes Wesen Tabelle 1: Übersetzung einer Textpassage Habermas vom Deutschen ins Deutsche durch Popper Habermas beginnt mit einem Zitat von Adorno, dem er Beifall spendet: [Zitate aus Habermas’ Aufsatz]
[Poppers »Übersetzung«]
Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammen gefaßten, aus dem sie selbst besteht.
Die Gesellschaft besteht aus den gesell schaftlichen Beziehungen.
Sie produziert und reproduziert sich durch ihre einzelnen Momente hindurch.
Die verschiedenen Beziehungen produzieren irgendwie die Gesellschaft.
So wenig jenes Ganze vom Leben, von der Kooperation und dem Antagonismus des Einzelnen abzusondern ist,
Unter diesen Beziehungen finden sich Kooperation und Antagonismus; und da (wie schon gesagt) die Gesellschaft aus diesen Beziehungen besteht, kann sie von ihnen nicht abgesondert werden;
so wenig kann irgendein Element auch bloß in seinem Funktionieren verstanden werden ohne Einsicht in das Ganze, das an der Bewegung des Einzelnen selbst sein Wesen hat.
aber das Umgekehrte gilt auch: keine der Beziehungen kann ohne die anderen verstanden werden.
Adorno begreift die Gesellschaft in Kate gorien, die ihre Herkunft aus der Logik Hegels nicht verleugnen.
Adorno verwendet eine an Hegel erinnernde Ausdrucksweise.
Er begreift Gesellschaft als Totalität in dem streng dialektischem Sinne, der es verbietet, das Ganze organisch aufzufassen nach dem Satz: es ist mehr als die Summe seiner Teile.
Er sagt daher (sic) nicht, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Ebensowenig aber ist Totalität eine Klasse, die sich umfangslogisch bestimmen ließe durch ein Zusammennehmen aller unter ihr befaßten Elemente.
Ebensowenig ist (sic) das Ganze eine Klasse von Elementen.
Die Totalität der gesellschaftlichen Lebens zusammenhänge.
Wir alle stehen irgendwie untereinander in Beziehung.
Theorien sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren.
Theorien sollten nicht ungrammatisch formuliert werden; ansonsten kannst Du sagen, was Du willst.
Sie erweisen sich für einen speziellen Gegen standsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt.21
Sie sind auf ein spezielles Gebiet dann anwendbar, wenn sie anwendbar sind (Popper, 1984, S. 110 ff.).
22 Dass Habermas für sein sprachliches Schaffen mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet worden ist, verdankt sich wohl eher den Gepflogenheiten des Prämierungsbetriebes (ein Erfolgreicher wird weiter ausgezeichnet) und der mehrfach bekundeten Nähe zur Psychoanalyse als einer Stil-
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Ich möchte diesen Ausflug zu den eigentümlichen »Sprachspielen« (Wittgenstein) einiger akademischer Philosophen und ihrer kollegialen Sprachkritiker mit der nachfolgenden Übung abrunden.
Im Gespräch mit der Sprache Angenommen: »Ihre« Sprache, die Sprache, die Sie beruflich wie privat verwenden, Ihre persönlichen Redeweisen, Ihre Sprachgewohnheiten, Ihre Metaphern und Vergleiche, Ihre Formulierungsvorlieben usw. wären eine männliche oder weibliche Person, die Sie als intimste Begleiterin all Ihrer ausgesprochenen wie unausgesprochenen Gedanken so lange Sie zurückdenken können, begleitet; die sich mit Ihnen verändert und entwickelt hat; die so manche Gruppensprache, so manchen Jargon übernommen und wieder abgelegt hat. Angenommen, Sie würden diese »Person« zu einem Gespräch über sich selbst bitten, was würde sie wahrscheinlich sagen? Und Sie? Wie stehen Sie zu Ihrer Sprache? Was trauen Sie ihr »eigentlich« zu? Was nicht? Erinnern Sie sich an Momente, in denen Sie – ziemlich genau – mit Hilfe Ihrer Sprache, Ihrer intimsten Begleiterin, das sagen und formulieren konnten, was Sie aussprechen, benennen, beschreiben oder bezeichnen wollten? Und an Momente, wo dies eben nicht gelang, wo gerade das Ihnen Wichtige (zum Beispiel eine bestimmte Nuance, eine Wahrnehmung oder Einsicht) »unaussprechlich« erschien? Und wenn Sie sich jetzt dieser besonderen »Person«, Ihrer Sprache zuwenden, was sagt, was zeigt diese Ihnen?
verwandtschaft zum Namensgeber dieses Preises. Denn wie immer man auch zu Freuds Theorien stehen mag, so war er – ganz im Unterschied zu Habermas – ein Sprachmensch von einprägsamer und einladender Metaphorik. Ein weiteres Beispiel für das Habermas-Deutsch findet sich auf der Rückseite des Buchs: »Das Vokabular der Psychoanalyse« (Laplanche u. Pontalis, 1973); dort heißt es: »Die Psychoanalyse ist für uns als das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant«. Ein Zitat von Jürgen Habermas, das dessen Veröffentlichung »Erkenntnis und Interesse« entnommen ist – gut möglich, dass »Die Phrasen-Dreschmaschine« des Übersetzerkolloquiums Straelen (Birkenhauer, 1989) mit ihren 8000 Phrasen auch durch Habermas angeregt worden ist.
»Sprachspiele«
Bereits in seinen früheren Schriften begann Ludwig Wittgenstein formale, mathematische Systeme mit dem Schachspiel zu vergleichen. Später dehnte er diese Spielanalogie auf das »System« Sprache23 aus und prägte dafür den Ausdruck »Sprachspiel« (vgl. Hadot, 2009, S. 39 ff.). In seinen »Philosophischen Untersuchungen« (Wittgenstein, 1971) schreibt er in § 7: »Ich werde das Ganze der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen«. Den Ausgangspunkt dieser Begriffsschöpfung bildet der Umstand, dass Sprache eine regelgeleitete Tätigkeit ist, die sich nach bestimmten Spielregeln (zum Teil unterschiedlichen, darunter ganz konstitutiven Anweisungen, wie die Grammatik) vollzieht. Wir lernen Worte und Wörter kennen, indem wir lernen, sie »richtig«, das heißt regelhaft oder zumindest in einem bestimmten Sinn zu gebrauchen. In Analogie zum Schachspiel »funktioniert« das »Sprachspiel«, indem beispielsweise ein Satz wie ein Spielzug eine bestimmte Kommunikationspartie eröffnet, am Leben erhält, ihr eine bestimmte Richtung gibt oder sie beendet. »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«, präzisiert Wittgenstein in § 23. Gerade der weite Begriff »Lebensform« hat manchen seiner Erforscher (Fischer, 1987; Ohler, 1988) zu denken gegeben. Ich kann dies hier – wo es allein um eine kurze Hinführung zu diesem Begriff geht – nicht genauer darlegen. Zudem sind die Alltagsworte Sprache und Spiel nicht eindeutig bestimmbar, da es keinen einzelnen definierenden Aspekt gibt, den alle Spiele gemeinsam hätten. Ähnliches gilt auch für Sprache. Sie lassen sich am besten durch das heuristische 23 Dieser Analogieschluss ist ansatzweise bereits früher unternommen worden. Ein Dichter und experimenteller Denker der Romantik, Novalis, hat das so gefasst: »Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge« (Novalis, 1967, S. 333). Vgl. hierzu außerdem: Manfred Geier »Das Sprachspiel der Philosophen« (Geier, 1989).
»Sprachspiele«
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Instrument der Familienähnlichkeit bestimmen, das auf Wittgenstein zurückgeht (zur Verwendung dieses Instruments vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 122 f.). Was das heuristische Potential des Begriffs »Sprachspiel«, also »die Verwobenheit von Sprache und Handlung« angeht, so hat Matthias Ohler die Intention des Begriffsschöpfers folgendermaßen charakterisiert: »Das Sprachspiel ist nämlich zunächst nichts weiter als eine Untersuchungsmethode, eine Betrachtungsart […] Erst in zweiter Linie benennt der Begriff Sprachspiel dann die Gegenstände der Untersuchung, die nicht unabhängig von der Methode existierend gedacht werden können […], bei der Methode und Gegenstand in eins fallen« (Ohler, 1988, S. 75). Das bedeutet: Das Besondere des »Systems« oder »Spiels« der Sprache ist, dass es eines absichtsvollen Bewusstseinsaktes bedarf, um Metasprachliches und Objektsprachliches zu trennen bzw. zu unterscheiden. Zugespitzt gesagt, macht das Beobachtungsinstrument »Sprachspiel« Folgendes deutlich: Wir kommen aus unserer Sprache ebenso wenig heraus wie aus unserem Körper. Wie dieser »besitzt« die Sprache eine gewisse Machart und Erscheinungsform, die einen bestimmten Gebrauch nahelegt, für ihn disponiert ist und uns gewisse Möglichkeiten eröffnet, ein bestimmtes »Spiel« zu spielen. Wittgenstein hat mit dem Instrument Sprachspiel eine Beschreibungs- und Erkenntnisperspektive entwickelt, die innerhalb der therapeutisch-beraterischen Kommunikation sowie im Coaching (soweit ich sehe) noch zu wenig24 Verwendung gefunden hat. Die innovativen Ansätze, die Steve de Shazer in Anlehnung an Wittgenstein entwickelt hat (vgl. de Shazer, 1994, 2009), sind noch nicht so bekannt geworden, wie sie es verdienen. Das kann in diesem Rahmen nicht angemessen dargestellt werden, doch möchte ich insofern bewusstseinsbildend wirken, indem ich an dieser Stelle auf das Potential dieses Instruments genauer hinweise. Hierzu ein Hinweis von Wittgenstein, der eine hermeneutische Sackgasse andeutet, in der man sich (wohl nicht nur innerhalb der therapeutisch-beraterischen Kommunikation oder im Coa24 Eine Ausnahme bildet ein empirischer Fall, den Hans Rudi Fischer am Ende seiner philosophisch-psychotherapeutischen Studie »Sprache und Lebensform« vorstellt und analysiert (Fischer, 1987, S. 250–262). Fischer zeigt anschaulich auf, wie – innerhalb einer systemischen Familientherapie – mit Hilfe dieses Instruments die Sprachspiele innerhalb einer Familie »tiefengrammatisch« betrachtet werden und psychiatrische Symptomatiken (Verfolgungswahn) auch als Ausdruck einer »geänderten Grammatik« innerhalb eines Kommunikationssystems verstanden und behandelt werden können.
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ching) festfahren kann: »Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen […] wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt25« (Wittgenstein, 1971, S. 202). Dadurch, dass er die »Mannigfaltigkeit der Sprachspiele« sowie ihre unmittelbaren Auswirkungen vor Augen führt, vermittelt Wittgenstein den häufig nicht genug beachteten Aspekt der Wie-Haftigkeit kommunikativer Akte, der leichter zu bearbeiten und zu verändern ist als das, um das es vermeintlich geht, das sogenannte Inhaltliche. Denn was immer das Thema des Gesprächs sowie des kommunikativen Miteinanders sein mag, so besteht die wesentliche gemeinsame Struktur darin, dass zwei sprachmächtige Individuen ein bestimmtes (häufig nach eigenen Regeln ablaufendes) Spiel miteinander spielen, das sich im Einzelnen sehr unterschiedlich darstellen und vollziehen kann. »Wem die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele nicht vor Augen ist, der wird etwa zu den Fragen geneigt sein, wie dieser: ›Was ist eine Frage?‹ – Ist es die Feststellung, dass ich das und das nicht weiß, oder die Feststellung, dass ich wünsche, der Andere möchte mir sagen …? Oder ist es die Beschreibung meines seelischen Zustandes der Ungewißheit? – Und ist der Ruf ›Hilfe!‹ so eine Beschreibung? Denke daran, wie viel Verschiedenartiges ›Beschreibung‹ genannt wird: Beschreibung der Lage eines Körpers durch seine Koordinaten; Beschreibung eines Gesichtsausdrucks; Beschreibung einer Tastempfindung; einer Stimmung. Man kann freilich statt der gewöhnlichen Form der Frage die der Feststellung, oder Beschreibung setzen: ›Ich will wissen, ob …‹, oder ›Ich bin im Zweifel, ob …‹ – aber damit hat man die verschiedenen Sprachspiele einander nicht näher gebracht. Die Bedeutsamkeit solcher Umformungsmöglichkeiten, z. B. aller Behauptungssätze in Sätze, die mit der Klausel ›Ich denke‹, oder ›Ich glaube‹ anfangen (also sozusagen in Beschreibungen meines Innenlebens) wird sich an anderer Stelle deutlicher zeigen« (Wittgenstein, 1971, S. 25 f.).
25 Einer Einschätzung Fritz Simons zufolge, können »Aufstellungen und systemische Therapie als unterschiedliche Sprachspiele« charakterisiert werden (2005, S. 63 ff.).
Exkurs über das Denglische To bäh or not to bäh. Georg Christoph Lichtenberg Eine häufige Beigabe zeitgenössischer Sprachspiele (und damit auch der therapeutisch-beraterischen, vor allem der im Coaching) ist das sogenannte »Denglisch«. Der deutsche Acapella-Chor Wise Guys (Klugscheißer) präsentiert – was man bei diesem Namen nicht unbedingt erwarten würde – fast ausschließlich deutsche Liedertexte, die gerade die Möglichkeiten eines »undenglischen« Deutsch mit häufig gekonntem Sprachwitz verlautbaren. So werden ihre Texte inzwischen schon von fremdsprachigen Deutschlehrern dafür verwendet, um auch Jüngeren im Ausland zu zeigen, wie man etwas gut auf Deutsch sagen kann. In ihrem Lied »Denglisch« zeigen sie, zu welchen Sprach-Karikaturen dieses Idiom führt: »Ich bin zum Bahnhof gerannt und war a little bit too late: Auf meiner neuen Swatch war’s schon kurz vor after eight. Ich suchte die Toilette, doch fand ich nur ein ›McClean‹, ich brauchte ne Connection und ein Ticket nach Berlin. Draußen saßen Kids und hatten Fun mit einem Joint. Ich suchte eine Auskunft, doch es gab nur’n Service Point. Mein Zug war abgefahr’n – das Traveln konnt’ ich knicken. Da wollt ich Hähnchen essen, doch man gab mir nur McChicken […] Du versuchst mich upzudaten, doch mein Feedback turned dich ab. Du sagst, dass ich ein WellnessWeekend dringend nötig hab. Du sagst, ich käm’ mit Good Vibrations wieder in den Flow […] Statt Nachrichten bekomme ich den Infotainment-Flash […] Ich will, dass beim Coffee-Shop ›Kaffeehaus‹ oben draufsteht, oder dass beim Auto-Crash die ›Lufttasche‹ aufgeht, und schön wär’s, wenn wir Bodybuilder ›Muskelmäster‹ nennen und wenn nur noch ›Nordisch Geher‹ durch die Landschaft rennen […] Oh Lord, please gib mir meine language back […] Let uns noch a word verstehen, it goes me on the Geist, und gib, dass ›Microsoft‹ bald wieder ›Kleinweich‹ heißt« (Text Daniel »Dän« Dickopf, Wise Guys, 2012).
Ausgehend von einem politisierten Jugendsprachenidiom (taz-Jargon), der sich bis ins Extremistische ausweitete (»Big Raushole«), reicherte sich dieser Jargon später mit Brocken und Versatzstücken aus der PopKultur, der angelsächsischen Therapieszene und dem Volapük interna-
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tional agierender Konzerne an, bis daraus ein Sprachmischmasch wurde, das einem heutzutage allenthalben in teils grotesker, teils unsinniger, teils aufgemotzter und teils schlichtweg unnötiger Missgestalt begegnet, was jedoch die Verwender dieses Idioms nicht davon abhält, weiter ihre Redeweise entsprechend zu »imagen«. Das Bedürfnis, zu einer bestimmten Gruppe dazugehören zu wollen, unbedingt jung, lässig und »smart« zu wirken oder durch derlei sprachliche Imponiergesten den eigenen »Talk« und damit die eigene Bedeutung aufzuwerten, scheint bei den Denglisch-Anwendern jeglichen kritischen Abstand zu sich selbst und der Art, wie man sprachlich in Erscheinung tritt, nachhaltig zu anästhesieren. Denn »warum«, fragt der Schriftsteller Burkhard Spinnen in einer lesenswerten Sammlung sprachkritischer Kolumnen26, »›übersetze‹ ich englische Wendungen ins Deutsche, wo doch deutsche Texte, gedruckt oder gesprochen, sich ausschließlich wieder an Deutsch verstehende und lesende Menschen wenden?« Und: »warum in alles in der Welt muss ich beim Reden mit Deutschen englische Ausdrücke in fragwürdiger deutscher Übersetzung verwenden?« (Spinnen, 2008, S. 54). Es ist jedoch offensichtlich, dass es keine »reine« Sprache geben kann (auch wenn zum Beispiel die Académie française in Bezug auf die französische Sprache eine solche erreichen möchte). Eine »reine« Sprache wäre auch nicht wünschbar, denn das bedeutete einen erheblichen Schattierungsverzicht. Alle Sprachen verfügen über sie bereichernde Beimischungen. Das Amerikanische verdankt seine Eignung zur lingualen Hauptquelle des Denglischen der großen Menge an Begriffen mit leicht memorierbarer Einsilbigkeit, also Worten wie Stop, Step, Kick, Peep, Jazz, Jet, Flip, Top, Crash, Flow, Slow, Bang, Hit, Gig, Gag, Show, Shop, Flash, Flop, Pop etc.
26 »Gut aufgestellt. Kleiner Phrasenführer durch die Wirtschaftssprache«: Spinnen porträtiert hier eine Reihe von Prägungen und Verwendungsweisen des allerjüngsten Neuhochdeutschen, wie unter anderem angedacht, zeitnah, Beschwerdemanagement, Zeitfenster, Gender Mainstreaming, Window-Dressing, Global Player, Sale in Germany, Portfolio, Humankapital und implementieren. Spinnen will dabei »das Unbedachte hinter dem Alltäglich-Selbstverständlichen zum Vorschein kommen lassen« und dazu auffordern, »die Angebote an Phrasen und Jargon nicht unbedacht zu akzeptieren« und »mit Humor gegen den Strom […] [zu] reden« (Spinnen, 2008, S. 11). In eine ähnliche Richtung geht, wenn auch sprachwissenschaftlich fundierter, die Glossen-Sammlung Hans-Martin Gaugers »Was wir sagen, wenn wir reden« (Gauger, 2004).
Exkurs über das Denglische
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Eine der häufigsten und dabei widersinnigsten Floskeln ist die Information (oder »Info«): »Coffee to go«, die bereits in der englischen Hochsprache unverständlich ist. Ein englischer Muttersprachler kann hier genauso rätselraten wie ein deutscher, der sich beim Englischsprechen um einen idiomatischen englischen Wortlaut bemüht. Denn, was soll denn das heißen? Kaffee, um zu gehen? Kaffee, um davonzulaufen? Kaffee beim Laufen? Oder: der laufende bzw. der auslaufende Kaffee? Wenn solcher Sprachgebrauch so ohne Weiteres und ohne größeren Widerspruch möglich ist und vielfach so gedankenlos nachgeahmt wird, dann braucht es einen nicht zu überraschen, wenn man in naher Zukunft Aufschriften wie »Therapie to go« oder »Coaching to go« zu lesen bekommt. Um solchen Trends gut und sinnvoll begegnen zu können, ist es geboten, dies mit Humor und Wortwitz zu tun und eindrücklich aufzuzeigen, dass die »denglisch« aufgemotzten Redensarten nicht nur unnötig und nicht selten borniert sind, sondern dass auch hier – mit Hans Christian Andersen zu reden – ein Eindruck schinden wollender »Kaiser« ziemlich wenig anhat.27 So erklärt zum Beispiel die Modeschöpferin Jil Sander: »Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß« (zit. nach Zimmer, 1996, S. 21). Vor einiger Zeit erhielt ich von einer Versicherungsfirma eine »Helpcard« zugeschickt. Auf meine erstaunte Nachfrage, warum ich denn – wenn schon »Denglisch« – nicht wenigstens eine »Aidcard« erhalten hätte, da dies auch ein Engländer verstehen könne, wurde mir beschieden: Der Versicherungskonzern habe dies eben so beschlossen, es gehe hier nicht um kleinliche Sprachfragen (damit war wohl der Unterschied von to help und [first] aid gemeint), sondern um ein zeitgemäßes Marketing. Germanisten, so höre ich aus einschlägigen Kreisen, hielten 27 Das gelingt einem geübten Sprachbeobachter wie Wolf Schneider in seinem Kompendium »Speak German. Warum Deutsch manchmal besser ist« (Schneider, 2008). Dieser Band enthält neben aufschlussreichen sprachvergleichenden Erörterungen und aus dem aktuellen Sprachleben gegriffenen, unfreiwilligen Realsatiren eine Liste der »Aktion lebendiges Deutsch« mit Rückübersetzungen von üblich gewordenen »denglischen« Bezeichnungen. Vgl. hierzu die Denglisch-Liste, die Dieter E. Zimmer zusammengestellt hat und die aufzeigt, was man mit »MaxiKreativ-Power« alles bilden kann (Zimmer, 1997, S. 22 ff.). Genauen Sprachbeobachtern seien auch die einschlägigen Äußerungen Schopenhauers in »Über die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der Deutschen Sprache« empfohlen (Schopenhauer, 1985, S. 36–87).
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heutzutage ihre hierzulande stattfindenden Fachkongresse auf Englisch ab, allerdings häufig ohne angemessene idiomatische Sattelfestigkeit28, obwohl die gut Deutsch verstehenden ausländischen Kollegen dies in keiner Weise verlangten. Welches Motiv größerer Gesellschaftsgruppen steht hinter solchem Sprachverhalten? Eine Anpassungsbereitschaft an die Sprache des großen amerikanischen Bruders durch den eifrigen Gebrauch von Worten und Begriffen, wie »come together«, »input«, »best practise«, »office«, »leadership«, »orientation«, »change«, »harbour« usw. für die es auch deutsche Worte und Begriffe gibt? Wollen »die« Deutschen neben dem Rückgang der Bevölkerungszahl (Geburtenrate) sich allmählich auch als eigene Kulturnation zum Verschwinden bringen? Wirkt da – als eine unbewusste kollektive Selbstbestrafung für die Verbrechen und Zerstörungen, die Hitlerdeutschland angerichtet hat – die posthypnotische Suggestion, alles Deutsche, so auch die Sprache, möglichst wenig vorkommen, ja am besten möglichst verschwinden zu lassen? Es scheint mittlerweile berühmter Ausländer zu bedürfen, um auf die Qualitäten der deutschen Sprache hinzuweisen, wie zum Beispiel des argentinischen Autors Jorge Luis Borges, der als alter Mann das Gedicht »An die deutsche Sprache« veröffentlichte, wo es unter anderem heißt: »Mein Schicksal ist die Sprache Kastiliens […] Doch dich, süße Sprache Deutschlands Dich hab ich gewählt und gesucht, einsam. In Nachtwachen mit Grammatiken, Im Dschungel der Deklinationen, Des Wörterbuchs, das nie die genaue Schattierung trifft, kam ich dir näher […] Du, deutsche Sprache, bist Deutschlands Größtes Werk: Die verschlungene Liebe Zusammengesetzter Stimmen, die offenen 28 »The language of science is broken English« – konstatiert Uwe Justus Wenzel. Ein »rudimentäres Idiom« mit »simplifizierter Grammatik und drastisch reduziertem Wortschatz« – das auch unter dem Kürzel »BSE« laufende »Globalesisch« stehe für »Bad Simple English« (Wenzel, 2008, S. 29).
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Vokale, die Laute, die den gelehrten Hexameter des Griechen erlauben Und dein Rauschen von Wäldern und Nächten« (Borges, 1980, S. 81).
Auch wenn man als Therapeut, Berater, Coach oder Organisationsentwickler kein sonderlich entwickeltes oder gar literarisches Verhältnis zur Sprache besitzt, so ist man durch die – gewissermaßen sehr sprachgebundene – Tätigkeit, die man ausübt, kein marginaler, passiver Sprachbenutzer. Vieles findet mit, durch, anhand und über die Sprache statt – das Beschreiben sowohl des Problems wie auch der Lösung, und all das zuzüglich der genuin hypnotischen Kraft der Sprache, die nicht allein von der Werbung gegen uns eingesetzt wird. Und so ist es – zumindest im Dienst der Sache, das heißt der Menschen und der Verbesserung der Kommunikationsprozesse – geboten, sich und andere immer wieder zu fragen: Wie reden wir – miteinander?
Das Zauberwort treffen
Man kann, wenn man auf die Möglichkeiten des Deutschen hinweist, in den Ruf eines linguistischen Patrioten und, wenn man genauer auf das Wie des Gesagten hinweist, in den Ruf eines Beckmessers kommen, dem es darum geht, die Patzer in den Worten des anderen zu finden und aufzuspießen. Wenn ich hier durchaus zitat- und belegreich den unterschiedlichen Umgang mit einem so selbstverständlichen Medium unseres Lebens vor Augen zu führen versucht habe, so geschah dies vor allem, um die Macht dieses Mediums zu verdeutlichen. Es geht hierbei um mehr als um nur vermeintlich bloße Sprachfragen. Einer (zum Topos gewordenen) Beobachtung des Comte de Buffon zufolge ist der (jeweilige) Stil der Mensch selbst (»Le style, c’est l’homme même«).29 Wobei der Stil, die Art und Weise, eben das »Wie«, mehr ist als lediglich etwas äußerlich Hinzugefügtes; etwas, das durchaus auch ganz anders sein könnte; eine bloße Einkleidung. »Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge«, empfiehlt Schopenhauer (1968, S. 613), der nicht nur von Stilisten zu einem Großmeister der Klarheit ernannt worden ist. Er setzte sich für eine »höhere Gemeinsprache« ein, in der Umgangssprachliches und Fachsprachliches einander so angenähert würden, dass diese Gemeinsprache zugleich genau und verständlich erscheine. Denn was auch immer das Thema und den Kontext des Miteinanderredens bilden mag, so wird das Gespräch vor allem dann zu einer klärenden Instanz, wenn – möglichst treffend – das gesagt werden kann, was den jeweiligen Anlass gegeben hat oder was im dialogischen Zusammensein zu Wort kommen will. Im treffenden Wort (in jenem »mot juste« wie Flaubert sagt) entfaltet und verdichtet sich die erkenntnisbildende Macht der Sprache, das, was durch Sprache (überhaupt) möglich ist. In ihm ver29 Jemand, der für die Entwicklung der deutschen Sprache so wichtig gewesen ist wie Martin Luther hat seine persönliche Ausdrucksweise, seinen Stil, so weit individualisiert, dass er in einem Brief schreiben konnte: »Denn ich hab’s so gemacht, daß ich habe bemerkt sein wollen, und wer es liest, wenn jemand meine Feder und Gedanken gesehen hat, sagen muß: Das ist der Luther« (Luther, 1983, S. 21).
Das Zauberwort treffen
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binden sich das Wie und das Was, Form und Inhalt zu einer besonderen geistigen Energie, die etwas in Bewegung bringen kann, was zuvor unbeweglich und unveränderlich erschien; die Latentes, Verborgenes, Potentielles sichtbar oder wenigstens spürbar macht. Das treffende Wort wird dann zu jenem Wort, dessen Wirkung Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht »Wünschelrute« im Gestus der romantischen Ästhetik so beschreibt: »Schläft ein Lied in allen Dingen Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort« (Eichendorff,1987, S. 328).
Etwas besprechen Eine unpassende Ausdrucksweise ist ein sicheres Mittel, in einer Verwirrung stecken zu bleiben. Sie verriegelt gleichsam den Ausweg aus ihr. Ludwig Wittgenstein Noch bevor wir die Sprache richtig erlernt und zu gebrauchen verstanden haben, ist uns eine grundlegende Interaktion vor Augen geführt worden. Was wir wahrnehmen (können) – seien es Menschen, Tiere, Naturerscheinungen, Dinge – ist stets mit einem bestimmten und stets demselben Geräusch verknüpft, von dem wir später erfahren, dass dies die (charakterisierende) Bezeichnung, der sogenannte (Eigen-)Name von etwas ist. Durch ständigen Gebrauch wird die Beziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem so eng, dass uns beim Auftauchen des einen sofort das andere einfällt, so als bildeten der Name und was er benennt, eine Einheit und wären identisch. Mit dem Erlernen einer weiteren Sprache wird diese Selbstverständlichkeit zumindest subtil irritiert, da ja ein Bewusstsein dafür entsteht, dass die Namen nicht wie ein naturgegebener Anhang an den jeweiligen Namensträgern haften und dass man mit ganz anderen Geräuschen die Erscheinungen der Welt bezeichnen kann. Die Möglichkeit, nicht nur Personen oder Gegenständen, sondern auch Verhaltensweisen, Eigenschaften, Überlegungen usw. bestimmte Namen zu geben, hat etwas ungemein Beruhigendes, weil Ordnungschaffendes an sich. Diffuses, Drohendes wird so vermeintlich handhabbar, Beunruhigendes und Beängstigendes womöglich gebannt. Ein Arzt oder Therapeut stellt beispielsweise eine bestimmte Diagnose, das heißt, er gibt etwas einen bestimmten Namen30 und macht es dadurch einschätzbar, verleiht ihm eine 30 Paul Watzlawick, der selten um eine gute (heilsame) Anekdote verlegen war, berichtet von einem Fall, in dem sich die Macht der Benennung – als glückvoll erlebte Rückkopplungsschleife – gestaltet hat: »In einem österreichischen Krankenhaus liegt ein schwerkranker Mann im Sterben. Die behandelnden Ärzte haben ihm wahrheitsgemäß mitgeteilt, dass sie seine Krankheit nicht diagnostizieren können, ihm aber wahrscheinlich helfen könnten, wenn sie die Diagnose wüßten. Sie haben ihm ferner gesagt, daß ein berühmter Diagnostiker das Spital in den nächsten Tagen besuchen und vielleicht imstande sein wird, die Krankheit zu erkennen. Ein paar Tage später kommt der Spezialist wirklich und macht seine Runde.
Etwas besprechen
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bestimmte Dimension, Größe, Bedeutung, eröffnet einen Zusammenhang; es (was immer es auch sei) wird dadurch scheinbar konkret und behandelbar. Bei Namen, terminologischen Begriffen, Bezeichnungen überhaupt sollte man sich stets den menschengemachten Erfindungscharakter vor Augen halten. Denn ist ein bestimmter Ausdruck einmal geprägt und in Umlauf gebracht worden, dann wirkt er auf nicht wenige Zeitgenossen, als sei durch ihn bereits etwas Richtiges, Gültiges gegeben worden (vgl. die Modekrankheit ADHS, die suggeriert, es habe zuvor keine zappeligen Kinder oder Jugendlichen gegeben). Dass der Sprache gerade im Verwenden (oder Vermeiden) bestimmter Worte und Namen etwas durchaus Magisches eigen ist, lässt sich in vielen Bereichen beobachten. Dabei kommt dem ausgesprochenen oder gedachten Klang eines Wortes oder Satzes eine verstärkende Wirkung zu – wohl auch deswegen, weil das Klangliche – die Sprache als Geräusch, als ein in spezifischer Weise modulierter Ton – die Anfänge unseres Spracherlebens und späteren Sprachvermögens gebildet hat und dadurch auch leiblich in Kontakt zu unseren anfänglichen und fundamentierenden Lebenserfahrungen steht. Hinzu kommt der Umstand, dass die Worte nicht nur in einem gedanklichen Zusammenhang stehen. Reime und Homophonien schaffen Beziehungen (Witz – Blitz – spitz – Fritz), und sprachliche Fehlleistungen (Vorschein – Vorschwein) wären nicht möglich, wenn es nicht lautliche Korrespondenzen zwischen einzelnen Worten gäbe, welche diese in eine phonologische Ordnung bringen, die inhaltlich gar nicht unbedingt gegeben ist oder nahezuliegen scheint. Und so tritt einem die Wortsprache als etwas entgegen, das nicht nur grammatisch oder semantisch, sondern auch klanglich geordnet werden kann. Die Macht des Klanges wird so nicht allein von der kommerziellen Werbung und weltanschaulichen Suggestionsangeboten aufgegriffen und instrumentalisiert. Rhetorisch begabte Anwälte und Politiker oder religiöse Überzeugungstäter arbeiten mit der Klangmagie einzelner Worte mitunter so erfolgreich, dass sie ihre Zuhörer Am Bett des Kranken angekommen, wirft er nur einen flüchtigen Blick auf ihn, murmelt ›moribundus‹ und geht weiter. Einige Jahre später sucht der Mann den Spezialisten auf und sagt ihm: ›Ich wollte Ihnen schon längst für Ihre Diagnose danken. Die Ärzte sagten mir, dass ich Aussicht hätte, mit dem Leben davonzukommen, wenn Sie meine Krankheit diagnostizieren könnten, und im Augenblick, da Sie ›moribundus‹ sagten, wusste ich, daß ich es schaffen würde‹« (Watzlawick u. Kreuzer, 1988, S. 136; moribundus: lat. im Sterben liegend, sterbend).
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geradezu »besoffen reden« und deren Verhalten in bedenklicher Weise mit beeinflussen können. Der Zauber, der bestimmten Worten und Wortverbindungen eigen ist, zeigt sich nicht allein in den verschiedenen Taufakten und Namensgebungen31 von Wegen, Straßen, Brücken, Plätzen, Dörfern, Städten, Gegenden, Staaten, Ländern, Kontinenten, Himmelskörpern, Erfindungen, Produkten, Firmen, Organisationen, Vereinen, Heilverfahren, Arzneimitteln, in Methoden und Theorien oder bei Krankheitsbezeichnungen. Die selbstgewählten oder von anderen entwickelten Künstler- oder Decknamen, die zum Beispiel aus einem Samuel Langhorne Clemens einen Mark Twain,32 aus einem Raimund Pretzel einen Sebastian Haffner, aus einem Herbert Frahm einen Willy Brandt, aus einem Michael Marion Morrison einen John Wayne oder einer Norma Jean Baker eine Marilyn Monroe machen, einen Uljanow in einen Lenin und einen Dschugaschwili in einen Stalin verwandeln, arbeiten ebenfalls mit einer gewissen Lautmagie. Werbestrategen und Marketingexperten wissen, dass der Klang und die phonetische Eingängigkeit eines Produktnamens entscheidend zu dessen Erfolg beitragen können. Spitz-, Spott- oder Kosenamen verschmelzen nicht selten so sehr mit ihren Trägern, dass sie beinahe zu Eigennamen mutieren. Städte werden umbenannt: von Byzanz zu Konstantinopel zu Stambul zu Istanbul oder Reval in Talinn oder Kristiania in Oslo, oder rückbenannt: von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt wieder zu Chemnitz oder von St. Petersburg in Leningrad wieder zu St. Petersburg. Ein Regierungspolitiker (zumal 31 In dem Roman »Oliver Twist« von Charles Dickens erklärt der Kirchspieldiener Mr. Bumble, wie er mit den namenlosen Waisenkindern (die keine Namensgeber und damit keine individuelle Identität haben) verfährt: »Wir benennen unsere Zöglinge immer nach dem Alphabet. Zuletzt hielten wir bei S – Swubble, so nannte ich das vorletzte Waisenkind, und der nächste war ein T – Twist; ich habe ebenfalls den Namen erfunden. Wenn wieder einer kommt, wird er Unwin heißen, und der Nächstfolgende Vilkins. Ich habe mir schon eine ganze Reihe von Namen ausgedacht, durchs ganze Alphabet hindurch; und wenn ich bei Z angekommen bin, fange ich beim A wieder an« (Dickens,1982, S. 15). 32 In seiner Autobiographie berichtet Twain über das Zustandekommen dieses Zweitnamens: »ich [verwandte] dafür den Ruf der Grundloter auf dem Mississippi: ›Mark Twain‹ (zwei Faden tief = zwölf Fuß)« (Twain, 1977, S. 152). Twain alias Clemens hatte, bevor er als Autor in Erscheinung trat, sein Lotsenpatent gemacht und dabei erfahren, dass die Macht auf diesem Fluss nicht den Kapitänen, sondern den Lotsen gehörte, denn sie entschieden letztlich darüber, ob ein Schiff weiterfahren konnte oder nicht. Dabei erscholl dann rituell der Ruf, der zum Namen eines weltberühmten Autors, nicht allein von sogenannten Jugendbüchern wurde.
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in unseren aufgeklärten Zeiten) tritt lieber als Verteidigungs- denn als Kriegsminister in Erscheinung. In der langen deutsch-jüdischen Sozialgeschichte gab es die Praxis des Namenskaufs, durch die vermögend gewordene Juden unauffällige »christliche« Namen erwarben oder im Prozess der Assimilation ihren Geburtsnamen gegen einen germanischer klingenderen eintauschten, wie zum Beispiel der Großvater Katja Manns sich von einem Elias Levy in einen Friedrich Wilhelm Dohm verwandelte oder ein Vorfahr Ludwig Wittgensteins noch Moses Meyer hieß, während dessen Nachfahren zu dem bekannten Fürstennamen wechselten. Andererseits machte eine Tochter des Hitler-Intimus und Reichsministers Albert Speer erklärtermaßen früh von der Möglichkeit Gebrauch, ihren (Nach-)Namen durch Heirat loszuwerden und damit einer namensgebundenen Ächtung zu entgehen. Die Idee, dass einem nichts passieren könne oder dass man zumindest geschützt sei, solange man sich inkognito durch sein Leben bewege, ist eine alte kulturübergreifende Vorstellung. Sie findet beispielsweise in dem Märchen »Rumpelstilzchen« der Gebrüder Grimm einen markanten Ausdruck. Dem scheint die Idee zugrunde zu liegen, dass mit dem Wissen um den charakteristischen Eigennamen auch bestimmte Bemächtigungsmöglichkeiten einhergingen. Als sei jemand bei seinem Namen wie an einem magischen Schopf zu packen. Während der bis zum sogenannten Dritten Reich »unschuldige« Männervorname Adolf nach 1945 mit einem Benennungstabu versehen wurde oder andere Namen, wie der des jüdischen Gottes etwa, mit einem Namensverbot belegt sind, entstanden mit der Besiedlung der »Neuen Welt« nicht nur viele neue, so noch nie dagewesene Ortsund Landschaftsnamen, auch zahlreiche zukünftige Amerikaner trennten sich (symbolisch) bei der Überfahrt in ihre neue Heimat von ihren angestammten Namen, um mit einer anderen klanglichen Identität ein neues, womöglich besseres Leben zu beginnen. Die nächste Übung lädt Sie dazu ein, genauer zu erkunden, was ein Verzicht auf (Eigen-)Namen bewirkt.
Ohne (Eigen-)Namen Wie groß die orientierende Kraft der (Eigen-)Namen ist, sieht man zum Beispiel bei Ortsunkundigen, die sich nach der Bezeichnung eines Naturphänomens (Gewässer, Berg etc.) erkundigen. Fällt dann der erwartete oder zumindest ein Name, setzt
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sofort Erleichterung ein. Was durch einen Namen bezeichnet wurde, scheint weniger bedrohlich oder befremdlich, sondern Teil einer (sinnvollen) Ordnung zu sein; selbst wenn man die Bedeutung des jeweiligen Namens gar nicht kennt und diesen nicht einmal versteht. Die Wirkung solchen Namenszaubers scheint selbst sich aufgeklärt wähnenden Menschen oft nicht bewusst zu sein. Angenommen Sie vereinbaren mit Ihrem beruflichen und persönlichen Umfeld für eine kurze Zeit (vielleicht eine Stunde oder einen Tagesteil) auf jegliche (Eigen-) Namen zu verzichten. Sie verwenden bei dem, was Sie besprechen oder austauschen möchten, diese Wortart nicht; sprechen also ohne … Wie muten Sie dann die Welt und das, was Sie sagen oder von anderen zu hören bekommen, an? Was verändert sich in Ihrer Wahrnehmung? Was in Ihren Handlungsweisen? Fühlen Sie sich freier oder fühlen Sie sich unsicherer im Umgang mit der Sprache als Ihrem gewohnten »Handlungswerkzeug«? Welche Impulse bemerken Sie bei sich, welche bei anderen – vornehmlich solchen, die Sie gut zu kennen vermeinen?
In archaischen Kulturen wurden durch Zauberformeln, Beschwichtigungsworte oder Namenslitaneien Menschen, Krankheiten, gefährliche Situationen oder Naturvorgänge (Ernte, Wetter) magisch besprochen. Auch in unserer »modernen« Kultur mit ihren technisierten Kommunikationsformen ist dieser Bedeutungsaspekt im vermeintlich sachlichen Besprechen noch enthalten. Als eine Form des organisierten (Aus-)Atmens nimmt das (Aus-)Sprechen über das feinstoffliche Luftelement (das von jeher dem Geistigen zugeordnet wurde) klanglich direkten Einfluss auf die jeweilige Person oder Situation. Der Odem33 eines Menschen ist nicht nur ein unmittelbarer Ausdruck seiner selbst; er kommt auch aus einem konkreten Innenraum sowie einem spezifischen, das heißt individuellen »Weltinnenraum« (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 105 ff.). Jemand teilt sich mit und verändert dadurch – wie subtil auch immer – seine Umgebung. Dass Worte Waffen sein, aber auch Frieden stiften können; dass der Ton die Musik, genauer die »Beziehungsmusik« macht; dass einmal ausgesprochene Worte schwer wieder zurückgenommen oder ungeschehen gemacht werden können (»Sie sind entlassen!«; »Das ist Verrat!«; »Du hast mich belogen und getäuscht!«; »Sie können das nicht!«); dass Chefbefehle, elterliche Anweisungen, Richtersprüche, posthypnotische Induktionen, Treueschwüre, Diagnose33 In verschiedenen Kulturen wird der Odem eines Menschen mit dessen Seele bzw. seiner Seelentätigkeit gleichgesetzt.
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bekanntgaben oder Gutachterurteile in dem Sinn Besprechungen sind, dass sie – mit der spezifischen Macht und Kraft der gesprochenen Sprache – Menschen und Dinge derart ansprechen, dass bei ihnen etwas bewirkt wird: All das gibt das magische Potential der Sprache deutlich zu erkennen. Elias Canetti hat in seinem autobiographischen Buch »Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend« (Canetti, 1977) die Auswirkungen eines Familienfluchs beschrieben: Canettis Eltern wollten die provinzielle Enge des bulgarischen Ortes Rustschuk verlassen und ins deutlich weltläufigere Manchester wechseln und sich dadurch auch »von der Tyrannei des Großvaters« (S. 44) befreien. Dieser hatte sich schon vehement gegen die »arische« Namensgabe Georg (nach dem englischen König) seines jüngsten Enkels gesträubt und stattdessen einen jüdischen Vornamen verlangt. Nun wollte er aber unter keinen Umständen seinen Sohn (den Vater von Elias) in die Fremde und in ein selbstgestaltetes Leben ziehen lassen: »Als er sah, dass er nichts ausrichten konnte […] verfluchte er ihn feierlich im Gartenhof, seinen Sohn, vor den anwesenden Verwandten, die entsetzt zuhörten. Ich hörte sie, wie sie untereinander darüber sprachen: nichts gäbe es, sagten sie, das furchtbarer sei, als ein Vater, der seinen Sohn verfluche« (S. 45). Im Jahr nach diesem Fluch stirbt der Vater mit 31 Jahren und (der Obduktion zufolge) ganz gesund plötzlich an einer Herzattacke. Inwieweit diese Form des stark einwirkenden, invasiven Sprechens – die Redehandlung des ungebändigten patriarchalischen Zorns – an diesem Tod mitbeteiligt war, blieb auch für die Angehörigen offen, wobei der Verflucher Zeit seines langen Lebens (das neunzig Jahre währte) von diesem frühen und abrupten Endes seines Sohns betroffen, ja, davon gezeichnet blieb. Der Wunsch, »seinen Segen zu geben« oder ihn wenigstens nicht zu verweigern, findet sich in vielen Bereichen des menschlichen Lebens. Das geht über das Persönliche hinaus. Inhaber von Firmen oder Organisationen lassen diese (noch oder wieder) segnen, so als ob von dem rituellen Beistand bestimmter Worte eine hilfreiche oder zumindest schützende Wirkung ausgehen könnte und Menschen und Dinge eine gute Entwicklung nähmen, wenn sie in entsprechender Weise besprochen würden.
Exkurs: Transitiv oder reflexiv?
Philosophische Perspektiven können die kommunikativen Selbstverständlichkeiten und damit die Art und Weise des therapeutischen oder beraterischen Gesprächs deutlicher machen als Vorgehensweisen, bei denen der Modus des professionellen Sprechens weniger Gegenstand des kritischen Bewusstseins ist. Eine Fähigkeit, die philosophisches Reden im Unterschied zu anderen »Rede-Kuren« besitzt. Das berührt die Frage der Ebenbürtigkeit der Beteiligten am therapeutischen oder beraterischen Gespräch sowie im Coaching. Das berührt auch die Zuschreibung sowie Überwertigkeit bzw. Unterwertigkeit als den beziehungsbeschreibenden Metathemen. Ich möchte dies an der Valenz34 des Verbums »beraten« deutlich machen. Im Deutschen ist »beraten« ein zweiwertiges Verb. Das bedeutet, man kann: (1) jemanden beraten (oder von jemandem beraten werden), (2) sich mit jemanden beraten. (1) Jemanden beraten (im amerikanischen Therapy-Slang eine »one-upposition« einnehmen) befriedigt ein weitverbreitetes anthropologisches Bedürfnis. Es stärkt den Narzissmus des Beraters/Coaches oder Therapeuten, dass er als jemand wahrgenommen oder eingeschätzt wird, der einem anderen »Bescheid geben kann«, der die jeweils anstehende Lösung kennt oder zumindest einen exklusiven Zugang zu ihr hat. Es schwächt die Autonomie, Würde und Kraft des Beratenen/Coachees oder Therapierten, indem es dessen seelisch-geistige Unmündigkeit vergrößert, verlängert, verstärkt oder erhält. Dadurch erfährt diese Form der Unterstützung nicht selten eine infantilisierende oder invalidisierende Wirkung (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 138 f.). Zugespitzt gesagt, zerfiele die Menschheit somit in zwei Gruppen, nämlich in diejenigen, die es nicht wissen, können oder verstehen und deswegen geführt und geleitet werden müssen (eine Karikaturform dieser Spezies bilden die Analysan34 Zur Valenztheorie von Verben (siehe Stölzel, Th., 2012, S. 9 f., vgl. dazu auch Ohler 2009, S. 15 ff.).
Exkurs: Transitiv oder reflexiv?
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ten, die nahezu täglich ihren Analytiker aufsuchen und sich nicht in der Lage wähnen, ohne dessen Beistand überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Der Filmemacher Woody Allen hat aus dieser Interaktion manche seiner Stoffe entwickelt), und diejenigen, die es vermeintlich wissen, können und verstehen. Dabei sollte natürlich die jeweilige therapeutische oder beraterische Kommunikationsform eigens betrachtet werden, desgleichen auch der Anlass und das Anliegen, die überhaupt zu einem Konsultationswunsch führten. Es gibt Umstände, in denen jemand zu Beginn einer Therapie, Beratung oder eines Coachings nicht in der Lage ist (oder sich nicht in der Lage fühlt), sich ohne Expertenhilfe selbst zu helfen. Das heißt, in denen es für denjenigen, der therapiert, beraten oder gecoacht wird, zunächst angemessen scheint, eine Hilfe zur Selbsthilfe zu erfahren, wie es auch über den therapeutischberaterischen oder Coaching-Rahmen hinausgehend Situationen und Konstellationen gibt, in denen sich eine gute Expertise als willkommen, sinnvoll und weiterführend erweisen kann, wie beispielsweise bei einer Steuer-, Rechts-, Vermögens- oder anderen Fachberatung. Doch auch dort, wo man sich fachfremd fühlt, ist man gut beraten, der Latenz zu widerstehen, die eigene Urteilskraft und damit verbunden die eigene Verantwortung am Tisch oder im Gesprächsraum des Beraters/Coaches oder Therapeuten abzugeben. Viele Ärzte und auch manche Psychiater neigen – wohl auch aufgrund eines nicht genügend reflektierten und bearbeiteten Selbstverständnisses als Helfer – meiner Beobachtung nach dazu, ihre Patienten und Klienten über Gebühr (und nicht unbedingt zu deren Nutzen) zu kontrollieren und zu entmündigen. (2) Sich mit jemanden beraten akzentuiert eine Begegnung auf »existentieller Augenhöhe« innerhalb eines geschützten dialogischen Raumes. Diese Form der Unterstützung fokussiert im Wissen um die Unterschiede, die es vom Lebensalter, den Erfahrungen, Belastungen, Kompetenzen, dem Geschlecht her zwischen den Menschen gibt, auf etwas Gemeinsames oder doch sehr Ähnliches. Damit ist die anthropologische Grundsituation gemeint, der zufolge der Mensch bei all seinem wirklichen oder bloß vermeintlichen Wissen, Können und Verstehen als ein Wesen erscheint, das um sein (grundsätzliches) Nichtwissen wissen kann (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 50); das sich der Herausforderung gegenüber sieht, mit sich selbst, genauer den verschiedenen Seiten von sich, zurechtzukommen, und das bei zunehmenden Lebens-
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jahren ein wachsendes Bewusstsein von seiner Endlichkeit hat oder bekommen kann. Diese »existentielle Augenhöhe« bildet die Grundlage, um gemeinsam den entwicklungs- und klärungsfördernden dialogischen Raum eines Zwischen (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 156 ff.) zu erzeugen. Dieser Raum macht es möglich, Themen und Aspekte der Selbstberatungsprozesse des Gesprächssuchenden um die Perspektiven des Sich-Beratens mit einem professionellen Gesprächspartner zu erweitern. Auf diesem Wege ist es besonders gut möglich, die Autonomie des Einzelnen zu stärken, dessen Selbstverantwortung zu fördern, ungenutzte oder noch nicht ausreichend genutzte Ressourcen sichtbar zu machen, Unerprobtes zu erproben, Kompetenzen neu oder anders freizulegen und zu stärken. Sich mit jemanden zu beraten beugt Abhängigkeitsverhältnissen vor und bringt (unbewusste) Bereitschaften, Abhängigkeitsverhältnisse einzugehen, in den Blick; es setzt einen größeren, wechselseitigen »Zumutungsmut« (vgl. Stölzel, 2009, S, 99 ff.) voraus als bei den »One-up«-strukturierten Verfahren; es begünstigt die Entwicklung einer geistig-seelischen Souveränität. Denn der auf der Basis eines reflexiven Therapierens, Beratens oder Coachens arbeitende, professionelle Gesprächspartner ist zugleich gewissermaßen Bündnispartner der individuationsorientierten Seiten des anderen; er muntert ihn auf, wie es Herder über seinen akademischen Lehrer, den vorkritischen Kant sagte und zwingt ihn auf angenehme Weise zum Selbstdenken (Herder, 1881, S. 404). Betrachtet man die unterschiedlichen Beratungsbedürfnisse und Berater, so lassen sich für diese Kommunikationsform seit der Antike bestimmte, wiederkehrende Grundtypen erkennen. In einer ideengeschichtlichen Skizze zur Beratung unterscheidet der Kulturwissenschaftler Thomas Macho zwischen einer charismatischen und einer pragmatischen Beratung: »Die charismatischen Ratgeber überzeugen durch ihre Weisheit und Präsenz, durch die suggestive Gewißheit, den rechten Weg zu kennen; die pragmatischen Ratgeber überzeugen durch ihre Kenntnisse und Erfahrungen […] Während die Charismatiker ihre Inspirationsquellen ›geheimhalten‹, ihre Arbeitstechnik mystifizieren […] suchen die Pragmatiker die Öffentlichkeit, berufen sich auf Lehrer und bisherige Referenzen« (Macho, 1999, S. 22 f.). Entscheidend für die Attraktivität und Wirksamkeit einer bestimmten Beratungsform ist neben den jeweiligen Beratungsstilen und prak-
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tizierten Methoden der »Ruf«, der einem Therapeuten, Berater, Coach, Seelsorger vorauseilt, sind dessen wirkliche oder vermeintliche Fähigkeiten, darunter die, etwas, das weiterführt, »erraten« zu können. Systemtheoretisch gesehen gibt es zwischen guter, das heißt wirksamer Führung und guter, das heißt wirksamer Beratung eine Parallele. Beide beziehen ihre Kraft und Ausstrahlung aus Zuschreibungen derer, die an sie glauben. Das ist auch der Punkt, an dem eine pragmatische in eine charismatische Beratung übergehen kann.35
Zuschreibungen Prüfen Sie, welche Zuschreibungen, welchen »Ruf« Ihre Methoden bei denen haben, die sich professionell an Sie wenden. Welche vermeintlich rationale, durch ein bestimmtes Thema überdeckte Erlösungssehnsucht bemerken Sie bei den Anliegen Ihrer Klienten? Und wie unabhängig wird der Therapeut, Berater oder Coach von seinen Methoden und Techniken gesehen? Über welche Erfahrungen verfügen Sie, um komplementäre Kontaktgestaltungsversuche seitens Ihrer Klienten zu erkennen und sie als beziehungsbeschreibende Metathemen zum Gegenstand des gemeinsamen Gesprächs zu machen? Erinnern Sie sich, inwieweit Sie selbst sich als Klient mit bestimmten Zuschreibungsbereitschaften an einen professionellen Gesprächspartner gewandt haben?
Angesichts der stets vorhandenen Missbrauchsmöglichkeiten – sowohl seitens des Beraters wie des Klienten – möchte ich die charismatische und pragmatische Beratung um einen dritten Grundtypus erweitern und zugleich für diesen werben: die dialogische Beratung (vgl. hierzu: Stölzel, Th., 2013, S. 156 ff.). In ihr lässt sich die reflexive Form des Beratens, das Sich-mit-jemanden-Beraten am besten durchführen, wäh35 Die Vorgehensweisen Bert Hellingers zum Beispiel haben von Anfang an provoziert und verstört. Das erwies sich nicht selten als weiterführend oder gar als heilsam. Durch die zum Teil starke Gläubigkeit vieler seiner Anhänger und Gefolgsleute wuchs ihm mit der Zeit eine Macht und Ausstrahlung zu, die dann in der Folge zu Abspaltungen und Frontstellungen geführt hat (vgl. hierzu zum Beispiel Weber, Schmidt u. Simon, 2005), so dass durch die charismastiftenden Sehnsüchte vieler seiner Anhänger die produktiven Aspekte seiner Vorgehensweisen überlagert und überdeckt wurden und, zugespitzt gesagt, Hellinger auch zu einer Art »Opfer« der Hellingerianer wurde. Dieser Interaktionsprozess verdiente einmal eigens genauer untersucht zu werden. Dafür wäre es günstig, eine »dritte Position jenseits von Anhänger- oder Gegnerschaft« (Stölzel, 2010b, S. 10) zu beziehen.
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rend das Rat-geben-Können – wird dies einer konkreten Person oder Methode zugeschrieben – die (mit Macho zu reden) charismatische Tendenz pragmatischer Beratungsformen verstärkt und diese zum Schaden aller Beteiligten mehr oder weniger dogmatisiert.
Mit anderen Worten
Unabhängig davon, was auch immer mit wem wie besprochen werden mag, verdankt sich eine nützliche und weiterführende Beratung36 in allererster Linie einer geglückten Übersetzungsleistung. Diese begleitet und unterstützt die mehr atmosphärisch wirksame Einfühlung bzw. Empathie, geht dieser mitunter voraus. Um einen anderen verstehen zu können, ist es nötig, das, was aus seiner (Sprach-)Welt kommt, in meine zu übersetzen. Dort, wo dies nicht oder nicht ausreichend gelingt, kommt es zu den bekannten Verständigungsproblemen, die ab einem bestimmten Punkt des Nichtverstehens bzw. des Nicht-übersetzenKönnens einer Metaperspektive oder eines Dritten bedürfen. Auf der kommunikativen Voraussetzung des Übersetzen-Könnens (gerade innerhalb derselben Sprache) beruhen zudem alle Formen der Beeinflussung. Wenn ich ein bestimmtes Wort, ein Bild, einen Begriff, eine Beschreibung verwende, so muss der andere (vorausgesetzt, er will mich verstehen oder mir wenigstens folgen können) eine Entsprechung dazu in sich aufsuchen, muss »Anschlussstellen« in sich für das finden, wovon ich zu ihm spreche. Denn was auch immer besprochen werden mag – derjenige, der die Rede führt, lenkt den anderen unvermeidlich in bestimmter Weise an bestimmte »innere Orte«, führt ihn 36 Im antiken Griechenland, wo die verschiedenen Beratungsformen eine entscheidende Weiterentwicklung erfahren haben, war der Begriff der »euboulia«, der Wohlberatenheit im Gebrauch. Erfolgreiche Berater genossen seit jeher besonderes Ansehen und übten zum Teil erheblichen Einfluss aus, während die schlechten Berater, wie Herodot überliefert, lebendig verbrannt (Herodot, 1961, IV, 69) oder, wie es Dante in seiner »Comedia« (Alighieri, 2011) beschreibt, in den achten Höllenkreis verbannt wurden (S. 108). Die nachmals so berühmte platonische Akademie, die das Wirken eines Urtyps von Lebensberater – Sokrates – tradiert hat, entstand auch als Folge missglückter Politikberatung. Platons Versuche, die Tyrannen von Syrakus philosophisch zu läutern, hatten nicht verfangen und ihn sogar mehrfach in Lebensgefahr gebracht. »In gewisser Hinsicht«, meint Macho, »repräsentierte die Akademie geradezu die Antwort auf die missglückten Beratungsversuche ihres Begründers. Was auf direktem Wege nicht erreicht werden konnte, sollte über den Umweg des ›Trainings‹ neuer Führergenerationen bewirkt werden« (Macho, 1999, S. 22).
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zu den dazugehörigen Gefühlen und Gedanken oder bringt ihn dazu, diese von sich aus aufzusuchen. Hebt man sich diesen Umstand deutlicher ins Bewusstein, so nuanciert man damit auch den Bedeutungsraum von »besprechen«. Diese alltägliche wie professionelle Vokabel bekommt dadurch wieder etwas von jenem magischen Nebensinn, der dem Wort ehemals anhaftete und der aufzeigt: Unabhängig von dem, was ich sage, wirke ich allein dadurch, dass ich etwas zu jemanden sage, unmittelbar auf ihn ein – im Besprechen von etwas bespreche ich auch jemanden, der mir, mehr oder weniger, professionell oder persönlich, sein »Ohr leiht«. Die Bedeutung des Übersetzens – als eine grundlegende, jede Kommunikation voraussetzende Tätigkeit – für alle rezeptiven Akte, wie Zuhören, Betrachten, Beobachten, kommt oft nicht deutlich genug in den Blick. So gilt auch hier, was ein besonders reflektierter Übersetzer wie Georges-Arthur Goldschmidt zu bedenken gibt: »Durch die Übertragung wird der Text ein vollkommen anderer, wobei der Inhalt derselbe bleibt, er aber die Farbe gewechselt hat, ein rot angestrichenes Gebäude wird auf einmal hellblau. Es ist sozusagen derselbe Mensch mit einem anderen Gesicht« (Goldschmidt, 2006, S. 9). Um diese zugleich markanten wie subtilen Unterschiede anhand eigener Beobachtungen zu überprüfen, sei die folgende Übung empfohlen.
Dasselbe mit anderen Worten Sie können (als sprachliche Intervention) Ihr jeweiliges Gegenüber auffordern, die eben gegebene Beschreibung, Erzählung oder Schilderung mit anderen Worten darzustellen. Wobei Sie sich ganz an das Formale, den Modus halten. Also alles möglichst verbal oder nominal, ganz ohne oder mit möglichst vielen Adjektiven sagen, eine lyrische, dialogische, monologische Ausdrucksweise wählen lassen etc., um dann beobachten zu können, ob nun lediglich dasselbe mit anderen Worten oder anderen Darstellungsformen gesagt worden ist oder ob (und inwieweit) dadurch eine ganz andere Geschichte zum Vorschein kommt.
»Übersetzen zu definieren«, merkt ein Semiotiker wie Umberto Eco an, »scheint keine leichte Sache zu sein« (Eco, 2006, S. 29). Es läuft im Wesentlichen darauf hinaus, etwas, das nicht von mir kommt, so umzuwandeln, dass ich es zumindest ansatzweise zu verstehen beginne. Das vermeintlich »bloße Zuhören« wird damit eine ebenso wenig »unschul-
Mit anderen Worten
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dige« Handlung wie das Wahrnehmen von etwas oder jemanden (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 83). Welche Menge an Implikationen einer Handlung wie dem Übersetzen zukommt, kann ich hier nur andeuten. Auf eine Implikation möchte ich an dieser Stelle mit der Übung »Verstehen verstehen« eingehen. Sie betrifft den Aspekt der Bedeutungsgleichheit. Auf unseren Kontext angewandt, erhebt sich da die Frage: Wie gut, wie genau kann man einen anderen Menschen überhaupt verstehen?
Verstehen verstehen Erinnern Sie sich an Momente, Gespräche oder Begegnungen, bei denen Sie sich von einem anderen Menschen sehr gut, ja vielleicht in einer bestimmten Hinsicht zum ersten Mal »richtig« oder gar »vollständig« verstanden gefühlt haben oder wo im umgekehrten Fall ein anderer Ihnen gesagt oder mitgeteilt hat, er hätte sich in einer ähnlichen Weise von Ihnen verstanden, ja vielleicht geradezu »erkannt« gefühlt. Versuchen Sie sich die inneren und äußeren Faktoren ins Gedächtnis zu rufen, die dieses besonders gute und genaue Verstehen oder Verstanden-worden-Sein begünstigt oder überhaupt erst ermöglicht haben. Was war es, das diese wechselseitig übereinstimmende Übersetzung dieses, um mit Eco (oder besser seinem deutschen Übersetzer) zu reden, »Quasi dasselbe mit anderen Worten« (Eco, 2006) mit erzeugt hat?
In seinem Roman »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« (Kundera, 1984) reflektiert der Autor auf verschiedene Weise die Kommunikation von Paaren sowie das (sprachvermittelte) Verstehen und Verständnis für einander. Neben den erzählerischen und situativen Sequenzen stellt Kundera in einem »Kleinen Verzeichnis unverstandener Wörter« (S. 86–110) das unterschiedliche Verständnis derselben Wörter und Begriffe eines Paares dar und pointiert damit, wie quasi dieselben Worte ganz anders gebraucht und verstanden werden, was den Zugang in die Welt des jeweils anderen nicht gerade erleichtert. Ein Erforscher der Grundlagen menschlicher Kommunikation, Paul Watzlawick, hat (bezeichnenderweise in einem Gespräch mit dem Wissenschaftsjournalisten Franz Kreuzer, dem er seine Wirklichkeitstheorien verständlich zu machen versuchte) anhand eines aufschlussreichen literarischen Beispiels angedeutet, welche Macht einer gezielt falschen Übersetzung zukommen kann. Das Beispiel, das er anführt, stammt von Gregor von Rezzori. Es soll auf einer »wahren« Begebenheit beruhen:
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»Watzlawick: […] Die Geschichte soll sich vor dem Ersten Weltkrieg zugetragen haben. Eine österreichische Armeepatrouille bekommt den Auftrag, eine Strafexpedition gegen ein albanisches Dorf durchzuführen. Sie kommen ins Dorf. In dem österreichischen Detachment spricht aber keiner Albanisch, und keiner der Dorfbewohner spricht irgendeine der Sprachen, die in der k.u.k. Armee akzeptiert sind. Es findet sich endlich ein Dolmetsch, ein sehr begabter Mann, der nun fortwährend falsch übersetzt, so daß zum Schluß der österreichische Kommandant den Eindruck gewinnt, daß die Dorfbewohner durchaus bereit sind, ihre Fehler einzusehen, und daß er somit von jeder Repressalie absehen kann, während die Dorfbewohner den Eindruck bekommen, dass der Offizier ihnen recht gibt. Und der lustige Schlußpunkt kommt dann, als die Dorfbewohner dem österreichischen Detachment Geschenke anbieten und der österreichische Offizier durch den Übersetzer zu der Annahme verleitet wird, es handle sich um Wiedergutmachungen. Und alle gehen freundlich und friedlich auseinander. Kreuzer: Das heißt man kann einen Konflikt durch bewußt manipulierte Übersetzung schlichten, kann aber auch – das ist das Genfer Beispiel, das wir jetzt nicht im Einzelnen anführen müssen – beinahe eine Weltkatastrophe herbeiführen, wenn man als Konferenzdolmetsch einen Fehler macht, der sich hochschaukelt. Watzlawick: Ganz richtig: Traduttore, traditore – der Übersetzer ist der Verräter; er kann aber auch der Retter sein« (Watzlawick u. Kreuzer, 1988, S. 14 f.).
Unabhängig davon, ob der Dolmetsch37, der hier als eine Art subtiler, linguistischer Mediator fungiert, als Retter oder Verräter gesehen wird, so lässt die Rezzori-Geschichte erkennen, wie stark das Bedürfnis sein kann, die »Richtigkeit« der eigenen Wirklichkeitsauffassung von der jeweils anderen Seite bestätigt zu bekommen, und wie sehr die Verständigung von dieser Vorbedingung abhängen kann. In seiner Kalendergeschichte »Kannitverstan« hat Johann Peter Hebel die Mächtigkeit dieser Vorbedingung beispielhaft vorgeführt und anschaulich aufgezeigt, welches Erkenntnispotential im Missverstehen liegt; ein Missverstehen, das über einen Umweg dann zu einem tieferen Verstehen führen kann. Und auf einem solchen … 37 Watzlwawick, der mehrsprachig in einem Grenzgebiet mit drei Nationalsprachen aufwuchs und später in seinem beruflichen Leben diese polyglotte Prägung ausbaute und anwandte, übersetzte als Soldat im Zweiten Weltkrieg durchaus im Sinne von Rezzoris Dolmetsch, jedoch mit der aus »großdeutscher« Sicht subversiven Intention, den Sieg der Alliierten zu beschleunigen (vgl. hierzu Köhler-Ludescher, 2014, S. 52, 187).
Mit anderen Worten
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»kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen war, fiel im sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft […] noch keines erlebt hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Tür. Endlich konnte er sich nicht erbrechen, einen Vorübergehenden anzureden. ›Guter Freund‹, redete er ihn an, ›könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört‹ […]. Der Mann aber, der vermutlich Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück geradeso viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: ›Kannitverstan!‹ und schnurrte vorüber. Dies war nur ein holländisches Wort, oder drei, wenn mans recht betrachtet, und heißt auf deutsch soviel als: Ich kann Euch nicht verstehn. Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. ›Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan‹, dachte er und ging weiter bis endlich ein großes Schiff seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von Kisten und Ballen aufund nebeneinander am Lande […]. Als er lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren ans Land bringe. ›Kannitverstan!‹ war die Antwort […]. Aber als er eben dachte: ›Wenn ichs doch auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat!‹, kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach […] Doch machte er sich an den letzten vom Zug […], ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig um Exküse. ›Das muß wohl ein guter Freund von Euch gewesen sein […].‹ – ›Kannitverstan!‹ war die Antwort. […] ›Armer Kannitverstan‹, rief er aus, ›was hast du nun von von all deinem Reichtum?‹ […] Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeintlichen Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt, als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab« (Hebel, 1968, S. 51 ff.).
Ein anderer grundlegender Aspekt des Besprechens steckt in den Möglichkeitsräumen, die im wechselseitigen Austausch eröffnet werden.
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Denn ein besonderer Vorzug der Sprache besteht ja auch darin, nicht allein das beschreiben und benennen zu können, was ist oder was zumindest als Realität erscheint, sondern auch all das zum Ausdruck bringen zu können, was (noch) nicht ist, was sein könnte, was womöglich besser wäre etc. Vermutlich ist es in der Bewusstseinsentwicklung des Menschen ein gewaltiger Schritt gewesen, so etwas wie die Sprachund damit auch die Denkform des Konjunktivs hervorzubringen und sich somit der Welt indikativisch und konjunktivisch nähern zu können. Durch das letztere Vermögen hat der Mensch aufgehört, ein bloßes Instinktwesen zu sein. Mit dem Konjunktivischen sind jedoch nicht nur Träume, Hoffnungen und Wunschvorstellungen verbunden. Es bildet auch den geistigen und sprachlichen Nährboden für Entdeckungen und Erfindungen aller Art, für das Experimentieren, für Alternativen, Perspektivenwechsel, überhaupt für jede Form von Innovation. Robert Musil hat zu Beginn seines großen Romanessays »Der Mann ohne Eigenschaften« (Musil, 1978) das menschliche Potential so unterschieden: »Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann« (S. 16).
Und er definiert diesen »Sinn« in einer Weise, die manchen erklärten Realisten beunruhigen dürfte: »So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist« (S. 16).
Musil illustriert das Potential wirklicher Dinge und das Zusammenspiel von Möglichkeit und Wirklichkeit folgendermaßen: »Wenn man nun in bequemer Weise die Menschen des Wirklichkeits- und des Möglichkeitssinns voneinander unterscheiden will, so braucht man bloß an einen bestimmten Geldbetrag zu denken. Alles, was zum Beispiel tausend Mark an Möglichkeiten überhaupt enthalten, enthalten sie doch ohne Zweifel, ob man sie besitzt oder nicht; die Tatsache, daß Herr Ich oder Herr Du sie besitzen, fügt ihnen so wenig etwas hinzu wie einer Rose oder einer Frau […] Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeit weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten
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bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bedeutung gibt, und er erweckt sie. Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit. Da seine Ideen, soweit sie nicht müßige Hirngespinste bedeuten, nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglichkeiten« (S. 16 f.).
Unabhängig davon, ob man nun Musils Einschätzungen zustimmt oder nicht, entscheidet sich die Qualität des Besprechens im Zusammenspiel von Wirklichkeit und Möglichkeit sowie den mitunter subtilen Unterschieden zwischen möglichen Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten wie diese im gemeinsamen Besprechen sichtbar werden können.
Begriffe sind keine Einzelkinder Unsere Begriffe bedingen die Grenzen unseres Begreifens. Ernst von Glasersfeld Begegnet man einem anderen Menschen, begegnet man gewissermaßen zwei Körpern: dem physischen Körper, der sich sinnvoll vom häufig bedeutungsgleich verwendeten Leib unterscheiden lässt und durch den jemand – konkret, intensiv und unmittelbar – mit der Welt ununterbrochen in Verbindung steht; und dem »Sprachkörper«, durch den jemand – gedanklich, konzeptionell und begrifflich – ebenfalls mit der Welt ununterbrochen in Beziehung steht. Aus diesen beiden Körpern können wir nicht heraus.38 Mehr noch: Alles, was wir in unserem Leben denken, glauben oder erfahren, sind körperlich und sprachlich geprägte Gedanken, Glaubensvorstellungen oder Erfahrungen. Wir leben und handeln aus, mit und durch diese »beiden Körper«. Wird die Kommunikation mit einem anderen als anregend oder weiterführend erlebt, so ist es gelungen, mit dessen »zweitem Körper«, dessen »Sprachkörper«, in eine konstruktive Beziehung zu kommen. Andernfalls sagt jemand: »Das oder der ist mir unbegreiflich«. Es kann daher für die kommunikative Praxis von Therapeuten Beratern oder Coaches sehr nützlich sein, die Beziehung zu ihrem eigenen »Sprachkörper« weiterzuentwickeln und zu reflektieren. Denn der konventionelle und weitgehend unbewusste Umgang mit diesem »zweiten Körper« reicht für ihr letztlich sehr sprachbestimmtes Handeln, ihre Arbeit mit Begriffen nicht aus. Anders gesagt: Wird die Sprache (und damit alles, was durch sie möglich wird) als besonderes Werkzeug und mächtiges Instrument nicht eigens betrachtet und erforscht, dann bleiben gerade jene Perspektiven unge38 Auch die sogenannten Austrittserfahrungen (seien sie nun hypnotisch oder durch Drogen induziert oder Teil schamanistischer Praktiken) sowie die Erlebnisse, von denen Menschen mit Nahtod-Erfahrungen berichten, sind körperlich determinierte und unmittelbar vom Körpererleben geprägte Erfahrungen. Ähnliches gilt für die Vorstellungswelt. Was immer sich zum Beispiel ein Science-Fiction-Autor ausdenken mag, welche neue und ganz andersartige Welt und Wesen er auch entwerfen mag – es bleiben Ideen und Vorstellungen eines Menschen, der in, mit und durch zwei Körper lebt und dessen körperliche und sprachliche Bedingtheit einen unübersteigbaren Bezugsrahmen bilden.
Begriffe sind keine Einzelkinder
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nutzt und unentwickelt, die dazu beitragen können, mit schwierigen Fragen, Personen oder Situationen in lösungsdienlicher Weise umzugehen. Gelingt es einem auch nicht, sich von dem eigenen »Sprachkörper« wirklich zu lösen, so steht einem doch die Möglichkeit offen, diesen wesentlichen Teil von einem selbst anders und vor allem genauer kennenzulernen. Zum Beispiel, indem man ihn, qua Vorstellung, zu einer wichtigen inneren Person macht, ihn in einen oder mehrere »Ego-States« verwandelt und damit das heuristische Potential der philosophischen Intravision ausschöpft. Dadurch wird jene paradoxe Distanz (von gleichzeitiger Nähe und Nicht-Nähe) erreicht, die für jede Art von »TeileArbeit« kennzeichnend ist (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 55 ff.). Dass etwas so Vertrautes, wie die Beziehung zu der eigenen Sprache (gewissermaßen von innen her) irritiert werden kann, wird immer wieder berichtet, auch außerhalb des psychiatrischen Kontextes. Diese eigentümliche Erfahrung wirft ein erhellendes Licht auf die fragilen Beziehungen des Menschen mit seiner Sprache. Hierfür ein Fallbeispiel: Ein Bereichsleiter aus einem großen Industriebetrieb berichtet von einem »komischen Problem«. Er komme aus einem »musischen Elternhaus« (die Eltern waren beide Lehrer und unterrichteten kulturwissenschaftliche Fächer). Obwohl er später einen technischen Beruf ergriffen habe, sei ihm ein starkes Interesse bzw. eine große Ansprechbarkeit für philosophische Themen geblieben. Was ihn umtreibe, sei eigentlich kein »richtiges Problem«, keine »psychologische Störung«, so hoffe er zumindest. Eher habe er den Eindruck, es sei irgendwie ein philosophisches Thema, genauer ein sprachphilosophisches. Nach eigenem Bekunden habe er eine größere Krisenerfahrung hinter sich, die er selbst für sich gut überwunden habe – zurückgeblieben sei jedoch eine Unsicherheit, mehr noch: ein plötzliches Misstrauen, was die eigene Sprache betreffe. Er könne zwar Worte noch klar verwenden, sei auch sicher, dass andere (zum Beispiel untergebene Mitarbeiter, denen er Anweisungen gebe oder Strategieideen mitteile) ihn verständen bzw. nichts merkten; für sich aber habe er die »naive Sicherheit« in die Sprache verloren. Gefragt, mit welchem Bild, welcher Metapher er diesen Verlust ausdrücken würde, entgegnet er nach kurzem Zögern: Dies sei etwa so, als ob die Wörter wie ein Boden wären, der nachgäbe, wenn er ihn beträte. Früher sei dieser Boden so sicher und fest gewesen, dass er gar nicht gemerkt habe, dass da überhaupt ein Boden sei. Dass ihm die Sprache ein sicheres Fundament gegeben habe, auf dem er sich, was auch sonst passiere, sicher habe bewegen können. Es sei eine Selbstverständlichkeit gewesen. Zwar breche auch jetzt dieser Boden nicht völlig weg, gebe jedoch immer wieder nach,
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so dass er sozusagen einsinke. Und die Worte, die er verwende, fühlten sich so an, als ob sie bei ihrem Gebrauch die Form verlören und er damit »die Sicherheit in sie«.
Diese Erfahrung, die von dem betroffenen Bereichsleiter selbst als »komisches Problem« charakterisiert wurde, erinnerte mich an eine Erzählung, die Hugo von Hofmannsthal zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hatte. Ich gab sie ihm zu lesen, verbunden mit der Aufforderung, sich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten vor Augen zu führen, die er mit seinem »komischen Problem« ausmachen könne. Auf dieser Grundlage konnten wir dann mit seinem irritierten »zweiten Körper« arbeiten und gemeinsam im Dialog einen neuen Umgang in der Beziehung mit seiner Sprache entwickeln. Der »Befund«, den Hofmannsthal in seiner Erzählung mit dem lapidaren Titel »Ein Brief« darstellt, ist eine Sprachkrise. In der »ausgebreiteten Schilderung eines unerklärlichen Zustandes, der gewöhnlich in mir verschlossen bleibt« (Hofmannsthal, 1969, S. 112) berichtet Philipp Lord Chandos in diesem fiktiven Schreiben an den Philosophen und Staatsdenker Francis Bacon von den Irritationen, die seit einiger Zeit mit dem so selbstverständlichen und auch professionell genutzten Medium Sprache (Chandos war auch als Schriftsteller tätig) aufgetreten seien. Hofmannsthal situiert diese schriftliche Mitteilung an eine historisch verifizierbare Person des 17. Jahrhunderts zu dessen Lebzeiten und nutzt dabei den Gestus der zeitspezifischen Einkleidung. Chandos berichtet seinem väterlichen Freund unter anderem: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, derer sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Katharina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und
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sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte. Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. […] Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen« (Hofmannsthal, 1969, S. 106 f.).
Die Strukturform, die uns oft im Gefolge von Wörtern und Sätzen begegnet, ist die der Begriffe. Das Wort selbst wurde durch den mittelalterlichen Denker Meister Eckhart aus dem lateinischen »conceptus« entlehnt und als »Begriff« (mhd. »begrif«) ins Deutsche gebracht. Es hat einen körperbildlichen Anklang. Be-griffe scheinen etwas zu sein, das ich und durch das ich be-greifen, an das ich mich halten kann. Sie geben dem Geistigen ein haptisches Gepräge und werden dadurch zu besonderen gedanklichen Werkzeugen. Begriffe gehen über konkrete Anschauungen, singuläre Erfahrungen oder einzelne Vorstellungen hinaus und bringen Unterschiedliches unter oder auf einen bestimmten Begriff. Dieser wird dann Teil des zumeist unbewusst gewordenen Lebensfundaments und bleibt das so lange, bis es zu Irritationen kommt, wie in den eben dargestellten Beispielen. Da Begriffe39 sozusagen ein »Kernprodukt« von Sprache und Denken bilden, nehmen sie (wenn auch oft nicht eigens betrachtet und beachtet) eine wichtige Rolle in der therapeutisch-beraterischen Kommunikation oder im Coaching ein. Es scheint daher angezeigt, ihnen eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken und herauszufinden, welche »tragende« Rolle sie in Ihrem persönlichen Kosmos wie in dem Ihrer Klienten oder Kunden jeweils spielen. Die nachfolgende Übung ermöglicht Ihnen dies. 39 Wer sein »Begriffsverständnis« mit Hilfe einer anschaulichen sprachwissenschaftlichen Erörterung noch etwas vertiefen möchte, kann dies zum Beispiel durch Harald Weinrichs Antwort auf die Frage: »Was sind eigentlich Begriffe?«, tun (Weinrich, 2000, S. 27 ff.).
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Begriffe begreifen Stellen Sie zunächst sich selbst folgende Fragen, bevor Sie dann in entsprechender Weise Ihre Klienten oder Kunden befragen: –– Was sind die zentralen Begriffe, mit denen ich mich oder wir uns als Paar, Familie, Team, Firma, Organisation durch die Welt bewegen und anderen gegenüber auftreten? –– Angenommen: Sie würden Ihre »Begriffslandschaft« graphisch, schematisch oder geometrisch darstellen, wie sähe diese dann aus? Und wie sind dabei die einzelnen Begriffe miteinander verbunden? Gibt es einen zentralen Begriff, der Ihnen dabei unverzichtbar erscheint? –– Welche Begriffe sind für Sie in Ihrer Tätigkeit als Therapeut, Berater oder Coach wichtig, verbindlich und voraussetzungsbildend? –– Welche Sprachbilder, Metaphern und Vergleiche sind in Ihren bevorzugt verwendeten (Arbeits-)Begriffen enthalten und geben diesen ihr besonderes Gepräge? –– Nehmen Sie zum Beispiel das deutsche Wort »Sinn«. Welchen Zugang haben Sie zu diesem Wort? Wie verwenden Sie es? Besitzt es für Sie eine präzise begriffliche Bedeutung? Was können Sie dadurch be-greifen? Welche Erfahrungen, Ideen und Konzepte geistig anfassen? Welche Vorstellungen sind für Sie mit dem Wort »Sinn« verbunden? Wird Sinn hergestellt, gemacht, gegeben (von wem, wofür) oder stellt er sich selbst ein (wodurch, wie), kann er gefunden oder nur erfunden werden? Und mit welchem anderen Wort bzw. Begriff ist der Begriff »Sinn« für Sie direkt verbunden bzw. unmittelbar benachbart? Welche Sprachbilder, Metaphern und Vergleiche kommen Ihnen »in den Sinn«, wenn Sie über den Begriff »Sinn« nachzudenken beginnen?
Anschauliche Worte Eine Metaphern-Ordnung wie eine Kleider-Ordnung. Georg Christoph Lichtenberg Der große und nachwirkende Einfluss, den Sprachbilder, Metaphern und Vergleiche auch auf die therapeutisch-beraterische Kommunikation ausüben, ist erst in den letzten Jahren in Fachkreisen intensiver rezipiert worden. Dazu haben der amerikanische Linguist George Lakoff und sein philosophischer Kollege Mark Johnson mit ihrem Grundlagenbuch »Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern« (im Original »Metaphors we live by«) durchaus beigetragen.40 Genauer betrachtet, kann man die Bedeutung von Metaphern für das menschliche Leben kaum überschätzen; und dies gilt nicht allein für die sogenannten kommunikativen Akte. Sie bilden – wie Lakoff und Johnson betonen – die »Konzepte, nach denen wir leben […] sie lenken auch unser reflektiertes Alltagsdenken bis in die prosaischen Einzelheiten«. Denn unsere »Konzepte steuern das, was wir wahrnehmen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie wir uns auf andere Menschen beziehen« (Lakoff u. Johnson, 1997, S. 11). Untersucht man die geistigen, seelischen und körperlichen Prozesse genauer, durch die wir uns in unserem Leben orientieren, begegnen einem ständig metaphorische Strukturen. Das Wesen einer Metapher besteht darin, etwas von einem Bereich auf einen anderen zu übertragen, wörtlich: »hinüberzutragen« oder »hinüberzubringen«. Dem entspricht auch die Grundbedeutung des griechischen Wortes »metaphórein«, aus dem der Begriff abgeleitet worden ist. So findet man in Griechenland auf vielen Bussen, Zügen und anderen Transportmitteln die Aufschrift: »metaphoroi«. Als einleitendes Beispiel ihrer Untersuchung wählen Lakoff und Johnson die konzeptionelle Metapher »Argumentieren ist Krieg« und zeigen anhand dieser auf, wie viele Kriegsbilder den gedanklichen Austausch (der Argumentieren genannt wird) »bevölkern«. So werden 40 Sie bieten gerade auch für Therapeuten, Berater und Coaches die Möglichkeit, deren häufig naiven Umgang mit dem Arbeitsinstrument Sprache bewusster zu gestalten. Den Hinweis auf Lakoff und Johnson verdanke ich der Zusammenarbeit mit Matthias Ohler.
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zum Beispiel Behauptungen als unhaltbar bezeichnet, Schwachpunkte in bestimmten Überlegungen angegriffen, Argumente abgeschmettert, Auseinandersetzungen gewonnen, die Aufforderung ausgegeben: »Schießen Sie los!«, und Strategien entwickelt, um andere zu vernichten oder wenigstens deren Vorstellungen niederzumachen. Als unfreiwillig paradox und wenig friedliebend erscheinen mir jene (häufig ganz unironischen) Zeitgenossen, die für den Frieden kämpfen oder eine sogenannte gute Sache mit aller Gewalt durchsetzen wollen und dabei keine Rücksicht für die vermeintlichen oder wirklichen Gegner zeigen, deren Ansichten sie nicht stehenlassen wollen. Es ist erstaunlich, wie wenig Bewusstsein für die eigenen (voreingenommenen) Konzepte und Weltbilder vorhanden ist, wenn beispielsweise eine Krankheit wie die sogenannte Depression zum Volksfeind erklärt wird, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte, oder wenn man hört, er oder sie habe den Kampf gegen den Krebs gewonnen und diesen endlich besiegt. Selbst schulmedizinisch orientierte Onkologen gestehen karzinogenen Erkrankungen eine (zumindest teilweise) psychosomatische Genese zu, wenn sie auch nicht so weit gehen würden, Symptome als »persönliche Kunstwerke« zu betrachten, wie zum Beispiel ihr Kollege Georg Groddeck. Denn sieht man eine nicht selten final verlaufende Erkrankung wie den Krebs als persönliches Produkt eines Menschen an, dann kann man sich die Frage stellen: Wer kämpft hier eigentlich gegen wen und aus welchen Gründen, mit welchen Strategien und zu welchen Zielen? Viele Therapeuten, Berater und Coaches sind nicht fest bei einer bestimmten Einrichtung beschäftigt und werden nicht vom Staat alimentiert, sondern gehen mit ihrem Tun einer sogenannten freiberuflichen Tätigkeit nach. Diese Tätigkeitsform eröffnet einerseits gewisse Möglichkeiten, die ihre festangestellten Kollegen so nicht haben. Nicht wenige empfinden (nach meiner Beobachtung) den Beratungsberuf als einen Berufungsberuf, ja, als wichtigen Teil ihrer persönlichen »Selbstverwirklichung«. Dieser Umstand kann gerade bei freiberuflich Tätigen viel Motivation freisetzen. Andererseits bringt die freiberufliche Arbeitssituation charakteristische Belastungen mit sich, denen sich Festangestellte nicht gegenüber sehen, zumindest nicht in dieser Form und Intensität (wie Auftragsmangel oder Auftragsschwemme, Existenzängste, große Mobilitätsanforderungen, einen starken Präsenz- und zumindest einen gewissen Kreativitätsdruck). Kommen hierzu noch erhöhte familiäre Beanspruchungen und/oder kompli-
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zierte Patchwork-Konstellationen, dann ist ein Faktor und Element des Lebens sozusagen dauernde Mangelware, und zwar die Zeit. Hier haben wir es nun mit einem Begriff zu tun, der in unserer dynamisierten und vom ökonomischen Denken bestimmten Gesellschaft mit einem anderen als wichtig empfundenen Begriff in einer Weise in Verbindung gebracht wird, als sei der eine wie der andere, also gewissermaßen ein und dasselbe, oder »funktioniere« zumindest annähernd identisch. Gemeint ist das weit verbreitete, metaphorische Konzept: Zeit ist Geld. Lakoff und Johnson haben ein paar Beispiele versammelt (die Liste ließe sich leicht verlängern), die deutlich machen, in welch unterschiedlichen Bereichen des Lebens dieses metaphorische Konzept Anwendung findet: »Sie vergeuden meine Zeit. Dieses Gerät wird Ihnen viel Zeit ersparen. Ich habe keine Zeit zu verschenken. Wie geht man heutzutage mit seiner Zeit um? Dieser platte Reifen kostete mich eine Stunde. Ich habe viel Zeit in diese Frau investiert. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ihnen wird die Zeit knapp. Du mußt mit deiner Zeit haushalten. Nimm dir Zeit zum Tischtennisspielen. Lohnt sich das zeitlich für dich? Haben Sie noch viel Zeit? Seine Tage sind gezählt. Du nutzt deine Zeit nicht optimal. Ich habe durch meine Krankheit viel Zeit verloren. Danke für die Zeit, die Sie sich für mich genommen haben« (Lakoff u. Johnson, 1997, S. 16).
Den Umstand, dass in unserer sogenannten ersten Welt Zeit vor allem quantifizierend wahrgenommen wird, belegen diese Beispiele des metaphorischen Konzepts Zeit ist Geld. Durch die fortschreitende (mitunter unsinnig anmutende) Technisierung unseres Alltagslebens sind wir in der Lage, Zeit ständig exakt einzuteilen und zu (ver-)messen, das heißt, unsere Lebenszeit in einer Weise quantifizierend zu verwalten wie kaum je zuvor. Das betrifft nicht nur die konkrete Relation zwischen
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Zeit und Geld, wenn beispielsweise die Arbeitsleistung eines Menschen pro Stunde, Tag, Woche, Monat oder Jahr vergütet wird, wenn Taxieinheiten, Telefongebühren, Übernachtungspauschalen oder zeitlich fixierte Zinssätze anfallen. Das betrifft auch quantitative Aspekte des Lebens, wenn seelische Entwicklungen, persönliche Entscheidungen oder gar die »Effektivität« in Beziehungen ökonomisch erfasst (und damit bewertet) werden sollen. Die starke Zunahme von digitalen Zeitanzeigen gegenüber analogen kann man als einen Ausdruck dieser Tendenz verstehen – allenthalben sind wir von Ziffernkonstellationen umgeben. Das metaphorische Konzept Zeit ist Geld besagt: Zeit wird als ein so wertvolles Gut angesehen und behandelt, als sei sie Geld, das man vergeuden, verschwenden, verschenken, verplempern, vertun, verlieren, das man aber auch (ein-)sparen, investieren, nutzen, anhäufen, gewinnen oder vermehren könne. Man kann sich fragen, was herauskommt, wenn man dieses metaphorische Konzept umdreht. Bedeutet etwa keine Zeit zu haben, kein Geld zu haben? Ich möchte diesen kurzen Gedankenspaziergang zur metaphorischen Beziehung zwischen Zeit und Geld mit zwei Anmerkungen beschließen. Die erste betrifft ein ironisch anmutendes Resultat unserer modernen »Zeitkultur«. Unsere Zeit unterscheidet sich von allen früheren dadurch, dass es zu keiner Zeit so viele Instrumente und Maschinen der Zeitverkürzung gab – elektrische Brotschneider und Rollläden, Spül- und Waschmaschinen, Telefone sowie alle mobilen Kommunikations-Apparate, Autos, Hochgeschwindigkeitszüge, Flugzeuge etc. – mit dem Effekt, dass mehr Menschen über dauernden Zeitmangel klagen als je zuvor – und dies trotz zunehmend ausgetüftelter Zeit-Management-Systeme. So, als sei durch die zahlreichen und vielfältigen Zeitverkürzer und »Zeiteffizierer« das Gefühl, Zeit zu haben, ebenfalls verkürzt und so das Gegenteil des Angestrebten erreicht worden. Die zweite Anmerkung betrifft etwas Sprachliches – einen feinen Unterschied, der oft übersehen oder übergangen wird und doch mehr ist als bloß eine unwichtige Nuance: den Unterschied zwischen einer erstarrten Metapher, und einem metaphorischen Vergleich. Ich kann sagen: »Dieser Mann ist wie ein Löwe«. Das wäre ein metaphorischer Vergleich. Und ich kann sagen: »Dieser Mann ist ein Löwe«. Das wäre eine erstarrte Metapher. Im metaphorischen Vergleich bin ich vorsichtiger und (wenn man will) ehrlicher; ich sage, dass hier etwas mit etwas anderem verglichen wird
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(unabhängig davon, ob der Vergleich als passend oder treffend empfunden wird oder nicht). In einer erstarrten Metapher wird das eine mit dem anderen gleichgesetzt, als sei es dasselbe. Die Aussage wird ontologisiert und totalisiert. Im Beispiel von eben, hieße das: Zeit ist Geld und nicht Zeit ist wie Geld. Erstarrte Metaphern erscheinen dadurch als fixierte Vergleiche, die zwingende Bezüge nahelegen. In sprachlich-konzeptueller wie in emotional-affektiver Hinsicht kann man den Grad von Veränderungen, die durch Therapien, Beratungen und Coachings erreicht werden können, auch an dem veränderten Gebrauch von Metaphern erkennen. Erstarrte Metaphern werden zu metaphorischen Vergleichen. Die auf diesem Wege beschriebenen Personen oder Situationen können offener und bewusster wahrgenommen werden. Zu Recht wird innerhalb der systemischen Therapie und Beratung darauf Wert gelegt, fixierte und fixierende Beschreibungen wieder zu »verflüssigen«. Metaphern und Vergleichen, Sprachbildern überhaupt ist etwas Intensives eigen. Sie bilden einen besonderen Energiegeber. Ihre Einprägsamkeit beruht auf verblüffenden Bildfügungen, wie es zum Beispiel bei einem metaphorischen Vergleich der Fall ist, den Wolf Schneider überliefert hat und demzufolge ein Dementi abzugeben wie der Versuch sei, die Zahnpasta wieder in die Tube zurückzudrücken. Man denke sich eine Sprache, die nahezu grundsätzlich frei wäre von Metaphern und Vergleichen. Die Komplexität wie das Potential des menschlichen Geistes zeigt sich gerade in der Möglichkeit, etwas mit etwas zu verbinden, zu verknüpfen, in direkte Beziehung zu bringen, auszutauschen, das eine in Gestalt des anderen auftreten zu lassen, etwas mit Hilfe von etwas anderem auszudrücken usw. Die Wirkung von Witzen etwa verdankt sich zum Gutteil auch ihrer impliziten metaphorischen Struktur; da werden Dinge zusammengebracht, die offensichtlich nicht zusammenpassen, zusammengehören und in dieser ungewohnten, unerwarteten Verbindung steckt (bei guten Witzen) das Lachen und Heiterkeit bewirkende Element (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 165 ff.). Wie es jedoch auch Kalauer und schlechte Witze gibt, gibt es auch schiefe Metaphern (sogenannte Katachresen) und missglückte Vergleiche, die auch komisch wirken können, wenngleich unfreiwillig. Das Magazin »Der Spiegel« sammelt auf seiner letzten Seite, in der Rubrik »Hohlspiegel«, Beispiele solcher Sprach-, genauer Bildpannen. Da ist dann
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jemandem ein Erdrutsch gelungen oder ein Werk hat sich auf gute Quellen41 gestützt. Treffend oder nicht – ohne Metaphern und Vergleiche, ohne Sprachbilder können wir uns unsere Welt so nicht vorstellen und unsere Vorstellungen nicht kommunizieren, können wir nicht erinnern, erleben oder planen, wie wir es tun, können wir nicht in der Weise Erfahrungen verarbeiten oder Projekte entwerfen, wie es unserem komplexen Geist gemäß ist. Komplexität beruht ihrer Struktur nach auch darauf, dass Unterschiedliches auf vielfältige Weise zusammengebracht und aus diesen »Kreuzungen« Neues entstehen und sich in seiner Vielschichtigkeit zeigen kann. Eine bewegliche Metapher erweist sich dann – wie es der Dichter Garcia Lorca in einer Meta-Metapher ausgedrückt hat – als ein »Reitsprung der Phantasie«, der zu etwas hinüberführt, was jenseits des (bisherigen) Vorstellungsvermögens lag – wie dies bei guten Coachings, Beratungen oder Therapien mitunter stattfindet. Manche Vergleiche können eine enorme Bildwucht entfalten. Das Zauberstab-Wörtchen »wie« vereinigt dann heterogene Vorstellungsbezirke zu einem Eindruck, »schweißt« sie gewissermaßen zusammen – und rückt somit die Varianz des Wahrnehmbaren intensiv vor Augen. Die Stärke wie die Bedenklichkeit von Sprachbildern liegt in ihrem Vermögen, etwas beleuchten oder verstärken und damit etwas anderes zugleich abschwächen oder verringern zu können. Das heißt: Sie wirken eher aspektiv als umfassend. Sie können einen bestimmten Teil einer Sache oder Person ungemein weit nach vorne bringen, beinah überdeutlich machen, in dessen »Schatten« dann andere Komponenten verschwinden oder undeutlich werden. Das ist ein Grund, warum Sprachbilder jeglicher Art von Werbung und Propaganda reichlich genutzt und bei persönlichen oder beruflichen Überzeugungsversuchen gerne verwendet werden. Wie grundständig Sprachbilder sich jenseits der zweckgebundenen Sprachhandlungen ausnehmen, haben 41 In dem Buch über drei Wassermetaphern »Quellen, Ströme, Eisberge« hat Hans Blumenberg (Blumenberg, 2012) die Anwendungsbreite dieser Bildbereiche ausgeleuchtet und aufgezeigt, wie allgegenwärtig sie in unserem Leben sind, wobei beispielsweise die Metapher von »der Spitze des Eisberges« als Verbildlichung verdrängter oder unbewusster Anteile eines Menschen oder eines Themas beinah schon sprichwörtlich geworden ist. Unter den neueren akademischen Philosophen ist Blumenberg wohl derjenige, der sich am längsten und gründlichsten mit der Struktur und Genese von Sprachbildern beschäftigt hat, was ihn geradezu zu einem Metaphorologen macht.
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Lakoff und Johnson anhand von »Orientierungsmetaphern« aufgezeigt. Ganz unabhängig vom Inhalt gliedert eine kontrastive Oben-UntenRelation unser Erleben und Beschreiben42. Lakoff und Johnson haben hierfür Bereiche aufgezeigt, die auch in den professionellen »Sprachspielen« von Therapeuten, Coaches und Beratern von Belang sind. Sie bringen zudem eine Reihe von Beispielen, die für den Therapie- und Beratungskontext relevant sind. Hiervon seien einige zitiert: »Du bist in Hochstimmung […] Ich fühle mich niedergedrückt […] Ich bin schon auf […] Sie steht unter Hypnose […] Er ist in Höchstform […] Er ist in letzter Zeit arg runtergekommen […] Ich stehe über der Situation […] Er ist mir unterlegen […] Mein Einkommen ist letztes Jahr gestiegen […] Er ist unter 18 […] Er hat eine erhabene Position […] Ihr Ansehen sank […] Die Entwicklung zeigt nach oben […] Die Lage hat einen Rekordtiefpunkt erreicht […] Sie setzt hohe Standards […] Das wäre unter meiner Würde […] Die Diskussion rutschte auf die Gefühlsebene ab, aber ich brachte sie wieder auf das rationale Niveau zurück« (S. 23 ff.).
Lakoff und Johnson haben hierfür folgende Bereiche aufgezeigt, die auch in den professionellen »Sprachspielen« von Therapeuten, Beratern und Coaches von Belang sind: »Glücklichsein ist oben – Traurigsein ist unten Gesund- und am Leben sein ist oben – Krankheit und Tod sind unten Kontrolle und Macht ausüben ist oben – Kontrolle und Macht ausgesetzt sein ist unten Mehr ist oben – Weniger ist unten Hoher Status ist oben – Niedriger Status ist unten Gut ist oben – Schlecht ist unten Tugend ist oben – Laster ist unten Verstand ist oben – Gefühl ist unten« (S. 23 ff.).
Kommunizieren bedeutet, ganz grundsätzlich verstanden, gedanklich eine bestimmte Position und Lage in einem gemeinsamen Raum einzunehmen, zu behaupten, zu beziehen, auszufüllen, auszuhalten, zu 42 Das scheint nicht auf menschliche Wesen beschränkt zu sein. »Man könnte auch von einer Tätigkeit der Butter reden, wenn sie im Preise steigt«, gibt Ludwig Wittgenstein zu bedenken (Wittgenstein,1971, S. 208).
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verkörpern, zu vertreten usw. Das geistig-seelische Welt- und Selbsterleben wird durch verräumlichte Bilder ausgedrückt und vorgestellt (vgl. hierzu die Leitunterscheidung von »innen« und »außen« in Stölzel, Th., 2013, S. 102 f.). Das Wort »Vorstellung« und die Handlung des »Vorstellens« – die bei der therapeutisch-beraterischen Kommunikation sowie im Coaching eine wichtige Rolle spielen – versinnbildlichen dies unmittelbar. Etwas wird vor sich oder einen anderen hingestellt, kann dadurch »gesehen«, von allen Seiten betrachtet, bisweilen sogar berührt und angefasst werden. Sich eine bestimmte Vorstellung machen oder eine haben, heißt konkret verstanden, einer Idee, Sache, Person oder Situation einen verräumlichten Ausdruck geben. »Die Welt als Wille und Vorstellung« lautet der Titel des ersten Hauptwerks von Arthur Schopenhauer. Die nachfolgende Übung bietet Ihnen die Möglichkeit, sich intensiv mit Sprachbildern in Ihrem professionellen oder persönlichen Kontext zu beschäftigen.
Sprachbilder im professionellen Kontext Achten Sie auf Folgendes: Welche Metaphern, Vergleiche, welche Sprachspiele »liefern« Ihre Klienten oder Kunden? Wie beschreiben diese damit ihr Thema, Anliegen oder Problem? Wird Letzteres als Besitzverhältnis verstanden? Hat43 also jemand ein bestimmtes Problem? Oder wird es Ihnen als Innenverhältnis präsentiert, steckt also jemand in bestimmten Schwierigkeiten? Oder ist er gar selbst das Problem? Bekommen Sie immer wieder »Nachrichten aus Ambivalencia« zu hören (um ein Sprachbild von Günter Kunert zu verwenden)? Ist jemand oft ganz unten und möchte wieder Oberwasser gewinnen und hofft dabei, dass auch sein Befinden gehoben wird? Blickt jemand einfach nicht mehr durch? Hat kalte Füße bekommen? Oder dreht es ihm bei dem Thema den Magen um? Welche Sprachbild-Angebote machen Sie als Therapeut, Berater oder Coach? Wollen Sie jemandem helfen, unterstützen, begleiten, betreuen, Fürsprecher und/ oder Klärungshelfer sein? Wollen Sie jemanden aus Schwierigkeiten heraus und zu neuen Möglichkeiten hinführen? Wird Ihr Klient oder Kunde dabei entsprechend konfrontiert? Gehen Sie gemeinsam den Dingen auf den Grund? Finden Sie dabei 43 In seinem kulturgeschichtlichen Essay »Über das Haben. 33 Ansichten« entfaltet Harald Weinrich ein aufschlussreiches Panorama von Aspekten im Umgang mit dem Grundwort Haben (Weinrich, 2012).
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heraus, wo es hakt? Wo möchte der andere von sich aus hin und wo möchten Sie ihn hinbringen und wie soll das bewerkstelligt werden? Sammeln Sie probeweise Verben und Tätigkeitsbilder, die Ihr berufliches Tun bildhaft beschreiben und Ihr Selbstverständnis als Therapeut, Berater, Coach und Organisationsentwickler charakterisieren.
Wilhelm Schmid hat im Rahmen seiner philosophischen »Lebenskunst im Umgang mit sich selbst« (Schmid, 2004) eine Liste von Metaphern zusammengestellt, welche die Variationsbreite andeutet, durch die die Arbeit an sich selbst verbildlicht und damit verdeutlicht werden kann. Er spricht von: »Agonale Metaphern von Kampf, Auseinandersetzung, Sieg und Niederlage des Selbst. Poristische Metaphern vom Weg, der gegangen wird und der vielleicht das Ziel ist, vom Vorgehen Schritt für Schritt, von Um- und Abwegen oder vom nicht gefundenen Weg und der damit verbundenen Ratlosigkeit. Arithmetische Metaphern vom Kalkül, der Berechnung und Bilanz. Architektonische Metaphern von Fundamenten, Mauern und Fenstern des Selbst. Floristische Metaphern vom Wachsen und Gedeihen, Blühen und Verblühen. Sportive Metaphern vom Training, vom Wettlauf und von der Konkurrenz. Nautische Metaphern vom schützenden Hafen, vom einsamen Schiff auf hoher See und vom Schiffbruch, der vielleicht erlitten wird. Energetische Metaphern von der ›Power‹ und all dem, was elektrisiert. Technische Metaphern vom Motor, der ›rund läuft‹ oder stottert, vom Programm, Umprogrammieren, Einloggen und Durchchecken. Kosmische Metaphern von der Strahlkraft eines Sterns, von Umlaufbahnen und Schwarzen Löchern« (S. 95).
Der Metapherngebrauch ereignet sich nach meiner Beobachtung bei vielen Menschen (darunter eben auch Therapeuten, Berater und Coaches) ziemlich unbewusst. Das heißt, sie hören sich oder jemand anderen nicht genau genug zu. Sie überhören und übersehen damit den jeweiligen Bildbezirk, in dem sich jemand begeht oder aus dem sich die verwendete Metapher speist. Sie kommen deshalb nicht genau genug in der verbildlichten Welt an, aus welcher der Einzelne seine Themen zur Sprache bringt. Um zur Achtsamkeit für den eigenen Sprachbildgebrauch anzuregen, möchte ich Ihnen die nachfolgende Übung »Bilder des eigenen Lebens« empfehlen.
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Bilder des eigenen Lebens Beschäftigen Sie sich mit folgenden Fragen: Welches Bild, welche grundlegenden Bilder haben Sie von Ihrem Leben? Wie sehen diese aus? Mit welchen geistig-seelischen Transportmitteln (»metaphoroi«) sind Sie unterwegs? Welche Bilder fallen Ihnen ein oder steigen in Ihnen auf, wenn Sie die Wegstrecke betrachten, die Sie bis jetzt zurückgelegt haben? War es ein Weg mehr nach oben oder mehr nach unten oder hatten Sie sich vor allem mit den »Mühen der Ebenen« zu beschäftigen? Gibt es ein Ziel, ein Bestreben, eine Vision, auf die Sie ausgerichtet sind44 und denen Sie sich schon angenähert, die Sie zumindest teilweise verwirklicht haben? Mit welchen Metaphern, Vergleichen, mit welchen Sprachbildern würden Sie das zum Ausdruck bringen?
44 Wie es der psychosomatische Arzt und Naturphilosoph Viktor von Weizsäcker in seinem programmatischen Aufsatz »Meines Lebens hauptsächliches Bemühen« (Weizsäcker, 1987) beschrieben hat.
Genau und klar Die gesprochene Sprache ist tatsächlich die Experimentalphysik des Geistes. Rivarol Ich möchte in Bezug auf den Menschen als sprechendes Wesen abschließend noch einen Aspekt zur Sprache bringen, der sich – vordergründig betrachtet – wie ein Aspekt der Stilistik auszunehmen scheint, jedoch für die therapeutisch-beraterische Kommunikation wie für das Coaching von Bedeutung ist, zumal wenn es um die Verbesserung der Möglichkeit geht, etwas gut und anschaulich beschreiben zu können. Ich meine damit das Verhältnis der beiden Adjektive »klar« und »genau« im Hinblick darauf, was jemand sagen oder gar klären möchte. Um zu verdeutlichen, worauf es mir hierbei ankommt, greife ich eine metaphorische Unterscheidung auf, die der Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt geprägt hat. Goldschmidt sagt über das unterschiedliche Potential des Deutschen und des Französischen Folgendes, dabei eigene (Meta-)Metaphern bildend:
»Das Deutsche muß be-greifen, auf-fassen, aus-drücken, wahr-nehmen. Das ist so eine allgemeine Leiblichkeit, ein räumliches Empfinden, und das Subjekt steht immer daneben. Die deutsche Sprache ist eine Sprache der körper-räumlichen Empfindung: hinauf, hinab, herein, heraus, herum. Das sind erstaunliche Wortkompositionen, die es nur im Deutschen gibt. Das Räumliche wird im Französischen verallgemeinert, wo es im Deutschen immer wieder hervorgehoben wird. Der Prozeß ist im Deutschen wichtiger als das Ziel. Das Deutsche ist […] geologisch, das Französische geographisch […] Das Deutsche hat einen großen Bauch. Die deutsche Sprache kann viel mehr fressen als die französische« (1991, S. 182 ff.; Kursiva von T. S.).
Durch den großen Reichtum von präzisierenden und verräumlichten Vorsilben kann man im Deutschen ganz nahe an die Dinge, Menschen und Umstände heran. So spricht Franz Kafka etwa vom »Einschlucken der heißen Suppe«, das ist mehr und intensiver als das bloße »Schlucken«, oder Bert Hellinger von der »Hinbewegung«, durch die jemand auf jemanden anderen, eine Sache oder ein Thema zugeht, das ist rich-
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tungsgenauer und intentionspräziser als das bloße »Bewegen«. Gerade eine so geologische Sprache wie das Deutsche macht es möglich, gewissermaßen Schicht für Schicht an die jeweiligen Themen, Fragen und Probleme heranzugehen, sie freizulegen, mit ihnen in ihrer Übergängigkeit vertraut zu werden. Das Deutsche (auch als Beratersprache) erscheint demnach mehr genauigkeitsorientiert oder kann zumindest so entwickelt und genutzt werden. Genauigkeit ist jedoch nicht nur ein Segen (was wäre dies auch, das nur dies wäre). Sie kann (wie anderes auch) übertrieben werden, man kann sich geradezu in ihr »verlaufen« und dann den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.45 Das Französische, das ein bilingualer Sprachpraktiker wie Goldschmidt als eine geographische Sprache metaphorisiert hat, erscheint häufig schlanker, strenger, strukturierter als das Deutsche. Ein gut gestalteter französischer Satz lässt den Leser oder Hörer kaum je in Zweifel darüber, wo sich was befindet, was gesagt werden soll. Einem in französischer Manier coupierten Garten oder der landestypischen, beinah geometrischen Straßenführung vergleichbar, findet sich die Wortsprache in ähnlicher Weise organisiert. Anders als im Deutschen hält man hier auf Abstand. Vieles geschieht nicht allein linguistisch »par distance«. Die Klarheit, die sprichwörtliche »clarté«, wird höher gehalten und weit mehr angestrebt als die Genauigkeit, welche die Gefahr der Unübersichtlichkeit mit sich bringt; manchmal will man es vielleicht auch gar nicht so genau wissen. Das Französische (auch als Beratersprache) erscheint demnach mehr klarheitsorientiert oder kann zumindest so genutzt werden. Klar werden, klar sein, klar bleiben kann nicht allein in sprachlicher Hinsicht ein anstrebenswertes Ziel darstellen. Klarheit macht nicht nur einen Nebeneffekt guter therapeutischer oder beraterischer Kommunikation oder eines guten Coachings aus, sondern gehört zu deren wichtigen Intentionen. Wird jedoch die Klarheit bzw. das Streben nach ihr übertrieben, was ist dann die Folge? Manches 45 Manche präzisionsorientierte Autoren, wie zum Beispiel Robert Musil, haben den Drang, alles möglichst genau sagen, beschreiben und durchleuchten zu wollen, in sich und ihrem Tun bewusst auszugleichen versucht, um entsprechende Schieflagen zu vermeiden. Der Musil-Forscher und Biograph Karl Corino spricht da von einer Verbindung von »Genauigkeit und Seele« (Corino, 1988). Von der Bedeutung einer gemischten Erkenntnislage haben auch andere Autoren gesprochen, so zum Beispiel Lichtenberg von einer »instinktiven Geometrie« oder Goethe von einer »exakten Phantasie«.
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Detail (in dem, wie es heißt, der liebe Gott oder der Teufel stecken soll) wird der schlanken Struktur, einer Matrix der Übersichtlichkeit geopfert und kann sich gerade als das Detail erweisen, auf das es ankommt. Doch wie findet man das heraus, wenn man nicht dazu übergeht, die jeweilige Sache, Person oder Situation genauer zu betrachten und zu untersuchen? So nimmt einerseits die Genauigkeit auch das Detail in den Blick. Andererseits hat – schematisch gesprochen – die Klarheit der Genauigkeit zwar nicht die Sorgfalt, wohl aber den Überblick voraus. Ich möchte mich hier nicht in vergleichender Sprachpsychologie verlieren oder gar gallo-germanische Mentalitäts-Klischees bedienen, denen zufolge eine Sprache der anderen überlegen sei. Ich habe Goldschmidts Unterscheidung geologisch-geographisch etwas auszuschraffieren versucht, um für eine ausgewogene Verbindung, eine Synthese der Intentionen genau und klar als den beiden (nicht nur sprachlich) relevanten Strukturformen zu werben. Denn werden Genauigkeit und Klarheit gleichermaßen beachtet und ausgebildet, dann entsteht eine dritte, synthetische Wahrnehmungsperspektive. Die Fragen und Themen, die Menschen dazu bringen, Therapie, Beratung oder Coaching in Anspruch zu nehmen, können mit Hilfe dieser dritten Wahrnehmungsperspektive weit besser bearbeitet und einer guten Lösung zugeführt werden als mit nur einer der beiden, ihr zugrunde liegenden Wahrnehmungsperspektiven. Das setzt voraus, dass diejenigen, die konsultiert werden, ihrerseits ein reflektiertes Bewusstsein dafür haben bzw. entwickeln, wann Genauigkeit angemessen ist und wann Klarheit, wann beide angemessen zu verbinden sind und wann nicht. Die nachfolgende Übung zu den beiden Strukturformen trägt zur Entwicklung eines derartigen Bewusstseins bei.
Genauigkeit und Klarheit Beschäftigen Sie sich mit folgenden Fragen: Welche Genauigkeits-, welche Klarheitserfahrungen besitze ich? Wo liegen für meine Arbeit die Möglichkeiten, die Grenzen, worin die Gefahren der Genauigkeit und der Klarheit? Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Genauigkeit, und eine, in der Klarheit genutzt bzw. geschadet hat. Wie genau muss ich etwas verstehen, um dann klar handeln zu können? Welche Medien der Genauigkeit (Wort, Zahl, Ziffer, Skalierung etc.) verwende ich? Welche Medien der Klarheit (Prioritätsliste, Zielbeschreibung, Unterscheidungskriterien, räumliche Positionen etc.) verwende ich? Welche Bedeutung messe ich modernen, scheinkonkreten didaktischen Mitteln bei,
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wie Tabellen, Diagrammen, Schaubildern mit ihren Kurven, Balken, Säulen, »Torten«? Was sind für mich Sinnbilder von Genauigkeit bzw. Klarheit? Halte ich mich eher für einen genauigkeitsorientierten oder eher für einen klarheitsorientierten Menschen (und sieht dies meine Umgebung auch so)? Welche Auswirkungen hat dies auf meine Arbeit und auf die Vorstellungen und Wünsche meiner Klienten und Kunden? Wann und weswegen versuche ich erst einmal »alles« möglichst gründlich zu untersuchen? Wann und weswegen dränge ich auf eine möglichst deutliche Beschreibung? Welche Möglichkeiten sehe ich, diese beiden grundlegenden Handlungen, die sich teilweise auszuschließen scheinen, produktiv miteinander zu verbinden?
In seinen »Bemerkungen zu einem uralten und zugleich aktuellen Verständigungsproblem«46 ist der Biologe Bernhard Hassenstein einer Frage nachgegangen, in der sich die Aspekte Genauigkeit und Klarheit unmittelbar berühren. Der Frage nämlich: »Wie viel Körner ergeben einen Haufen?« Hassenstein schreibt dazu: »Der preußische König Friedrich Wilhelm I. soll bei seinem ›Tabakskollegium‹, das er bisweilen Tag für Tag mit seinen Beamten und Generälen abhielt, oft Spott und Schabernack getrieben und dabei manche Scherzfrage an einen seiner alten Haudegen gerichtet haben wie diese: ›Kann er mir sagen, was eine Bürste ist?‹ Daß Borsten dazugehören, verstand sich von selbst; aber wie viele es davon genau sein mußten, um bei abnehmender Anzahl noch von einer Bürste sprechen zu können, das vermochte der Gefragte nicht anzugeben; so mußte er sich unter dem Gelächter des Königs und der anderen Anwesenden sagen lassen, in Wirklichkeit wisse er eben doch nicht, was eine Bürste sei. Sicherlich aus anderen Gründen hatte schon […] der griechische Philosoph Eubulides von Megara […] seinen Landsleuten weismachen wollen, daß sie über die Bedeutung der täglich gebrauchten Worte nicht Bescheid wüßten. Seine berühmteste Fangfrage lautete: ›Wie viele Körner ergeben einen Haufen? Ein Korn macht noch keinen Haufen; zwei auch nicht … beim wievielten beginnt ein Haufen?‹ Diese Frage ist nicht zu beantworten; denn zwischen den Konzepten ›Haufen‹ und ›Nicht-Haufen‹ besteht ein fließender Übergang. Keine Grenzziehung 46 Der sehr lesenswerte – interdisziplinäre – Beitrag findet sich in dem anregenden Sammelband »Der Mensch und die Sprache« (Hassenstein, 1979), dem ersten deutschen Publikationsort des Beitrages »Münchhausens Zopf und Wittgensteins Leiter. Zum Problem der Rückbezüglichkeit« von Paul Watzlawick, einem Beitrag, der für die Genese des systemisch-konstruktivistischen Therapie- und Beratungsansatzes von großer Bedeutung war.
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ist objektiv zu begründen; keine, die man trotzdem festlegen wollte, wäre gegen Widerspruch zu verteidigen, jede wäre willkürlich« (Hassenstein, 1979, S. 219).
Anhand von Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen macht Hassenstein deutlich, wie viele fließende Übergänge unser Leben bestimmen, wie schwer und letztlich willkürlich viele vermeintlich sichere Grenzen zu ziehen bzw. Unterschiede auszumachen sind. Und in der Tat sollte sich jeder therapeutisch oder beraterisch Tätige immer wieder zu Bewusstsein bringen, wann und weswegen er etwas für gesund oder für krank, wann und weswegen er etwas für noch normal oder bereits für gestört hält, wo er etwas für noch einigermaßen in Ordnung, wo bereits für klinisch auffällig erachtet. Je genauer man etwas (was es auch sei) betrachtet, desto unklarer wird das vermeintlich Klare, desto mehr beginnen Grenzen und Wesensmerkmale zu verschwimmen; sie scheinen sich mitunter sogar stellenweise ganz aufzulösen. Die Frage der Übergängigkeit der Phänomene ineinander erfährt eine Zuspitzung, wenn man die Orte des Übergangs selbst betrachtet. Wer vermag beispielsweise präzise zu bestimmen, wann eine Dämmerung (wie zwischen Tag und Nacht) beginnt und wann sie endet? Das Orientierungsangebot, das Hassenstein macht, besteht darin, sich weniger auf vermeintlich sichere Abgrenzungen zu verlassen und sich stattdessen mehr an Akzentuierungen auszurichten. Übersetzt man dies auf den therapeutisch-beraterischen oder Coaching- Kontext, bedeutet es: das Eigentümliche und Besondere eines Menschen, eines Themas, einer Situation, einer Frage wahr- und ernst zu nehmen, der Versuchung zu widerstehen, etwas ganz klar und genau in ein fixes Theoriegebäude oder einen festgelegten Erklärungszusammenhang einpassen zu wollen, und sich die Frage vorzulegen, wie »unsere Sprache und unser Denken das Problem der fließenden Übergänge« meistert. »Wir verstehen unsere Sprache besser, wenn wir uns dieses Problems bewußt sind« (Hassenstein, 1979, S. 242).
Die menschliche Sprache als zentrales Arbeitsinstrument
Die Sprache ist ein unausschreitbar »weites Feld«. Weshalb ich mich hier darauf beschränkt habe, einige für die therapeutisch und beraterische Kommunikation sowie im Coaching relevanten Aspekte darzustellen. Es gilt meines Erachtens hier grundsätzlich Folgendes zu beachten: Welches Thema, welchen Schwerpunkt, welche Ausrichtung die professionelle Kommunikation im Einzelnen auch haben mag, mit welchen Methoden, Techniken und Verfahrensweisen gearbeitet wird, welche expliziten oder impliziten Menschenbilder diesen zugrunde liegen mögen, ob Sie für Einzelne, Paare, Familien, Gruppen, Teams oder Organisationen tätig sind, ob sich diese in Führungs- oder Mitarbeiterpositionen befinden, ob sie als krank, unmündig, unfähig, gestört, behindert, gehemmt etc. beschrieben werden oder sie sich selbst so beschreiben oder ob sie einfach nur ihr Potential vergrößern, ihr Selbstverständnis verbessern, ihre Selbsterkenntnis vertiefen oder lediglich eine reflektierte Außenperspektive wünschen, so erscheint es wichtig und notwendig, dem zentralen Arbeitsinstrument – der menschlichen Sprache – eine kritische und sorgfältige Aufmerksamkeit zu widmen. Das bedeutet auch, diese Form der Beachtung nicht als eine einmalige und abschließbare Handlung zu verstehen, sondern hier (zumindest solange Sie berufstätig sind und für andere eine Mitverantwortung haben) in kritischer und sorgfältiger Weise aufmerksam zu bleiben. Zugespitzt gesagt: Sie bleiben Zeit Ihres (Berufs-)Lebens ewiger Student Ihrer sprachlichen Möglichkeiten. Es geht also darum, eine genaue Vorstellung dafür zu entwickeln, was Sie mit der Sprache tun und tun können und was Ihnen (in welcher Form und Intention auch immer) sprachlich begegnet. Damit Sie diese wichtige und notwendige Qualitätssicherung gut durchführen können, möchte ich Ihnen in Bezug auf das im ersten Teil zum Menschen als sprechendes Wesen Ausgeführte einen Katalog von Maßnahmen nahelegen. Es empfiehlt sich im therapeutisch-beraterischen Kontext sowie im Coaching (aber nicht nur dort) auf folgende Aspekte zu achten:
Die menschliche Sprache als zentrales Arbeitsinstrument
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–– auf das Anfängliche und nahezu alles Voraussetzende, dass mit dem Thema Sprache zusammenhängt, wobei die konkreten Anfänge dieser besonderen Fähigkeit des Sprechens und Sprache-Verwendens bezeichnenderweise im Dunkeln liegen, –– auf die Tendenz, dass sich Sprachfiguren, dass sich Rede-, Beschreibungs- und Bezeichnungsweisen, werden sie häufig gebraucht, zum Jargon verfestigen und damit ihre therapeutische und beraterische Kraft einbüßen und zu verbalen Gesten des Machterhalts oder der Zugehörigkeit verkümmern, –– auf die Frage, welches »Sprachspiel« in einem bestimmten Kontext und mit welcher Absicht und Wirkung gespielt wird und durch welches andere »Sprachspiel« sich dieses »Sprachspiel« ersetzen oder erweitern ließe, –– auf die konkrete und die »magische« Bedeutung des Besprechens mit seinen rationalen wie hypnotischen Komponenten und Implikationen, –– auf die Bedeutung, die (Eigen-)Namen in der menschlichen Kommunikation zukommt, –– auf die Fragen, wie »beraten« verstanden wird, ob als transitive Valenz von jemanden beraten oder als reflexive Valenz von sich mit jemanden beraten, welche Art des Beratens angeboten, gewünscht und praktiziert wird und welche Folge das für die therapeutische oder beraterische oder Coaching-Beziehung sowie für das eigene Selbstverständnis hat, –– auf das Übersetzen als grundsätzliche Kompetenz und Bereitschaft jeglicher kommunikativen Handlung sowie als wesentliche Voraussetzung, um überhaupt zu der Welt eines anderen Zugang finden zu können, –– auf einen entwickelten und realistischen Möglichkeitssinn als Grundlage dafür, das Noch-nicht-gedachte/gesehene-Praktizierte ins Gewahrsein zu bringen und zieldienlich zwischen »möglichen Wirklichkeiten« und »wirklichen Möglichkeiten« genauer unterscheiden zu können und damit das Potential des Konjunktivs im Dienste des Indikativs auszuschöpfen, –– auf die Wahrnehmung der Sprache als »zweiten Körper« des Menschen, –– auf die Entwicklung eines Bewusstseins für Begriffe im Unterschied zu Worten und einer Klarheit dafür, mit welchen zentralen Begrif-
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fen Menschen in ihrem Leben unterwegs sind und wie und was sie dabei »auf den Begriff bringen« und welche Auswirkungen dies für ihre Handlungsmöglichkeiten mit sich bringt, –– auf die grundlegende Bedeutung und den nahezu unvermeidlichen Gebrauch der Metaphern und Vergleichen, Sprachbildern überhaupt zukommt und welche konkreten und aufgreifenswerte Auskünfte und Interventionsmöglichkeiten diese sprachbildlichen Aussagen und Beschreibungen der Klienten und Kunden geben, –– auf die Bedeutung, die den Strukturformen der Genauigkeit und der Klarheit für die »Sprachspiele« innerhalb der therapeutischen und beraterischen Arbeit sowie im Coaching zukommt, das Potential dieser beiden Strukturformen gleichermaßen zu entwickeln und damit die eigene Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeit zu vergrößern. Eine Maxime von Friedrich Nietzsche lautet: »Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern […]!« (Nietzsche, 1967, S. 248). Variiert man es im Sinne der hier vorgestellten Maßnahmen, so ließe sich sagen: Die persönliche (Arbeits-)Sprache verbessern – das heißt die eigene therapeutisch-beraterische Arbeit verbessern!
Der Mensch als wahrnehmendes Wesen
Was sich zeigt Jede »Enthaltung« setzt eine ›Haltung‹ voraus. Edmund Husserl Es gibt in unserem Leben kaum etwas, das als so grundlegend erscheint wie die Wahrnehmung.47 Sie – genauer das wahrnehmende Bewusstsein – setzt in der Tat alles voraus. Durch ein Bewusstsein, das mit der besonderen Fähigkeit begabt ist, wahrnehmen zu können, steht und fällt unser gesamtes Welterleben. Ohne dieses Bewusstsein wäre eine Welt, wie wir sie erleben (können), nicht denkbar; ja, schlechterdings gar nicht möglich, zumindest nicht in dieser Form. Und die philosophische Disziplin, genauer Methode, die sich mit dem Wahrnehmungsakt, den Wahrnehmungsmöglichkeiten und der Person des Wahrnehmenden sowie den ihnen zugrunde liegenden Bewusstseinsprozessen beschäftigt, die (in Kantscher Diktion gesagt) die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung überhaupt erforscht, trägt seit Edmund Husserl den Namen »Phänomenologie«. Das Bandwurmwort Phänomenologie, dessen korrekte Aussprache für manche Begriffsverwender eine unfreiwillige logopädische Übung darstellt, ist seit dem 18. Jahrhundert im Gebrauch. Es wurde von verschiedenen Denkern, wie Lambert, Kant, Herder, Fichte, Hegel, Brentano oder Hartmann, zum Teil unterschiedlich verwandt, bevor es Husserl zum Leitbegriff der von ihm entwickelten Methode machte. Das Grundlagenbuch, mit dem Husserl seine phänomenologische Perspektive erstmals vorstellte, erschien 1900/1901 in zwei Bänden (Husserl, 1992). Nahezu zeitgleich erschien ein weiteres Grundlagenbuch, das Furore machen sollte, und dies nicht zuletzt wegen seines literarischen Stils weit über die Fachwelt hinaus: Sigmund Freuds »Traumdeutung« (1972).48 47 Vgl. hierzu das Kapitel »Was heißt ›wahrnehmen‹?« in Stölzel, Th., 2012, S. 131 ff. sowie den Begriff »Gewahrnehmung […] im Sinne von Ansichtigwerden« (Fink, 2008, S. 65). 48 Es wäre nicht allein in wissenssoziologischer Weise aufschlussreich, die Denkund Erkenntniswege Freuds und Husserls sowie ihrer zeitgleich entstandenen Methoden nachzuzeichnen. Zum Beispiel in der komparativen Form von Plutarchs »Parallelen Lebensbeschreibungen«. Beide entstammen der »kakanischen Provinz« (kleinen Städten des damaligen Mähren und des heutigen Tschechien). Sie verbindet vom Alter her ein Geschwisterabstand; Freud wurde 1856, Husserl
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Der Begriff »Phänomenologie« ist ein frühneuzeitlicher Neologismus (ein Neuwort bestehend aus alten griechischen Wortteilen); er leitet sich von dem griechischen Wort »φαινόμενον« her, was das Erscheinende bezeichnet. »Phänomenologie« wäre demnach die Lehre von den Erscheinungen, den Phänomenen, also demjenigen, was Martin Heidegger in seiner speziellen Tonart das Sich-von-sich-her-Zeigende nennt. Phänomenologie beinhaltet jedoch nicht nur die Lehre von den Phänomenen, sondern auch den Versuch, die sich zeigenden Inhalte von ihrer jeweiligen Gegebenheitsweise her durch vorsichtige und umsichtige Beschreibung freizulegen. Dabei gleicht der Begriff »Phänomenologie« »einem Schlüssel, der in unterschiedliche Schlösser paßt, kommt ihn doch in verschiedene Richtungen eine Erschließungsfunktion zu« (Blankenburg, 1991a, S. 92). Die phänomenologische Methode beschreibt Maurice Merleau-Ponty als das Vorhaben, die unmittelbare, gelebte Welterfahrung des Menschen zu verstehen – eine Welterfahrung, die sich als ein fortwährendes Wahrnehmen vollzieht. Ständig nehmen wir – bewusst, nebenbei, zufällig oder unbewusst49 – etwas wahr. Dieser Umstand erscheint so selbstverständlich und grundlegend, dass er selten die Beachtung erfährt, die er verdient. Die Phänomenologen richten nun ihre Aufmerksamkeit auf dieses Selbstverständliche und Grundlegende. Sie gelangten hierbei zu zwei wichtigen Beobachtungen (vgl. Zahavi, 2007), die sich – gerade auch für die therapeutische und beraterische Kommunikation wie für das Coaching – als höchst relevant erweisen (können): 1. Dass wir bei jedem Wahrnehmungsakt mehr wahrnehmen als nur den gegenständlichen Aspekt der Welt; wir nehmen auch etwas von 1859 geboren. Beide erhielten ihre intellektuelle Grundprägung in Wien, entwickelten bis heute nachwirkende Methoden, wurden zu umstrittenen Begründerfiguren, banden begabte Ärzte, Philosophen, Wissenschaftler, Psychologen und Künstler an sich, die sie nachhaltig prägten und an deren späterer Bedeutung sie dadurch Anteil hatten, brachten es über die jeweilige Fachwelt hinaus zu Ansehen, Bekannt-, ja Berühmtheit und starben (Husserl 1938, Freud 1939) von den nationalsozialistischen Machthabern verfemt und ausgegrenzt in innerer (Husserl) oder äußerer (Freud) Emigration. Inwieweit es bei aller Unterschiedlichkeit markante Gemeinsamkeiten zwischen einer Rücknahme der Projektionen und der Epoché, einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit und einer phänomenologischen Haltung, zwischen primären Objektbeziehungen und einem Rekurs auf die Lebenswelt gibt, verdiente einmal genauer untersucht zu werden. Zum Verhältnis Freud-Husserl vgl. die Beobachtungen Blankenburgs über deren Erkenntnisstile (Blankenburg, 1991b, S. 9 f.). 49 Die Frage nach dem sogenannten Unbewussten ist ein weites und umstrittenes Feld – und damit auch die Frage nach dem unbewussten Wahrnehmen.
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der Seinsweise des uns Begegnenden wahr sowie die Struktur der Wahrnehmung selbst; denn ein Phänomen (sei es nun ein Lebewesen, ein Gegenstand, eine Situation) stellt durch sein Erscheinen stets etwas für jemanden dar. 2. Dass wir ein Phänomen nicht in seiner Ganzheit, seinem Totum, wahrnehmen können; ein Gegenstand, eine Person, eine Situation erscheinen uns stets in »perspektivischer Abschattung« (Husserl, 1986, S. 55). Das bedeutet: Wir können keinen Gegenstand, keine Person, keine Situation vollständig, also von allen Seiten zugleich wahrnehmen. Von vorne betrachtet, sehen wir den Rücken des anderen nicht, und so auch nicht »seine moralische backside«, wie Lichtenberg sagt (1968, S. 67). Was wir wahrnehmen können, erscheint uns stets perspektivisch, das heißt in Relation zu der Position, in der wir uns gerade dazu befinden, es zeigt sich uns als Vorderseite, Rückseite, Unterseite, Seitenansicht, Oberseite, Innenseite. Was uns erscheint, erscheint uns: •• in einer bestimmten Gestalt, •• in einer bestimmten Beleuchtung, •• vor einem bestimmten Hintergrund, •• in einem bestimmten Kontext, •• mit einer bestimmten Bedeutung. Was wir wahrnehmen, ist: –– imprägniert von früheren Erfahrungen, –– gefärbt von jetzigen Interessen, –– begleitet von zukünftigen Hoffnungen. Hinzu kommt der Umstand, dass die Gegenstände, Personen, Situationen nicht nur wahrgenommen, sondern auch vorgestellt, erfahren, empfunden, beurteilt, beargwöhnt, bewertet, geschätzt, verstanden, erinnert etc. werden können. Berücksichtigen wir zunächst nur diese beiden Beobachtungen, dann vergrößern wir nicht allein unser Wahrnehmungsvermögen und unsere Wahrnehmungsbewusstheit, wir können der Welt, so wie sie sich uns zeigt, auch anders begegnen. Das hat unmittelbare und tiefgreifende Folgen. Das kann unsere Handlungspotentiale deutlich vergrößern und unsere Reaktionsweisen auf das, was wir zu sehen, zu hören, zu fühlen usw. bekommen, spürbar verbessern. Dieser Zuwachs
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an Möglichkeiten hat eine Vorbedingung, eine Voraussetzung, mit der sich zum Beispiel Menschen, die sich in dem beruhigenden Schlummer einer (politischen) Ideologie oder einer (religiösen) Weltanschauung wiegen oder gerne möglichst reflektionslos und unbewusst dahinleben, nur ungern beschäftigen. Diese Voraussetzung bedeutet in den Worten von Husserl, das Aufgeben, Ausschalten, Außergeltungsetzen »der natürlichen Einstellung«. Husserl hat, was er »natürliche Einstellung«50 nennt, so umschrieben: »Ich bin mir einer Welt bewußt, endlos ausgebreitet im Raum, endlos werdend und geworden in der Zeit. Ich bin mir ihrer bewußt, das sagt vor allem: ich finde sie unmittelbar anschaulich vor, ich erfahre sie. Durch Sehen, Tasten, Hören usw., in den verschiedenen Weisen der sinnlichen Wahrnehmung sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung für mich einfach da, im wörtlichen oder bildlichen Sinne vorhanden, ob ich auf sie besonders achtsam und mit ihnen betrachtend, denkend, fühlend, wollend beschäftigt bin oder nicht. Auch animalische Wesen, etwa Menschen, sind unmittelbar für mich da; ich blicke auf, ich sehe sie, ich höre ihr Herankommen, ich fasse sie bei der Hand, mit ihnen sprechend, verstehe ich unmittelbar, was sie sich vorstellen und denken, was für Gefühle sich in ihnen regen, was sie wünschen oder wollen. Auch sie sind in meinem Anschauungsfeld als Wirklichkeiten vorhanden, selbst wenn ich nicht auf sie achte« (Husserl, 1985, S. 131).
Die Welt, meine Welt ist »einfach« da. Dieser natürliche Bezug wird so lange als unproblematisch erlebt, wie es gelingt, meine inneren Vorstellungen mit der äußeren Umgebung einigermaßen abzugleichen oder dem Wahrgenommenen die von mir zugedachte Bedeutung zu geben. Gelingt dies nicht mehr so ohne Weiteres, »blickt jemand nicht mehr durch«, kann es »einfach nicht begreifen«, fühlt sich getäuscht und sieht sich folglich enttäuscht, weiß nicht, wie er »es einordnen« soll, dann wird der Bezug zur »natürlichen Einstellung« brüchig und die Welt, so wie sie bislang erschien, unsicher und trügerisch. Das kann sich zu dem Eindruck verschärfen, dass sie vielleicht gar nicht so sicher war, wie sie mir bis jetzt vorkam. Denn unabhängig davon, was sich innerhalb (und auch außerhalb) von Therapie-, Beratungs- oder Coaching-Prozessen zeigt, wie die jeweiligen Probleme, Fragen, Themen, Klärungs50 Husserls Assistent Eugen Fink spricht hierbei auch von der »Ursprungshaltung« von der »naiven Haltung des gesunden Menschenverstandes« (Fink, 2006, S. 420).
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wünsche im Einzelnen aussehen mögen, so haben sie wesentlich mit Wahrnehmungen und unserem Verhältnis, unseren Erwartungen diesen Wahrnehmungen gegenüber zu tun. Es könnte sich also lohnen, phänomenologische Methoden genauer zu betrachten und zu überprüfen, inwieweit sie geeignet sind, das berufliche wie persönliche Wahrnehmungsvermögen zu verbessern. Bevor ich genauer darauf zu sprechen sowie zu den damit verbundenen Übungen komme, möchte ich noch einen Blick auf die Begründerfigur und die Weiterentwicklung seiner Methode werfen. Edmund Husserl verkörpert dem Habitus und Selbstverständnis nach den Gelehrtentypus des ausgehenden 19. Jahrhunderts: ein Mann mit wallendem, geheimrätlichem Bart, der ganz seinen Forschungen hingegeben und geradezu in sie hineingesponnen51 war. Von den sogenannten exakten Wissenschaften herkommend (er hatte sich »Über den Begriff der Zahl« habilitiert), suchte er nach einer schweren persönlichen Krise eine Art Orientierung bei der Philosophie als einer Form aufgeklärter Rationalität, musste allerdings erkennen, wie vage und unklar hier vieles war, wie viele nicht ausreichend überprüfte, einander widersprechende Prämissen und Glaubenssätze durch die verschiedenen philosophischen Traditionen angesammelt, ja, aufgehäuft worden waren. Diese bildeten geradezu einen Wall von Meinungen und (Vor-) Urteilen um die Dinge, der verhinderte, dass man unmittelbar und unverstellt an sie herankommen konnte. Husserl sah sich in einer vergleichbaren Lage wie der Begründer der antiken Skepsis, Pyrrhon (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 257). Denn welcher Meinung, welcher Methode, welchem Programm sollte man folgen? Von was konnte man als etwas Sicherem ausgehen? Auf was die eigenen Forschungen, Lebenspläne etc. aufbauen? Husserls Drang ging dahin, die Dinge aus sich selbst 51 Hans-Georg Gadamer berichtet in seiner philosophischen Autobiographie von der Vorgehensweise seines akademischen Lehrers Husserl: »Seine Seminare begannen mit einer von ihm gestellten Frage und endeten mit einer langen Darlegung, die durch die ihm gegebene Antwort ausgelöst wurde: eine Frage, eine Antwort und ein eineinhalbstündlicher Monolog. […] Es waren immer nur Monologe – er merkte das gar nicht. Einmal sagte er beim Hinausgehen zu Heidegger: ›Heute war es doch wirklich einmal eine anregende Diskussion‹ – nachdem er auf die erste Antwort […] ohne Punkt und Komma selber geredet hatte« (Gadamer, 1977, S. 31). Zur Charakterisierung Husserls und seiner philosophischen Lebensform vgl. den Nachruf seines letzten Assistenten (Fink 1976, S. 75–97) sowie die Erinnerung eines späten Schülers (Schütz, 2009, S. 293–302).
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heraus klären und verstehen zu wollen. Er, der sich einen »Facharbeiter in den Fundamenten« nannte, machte nun gewissermaßen tabula rasa und räumte die Theorien über die Gegenstände, die Menschen, die erkennbare Welt ab, um endlich »zu den Sachen selbst«52 kommen zu können, wie der berühmte phänomenologische Appell aus der Göttinger Zeit Husserls lautet. Und ein heutiger Phänomenologe wie Lambert Wiesing weist auf die traditionsskeptische Ausrichtung der Phänomenologie hin, ihre Abkehr von Fremdmeinung und gläubiger Nachfolge: »Die Aufforderung Zu den Sachen selbst ist eine Kritik an der Philosophie, welche eben – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht bei der Sache ist und sich stattdessen mit Modellen, Theorien, Konstruktionen und Interpretationen befasst, also dem, was andere aus der Sache gemacht haben« (Wiesing, 2009, S. 93). Es kommt also darauf an, was der Einzelne beim Wahrnehmen mit der Welt anfängt. In ihrer heuristischen Intention, eigenständig etwas über die Welt herausfinden zu wollen, erweist sich die Phänomenologie als eine Anwendungsform eines Diktums, das seit der sogenannten Aufklärung in vieler Munde ist. Jenes »sapere aude«, das mit »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« übersetzt wird (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 25). Da sich viele anerkannte Meinungen und wissenschaftliche Behauptungen auf – bei genauerer Betrachtung – unzureichende Vorannahmen und bloß übernommene Ansichten stützen, beschloss Husserl, Fundamentarbeit zu betreiben, um herauszufinden, was wir wirklich sicher von der Welt sagen können. Er strebte dabei einen – theorie losen – Blick53 an und wollte dadurch erfahren, was wir dann von der 52 Vgl. hierzu den geradezu systemischen Blickwinkel, den Hans Blumenberg in seinem Buch »Zu den Sachen und zurück« einnimmt (2002). In seiner »Neuen Phänomenologie« möchte Hermann Schmitz von den »Sachen« zu den »Sachverhalten« gelangen, da diese eine bestimmte »Sache […] als Fall von etwas bestimmen« (2009, S. 13) – und so den Kontextfaktor mitabbilden. 53 Seine Ehefrau Malvine überliefert Husserls »geradezu leidenschaftliches Interesse für Optik« und illustriert das an einer Anekdote: »Als junger Student bekam er ein Zeiss’sches Fernglas in die Hand, das er seinem inneren Drange nach genau untersuchte, wobei er eine Trübung der Linsen feststellte. Kurz entschlossen schickte er das Glas an Zeiss in Jena und erhielt daraufhin ein Angebot […] in dieses Institut einzutreten, da keiner der geschulten Prüfer den Fehler entdeckt habe. Eine erfolgreiche Zukunft sei ihm sicher« (M. Husserl, 1988, S. 111). Wer weiß, wenn Husserl zugesagt hätte, hätte er dann so etwas wie die phänomenologische Methode erfunden? Die bisweilen mikroskopische Schärfe vieler seiner phänomenologischen Beschreibungen verdankt sich einem auch in diesem Feld unbestechlich prüfenden Blick.
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Welt, den »Sachen« zu sehen bekämen. Er war dabei immens fleißig und gründlich – und skrupulös. Was dazu führte, dass er (im Vergleich zu anderen Akademikern) zu seinen Lebzeiten relativ wenig veröffentlichte. Er war stets bereit, sich von den »Sachen«, den Phänomen korrigieren zu lassen, sah sich selbst als »ewigen Anfänger«, der sich schwer damit tat, seine Erkenntnisse zu systematisieren. Als sein eigentliches Lebenswerk betrachtete er seine (unveröffentlichten) Forschungsmanuskripte. Das sind nahezu täglich geführte philosophische Aufzeichnungen. »Über die allmähliche Verfertigung des Durchdenkens beim Schreiben« könnte man (in Variation eines bekannten Aufsatztitels von Heinrich von Kleist)54 diese letztlich ständig revisionsbereite, unabschließbare Grundlagenforschung nennen. Husserl häufte dabei in etwa einen halben Jahrhundert rund 45.000 Seiten in Gabelsberger Steno an, so dass sein Nachlass gewaltige Dimensionen55 annahm. Die posthume Edition dieser monomanischen Forschungsarbeit56 wird seit 1950 betrieben und hat bislang 40 (!) zum Teil dickleibige Bände Husserliania herausgebracht, wobei die Ausgabe immer noch nicht abgeschlossen ist. Bei dieser Grundlagenarbeit gewann Husserl zunehmend größere Klarheit über eine wesentliche Struktur des (menschlichen) Bewusstseins. Er konnte anhand zahlloser, immer wieder neu überprüfter Beobachtungen herausfinden, dass die grundlegende Tätigkeit dieses besonderen »Organs« in seinem Ausgerichtetsein auf etwas besteht. Bewusstsein ist, Husserl zufolge, intentional und bleibt uns in seiner »reinen« Form unzugänglich. Das bedeutet, dass wir über es nicht mehr sagen können, als dass wir es als etwas Intentionales vorfinden. Weiter können wir sinnvollerweise nicht zurückgehen. Diese Grundstruktur bildet die heuristische Grenze, den Anfang und Ausgangspunkt allen phänomenologischen Forschens. Bewusstsein ist, so ver54 »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« lautet der Titel seiner Betrachtung (Kleist, 1984c, S. 453). 55 Etwa zeitgleich mit Husserl führte der etwas jüngere Autor und poetische Bewusstseinsforscher Paul Valéry mit vergleichbarer Intensität und Ausdauer ein in mancherlei Hinsicht vergleichbares Unternehmen durch, dabei ebenfalls Berge von Aufzeichnungen anhäufend, die er (wie Husserl) als sein eigentliches Hauptwerk ansah, das auch erst posthum veröffentlicht wurde (vgl. Stölzel, 2011, S. 44). 56 Der Phänomenologie-Forscher Dan Zahavi geht davon aus, dass die Textproduktion Husserls so enorm ist, dass kaum »jemals eine einzige Person alles, was er schrieb, gelesen oder gar in eine systematische Interpretation einbezogen« hat (Zahavi, 2009, S. 2).
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standen, nichts Abgeschlossenes, Singuläres, sondern ein existentielles Bezugsorgan; es erscheint stets in Bezug auf das, auf was es ausgerichtet ist. Und die mentale Tätigkeit, durch die es in Beziehung tritt, ist das Wahrnehmen(können). Will man etwas über die »äußere« Welt wie die eigene »Innenwelt« in Erfahrung bringen, so ist es unabdingbar, sich mit dieser alles voraussetzenden Handlungsweise genauer zu beschäftigen, vor allem durch persönliche Wahrnehmungsforschung; denn die Wahrnehmungs-Beobachtungen anderer nützen einem nur wenig. Das Entscheidende zeigt sich hier im Selbstvollzug, wie es anhand der phänomenologischen Übungen noch deutlich werden wird. Die Phänomenologie entfaltete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Breitenwirkung wie die zeitgleich entstandene Psychoanalyse. Nicht allein viele Philosophen, die das europäische Denken seitdem wesentlich mitbestimmt haben, sind bei Husserl »in die Schule« gegangen, wie unter anderem Max Scheler, Martin Heidegger, Edith Stein, Werner Kraft, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Günther Anders, Hans Jonas, Eugen Fink, Emmanuel Lévinas, Hannah Arendt oder Helmuth Plessner, und haben auch größtenteils persönlich bei ihm studiert. Namentlich französische Philosophen wie Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty haben durch Husserl entscheidende Anregungen empfangen und seinen Forschungsansatz in eigenen Ausprägungen weiterentwickelt. Philosophisch inspirierte Psychiater von Ludwig Binswanger über Wolfgang Blankenburg bis zu Thomas Fuchs haben phänomenologische Perspektiven konstruktiv in die klinische Arbeit eingebracht und damit die medizinische Anthropologie erweitert. Verschiedene Verfahren innerhalb der Humanistischen Psychologie, wie zum Beispiel die Gestalt-Therapie, die Personenzentrierte Therapie nach Rogers, ferner die aus der Logotherapie entwickelte Personale Existenzanalyse konnten von phänomenologischen Methoden zum Teil erheblich profitieren. Was die existentielle Ausrichtung betrifft, so lassen sich innerhalb des phänomenologischen Forschens fünf Akzentsetzungen unterscheiden; wobei es sich hier nur um Hauptströmungen handelt, die sich auf bestimmte Begründerfiguren berufen können (siehe Abbildung 1).
Was sich zeigt
Entwicklung der phänomenologischen Methoden
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Bewusst-Sein (Edmund Husserl) Wert-Sein (Max Scheler) Leib-Sein (Maurice Merleau-Ponty) Mit-Sein (Jean-Paul Sartre, Emmanuel Lévinas) Bei-sich-Sein (Hermann Schmitz)57 Da-Sein (Martin Heidegger)58
Abbildung 1: Verschiedene Akzentsetzungen phänomenologischer Praxis
Es ist nicht einfach, die Intention der Phänomenologie auf wenigen Seiten verständlich zu machen, und ich kann nur hoffen, dass in der Folge noch manches deutlicher werden wird. Der beste Weg, sich mit der phänomenologischen Sichtweise vertraut zu machen und sie sich für die eigenen beruflichen und/oder persönlichen Belange zu erschließen, besteht in der konkreten phänomenologischen Praxis. Einer ersten Einstimmung dient die nachfolgende Übung.
Erkundung eines Gegenstands59 Wählen Sie sich einen bestimmten Gegenstand aus. Das kann etwas sein, das Ihnen vertraut ist, mit dem Sie täglich umgehen, das eine Bedeutung für Sie besitzt. Das kann aber auch etwas sein, auf das Ihr Blick gerade wie zufällig fällt, das Sie spontan anspricht oder Ihr Interesse erweckt. Nehmen Sie sich etwas Zeit (wenigstens die sprichwörtlichen fünf Minuten). Bringen Sie sich in eine bestimmte Raumposition zu diesem Gegenstand. Probieren Sie verschiedene Abstände und Blickwinkel aus, bis Sie einen 57 Dieser Denker hat vor über zwanzig Jahren eine »Gesellschaft für Neue Phänomenologie« gegründet, die auch mit Vertretern verschiedener Heilberufe zusammenarbeitet (Werhahn, 2011; Becker, 2013) und den leibphänomenologischen Ansatz (Merleau-Ponty, 1966) fortführend und teilweise radikalisierend die »unwillkürliche Lebenserfahrung« des Einzelnen vor allem auch leiblich wieder umfassend zugänglich machen möchte. 58 Heidegger, der Lehrstuhlnachfolger Husserls, stellt innerhalb der Phänomenologie einen Sonderfall dar. Er hat sich noch zu Lebzeiten vom Denkstil seines früheren Lehrers distanziert und seine sogenannte Fundamental-Ontologie betrieben, die, bei Lichte besehen, viel dem Husserlschen Ansatz verdankt, was Heidegger in seiner autobiographischen Skizze »Mein Weg in die Phänomenologie« (Heidegger, 2007, S. 91 ff.) auch eingesteht: »So wurde ich auf den Weg der Seinsfrage gebracht, erleuchtet durch die phänomenologische Haltung« (S. 99) und indem »ich […] in der Nähe Husserls das phänomenologische Sehen einübte« (S. 98). 59 Eine Anregung zu dieser Übung verdanke ich der Zusammenarbeit mit Matthias Ohler.
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passenden gefunden haben. Betrachten Sie das, was Sie ausgewählt haben, ruhig und genau. Nehmen Sie sorgfältig wahr, was an Assoziationen und Regungen in Ihnen aufsteigt, sich meldet, während Sie ruhig und genau den Gegenstand betrachten. Klammern Sie alles, was sich an Assoziationen und Regungen zeigt und für Sie in diesem Moment mit dem von Ihnen ausgewählten Gegenstand verbunden ist, gewissermaßen ein.60 Dieser Teil der Übung ist nicht so einfach. Doch besteht ein wesentlicher Erkenntniswert gerade darin, eine andere Weise des Anschauens von etwas zu vollziehen. Es geht dabei nicht darum (vor allem am Anfang nicht), sofort und restlos alles einzuklammern. Es geht darum, etwas von der (Außen-)Welt anders zu betrachten und mit diesem Anders-Betrachten Erfahrungen zu sammeln. Das kann bedeuten, dass Sie zu Beginn der Übung andere mit dem Gegenstand verbundene Assoziationen und Regungen einklammern als in der Folge, so dass Sie – sozusagen Schicht für Schicht – all das abzutragen beginnen, was für Sie diesen bestimmten Gegenstand wie eine feinstoffliche Hülle umgibt. Sie können während der Übung die Raumposition und damit die Betrachtungsperspektive verändern (also etwa einen kleinen Gegenstand in die Hand nehmen oder einen größeren von einer anderen Seite betrachten usw.). Sie können während der Übung oder kurz danach ein phänomenologisches Protokoll erstellen; das vergrößert den Erkenntnisgewinn und vertieft die gemachte Wahrnehmungserfahrung. Entscheidend ist, ruhig und genau wahrzunehmen, was sich für Sie an diesem Gegenstand zeigt, und das, was sich zeigt, was mitwahrgenommen wird, einzuklammern, um sich am Ende der Übung fragen zu können: Was tritt mir (nachdem ich zumindest einiges eingeklammert habe) jetzt vor Augen? Wie sieht das aus? Wie mutet mich das an? Was ist verändert worden? Blicke ich nun etwas »anderes« an? Womöglich den »Kern« von etwas? Um diese Übung gut für sich nutzen zu können, ist es sinnvoll, sie häufig zu wiederholen. Dafür sind vor allem die unerwünschten Wartezeiten gut geeignet, in denen man sich zu nichts Bestimmten aufgelegt findet. Und von Gegenständen der verschiedensten Art ist man ja stets umgeben. Diese phänomenologische Übung ermöglicht Ihnen, die vertrauten und scheinbar bekannten Dinge anders wahrnehmen und sich als Wahrnehmenden anders erfahren zu können.
Das, was die Übung »Erkundung eines Gegenstands« empfiehlt, geht in die Richtung dessen, was seit Husserl als phänomenologische Reduktion beschrieben wird. Eng damit verwandt ist der Begriff (bzw. die philo60 Das Sprachbild des »Einklammerns« verdankt sich wohl Husserls mathematischen Vorlieben. Es ist durchaus auch möglich, anstelle der Klammern ein Gefäß, einen Sack, eine Truhe oder dergleichen zu imaginieren, sollte dies für Sie stimmiger sein.
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sophische Verhaltensweise) der sogenannten Epoché. Nach Husserls Meinung haben Sie, indem Sie den mit der Übung verbundenen Haltungswandel vollzogen haben, das Eingangstor zur Philosophie (Husserl, 1962, S. 260) durchschritten, und zwar sozusagen von der phänomenologischen Seite her. Was hat es mit diesen beiden Begriffen (und den damit verbundenen Verhaltensweisen), die als Kernstück61 (zumindest der Husserlschen) Phänomenologie angesehen werden, auf sich? Den Begriff »Epoché« hat Husserl aus der antiken Skepsis entlehnt. Er erscheint bei einem für den Methodentransfer der Skepsis so wichtigen Autor wie Michel de Montaigne (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 253, 260) und zwar in der Formulierung, »επεχω, das heißt: Ich enthalte mich, ich lasse mich zu keinem Urteil bewegen« (Montaigne, 1998, S. 250). Übersetzt in unsere Lebenswelt bedeutet das: Wir enthalten uns der üblichen Zuschreibungen, durch die wir sonst auf Dinge, Personen und Situationen reagieren, sie damit in unserem Sinne bewerten und einschätzen, sie geradezu mit unseren Zuschreibungen »behängen« und sie dadurch kaum je an sich zu sehen bekommen. In der Epoché können wir uns – zumindest zeit- und teilweise – von unserem natürlichen Dogmatismus62 befreien und eine philosophische Mündigkeit einüben. Diese ergibt sich gerade dadurch, dass wir das scheinbar Natürlichste – das Wahrnehmen der Welt um uns – zum Thema machen und uns damit in eine Distanz dazu bringen. Ein phänomenologisch-geschärftes Bewusstsein entsteht also erst durch die von der Epoché getragene Haltung; durch sie wird der Mensch zu einem Meta-Wesen, das sich und sein Betrachten betrachtet. Indem das bis zur Unbewusstheit Selbstverständliche, eben jene »natürliche Haltung«, aufgegeben wird, kann unsere normale und gewohnte Erfahrungssphäre erheblich erweitert und vertieft werden. Das setzt in methodischer Weise ein, wenn während der Reduktion all das, was man (häufig ohne es zu bemerken) von sich aus zu den Gegenständen, 61 Schmitz ist (wohl auch um seinen Ansatz zu konturieren) weniger an einer phänomenologischen Reduktion als an einer »phänomenologischen Revision« interessiert. Sie dient ihm dazu, »sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung heranzutasten, das heißt, an das, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben« (Schmitz, 2009, S. 20). Die »unwillkürliche Lebenserfahrung« bildet für Schmitz den Ausgangspunkt seines Ansatzes. 62 Eugen Fink spricht hier von der »Herausleitung aus dem Dogmatismus« (Fink, 2006, S. 420), welchen gerade ein phänomenologisches Philosophieren bewirken könne.
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Personen und Situationen »hinzugibt« – sie damit einfärbend –, eingeklammert und außer Geltung gesetzt wird. Es ist ein wenig so, als nähme man (zumindest einige) der mit dem eigenen Bewusstsein verwachsenen »Brillen« ab, durch die man sonst die Welt betrachtet. Die Methode der phänomenologischen Reduktion thematisiert das oftmals unhinterfragte Verhältnis zwischen einem Wahrnehmenden und seiner Art des Wahrnehmens, indem sie das Wahrgenommene – in erkenntnisstiftender Weise – zu dem Wahrnehmenden zurückführt (im Sinne des lateinischen re-ducere). Durch dieses Zurückführen und Zurücknehmen kann der Einzelne erfahren und erleben, was er beim scheinbar bloßen Wahrnehmen den Dingen, Personen und Situationen von sich aus »überstülpt«, was er auf sie projiziert oder in sie hineinlegt. Husserl hat betont, dass man die Phänomenologie nicht wirklich verstanden habe, solange man sich nicht um die Epoché und die Reduktion bemühe (Husserl, 1971, S. 155). Dies ist wahrlich nicht einfach, dabei aber enorm aufschlussreich und nicht selten sehr erleichternd (wie ich während phänomenologischer Seminare und Beratungen erfahren habe). Der »Helm« vermeintlicher Gewissheiten, der die unmittelbare wie die korrigierende Erfahrung behindert, kann abgelegt und ein unverstellterer Kontakt mit der Welt möglich werden. Epoché und Reduktion eröffnen zudem die Möglichkeit, sich einen hermeneutischen Freiraum zu verschaffen und auf diese Weise das zunächst unverständlich anmutende Verhalten eines anderen anders wahrnehmen und einschätzen zu können. Sie erweisen sich dadurch als flexible Instrumente für ein tieferes und besseres Verstehen. Das Zusammenwirken von Epoché und Reduktion zeigt dem Einzelnen auf, was er durch die Art seines Wahrnehmens mit der Welt anfängt, was er aus ihr macht (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 133 f.). Die Macht der (jeweiligen) Perspektive ist dabei keinesfalls zu unterschätzen. Da gibt es im Wortsinne handgreifliche Möglichkeiten. Sebastian Haffner hat das in einem eindrücklichen Vergleich anschaulich gemacht. Er spricht von »einer Hand«, die »dicht vors Auge gehalten, ein ganzes Gebirge verdecken kann« (Haffner, 2001, S. 35). Eine Ausblendungsleistung, welche die (jeweilige) Welt dann ganz anders aussehen lässt. Der englische Philologe und Publizist Edwin A. Abbott hat in seinem amüsanten, mehrdimensionalen Roman »Flächenland« (Abbott, 1982) nicht nur die Heimatwelt eines »alten Quadrats«, sondern auch dessen perspektivisches Reisen ins »Linienland« und in die Welt der »Kugel« beschrieben
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und all denen ein erkenntnisträchtiges Lesevergnügen bereitet, die sich aus beruflichen Gründen mit der Macht und dem Zusammentreffen unterschiedlicher Perspektiven beschäftigen (müssen). Das Medium, in dem die unterschiedlichen Perspektiven mitunter suggestiv vorgeführt werden, ist der Film. In dem für Therapeuten, Berater und Coaches sehr aufschlussreichen Kinofilm »Rashomon« von Akira Kurosawa (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 289 f.) gibt es zu Beginn eine Szene, in der dies paradigmatisch vorgeführt wird. Ein Holzfäller betritt einen Wald. Kurosawas Kamera begleitet ihn in einer Art Rundumblick, in dem sich die Perspektiven zu verschiedenen Blickwinkeln »abschatten«. Der Filmhistoriker Karsten Visarius hat dies so zusammengefasst: »Eine Axt geschultert, deren Schneide im Sonnenlicht aufblitzt, schreitet er zügig dahin; eine rhythmische Melodie, angelehnt an Ravels Bolero, setzt ein, Stämme, Zweige, Blätter, Helle und Dunkel gleiten vorbei. Die Kamera ist überall, fern und nah, hoch und tief; sie weicht vor dem Gehenden zurück, folgt ihm nach, kreuzt seinen Weg, schlägt sich parallel zu ihm durchs Gebüsch: es ist, als sei der ganze Wald Auge« (1988, S. 123).
Bei der Erforschung der Besonderheiten des menschlichen Gesichtsfeldes entwarf der Psychophysiker Ernst Mach in seinem Notizbuch eine Zeichnung (Mach, 1988, S. 180), die später ein Künstler nach seinen Angaben gestaltete. Das Ergebnis zeigt Ihnen die nachfolgende Abbildung 2 (vgl. Mach, 1986, S. 15). Sie ermöglicht eine »unmögliche« Perspektive. Wir blicken durch das Auge63 einer (fremden) Person. Sehen dadurch den auf dem Bild dargestellten Weltausschnitt mit Bücherbord, Fenster, das den Ausblick auf eine Landschaft weiter »draußen« eröffnet sowie einen sonst leeren Raum. Unsere Blickperspektive fällt 63 Das Pfortenhafte der Augen wurde innerhalb der Kunst wie der Literatur immer wieder thematisiert. Dass die Augen so etwas wie »die Tore der Seele« darstellen, gehört bereits zu den frühen anthropologischen Charakterisierungen. Wenn der Körper das »Gebäude« eines Menschen darstellt, dann stehen die Augen für dessen »Öffnungen«, wie es zum Beispiel in einem Gedicht Gottfried Kellers anklingt. »Augen, meine lieben Fensterlein,/Gebt mir schon so lange holden Schein,/Lasset freundlich Bild um Bild herein:/Einmal werdet ihr verdunkelt sein!« Die Einsicht, dass diese »Fenster« nur für eine gewisse Spanne Bilder hereinlassen, hat Keller zu dem Appell eines intensiv wahrnehmenden Gegenwärtigseins geführt: »Trinkt, o Augen, was die Wimper hält/Von dem goldenen Überfluß der Welt!« (Keller, 1979, S. 300). Und der Lyriker Dieter Roth bringt das auf den Vers: »Aus des Kopfes Haus/sah ich zu den Augen raus« (Roth, 2005, S. 28).
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Abbildung 2: Zeichnung nach Angaben Ernst Machs zur Erforschung des Gesichtsfelds
dabei mit derjenigen der Figur zusammen. Wir blicken an der Person hinunter, wie wir an uns hinuntersehen könnten, wenn wir, ebenso wie die abgebildete Person, durch deren Auge wir blicken, an uns, genauer auf unseren liegenden eigenen Körper hinunterblicken würden.64 Der Jochbogen des linken Auges begrenzt unseren Blickwinkel nach oben und rahmt das, was wir zu sehen bekommen. Wir (das heißt die Person durch deren Auge wir sehen) müssten den Kopf heben, drehen oder senken, um eine andere Wahrnehmungsperspektive zu erhalten. Durch das angedeutete Nasenprofil und die weitausschwingende Bart64 Vgl. hierzu das Verhältnis von Körper und Leib im nachfolgenden Kapitel »Am ›Nullpunkt‹ der Erfahrung«.
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spitze wird unser Blickwinkel nach rechts unten hin begrenzt, nach links ist er offen und vereinigt sich mit der unmittelbaren Umgebung. Zugleich sehen wir einen Teil des rechten Arms, in dessen Hand sich ein Stift in Schreibhaltung befindet. Diese nicht naturalistisch wiedergegebene Seite des fremden Auges, das hier unsere Perspektive bildet, verweist auf den modellhaften und bewusstseinsbildenden Charakter dieser Zeichnung. Mach wollte wohl kein naturalistisches Abbild eines seine Umgebung betrachtenden Menschen, sondern die Perspektive des Sehaktes bildlich verdeutlichen, so dass wir uns beim Betrachten gewissermaßen im Kopf der ausschnitthaft dargestellten Person befinden, deren Bewusstsein verkörpernd. Auf diese Weise nehmen wir eine Perspektive ein, durch die es uns möglich ist, uns gleichzeitig in der Wahrnehmungsperspektive des gezeigten Sehaktes sowie in der Wahrnehmungsperspektive dahinter, sozusagen »meta«, zu befinden. Das heißt, wir können nicht nur sehen (wahrnehmen), was die Person sieht, sondern auch die gezeigte Wahrnehmungsperspektive des Sehaktes der Person wahrnehmen. In der Übung »Stereoskopische Perspektiven« können Sie die hinter Machs Zeichnung stehende und soeben genauer ausgeführte Betrachtungsidee für Ihre beruflichen und/oder persönlichen Belange nutzen.
Stereoskopische65 Perspektiven Es stehen Ihnen nicht ständig Metaperspektiven (wie sie durch geübte und nicht involvierte Beobachter beigesteuert werden können) zur Verfügung. Es kann sich also als sinnvoll erweisen, die eigenen Betrachtungsmöglichkeiten zu erweitern. Denn das ermöglicht Ihnen eine größere Autonomie. 65 Etwas stereoskopisch wahrnehmen bedeutet, eine ergänzende Wahrnehmung vollziehen. Zum Beispiel durch die Verbindung der beiden perspektivisch unterschiedlichen Halbbilder, welche die beiden Augen »liefern« und dadurch das räumliche Sehen ermöglichen; etwa beim Betrachten einer zweidimensionalen Bildfläche, deren Abbilder plastisch, das heißt mit entsprechender Raumtiefe »gesehen« werden. Ich verwende den Begriff »stereoskopisch« hier in der Weise, dass zwei verschiedene Perspektiven – der jeweilige Blickwinkel und das nahezu gleichzeitige Wahrnehmen dieses Blickwinkels – miteinander betrachtet werden können, mitunter ein drittes Bild des Gesehenen erzeugend. Vgl. hierzu die Reflexion Ernst Jüngers »Der stereoskopische Genuß«, in der Jünger nicht allein von dem Bildeindruck einer bestimmten Farbe, sondern auch von deren »Tastwert« und damit von einer doppelten Sinnesqualität spricht, die jedoch nur ein Sinnesorgan hervorbringt (Jünger, 1994, S. 24 f.).
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Nehmen Sie (gedanklich oder konkret) eine bestimmte Position ein; das kann eine vertraute, eine bislang noch nicht eingenommene oder eine spontane sein. Stellen Sie kraft Ihres Vorstellungsvermögens eine Person unmittelbar vor sich. Bringen Sie sich zu dieser imaginierten Person in doppelter Hinsicht in Beziehung, und zwar so, dass Sie einerseits teilweise mit ihr verschmelzen – also auch durch sie wahrnehmen können – und andererseits Abstand zu ihr halten, indem Sie sich Ihr Dahinterstehen zu Bewusstsein bringen, wie beim Rhythmus einer achtsamen Atembewegung, bei der Sie zunächst bewusst etwas (die Luft) zu sich hereinholen, sich damit verbinden, um dann, sich davon lösend, wieder neu in Kontakt treten zu können. Nutzen Sie diese Vergrößerung Ihrer Wahrnehmung als Okular. Betrachten Sie dadurch: –– für Sie wichtige Personen oder Situationen, –– anstehende Fragen und Herausforderungen, –– Ihre Patienten oder Klienten, –– die Organisation, in der oder für die Sie tätig sind. Was zeigt sich Ihnen? Wie stellt sich Ihnen das stereoskopisch Betrachtete dar? Welche Unterschiede bemerken Sie zu Ihrer gewöhnlichen Wahrnehmung?
Beginnen wir das Wahrnehmen selbst wahrzunehmen, so tritt uns dessen eigentümliche Doppelgestalt deutlicher in den Blick. Denn bei einer Wahrnehmung – wie immer sie ausfallen oder auf was sie sich richten mag – haben wir es mit der gleichzeitigen Anwesenheit von Theorie und Praxis zu tun. Das bedeutet: In ihr verbinden sich bestimmte Modellvorstellungen mit dem konkreten sinnlichen Vollzug zu einem Wechselwirkungs-Geschehen. Wird ein Teil dieser Doppelgestalt verändert (zum Beispiel, indem man eine bislang gültige Vorstellung modifiziert), dann verändert sich auch der andere Teil in der Weise, dass man die Dinge jetzt nicht mehr so sehen »kann« wie zuvor, obwohl die Welt »da draußen« doch noch dieselbe geblieben ist – oder etwa nicht? Die Frage des Einflusses, den unsere Wahrnehmungstheorien auf das haben, was wir wahrnehmen (können), haben nicht erst die Phänomenologen zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschäftigt. Der Schriftsteller Heinrich von Kleist schreibt am 22. März 1801 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge: »Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief erschüttern wird, als mich […] Wenn alle
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Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint« (Kleist, 1984d, S. 200).
Die Irritation dessen, was wir wahrzunehmen meinen, muss nicht notwendig so verstörend ausfallen wie bei der sogenannten Kant-Krise des jungen Kleist. Doch bleibt die Frage bestehen, ob die Welt und die Phänomene in ihr so sind, wie sie uns erscheinen, oder ob sie nur so zu sein scheinen; sie gehört zu jenen unentscheidbaren Fragen, die wir, Heinz von Foerster zufolge, durch unsere persönliche Art des In-derWelt-Seins, zumeist ohne uns dies eigens zu Bewusstsein zu bringen, längst entschieden haben (Foerster, 1993). Und so hat die Phänomenologen seit Husserl der Vorgang und das Wie des Wahrnehmens weit mehr interessiert als der Umstand, ob wir die Welt »richtig« sehen. Es ging ihnen um ein anderes Schauen, um ein von festlegenden Vorstellungen weitgehend befreites Betrachten, um einen möglichst »puren« Blick. Wie Hofmannsthal66 vertraten die Phänomenologen die Überzeugung, dass man zunächst das Alphabet der Wahrnehmung zu lernen und sich als Wahrnehmenden genauer kennenzulernen habe. Eine besonders wirksame Voraussetzung, phänomenologische Perspektiven in die jeweiligen Lebens- und Arbeitskontexte mit einzubeziehen, bildet die Bereitschaft zur Offenheit, genauer die Bereitschaft, die Offenheit übend immer wieder neu herzustellen. Der Romancier und poetische Wahrnehmungsforscher Heimito von Doderer spricht davon, ein »größeres Geöffnet-Sein zu erreichen«, und erklärt dies zum »Sinn all meines Übens« (Doderer, 1996, S. 531). Er legt dem einen bestimmten philosophischen Begriff zugrunde, von dem er sagt: »Die Apperception (appercipieren kommt von aperte percipere, offen aufnehmen) ist bekanntlich mehr als die sogenannte bloße Perception, also das automatische materielle Funktionieren der Sinnesorgane auch bei abgewandter Aufmerksam66 Der anlässlich eines Vortrags in Göttingen Husserl persönlich kennengelernt und über dessen Forschungen im Verhältnis zur Kunst nachgedacht und korrespondiert hat.
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keit; hier kommt es vergleichsweise zu einem nur mechanischen Kontakt mit der äußeren Welt, einer bloßen Vermischung mit ihr. Die Apperception aber ist dem gegenüber ein Vorgang von gründlicherer, verwandelnder Art, eine chemische Verbindung. Der Sexualakt stellt, unter diesem Winkel gesehen, einen der intensivsten Fälle von Apperception überhaupt dar« (Doderer, 1970, S. 281).
Sich zu »öffnen« fällt (meiner Beobachtung nach) vielen Menschen erkennbar nicht leicht, auch denen, die sich wünschen, dies besser und/oder leichter zu »können«. Zwar werden ein »offener« Dialog oder eine entsprechende Auseinandersetzung vielfach gefordert und Offenheit gegenüber Veränderungen aller möglichen Art nicht allein in der Arbeitswelt beinahe schon vorausgesetzt, doch haben nicht wenige Zeitgenossen oft einige Mühe, die Welt ruhig betrachtend und wahrnehmend auf sich zukommen zu lassen; ein Umstand, der in unserer stark beschleunigten Zeit mit ihren Reizüberangeboten vermutlich noch zunehmen dürfte. So erhebt sich die Frage: Wie viel Zeit gestehen wir uns für das Betrachten der verschiedenen Objekte überhaupt zu? »Wir alle sind trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können?« – konstatiert der Schriftsteller und Essayist Wilhelm Genazino und unterbreitet einen Wahrnehmungsvorschlag: »Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es über die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können. Der gedehnte Blick sieht auch dann noch, wenn es nach allgemeiner Übereinkunft, die schon beim nächsten und übernächsten Bild angekommen ist, nichts mehr zu sehen gibt. Wir können sagen: Erst dann, wenn das gemeine, das verallgemeinerte Auge die Oberflächenstruktur eines Bildes fixiert und das Bild damit ›erledigt‹, das heißt registriert ist, erst dann beginnt die Arbeit des gedehnten Blicks. Diese Arbeit besteht in einer dauernden Verwandlung des Bildes« (Genazino, 2004, S. 42).
Meiner Erfahrung nach lohnt es sich, diese Idee Genazinos zu überprüfen und dabei herauszufinden, welche heilsamen und klärenden Wirkungen von dieser entschleunigten Art des Betrachtens (auch im professionellen Kontext) ausgehen können. Die nachfolgende Übung ermöglicht Ihnen eine solche Überprüfung.
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»Der gedehnte Blick« Lassen Sie sich von einem Objekt »einfangen«. Achten Sie darauf, was Sie »anspricht«, Ihre Aufmerksamkeit bindet. Blicken Sie es länger als gewöhnlich an. Während Sie Ihren Blick auf diese Weise »dehnen«, achten Sie darauf: –– was sich an dem (vielleicht häufig angeblickten) Objekt ändert, was Ihnen jetzt (vielleicht zum ersten Mal) an diesem vermeintlichen Bekannten auffällt, –– welche Empfindungen sich in Ihnen zu regen beginnen, wenn Sie etwas vermeintlich Bekanntes (oder überhaupt etwas) länger als gewöhnlich betrachten. Und fragen Sie sich: –– wie sich die Beziehung zu dem länger (und damit genaueren) Betrachten verändert hat, wenn Sie sich nach einer gewissen Zeit wieder an diese Blickbegegnung erinnern. Wenn Sie jetzt an Ihr Tätigkeitsfeld, Ihre Praxis, Ihre Organisation denken, jetzt (da Sie gerade diese Übung lesen und sich nicht in Ihrem professionellen Kontext befinden), welche Objekte, Personen oder Situationen kommen Ihnen dann in den Sinn? Und von welchen fühlen Sie sich »eingeladen« oder gar aufgefordert, sie mit einem »gedehnten Blick« zu betrachten?
Was Sie im Einzelnen bei der Übung »Der gedehnte Blick« auch wahrgenommen oder erinnert haben mögen, Sie haben mit der in ihr vorgeschlagenen Wahrnehmungsweise den gewohnten und wie selbstverständlichen Bezug zu Ihrer Alltagswelt – das, was Husserl die »natürliche Einstellung« zu ihr nennt – zumindest ansatzweise unterbrochen und damit angefangen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, wie Sie etwas oder jemanden wahrnehmen. Nach meinem Verständnis ist dies die zweite Voraussetzung, wenn man sich die Phänomenologie als Methode erschließen möchte. Es gibt hier keine Entlastung eines vermeintlich »unschuldigen« Auges, das auf das Wahrgenommene nur passiv zu reagieren hat. Dadurch entsteht jedoch auch der Freiraum für einen neuen Blick. Und der kann entscheidend sein, zumal in krisenhaften Situationen, die zum Gutteil auch dadurch entstehen und aufrechterhalten werden, dass an einem vermeintlich »sicheren« und »richtigen« Bild von der Welt festgehalten wird – an demjenigen, das man für selbstverständlich hält.
Exkurs über das Selbstverständliche Man suche nur nichts hinter den Phänomen; sie selbst sind die Lehre. Johann Wolfgang Goethe Dass phänomenologische Methoden und Perspektiven innerhalb des klinischen Kontextes sehr gewinnbringend eingesetzt werden können, zeigt das Werk des Psychiaters und Philosophen Wolfgang Blankenburg, das allmählich auch über die engere Fachwelt hinaus die verdiente Beachtung findet.67 In seiner Schrift »Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« gelangt Blankenburg zu der fundierten Einsicht, dass der Schizophrene durch seine Symptomatik den Verlust jener Selbstverständlichkeit des natürlichen Weltbezugs erfährt, um den sich ein Phänomenologe mit Hilfe von Epoché und Reduktion bemüht. Zugespitzt gesagt: Er steht der Welt, den Menschen und Dingen in einer Weise gegenüber, wie wenn er das mit ihnen Verbundene – die sicheren Konventionen und bestätigenden Assoziationen – erfolgreich eingeklammert und dadurch außer Geltung gesetzt hätte. Die anscheinend selbstverständliche Welt ist ihm vielfach unselbstverständlich, dauernd wie neu, kaum zu begreifen, unsicher, beunruhigend. Das führt dann zu keinem beglückenden Neu-Sehen und tieferen Neu-Verstehen der Welt, sondern zu einer Form verzweifelter Ratlosigkeit (Blankenburg, 1979, S. 133 f., und 2012, S. 81) beim Wahrnehmen und Einschätzen gewöhnlicher Lebenssituationen. Das dadurch erfahrene (Er-)Staunen erweist sich als bedrückend und belastend (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 167 f.) Mit Hilfe seiner phänomenologischen Haltung gelingt es Blankenburg auch Aspekte (außerklinischer) Erfahrung von basaler Selbstverständlichkeit »ins rechte Licht zu rücken«, ohne sie überzubelichten (S. 84). Hierfür steht seine mit subtilem Sprachverstand unternommene Bedeutungs67 Vgl. die Aktivitäten der GPWP (Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche) sowie die verdienstvolle Editionsarbeit des Parodos-Verlages. Charakterisierende Hinweise zu Blankenburgs Denkstil gibt Martin Heinze (Heinze, 2014, S. 33–54). Blankenburg hat auch Vorläufer gehabt, zum Beispiel in Ludwig Binswanger, der mit seinem daseinsanalytischen Ansatz der Phänomenologie innerhalb der Psychiatrie größeres Gewicht gab. Vgl. hierzu die Fallgeschichten in »Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien« (Binswanger, 1960, S. 77–110).
Exkurs über das Selbstverständliche
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analyse der Begriffe »selbstverständlich« und »Selbstverständlichkeit«, also demjenigen, von dem man »in der Umgangssprache [sagt]: die Sache versteht sich. Danach sind nicht wir es, die eine selbstverständliche Sache verstehen, sondern sie selbst ist es, die sich versteht. Diese Redeweise traut der Sache ein Verständnis ihrer selbst zu. […] Derartige sprachliche Wendungen akzentuieren ein vorintentionales Weltverhältnis, das noch nicht auf ein Ich hin gepolt ist. Es herrscht ein Verstehen, das apersonalen, infinitivischen Charakter trägt. Das menschliche Bewußtsein ist nur der anonyme Schauplatz, auf dem sich dies abspielt. […] ›Die Sache versteht sich‹ heißt in Wirklichkeit: es versteht sich, daß es sich so mit ihr verhält. Dieser umwegige Ausdruck bedeutet, daß die Sache bzw. der Sachverhalt in dieses anonyme Verstehen nur eingetaucht ist. Was sich versteht, sind nicht wir, ist auch nicht die Sache bzw. der Sachverhalt, sondern ein beide umspannendes ›Es‹. […] Man sagt für gewöhnlich nicht nur, ›es versteht sich‹, sondern ›es versteht sich von selbst‹. Dieses ›von selbst‹ verweist nicht auf unser Selbst, sondern auf eine anonyme Spontaneität jenseits der unsrigen. […] Das ›von selbst‹ verweist nicht nur auf eine anonyme Spontaneität jenseits der unsrigen, sondern auch darauf, daß das Selbstverständliche nicht eigens einer Begründung bedarf. […] Die Bedeutung von ›selbstverständlich‹ besitzt in der Alltagssprache noch eine weitere wichtige Nuance. ›Etwas ist selbstverständlich‹ meint nicht nur: durch sich selbst verständlich, sondern auch für alle verständlich. Es bedarf deshalb nicht nur keines besonderen Verstehens, das sich ihm eigens zuwendet, sondern auch keiner besonderen Verständigung. Das Selbstverständliche ist dasjenige, was bei jeder Verständigung immer schon als bekannt vorausgesetzt wird, und liegt daher dieser zugrunde. Das bedeutet, daß es zu seinem Wesen gehört, nicht nur erläuterungsunbedürftig, sondern auch weitgehend erläuterungsunfähig zu sein« (2012, S. 99 ff.).
Am Ende seiner (hier ausschnitthaft wiedergegebenen) Analyse stellt Blankenburg drei Fragen, die dem Leser einiges zu denken geben können und die ich daher im Folgenden absatzweise jeweils für sich allein stehend wiedergebe: »Verstehen wir uns auf das Selbstverständliche, weil wir uns untereinander verstehen, oder verstehen wir uns untereinander, weil wir im Gemeinsamen, d. h. uns Selbstverständlichen leben? Bedarf das Selbstverständliche nur deswegen keiner besonderen Verständigung, weil es an den Verstand keine besonderen Anforderungen stellt?
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Oder stellt es an den Verstand keine besonderen Anforderungen, weil darüber ›immer schon‹ Verständigung herrscht?« (S. 101).
Zu den großen Vorzügen einer phänomenologisch-instrumentierten Herangehensweise gehört, die vertraute Welt ganz anders und wie neu sehen zu können. Es gibt hier Verbindungen mit den philosophischen Kompetenzen des Staunens und der Skepsis, insbesondere was die Offenheit des Wahrnehmens und die Frage der Perspektiven betrifft (vgl. Stölzel, Th., 2012). Dem vermeintlichen Selbstverständlichen, das unser persönliches wie berufliches Leben trägt, wird eine Art von Aufmerksamkeit entgegengebracht, die es sonst kaum je erhält: Mit Hilfe eines phänomenologisch inspirierten Blicks kann gerade das Sichere, Verlässliche, Allzubekannte, tausendmal Gesehene so erscheinen, wie es bislang nicht wahrgenommenen worden ist. Das berührt dann auch dasjenige, was für jeden Einzelnen selbstverständlich ist. Diesbezüglich empfehle ich Ihnen die Übung »Den Boden einer Selbstverständlichkeit berühren«, mit der ich die erste Annäherung an die phänomenologische Methode beschließen möchte. Sie ist geeignet, die eigenen Fundamente in anderer Weise zu betrachten und genauer kennenzulernen.
Den Boden einer Selbstverständlichkeit berühren Gehen Sie folgenden Fragen genauer nach: Was erscheint Ihnen besonders selbstverständlich –– in Ihrer Arbeitsweise, –– in der Organisation, in oder für die Sie arbeiten, –– in Ihrem persönlichen Leben? Versuchen Sie herauszufinden, welche Wahrnehmungs-Erlebnisse der jeweils empfundenen Selbstverständlichkeit zugrunde liegen, was Sie dazu gebracht hat, von etwas Selbstverständlichem auszugehen. So, als tasteten Sie den »Boden« von demjenigen ab, was Ihnen völlig sicher und natürlich erscheint. Versuchen Sie dabei, diesen »Grund« genauer kennenzulernen, der Ihnen so selbstverständlich ist, dass Sie ihn (sonst) gar nicht weiter beachten.
Am »Nullpunkt« der Erfahrung Jedes philosophische System, in dem der Körper des Menschen nicht eine grundlegende Rolle spielt, ist dumm und unbrauchbar. Paul Valéry Die deutsche Sprache eröffnet uns eine Möglichkeit, über die andere Sprachen so nicht verfügen. Das betrifft die Unterscheidung zwischen Körper und Leib. Diese beiden Begriffe werden alltagsweise häufig synonym gebraucht, doch lassen sie sich sinnvoll unterscheiden. Diese Unterscheidung ernst zu nehmen und zu beachten, kann das (unmittelbare) Welterleben jedes einzelnen Menschen erheblich bereichern und vertiefen. Betrachten wir sie (und was aus ihr folgt) daher etwas genauer. Der Körper (des Menschen) ist ein relativer, der Leib hingegen ein absoluter Ort, erklärt der Begründer einer Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, der diese Ausgangssituation umfassend erforscht hat (vgl. Schmitz, 1965, 1992, 2005, 2009, 2010, 2011). Bereits zwanzig Jahre, bevor Schmitz seine ersten Leib-Konzeptionen veröffentlichte, erschien mit Maurice Merleau-Pontys »Phänomenologie der Wahrnehmung« jenes Werk, mit dem die Anerkennung der Leibphänomenologie als zentrales Forschungsgebiet innerhalb der »phänomenologischen Bewegung« begonnen hatte.68 Sein Autor wandte sich in ihm jenem »merkwürdig unvollkommen konstituierten Ding« zu, als das Husserl den Leib bezeichnet hatte (Husserl, 1991, S. 159). Husserl war sich der elementaren Bedeutung dieses Themas durch seine jahrzehntelangen Forschungen durchaus bewusst, wollte sich aber mit jenem »Träger von Empfindnissen« (S. 159) genauso wenig beschäftigen wie sein Schüler Heidegger. Das Thema »blieb« sozusagen für andere. Der Begründer der Initiatischen Leibtherapie, der Psychologe und Philosoph Karlfried Graf Dürckheim, hat mit der von Gabriel Marcel entlehnten Formel »vom Körper, den ich habe«, und »dem Leib, der ich bin«, 68 Merleau-Pontys Forschungsrichtung waren die Soma-Reflexionen Paul Valérys (vgl. das Kapitel »Leibliches Denken« in Stölzel, 2011, S. 205 ff.) vorausgegangen, von denen Merleau-Ponty bei seiner Konzeption noch nichts wusste, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht waren.
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eine essentielle Unterscheidung69 gegeben, die in direkter Beziehung zu Schmitz’ räumlicher Differenzierung steht. Für Dürckheim sind damit grundlegende Akzente gesetzt. Es geht dabei auch um so unterschiedliche Tätigkeiten wie haben und sein, also einerseits beim Haben um ein relationales Bezugsverhältnis (»ich habe etwas«), im Sinne von etwas können, über etwas verfügen, mit etwas ausgestattet sein, und andererseits beim Sein (»ich bin«) um den unmittelbaren Ausdruck der persönlichen Existenz(weisen). Das Wort »Körper« leitet sich vom lateinischen »corpus« her, was Masse, Gehäuse und Leichnam bedeutet. Der Körper ist nach Hermann Schmitz dasjenige an uns, was sich durch das Besehen- und Betasten-Können unmittelbar erschließt. Er ist der sichtbare und tastbare Ort, an welchem unser Selbstverhältnis, unsere Selbstbeziehung direkt anschaulich wird. Der Körper ist der kompakte, von einer Haut zusammengehaltene Organismus. »Ein morphologisches Gebilde« oder eine »Regelkreis-Einheit chemisch-physikalischer Vorgänge« (Blankenburg, 2007, S. 203), die zum Beispiel als »Bio-Maschine« von der Medizin quantitativ erfasst oder von der sogenannten Schönheits-Chirurgie nach bestimmten Schemata perfektioniert wird. Der häufig synonym verwandte Begriff »Leib« geht über diese »äußere« Seite des Menschen weit hinaus. Das wird bereits in der Etymologie erkennbar. Das heutige Wort kommt vom althochdeutschen »lîb« oder »lif« und bedeutet Leben, Lebenskraft (vgl. engl. »life«). »Leib« ist in unserer Sprache tief verwurzelt, ein Elementarbegriff, der über ein breites Bedeutungsfeld und über weit mehr Kompositabildungen verfügt (Vgl. Grimm u. Grimm, 1984, Band 12, Sp. 590 ff.) als der Begriff »Körper«. So sprechen wir unter anderem von Leibgericht, Leibschmerzen, Unterleib, Mutterleib, Leibarzt, Leibeigenen, Leibgarde, Leibesfülle, Leibesübungen, Leibesertüchtigungen, Leibeskräften, Leibriemen, Entleibung, Leibchen, Leibdiener, Leibesfrucht, Leibesbeschaffenheit, Leibwäsche oder vom leiblichen Beisammensein. Wir unterscheiden zwischen Oberkörper und Unterleib. 69 Vgl. hierzu die Beschreibung des französischen Philosophen Gabriel Marcel vom »corps que j’ai/corps que je suis« (Marcel, 1978, S. 47) sowie die Differenzierung Max Schelers, der davon ausgeht, dass uns unser Leib in äußerer Erscheinung als »Leibkörper«, in innerer Anschauung als »Leibseele« gegeben sei (Scheler, 1973, S. 249). Vgl. hierzu auch alle körperpsychotherapeutischen Ansätze, die seit Wilhelm Reich entwickelt worden sind (Lowen, Selver, Keleman, Achterberg, Alexander, Bainbridge-Cohen, Büntig, Milz, Hoffman usw.).
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Wir bemerken, jemand sei leibhaftig anwesend gewesen, sei mit Leib und Seele dabei; erklären, es komme darauf an, wie einer leibt und lebt. Verkürzt gesagt, wäre der Körper das, was gesehen, der Leib das, was gespürt werden kann. Dürckheim spricht vom »Spürbewusstsein«, das jemand zu seinem Leib entwickeln kann; Schmitz nennt diese elementare Zugangsweise zu sich selbst »eigenleibliches Spüren«.70 Während unsere Sprache mit »Leib« über einen eigenen Begriff verfügt, um diesen spürbaren »Ort« direkt zu bezeichnen, müssen etwa das Englische oder Französische hier umschreiben (»living body«, »corps vécu«), wobei auch diese Sprachen über sprechende Begriffe verfügen. So das Englische zum Beispiel über den Begriff »nobody«. Jemand (»somebody«), der den Spürzugang zu sich selbst verloren hat, kann sich durchaus wie ein »nobody« fühlen, das heißt, wie ein Fremdkörper vorkommen. Das Wort »body«, das in der englischen Sprache vielfältige Anwendung findet, leitet sich vom altgermanischen »botah« her, das sprachgeschichtlich in direkter Beziehung zum »Bottich« steht, der wiederum eine Nähe zum »Körper«71 aufweist.72 Um den Stellenwert wie die Eigenart jenes besonderen »Orts« – von dem ich hier als einem »Nullpunkt« ausgehe – noch etwas deutlicher zu machen, seien hier drei definitorische Anmerkungen eingeschaltet (die von schmitzschen Konzeptionen angeregt worden sind): 1. Eine anthropologische: »Der Leib ist das lebende Ganze eines Menschen, welches jeder als seine besondere Lebensmitte und sein eigenes Lebensmittel erlebt. Es ist die Versammlungsstätte der eigenen Wahrnehmungen, Bewegungen, Gefühle und Gedanken […] 70 Vgl. Schmitz in T. Fuchs, 2000, S. 73. Schmitz entwickelt eine differenzierte Leibsystematik mit Begriffen wie unter anderem »Leibesinseln«, »Regungsherden«, »Ausleibung«, »Einleibung« (antagonistische, solidarische; vgl. Becker, 2013, S. 247 ff.), legt dynamische Qualitäten, wie »Engung« und »Weitung«, zugrunde und erhebt aufschlussreiche kulturgeschichtliche Befunde (über den Wandel der Beschreibungen von leiblichen Befindlichkeiten bei Homer sowie über die »Konstruktion« einer Psyche), vgl. ausführlich dazu Rappe, 1995, sowie zu den konkreten Anwendungsmöglichkeiten der schmitzschen Konzeptionen Becker, 2013. 71 Ein Systemtheoretiker wie Niklas Luhmann übt sich – was das Phänomen »Körper« betrifft – in einer wohltuenden sokratischen Bescheidenheit, wenn er bekundet: »Was der menschliche Körper für sich selbst ist, wissen wir nicht. Das hindert uns natürlich nicht ›Leben‹ zu beobachten, zu definieren. Verhalten zu antizipieren usw.« (Luhmann, 1987, S. 332). 72 Gabriel Marcel hat darauf hingewiesen, dass über den Zuwachs an Differenzierungen der elementare Zusammenhang nicht zu vergessen sei (1978, S. 49).
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Leib ist eine sich in der Zeit selbstorganisierende, selbsterhaltende, beseelte Gestalt von größtenteils unbewußten, subjektiv empfundenem Geschehen« (Milz, 1998, S. 14 f.).
2. Eine diagnostische: »Die Entfaltung des Menschen in seiner Welt geschieht auf der Basis seiner Leiblichkeit. Ob Menschen sich mit anderen unterhalten, ob sie beim Spazierengehen Wind und Wetter fühlen, ob sie sitzen oder liegen, essen oder trinken, sehen oder hören, es ist immer der Leib, der den Ort des einzelnen in der Welt bestimmt und den Menschen schicksalhaft mit seiner Umgebung verbindet. Sowohl in der Freude wie in der Angst, in der Lust oder im Schmerz ›drängt‹ er sich auf, macht sich bemerkbar. Jeder Mensch erfährt ihn als ›eigenen‹ Leib auf subjektive Weise, die nicht unabhängig von Zeit, Ort und Kultur ist« (Rappe, 1995, S. 13).
3. Eine (pointiert) naturphilosophische: »Der Leib ist die Natur, die wir selbst sind« (Böhme, 2003, S. 63).
Als »Nullpunkt« bildet der Leib den »Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte« (Rudolf Boehm); das Zentrum, um das sich der ego-zentrische Raum entfaltet, der ein absolutes Hier bildet, so dass jede Welterfahrung durch unsere Leiblichkeit vermittelt und überhaupt erst ermöglicht wird. Der Leib ist somit in jedem Verhalten und in jeder Wahrnehmung stets gegenwärtig; er ist unser Standpunkt und Ausgangspunkt – unser »unübersteigbares Referenzsystem […] Das Eichmaß der Gewißheit« (Valéry, zit. nach Stölzel, 2011, S. 206 f.). Kantisch gewendet ist der Leib so etwas wie die grundlegende Bedingung der Möglichkeit, überhaupt eine Perspektive zur Welt einnehmen zu können. Diesem Grundlagencharakter gesellt sich noch ein für das individuelle Erleben wichtiger Aspekt hinzu. Der Umstand nämlich, dass menschliches Leben und Erleben in der dauernden Randgegenwärtigkeit des eigenen Leibes stattfindet. Und der Leib, der den beständig-unauflöslichen Hintergrund unseres Weltbezugs bildet, bleibt uns selbst auf eigentümliche Weise verborgen. Das Wissen, das wir über unseren Leib haben können, ist zugleich ein paradox grundiertes Nichtwissen, da wir ihn nie ganz vor uns selbst bringen können, obwohl er unser unmittelbarster Ausdruck ist. Husserl pointiert das so: »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege« (Husserl, 1991, S. 159). Der Leib hat den Charakter eines beson-
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deren Mediums; er ist zugleich das Mittel und die Vermittlung selbst; er erscheint als »vermittelte Unmittelbarkeit« (Helmuth Plessner); er bildet – zwischen Subjekt und Objekt – eine dritte Seinsweise; eine »Sonderräumlichkeit« (Thomas Fuchs); eine invariable Perspektive, die durch Eigenempfindungen erfahrbar ist und sich eben nicht mit objektivierenden Begriffen zureichend beschreiben oder gar erfassen lässt. Aus diesem Grund kann man den Leib auch »als einen ›blinden Fleck‹ der naturwissenschaftlich objektivierenden Einstellung zur Wirklichkeit bezeichnen« (Blankenburg, 2007, S. 203). Dieser »blinde Fleck«73 gilt nicht allein naturwissenschaftlichen Perspektiven. Eine Gemeinsamkeit zwischen Christentum und traditioneller (akademischer) Philosophie besteht auch in ihrer Leibfeindlichkeit74 oder mindestens in ihrer Leibferne (anders als etwa der Buddhismus, vgl. Depraz, 2012). Mit LeibFeindlichkeit und -Ferne ging vielfach auch eine Abwertung des Weiblichen einher (vgl. Stopczyk, 1998, Gahlings, 2007). Das Weibliche ist dem Leiblichen ja nicht nur lautlich nahe; diese Nähe, die sich markant in der besonderen zwischenleiblichen Kommunikation der sexuellen Begegnung sowie in einer »natürlichen« Konsequenz (Schwangerschaft und Geburt) zeigt, wurde bis weit in die Gegenwart hinein vor allem von klerikalen und rationalistischen Seiten abgewertet und bekämpft, was den »blinden Fleck« erheblich vergrößert hat. Ein für unsere Zeit so folgenreicher Denker wie Nietzsche ist bereits zu seiner Zeit »den Verächtern des Leibes« polemisch entgegengetreten und hat mit seiner Konzeption des Leibes als »großer Vernunft« eine emphatische Aufwertung betrieben (Nietzsche, 1968, S. 35 ff.). Ich möchte Ihnen nach diesen Differenzierungs- und Bestimmungsversuchen nun mit der nächsten Übung die Möglichkeit geben, den besonderen »Ort« des – Ihres – Leibes bewusster wahrzunehmen und persönliche »Wiederbeleibungsversuche« (Helmut Milz) zu unternehmen. 73 Vgl. hierzu die Ausführungen in dem Kapitel »Unaufmerksamkeitsblindheit«. 74 Das gilt auch für militärisch-diktatorische Systeme, die an keinem entwickelten Leibbewusstsein interessiert sind: »›Brust heraus – Bauch herein …‹ Ein Volk, bei dem dieser Spruch zu einer allgemeinen Anweisung werden konnte, ist in großer Gefahr – so sagte mir ein Japaner im Jahre 1938 […] Wo sich der Schwerpunkt ›nach oben‹ verlagert und die Mitte abgeschnürt wird, wird auch das natürliche Verhältnis von Spannung und Lösung durch ein Mißverhältnis verdrängt, das den Menschen in ein Hin- und Herwechseln zwischen Verspannung und Auflösung treibt« (Dürckheim, 1970, S. 11).
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Den Leibrand wahrnehmen Reservieren Sie kleine Zeiteinheiten in Ihrem Alltag, an denen Sie mit Hilfe von Aufmerksamkeits-Sonden Ihre persönliche leibliche Konstitution erkunden. Verwenden Sie hierfür zum Beispiel folgende Aufmerksamkeits-Sonden: Wo spüre ich mein leibliches Zentrum? Kann ich es an einem Ort lokalisieren? Oder gibt es mehrere Orte, an denen ich es spüre, an denen es sich lokalisieren lässt? Wie fühlt sich mein leibliches Zentrum an? Welche Bilder, Empfindungen stellen sich ein, wenn ich mich diesem Zentrum meiner selbst spürend – also den sich unmittelbar einstellenden Regungen – behutsam annähere? Wenn Sie etwas Erfahrung mit diesem Spürzugang gewonnen haben, können Sie als zweite Sonde einen anderen Bereich Ihres Leibes erkunden. Jene Orte und Zonen, an denen Sie gewissermaßen »aufhören« oder »anfangen«, die den Rand Ihrer leiblichen Empfindungen bilden. Richten Sie Ihr (er-)spürendes Bewusstsein auf diese Bereiche. Wie fühlt sich das an? Welche Bilder, Empfindungen stellen sich hier ein? Reicht das, was Sie spürend wahrnehmen können, über die Haut (die ja zumindest den Rand Ihres Körpers bildet) hinaus? Welche Regungen können Sie an sich wahrnehmen, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf diese Regionen Ihres Leibes ausrichten, sie spürend durchwandern? Wie fühlt sich von »hier« aus Ihre jetzige unmittelbare Umgebung an? Wie nehmen Sie Lebewesen und Gegenstände wahr? Wie empfinden Sie von »hier« aus die Welt, von der Sie ja ein Teil sind?
Unabhängig davon, was Sie, bei dieser Übung »Den Leibrand wahrnehmen«, auch im Einzelnen von sich selbst wahrgenommen, gespürt oder empfunden haben mögen, so sind Sie – unmittelbar – mit einer existentiellen Dimension Ihres (Er-)Lebens in fühlbaren Kontakt gekommen. Mit einer Dimension, die sowohl für die ärztliche wie auch die philosophische Betrachtung von elementarer Bedeutung ist: dem Befinden. Dieses ist ein sprechender Begriff, und das für die Alltags- wie auch für die therapeutisch-beraterische Kommunikation oder das Coaching. Erkennbar wird das an gesprächseröffnenden Fragen des Typs: »Wie geht es Ihnen?«; »Wie befinden Sie sich?«; »Was haben Sie?«, die alle die Gesamtverfassung einer Person erkunden wollen, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Erkundigt sich die erste Frage nach der Lebensbewegung des Einzelnen, löst die zweite (will man ehrlich antworten) einen Suchprozess aus, während die dritte etwas dinglich Feststellbares erfragt. Dieser dritten Frageform begegnet man bei stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Ärzten oder Therapeuten häufig, die sich an messbaren oder leicht klassifizierba-
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ren Parametern (DSM) orientieren, mit deren Hilfe sie etwas schwer Greifbares wie das leiblich spürbare Selbstgefühl eines Menschen zu handhaben versuchen. Doch »fehlt« den »Medizinern noch völlig eine Theorie des Befindens […] der Befindensweisen«, konstatierte bereits vor einiger Zeit ein phänomenologisch arbeitende Internist (Plügge, 1962, S. 73). Viele seiner Kollegen, meint Plügge, wollten sich nicht lange bei dem Befinden ihrer Patienten aufhalten und suchten möglichst rasch nach einem Befund. Ihrem objektivistischen Weltbild zufolge neigten sie »zu der Ansicht, das Befinden könne trügen, der Befund jedoch nicht« (S. 73), während sich die leibphänomenologisch-orientierten Ärzte, Therapeuten, Berater und Coaches gerade auf das Erstere ausrichten. Was hat es mit dem so unterschiedlich bewerteten Befinden auf sich? In seinem ersten Hauptwerk »Sein und Zeit« hat Heidegger die Befindlichkeit (des Menschen) genauer zu bestimmen versucht. Er bringt sie in direkte Beziehung zu etwas ähnlich schwer Greifbaren: der Stimmung. Was der Einzelne auch jeweils wahrnehmen, tun oder denken mag, stets ist er auf die eine oder andere Weise gestimmt, bisweilen auch verstimmt. »Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ›Außen‹ noch von ›Innen‹, sondern steigt als Weise des In-derWelt-Seins aus diesem selbst auf« (Heidegger, 2006a, S. 136). So verstanden, wäre die Befindlichkeit die Weise des persönlichen In-derWelt-Seins, wie es leiblich erfahrbar ist. Das Wort »Befinden« drückt eine Suchbewegung, einen heuristischen Impuls aus, mit dessen Hilfe der Einzelne spürend erkunden kann, wo und wie er sich leiblich befindet. Entscheidend ist hierbei der Prozess des Sich-selbst-Näherkommens. Ein geübter und achtsamer Erkunder dieser oft sehr subtilen Prozesse des Sich-selbst-Näherkommens ist der Philosoph und Psychologe Eugene T. Gendlin. Seine, nahezu zeitgleich mit den LeibKonzeptionen von Schmitz entwickelte Methode »Focusing« (Gendlin, 1962) stellt eine auf ein »sinnhaftes Leibgefühl (bodily felt sense)« ausgerichtete Erlebensphilosophie dar (Gendlin, 1993, S. 700). Mehr als um die Befindlichkeit75 des Einzelnen geht es hier um die spürende Erkundung des inneren, leiblich grundierten Erlebens (»experiencing«). So erweist sich beim »Focusing« der Weg häufig als aus75 Vgl. hierzu Gendlins Studie »Befindlichkeit. Heidegger and the Philosophy of Psychlogy« (1978).
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sagekräftiger, weiterführender und wichtiger als das (ursprüngliche) Ziel. Denn unser Leib kann – wie Gendlin in jahrzehntelanger Forschungsarbeit76 herausgefunden hat – »Erfahrungen verschiedenster Art verfeinern und uns jederzeit etwas Neues geben, einen neuen subtileren Schritt« (S. 706). Es ist ein Prozess erhöhter Aufmerksamkeit für die leiblich spürbaren Regungen. Das achtsame, prozessbezogene Zustande-kommen-Lassen von Klarheit, wenn sich neben Empfindungen auch Worte einstellen. »Wissen Sie«, fragt Gendlin, »wie die Worte kommen?«, und gibt sogleich selbst die Antwort: »Wir öffnen unsere Münder und erwarten sie […] Dieses Kommen ist charakteristisch für den Leib […] Der Schlaf kommt so, und der Appetit […] Tränen kommen so, und der Orgasmus77« (S. 695). Wenn Gendlin den Leib »befragt«, was dieser dazu »sage«, was jemand gerade denkt, fühlt, will, dann initiiert er einen inneren Dialog als leibliches Selbstgespräch. Der Leib wird dadurch zu einem Dialogpartner, »der ein gewichtiges Wort mitzusprechen hat, auf den man hören lernen sollte, ohne ihm freilich hörig zu werden« (Blankenburg, 2007, S. 213). Die Ausführungen dieses Kapitels könnten (oberflächlich betrachtet) den Eindruck entstehen lassen, die Beschäftigung mit den leiblichen Empfindungen, mit dem Erkunden des persönlichen Befindens, sei eine privatistische Angelegenheit, ohne Einfluss auf die berufliche Umwelt. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn der Dialog mit dem eigenen Leib kann eine Partnerschaft begründen, die denjenigen, der sich darauf einlässt, eine andere Fundierung in der eigenen Person finden lässt. Der Einzelne kann damit eine weit stabilere Festigkeit in krisenhaften Situationen entwickeln und durch eine erhöhte Durchlässigkeit für sich selbst eine größere Empathie für andere (Mitarbeiter, Kollegen) erreichen. Diese Form einer leibphänomenologischen Selbstsorge (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 118 ff.) trägt wesentlich zu einer Verbesserung der Fremdsorge bei. Nicht zuletzt deswegen möchte ich Ihnen die nachfolgende Übung nahelegen. 76 Ich kann hier die komplexen und subtilen Interventionen Gendlins sowie seine philosophischen und psychologischen Voraussetzungen nicht angemessen darstellen und muss mich darauf beschränken, Hinweise zu geben. Näheres zum »Focusing« als Therapiemethode erfahren Sie bei Gendlin, 1962, 1964, 1978, 1993, 1994, 1999. Vgl. außerdem Renn, 2006; Wiltschko, 2008). 77 Eine gedrängte leibphänomenologische Betrachtung dieses unwillkürlichen, ekstatischen Erregungsge-schehens gibt Schmitz, dabei die männliche Perspektive übersteigend (2005, S. 150 ff.).
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Der Leib als (Dialog-)Partner Vergegenwärtigen Sie sich eine Situation, die Ihnen »Bauchschmerzen« bereitet. Ein Konflikt im Team oder in der Organisation, für die Sie oder in der Sie arbeiten. Nehmen Sie Fühlung mit Ihrem leiblichen Empfinden auf. Achten Sie auf die Regungen, die sich (jetzt) zeigen und »melden«. Welche Impulse (oder Tendenzen) können Sie wahrnehmen? Welcher erscheint Ihnen (jetzt) am wichtigsten? Welche Handlung legt er Ihnen nahe? Zu was fordert er Sie auf? Wie reagiert Ihr Leib, wenn Sie dieser Aufforderung (jetzt) nachkommen? So als sei diese Aufforderung wie ein in einen See geworfener Stein, der eine Bewegung erzeugt, die Sie mit Ihrem Leib deutlich spüren können? Betrachten Sie nach einiger Zeit wieder Ihre Ausgangsempfindungen, Ihre »Bauchschmerzen«. Was ist mit ihnen geschehen? In was haben diese sich (möglicherweise) verwandelt? Was können Sie (jetzt) von ihnen bemerken? Achten Sie darauf, wie sich Ihr Befinden verändert, wenn Sie auf diese Weise auf sich selbst aufmerksam werden.
Von der durch die Übung »Der Leib als (Dialog-)Partner« verfeinerten Aufmerksamkeit kann man zurückschwenken auf eine allgemeine Erkundung der beständigen Lebenspartnerschaft, die man zu seinem Leib und seinem Körper unterhält, mit dem man ja ununterbrochen in der Welt unterwegs ist. Kann genauer erfahren, was es bedeutet, sich mit dem besonderen Gefäß des eigenen Körperleibs in den verschiedenen Räumen78 aufzuhalten. Der Autor Paul Auster, der zu ergründen versucht, was es bedeutet, in und mit seinem Körper zu leben und dabei auch eine »Phänomenologie des Atmens« (Auster, 2013, S. 7) unternehmen will, bringt sich zu seinem Körper in einen Abstand (erkennbar durch die zweite Person Singular in der Beschreibung). Er vergegenwärtigt sich und dem Leser Momente konkreter körperleiblicher Anwesenheit in seiner Welt: »Dein Körper in kleinen und großen Räumen, dein Körper, der Treppen hinauf- und hinuntergeht, dein Körper, der in Teichen, Seen, Flüssen und Meeren schwimmt, dein Körper, der über schlammige Äcker trampelt, dein Körper, der im hohen Gras einsamer Wiesen liegt, dein Körper, der durch die Straßen geht, dein Körper, der sich Hügel und Berge hinaufquält, dein Körper, der auf Stühlen sitzt, auf Betten 78 Vgl. hierzu die subtilen Analysen von »Leibraum und Umraum«, die Thomas Fuchs in seinem »Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie« unternimmt (T. Fuchs, 2000, S. 109 ff.).
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liegt, sich an Stränden räkelt, Wälder, Weiden und Wiesen durchwandert […] unter Duschen steht, in warme Bäder steigt, auf Toiletten sitzt, in Flughäfen und Bahnhöfen wartet, in Aufzügen fährt, sich in Busse und Autos zwängt, ohne Schirm durch Hagelstürme geht […] Kanu auf Flüssen fährt, Boote über Seen rudert, an Küchentischen isst […] sich auf Sesseln zurücklehnt, die Beine auf Stühle und Tische hochlegt, während du in Notizbücher schreibst, sich über Schreibmaschinen beugt […] Synagogen und Kirchen betritt, sich in Schlafzimmern, Hotelzimmern und Umkleidekabinen aus- und anzieht […] im Gras Purzelbäume schlägt, in Swimmingpools springt, langsam durch Museen schreitet […] die unterschiedlichen Empfindungen beim Gehen auf Holzböden, Zementböden, Fliesenböden und Steinböden wahrnimmt, die unterschiedlichen Empfindungen beim Gehen auf Sand, Erde oder Gras« (Auster, 2013, S. 67 ff.).
Die Vielfalt der Erfahrungsweisen – die Auster kataloghaft aufblitzen lässt – schärft den Zugang zu der Meta-Erfahrung, wie es sich anfühlt, auf der Welt zu sein, sich leiblich in ihr zu bewegen. Sie macht auch den Wechsel der Beziehungen erfahrbar, in welchen der Körper wahrgenommen werden kann: »Einmal ist er Medium, unbewußter Mittelpunkt der Existenz, dann ist er Instrument oder sogar Hindernis, einmal ist er Zustand, dann wieder Gegenstand« (T. Fuchs, 2000, S. 127). Die Arbeit von Therapeuten, Beratern und Coaches kann erheblich von den (im Wortsinne) grundlegenden Perspektiven der Leibphänomenologie profitieren. Eine Orientierung am »Leitfaden des Leibes« (Nietzsche, 1974, S. 289) macht die Dynamiken und Interaktionen in einem Menschen unmittelbar erfahrbar. Denn, so fragt Valéry in seinen Soma-Reflexionen, »was wäre so mancher Gedanke, hätte er nicht eine Kehle, die er zuschnüren, eine Drüse, die er entleeren, einen Kopf, den er erhitzen, einen Atem, den er ins Stocken, Hände, die er zum Zittern, Glieder, die er zum Erstarren bringen könnte« (zit. nach Stölzel, 2011, S. 207). So besteht eine wichtige Ausrichtung einer praktischen philosophischen Arbeit auch darin, den eigenen Leib (genauer: den Umgang mit ihm) zu einem besonderen Erkenntnisorgan weiterzuentwickeln. Auf dieser Grundlage kann den Herausforderungen therapeutisch-beraterischer Kommunikation sowie des Coachings ganz anders begegnet werden.
Systemaufstellungen – eine Anwendungsform der Phänomenologie? Die Praxis stört die Theorie. Bert Hellinger Gunthard Weber, der die Aufstellungsarbeit (insbesondere den Hellingerschen Ansatz79) von Anfang an begleitet, kommentiert, angeregt und zugleich als einer seiner Hauptpopularisatoren gewirkt hat (das von ihm herausgegebene Grundlagenbuch »Zweierlei Glück« erreichte zwischen 1993 und 2010 16 Auflagen), beschreibt in einem unlängst erschienenen Lexikonartikel das Verfahren folgendermaßen:
»Als Aufstellungen bezeichnen wir im Beratungs- und Therapiebereich genutzte szenische Verfahren, in deren Rahmen innere Bilder von Systemen oder Systemteilen externalisiert und meist mit Hilfe von Stellvertretern im Raum aufgestellt und so der Betrachtung sowie Interaktion zugänglich gemacht werden« (2012, S. 32 f.).
Als methodische Vorläufer benennt Weber das Psychodrama, die Familienskulptur (vgl. Schlippe u. Schweitzer, 2007, 2012) und das Familienbrett. Die Aufstellungsarbeit »nahm ihren Anfang mit den Familienaufstellungen«, dem »am meisten verbreiteten Anwendungsbereich« (Weber, 2012), welche Hellinger ab 1980 methodisch zu entwickeln begann. Zu eigenständigen Varianten wurden unter anderem die Systemischen Strukturaufstellungen (Sparrer, Varga von Kibéd), die Organisationsaufstellungen (Weber u. a.), die Managementaufstellungen (Rosselet, Senoner), autopoietische Aufstellungen (Essen), Drehbuchaufstellungen (Varga von Kibéd) sowie politische, juristische oder Arzneimittel-Aufstellungen, die in offenen oder verdeckten Konstellationen durchgeführt werden. Zum Stellenwert des Verfahrens sowie zum methodischen Vorgehen merkt Weber an:
79 Zur Abstandnahme von Hellinger seitens der SG und zu Webers Haltung dazu vgl. Potsdamer Erklärung in Weber, Schmidt u. Simon, 2005, S. 139.
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»Man kann sich das Verhältnis des aufgestellten Systems zu dem tatsächlichen System wie das Verhältnis einer Landkarte zu einer Landschaft vorstellen. Das Gezeigte bedarf jedoch oft der Interpretation und der Einordnung in einen sinnstiftenden Zusammenhang. Allein aus den Wahrnehmungen der Stellvertreter Aussagen mit Wahrheitsanspruch über das reale System zu konstruieren, führt oft in die Irre […] Den ersten Abschnitt einer Aufstellung kann man als hypothesenverdichtenden Prozess betrachten, durch den bestimmte Zusammenhänge bestätigt werden und neue aufleuchten. Der zweite Teil dient vor allem den Aufzeigen von Veränderungsund Lösungsmöglichkeiten […] Hier geht es um das Sichtbarwerden sinnstiftender Zusammenhänge und Wechselwirkungen und das Anstoßen und Testen neuer Denk-, Fühl- und Verhaltensmöglichkeiten« (Weber, 2012, S. 34 f.).
Gunthard Weber hat dem Buch »Zweierlei Glück« den Untertitel »Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers« gegeben. Man kann das als einen Versuch ansehen, Hellingers Verfahren (wie das Familien-Stellen) in das Feld des Systemischen zu integrieren. Dieser Versuch löste bei anderen Systemikern (zum Beispiel bei Fritz B. Simon, Arnold Retzer) heftige Abgrenzungsbewegungen aus und führte zu der Unterscheidung in systemisch-konstruktivistische (für die Vertreter der sogenannten Neuen Heidelberger Schule) versus systemisch-phänomenologische Zugangsweisen (für die Systemaufsteller, die sich auch an konstruktivistischen Ideen orientierten, vgl. Weber, 2000). Eine mit beiden Zugangsweisen vertraute Therapeutin wie Insa Sparrer hat beide Zugangsweisen sorgfältig miteinander verglichen und deutlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede festgestellt (Sparrer, 2001). Sie bringt dabei Wittgensteins Ansatz einer »operativen Phänomenologie« (Kurt Wuchterl)80 in Verbindung mit Husserls transzendentalem Ich: »Der Unmittelbarkeit der Wesensschau bei Husserl entspricht bei Wittgenstein die Unmittelbarkeit der Sprachhandlung, wenn auch Husserl den Prozess dorthin vom Subjekt aus beschreibt und Wittgenstein mit seiner Sprachspieltheorie einen Interaktionsbegriff zugrunde legt« (2001, S. 73). Subtiler und reflektierter als so manche Systemaufsteller (die eine Wahrheit hinter ihren »phänomenologischen« Wahrnehmungen zu erkennen meinen) zeigt Sparrer für den therapeutisch-beraterischen Rahmen 80 In seinem »Tractatus« deduziert Wittgenstein in der Proposition 6.521 in einem phänomenologischen Gestus, wenn er schreibt: »Dies zeigt sich« (Wittgenstein, 1971, S. 115; Hervorhebung T. S.).
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Grenzen auf: »Phänomenologisch wahrnehmen bedeutet nicht, die ontologische Wirklichkeit zu erfassen, sondern die in der Wahrnehmung enthaltenen subjektiven Begriffsbildungen, Urteile und Färbungen, die durch unsere Erfahrungen und Vorstellungen geprägt worden sind, zu minimieren« (S. 79 f.). Phänomenologische wie konstruktivistische Ansätze beschäftigen sich beide wesentlich mit der Frage, wie es möglich (geworden) ist, dass wir die (unsere) Welt so wahrnehmen, wie wir sie eben wahrnehmen. Bewertungen der Art »dies ist richtig« und »dies ist falsch« sind für Phänomenologen wie für Konstruktivisten gleichermaßen unverträglich. Wobei im »Konstruktivismus […] eher die Handlung des Wahrnehmenden betont, in der Phänomenologie der Interaktionsprozess zwischen Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen hervorgehoben« wird (S. 95). Matthias Varga von Kibéd, der gemeinsam mit seiner Frau Insa Sparrer die sehr reflektierte und enorm variantenreiche Vorgehensweise der Systemischen-Strukturaufstellungen entwickelt hat (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2002), geht davon aus, dass Aufstellungen keine Methoden, sondern eine »transverbale« Sprache seien. Diese zu erlernen und zu handhaben, bedürfe fortgesetzter intensiver Bemühung (Varga von Kibéd, 2005, S. 245 f.) und eine Integration von konstruktivistischen wie phänomenologischen Vorgehensweisen mit systemisch-lösungsorientierten Ansätzen (de Shazer, Kim Berg). Ein Kernelement der Arbeit von Sparrer und Varga von Kibéd bildet die »repräsentierende Wahrnehmung«,81 durch welche Erkenntnisprozesse auf anschauliche Weise verräumlicht werden können. Fritz Simon, der sich als jemanden beschreibt, der Aufstellungen kritisch gegenübersteht, hat die Plätze der Stellvertreter (wissenschaftlich) untersuchen lassen. Mit dem Ergebnis: »Es gibt große Übereinstimmungen des Erlebens abhängig von der Position und unabhängig von der Person. Also, das Phänomen, das ›repräsentierende Wahrnehmung‹ genannt wird, ist verifizierbar oder zumindest nicht falsifizierbar« (Simon, 2005, S. 197). Bert Hellinger hat seine Vorgehensweise »als phänomenologischen82 Erkenntnisweg« bezeichnet und sich wiederholt (Hellinger und ten 81 Mit der Varga von Kibéd sehr methodenbewusst umgeht (vgl. Varga von Kíbed, 2005, S. 222 ff.). 82 »Der Begriff oder die Bezeichnung ›phänomenologisch‹ wird ziemlich unterschiedlich und inflationär benutzt. Ich selbst benutze diese Bezeichnung für meine Aufstellungsarbeit nicht« (Weber, 2005, S. 174).
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Hövel, 1996; Hellinger, 2000, 2001) zu phänomenologischen Haltungen und Positionen geäußert. Seine Position steht dabei der seinstheologischen Ausrichtung83 Heideggers deutlich näher als den perzeptiven Modellen Husserls. Methodologisch betrachtet, kann man Hellingers Vorgehen nur als eingeschränkt »phänomenologisch« (im Sinne Husserls) beschreiben. Er teilt zwar manche Momente einer durch epoché bestimmten (Urteils-)Enthaltung (ohne diese Referenz eigens zu benennen), glaubt jedoch, er werde dadurch bereits so »wahrnehmungsfähig und wahrnehmungsbereit«, dass er das »Wesentliche« erkennen könne, das »aus dem Verborgenen plötzlich […] wie ein Blitz« auftauche (Hellinger, 2000, S. 191, 194). Er scheint davon auszugehen, gerade mit Hilfe seiner »religiösen Phänomenologie« ein »größeres Ganzes« erfassen zu können (S. 197). Dieser Sichtweise gegenüber erweisen sich die Haltungen konstruktivistisch-lösungsorientiert arbeitender Aufsteller, wie Insa Sparrer, Matthias Varga von Kibéd und auch Gunthard Weber, geradezu konträr. Weber betont: »Daß ich auf diese Weise [die phänomenologische] aber etwas ›wirklich Wirkliches‹ oder Wahres wahrnehmen kann, davon gehe ich nicht aus« (Weber, 2005, S. 178). Wie stark von (Vor-)Bildern oder impliziten Theorien geprägt Hellingers vermeintlich phänomenologische Haltung mitunter ist, gibt zum Beispiel seine paradigmatische Äußerung84 zu erkennen: »Wenn ich zuvor kein Bild habe, stelle ich erst gar nicht auf« (Hellinger zit. nach Varga von Kìbed, 2005, S. 220). »In der Strukturaufstellungsarbeit würden wir hier das exakte Gegenteil vertreten, also: ›Wenn ich vorher ein Bild habe, stelle ich (noch) nicht auf‹, sondern [wir] halten es mit Steve de Shazers Empfehlung: ›Wenn dir eine Interpretation einfällt, nimm eine Aspirin, setz dich in die nächste Ecke und warte, bis der Anfall vorbei ist‹« (S. 220). Und Gunther Schmidt, von dessen multifokalem, hypnosystemischem Ansatz die Strukturaufstellungsarbeit viele wich83 Husserl konnte in der fundamental-ontologischen Haltung seines ehemaligen Schülers keine phänomenologische Ausrichtung mehr erkennen. Bei allem Abstand zur Amtskirche blieb Heidegger aufgrund seiner Sozialisation doch auch ein »katholischer« Denker wie auch Carl Schmitt. 84 An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass viele der heutigen Hellinger-Kritiker wie auch die ehemaligen Proselyten, die sich jetzt nachdrücklich von ihm distanzieren, die innovativen und mutigen Aspekte seiner Arbeit nicht (mehr) erwähnen, ebenso wie die Momente und Interventionen, in denen er nicht ideologisch, selbstgerecht oder »wissend« aufgetreten ist, sondern durch sein entschiedenes Vorgehen viele Menschen nachhaltig unterstützt hat.
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tige Anregungen erfährt (vgl. Varga von Kibéd, 2005, S. 219), erklärt: »Ich gehe also, anders als Bert Hellinger, davon aus, daß ich niemals sehen kann, ›was ist‹, sondern davon, daß ich eben nur sehe, was ich in meiner eigenen ›Wahrgebung‹, also meiner autopoietischen Realitätskonstruktion entwerfe« (Schmidt, 2005, S. 218). Eine wichtige, klärende und differenzierende Arbeit leistet hier ein auf die (ehemaligen) Stierlin-Schüler zurückgehendes kommentiertes Seminartranskript (Weber, Schmidt u. Simon, 2005), das durch einen Metakommentar von Matthias Varga von Kibéd ergänzt worden ist. Es verbindet vier Autoren und vier Perspektiven, die den besonderen Möglichkeiten der Aufstellungsarbeit gegenüber unterschiedlich offen oder kritisch, nah oder fern stehen. Es ist der Versuch einer Versachlichung im Umgang mit einer »innovativen und wirkungsvollen Beratungsmethode« und der Ausstieg »aus dem Entweder-Oder-Muster85 der totalen Anhänger- oder Gegnerschaft« (S. 10). Es dient auch der Vorbereitung einer reflektierten Übungssicht, wie ich sie hier vorschlagen möchte. Dabei geht es darum, die Möglichkeiten, welche die epoché und die phänomenologische Reduktion bieten, wirklich auszuschöpfen. Denn entscheidend für jeden System-Aufsteller (unabhängig davon, wie er sein Vorgehen jeweils gestaltet) ist: sich seiner persönlichen »Scheuklappen«, sprich seiner individuellen Realitätskonstruktionen, möglichst genau, umfassend und klar, sozusagen mit erhöhter Deutlichkeit, bewusst zu werden – und bewusst zu bleiben. Diese kritische Selbstaufmerksamkeit kann zu keiner Zeit an ihr Ende kommen. Hierin gibt es keine Meisterschaft,86 sondern nur die fortgesetzte Bemühung sowie 85 Das (Medien-)Phänomen Hellinger zuzüglich aller unterschiedlichen Rückkoppelungsschleifen sowie eine angemessene Einschätzung und die Ermöglichung eines dritten Blickes wären einen Exkurs wert, der hier jedoch aus Platzgründen unterbleibt. Als Desiderat besteht er jedoch weiterhin. Ein erster Schritt dazu wäre die gleichberechtigte Präsentation konträrer Haltungen. Das versucht die »Diskussion um Bert Hellinger«, die in Form von drei Beiträgen unterschiedliche Positionen sachkundiger Interpreten (Eva Madelung, Ulrich Freund, Insa Sparrer) zur Person und Methode Hellingers versammelt (Trenkle, 1997, S. 105–137). 86 Die Sehnsucht nach einem Meister ist mir stets als der infantile Impuls vorgekommen, ein ideales Vater- oder Mutterimago finden zu wollen. So, wie ich in unterschiedlichen Seminarkontexten den Eindruck gewonnen habe, viele Teilnehmer suchten in den Seminarleitern bessere Eltern(figuren), denen sie dann guten Gewissens nachfolgen können. Ein Teil (der unguten) Wirkungen Hellingers ist auch auf diese Bereitschaft der gläubigen Nachfolge seiner »alten Kinder« zurückzuführen.
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den Mut (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 208 ff.) und die Bereitschaft zu entsprechender Selbst-Prüfung. Die Bereitschaft dazu finde ich bei vielen System-Aufstellern nicht sonderlich ausgeprägt. Das ist bedauerlich. Sie verdünnen damit das Potential dieses durchaus sehr aufschlussreichen Verfahrens und bringen ihre Methoden selbst in Misskredit. Zugespitzt gesagt: Mir erscheint die Aufstellungsarbeit noch zu wenig phänomenologisch (im Husserlschen Sinne), unabhängig davon, ob einzelne Praktiker dieses Attribut nun beanspruchen oder nicht. Denn Aufstellungen haben – wie auch immer man an sie heran- oder mit ihnen umgeht – viel mit gesteigerter Wahrnehmungstätigkeit, mit entwickeltem Wahrnehmungsvermögen und (nicht selten) mit ungewöhnlichen Wahrnehmungserfahrungen zu tun. Und als philosophische Disziplin, deren erklärtes Ziel es ist, den Menschen als Wahrnehmungswesen gründlich zu erforschen, können phänomenologische Erkenntnisse den Systemaufstellern hier einiges zur methodischen Verbesserung wie zur Selbst-Supervision anbieten. Das beginnt beim konkreten Tun. Beim Einüben der phänomenologischen Reduktion und bei der Praxis der epoché. Das zeigt sich – paradigmatisch – am jeweiligen Einzelfall, genauer in der Frage: inwieweit jeder Mensch einen Einzelfall darstellt und folglich auch aufstellend so behandelt werden sollte. Das EinzelfallSein jedes Menschen verlangt vom Aufsteller (wie von jedem Therapeuten, Berater, Coach und Organisationsentwickler), dass er mit seinem professionellen Wissen so umgeht, dass es ihm im Umgang mit dem anderen nicht im Wege steht und er den anderen nicht (notwendig) so behandelt, wie er zuvor andere behandelt hat (auch wenn sich dies als gut und passend erwiesen hat). Das ist nicht einfach. Das ist sogar sehr schwer, Und so sieht man (nicht zu wenige) immer wieder in die Fallen ihres vermeintlichen Bescheidwissens tappen. Die Falle hat einen wissenschaftlichen Namen: Sie heißt »Induktionsproblem« (vgl. Stölzel, 2010a, S. 12 f.) und verführt dazu, mit dem Neuen, Aktuellen, Jetzigen so umzuspringen, wie man es früher mit ähnlich Scheinendem (erfolgreich) getan hat, so dass sich im Laufe der eigenen Professionalisierung jenes vermeintlich sichere Wissen gebildet hat, dessen Zustandekommen in der Regel unbemerkt vor sich ging. Die phänomenologische Reduktion erweist sich als eine wirksame Maßnahme, die eigenen unbemerkten Dogmatismen sichtbar zu machen. Das ist der Ort, an dem Phänomenologie und Skepsis (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 248 ff.) ineinander übergehen, wo »mehr epoché
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im Sinne der antiken Skepsis sicher eine systemischere Haltung« ausmacht (Varga von Kibéd, 2005, S. 249) und ein lethologisches Bewusstsein (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 220 ff.) entwickeln hilft. Ich möchte das mit Hilfe der Gegenüberstellung in Tabelle 2 deutlich machen. Tabelle 2: Gegenüberstellung ideologischer versus lethologischer Aufstellungspraxis ideologische Aufstellungspraxis
lethologische Aufstellungspraxis
von unhinterfragten (oft verdeckten) Gewissheiten ausgehend
sich des grundlegenden, persönlichen Nichtwissens bewusst
von bestimmten (nicht jedem zugänglichen) Ordnungsideen ausgehend
den jeweiligen Einzelfall als Einzelfall behandelnd
eher festgelegtes Vorgehen
methodisch geschmeidiges Vorgehen
kaum Bewusstsein für die (subtilen) Fallen des Induktionsproblems
sich der (subtilen) Fallen des Induktionsproblems bewusst
an inneren Ordnungsvorstellungen orientiert
am Staunen83 orientiert
sich im Besitz der (richtigen) Lösung wähnend
offen für das, was durch die gemeinsame Arbeit entsteht
Es ist klar, dass die beiden in der Tabelle dargestellten Praxisformen Zuspitzungen gegensätzlicher Tendenzen darstellen und sich viele Systemaufsteller sozusagen »dazwischen« befinden, mehr der einen oder anderen Tendenz zuneigend. Es ist jedoch unverzichtbar, ein Minimum an lethologischem Bewusstsein zu entwickeln. Dabei kann die nächste Übung dienlich sein.
Vor dem Aufstellen Es erweist sich als hilfreich, vor Beginn die Übung »Erkundung eines Gegenstands« (S. 107) nochmals durchzulesen bzw. sich die dort gemachten Erfahrungen (vielleicht anhand des phänomenologischen Protokolls) wieder zu vergegenwärtigen. Das vergrößert die Wirkung. Reservieren Sie sich für die Übung wenigstens eine halbe Stunde. Sorgen Sie dafür, dass Sie ganz ungestört und ganz mit Ihrem persönlichen Prozess beschäftigt sein können. Gönnen Sie sich als Einstieg eine Phase ruhiger Selbstwahrnehmung. 87 Hierbei ist das sekundäre, das Staunen der Erwachsenen gemeint (vgl. Stölzel, 2012, Th., S. 124 f., 142 f.). Ich habe in einer vorherigen Veröffentlichung (siehe Stölzel, Th. 2010a) auf die Bedeutung eines entwickelten sekundären Staunens als Prüfungshilfe für die Aufstellungsarbeit hingewiesen. Da besteht nach meiner Beobachtung – gerade für Systemaufsteller – ein deutlicher Weiterbildungsbedarf!
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Lassen Sie dann in Ihrer Vorstellung Ihr professionelles »Aufsteller-Ego-State« aus sich heraustreten, so dass Sie diesen Teil von sich zwar wie ein ganz zu Ihnen gehöriges, sich aber nun »außerhalb« von Ihnen befindendes Wesen betrachten und beobachten können, das heißt mit einem gewissen Abstand. So, als sei dieser Teil von Ihnen eine »eigene« Person, zu der Sie jedoch ein besonderes Verhältnis haben. Sie verfügen über einen direkten Zugang zu den inneren Prozessen dieser »Person«, wissen (oder können in Erfahrung bringen), was diese »Person« denkt, fühlt, glaubt, will usw. Betrachten Sie diese persongewordene Seite von sich eine gewisse Zeitlang »von außen«. Richten Sie sich dann auf das Thema Aufstellungsarbeit aus. Achten Sie darauf, was Ihnen einfällt bzw. was sich in Ihrem »Aufsteller-Ego-State« zeigt. Welche Erinnerungen tauchen auf? Was waren die wichtigsten Erfahrungen? Welche stärkenden, welche verunsichernden Erlebnisse werden jetzt spürbar? Welche Gewissheiten oder Lieblingshypothesen zeigen sich? Was bedeutet es, in einer Aufstellung zu stehen? Welche Stellvertreter-Empfindungen melden sich? Was bedeutet es, eine Aufstellung anzuleiten? Auf was ist dabei (unbedingt) zu achten, was (unbedingt) zu vermeiden? – Öffnen Sie jetzt in Ihrer Vorstellung einen leeren Schrank oder eine leere Truhe oder etwas Ähnliches (was Ihnen jetzt in den Sinn kommt) und lassen Sie alles, was Sie in Ihrem »Aufsteller-Ego-State« wahrgenommen haben, in diesen »Vorratsraum« der Gedanken, Gefühle, Gewissheiten hineingleiten und darin Platz finden. Werfen Sie dann noch einen letzten Blick hinein und überprüfen Sie, ob wirklich alles, was für Sie zu diesem Thema gehört, jetzt dort »drin« ist (und sich Ihr bisheriges »AufstellerEgo-State« demgemäß auflöst). Schließen Sie dieses Behältnis ab. Gönnen Sie sich dann die sehr aufschlussreiche Erfahrung, zur nächsten Aufstellung (die Sie anleiten oder bei der Sie sich als Stellvertreter zur Verfügung stellen) zu gehen, als wüssten Sie von der ganzen Sache gar nichts und könnten sie erfahren wie zum ersten Mal.88
»Die phänomenologische Grundhaltung« sei das »Herzstück der Aufstellungsarbeit nach Hellinger« (diese Position vertreten viele Aufsteller, besonders emphatisch Nelles, 2002, S. 18) bzw. »die entscheidende Wurzel der Aufstellungsarbeit« (Gannott, 2006, S. 213). Diese Ansprüche und Vereinnahmungen scheinen mir ebenso wenig eingelöst worden zu sein wie eine phänomenologisch-skeptische Überprüfung des sehr aufgeladenen und psychologisch unrealistischen Haltungsanspruchs einer »absichtslosen« Betrachtungsweise, durch welche die wahrgenommenen Phänomene angeblich »ganz offen« und »unvoreingenommen« wahrgenommen werden können. Hier sehe ich eine gewisse Ver88 Vgl. hierzu die Übung »Der erste Blick« in Stölzel, Th. 2012, S. 141 f.
Systemaufstellungen – eine Anwendungsform der Phänomenologie?
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wandtschaft zur Objektivitätsgläubigkeit mancher »vorurteilsloser« und vermeintlich »ganz nüchtern« beobachtender Wissenschaftler. »Die wichtigste Lehre der Reduktion ist […] die Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion«, denn »es gibt kein Denken, das all unser Denken umfaßte« (Merleau-Ponty, 1966, S. 11). Was Merleau-Ponty vom Denken sagt, kann man auch vom (phänomenologischen) Wahrnehmen sagen. Was wir hier – maximal – erreichen können, ist eine asymptotische Annäherung, jedoch keine absolut gesetzte oder sich absolut setzende Wahrnehmungsfähigkeit. Wenn es gelingt, durch eine phänomenologisch-skeptisch geläuterte Aufstellungsarbeit die Erfahrungsoffenheit zu vergrößern, ist schon viel erreicht – für die Systemaufsteller, Stellvertreter und vor allen für die Klienten. Das bereits etwas in die Jahre gekommene Attribut phänomenologisch kann dann als Charakteristikum für die Aufstellungsarbeit Verwendung finden und deren Renommee nützen, wenn die professionell daran Beteiligten Prüfkriterien wie epoché und Reduktion auch zur eigenen Qualitätskontrolle nutzen und sich damit immer wieder entideologisieren; also den Mut aufbringen, ihre »natürliche Einstellung« (Husserl) zur Welt aufzugeben.
Sich anmuten lassen – Phänomenologie im Umgang mit dem anderen Sein ist Wahrgenommen-Werden. George Berkeley Zur phänomenologischen Praxis (die ihren Namen verdient) gehört einiger Mut (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 208 ff.). Besonders, wenn die sogenannte Außenwelt einem in Gestalt eines anderen gegenübertritt und man diesen anderen – mit geschärften phänomenologischen Bewusstsein – anders wahr- und ernst zu nehmen beginnt. Die phänomenologische Wahrnehmungspraxis macht gewissermaßen dann einen Sprung aus einer erweiterten Selbstbezüglichkeit heraus, wenn sie – von der Erkundung eines Gegenstands – zur Erkundung eines anderen (Menschen) übergeht, wenn mein »Körperleib« sich im »Wahrnehmungsfeld« des anderen befindet und er mich als seinen »Anderen erfährt, wie ich ihn als meinen Anderen erfahre« (Husserl, 1987, S. 133). Das sind alltägliche und geradezu selbstverständliche Erfahrungen. In einer gemeinsamen phänomenologisch-gestalteten Begegnung kann sich dies jedoch zu einer ebenso aufschlussreichen wie überraschenden Erfahrung verdichten. In einem Workshop, bei dem es um konkrete Anwendungsmöglichkeiten phänomenologischer Perspektiven ging, kam es zunächst zu einer als verstörend empfundenen, für die Beteiligten in der Folge jedoch sehr produktiven Erkenntnis. Nach einer kurzen Einführung hatte ich die Teilnehmer gebeten, sich je zu zweit für eine gemeinsame Wahrnehmungsübung zusammenzufinden. Die Aufgabe des ersten Teils der Übung »Sich betrachten lassen« lautete, gemeinsam eine Raumposition zu finden und sich dann gegenseitig intensiv wahrzunehmen, ohne miteinander zu sprechen. Die Ausstrahlung, die »Atmosphäre« des anderen sollte mit allen Sinnesorganen aufgenommen und erspürt werden, jedoch ohne den anderen dabei konkret zu berühren. Den Teilnehmern war freigestellt, welchen Abstand sie zueinander einnehmen wollten, ob sie einander stehend, gegenüber sitzend, allmählich aufeinander zukommend, umeinander herumgehend etc. begegnen wollten. Entscheidend war, den anderen (Menschen) die ganze Aufmerksamkeit zu schenken und alles, was man dabei wahrnimmt, bemerkt, assoziiert usw., einzuklammern, das heißt, für die Dauer der Übung außer Geltung zu setzen und so wech-
Sich anmuten lassen – Phänomenologie im Umgang mit dem anderen
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selseitig Zuschreibungs-Schicht für Zuschreibungs-Schicht abzutragen – und danach dann wahrzunehmen, wie einem der jeweils andere ohne den »Überzug« der außer Geltung gesetzten Assoziationen, spontanen Empfindungen, Einfälle usw. anmutet; was man dann von ihm zu sehen bekommt. Im zweiten Teil der Übung sollten die Teilnehmer gemeinsam ein phänomenologisches Protokoll erstellen, in dem sie die gemeinsam gemachten Erfahrungen dialogisch aufzeichnen und sich damit in einen Abstand zum jüngst Erlebten bringen. Die acht »Paare« waren neugierig, Phänomenologie konkret an sich zu erproben, und machten für sich wichtige und (wie ich aus einer späteren Resonanzrunde erfuhr) weiterwirkende Erfahrungen. Ein Teilnehmer sagte: »Ich habe noch nie so direkt mitbekommen, wie ich das mache, wenn ich projiziere.« Für ein »Paar« (eine Frau und einen Mann mittleren Alters) war die Übung »nicht auszuhalten gewesen«. Sie »mussten das nach ein paar Minuten abbrechen«. Es habe sie »sehr aufgeregt, einander so intensiv wahrzunehmen, ohne, wie sonst, miteinander sprechen zu können«. Sie hätten dann die Übung »für sich modifiziert« und während des intensiven Wahrnehmens »leise miteinander geredet«. Doch auch das hätten sie »abgebrochen, weil zu viel in ihnen passiert ist«. Im Nachgespräch hätten sie sich dann »gemeinsam wieder beruhigt«, obwohl sie den Umstand, einen anderen länger und intensiver zu betrachten, »als viel intimer empfunden hätten als so manche intime Begegnung mit ihrem Partner«. Und sie überlegten jetzt, ob die phänomenologische Herangehensweise überhaupt etwas für sie sei. Nach längerer Zeit meldeten sich die beiden (unabhängig voneinander) bei mir und berichteten von für sie erstaunlichen und letztlich erfreulichen Entwicklungen. Die Frau habe sich »endlich« von ihrem Partner trennen können. Sie sei ihm (ohne es selbst recht zu merken) »wohl phänomenologischer begegnet« und habe dabei ganz deutlich wahrnehmen können, »dass er mich gar nicht richtig sieht und das auch nicht will«. Der Mann konnte sich aus einer ihn belastenden Arbeitsbeziehung lösen. Er habe »endlich« den Mut aufgebracht, wahrzunehmen, dass »ich meinen Chef gar nicht richtig ins Gesicht sehen kann – und er mir auch nicht!« Beide berichteten von Veränderungen in ihren Bekanntenkreisen. Ihnen sei rückgemeldet worden, sie würden »irgendwie anders schauen«. Daraufhin hätten sich manche von ihnen zurückgezogen, während es mit denen, die »dabeigeblieben« seien, jetzt schönere und erfüllendere Begegnungen gebe. Sie hätten beide Lust bekommen, mehr mit dem »phänomenologischen Wahrnehmen« zu experimentieren.
Innerhalb der »phänomenologischen Bewegung« haben sich vor allem Jean-Paul Sartre und Emmanuel Lévinas mit der Wahrnehmung des anderen beschäftigt. Während Husserl sich vornehmlich mit der Erfor-
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schung des Bewusstseins, Merleau-Ponty mit dem des Leibseins befasst hat, richteten Sartre und Lévinas ihre Aufmerksamkeit auf die Erkundung des Mitseins aus. Dabei bekommt das Gesicht und vor allem die Augenpartie89 des Menschen eine besondere Bedeutung. In seiner »Phänomenologie des Antlitzes« geht Lévinas davon aus, dass eine intensive, vorbehaltlose (er nennt es »ethische«) Zuwendung, »die beste Art, dem Anderen zu begegnen«, in dem Umstand erkennbar werde, »nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken« (Lévinas, 1996, S. 63). Wobei er das Antlitz (»le visage«) in seiner Konzeption des anderen erweitert: »Das Gesicht ist nicht das einzige Antlitz«, auch »der Rücken« eines anderen kann dazu werden, kann mich ansprechen (Lèvinas, 2005, S. 21). »Meistens nehmen wir das Antlitz eines Anderen nur wahr, ohne es ernstzunehmen, das fremde Antlitz wird zu einem bloßen Zeichen, wie ein Passphoto« (Lèvinas, 1994, S. 52 f.). »Die Spur des Anderen« aufzunehmen, pointiert Lévinas in der Bemerkung: »Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden« (Lèvinas, 1983, S. 209 ff.). Sartre hat sich in seiner Begegnungs-Phänomenologie genauer mit »dem Blick«, dem Sehen des anderen und dem Gesehenwerden von dem anderen beschäftigt. Seine Anthropologie differenziert sich in zwei Leibweisen (1991, S. 543 ff., 598 ff.): 1. in das Für-sich-Sein des Körpers (»le corps comme être-pour-soi«), 2. und in den Körper für andere (»le corps pour autrui«). Die Blick-Zentrierung verdankt sich wohl auch der persönlichen Lebenssituation bzw. Körpererfahrung. Sartres Blick war der eines »Einäugigen«, da er mit einem Auge so stark schielte, dass es geradezu »wegkippte« (und sich dem Blick des anderen zu entziehen schien). 89 Der Lyriker und Essayist Octavio Paz hat die Wirkungen des wechselweise betrachtenden Gegenüberseins in dem Gedicht »Zwei Körper« so beschrieben: »Zwei Körper Aug’ in Auge/sind manchmal zwei Wellen […] Zwei Körper Aug’ in Auge/sind manchmal zwei Steine […] Zwei Körper Aug’ in Auge/sind manchmal Wurzeln […] Zwei Körper Aug’ in Auge/sind manchmal Messer […] Zwei Körper Aug’ in Auge/sind zwei Sterne, die fallen« (Paz, 1971, S. 7). Vgl. hierzu auch die phänomenologischen Blick-Erkundungen Blankenburgs, denen zufolge »das Wiederaufflackern des Wahns zuerst an einer Veränderung des Blicks wahrgenommen« und erkennbar wird. »Der Blick wirkt ›gläsern‹, eigentümlich starr; es kommt ›kein Blickkontakt zustande‹« (Blankenburg, 1991b, S. 19). Eine hilfreiche Maßnahme scheint für die Patienten in der Aufforderung zu bestehen, zunächst einfache Gegenstände genauer (in phänomenologischer Verlangsamung) wahrzunehmen, bevor sie sich wieder dem Blick und damit der Welt eines anderen öffnen können.
Sich anmuten lassen – Phänomenologie im Umgang mit dem anderen
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Man kann sich fragen, wie viele (befremdete oder neugierig observierende) Blicke der »einäugige« Sartre durch das »Sichrichten zweier Augäpfel auf mich« (Sartre, 1991, S. 465) erfahren, welche biographische Wegstrecke solcher Art Erfahrungen er zurückgelegt hat, bevor er zu seiner Konzeption des Blickes fand. Solche Beeinträchtigungen sind bei Methodenbegründern nicht selten. In den von ihnen entwickelten Methoden versuchen sie, etwas an sich auszugleichen und zu bearbeiten (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 86). Habermas’ umfangreiche »Theorie des kommunikativen Handelns« etwa verdankt sich wohl nicht zuletzt dem Umstand, dass er aufgrund seiner Gaumenspalte so schwer zu verstehen war, dass die (normale) kommunikative Verständigung für ihn eine dauernde Herausforderung bedeutete. In dem mit »Der Blick« überschriebenen Kapitel seines Buches »Das Sein und das Nichts« wendet Sartre seine Begegnungs-Phänomenologie ins Anthropologische. Sie dient ihm als Klärungshilfe bei der Frage: Was macht einen Menschen aus? Wie kann ich ihn als einen solchen90 (überhaupt) erkennen? Er geht dabei von einer alltäglichen Situation aus: »Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und am Rande des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was bedeutet das? Was will ich damit sagen, wenn ich von diesem Objekt behaupte, daß es ein Mensch ist? Wenn ich denken müßte, daß es weiter nichts als eine Puppe ist, würde ich ihm jene Kategorien beilegen, die mir gewöhnlich dazu dienen, die raum-zeitlichen ›Dinge‹ zu gruppieren. Das heißt, ich würde ihn als etwas auffassen, das ›neben‹ den Stühlen ist, 2,20 m vom Rasen weg einen gewissen Druck auf den Erdboden ausübt usw. Seine Beziehung zu den anderen Objekten würde von einem rein addi90 Vgl. hierzu den skeptischen Vorbehalt von Descartes. Dieser ist sich eben nicht sicher, inwieweit er (ab einer bestimmten Entfernung) wirklich wahrnehmen könne, ob es sich um einen Menschen oder einen Automaten handle. Da »sehe ich zufällig vom Fenster aus Menschen auf der Straße vorübergehen, von denen ich […] gewohnt bin zu sagen: ich sehe sie, und doch sehe ich nichts als Hüte und Kleider, unter denen sich ja Automaten verbergen könnten! Ich urteile aber, daß es Menschen sind. Und so erkenne ich das, was ich mit meinen Augen zu sehen vermeinte, einzig und allein durch die meinem Denken innewohnende Fähigkeit zu urteilen« (Descartes, 1993, S. 28). Zur Nachwirkung dieser Idee vgl. u.a. die Erzählung »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann sowie die Analyse dieser Vorstellung einer Menschenattrappe in einem schwarzromantischen Kontext, die Simone Stölzel unternimmt (Stölzel, S., 2013, S. 228 ff.).
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tiven Typus sein; das bedeutet, daß ich ihn verschwinden lassen könnte, ohne daß die gegenseitigen Beziehungen der anderen Objekte dadurch merklich geändert würden« (Sartre,1980, S. 459).
Ab dem Moment – genauer ab der Entfernung – in dem ich das Gesicht des anderen, seinen Blick sehen, erfahren kann, ist dieser andere nicht mehr bloß Teil einer mich umgebenden Szenerie; er ist kein (bewegliches) Objekt unter Objekten mehr, keine der »phänomenalen Vorfindlichkeiten mit Seinsanspruch« (Ströker, 1987, S. 47). Der andere wird zum anderen, indem ich ihn als Blickenden, als Mich-Anblickenden gewahre. Der andere, so sieht es Sartre, ist grundsätzlich derjenige, der mich anblickt. Solange ich einfach auf die Dinge, die beweglichen und die unbeweglichen Objekte, blicke, bin ich anders bei mir als durch die Erfahrung des Angeblickt-Werdens91 durch einen anderen. Diese Erfahrung wirft mich anders auf mich selbst zurück. Ich kann mich (zumindest ansatzweise) mit den Augen des anderen sehen. Das AngeblicktWerden bedeutet für viele ein Beurteilt-Werden. Daher gibt es auch immer wieder Blickerfahrungen, wie ich sie oben in dem Fallbeispiel dargestellt habe. Denn »das Auge wird zunächst nicht als Sinnesorgan des Sehens erfasst, sondern als Träger des Blicks« (Sartre, 1991, S. 466). Zu einem ähnlichen Eindruck gelangte (allerdings ohne die Erfahrung des Schielens) auch der eigenwillige Regiesseur Robert Bresson: »Zwei Personen, die sich in die Augen blicken, sehen nicht ihre Augen, sondern ihre Blicke« (Bresson, 2007, S. 22). Doch sind das zumeist anfängliche Erfahrungen, die, auch wenn sie abgebrochen werden, nachwirken. Es geht darum, den anderen in offener, phänomenologisch-erkundender Weise »im Auge zu behalten«. Wie es bei der geschilderten Erfahrung angeklungen ist, bekommt der Blick, den ich von einem lebendigen Gegenüber erfahre, dann eine besondere Kraft, wenn man sich beim Anschauen und AngeschautWerden der (oft entschärfenden) Wortsprache enthält und die Sprache der Augen »hörbar« werden kann. Erfahrbar wird dies auch bei Wesen, die über keine Wortsprache verfügen: »Die Augen des Tiers haben das Vermögen einer großen Sprache. Selbständig, ohne einer Mitwirkung 91 Dem Neuen Phänomenologen Hermann Schmitz zufolge gibt es bei Sartre »keinen Blickwechsel«. Dieser habe nur »das Fixiertwerden im Blick, er kennt nur den hypnotisierenden Blick« (Schmitz, 2009, S. 24).
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von Lauten und Gebärden zu bedürfen, am wortmächtigsten, wenn sie ganz in ihrem Blick ruhen« (Buber, 1983, S. 115). Das Bemerkt-, Angeschaut-, Betrachtet-Werden durch einen anderen (durch ein Fremdbewusstsein, wie manche Phänomenologen sagen), bringt denjenigen, dem der Blick gilt, nicht nur in verstärkter Weise mit sich selbst in Kontakt, sondern auch mit der Ausstrahlung des anderen, der ihn anblickt: »der Andere kann mich nicht so ansehen, wie er den Rasen ansieht« (Sartre, 1991, S. 464). Erwünscht oder nicht, melden sich Regungen, die sich zu Gefühlen ausbilden (können). Diese eröffnen oder blockieren die durch den Blick entstandene oder neu entstehende Beziehung. Max Scheler hat in seiner phänomenologischen Betrachtung »Wesen und Formen der Sympathie« in feinsinniger Weise92 zwischen »Miteinanderfühlen«, »Mitgefühl«, »Gefühlsansteckung« oder »Einsfühlung« unterschieden (Scheler, 1973, S. 19 ff.), wobei er betont, dass vermeintliches »Mitgefühl« häufig mit »bloßer Gefühlsansteckung« verwechselt werde (S. 25). Schelers Befund ist für die therapeutisch-beraterische Kommunikation wie für das Coaching von Belang, da auch bei sachlich-strategischen Themen, E-motionen ins Spiel kommen und bewegend wirken. Schelers Begriff der Gefühlsansteckung kann als Prüfinstrument verwendet werden, um beispielsweise herauszufinden: –– Was mache ich mit den Gefühlen der anderen? –– Was machen die Gefühle der anderen mit mir? Gerade die Phänomenologie der Begegnung mit dem anderen macht deutlich, wie wirksam die Epoché im Umgang mit den – unvermeidlichen – Projektionen genutzt werden kann. Sie führt mir vor Augen, wie leicht ich den anderen als Leinwand nehme, auf dem ich dann meinen Film über ihn – so wie er »wirklich« ist – projiziere. Das genaue Wahrnehmen meiner Wahrnehmungen über einen anderen (diesseits wie jenseits von Therapie, Beratung und Coaching) vergrößert und verbessert den Zugang zu einem menschlichen Grundbedürfnis, das Wolf Büntig zufolge selbst in der einschlägigen Literatur weitgehend vernachlässigt worden sei: das »Bedürfnis nach Beachtung«. Denn: 92 Das betrifft auch die »Fundierungsgesetze der Sympathie« (S. 105 ff.) sowie die phänomenologischen Beobachtungen zu »Liebe und Haß« (S. 150 ff.). Scheler, der ein Göttinger Mitarbeiter Husserls und Phänomenologe der ersten Stunde war, verdiente mehr Aufmerksamkeit, als er gegenwärtig erfährt.
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»Alles, was Menschen miteinander tun […] dient dem Austausch von Beachtung« (Büntig, 1995, S. 1). Ein phänomenologisch begleiteter Lebensvollzug erleichtert es, das eigene »Verhalten freier vom Beachtungshunger [zu] steuern« und den »Austausch von Beachtung« bewusster zu gestalten (S. 2). In meiner Arbeit habe ich mir seit längerem folgendes Aperçu zurechtgelegt: Der Augen Blick zeigt, was im Augenblick möglich ist.
Dynamik des Dialogischen93 Das phänomenologische Potential im Umgang mit dem anderen lässt sich anhand einer auf dem Wechsel von Eindruck und Ausdruck beruhenden Dynamik des Dialogischen verdeutlichen (siehe Abbildung 3). Was hierbei aufgezeigt wird, gilt für alle Formen (menschlicher) Kommunikation, insbesondere jedoch für die therapeutisch-beraterische Kommunikation und für das Coaching, bei denen bestimmte (wechselseitige) Erwartungen und Rollenzuschreibungen den Kontakt maßgeblich prägen. Jede Gesprächs- oder Begegnungssituation wird durch einen (rhythmischen) Wechsel von Ausdruck und Eindruck strukturiert. Jemand – Patient, Klient, Kunde, Besucher oder ein anderer Mensch – hat, wenn die Begegnungssituation eröffnet wird (dieser jemand beispielsweise zur Tür hereinkommt) einen bestimmten Ausdruck, der auf einen anderen (Therapeut, Berater, Coach) einen bestimmten Eindruck macht. Dieser Eindruck erzeugt seinerseits bei dem anderen (Therapeut, Berater, Coach) einen Ausdruck, der wiederum auf den ersten (Patient, Klient, Kunde etc.) einen bestimmten Eindruck hinterlässt, was diesen wiederum einlädt, seinerseits einen bestimmten Ausdruck zu zeigen, was wiederum beim anderen einen Eindruck hervorruft, der … usw. Zu allermeist vollzieht sich diese Wechselfolge, von dem Ausdruck, den jemand hat, und dem Eindruck, den er dadurch auf jemanden anderen macht, so rasch, dass er den Beteiligten als dynamischer Ping-PongProzess nicht eigens zu Bewusstsein kommt. Häufig werden sozusagen in dem ersten »Lauf« dieser Wechselfolge die gesprächseröffnenden Informationen ausgetauscht und bereits zu diesem Zeitpunkt der Rahmen dafür abgesteckt, was in dieser Begegnung möglich ist oder ansteht. Das dritte Element in dieser Begegnungsdynamik bilden die Theorien der Beteiligten. Diese enthalten die jeweiligen Selbsttheorien (dasjenige, was jeder von sich denkt, glaubt etc.), professionelle Vorstellungen (dasjenige, was jeder über seine Rolle, Aufgabe, Intention etc. denkt, glaubt usw.) sowie die Konsequenzen, welche die Beteiligten aus ihren bisherigen Gesprächs- und Begegnungserfahrungen gezogen haben und die wesentlich ihre Vorannahmen darüber ausmachen, was in dieser Situa93 Eine Anregung zu der nachfolgenden Konzeption verdanke ich Anders Lindseth.
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tion möglich und anstrebenswert ist. An dieser Stelle setzt die konkrete phänomenologische Arbeit ein. Diese besteht (wie bereits verschiedentlich gesagt) im Einklammern und Außer-Geltung-Setzen all dessen, was als vermeintlich sicheres Wissen über mich, den anderen, die gemeinsame Situation richtig und wichtig zu sein scheint, also all dessen, was als therapeutisch-beraterisches Erfahrungswissen gelten kann. Das wird im Einklammern und Außer-Geltung-Setzen nicht verworfen oder abgewertet, sondern »herausgenommen«, damit etwas anderes, Neues, Nicht-schon-Gesehenes oder Gemachtes sich zeigen kann. So kann etwas Weiterführendes aus dem Nicht-schon-Wissen entstehen. Die metatheoretische Aufmerksamkeit für den Ausdruck des Patienten/Klienten/Kunden ist eine Anwendung des Philosophierens im Gespräch. So verstanden, ist phänomenologisches Philosophieren die Bereitschaft, mit dem Eindruck zu arbeiten, ohne sich in fixe Theorien zu flüchten, welche der Ausdruck des anderen hervorgerufen hat. Auf diese Weise bewährt sich auch der Aspekt der Begegnung philosophisch. Das offene Erleben des Eindrucks, den der Ausdruck macht, ist als eine dialogisch-dynamische Erfahrung beschreibbar. Abbildung 3 vergegenwärtigt diese durchaus komplexe Struktur professioneller wie auch alltäglicher Begegnungen graphisch.
Abbildung 3: Struktur der Dynamik des Dialogischen
Dynamik des Dialogischen
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Nicht allein im therapeutisch-beraterischen oder im Coaching-Kontext, sondern auch bei unschuldigen94 Alltagswahrnehmungen erweist sich eine phänomenologische Haltung als »Augen öffnend«. Der Schriftsteller Claude Simon95 hat diese Praxis in seinen Büchern geradezu als Therapeutikum verwandt (vgl. Stölzel, 2009c). Seine ungemein genauen und detailreichen Beschreibungen lesen sich mitunter wie phänomenologische Protokolle. Dies sei am Beispiel einer Wahrnehmung verdeutlicht. Eine unspektakuläre Alltagshandlung wird hier so intensiv betrachtet, dass einem die vertrauten Dinge ganz anders erscheinen. »Das Wasser der Badewanne ist blaßgrün. Der Körper zeigt sich wie durch eine beschlagene Glasscheibe. Ausgestreckt scheint er zu schweben, einer rötlichen, wirbellosen Alge gleich, in seiner Mitte von einem braunen Flausch gefleckt. Aus der in die Badewanne gefallenen Seife steigt langsam so etwas wie ein milchiger Rauch empor, der sich träge verlagert, sich nach und nach im Wasser auflöst und es noch stärker trübt. Seine Voluten, seine schwebenden Schlangenlinien schaukeln schwach, ohne sich aufzulösen, den unmerklichen Strömungen folgend, die bei den kleinsten Bewegungen der Glieder entstehen, sich von einem Ende der Badewanne zum anderen fortpflanzend, in entgegengesetzter Richtung zurückfließend, in lautlosem Schwappen aneinanderstoßend. Manchmal tauchen die Brüste auf wie zwei Inseln mit ihren lila Spitzen, ihrer durch die Hitze des Bads leicht geröteten Haut. Auf der blassen Oberfläche des mandelgrünen Wassers zerbröckelt der dünne Seifenfilm, bleibt als Rückstand an den Klippen der Wände hängen, von denen die nächste Welle ihn fortspült. Als die Badende sich erhebt, scheint das Wasser, aufleuchtend, unter ihren Schenkeln zu zerreißen, rinnt geräuschvoll in tausend Kaskaden herab, während sie sich aufrichtet, sich reckt. Von dem ausgestreckten Arm, der nach dem Handtuch greift, löst sich eine Schnur von Tropfen, die auf der jetzt wogenden Oberfläche eine geradlinige Reihe kleiner Kreise erzeugen, die sofort wieder verschwinden. Die nasse Haut ist von einem Netz rasch abfließender gewundener Streifen überzogen, die silbrige Schlieren hinter sich lassen. Das Wasser glättet das braune Gestrüpp, in dem es als glitzernde Perlen hängenbleibt. 94 Das kann bedeuten, dass manch einer phänomenologischer unterwegs ist, als er es von sich selbst sagen würde. Ähnlich wie Monsieur Jourdain in Molières Komödie »Le Bourgeois gentilhomme«, der erfährt, er habe schon vierzig Jahre Prosa gesprochen, ohne es zu bemerken. Zur therapeutischen Analogie vgl. Watzlawick, 1977, S. 7. 95 Der mit Merleau-Ponty in freundschaftlichem Austausch stand und von ihm erfuhr, dass er »phänomenologische« Romane schreibe. Vgl. hierzu wie zum Verhältnis Phänomenologie und Nouveau Roman, Burmeister, 2010, S. 74 ff.
Dynamik des Dialogischen
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Als die Badende die Arme hebt, um ihr Haar zu verknoten, erscheint der zarte Flaum der Achselhöhlen, wie mit kleinen Diamanten übersät« (C. Simon, 1998, S. 341 f.).
Als »wichtigste Grundlage« für das Gelingen einer therapeutisch-beraterischen Kommunikation sieht eine phänomenologisch geschulte Psychiaterin wie Andrea Moldzio eine philosophische Haltung an. Sie erläutert das so: »Als eine philosophische Haltung bezeichne ich eine die therapeutische Haltung übersteigende Einstellung einer generellen Achtsamkeit96 gegenüber dem Anderen« (Moldzio, 2004, S. 153). Dadurch, dass die phänomenologische Praxis das Wahrnehmen zum Thema macht und diesem vollkommen selbstverständlichen Tun eine andere Bewusstheit gibt, fördert sie einen achtsamen Umgang zwischen den Menschen (nicht allein in professionellen Beziehungen). Sie bewährt sich in einer vergrößerten Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber dem anderen,97 dem hier nicht als etwas fraglos Selbstverständlichem begegnet wird. Das öffnet für die Frage, wer wie wen wodurch betrachtet. Vice Versa Ein Hase sitzt auf einer Wiese, des Glaubens, niemand sähe diese. Doch, im Besitze eines Zeißes, betrachtet voll gehaltnen Fleißes vom vis-à-vis gelegenen Berg ein Mensch den kleinen Löffelzwerg. Ihn aber blickt hinwiederum ein Gott von fern an, mild und stumm. (Morgenstern, 2003, S. 125 f.) 96 Die sie durch eine Praxis der »drei W’s: Wundern, Wahrnehmen, Würdigen« (S. 153) einlösen möchte. 97 Das muss nicht auf die menschliche Kommunikation beschränkt bleiben. Montaigne, zum Beispiel, fragt sich in einem seiner Essays: »Betrachte ich nun meine Katze oder meine Katze mich?« Vgl. hierzu Bubers Reflexionen über den Blick einer Hauskatze (Buber, 1983, S. 115 f.).
Gleitende Perspektiven … dass wir von An-sichten zu Ein-sichten gelangen. Wolfgang Blankenburg Der heutzutage vielverwendete Begriff »Perspektive« – nahezu eine Grundvokabel in der therapeutisch-beraterischen Kommunikation wie auch im Coaching – leitet sich vom lateinischen »perspicere« her, was »etwas durch-schauen«, »mit dem Blick durch-dringen«, »hineinsehen« und »deutlich und klar sehen« bedeutet. Was in diesem Sinne wahrgenommen oder beobachtet wird, wird deutlich durchschaut – aus der jeweiligen persönlichen Perspektive natürlich. Abgeleitete Begriffe, wie Perspektivenwechsel, Perspektivenbeweglichkeit, Perspektivenerweiterung, Perspektivenübernahme, Perspektivenkontrast, perspektivische Sicht, Innen-, Außen-, Metaperspektive oder allgemein Wahrnehmungsperspektive machen diesen ursprünglich aus der Geometrie, Optik und Kunstgeschichte stammenden Oberbegriff zu einem Schlüsselwort, welches »das Verhältnis des Menschen zur Welt als standortund zeitpunktgebunden und relational« beschreibt (Blankenburg, 1991b, S. 6). Nicht wenige Klienten oder Kunden zeigen sich überrascht, welche großen Veränderungen ein kleiner Wechsel des Standpunkts und der damit verbundenen Perspektive, ein moderates Gleitenlassen des Blicks oder eine sanfte Drehung des Kopfs (vor allem, wenn sie innerlich mitvollzogen werden) bewirken kann. Wie sich eine Wahrnehmung verändert, wird – probeweise – eine bestimmte Situation aus der Perspektive eines anderen betrachtet, was nebenbei die Einseitigkeit der eigenen Sichtweise deutlicht macht. Dies gilt natürlich auch für Therapeuten, Berater oder Coaches; besonders für solche, die aus einer mangelnden Methoden- das heißt auch Perspektivenreflexion die eigenen Blickpunkte und Wahrnehmungsvoraussetzungen nicht gründlich genug überprüfen, und damit auch nicht bemerken, wie starr ihre eigenen Perspektiven (geworden) sind, so dass die jeweils wahrgenommenen Erscheinungen sich geradezu in »Erseinungen« verfestigt haben. Und so sollte man die Rückwirkung der Sprache bzw. des Beschreibens auf das, was wahrgenommen wird und vor allem, wie es wahrgenommen wird, nicht unterschätzen. Das bedeutet: Eine anders
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beschriebene Person oder Situation sieht dann auch anders aus. Da die mitunter fatalen Wirkungen, die zum Beispiel von dem unbewussten Gebrauch des kleinen, unschuldig wirkenden Wortes »ist« ausgehen, häufig kaum ins Gewahrsein kommen, empfehle ich denjenigen, die hier ihre Bewusstheit vergrößern wollen, die nachfolgende Übung:
Ontologische98 Sparkasse Ich folge hierbei einer Anregung Heinz von Foersters, der in interdisziplinären Seminaren die Idee ausgegeben hat, den eilfertigen Gebrauch des Wortes »reality« mit einer kleinen symbolischen Geldstrafe zu ahnden. Und so möchte ich Ihnen vorschlagen, für sich selbst oder für den Umgang mit ihren Patienten oder Klienten mit der Vereinbarung zu experimentieren, den leichtgängigen oder unbewussten Gebrauch des Verbums »sein« und damit die Konstruktion von »Ist-Sätzen« mit einer bestimmten Gebühr zu belegen und diese in einer entsprechenden »Sparkasse« zu sammeln (welche am Ende der Zusammenarbeit oder zu einem anderen Zeitpunkt wieder aufgelöst wird, wobei es sich als aufschlussreich erweisen kann, den angesammelten Betrag auf sich wirken zu lassen). Bereits ein Blick auf die Grammatik zeigt, dass wir das Wort »ist« (vor allem als Hilfszeitwort) nur schwerlich vermeiden können. Darum geht es hier auch nicht. Die Übung dient als Hilfe, sich zu Bewusstsein zu bringen, bei welchen Personen, Themen oder Überzeugungen man zu einem ontologisierenden Sprachgebrauch neigt und wie damit die vermeintliche Sicherheit oder Unveränderbarkeit von etwas oder jemanden festgestellt oder festgeschrieben wird, so dass eine bestimmte Wahrnehmung beinah zwingend erscheint (»Die Organisation ist schlecht!«; »Mein Chef ist unsicher!«; »Mein Mitarbeiter ist unfähig!«; »Meine Frau ist hysterisch!«; »Fehler sind grundsätzlich schlecht!«). Ein reger ontologisierender Sprachgebrauch lässt sich bei vielen Spezialisten (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 225 ff.) im Gestus ihrer »Rechthaberitis« oder ihres Bescheidwissertums nachweisen, denn sie verstehen von der Sache ja so viel, dass sie ganz sicher sind, das es sich so verhält. Auch bei verschiedenen Philosophen, insbesondere bei denen, die als Welterklärer aufgetreten sind, finden sich viele »Ist-Sätze«. Achten Sie bei der Übung darauf, was sich bei Ihnen und Ihrer Wahrnehmung verändert, wie es sich anfühlt, wie Sie die Welt oder den anderen sehen, wenn Sie sich 98 Ontologisch leitet sich von dem griechischen Wort »ontos« her, was das Seiende bedeutet. Innerhalb der verschiedenen philosophischen Schulen gibt es auch die Disziplin der Ontologie (der Lehre vom Sein) vgl. hierzu auch die sogenannte Fundamentalontologie Heideggers.
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statt »Ist-Sätzen« Wendungen bedienen wie »aus meiner Sicht«, »nach meiner Erfahrung«, »von meinem Standpunkt aus«, »es scheint sich so zu verhalten« etc.
Das Wechseln von festen Blickpunkten, das Herausgleiten aus vermeintlich sicheren Perspektiven stärkt den Wahrnehmungsmut, regt dazu an, einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Situation einmal anders zu betrachten. Das eröffnet zudem die Erfahrung, das gerade die vertraut scheinenden – weil stets unter einem bestimmten Winkel betrachteten – Personen ganz anders zurückblicken, ist man bereit, diese Gelegenheit wahrzunehmen. Das kann überdies als sinnlos angesehene Themen nachhaltig vom »Kummerspeck des Sinndefizits« (Marquard, 1986, S. 39) befreien und die oft nicht mehr genau wahrgenommene Alltagswelt in anderem Licht erscheinen lassen. Bei dem Versuch, »zu den Sachen selbst zu kommen« war Husserl und seinen Nachfolgern kein Gegenstand zu banal, um eingehend betrachtet zu werden und herauszufinden, was man bei diesem selbstverständlichen Betrachten tut. Alfred Schütz gibt hier folgendes Beispiel: »Ich nehme den blühenden Baum im Garten wahr. Dies, mein Wahrnehmen des Baumes, wie er mir erscheint, ist ein unzweifelhaftes Element meines Bewusstseinsstroms. […] Redewendungen, wie […] ›ich betrachte den blühenden Kirschbaum im Garten‹ sind lediglich Abkürzungen und beschreiben nicht adäquat, was in diesen Wahrnehmungen wahrgenommen wurde, sondern eher die Resultate eines sehr komplizierten Interpretationsprozesses, in welchem die gegenwärtigen Wahrnehmungen der verschiedensten Ansichten dieses Kirschbaums, als ich um ihn herum ging, diesen Kirschbaumes, wie er mir gestern erschienen, meiner Erfahrungen von Kirschbäumen und von Bäumen im allgemeinen, von körperlichen Gegenständen und so fort. Der intentionale Gegenstand meines Wahrnehmens ist eine spezifische Mischung von Farben und Formen in einer besonderen Entfernungsperspektive, und er steht vor anderen Gegenständen heraus, im Folgenden ›mein Garten‹, ›der Himmel‹, ›Wolken‹ genannt« (Schütz, 2009, S. 127 f.).
»Die Wahrnehmung selbst« – konstatiert Husserl – »ist aber […] im beständigen Fluß und selbst ein beständiger Fluß: immerfort wandelt sich das Wahrnehmungs-Jetzt« (Husserl, 1985, S. 164). Richtet sich die phänomenologische Aufmerksamkeit unmittelbar auf die Wahrnehmungsperspektive des Betrachters, dann beginnt sich der Prozess des Welterlebens ungemein zu dynamisieren. Die vertraute, durch fixe
Gleitende Perspektiven
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Wahrnehmungsgewohnheiten wie festgezurrte Welt drängt aus den Nähten und kommt in Bewegung. Die Dinge erscheinen dann, wie William James sagt, mit »offenen Rändern«. Das ist der Moment, in dem die Epoché (also die Bereitschaft, eingeübte Perspektiven und Zuschreibungen aufzugeben) in eine veränderungsstiftende Praxis übergeht und zu einem »Instrument einer Erfahrungsfähigkeit« wird (Blankenburg, 1983, S. 193). Denn was Epoché wirklich bedeutet »lässt sich einsehen nur im Wege ihres Vollzugs« (Ströker, 1987, S. 39). Hier kann keine Reflexion das Handeln ersetzen. Wer »Epoché übt« – bekundet der klinische Phänomenologe und Psychiater Wolfgang Blankenburg nach langjähriger Erfahrung – »gerät in ein tieferes Erstaunen darüber, wie selbstverständlich sich für uns – als Alltagsmenschen wie als Wissenschaftler – Realität konstituiert« (Blankenburg, 1983, S. 190). Die praktizierte Epoché erzeugt intensive Wahrnehmungsperspektiven bis hin zu einer existentiellen Drift, die »ein radikales Sich-Herauslösen aus dem schlichten Dahinleben, Dahinhandeln, Dahinmeinen« (S. 190) bedeutet.
»Unaufmerksamkeitsblindheit« Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen. Heinz von Foerster Ein unmittelbarer Gewinn einer phänomenologischen Haltung besteht im Aufmerksam-Werden auf das Aufmerksam-Sein. Unabhängig davon, ob sich die Ausrichtung nun auf die Erkundung des eigenen Bewusstseins, eines Gegenstands, den eigenen Leib – als »Nullpunkt« der Erfahrung – oder auf ein anderes Lebewesen bezieht. »Aufmerksamkeit«, erklärt Valéry99, »[ist] ein Zustand, den man erst wahrnimmt, wenn man aus ihm heraustritt oder wenn er sich abschwächt« (zit. nach Stölzel, 2011, S. 241). Selbst dann wird er nicht von jedem bemerkt, zumal bei eingeübten Gewohnheits-Handlungen. Die Aufforderung, so »selbstverständliche Dinge« wie das Wahrnehmen oder den eigenen Leib und seine Regungen genauer zu beachten, fördert und entwickelt den Blick für die Erscheinungsformen der eigenen Aufmerksamkeit. Das kann dann zu Fragen führen, die man sich sonst nicht gestellt hätte: –– Wie bringe ich es fertig, auf etwas aufmerksam zu werden? –– Wie freiwillig vollzieht sich das? –– Was eröffnet, was blockiert meine Art des Aufmerksam-Seins? –– Wie viele Formen, Stufen, Phasen von Aufmerksam-Sein lassen sich von »gespannter« Aufmerksamkeit bis zum Übergang in die Unaufmerksamkeit (klar) unterscheiden? Das Aufmerksam-Werden auf das (eigene) Aufmerksam-Sein dient der Klärung, um was es sich bei dem Phänomen »Aufmerksamkeit« genauer handelt,100 was darunter verstanden wird: ein Ereignis, ein Akt, eine 99 Der diesem, oft wenig beachteten Phänomenbereich eine eigene Rubrik in seinen »Cahiers« gewidmet hat (vgl. Valéry, 1990, S. 445 ff. und Stölzel, 2011, S. 231 ff.). 100 So auch der Klärung, wie nah, wie deckungsgleich diese mit der verwandten Haltung der »Achtsamkeit« ist. Das kann bedeuten, wie es Heidegger gegenüber seinen psychiatrischen Zuhörern während der Zollikoner Seminare betonte: »Sie […] achtsam« werden zu lassen »auf das, was den Menschen unumgänglich angeht und was ihm doch nicht ohne weiteres zugänglich ist. Die Einübung der Achtsamkeit verlangt sowohl von Ihnen wie von mir eine besondere methodische Haltung« (Heidegger, 2006b, S. 147).
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Disposition, ein Können, eine Pflicht, ein Geschenk, eine Ausrichtung usw. Das bringt zudem den jeweiligen Auslöser anders in den Blick, dasjenige, wodurch man »wie von selbst« aufmerksam geworden ist bzw. sich (wie bewusst auch immer) entschieden hat, genau diesem seine Aufmerksamkeit zu schenken. »Der Fortschritt« einer »Neuen Phänomenologie«, erklärt Hermann Schmitz – »besteht darin, immer genauer zu merken, was merklich ist«. So wie er sie versteht, »ist [sie] ein Lernprozess der Verfeinerung von Aufmerksamkeit und der Verbreiterung der Horizonte für Annahmen. Nur durch Einladung zur Teilnahme an diesem Lernprozess kann der Phänomenologe zu überzeugen versuchen« (2010, S. 14) In dem von William James beschriebenen »Bewusstseinsstrom« (»stream of consciousness«)101 vollzieht sich das zumeist unwillkürliche, nicht notwendig durch äußere Ziele beeinflusste Aufmerksamkeitserleben. Es kann gleichermaßen der persönlichen Verarbeitung wie der künstlerischen, wissenschaftlichen oder sozialen Kreativität dienen. Vorausgesetzt, man ist bereit, darauf aufmerksam zu werden. Das gilt auch für die Aufmerksamkeit auf die besonderen Bewusstseinsvorgänge, die sich während der Kontemplation oder Meditation einstellen (können) und eine Form der Meta-Aufmerksamkeit ermöglichen. Eine Form der Meta-Aufmerksamkeit, die für die therapeutisch-beraterische Kommunikation sowie für das Coaching – und das eigene Leben – besonders aufschlussreich erscheint, ist das Aufmerksamwerden auf die »Unaufmerksamkeitsblindheit« (Hustvedt, 2014, S. 293). Dieses Bandwurmwort ist die deutsche Entsprechung von »inattentional blindness«, einem Begriff, den die amerikanische Autorin und Essayistin Siri Hustvedt vorgeschlagen hat. In ihm sind mehrere Aspekte versammelt, die den Gewinn einer phänomenologischen Praxis für die Arbeit mit Menschen wie mit sich selbst direkt erfahrbar machen. Ich möchte die Aspekte, die in diesem langen Wort eng beieinander stehen, etwas entfalten. Physiologisch betrachtet, gibt es selbst bei normalsichtigen oder sogar scharfsichtigen Menschen einen »blinden Fleck«. Es ist jener 101 Als literarische Darstellungstechnik wurde dieses Aufmerksamkeitserleben als sogenannter »innerer Monolog« einer (literarischen) Person unter anderem von Autoren wie Arthur Schnitzler, James Joyce, Alfred Döblin, Virginia Woolf oder William Faulkner in einer Weise eingesetzt, die für Menschen, die mit den anderen Menschen und deren inneren Prozessen professionell umgehen, sehr aufschlussreich sein kann.
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Ort auf der Retina, an dem die Photorezeptoren (die sogenannten Stäbchen und Zäpfchen) fehlen, so dass die lichtempfindliche Schicht des Auges an dieser Stelle von den Reflexen der sichtbaren Welt nichts aufnimmt. »Es ist zu betonen«, sagt Heinz von Foerster – der ein aufschlussreiches Experiment mit dem »blinden Fleck« entwickelt hat –, »daß diese Blindheit nicht als dunkle Wolke in unserem visuellen Feld wahrgenommen wird […] sondern daß diese Blindheit überhaupt nicht wahrgenommen wird, d. h. weder als etwas, das gegeben ist, noch als etwas, das fehlt« (Foerster, 1993, S. 26 f.). Was für das Auge bzw. den äußeren Sehvorgang102 gilt, gilt (so kann man analogisieren) auch für unser inneres, unser geistiges Sehen, unsere Theorien, Vorstellungen, fixen Meinungen, Wertvorstellungen, Glaubenssätze und vermeintlichen Gewissheiten. Wir erkennen die »blinden Flecken« darin nicht: Es ist »eine Art Blindheit des Bewusstseins, eine Art Nicht-Wahrnehmung in der Wahrnehmung« (Merleau-Ponty, 1986, S. 285 f). So, wie unsere Augen ein geschlossenes Sehfeld erzeugen, in dem kein »blinder Fleck« als »blinder Fleck« sichtbar wird, so erscheinen diese auch in unseren Weltanschauungen nicht. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem jemand uns fragt: »Hast du denn das nicht gesehen oder beachtet!?« Und damit bei uns in der Regel kein physiologisch zu behandelndes Augenleiden konstatiert. Es gibt natürlich nicht nur das unfreiwillige oder unerbetene Aufmerksam-Machen. Manche Seminarteilnehmer sagen am Ende des Kurses: »Das habe ich so noch nicht gesehen! Das habe ich gar nicht bemerkt!«, – und bedanken sich für das sichtbar gewordene Nichtsehen. Der Umstand unserer »Unaufmerksamkeitsblindheit« zeigt den Menschen als ein begegnungsbedürftiges Lebewesen; als jemanden, der eines anderen bedarf, um den sprichwörtlichen »Balken im eigenen Auge« überhaupt zu bemerken. In guten, das heißt wachstumsorientierten, koevolutiven Beziehungen bewährt sich die »bessere Hälfte« (wie das der Volksmund nennt) auch darin, dem anderen den jeweiligen »Star zu stechen«. Als eine professionelle »bessere Hälfte«, deren Blick zudem nicht durch starke emotionale Bindungen verstellt ist, kann sich ein guter Therapeut, Berater oder Coach erweisen, wenn er seinem Klienten oder Kunden den »Star« eines verdrängten, 102 Hustvedt fasst die Ergebnisse zahlreicher neurowissenschaftlicher Studien zusammen, wenn sie konstatiert: »Trotz maßgeblicher Fortschritte bei der Erforschung der visuellen Hirnareale ist man sich nicht darüber einig, wie wir eigentlich sehen« (Hustvedt, 2014, S. 454).
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ignorierten oder übersehenen Themas »sticht«. Wobei dieser professionelle Blickfelderweiterer natürlich auch seine »blinden Flecken« hat (und der Klient oder Kunde seinerseits damit zu tun bekommt). Das bedeutet, die Zusammenarbeit kann umso besser werden, desto mehr die wechselseitig nicht gesehenen »blinden Flecken« miteinbezogen werden. Das ist bei vielen, die einen bestimmten Therapie-, Beratungsoder Coachingansatz so weit verinnerlicht haben, dass sie die Welt und damit auch ihre Klienten oder Kunden fast nur noch durch diese Brillen sehen, durchaus nicht der Fall. Sie sehen und erkennen damit auch die »blinden Flecken« des Ansatzes, nach dem sie bevorzugt vorgehen, nicht; sie beharren auf ihren Lieblingshypothesen. An dieser Stelle können die hier vorgestellten phänomenologischen Methoden über eine beständige Selbst-Supervision hinaus nutzbringend angewendet werden und darauf aufmerksam machen, wo man geradezu blind war, obwohl man sonst gut sehen kann. Ich möchte noch etwas zur Blindheit sagen, die ja auch ein Bedeutungsteil des Bandwurmbegriffs »Unaufmerksamkeitsblindheit« ist. Genauer gesagt, über das Verhältnis von (normal) Sehenden und Blinden. In einer visuell so stark ausgerichteten Zeit wie der unsrigen, in der das Sehen(können) als der wohl angefragteste Sinn103 erscheint und zugleich die Menge der nicht altersbedingten Brillenträger beständig zunimmt, die mit Hilfe von Sehhilfen und Wahrnehmungsprothesen möglichst viel möglichst genau mitbekommen wollen, scheinen die Blinden zu den schwer benachteiligten104 Menschen zu gehören. Denn die Welt in ihrem bunten Glanz und ihrem vielschichtigen Reichtum ist ihnen ja dauerhaft entzogen. Sie haben keinen Anteil daran, kennen sie nur als matten Abglanz durch die Beschreibungen der Sehenden.
103 Hans Jonas spricht bereits 1954 von »The nobility of sight«. 104 Das ist eine Situation, die natürlich unterschiedlich verarbeitet wird und auch abhängig davon ist, ob jemand blind geboren wurde (also nie sah) oder erst allmählich erblindete, wie der argentinische Schriftsteller und Essayist Jorge Luis Borges. Borges beschreibt in einem lyrischen Text, der bezeichnenderweise »Gedicht von den Gaben« heißt, eine Situation, die von vielen wohl als tragisch empfunden worden wäre. Der begeisterte Leser und Bücherliebhaber wurde zu dem Zeitpunkt zum Direktor der Nationalbibliothek ernannt, als er nahezu vollkommen erblindet war. Doch Borges schreibt: »Niemand schmähe durch Träne oder Hader/diese Offenbarung der Meisterschaft/Gottes, der mit großartiger Ironie/mir gleichzeitig die Bücher und die Nacht gab« (Borges, 1982b, S. 39).
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Und doch können gerade sie den Sehenden etwas zeigen105, was diese nicht so leicht und ohne Weiteres wahrnehmen können. Damit meine ich nicht einen oft viel besser entwickelten Tast-, Hör-, Geruchs- oder Geschmackssinn, den Blinde kompensatorisch entwickelt haben, um sich in der Welt besser zurechtfinden zu können. Was ich meine, kann man so pointieren: Die Blinden »sehen«, dass sie blind sind, während die Sehenden ihre Blindheit (oft) nicht bemerken. Auf was sie hinweisen, ist gleichsam ein Blick hinter den Blick, welcher den inneren Zuschauer beim Betrachten der äußeren Welt ganz anders zum Erscheinen bringen lässt. In der Geschichte »Kathedrale« von Raymond Carver ermutigt ein Blinder einen Sehenden, mit ihm gemeinsam eine Kathedrale zu zeichnen, zunächst mit offenen Augen, dann mit geschlossenen, als sei dieser blind: damit sich der Sehende vor Augen führen kann, wie sich die blind gezeichneten Teile seiner Kathedrale im Verhältnis zu denjenigen ausnehmen, die er mit offenen Augen hervorgebracht hat. Über die gemeinsame, halbblind gefertigte Zeichnung erfährt der Leser dieser Geschichte: »Seine Finger fuhren mit meinen Fingern mit, während meine Hand sich über das Papier bewegte. Es war anders als alles, was ich bis dahin erlebt hatte« (Carver, 2001, S. 269). Ich lade Sie in der nächsten Übung dazu ein, in dieser besonderen Wahrnehmungsmöglichkeit eigene Erfahrungen zu sammeln.
Mit geschlossenen Augen Zwei Sehende, an ihren Sehsinn Gewöhnte106 schließen die Augen und betrachten gemeinsam, wie das Problem, um das es in der Therapie, Beratung oder im Coaching geht, jetzt »aussieht«, wenn man für einen verabredeten Zeitraum auf diesen Sinnes105 Das ist von so manch einsichtig Sehenden bemerkt worden, wie zum Beispiel von Denis Diderot, dessen »Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden« von 1749 auch heute noch lesenswert ist (Diderot, 1961, S. 51–110). Subtile und phänomenologisch aufschlussreiche »Einblicke« in diese besondere Innenperspektive gibt John M. Hull seinen »Beobachtungen« »Im Dunkeln sehen. Erfahrungen eines Blinden« (Hull, 1992), der darin auch Momente und Phasen seines Erblindungsprozesses beschreibt. 106 Diese Erfahrung lässt sich in aufschlussreicher Weise vertiefen. Zum Beispiel durch den Besuch von Blindencafés, wie sie durch die Konzeption eines »Versuchsfeldes zur Sinnesentfaltung« von Hugo Kükelhaus in den letzten Jahren entstanden sind. Der Wahrnehmungsdenker Kükelhaus hat aufgreifenswerte Methoden und Erfahrungsfelder entwickelt, die es ermöglichen, den durch die wachsende Tech-
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kanal beim Problembeschreiben und Problembeschreibungs-Anhören verzichtet und anders ins Bespüren des Themas kommt. Möchte man diese Erfahrung vertiefen, so kann es für das Finden neuer Perspektiven aufschlussreich sein, das Problem mit geschlossenen Augen (als könne man es nicht sehen und müsse auf andere Sinneskanäle ausweichen) zu zeichnen und dann gemeinsam das blind Gezeichnete zu betrachten und zu besprechen.
Eine genaue Beschäftigung mit der eigenen Blindheit als Sehender öffnet andere Türen der Aufmerksamkeit (besonders für die allzu vertrauten, ganz selbstverständlichen Dinge). Das kann auch in Bereiche münden, in denen sich die Durchlässigkeit für die Welt wie sich selbst spürbar einengt und Befürchtungen die Wahrnehmungen einfärben. Dann wird die Angst zu »einer Degeneration der Aufmerksamkeit« (Valéry, zit. nach Stölzel, 2011, S. 244). Eine tätige phänomenologische Praxis erweist sich als eine der wirksamsten Vorgehensweisen, dem Phänomen »Angst« anders zu begegnen. Sie mobilisiert, differenziert und reflektiert das Aufmerksam-Sein als solches und damit alle Phänomene, auf die man aufmerksam wird. Das kann das alltägliche Welterleben in ungeahnter Weise bereichern und unbewusste Bewertungen und Bedeutungsgebungen sichtbar machen. Die dabei entstehende Wahrnehmungsoffenheit berührt sich dann mit einer Haltung der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« (Sigmund Freud), in der wahrgenommene Phänomene gleichwertig beachtet und betrachtet werden sollen. Dieses spezifische Aufmerksamkeitserleben bleibt dann nicht ohne Auswirkungen auf das Erfassen der sogenannten Wirklichkeit. Der Schriftsteller und Collagekünstler Ror Wolf bekennt sich in seiner poetischen Skepsis zu diesem Aufmerksamkeitserleben und sieht sich als einen »radikalen Realisten« (Stölzel, 2005, S. 47). Er beschreibt damit eine Wahrnehmungspraxis, in der die gewöhnlichen, die Welt klar gliedernden Prioritäten aufgegeben werden. Sollten Sie diese Wahrnehmungspraxis für sich oder Ihre Arbeit erproben wollen, dann empfehle ich Ihnen die nächste Übung.
nisierung des Alltagslebens verkrüppelten Sinnen ihr natürliches Potential wiederzugeben und damit die Welt ganz anders zu erfahren (vgl. hierzu u. a. Kükelhaus, 1978).
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Kompositionen des Augenblicks Gehen Sie mit offenen Sinnen zum Beispiel durch die Straßen einer Stadt, ohne dabei dem Gesehenen, Gehörten, Gerochenen, Gespürten eine bestimmte Bedeutung oder Richtung zu geben. Die Farbe des Himmels, die Art der Helligkeit, die Ausstrahlung von Gebäuden, die Anmutung von Bäumen und Menschen, plötzlich einsetzende und wieder abschwellende Geräusche (Kinderrufen, Hundegebell, zufällig wahrgenommene Fetzen aus Gesprächen, Autohupen, der Lärm von technischen Geräten, Gelächter, das Quietschen von Reifen, das Schlagen von Fensterläden oder Türen etc.), der Duft von Pflanzen, der Geruch von Essen, die Ausdünstungen von Müll, die Härte oder Weichheit des Straßenbelags, die Blicke von Passanten, die Musikfragmente, die aus Autos oder Fenstern dringen usw. – all das steht gleichberechtigt nebeneinander, ist beinah zugleich da, verwebt und verbindet sich zu einer, zu der ganz persönlich wahrgenommenen Komposition von Eindrücken, zu Ihrer gegenwärtigen Lebenscollage, die sich wie von selbst zusammenfügt und Unterschiedlichstes zu einer dynamischen Gesamtgestalt zusammenführt. Experimentieren Sie anfangs an Orten, die nicht zu Ihren alltäglichen und wohlbekannten gehören, um dann zu denen überzugehen, die Ihnen vertraut sind und Ihre unmittelbare Lebensumgebung bilden. Wenn Sie das getan haben und immer mal wieder tun, dann fädeln Sie sich in einer Weise auf sich und Ihre Welt ein, die eine sehr gute Grundlage schafft, Ihre Lebensinstrumente (neu) zu stimmen.
Zwei Lebensinstrumente stimmen Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung. Hans-Georg Gadamer Ich möchte hier mit Nachdruck für das Üben plädieren. Denn das Üben eröffnet eine nachhaltig befriedigende Erfahrung: die Möglichkeit, auf die eigene Weise, im eigenen Tempo mit sich voran- und weiterzukommen, »sich selbst in die Hand [zu] nehmen […] im Dienst eines Werkes, das man selbst ist« (Dürckheim, 1966, S. 7). Es geht also um die selbst gestellten, selbst gestalteten Übungen und nicht um solche, die unter dem Diktat eines Lehrers oder anderer Prüfungen stehen (und so manchen wundgeübten Geiger produziert haben) oder unternommen werden, um ein eitles Können besser zu präsentieren. In unserem Fall bedeutet dies: die Grundlagen, also Sprache und Wahrnehmung – die an anderer Stelle mit »Lebensmitteln« verglichen wurden –, als solche überhaupt zu bemerken und zu erfahren, welchen instrumentellen107 Gebrauch Sie bislang davon gemacht haben, wovon Sie also ausgehen können, wenn Sie diese Lebensinstrumente weiterentwickeln möchten. Um sich Ihren aktuellen »Bestand« vor Augen zu führen, schlage ich Ihnen in den nächsten beiden Übungen zwei Vergegenwärtigungen vor.
Mehrteiliges Wörterbuch Paul Valéry notiert in seinen »Cahiers«: »Alles, was ich gedacht habe, lässt sich in einem mehrteiligen Wörterbuch zusammenfassen. Ausgeschiedene Wörter. Beibehaltene Wörter. Neugeschaffene Wörter« (zit. nach Stölzel, 2011, S. 148). Wie sieht Ihr »mehrteiliges Wörterbuch« aus? Was enthält es? Verwenden Sie die dreiteilige Unterscheidung Valérys als Klärungshilfe: Welche Wörter haben sie »ausgeschieden«? Welche »beibehalten«? Welche »neugeschaffen«? Sie handeln nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch in dem Ihrer Klienten und Kunden, wenn Sie sich die Veränderungen 107 Das vor allem im musikalischen Kontext verwendete Wort leitet sich vom lateinischen »instruere« her, was herrichten, ausstatten und einrichten bedeutet oder ein Mittel und Werkzeug bezeichnet. Es gibt auch die übertragene Bedeutung, jemanden zu instruiren im Sinne von Bescheid geben. Im hier vorgeschlagenen Fall wären Sie zugleich Sender und Empfänger.
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in Ihrer Wörter-Welt und damit in Ihren persönlichen Begriffen als den sprachlichen Abspiegelungen Ihrer Entwicklung zu Bewusstsein bringen.
Inneres und äußeres Wahrnehmen Wählen Sie etwas aus, das Sie besonders zu kennen meinen: einen Gegenstand, der Ihnen teuer ist und Sie vielleicht schon lange begleitet; eine Wegstrecke, die Sie oft gegangen sind oder gehen, vielleicht zur Arbeit, vielleicht zu einem Ihnen wichtigen Menschen; das Haus oder die Wohnung, die Sie bewohnen oder einen Raum darin; das Gesicht Ihres Partners oder eines Ihrer Kinder. Was es auch sei, versuchen Sie das, was Sie sich ausgewählt haben, möglichst genau und möglichst detailliert vorzustellen, so dass Sie es jetzt deutlich mit all seinen charakteristischen Nuancen vor sich sehen. Nehmen Sie ein Stück Papier und beschreiben Sie, was Sie jetzt geistig sehen. Seien Sie dabei ausführlich. Würdigen Sie die Einzelheiten desjenigen, was Sie ausgewählt haben. Wenn Sie wollen, protokollieren Sie auch die Empfindungen, die sich jetzt beim Beschreiben einstellen. Dann legen Sie diesen Aufschrieb zur Seite. Lassen Sie einige Zeit vergehen. Führen Sie sich das »Original«, von dem Sie eine Vorstellungskopie angefertigt haben, selbst vor Augen. Schauen Sie genau und achtsam hin. Betrachten Sie es mit liebevoller und ausführlicher Aufmerksamkeit. Holen Sie Ihre Beschreibung wieder hervor und vergleichen Sie das eine mit dem anderen. Fehlt etwas?
Der grundlegende Charakter der beiden »Lebensinstrumente« Sprache und Wahrnehmung verschafft einem die Möglichkeit, von ganz alltäglichen Dingen auszugehen und wieder auf sie zurückzukommen. Vilém Flusser hat es in seinen Alltagsforschungen unternommen, Dinge108 und Interaktionen phänomenologisch zu erkunden, auf die zumeist nur ein Gewohnheitsblick fällt, wie Flaschen, Wände, Straßenlampen, Stöcke, Teppiche, Räder, Töpfe etc. Dabei hat er sich auch einer besonderen Interaktion zugewandt. Er nennt sie »Geste« und definiert sie so: »Die Geste ist eine Bewegung des Körpers oder eines damit verbundenen Werkzeugs« (Flusser, 1991, S. 8). In seinen phänomenologischen Skizzen beschreibt er unter anderem die Geste des Sprechens, 108 Er unterscheidet dabei vier Arten von Dingen, die unsere persönliche oder professionelle Umgebung »bevölkern«: »Apparate, dummes Zeug, Werte und natürliche Dinge«. Einen Sonderstatus bilden die »Undinge«, also etwas, zu dem man sich haptisch in kein Verhältnis setzen, die man nicht »begreifen« kann. Flusser nennt als Beispiel hierfür »Informationen« (Flusser, 1993, S. 7 ff.).
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Machens, Liebens, Zerstörens, Rasierens, Telefonierens. Die Beobachtungen Flussers schärfen nicht allein den Blick dafür, wie man mit den Dingen »ist« (wie sie einen verstärken, vergrößern, fesseln), sondern auch für die sozialen Handlungen von »Gesten«, durch die wir für uns und andere anschaulich werden. Sie können Ihre professionelle Tätigkeit erkunden, wenn Sie beispielsweise die »Geste des Therapierens«, die »Geste des Beratens« oder die »Geste des Coachens« untersuchen und herausfinden, welche Werkzeuge Sie dabei verwenden, wie sich die Interaktion zwischen Ihnen und den Werkzeugen gestaltet, inwieweit Sie sich dabei in ein Werkzeug verwandeln, das Sie dann instrumentell handhaben. Eine der besten Übemöglichkeiten für die eigenen »Lebensinstrumente« bietet der Zugang zur Welt eines anderen. Denn der andere, so gut ich ihn auch zu kennen vermeine, ist und bleibt ein Fremdbewusstsein. Im Austausch mit ihm, »face-à-face«,109 erscheint er mir als Doppelbelichtung, »als Einzelner und als Objekt« (Lévinas, 1995, S. 202). Er zeigt sich mir durch seinen Blick, seine Mimik, seine Gestik, seine Haltung, seine Bewegungen, seinen Gang. Durch eine bestimmte Atmung, Stimme, Sprechweise und einen bestimmten Tonfall gibt er mir ein dynamisches Zustandsbild von sich, konturiert damit die Pforten zu seiner Welt, seinen »idio kosmos«, der sich mir auch durch eine gemeinsame Wortsprache erschließt, solange diese bestehen bleibt. Ein eindrückliches Beispiel eines Ideolektikers zeichnet Peter Bichsel in seiner paradigmatischen »Kindergeschichte« »Ein Tisch ist ein Tisch« (Bichsel, 1969, S. 18 ff.). Da ist die Rede von einem alten Mann, der, ermüdet von den immergleichen Namen110 für die immergleichen Dinge, beginnt sie umzubenennen, sich eine ganz eigene, nur von ihm verstandene Sprache zu schaffen: »Dem Bett sagte er Bild. Dem Tisch sagte er Teppich. Dem Stuhl sagte er Wecker. Der Zeitung sagte er Bett. Dem Spiegel sagte er Stuhl. Dem Wecker sagte er Fotoalbum« usw. (S. 22). Er verändert auch die Verben und schafft damit 109 Vgl. hierzu die Beschreibung von Begegnungs-Erfahrungen, die Ronald D. Laing unternimmt (1973, S. 11 ff.). 110 Er fragt sich, warum die Dinge so heißen, wie sie heißen, und konstatiert verwundert: »Die Franzosen sagen dem Bett ›li‹, den Tisch ›tabl‹, nennen das Bild ›tablo‹ und den Stuhl ›schäs‹, und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch« (S. 21). Vgl. hierzu die Überlegungen, die ich zu Anfang im Kapitel »Der Mensch als sprechendes und wahrnehmendes Wesen« unternommen habe.
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andere Beschreibungen: »läuten heißt stellen, frieren heißt schauen, liegen heißt läuten, stehen heißt frieren, stellen heißt blättern« (S. 24). Beim Erlernen seiner neuen Sprache vergisst er die alte, die ihn mit seiner Umgebung verbindet, mit der Wirkung, dass sich beide Seiten nicht mehr verstehen und der alte Mann daher schweigt und nur noch mit sich selbst spricht. Der Verlust einer gemeinsamen Wortsprache als eine der stabilsten Brücken in die Welt eines anderen macht überdeutlich, wie intensiv und zumeist unbewusst sie zuvor benutzt wurde. Was bleibt? Angenommen, der andere spricht (ob ideolektisch oder nicht) eine mir unbekannte, unzugängliche Sprache und wir haben keine zweite gemeinsame, auf die wir ausweichen können. Wie blicke ich ihn dann an? Beobachte ich ihn genau oder versuche ich, ihn »richtig« wahrzunehmen? Oder läuft beides auf dasselbe hinaus? In seinen axiomatischen Begriffsbestimmungen definiert Peter Fuchs Beobachtung als »Letzt- oder Leitbegriff, der immer vorausgesetzt ist. […] Die Welt, wie sie für Sinnsysteme vorkommt, ist beobachtete Welt […] die Welt [wird] am Haken der Beobachtung aufgehängt […] Denn die Beobachtung erzeugt, was sie beobachtet […] jeder Satz [ist] Ausdruck einer Beobachtung […] Es ist sehr schwer, sich eine Beobachtung quellenfrei vorzustellen« (P. Fuchs, 2004, S. 11, 12, 14; Hervorhebungen T. S.). Es ist nicht nötig, sich in die Paradoxien der Selbstreferenz zu begeben, um zu erkennen, dass Beobachtung bzw. beobachten eine für das menschliche Leben grundlegende und auswirkungsreiche Tätigkeit ist. Das gilt natürlich für diejenigen, die professionell Menschen, Situationen oder Interaktionen genau (und mitunter scharf) beobachten (müssen), umso mehr. Beobachten und Wahrnehmen werden in der alltäglichen Kommunikation oft nahezu deckungsgleich verwendet. Bezeichnen sie aber nahezu dasselbe und bringen sie nahezu dieselben »Ergebnisse«? Ich lade Sie ein, mit Hilfe der nachfolgenden Übung Ihrer Verwendung und Praxis ein wenig auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was Sie im einen oder anderen Fall tun und dabei auch Ihre Lebensinstrumente genauer kennenzulernen.
Jemanden »wahrnehmen« oder ihn »beobachten« Werner Kraft überliefert in seinen »Gesprächen mit Martin Buber« (Kraft, 1966, S. 45) den Ausspruch Bubers: »Thomas Mann sehe nicht, er beobachte. Er [Buber] habe in
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Unterhaltungen den Eindruck gewonnen, dass er [Thomas Mann] ihn beobachte, zu schriftstellerischer Verwendung des Beobachteten«. Das ist eine Haltung, die wohl nicht allein bei Schriftstellern häufig ist. Da beides – Beobachten und Wahrnehmen – in der therapeutisch-beraterischen Beziehung wie im Coaching gleichermaßen von Bedeutung ist, lohnt es sich, hier genauere Unterschiede und damit auch unterschiedliche Wirkungen auszumachen, auch wenn sie sich auf den ersten Blick subtil und vielleicht überscharf darstellen mögen. Eine bewusstseinsbildende Maßnahme besteht in einer kontrastiven Anwendungspraxis. Nehmen Sie innerhalb professioneller oder persönlicher Kontexte zunächst bewusst eine beobachtende Haltung ein. Verwenden Sie hierbei das methodisch-diagnostische Wissen Ihrer Konzepte über den Menschen. Achten Sie auf die Signale und Indikatoren, die Sie demnach als relevant ansehen. Wechseln Sie dann nach einer gewissen Zeit in eine wahrnehmende Haltung. Das heißt, vergessen111 Sie für eine bestimmte Zeit, was Sie an methodisch-diagnostischen Beobachtungswissen erlernt haben und versuchen Sie sich von der jetzt wahrnehmbaren Gestalt des anderen unmittelbar anmuten zu lassen. Blicken Sie ihn so an, als ob er etwas an sich hätte, das Ihre Aufmerksamkeit weckt und fesselt und sie dazu einlädt, vorübergehend Ort und Anlass der Begegnung in den Hintergrund treten zu lassen, um das, was Ihnen jetzt vor Augen kommt, deutlicher wahrnehmen zu können. Wechseln Sie nach einer gewissen Zeit wieder zu einer beobachtenden Haltung. Führen Sie diese Wechsel mehrfach durch. Achten Sie darauf, was sich jeweils ändert. Fragen Sie sich: Bei welcher Haltung fühle ich mich sicherer? Und was bekomme ich dann jeweils vom anderen zu sehen?
Die Arbeit an den (womöglich feinen) Unterschieden von »Jemanden ›wahrnehmen‹ oder ihn ›beobachten‹« verfeinert auch Ihr Einfühlungsvermögen112 in die Welt eines anderen, vor allem bei Ihnen fremden und fernen Menschen. Sie öffnet den Weg zu den Perspektiven, die andere auf die Welt haben, und erschließt dabei Ihre eigenen umso deutlicher. Und diese kann im Vergleich zu der von anderen bekanntermaßen (ziemlich) unterschiedlich ausfallen, so dass beim Betrachten desselben 111 Um dies besser zu erreichen, können Sie auf die Ausführungen zur phänomenologischen Reduktion (siehe vor allem die Kapitel »Sich anmuten lassen – Phänomenologie im Umgang mit dem anderen«, S. 140 ff.) und »Dynamik des Dialogischen«, S. 147 ff.) zurückgreifen. 112 Vgl. hierzu Edith Steins Untersuchungen »Zum Problem der Einfühlung«, die sie, ausgehend von dem »Wesen der Einfühlungsakte« bis zur »Einfühlung als Verstehen geistiger Personen« entwickelt hat (Stein, 2008). Das Werk dieser Assistentin Husserls verdient Beachtung.
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Gegenstands eben nicht dasselbe gesehen wird. Wie in dem anschaulichen Beispiel, das der philosophisch ausgerichtete Biologe Jakob von Uexküll (auf den der Begriff »Umwelt« zurückgeht) seinen Lesern gibt: »Ich wähle als Beispiel eine Eiche, die von vielen Tiersubjekten bevölkert ist und in jeder Umwelt dazu berufen ist, eine andere Rolle zu spielen. Da die Eiche auch in verschiedenen menschlichen Umwelten auftritt, beginne ich mit diesen«. In der »rationalen Umwelt« eines Forstmanns ist sie »nichts anderes […] als einige Klafter Holz. […] Dabei wird die aufgewulste Rinde, die zufällig einem menschlichen Gesicht gleicht, nicht weiter beachtet […] in der magischen Umwelt eines kleinen Mädchens, dessen Welt noch von Gnomen und Kobolden bevölkert ist«, kann die Eiche einen furchterregenden Anblick bieten und zu »einem gefährlichen Dämon« werden. »Für den Fuchs, der sich zwischen den Wurzeln eine Höhle gebaut hat, ist die Eiche zu einem festen Dach geworden«. Einer Eule bieten »die mächtigen Äste« eine Schutzwand. Für das Eichhörnchen bietet die Eiche »bequeme Sprungbretter« und ebenfalls einen Nistplatz. Für die Ameise »verschwindet die ganze übrige Eiche hinter ihrer rissigen Rinde, deren Täler und Höhen zum Beutefeld für die Ameisen werden«. Unter der Rinde »sucht der Borkenkäfer seine Nahrung« und legt »seine Eier ab,« denen nicht nur der Specht mit seinen »mächtigen Schnabelhieben« nachstellt (Uexküll u. Kriszat, 1956, S. 94 ff.). Jeder schneidet sich durch seine Perspektiven aus demselben Objekt seinen nutzgeleiteten Aspekt heraus, erblickt in demselben etwas anderes. Die Zusammenblendung Uexkülls von sieben unterschiedlichen Perspektiven (Forstmann, Mädchen, Fuchs, Eule, Ameise, Borkenkäfer, Specht) sensibilisiert für die Frage, die für den rein menschlichen Kontext von Therapie, Beratung und Coaching wichtig ist: Wie viele (unterschiedliche) Perspektiven haben die eingebrachten Themen und Probleme? Und welche davon erweisen sich als relevant? Hierzu ein Fallbeispiel, das unter dem Titel stehen könnte – Angst, etwas zu übersehen: Eine Frau, die bereits länger in dem Personalbereich einer großen Versicherungsfirma tätig ist, erhielt – auch als Ausdruck für ihre Kompetenz und ihr Engagement für das Unternehmen – die Position einer Abteilungsleiterin. Nach der Freude über diese Form der Anerkennung seitens der Geschäftsführung zeigte sich bald eine große Angst, die ihr den Schlaf raubte und zahlreiche Verspannungen bewirkte, die sie mit Massagen und funktionellen Entspannungsübungen aufzulösen versuchte. Der Erfolg
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war jedoch nur kurzzeitig. Die Verspannungen zeigten sich bald wieder und ihr Schlaf blieb schlecht. Denn die Angst, etwas zu übersehen, ließ sie nicht mehr los. Dies dürfe ihr gerade als Frau und angesichts der entgegengebrachten Wertschätzung durch die neue Position keinesfalls passieren. Durch die Arbeit mit ihren beiden Lebensinstrumenten Sprache und Wahrnehmung stellte sich bereits bald eine spürbare Verbesserung ein, die auch von ihrem Umfeld bemerkt wurde. Sie bekam einen anderen Zugang zu ihren (inneren) Beschreibungen, ein geschärftes Bewusstsein für ihren Metapherngebrauch sowie dessen leibphänomenologisch spürbare Regungen und entwickelte eine größere Aufmerksamkeit für ihr Unaufmerksamsein. Die Beschreibung, sie wolle für alles und dauernd aufmerksam sein, vergesse dabei aber die Voraussetzung, zunächst in guter Weise für sich selbst aufmerksam zu werden, erzeugte ein lösendes Lachen, das sie als wichtiges leibliches Signal nahm und zukünftig verwenden wollte. Wir beschlossen, die Zusammenarbeit mit »Wahrnehmungsaufgaben«, die sie sich selbst stellte, und der Anregung fortzusetzen, wenn möglich einen gewissen »Wahrnehmungsmut« zu zeigen. Gerade das Vertraute so lange zu betrachten, bis es sie fremd anmute und neue Aspekte des vermeintlich Vertrauten sichtbar würden.
In dem Wort Anmutung steckt der Mut (vgl. Stölzel, Th., 2012, S. 211 ff.) – der Mut zu einer anderen Begegnung durch meine Wahrnehmung, mein »bewirkendes Hervorbringen der Welt« (Merleau-Ponty, 1986, S. 20), so wie sie mir erscheint. Durch ein Wahrnehmen, das die Möglichkeit des Sich-anmuten-Lassens zulässt, kann ich mehr wahrnehmen, als eigentlich zu sehen ist von einer Person, einer Situation, einer Organisation. Ich bringe mich damit in eine Form der Aufmerksamkeit, in der das »Erkennen zündet wie ein Streichholz« (Hustvedt, 2014, S. 294) und ein neues Licht auf alte oder bislang im Dunkeln gebliebene Dinge fällt. Dieser Blickwandel ist verwandt mit der Praxis eines »vernehmenden Denkens«, die der Psychiater Hans Kunz beschrieben und dabei auf einen wortgeschichtlichen Zusammenhang von »Vernehmen« und »Vernunft« hingewiesen hat (Kunz, 1957, S. 30). In einer poetischen Reflexion beschreibt Martin Buber (in der ihm eigenen Diktion) die wahrnehmende Begegnung mit einem sprachlosen Gegenüber113, das er »vernehmen« kann: 113 Vgl. hierzu das Gedicht »In mir der Baum«, in dem Octavio Paz das Hineinwachsen der wahrgenommenen Gestalt in das Bewusstsein seines Betrachters vergegenwärtigt (Paz, 1990, S. 199).
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»Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts, oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen. Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft – und das dunkle Wachsen selber. Ich kann ihn als Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise […]. In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffenheit. Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihn eingefaßt werde, und nun ist er kein Es mehr […]. Dazu tut nicht not, daß ich auf irgendeine der Weisen der Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müßte, um zu sehen […]. Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin […]. Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders« (Buiber, 1983, S. 13 f.).
Ein gutes Übungswerkzeug für das Stimmen des Lebensinstruments Wahrnehmung bildet die zu erkundende Frage nach der Wahrnehmungsgewissheit. Für sich (immer wieder neu) herauszufinden, worin der Unterschied besteht zwischen dem Wahrnehmen eines bestimmten Eindrucks und dem Glauben, einen bestimmten Eindruck wahrzunehmen. Hierbei erweisen sich sprachliche Differenzierungen als weiterführend: –– Ich sehe, höre, rieche etc. es, sie, ihn. –– Ich glaube, es, sie, ihn zu sehen, zu hören, zu riechen etc. –– Es kommt mir so vor, als ob ich sähe, hörte, röche etc. –– Er, sie, es erscheint mir so, als ob ich ihn, sie, es sähe, hörte, röche etc. –– Ich habe die Anmutung, von ihm, von ihr etwas zu sehen, hören, riechen etc. In diesem Zusammenhang wird der erkenntnisreiche Effekt der Verblüffung sichtbar, die eintritt, wenn etwas anders erscheint, als ich es erwartet habe; wenn mir die Worte fehlen, das zu beschreiben, was ich gerade wahrnehme. Und mir die Frage vorlege: Inwieweit wirkt da meine Sprache auf meine Wahrnehmung zurück? Im Hinblick auf diese Frage empfehle ich Ihnen die nächste Übung.
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Die Grenzen meiner Welt In Wittgensteins »Tractatus« findet sich unter der Proposition 5.6 die Aussage: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein, 1963, S. 89). Die Welt als das, was wir wahrnehmen können, bedarf – wie auch bereits dieser (Meta-)Satz – der Sprache, um etwas über sie sagen zu können. Inwieweit sind die Strukturen meiner Welt und Sprache identisch? Inwieweit stimmen ihre Grenzen miteinander überein, bringen einander hervor, bedingen einander – unaufhörlich? Nutzen Sie verschiedene Wahrnehmungen, die Sie bislang gemacht haben. Greifen Sie sich eine – die Sie immer wieder beschäftigt, auf die Sie häufig zurückkommen – heraus und versuchen Sie, diese in passenden Worten zu beschreiben. Wie nahe kommen Sie dabei an das Wahrgenommene heran, wenn Sie es so zur Sprache bringen? Was können Sie dabei über die Beziehung zwischen Ihrem Sprachgebrauch und Ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten herausfinden?
Tubus heuristicus – Der Mensch als Welterkunder Die seltsamsten Ideen schwärmten seinem Kopfe zu, als wenn ihre Königin darin säße. Georg Christoph Lichtenberg Nach der Überprüfung der eigenen Sprach- und Wahrnehmungsmöglichkeiten möchte ich zum Schluss einen Blick auf die Heuristik werfen. Das berührt in unserem Zusammenhang die Frage, wie man sich selbst in der Welt zurechtfindet und wie man seine Klienten oder Kunden dabei unterstützen könnte, sich in ihren Lebens- und Arbeitskontexten besser zurechtzufinden. Damit fällt der Blick auf einen bestimmten Aspekt des anthropologischen Potentials. Der Mensch erscheint in seiner heuristischen Ausrichtung sozusagen als ein »Herausfindewesen«, als jemand, der immer wieder in der Dynamik von Suchen und Finden steht. Seiner Ausstattung nach schreibt er sich eine Weisheitskonstitution zu (vgl. Stölzel, Th. 2012, S. 41 f.), nennt sich einen »homo sapiens sapiens«. Das Verb »sapere« bedeutet nicht nur weise oder wissend zu sein, es bezeichnet auch die Fähigkeit des Schmeckens und Herausschmeckens. Die Heuristik wäre demnach eine Anwendungsform der »sapientia«, der Weisheit, in dem Sinne, dass es darum geht, spürig und findig zu sein bzw. zu werden. Die Heuristik bildet keine eigene Disziplin, sondern ist als Metamethode in einzelnen wissenschaftlichen Fächern und ihren konkreten Anwendungen enthalten und wird dabei mehr oder weniger bewusst wahrgenommen. Der Begriff leitet sich von dem griechischen Verb »heuriskein« her, was finden, herausfinden, erfinden, auffinden bedeutet und ist als Wissenschaftsvokabel seit der frühen Neuzeit im Gebrauch. Heuristik bezeichnet eine Theorie von Verfahren zum (Auf-, Heraus-, Er-)Finden von etwas Neuem sowie zur Generierung von Erkenntnissen, die auf mitunter ungewöhnlichen und unkonventionellen Wegen (durch Umkehrschlüsse, Konjekturen, Gedankenexperimente, Analogien, Assoziationen, Generalisierungen) gewonnen werden. Sie wird daher auch als eine Erfindungskunst, eine »ars inveniendi« verstanden und verwendet. Heuristischen Erkenntnissen kommt grundsätzlich ein provisorischer, aber weiterführender Charakter zu. Verschiedene Wissenschaftler haben ihre Bedeutung akzentuiert und reflektiert. Der Universaldenker Gott-
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fried Wilhelm Leibniz beschäftigt sich in seiner »Erfindungslehre« von 1676 mit heuristischen Fragen und Möglichkeiten. Für Immanuel Kant erweisen sich heuristische Begriffe als »regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung« (Kant, 1983, B 799). Lichtenberg spricht beim »Novum Organon« des Empirikers Francis Bacon von einem »heuristischen Hebezeug« (Lichtenberg, 1968, S. 830) und rät dazu, »Endursachen« als »heuristisches Mittel« (Lichtenberg, 1971, S. 280) zu verwenden. Dass Irrtümer großen heuristischen Wert besitzen können, zeigt Karl Popper am Beispiel der Kreishypothese von Kepler und bei der Quantentheorie auf (Popper, 2005, S. 109, 314–317, 474). Der Epistemologe und Bio-Kybernetiker Heinz von Foerster führte in den späten 1960er Jahren regelmäßige heuristische Kurse (»Directory of Heuristis«) für Vertreter der verschiedenen Fakultäten und Wissensgebiete durch, um den Wert unterschiedlicher Findeweisen aufzuzeigen und zu reflektieren (Foerster u. Bröcker, 2002, S. 24 ff.). Im Rahmen therapeutischer und beraterischer Innovationsformen, die während des Psychologie-Jahrhunderts erfunden worden sind, kamen heuristische Energien und Strategien unterschiedlich zum Tragen. Um nur einige Beispiele zu nennen: der berühmte Traum von Irmas Injektion, der Freud auf seine Spur brachte; Jungs archetypische Träume als Richtungsgeber; Reichs Konzentration auf den Körper als heuristischer Kompass; Perls’ Intervention, die regressionsfördernde Couch aufzugeben, um zu sehen, wie sich die therapeutische Beziehung dann gestaltet; Ericksons radikales Utilisieren und seine Trance-Induktionen als heuristisches Mittel; Gendlins Focusing als subtiles Sichtbarmachen heuristischer Prozesse im körperleiblichen Erleben; Antonowskys Suche nach den Gesundheitsfähigkeiten; de Shazers methodische Reduktion auf den Lösungsfokus; Miriam und Irving Polsters erweiterter Therapiebegriff (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 19), der einer der heuristischen Impulse war, das Coaching zu erfinden. Für manche, die es gut und findeverständig zu nutzen wissen, kann heutzutage auch das Internet zu einer besonderen heuristischen Maschine werden. Das heuristische Interesse ist mit einer anthropologischen Konstante – dem Bedürfnis, etwas herausfinden, aufhellen, ergründen, verstehen zu wollen – unmittelbar verbunden bzw. ein Teil davon. Die Heuristik steht daher auch in enger Verbindung mit der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen und Auslegen. Eine populäre Form des heuristisch aktiven Menschen stellt der Detektiv dar, der Licht in das
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Dunkel verborgener Beziehungen bringt. Die Filmfigur des Inspektors »Columbo« zum Beispiel steht für eine methodische Form des Sichunterschätzen-Lassens, um das heuristische Vorgehen zu tarnen und dadurch effizienter zu gestalten. Die Kriminalliteratur verdankt ihren starken Zuspruch bei Lesern der identifikatorischen Anteilnahme bei heuristischen Prozessen. Ein Experimentalphysiker und Experimentalphilosoph wie Georg Christoph Lichtenberg versteht den Menschen als einen »tubus heuristicus« (Lichtenberg, 1971, S. 297), sozusagen als ein Gefäß, das heuristisch auf seine Welt reagiert. Existentiell verstanden, sind wir alle Lebensdetektive, die mehr oder weniger intensiv etwas über das eigene Dasein herausfinden wollen, gespeist von dem (durch keine Beschulung ausrottbaren) Willen, dazuzulernen und sich somit einen Überlebensvorteil zu verschaffen. Das Versprechen, Auswege zu finden, wird selten überhört und erst geglaubt, wenn der Beweis erbracht worden ist. Doch ist bereits die Möglichkeit, überhaupt etwas zu finden, das weiterhilft, ein starker Anreiz, die Angebote von Therapie, Beratung oder Coaching für sich zu erproben. Denn die Fragen, die sich während des Lebensvollzugs stellen, bleiben hartnäckig bestehen: Wie finde ich heraus, was ich tun soll, was ich (eigentlich) möchte? Wie ich an den »richtigen« Partner komme? Welchen Beruf ich ergreifen könnte? Wo und wie ich leben will? Ob meine Lebensform noch stimmt? Wie ich zu Klarheit, Kraft und Sicherheit finde? Einen guten Einstieg in eine lebensdienliche Heuristik bietet die Möglichkeit, bisherige Findeerfahrungen zu betrachten und zwar mit einem Perspektivenvergleich von Weggewinn und Zielgewinn. Das bedeutet, sich vor Augen zu führen, wie oft das Angestrebte, Angezielte, Gewünschte sich neben der jeweiligen Zielgeraden befand, inwieweit sich eine »Vizelösung« (vgl. Stölzel, Th., 2013, S. 38 ff.) als die bessere Lösung erwiesen hat. Persönlich prüfbar wird das zum einen bei der retrospektiven Betrachtung, wie man zu dem gefunden hat, was heute für einen wichtig ist: dem jetzigen Lebenspartner, dem aktuellen Lebensort, der gegenwärtigen Lebens- und Arbeitsform, und zum anderen bei der Beantwortung folgender Frage: Was hat weitergeführt, mehr eröffnet, stärker gewirkt, tiefer berührt, das ins Auge gefasste Ziel oder der Weg, der vielleicht ziemlich anders verlief als geplant? Bei allen Zielorientierungen und dem Finden von Strategien, wie diese Ziele gut erreicht werden können – was ja häufig ein wichtiges Agens
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innerhalb von Therapie, Beratung und Coaching darstellt –, lohnt es sich, das Gegenteilige im Blick zu behalten und sich zu fragen, ob nicht doch die schönste Perle »auf dem Wege der Absichtslosigkeit« (Bloch, 1969, S. 219) gefunden wird. Oder probeweise dem alten chinesischen Sprichwort zu folgen und gerade, wenn man es eilig hat, einen Umweg zu machen. Möchte man sich einen guten Rahmen schaffen, um die beiden Lebensinstrumente Sprache und Wahrnehmung in stimmiger Weise für sich zum Klingen zu bringen, dann lohnt es sich, die persönliche Heuristik genauer zu betrachten. Eine gute Möglichkeit, dies zu tun, bietet Ihnen die nachfolgende Übung.
Heuristische Sonden Die Sonden eröffnen Ihnen einen Weg, die eigene heuristische Position näher zu bestimmen und zu einer persönlichen Metamethode weiterzuentwickeln. Um sie gut für sich zu verwenden, empfiehlt es sich, Ihr leibliches Empfinden mit einzubeziehen, wenn Sie sich – am besten mehrfach – »sondierend« fragen: –– Wie finde ich etwas über etwas heraus? –– Wie bin ich auf meine (bewährten) Lösungsstile gekommen? –– Auf welche Weise nähere ich mich einer Frage oder einem Problem? –– Was tue ich, bevor ich etwas zu lösen oder herauszufinden versuche? –– Generalisiere ich eher oder individualisiere ich mehr? –– Wie sehe, verstehe ich den Zusammenhang zwischen »etwas herausfinden« und »etwas erfinden«? –– Kann ich etwas mit der Formulierung »Ich lasse mich finden« anfangen und was? –– Teile ich das heuristische Lebensmotto Picassos: »Ich suche nicht, ich finde«?
Die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf unbeachtet gebliebene Aspekte der Welt wie der eigenen Person bildet auch eine wichtige Voraussetzung kreativer Akte und der damit verbundenen Findemöglichkeiten. So »lebt« etwa die »Mechanik« des Wortspiels, des Witzes oder der Fehlleistung von dem plötzlichen Zusammenblenden anscheinend nicht zueinander passender Bezugsebenen. Der Schriftsteller und Wissenschaftspublizist Arthur Koestler – einer der Pioniere der Kreativitätsforschung – hat in dem Grundlagenwerk »The Act of Creation« (deutsch »Der göttliche Funke«, 1966) Formen künstlerischer und wissenschaftlicher Originalität untersucht. Um die Eigenart kreativer Verknüpfungen, den Dialog zwischen Ideenkeimen anschaulich zu
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bezeichnen, brachte Koestler einen Begriff ins Spiel, der die Struktur gedanklicher Kommunikationsprozesse vor Augen führt: »Ich habe den Ausdruck ›Bisoziation‹ geprägt, um eine Unterscheidung zwischen dem routinemäßigen Denken, das sich sozusagen auf einer Ebene vollzieht, und dem schöpferischen Akt zu treffen, der sich immer […] auf mehr als einer Ebene abspielt […] Ein vertrautes Ding oder Ereignis wird in einem neuen, unvertrauten, enthüllenden Licht wahrgenommen114 […] Bisoziation bedeutet einen Sprung der schöpferischen Phantasie, der zwei bis dahin unverbundene Ideen, Beobachtungen, Wahrnehmungsgefüge oder Gedankenuniversen in einer neuen Synthese verbindet« (Koestler, 1966, S. 25).
Als prototypisches Beispiel für das Potential heuristischer Offenheit gilt die sogenannte Heureka-Erfahrung des griechischen Mathematikers und Philosophen Archimedes, bei der dieser das hydrostatische Prinzip entdeckt haben soll. Heureka ist die Perfektform von »heuriskein« und bedeutet also: Ich habe es gefunden. Das Wort diente Edgar Allen Poe als Titel einer kosmologischen Geschichte. Der sogenannten Heureka-Erfahrung verdanken sich mitunter bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse oder zentrale poetische Einsichten; sie stellt somit den Ereignisrahmen eines sogenannten Geistesblitzes115 dar, wobei die interessante Reimverbindung, die im Deutschen zwischen Witz und Blitz besteht, eine zusätzliche heuristische Analogie ergibt: eine witzblitzende Energie, die einem so manches Licht aufgehen lässt und bis »zum Blitze des Gedankens« geht, »der in sich selbst einschlägt, und von da aus eine Welt erschafft« (Hegel, 1971, S. 121). 114 Der »Erfinder« der »Neuen Phänomenologie« hat die Bisoziation, die ihn zu seinem Ansatz führte, so beschrieben: »Ich saß in der Bibliothek der Psychiatrischen Klinik in Kiel und las dort in einer psychiatrischen Zeitschrift, der französische Psychiater Eugène Minkowski habe den Begriff ›moi ici maintenant‹ eingeführt. Das war alles« (Schmitz, 2009, S. 21). Das heißt: Eine blitzlichtartige Wahrnehmung dieses eigentlich ganz naheliegenden »ich hier jetzt« im Jahr 1959 führte zu einem der umfangreichsten philosophischen Werke der Gegenwart und hat die Arbeit vieler Vertreter der Heil- und Beratungsberufe zum Teil nachhaltig inspiriert und ihr Sprechen und Wahrnehmen stark beinflusst (vgl. Becker, 2013) und seitens Schmitz eine bis heute andauernde Konzipierungs- und Erprobungsarbeit ausgelöst. 115 Entlang solcher Geistesblitze hat Manfred Geier »Eine Andere Geschichte der Philosophie« (Geier, 2013) geschrieben und diese »andere« Philosophiegeschichte anhand von Beispielen weiterwirkender Finde-Erfahrungen bei Parmenides, Descartes, Rousseau, Kant, Hamann, Nietzsche und Popper illustriert.
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Im Fall des Archimedes soll sich der Geistesblitz, der seine berühmte Findeerfahrung hervorbrachte, so zugetragen haben: Hieron II. war der neue Herrscher von Syrakus geworden. Er sah sich für einen Günstling der Götter an und wollte diesen durch eine Krone aus purem Gold seine Referenz erweisen. Goldschmiede fertigten die Krone. Es kam Hieron jedoch zu Ohren, dass die Schmiede einen Teil seines Goldes gestohlen haben könnten. Zwar wog die Krone genauso viel wie das Gold, das Hieron den Goldschmieden gegeben hatte, aber vielleicht hatten diese etwas Gold durch weniger wertvolles Silber ersetzt. So bat er Archimedes, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, ob in der Krone tatsächlich alles Gold verarbeitet worden sei. Archimedes war bekannt, dass Silber nicht die gleiche Dichte aufweist wie Gold. Sollte es sich also um Silber handeln, musste das Volumen der Krone größer sein als das des von Hieron zur Verfügung gestellten Goldes. Wie aber konnte Archimedes das Volumen der Krone bestimmen, da diese ein Gegenstand mit einer höchst unregelmäßigen Form war? Die Lösung zu finden, war somit schwer und Archimedes entsprechend angespannt. Angespannte Situationen verstärken jedoch die Blockaden. Und so beschloss er, etwas für seine Entspannung zu tun. Da kam ihm ein öffentliches Badehaus in den Sinn, das neben dem entspannenden, warmen Wasser und duftenden Essenzen auch reizende Sklavinnen versprach. Weiterhin über das Problem der Volumenbestimmung nachdenkend, betrat Archimedes das Badehaus und bemerkte, wie sein Körper gleichmäßig das Wasser verdrängte, als er in der Wanne Platz nahm. Diese »Tatsache und die Differenz der Höhe der beiden Wasserspiegel hatten [bislang] für ihn keinerlei Bedeutung gehabt, bis er sie [nun] plötzlich mit seinem Problem bisoziierte« (Koestler, 1966, S. 105). Das schockartige Zusammenbringen zweier scheinbar nicht zusammengehöriger Bereiche – die Volumenbestimmung von Edelmetallen und die Veränderung des Wasserspiegels, wenn Körper verschiedener Dichte eingetaucht werden – ließ Archimedes jenes Prinzip erkennen, das später nach ihm benannt worden ist. Archimedes soll nach seinem Geistesblitz nackt durch die Straßen von Syrakus gelaufen sein und mehrmals freudig »Heureka! Heureka!« gerufen haben. Wie präpariert man den inneren Resonanzboden in sich oder im Klienten und Kunden, in den dann »der Blitz« einer zufälligen und bis dahin nicht beachteten Alltagserfahrung »einschlagen« und passende
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Lösungen für schwer lösbare Probleme ans Licht bringen kann? Mit dieser Frage und einer Bemerkung des Heuristikforschers Georg Christoph Lichtenberg, dem es darum zu tun war, einen »Finder zu erfinden für alle Dinge« (Lichtenberg, 1971, S. 297), möchte ich meine anhand der Lebenswerkzeuge Sprache und Wahrnehmung unternommene Welterkundung nun beschließen. Denn den Umstand, dass beispielsweise die Menge aufgenommener Bildungsgüter noch keine Gewähr für heuristische Erfolge bietet, so dass bahnbrechende Entdeckungen und originelle Einsichten oft nicht von Fachleuten gemacht werden, diesen Umstand hat Lichtenberg mit einer Beobachtung von ungemein tref fender Metaphorik veranschaulicht: »Ich habe Leute gekannt von schwerer Gelehrsamkeit, in deren Kopf die wichtigsten Sätze zu Tausenden selbst in guter Ordnung beysammenlagen, aber ich weiß nicht wie es zuging, ob die Begriffe lauter Männchen oder lauter Weibchen waren, es kam nichts heraus. In einem Winkel ihres Kopfs lag Schwefel, im andern Kohlenstaub genug, aber das Pulver hatten sie nicht erfunden. Was ist das? Hingegen gibt es wiederum Menschen, in deren Kopf sich Alles sucht und findet und paart, und läge es auch anfangs eine ganze Kopfsbreite auseinander« (Lichtenberg, 1972, S. 113 f.).
Chronologische Liste der Übungen
Unaussprechliches (S. 12) Im Käfig meiner Wahrnehmungen (S. 15) Anfänge erkunden (S. 24) Persönliche Nullpunkte (S. 24) Ich und meine Sprache (S. 35) Drei Wörter (S. 38) Im Gespräch mit der Sprache (S. 45) Ohne (Eigen-)Namen (S. 59) Zuschreibungen (S. 65) Dasselbe mit anderen Worten (S. 68) Verstehen verstehen (S. 69) Begriffe begreifen (S. 78) Sprachbilder im professionellen Kontext (S. 86) Bilder des eigenen Lebens (S. 88) Genauigkeit und Klarheit (S. 91) Erkundung eines Gegenstands (S. 107) Stereoskopische Perspektiven (S. 113) »Der gedehnte Blick« (S. 117) Den Boden einer Selbstverständlichkeit berühren (S. 120) Den Leibrand wahrnehmen (S. 126) Der Leib als (Dialog-)Partner (S. 129) Vor dem Aufstellen (S. 137) Ontologische Sparkasse (S. 153) Mit geschlossenen Augen (S. 160) Kompositionen des Augenblicks (S. 162) Mehrteiliges Wörterbuch (S. 163) Inneres und äußeres Wahrnehmen (S. 164) Jemanden »wahrnehmen« oder ihn »beobachten« (S. 166) Die Grenzen meiner Welt (S. 171) Heuristische Sonden (S. 175)
Literatur
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