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German Pages 316 Year 2019
Gabriele Knetsch Die Waffen der Kreativen
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüistica Serie C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliografías H e r a u s g e g e b e n v o n / Editado por: Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de la Literatura, 22
Gabriele Knetsch
Die Waffen der Kreativen Bücherzensur und Umgehungsstrategien im Franquismus (1939-1975)
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main
1999
Für meine Eltern
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme (Iberoamericana / Editionen / A | Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie A, Literaturgeschichte und -kritik = Historia y critica de la literatura. - Frankfurt am Main : Vervuert Reihe Editionen, Serie A zu: Iberoamericana. • Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 22. Knetsch, Gabriele: Die Waffen der Kreativen. - 1 9 9 9 Knetsch, Gabriele: Die Waffen der Kreativen : Bücherzensur und Umgehungsstrategien im Franquismus (1939 - 1975) / Gabriele Knetsch. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Editionen der Iberoamericana : Serie A, Literaturgeschichte und -kritik ; 22) Zugl.: München, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-89354-879-3 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung von: Informe del lector sobre 'Javier Mariño' de G. Torrente Ballester, Ministerio de Educación y Cultura. Archivo General de la Administración (3045/AGA 7161-43). Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Inhalt
5
INHALT VORWORT
8
I. EINLEITUNG
9
II. VORGEHENSWEISE
13
III. ALLGEMEINER ZENSURTEIL
19
1. Historische Einordnung - Zensur als allgemeines Phänomen
19
2. Überblick über die Zensurforschung
21
3. Gegen die Begriffsverwirrung - Grunddefinitionen zur Zensur
22
3.1. Nicht jede Meinungseinschränkung heißt Zensur
22
3.2. Ein Begriff, viele Ansätze - literarische Zensur
23
3.3. Die „Schere im K o p f - Selbstzensur der Autoren
25
3.4. Zwischen allen Stühlen - der Verleger als Zensor
27
4. Zensur als komplexer Prozeß - der Zensor als „gatekeeper"
29
4.1. Darstellung der Methode
30
4.2. Prozeßcharakter der Zensorenentscheidung
31
4.3. Prozeßcharakter der Zensur
32
5. Umgehungsstrategien als Formen uneigentlicher Rede
33
5.1. Die Doppelcodierung filr Komplizen und Zensor
34
5.2. Listige Verschwörer - Signale filr den Komplizen
38
6. Verfahren des beredten Schweigens IV. PRAXIS DER FRANQUISTISCHEN BÜCHERZENSUR - DAS DIFFIZILE SPIEL ZWISCHEN ZENSOR, AUTOR UND VERLEGER
45
49
1. Selbstzensur und verdecktes Schreiben unter Franco
49
2. Die strenge Hierarchie der Zensurbehörde
53
3. Die Zensoren - Täter oder Komplizen?
55
4. Textexterne Einflußfaktoren der Bücherzensur
59
V. ZENSUR DER FRÜHPHASE - LIEBÄUGELN MIT DEM FASCHISMUS UND ABKEHR VOM FASCHISMUS (1939-1951)
63
6
Gabriele
Knetsch
1. Die Bücherzensur von 1939-1951
63
1.1. Soziopolitischer Überblick
63
1.2. Überblick Uber die Kommunikationspolitik
70
1.3. Das Literaturangebot
g|
1.4. Die Zensurkriterien
g2
2. Die Analyse von Torrente Ballesters Javier Marino (1943)
90
2.1. Vom Falangismus zur Desillusion - die weltanschauliche Position des Autors 90 2.2. Ein Falangist in Paris - Einführung zu Javier Marino 94 2.3. Warum das Buch verboten werden mußte - Zensurgeschichte
96
2.4. Das kritische Potential des Romans und seine Tarnstrategie
101
2.4.1. Das Analyse-Vorhaben 102 2.4.2. Versuchte Meinungsvielfalt - konkurrierende Figurenperspektiven im Text 104 2.4.3 Gezielte Unklarheit bei der Bewertung der Figurenperspektiven 2.4.4. Die Rechten sind nicht immer gut - Bewertung der Figuren
108 112
2.5. Javier Marifto, ein „dialogischer" Roman?
123
2.6. Schlußfolgerungen - die Position des impliziten Autors
124
3. Die Reaktion der Zensur auf andere Romane der Frühphase
126
VI. DAS SPANISCHE WIRTSCHAFTSWUNDER UND DIE KONSOLIDIERUNG DES REGIMES
(1951-1966)
1. Die Bücherzensur von 1951 -1966
131 131
1.1. Soziopolitischer Überblick
131
1.2. Überblick über die Kommunikationspolitik
135
1.3. Das Literaturangebot
139
1.4. Die Zensurkriterien
139
2. Die Analyse von Martin-Santos' Tiempo de silencio (1961) 2.1. Ein verfolgter Sozialist - weltanschauliche Position des Autors
145 146
2.2. Pedro, der glücklose Krebsforscher - Einführung in den Roman
148
2.3. Zensurgeschichte von Tiempo de silencio
151
2.4. Der Mythenansatz als Tarnstrategie - Analysevorhaben
161
2.5. Mythenzerstörung durch groteske Deformation
165
2.6. Mythenzerstörung durch Umkehrung der offiziellen Hierarchien
178
Inhalt
7 2.7. Unterwanderung der Mythen durch einen Gegencode
188
2.8. Schlußfolgerungen
198
3. Die Reaktion der Zensur auf andere Romane der Konsolidierungsphase
200
VII. DIE SPÄTPHASE - SPANIEN AUF DEM WEG ZUR EUROPÄISIERUNG
(1966-1975) 1. Die Bücherzensur von 1966-1975 1.1. Soziopol itischer Überblick
205 205 205
1.2. Überblick über die Kommunikationspolitik
207
1.3. Das Literaturangebot
217
1.4. Die Zensurkriterien
217
2. Die Analyse von Delibes' Cinco horas con Mario (1966)
223
2.1. Ein sozialer Christ - weltanschauliche Position des Autors
223
2.2. „Ich mußte Mario sterben lassen" - Zensurgeschichte von inco horas con Mario 2.3. Eine entlarvende Totenwache - Einführung in den Roman
224 227
2.4. Kritisch aber gut getarnt - Analysevorhaben
230
2.5. Carmen und die Wahrheit - eine zuverlässige Sprechinstanz?
231
2.6. Ironisch oder linientreu? - die Ambivalenz von Carmens Rede
235
2.7. Strategien zur Tarnung konkreter Tabus 2.7.1. Carmen als naive, aber regimekonforme Sprechinstanz
243 244
2.7.2. Ambivalenter memory monologue
246
2.7.3. Marios Positionen - indirekt und doch präsent
251
2.8. Die frustrierte Ehefrau - Carmens unterdrückte Sexualität
252
2.9. Schlußfolgerungen
258
3. Die Reaktion der Zensur auf andere Romane der Spätphase
260
VIII. SCHLUSSBEMERKUNG
265
IX. ANHANG
269
1. Zeittabelle: Überblick über den Franquismus
269
2. Interviews
274
3. Zensurdokumente
286
X. LITERATURVERZEICHNIS
301
8
Gabriele
Knetsch
VORWORT Wie kommt es eigentlich, daß es in den geschlossensten politischen Systemen immer auch eine widerspenstige, nichtkonforme Literatur gibt? Wie kommt es, daß das oppositionelle Wort trotz aller Kontroll- und Unterdrückungsmechanismen, die einer Diktatur zur Verfügung stehen, dennoch immer wieder an die Öffentlichkeit drängt? Wo wird andererseits dem Wort mehr Beachtung geschenkt als in der Diktatur? Die spanische Literatur unter Franco liefert eine Fülle geistreicher, verblüffender, witziger Beispiele fllr diesen Kampf mit den Waffen der Kreativen. Noch können wir Zeitzeugen zu ihren Erfahrungen mit der Zensur befragen - ohne die Interviews mit verschiedenen Schriftstellern und dem ehemaligen Direktor der BUcherzensur, Carlos Robles-Piquer, wäre diese Arbeit sicher weniger farbig und sehr viel lückenhafter geblieben. Insbesondere half mir der jüngst verstorbene Gonzalo Torrente Ballester, der mir in einem DreieinhalbStunden-Interview detailliert Auskünfte über die Zensur der Frühphase des Regimes gab. Die Literaturagentur von Carmen Balcells war mir in unkonventioneller Weise dabei behilflich, Kontakte zu den befragten Autoren herzustellen. Bedanken möchte ich mich auch bei allen, die mich mit ihrem wissenschaftlichen Rat unterstützt haben: an erster Stelle bei Frau Prof. Dr. Ilse Nolting-Hauff, die die komplette Fassung leider nicht mehr lesen konnte. Ihre schwere Krankheit und ihr Tod überschatteten die Endphase der Redaktion. Sie hat diese Arbeit durch ihre konstruktive Kritik von Anfang an begleitet und immer wieder mit kompetenten Vorschlägen weitergeholfen. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Gerhard Müller, der kurzfristig als Gutachter eingesprungen ist. Frau Prof. Dr. Ursula Koch und die katalanische Zensurforscherin Dr. Maria Josepa Gallofré brachten diese Arbeit durch wichtige Anregungen aus der Perspektive historisch arbeitender Kommunikationswissenschaftlerinnen weiter. Herr Prof. Dr. MeyerMinnemann betreute mit großer Gründlichkeit die Vorbereitung der Arbeit für die Veröffentlichung. In angenehmer Erinnerung behalte ich die kollegialen Gespräche mit Doktorandinnen, die in Madrid ebenfalls zum Thema Zensur geforscht haben; der Gedankenaustausch mit ihnen half mir Uber manche Zweifel hinweg. Auch schätzte ich die Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter des Archivo General de la Administración in Alcalá de Henares und die Tertulias in der Madrider Biblioteca Nacional, in denen so mancher contertulio mir seine persönliche Zensurgeschichte erzählte. Ein Kurzstipendium des DAAD und ein Stipendium der Universität München leisteten wichtige finanzielle Hilfe. Mein ganz besonderer Dank aber gilt meinen Eltern, die mich während der Zeit meiner Promotion unterstützt haben, und meinen Freunden. Reinhard, Angelika, Steffen, Rainer und Christian waren meine ersten Leser - ihre kritischen Kommentare bedeuteten mir viel und flössen in diese Arbeit ein. Olga und Francisca halfen mir beim Korrekturlesen, Stefan mit seiner Ruhe und seinem technischen Knowhow bei der Formatierung dieser Arbeit. Ohne sie alle hätte ich diese Arbeit so nicht schreiben können. München, im Mai 1999
G.K.
I. Einleitung
9
I. EINLEITUNG Llega un momento en que el mejor censor eres tú. Era una frustración continua. Todavía me caen gotas de sudor acordándome como tenia que buscar sinónimos cómo lo digo de otra manera. (Ana María Matute)1 Todas las ideas que se me han ocurrido las he desarrollado de una forma o de otra; es decir, la censura puede haber influido quizás en el lenguaje, en la forma de expresión, pero no en la idea en si. (Francisco Umbral)2 So unterschiedlich erlebten zwei renommierte spanische Schriftsteller, Francisco Umbral und Ana María Matute, die Zensur unter Franco. Unterschiedliche Erfahrungen, Schreibstile, aber auch eine unterschiedliche Bereitschaft, als Autor Kompromisse einzugehen, prägten ihr Verhältnis zur Zensur. Ana María Matute erregt sich noch heute, wenn sie an den Kampf gegen die Zensur denkt - immerhin wurde eines ihrer wichtigsten Bücher (Luciérnagas) verboten. 3 Umbral lavierte sich hingegen durch eine vieldeutige Schreibe um die Tücken der Zensur herum und entwickelte einen sportlichen Ehrgeiz, die Zensoren auszutricksen einer der Fälle, in denen Zensur die Kreativität förderte. Wie beeinflußte die Zensur die Schreibweise der Autoren? Welche Strategien entwickelten sie gegen die Zensur? Wie funktionierte die Bücherzensur unter Franco? Diese Fragen sollen im Verlauf dieser interdisziplinären Arbeit beantwortet werden. Dabei verbinde ich einen kommunikationswissenschaftlichen mit einem literaturwissenschaftlichen Ansatz. Zur Erfassung der zensurspezifischen Kommunikationssituation wende ich linguistisch-pragmatische Sprechaktmodelle an, die sich mit uneigentlicher Sprache befassen. Sie markieren eine Schnittstelle zwischen beiden Disziplinen, da sie einerseits textexteme Faktoren für das Gelingen eines indirekten Sprechaktes und andererseits die ftlr die Literaturwissenschaft relevanten, potentiell ästhetisch wirkenden textinternen Strategien uneigentlicher Redeweise untersuchen. Die Zensurentscheidung wird in dieser Arbeit nicht eindimensional als bloßes Streichen einzelner Passagen, sondern als komplexer Prozeß verstanden, auf den verschiedene Faktoren einwirken. Zur systematischen Erfassung habe ich das in der Kommunikationswissenschaft zentrale
'„Es kommt der Augenblick, wo man selbst sein bester Zensor ist. Für mich war es eine standige Frustration. Noch heute bekomme ich Schweißausbrüche, wenn ich an die Suche nach Synonymen - wie sag ich's anders - denke." Interview vom 24. Februar 1994 in Barcelona. Diese und alle weiteren spanischen Zitate wurden von der Verfasserin übersetzt. 2
„Alle Ideen, die mir eingefallen sind, habe ich auch auf irgendeine Art und Weise entwickelt; das heißt, die Zensur hat vielleicht die Sprache beeinflußt oder die Form des Ausdrucks, aber nicht die Idee selbst." Antonio Beneyto: Censura y política en los escritores españoles. Barcelona 1975, S. 43.
3
Vgl. M. L. Abellán: „Censura y producción literaria inédita", in: Insula 359/1976, S. 3.
10
Gabriele Knetsch
gatekeeper-Modell herangezogen, mit dem üblicherweise Selektionsprozesse in der Nachrichtenforschung untersucht werden. Der Hauptteil der Arbeit widmet sich der Untersuchung der Bücherzensur im Franquismus aus institutionsgeschichtlicher und aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Da der Kommunikationsakt zwischen Autor und Zensor einerseits und Autor und komplizenhaftem Leser andererseits ohne Kenntnisse des soziologischen Hintergrundes und der Institutionsgeschichte nicht kompetent beurteilt werden kann, soll zunächst die Kommunikationspolitik des Regimes sowie die Funktionsweise der Zensurbehörde ausführlich untersucht werden. Die Literaturanalysen beschäftigen sich dann mit der Wirkung der Zensur auf fiktionale Texte in struktureller, thematischer und ästhetischer Hinsicht. Dies wird exemplarisch an drei nonkonformistischen, literaturgeschichtlich bedeutsamen Romanen vorgenommen: Javier Marino von Gonzalo Torrente Ballester (1943), Tiempo de silencio von Luis Martín-Santos (1961) und Cinco horas con Mario von Miguel Delibes (1966). Die Romane lassen sich verschiedenen Phasen des Franquismus zuordnen: der quasi-faschistischen Frühphase (1939-51), der wirtschaftlich erfolgreichen Konsolidierungsphase (1951-66) und der durch ein stark konfliktives Potential gekennzeichneten Spätphase (1966-75). Grundlage der Studie ist ein sechsmonatiger Forschungsaufenthalt im Archivo General de la Administración in Alcalá de Henares. Dort habe ich Dokumente zur Bücherzensur, insbesondere die Zensurgutachten aus den Erscheinungsjahren der oben erwähnten Romane, eingesehen und ausgewertet. Diese aufwendige Recherche war nötig, da bisher kaum systematische Gesamtdarstellungen zur Bücherzensur im Franquismus vorliegen. Diese Arbeit ist der Versuch einer empirisch untermauerten Geschichte der franquistischen Bücherzensur. Schließlich können die - unter Franco streng geheimgehaltenen - Zensurdokumente erst seit den 80er Jahren von Forschem eingesehen werden, so daß die franquistische Zensur in Spanien ein relativ aktuelles Forschungsgebiet darstellt. Die Dokumente im Archivo General de la Administración können jetzt großteils problemlos gesichtet werden. Eine wichtige Ausnahme stellen die Personalakten der Zensoren dar, zu denen aus Gründen des Personenschutzes der Zugang verwehrt bleibt. Daher kann die zentrale Frage nach dem Personal der Zensurbehörde in dieser Arbeit nicht erschöpfend beantwortet werden. Besonders wichtig für die literaturwissenschaftlich orientierte Zensurforschung erschien mir eine genaue Kenntnis der größtenteils nicht explizit fixierten Kriterien der Bücherzensur, um davon ausgehend Streichungen der Zensoren, aber auch getarnte Passagen der Autoren in belegbarer Form zu analysieren. Denn eine rein textzentrierte Vorgehensweise bringt für diesen Bereich der Literaturwissenschaft keine befriedigenden Ergebnisse. Entgegen der Theorielastigkeit heutiger literaturwissenschaftlicher Publikationen wird daher in dieser Arbeit besonderer Wert auf eine empirische Fundierung gelegt. Die Auswertung der Zensurgutachten liefert ein relativ genaues Raster für Tabuthemen im Franquis-
I. Einleitung
11
mus, das die von Schriftstellern und Wissenschaftlern oft beklagte „Willkür" 4 der Zensur in einem neuen Licht erscheinen läßt. Zusätzliche Erkenntnisse, insbesondere über die Anwendung literarischer Umgehungsstrategien, liefern meine 1994 und 1995 geführten Interviews mit sechs von der Diktatur betroffenen Schriftstellern: Torrente Ballester, Miguel Delibes, Juan Goytisolo, Ana María Matute, Manuel Vázquez Montalbán und Juan Marsé. Mitarbeiter der renommierten Verlage Seix Barrai und Destino sowie des kleinen katalanischen Verlags Abadía de Montserrat vermittelten /ns/der-Informationen über den praktischen Umgang mit der Zensurbehörde. Besonders aufschlußreiche Interna erbrachte das Gespräch mit Carlos Robles-Piquer, der unter Informationsminister Manuel Fraga Iribarne als Generaldirektor für die Bücherzensur arbeitete und heute als Abgeordneter des konservativen Partido Popular im Europaparlament sitzt. Die analysierten Romane stammen von unterschiedlich regimekritischen Autoren. Dabei werden bei der Analyse einerseits unmittelbare Eingriffe der Zensur aufgezeigt und auf der Basis der von mir herausgearbeiteten Zensurkriterien erläutert und andererseits die Texte im Hinblick auf ihr regimekritisches Potential gelesen sowie Hypothesen darüber entwickelt, wie die Autoren ihre Regimekritik tarnten. Es sollen nicht bloß, wie in der literaturwissenschaftlichen Zensurforschung oft praktiziert, einzelne Anspielungen untersucht werden, 5 sondern getarnte Regimekritik auch auf einer (ästhetisch) komplexeren strukturellen Ebene herausgearbeitet werden, da die Zensoren derart verschlüsselte Botschaften besonders schlecht streichen konnten. Der Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Analyse liegt auf der Frage nach dem Schreibprozeß in der Diktatur - nach den „Waffen der Kreativen". Im Zusammenhang mit den verwendeten Tarnverfahren werden verschiedene literaturtheoretische Konzepte berücksichtigt, die sich angesichts der Unterschiedlichkeit der ausgewählten Romane nicht vereinheitlichen lassen. Allerdings wird sich diese Theoriediskussion im Hinblick auf das Thema Zensur in engen Grenzen halten. Die in der Literaturwissenschaft üblicherweise stark gewichtete Erzähltheorie ist fiir mein Thema nur insoweit relevant, als sie Hilfestellungen leistet, die Funktionsweise bestimmter Umgehungsstrategien besser zu verstehen.
4
Vgl. Manuel L. Abellán: Censura y creación literaria en España (1939-76). Barcelona 1980, S. 91.
5
Vgl. Klaus Kanzog, „Textkritische Probleme der literarischen Zensur. Zukünftige Aufgaben einer literaturwissenschaftlichen Zensurforschung", in: Herbert G. Göpfert/Erdmann Weyrauch (Hg.): .,Unmoralisch an sich ..." - Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1988, S. 309-331; José Sánchez Reboredo, Palabras tachadas (Retórica contra censura). Alicante 1988; oder Ilse Nolting-HautT, „Literatur und Zensur am Beispiel der Sueños von Quevedo" in: dies. (Hg.): Textüberlieferung - Textedition - Textkommentar. Kolloquium zur Vorbereitung einer kritischen Ausgabe des Sueño de la muerte von Quevedo (Bochum 1990). Tübingen 1991, S. 31-55.
12
Gabriele Knetsch
Abschließend stellt sich die Frage, inwieweit die Zensur Texte ästhetisch beeinflussen kann. Untersucht wird in den drei Romanen, a) inwiefern die Zensur Uberhaupt auf den Schreibprozeß einwirkt, und b) ob die Zensur kreativitätsfördernd oder im Gegenteil kommunikationshemmend wirkt. Dabei werden jüngste Ansätze kritisch weiterdiskutiert, die optimistisch von einer stimulierenden Wirkung der Zensur auf die Literatur ausgehen. 6 Die beiden Ginleitungszitate zeigen bereits, wie widersprüchlich die Autoren selbst auf diese These reagieren. Auf jeden Fall ist die Zensur in Spanien noch heute ein Thema, das nicht nur unter jenen, die den Franquismus miterlebt haben, leidenschaftlich diskutiert wird. Wenn diese Studie dazu beitragen kann, diese Diskussionen durch zusätzliches Faktenmaterial zu fundieren, ist ihr Ziel voll und ganz erreicht.
6
Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Macht und Ohnmacht der Zensur. Literatur, Theater und Film in Spanien (1933-1976). Stuttgart 1991.
II. Vorgehensweise
13
II. VORGEHENSWEISE Diese Arbeit gliedert sich in zwei große Teile: einen „Allgemeinen Zensurteil" und einen speziellen, der Bücherzensur im Franquismus gewidmeten Teil. Im ersten Teil werden wichtige Begriffe geklärt und die fllr diese Arbeit relevanten Zensurmodelle dargestellt: das gatekeeper-Modell filr die institutionsgeschichtliche Analyse und die linguistisch-pragmatischen Sprechaktmodelle filr die Analyse zensurbedingter Umgehungsstrategien. Eine kurze historische Einordnung des Themas soll diesen Teil abrunden und zeigen, daß Umgehungsstrategien zu allen Zeiten in ähnlicher Form zum Einsatz kamen. Der zweite Teil dieser Arbeit gliedert sich chronologisch in drei Phasen des Franquismus, die auf der Basis der Einteilung von Javier Tusell7 entwickelt wurden. Einerseits sind seine Zeiträume groß genug, um signifikante Änderungen zu erfassen, andererseits stimmt seine Periodisierung gut mit der Entwicklung der Zensurpraxis Uberein: •
Die Frühphase - Liebäugeln mit dem Faschismus und Abkehr vom Faschismus (1939-1951);
•
Das spanische Wirtschaftswunder und die Konsolidierung des Regimes (1951-1966);
•
Die Spätphase - das Erstarken der Opposition und konfliktive öffnungsversuche (1966-1975).
Für jede dieser Phasen wird ein kurzer soziopolitischer Überblick gegeben, die Kommunikationspolitik des Regimes dargestellt, das Literaturangebot und die Zensurkriterien erarbeitet. Außerdem wird jeweils ein ästhetisch bedeutender Roman im Hinblick auf die Zensur analysiert: Gonzalo Torrente Ballesters Javier Marifio (1943) für die Frühphase, Luis Martfn-Santos' Tiempo de silencio (1961) filr die Konsolidiemngsphase und Miguel Delibes' Cinco horas con Mario (1966) für die Spätphase des Franquismus. Das Phänomen Zensur wird dadurch interdisziplinär sowohl aus soziopolitischer als auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht erfaßt, und zwar zunächst aus der Sicht des Staates und dann aus der Perspektive der Autoren. Die Arbeit ist als „Geschichte der franquistischen Bücherzensur" von der Frühphase bis zum Ende des Regimes konzipiert und soll auch Veränderungen der Zensurpraxis erfassen.
7
Javier Tusell: La Espana de Franco. Madrid 1989.
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Gabriele Knetsch
a) Soziopolitischer Überblick Die Interdependenz zwischen historisch-soziologischen Faktoren und den Maßnahmen literarischer Zensur ist in der Zensurforschung immer betont worden. 8 Die Zensurpraxis kann bei allen Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen Zensursystemen unterschiedlicher Epochen und Ideologien nur erfaßt werden mit Blick auf die jeweilige Machtkonstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt und auf die dadurch bedingten Werte und Normen. Ein kurzer soziopolitischer Überblick erweist sich daher als notwendig für das Verständnis der speziellen Zensurpraxis unter Franco, aber auch filr die untersuchten Romane. Es geht dabei nicht um eine erschöpfende historische Darstellung des Franquismus, sondern um das Fundament filr diese Arbeit, die mit dem Thema „Zensur" die Verbindungsstelle zwischen Politik und Literatur untersucht. 9
b) Überblick über die Kommunikationspolitik Die staatliche Kommunikationspolitik umfaßt zwei Aspekte: einerseits Gesetzgebung und Kontrolle der Kommunikation, andererseits Propaganda und die aktive Förderung einer Kultur im Sinne des Regimes. Diese Rahmenbedingungen für die literarische Zensur im Franquismus sollen im Verlauf der drei Phasen auf der Basis der im Boletín Oficial del Estado veröffentlichten Gesetze, der ArchivDokumente, meiner Interviews und der Sekundärliteratur zu diesem Thema untersucht werden.
c) Die Literaturproduktion Die Entwicklung einer Zensurpraxis hängt nicht nur von den Veränderungen im offiziellen Apparat ab, sondern auch davon, was die Autoren der Zensurbehörde vorlegten. So läßt sich grundsätzlich sagen, daß die Schriftsteller unter Franco die Toleranzschwelle permanent hinausschoben, indem sie immer nonkonformistischere Werke einreichten. Die Zensur konnte schließlich nicht mehr alle Tabuverstöße ahnden. Ein wichtiger Faktor war dabei der Rückhalt durch renommierte Verlage wie Seix Barrai oder Destino, die sich - trotz Zensur - ab den 50er Jahren entschlossen, gezielt Werke zu fördern, die nicht mit den Normen des Regimes Ubereinstimmten. Daher werden für jede Phase Daten über die Entwicklung des Literaturangebots aufgeführt. Als Quellen dienen erstens die Zensurgutachten selbst und zweitens die Verlagskataloge von Seix Barrai.
d) Analyse der Zensurkriterien Die Kenntnis der Kriterien für die BUcherzensur ist eine Voraussetzung für die nachfolgende literaturwissenschaftliche Analyse, denn erst wenn die Tabus des Regimes bekannt sind, wird klar, welche Themen die Autoren überhaupt vor der
8
Vgl. Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968, S. 21, sowie Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982, S. 12.
9
Eine ausführliche Zeittabelle befindet sich im Anhang.
II.
Vorgehensweise
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Zensur tarnen mußten, und warum die Zensoren bestimmte Passagen strichen. Die Zensurkriterien wurden einerseits durch die Auswertung von Streichungen und Anmerkungen der Zensoren und andererseits durch eine Inhaltsanalyse der Zensurgutachten ermittelt. Diese Auswertung erschien notwendig, da die Normen filr die Bücherzensur nicht für alle Phasen des Franquismus schriftlich fixiert sind - und wenn, dann nicht detailliert genug. Außerdem interessierte mich insbesondere die Praxis der Zensoren, die erheblich von diesen Vorgaben abweichen konnte, sich aber sehr viel konkreter auf die Literatur auswirkte. Überblick über den Forschungsstand Cisquella/Erviti/Sorolla bemühten sich 1977 um eine erste Kategorisierung der Tabus. 10 Allerdings bezieht sich ihre Untersuchung ausschließlich auf die Zeit nach Fragas Pressegesetz von 1966. Außerdem hatten die Autoren dieser frühen Darstellung zur franquistischen Bücherzensur noch keinen Zugang zu den staatlichen Archiven und mußten sich daher auf die Aussagen von Verlegern oder einzelne Dokumente aus den Verlagsarchiven stützen - eine systematische Auswertung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Manuel L. Abelldn arbeitete für seine 1980 erschienene Untersuchung als erster mit dem staatlichen Archivmaterial. Allerdings ermittelte er die Zensurkriterien nicht durch eine für diesen Zweck naheliegende inhaltsanalytische Auswertung der Zensurdokumente, sondern durch zusätzliche Autoreninterviews. 11 Das Instrument der Befragung erscheint für dieses Ziel jedoch problematisch, da die Autoren die geheimgehaltenen Gutachten nicht zu sehen bekamen und wenig Einblick in die Zensurpraxis hatten; sie gaben daher folgerichtig zur Antwort, die Kriterien als willkürlich zu empfinden. Auch die von mir - ohne Anspruch auf Repräsentativst - befragten sechs Autoren hatten zwar eine gewisse Vorstellung von den offiziellen Tabus, kannten aber keine konkreten Regeln und wußten wenig über die interne Organisation der Zensurbehörde. Die Willkür der Zensur ist eine von Abelläns Hauptthesen - durch sein Verfahren wird sie allerdings nicht hinreichend überprüft. 12 Die Zensurdokumente verwendet Abellän fllr einen chronologischen, aber nur exemplarischen Überblick über die Entwicklung der Zensur im Anhang.
10
Georgina Cisquella et alii: Diez años de represión cultural. La censura de libros durante la ley de Prensa (1966-76). Barcelona 1977, S. 76-84. Die Autoren untergliedern die Tabus in die Themenbereiche „Zeitgeschichte", „Marxismus und andere besiegte Ideologien", „Sexualität", „Religion" und „verfemte Autoren".
11
Abellán 1980, S. 87-96.
12
Natürlich ist es richtig, daß die Zensurbehörde mit erheblichem Spielraum arbeitete, das bedeutet aber nicht, daß es überhaupt keine Kriterien gegeben hat, wie bereits die unvollständige Kategorisierung von Cisquella et alii zeigt.
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Gabriele Knetsch
Auswertung der Zensurgutachten von 1943, 1961, 1966 und 1971 Die Auswertung der Zensurgutachten umfaßt die Zeit vom Beginn bis zum Ende des Franquismus. Das Ausgangsmaterial der Untersuchung bilden insgesamt 210 Zensurgutachten samt den Streichungen in den entsprechenden Werken. Berücksichtigt wurden stichprobenartig Gutachten aus den Erscheinungsjahren der drei analysierten Romane (1943, 1961 und 1966). Ergänzt wurden die Ergebnisse durch eine Längsschnittanalyse, die SO Gutachten zu literaturgeschichtlich bedeutsamen Romanen zwischen 1939 und 1975 beinhaltet. Die Längsschnittanalyse verbindet die punktuelle Auswertung der drei Querschnittanalysen. Auf diese Weise konnte ich die Entwicklung der Zensurpraxis im Verlauf von 40 Jahren Diktatur mitberücksichtigen. Das neue Pressegesetz von 1966 (Erscheinungsjahr von Cinco horas con Mario) markiert zwar bereits die Endphase des Regimes, um aber weitere Änderungen der Zensurpraxis bis zu Francos Tod nicht zu Ubersehen, wurde filr 1973 zusätzlich eine kleine Kontroll-Stichprobe aus zehn Gutachten gebildet. Für die Kategorienbildung habe ich die grobe Einteilung von der Zensurbehörde selbst übernommen: Die Vordrucke filr die „Lektoren" forderten die Überprüfung aller Bücher nach folgenden Kriterien: •
Angriffe auf das politische Dogma
•
Angriffe auf die Kirche
•
Angriffe auf die Moral
•
Angriffe auf die Institutionen und Gruppierungen des Regimes
•
In der Frühphase hatten die Zensoren auch die literarische Qualität eines Werkes zu beurteilen.
Diese Kriterien sind jedoch viel zu unspezifisch, um damit konkrete Streichungen zu beurteilen. Diese allgemeinen Übergruppen werden daher derart spezifiziert, daß sie dem ideologischen Profil des Franquismus entsprechen. Konkrete Tabuthemen kristallisieren sich aus den Streichungen und den Argumenten der Zensoren heraus: Dabei wurde jedes einzelne Argument in den Gutachten berücksichtigt. Oft führten die Zensoren in einem Gutachten mehrere - manchmal sogar konfliktive - Argumente auf. Für die Zensurentscheidung galt in diesen Fällen: die Zensoren unterdrückten die kritischen Stellen einfach (Streichung), oder sie führten eine Art Güterabwägung durch, in der sich - je nach soziopolitischer Herkunft des Zensors oder Anordnung von oben - das wichtigste Kriterium durchsetzte. Für das Jahr 1943 werden die Kriterien detailliert ausgeführt und interpretiert, während es bei den darauffolgenden Phasen, also den Jahren 1961 und 1966 (bzw. 1973 als Kontrollstichprobe) genügen soll, nur mehr auf Veränderungen und besonders auffällige Konstanten einzugehen. Die Zensurkriterien wurden zwar in erster Linie durch eine qualitative Inhaltsanalyse ermittelt, aber durch eine quantitative Auswertung ergänzt. Letztere erweist sich besonders filr den
II. Vorgehensweise
17
Vergleich der Zensurpraxis in den verschiedenen Phasen als hilfreich, um bestimmte Trends auch durch Zahlen zu untermauern.
Die zensurorientierte Romananalyse Die drei Romane Javier Marino (1943) von Gonzalo Torrente Ballester, Tiempo de silencio (1961) von Luis Martin-Santos und Cinco horas con Mario (1966) von Miguel Delibes wurden nach folgenden Kriterien ausgewählt: •
Die Romane sollten aus unterschiedlichen Phasen des Franquismus stammen.
•
Berücksichtigt wurden nur literarisch ergiebige, in den gängigen Literaturgeschichten anerkannte Romane, in denen Autoren mit Umgehungsstrategien arbeiteten.
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Die ausgewählten Romane sollten repräsentativ für unterschiedliche literarische Strömungen und Modernitätsgrade im franquistischen Spanien sein.
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Die Romane sollten ein kritisches Potential enthalten, das gegen Tabus des Regimes verstößt.
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Die Zensurdokumente sollten vorhanden sein, um die Zensur der drei Romane in belegbarer Form zu analysieren.
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Es wurden drei Autoren ausgewählt, die in unterschiedlicher Distanz zum Regime standen.
Javier Marino von Torrente Ballester erschien in der Frühphase des Franquismus, in der die faschistische Falange noch beträchtlichen Einfluß ausübte. Interessant für die Zensurforschung ist dieses Werk der Nachkriegszeit, weil es von einem falangistischen, also im Grunde regimekonformen Autor verfaßt wurde. Torrente entwickelte mit Javier Marifio einen zwar falangistischen, aber politisch keineswegs einwandfreien Protagonisten, es handelt sich vielmehr um einen problematischen und wankelmütigen „Anti-Helden", der permanent gegen seine ideologischen Grundsätze verstößt. Torrente wendete Umgehungsstrategien in seinem ersten Roman noch sehr plump an - das Buch wurde - nachdem es die Zensur schon passiert hatte - im Nachhinein noch verboten, obwohl der Autor im Hinblick auf die Zensur bereits im Vorfeld entscheidende sinnverändernde Eingriffe vorgenommen hatte. Der avancierte und wegweisend innovative Roman Tiempo de silencio von Martin-Santos wurde bereits unmittelbar nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1961 in literarischen Kreisen ein beachtlicher Erfolg. Der Roman stellt sowohl für die literaturwissenschaftliche Analyse als auch für die Zensurforschung eine Herausforderung dar, da Martin-Santos in einer außerordentlich mehrdeutigen, symbolischen Sprache Tabuthemen wie Inzest, Abtreibung oder staatliche Repression aufgreift. Bereits der Titel („Zeit des Schweigens") dürfte ein Hinweis auf den repressiven Geist der Diktatur sein. Das Buch erlitt zwar erhebliche zensurbedingte Streichungen, der subversive politische Gehalt war jedoch gut getarnt und blieb weitgehend unangetastet.
18
Gabriele Knetsch
Für Cinco horas con Mario von Miguel Delibes galt bereits das 1966 verabschiedete neue Pressegesetz von Informationsminister Fraga Iribarne. Das Buch fällt damit in die von Reformen gekennzeichnete Spätphase. Dies mag ein Grund dafür sein, daß der Roman die Zensur ohne Schwierigkeiten passierte. Ein weiterer ist sicherlich die geschickte Tarnung des regimekritischen Gehalts: Die Franquistin Carmen monologisiert am Totenbett ihres Mannes Mario. Durch ihre Rede entlarvt sie einerseits ihre eigene enge Mentalität und andererseits die ihres nonkonformistischen Ehemannes. Nebenbei bringt sie eine Fülle von Details über den Umgang des Regimes mit seinen Gegnern zur Sprache. Carmen läßt sich aber, wie die Analyse zeigen wird, nicht nur als Apologetin des Regimes, sondern in sexueller Hinsicht als Protestfigur deuten, die aus den engen Grenzen der Moral ausbricht. Bei den Romananalysen wird jeweils als erstes die weltanschauliche Position des Autors aufgezeigt - als Quellen dafür dienen Archivmaterial, signifikante Veröffentlichungen dieser Autoren, sowie ergänzende Interviews mit ihnen. Diese textextemen Kenntnisse erweisen sich in potentiell politisch motivierter Literatur als notwendig, um zweifelhafte Stellen zuverlässig beurteilen zu können. Daraufhin erfolgt auf der Basis der Zensurgutachten die Untersuchung der individuellen Zensurgeschichte des Romans und zensurbedingter Änderungen. Der Schwerpunkt der Analysen aber liegt auf der Herausarbeitung des regimekritischen Potentials der Texte und der jeweiligen Tarnstrategien.
///. Allgemeiner Zensurteil
19
III. ALLGEMEINER ZENSURTEIL Bücherzensur existiert, seit es Bücher gibt. Heinrich Hubert Houben betrachtet die Zensur daher als konstitutiven Faktor der neuzeitlichen Buchgeschichte13 und Dieter Breuer koppelt seine Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland an die Geschichte der Medien und Wertvorstellungen der Gesellschaft.14 Die franquistische Zensur läßt sich also in eine lange Traditionsreihe einordnen. Das franquistische Regime selbst rekurrierte in seiner offiziellen Rhetorik häufig auf die Zensur des Siglo de Oro. Daher soll dieser „Allgemeine Zensurteil" mit einem kurzen historischen Abriß Uber die Bücherzensur in Europa und insbesondere in Spanien begonnen werden.
1. Historische Einordnung - Zensur als allgemeines Phänomen Üblicherweise wird die moderne Zensur mit der Erfindung des Buchdrucks angesetzt, da erst die schnelle und massive Verbreitung von gedruckten Ideen kirchliche oder weltliche Instanzen derart in Unruhe versetzte, daß sie die systematische Kontrolle von Schriften veranlaßten. Dennoch ist literarische Zensur schon für die Antike belegbar:15 Im antiken Griechenland etwa ließ der Magistrat die Schriften von Anaxagoras und Protagoras wegen Gotteslästerung verbrennen und die Autoren verbannen. Eine allgemeine Vorzensur setzte jedoch erst nach der Erfindung des Buchdrucks ein. Als erstes neuzeitliches Zensur-Dokument mit breiter Wirkung erließ Papst Innozenz VIII. im Jahr 1487 eine Bulle, in der die Vorzensur angeordnet wurde, damit nicht gedruckt werde, was „dem rechtsgläubigen Dogma entgegengesetzt, gottlos oder Ärgernis erregend" sei.16 Offenbar wurde diese Vorschrift allerdings noch nicht mit der gewünschten Effektivität umgesetzt. Ein neues Stadium der Zensur läßt sich daher mit der sich ausbreitenden Reformation ansetzen, „als die angestrebte Präventivzensur allein nicht mehr ausreichte und die Kirche zu einer ständigen und gleichmäßigen Prohibitivzensur griff'. 17 Die Inquisition erstellte 1559 mit dem „Index librorum prohibitorum" ein Verzeichnis, das alle bisher verbotenen Bücher bestimmter Schriftsteller enthielt. Diese Prohibitivzensur zielte auf das Verbot bereits erschienener Bücher ab.
13
H. H. Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger. Bd. 1. 1924-25, Nachdr. Hildesheim 1965, S. 5.
14
Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982, S.14.
15
Vgl. Otto 1968, S. 22-24.
16
Hans J. Schütz: Verbotene Bücher. München 1990, S. 18.
17
Otto 1968, S. 26.
20
Gabriele Knetsch
In Spanien wurde die Zensur in einer „Quasi-Arbeitsteilung" 18 von der Inquisition und der Krone gemeinsam ausgeübt: während die weltlichen Institutionen die Vorzensur durchführten, beschränkte sich die Inquisition auf die nachträgliche Kontrolle und das Verbot ketzerischer Bücher durch die Veröffentlichung auf dem „Index librorum prohibitorum". Bemerkenswert ist, daß die spanischen Indices von denen der Päpste abwichen - ein bestimmtes Buch konnte dadurch in Spanien erscheinen, während es in Rom verboten war und umgekehrt. Neben dem „Index librorum prohibitorum" führte die spanische Inquisition im Unterschied zur römischen zusätzlich den „Index librorum expurgatorum" ein, eine Liste mit Büchern, die nach der Beseitigung anstößiger Stellen wieder frei zirkulieren durften. Die gesamte Literaturproduktion des Landes wurde durch diese Instrumente lückenlos kontrolliert; Ketzer riskierten harte Strafen durch die Inquisition. 19 Erst 1834 wurde die Inquisition in Spanien definitiv abgeschafft. Das bedeutete natürlich keineswegs ein Ende der spanischen Zensur. Die spanischen Aufklärer wie Larra oder Blanco White schrieben voller Frust gegen die Zensur an. Unter der Diktatur Miguel Primo de Riveras von 1923 bis 1930 litten die Intellektuellen noch einmal unter einer extrem reaktionären Zensurpolitik, die dem Diktator ihre erbitterte Feindschaft einbrachte. Letztlich scheiterte Primo de Rivera sogar, weil er sich nicht nur die Sympathien der Intellektuellen, sondern auch«der Industriellen, der Katalanen und des Militärs verscherzt hatte. Nach dem Ende des Liberalismus schien die Zensur im übrigen Europa an Bedeutung verloren zu haben, doch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts entdeckten sie wieder als wirksames politisches Instrument. Nationalsozialisten und Stalinisten sicherten ihre Herrschaft gleichermaßen durch eine totale Informationskontrolle ab, die für regimekritische Schriftsteller mit der Gefahr für Leib und Leben verbunden war. 20 In beiden Systemen bedeutete die Zensur als negative Maßnahme allerdings nur einen Teil staatlicher Kulturpolitik, denn die Verbreitung der offiziellen Ideologie wurde durch zusätzliche Maßnahmen gewährleistet: Zwangsmitgliedschaft von Künstlern in staatlichen Institutionen (z.B. der „Reichskulturkammer" im Nationalsozialismus), offizielle Anweisungen an die
18
Ilse Nolting-HaufF: „Literatur und Zensur am Beispiel der Sueños von Quevedo", in: dies. (Hg.): Textüberlieferung - Textedition - Textkommentar. Kolloquium zur Vorbereitung einer kritischen Ausgabe des Sueño de la muerte von Quevedo (Bochum ¡990). Tübingen 1991, S. 31-55, dort S. 33.
19
Schütz (1990: 57) nennt zwei Beispiele: ein Buchschmuggler, der die protestantische Gemeinde von Sevilla jahrelang mit „ketzerischen" Büchern versorgt hatte, büßte auf dem Scheiterhaufen. Ein spanischer Professor, der Vorträge nach einem verbotenen Buch gehalten hatte, wurde 1645 mit dauerndem Lehrverbot und vier Jahren Haft bestraft.
20
Ebenda, S. 178-181 und Hans Norbert Fügen: „Zensur als negativ wirkende Institution", in: Alfred Clemens Baumgärtner (Hg.): Lesen. Ein Handbuch. Hamburg 1974, S. 623-642, dort insbes. S. 627 und S. 629f.
III Allgemeiner Zensurteil
21
Verlage, Förderung ideologisch erwünschter Autoren. Inwieweit die Informationspolitik im Franquismus von totalitären Zügen geprägt ist, wird die Analyse zeigen.
2. Überblick über die Zensurforschung Die ältere Zensurforschung beschäftigte sich vornehmlich mit der Institution der Zensur. Anstöße kamen im ausgehenden 19. Jahrhundert von Seiten der Buchhandelsgeschichte, nachdem der Kampf um Pressefreiheit bereits selbst historisch geworden war. 21 Houben spielte in der deutschen Zensurforschung eine Pionierrolle. Seine anekdotische Aufarbeitung des Themas, seine Konzeption von Geschichte als Summe von Einzelfällen, aber auch sein moralischer Impetus (Zensurforschung im Dienste der Aufklärung) wirken heute nicht mehr zeitgemäß, anzurechnen ist ihm jedoch das Verdienst, die Zensur als eigenes Forschungsfeld etabliert zu haben. In den 60er Jahren wurde die Bücherzensur häufig im Rahmen literatursoziologischer Ansätze diskutiert; repräsentativ hierfür ist die Studie von Ulla Otto. 22 Sie beschreibt die Institution der Bücherzensur mittels eines funktionalen, systemtheoretischen Ansatzes, der vor allem ein brauchbares begriffliches Instrumentarium zur Erfassung von literarischer Zensur zur Verfügung stellt. Innerhalb der Literaturwissenschaft entwickelte sich die Zensurforschung in den 80er Jahren zu einer Disziplin, die „auf dem besten Weg war, ein Modethema zu werden". 23 Wichtige Impulse erfuhr die literaturwissenschaftliche Zensurforschung durch Arbeiten zur Textedition, denn bei der Berücksichtigung verschiedener Varianten eines Manuskriptes stießen die Forscher immer wieder auf potentiell zensurbedingte Änderungen; der Einfluß der Zensur mußte bei der Frage nach einem „Originaltext" mitberücksichtigt werden. Ilse Nolting-Hauff 2 4 oder Klaus Kanzog 25 beschäftigten sich im Rahmen der Edierung von Texten mit der Bücher-Zensur - beide stellten dabei die relevante Frage nach der Nachweisbarkeit zensurbedingter Änderungen. Neuere Untersuchungen konzentrieren sich auf den Problembereich, wie die Zensur den Schreibprozeß und die ästhetische Qualität eines Textes beeinflußt. Hans-Jörg Neuschäfer konterkariert die ältere und traditionell aufklärerisch orientierte Zensurforschung mit seiner provokanten These, Zensur sei der Entfaltung von Literatur keineswegs hinderlich, sondern
21
Breuer: „Stand und Aufgaben der Zensurforschung", in: Herbert G. Göpfert und Erdmann Weyrauch (Hg.): „ Unmoralisch an sich ... " - Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1988, S. 37-60, dort S. 38.
22
Otto 1968.
23
Nolting-Hauff 1991, S. 31.
24
Ebenda.
25
Kanzog 1988, S. 309-331.
22
Gabriele
Knetsch
rege die Kreativität der Autoren sogar an. 26 Erwin Rotertnund widmet sich wie Neuschäfer der exemplarischen Untersuchung von Umgehungsstrategien regimekritischer Autoren; dabei interessiert er sich auch für eine Theoretisierung und eine Systematisierung des verdeckten Schreibens. 27 Eine zentrale Schwierigkeit der Zensurforschung besteht in der Heterogenität von Ansätzen und Fragestellungen: historische, juristische, medien- oder literaturwissenschaftlich orientierte Ansätze bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Breuer fordert deshalb eine stärker interdisziplinär ausgerichtete Zensurforschung, indem die verschiedenen Ansätze zusammengeführt werden. 28 Diese Richtung verfolgt auch die vorliegende Arbeit zur Zensur im Franquismus.
3. Gegen die Begriffsverwirrung - Grunddefinitionen zur Zensur 3.1. Nicht jede Meinungseinschränkung heißt Zensur In der Literatur zum Thema Zensur werden die Begriffe oft wenig trennscharf verwendet, daher sorgen sie bisweilen für erhebliche Verwirrung. Immer wieder stellen einige Autoren irreführende Parallelen auf zwischen der institutionalisierten Zensur im autoritären Regime und den Manipulations- und Druckmitteln einflußreicher ökonomischer Gruppen in der Demokratie; beide Formen der Meinungseinschränkung nennen sie ungenau „Zensur". 29 Doch trägt die Mißachtung der unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen in Demokratie und Diktatur zur Verharmlosung letzterer bei. Denn während in der Demokratie jeder Bürger zumindest das gesetzlich garantierte Recht zur freien Meinungsäußerung besitzt, auch wenn er nicht immer die notwendigen finanziellen oder organisatorischen Möglichkeiten hat, diese Freiheit zu realisieren, ist diese Freiheit in der Diktatur grundsätzlich beschnitten. 30 Wie vorsichtig man mit solchen Parallelen
26 27
28
Neuschäfer 1991. Erwin Rotermund: „Tarnung und Absicherung in Rudolf Pecheis Aufsatz .Sibirien' (1937). Eine Studie zur 'verdeckten Schreibweise' im 'Dritten Reich'", sowie: „Herbert Kilsels Dietrich Eckart-Artikel vom 23. März 1943. Ein Beitrag zur Hermeneutik und Poetik .verdeckter Schreibweise' im .Dritten Reich'" in: Bernhard Spies (Hg.): Artistik und Engagement. Würzburg 1994, S. 225-237 und S. 239-248. Breuer 1988, S. 57.
29
Zum Beispiel H.-J. Neuschäfer auf dem Zensur-Kolloquium des Hispanistentages von 1985. Er weist in seinem Vortrag daraufhin, daß es nicht bloß in Diktaturen Zensur gebe, sondern auch in der Demokratie, etwa die „von wirtschaftlichen Interessen" gesteuerte Zensur oder die Forderung nach „Ausgewogenheit" in den öffentlich-rechtlichen Medien in der Bundesrepublik, in: Hans-Josef Niederehe (Hg.): Akten des Deutschen Hispanistentages Wolfenbüttel, 28.2.-1.3.1985. Hamburg 1986, S. 353.
30
Vgl. die Überlegungen von Abellän (ebenda, S. 345f.) zur stärkeren Differenzierung der Zensur-Begriffe. Auch Kanzog wendet sich gegen die Verwischung der Zensurbegriffe, insbesondere die von formeller und informeller Zensur, da sie ein Verständnis
/ / / . Allgemeiner
Zensurteil
23
umgehen sollte, wird dadurch deutlich, daß Diktaturen selbst autoritäre Kommunikationskontrolle durch solche pseudokritischen Parallelen rechtfertigen. So verteidigte in den 50er Jahren der spanische Informationsminister Gabriel AriasSalgado die Zensur mit dem Verweis auf die nicht minder eingeschränkte Meinungsfreiheit in demokratischen Staaten: 31 La libertad de prensa no ha existido nunca dentro del liberalismo político. Existió, sí, la libertad de unos cuantos propietarios de periódicos que, amparados en su poder financiero, impusieron su censura particular, publicando lo que les agradaba o producía beneficios, omitiendo lo que les parecía, sin consideración alguna a razones de bien común o de utilidad y formación pública, porque el último fin de la Empresa era el lucro privado. (Die Pressefreiheit hat auch im politischen Liberalismus nie existiert. Es existierte höchstens die Freiheit einiger weniger Zeitungsbesitzer, die im Schutze ihrer Finanzmacht ihre persönliche Zensur auferlegten, indem sie das veröffentlichten, was ihnen paßte oder Profit brachte und das unterdrückten, was sie wollten, ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl oder auf die öffentliche Nützlichkeit und Bildung. Denn das höchste Ziel des Unternehmens war der private Luxus.)
Um solchen Argumentationen keinen Vorschub zu leisten, wird hier eine präzisere Verwendung des Begriffes Zensur vorgeschlagen. Unterscheiden sollte man zumindest wie Otto zwischen „informeller" und „formeller" Zensur. 32 Mit „informeller" Zensur sind auch in der Demokratie übliche Maßnahmen zur Verhinderung von Kommunikation gemeint, die nicht durch offizielle Institutionen, sondern durch einflußreiche Gruppen ausgeübt werden. „Formelle" Zensur bezeichnet hingegen die institutionalisierte Zensur.
3.2. Ein Begriff, viele Ansätze - literarische Zensur Der Zensurbegriff wird in dieser Arbeit auf die institutionalisierte literarische Zensur in autoritären Systemen beschränkt. Dabei wird literarische Zensur verstanden als autoritäre Kontrolle von schriftlichen, zur Veröffentlichung im Rahmen des herrschenden Literaturbegriffs bestimmten Äußerungen. Diese Kontrolle ist in der Regel gesetzlich institutionalisiert und kann Sanktionen zur Folge haben. Unterschieden werden müssen außerdem Vor- und Nachzensur, die die Kontrolle vor bzw. nach der Veröffentlichung bezeichnen. Schwierig gestaltet sich die Zensurdefinition im Hinblick auf die Verschiedenheit der Forschungsansätze. Kanzog zieht daraus die Konsequenz und definiert „Zensur" gemäß unterschiedlicher theoretischer Zugangsweisen und Untersuchungsder literarischen Zensur erschwere, in: „Zensur, literarische", in: Paul Meder/Wolfgang Stammler ( H g ) : Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 4. Berlin 1984, S. 998-1049, dort S. 1001. 31
Gabriel Arias-Salgado: Política 119.
32
Vgl. Otto 1968, S. 118f.
española
de la información.
Bd. 2. Madrid 1958, S.
Gabriele
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Knetsch
gegenstände jeweils neu: aus der Sicht der Psychoanalyse, aus soziologischer Sicht, aus historischer oder juristischer Sicht; schließlich unterscheidet er nach verschiedenen Zensurobjekten Bücher-, Theater- und Filmzensur. Ulla Otto definiert die Zensur in ihrer soziologischen Untersuchung als „autoritäre Kontrolle aller menschlichen Äußerungen, die innerhalb eines bestehenden gesellschaftlichen Systems mit der Bemühung um sprachliche Form geschrieben werden". 33 Den Urheber der Zensur sieht sie in der kirchlichen, staatlichen oder einer anderen Machtinstitution in der Gesellschaft. Ihrer Definition fehlt allerdings die Komponente der Sanktionen, die Zensurverstöße üblicherweise nach sich ziehen (z.B. die Streichung anstößiger Passagen oder die Konfiszierung eines Buches). Kienzle und Mende berücksichtigen in ihrer Definition dagegen auch die Folgen der Zensur: 34 Zensur ist die mit Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen. Sie führt bei Bedarf zu rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen. Beispielsweise zur Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor oder nach ihrer Publizierung.
Problematisch, weil zu allgemein und zu weit gefaßt ist bei den beiden Autoren aber die Definition dessen, was zensiert wird. Denn die „mit Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen" kann vom Rotstift des Chefredakteurs in einer Zeitung bis zum strengen Blick des Vaters am Abendbrottisch wegen seines schmatzenden Sohns alles mögliche umfassen. Erst im Nachsatz fllhren Kienzle und Mende eher beiläufig die Zensur von Publikationen an und unterscheiden dabei zu Recht zwischen Vor- und Nachzensur: Vorzensur ist die „Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen" vor ihrer Publizierung. „Nachzensur" bezeichnet autoritäre Maßnahmen gegen eine Publikation nach ihrer Veröffentlichung. 35 Fast zu konkret ist im Gegensatz zu den genannten Autoren die Definition von Abellän. 36 Er spricht von einer „Reihe von Handlungen des Staates oder Gruppen, die formal oder de facto dazu in der Lage sind, einem Manuskript oder den Druckfahnen - vor der Publikation - Streichungen oder jegliche Art von Änderungen gegen den Willen oder das Einverständnis des Autors aufzuerlegen." Ein weiteres Manko ist bei Abellän die Beschränkung auf die Vorzensur, seine Definition ist daher nicht umfassend genug.
33
Ebenda, S. 6.
34
Michael Kienzle/Dirk Mende: Zensur in der BRD. München 1980, S. 231.
35
36
Im Franquismus war die Vorzensur bis zum Eintritt des neuen Pressegesetzes von 1966 für jede Publikation gesetzlich verpflichtend; nach 1966 existierte die Vorzensur weiterhin in Form einer „freiwilligen Konsultation". Wer diese „freiwillige Konsultation" nicht in Anspruch nahm, riskierte, daß publizierte Bücher im Nachhinein beschlagnahmt oder vor Gericht gebracht wurden. Span. Orig. in: Akten des Deutschen Hispanistentages
1986, S. 346.
III. Allgemeiner
Zensurteil
25
Auf einen bisher noch unbeachteten, aber zentralen Aspekt verweist Hans Norbert Fügen: Er bezeichnet Zensur als eine „spezielle, meistens institutionalisierte und oft durch Rechtssatzung legalisierte Form der sozialen Kontrolle": 37 Zensur wirkt also als Institution und ist in der Regel - selbst in Diktaturen - durch Gesetze legalisiert. Dadurch grenzt Fügen seinen Zensurbegriff klar von der im vorigen Kapitel diskutierten Überdehnung des Begriffs ab. Unterscheiden muß man zwischen verschiedenen Arten von Zensur. Otto trennt den religiösen, moralischen und politischen Aspekt der Zensur, weist aber darauf hin, daß sich diese drei Zensurarten häufig verbinden und überlagern. 38 Die Autorin betont, daß sich diese drei Zensurarten - mit epochenspezifisch unterschiedlicher Gewichtung - in allen Zensursystemen wiederfinden lassen. Der zensurhistorische Teil wird zeigen, daß sich auch die franquistische Zensur an diesen Kategorien orientierte, die in der falangistisch orientierten Frühphase jedoch um die ästhetische Zensur ergänzt werden müssen.
3.3. Die „Schere im Kopf 4 - Selbstzensur der Autoren Bevor der offizielle Zensor überhaupt in Aktion tritt, durchläuft der Text noch andere Zensurstufen: Der Autor übt während des Schreibaktes bereits Selbstzensur, aber auch der Verleger ändert möglicherweise Passagen, bei denen er Konflikte mit der Zensur erwartet (vgl. unten). Kanzog betont in seiner Definition den Unterschied zwischen „Selbstzensur" und „Selbstkorrektur": 39 Sie [die Selbstzensur, d.V.] muß definiert werden als die von einem Autor entgegen seiner ursprünglichen Intention im Wissen der Geltung einer ihm fremden Norm (und im Bewußtsein der Sanktion im Falle ihrer Nichtbeachtung) vorgenommene Korrektur einzelner Stellen eines Werkes (und gelegentlich auch die Unterdrückung des ganzen Werkes), d.h. bei einer Selbstzensur ist die Zensur von Seiten der normmächtigen Instanz noch nicht erfolgt, das Werk wird aber in der Vorstellung der Kontrolle durch diese Instanz geschrieben. Dadurch unterscheidet sich die Selbstzensur auch von der gewöhnlichen Korrektur auf Grund der vom Autor selbst gesetzten Maßstäbe.
Diese Unterscheidung zwischen der eigenen Normen folgenden Selbstkorrektur in der Regel stilistischen Verbesserungen - und der von außen oktroyierten Selbstzensur ist sehr wichtig, weil beide Formen häufig durcheinander gebracht werden. So verstanden einige im Franquismus publizierenden Autoren den Begriff „Selbstzensur" positiv im Sinne eines notwendigen Bestandteils ihres Schaffensprozesses, weil sie ihn mit der „Selbstkorrektur" verwechselten (vgl. Kap. IV. 1. „Selbstzensur und verdecktes Schreiben unter Franco").
37
Fügen 1974, S. 623.
38
Otto 1968, S. 72-89.
39
Kanzog 1984, S. 1001.
26
Gabriele Knetsch
Abellän unterscheidet genauer zwischen expliziter Selbstzensur - also den Korrekturen, die der Schriftsteller in direkter Auseinandersetzung mit dem Zensor aushandelt - und impliziter Selbstzensur - also den Maßnahmen, die der Autor entweder bewußt oder unbewußt entwickelt, bevor der Zensor das Manuskript zu Gesicht bekommt.40 Bei der unbewußten Selbstzensur hat der Autor die offiziellen Normen internalisiert und orientiert sich beim Schreiben daran (etwa indem er bestimmte Reizwörter gar nicht erst verwendet, von denen er weiß, daß die Zensur sie nicht toleriert), aber diese Orientierung an den offiziellen Normen ist dem Autor nicht bewußt. Bei der bewußten Selbstzensur entwickelt der Autor mit „vorausschauende(r) Rücksicht auf die Zensur"41 gezielt literarische Strategien, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, die in direkter Form nicht durch die Zensur käme. Die implizite Selbstzensur, ob bewußt oder unbewußt, äußert sich häufig in Form von Umgehungsstrategien, wie sie im Analyseteil dieser Arbeit genauer untersucht werden. Problematisch ist die Beweisbarkeit von Selbstzensur: Wie kann man zeigen, daß es sich um Selbstzensur und nicht um Selbstkorrektur handelt? Sowohl Kanzog als auch Nolting-Hauff thematisieren diesen Problembereich42 und weisen zugleich auf die beträchtlichen Unsicherheitsfaktoren hin, die letztlich die „Identifizierung zensurbedingter Eingriffe nur jeweils nach Wahrscheinlichkeits- und Plausibilitätskriterien"43 ermöglichen. Dennoch lassen sich Anhaltspunkte für Selbstzensur aufzeigen: Manche Autoren äußern sich in Interviews über Selbstzensur und die Entwicklung von Umgehungsstrategien gegen die Zensur. So ließen sich in der vorliegenden Arbeit durch Interviews mit Gonzalo Torrente Ballester und Miguel Delibes Zweifel in bezug auf Selbstzensur in den untersuchten Texten mehr oder weniger aus dem Weg räumen. Im Kapitel „Selbstzensur und verdecktes Schreiben unter Franco" soll mit Hilfe von Autoreninterviews grundsätzlich die Frage erörtert werden, wie die Tabus der Diktatur den Schreibprozeß beeinflussen. Belegbar werden zensurbedingte Textänderungen auch durch Varianten, die den Entstehungsprozeß eines Werkes dokumentieren.44 Kanzog nennt als Beispiel die Zauberposse Der böse Geist Lumpazivagabundus von Johann Nestroy,45 filr die Nestroy zwei Fassungen erstellte: eine abgeschwächte filr die Zensur und eine kritische für die konkrete AufTührungssituation. Ein Vergleich beider Varianten zeigt, an welchen Stellen sich der Autor selbst zensierte. 40
Akten des Deutschen Hispanistentages 1986, S. 347.
41
Nolting-HaufT 1991, S. 41.
42
Ebenda, S. 41 f. und Kanzog 1988, S. 319f.
43
Nolting-HaufT 1991, S. 41.
44
Kanzog 1984, S. 1001.
45
Kanzog 1988, S. 316-318.
III. Allgemeiner Zensurteil
27
Kanzog schlägt die Ordnung und Klassifikation aller Streichungen eines Textes in Form eines „Klassifikationsrasters" vor. 46 Daran lassen sich jene Passagen messen, die im Verdacht stehen, im Hinblick auf die Zensur gestrichen worden zu sein; dieses Verfahren dient also dazu, Entscheidungen Uber zensurbedingte Textstellen empirisch zu fundieren, denn anhand der Klassifikation wird überprüfbar, ob die Streichungen gewissen, vom Regime diktierten Normen folgen. Eine wichtige Rolle beim Schreibprozeß spielt die unbewußte Selbstzensur, die allerdings empirisch nicht zu erfassen ist, denn fremde Normen können, so Kanzog, „schon so weit internal isiert sein, daß sie keine Variantenspur hinterlassen, dann fehlt das entscheidende Textkriterium für die Annahme oder Behauptung einer Selbstzensur". 47 Auch die Befragung hilft in diesen Fällen nicht weiter, da die Zensur dann ein nicht willentlich gesteuerter Akt ist. Neuschäfer bringt einen nicht unproblematischen neuen Ansatz in die Diskussion, denn er versucht gar nicht mehr, zwischen zensurbedingten und ästhetischen Textpassagen zu unterscheiden, sondern legt nahe, daß beide Fälle häufig zusammenfallen. Denn die Zensur führe gerade zu Lösungen, die auch unter ästhetischen Gesichtspunkten besonders gelungen seien. 48 Seine These wird im Kapitel „Selbstzensur und verdecktes Schreiben unter Franco" diskutiert. In dieser Arbeit soll die Unterscheidung zwischen „Selbstzensur" und „Selbstkorrektur" so weit wie möglich aufrecht erhalten werden, d.h. zensurbedingte Textpassagen möglichst von ästhetisch motivierten Passagen getrennt werden. Wo beide Fälle zusammenfallen (könnten), wird dies explizit gemacht. Allerdings soll auf die letztlich unmögliche Unterscheidung zwischen bewußter und unbewußter Selbstzensur verzichtet werden. In der Textanalyse werden deshalb grundsätzlich jene Passagen des Werkes untersucht, die als Umgehungsstrategien fungieren, ganz unabhängig davon, ob der Autor sie in bewußter oder unbewußter Selbstzensur formuliert hat. Umgehungsstrategien sind literarische Verfahren, die eine subversive oder mit dem Normenraster der Zensur kollidierende Aussage so indirekt zur Sprache bringen, daß der Zensor den kritischen Gehalt der Aussage im Idealfall nicht bemerkt, der komplizenhafte Leser aber die verschlüsselte Absicht decodieren kann (vgl. Kap. III.5.1. „Die Doppelcodierung für Komplizen und Zensor").
46
Ebenda, S. 319.
47
Kanzog 1984, S. 1002.
48
„Danach hemmt die Zensur die Kommunikation nicht nur; sie reizt auch die Vorstellungskraft, nach Mitteln und Wegen der Zensurumgehung zu suchen. Mit anderen Worten: Gerade das Verbot setzt die verbotswidrige Phantasie überhaupt erst richtig in Gang; die Zensur bringt Meisterwerke der Zensurunterlaufung hervor", in: Neuschäfer 1991, S. 48.
28
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3.4. Zwischen allen Stuhlen - der Verleger als Zensor Die Zensur durch die Verleger wird in der Forschung zur literarischen Zensur kaum beachtet und wenn, dann meist im Sinne einer verlagspolitisch orientierten Einschränkung oder ökonomischen Pression verstanden. 49 Doch im autoritären System nimmt der Verleger als Ansprechperson der staatlichen Zensur eine Zwischenstellung zwischen Autor und Zensor ein, manchmal sitzt er dabei zwischen allen Stühlen. Denn er kennt durch den ständigen Umgang mit der staatlichen Behörde Zensoren und Zensurkriterien besser als der Autor und kann daher eher abschätzen, was durch die Zensur kommt und was nicht. Andererseits ist der Verleger - oder sollte es zumindest sein - an einer möglichst unversehrten Übernahme des Manuskripts seines Autors interessiert. Da er aber das finanzielle Risiko zu tragen hat, wenn ein Buch verboten wird bzw. sich die Auslieferung durch zahlreiche Änderungen an den Druckfahnen verzögert, wird er Manuskripte, von denen bereits im Vorfeld klar ist, daß die Zensur sie nicht autorisiert, gar nicht erst annehmen oder der staatlichen Zensur zumindest ein „bereinigtes" Manuskript präsentieren. 50 Der Grad der Eingriffe von Seiten der Verlage variiert je nach der politischen Linie des Verlags, dem persönlichen Mut des Verlegers, der Bekanntheit des Autors oder den Beziehungen zur Zensurbehörde. Manche übervorsichtige Verlagsangestellte streichen in vorauseilendem Gehorsam mehr als nötig, 51 andere weigern sich vollkommen, die Aufgabe der staatlichen Zensur vorweg zu nehmen. 52 Problematisch ist der Nachweis der Verlagszensur, da sich häufig nicht mehr unterscheiden läßt, ob zensurbedingte Änderungen durch den Verleger oder den
49
Eine positive Ausnahme ist in dieser Hinsicht die Zensurstudie von M. L. Abellán (1980: 97-104), der diesem Komplex ein eigenes Kapitel widmet. Aber auch die von A. Beneyto (1975) interviewten Autoren erwähnen immer wieder die Zensur durch die Verlage.
50
Mario de la Cruz, während des Franquismus Mitarbeiter beim Verlag Plaza y Janes, bestätigt, daß die Verleger in der Diktatur wegen des wirtschaftlichen Risikos gewisse Änderungen an den Manuskripten vornahmen, um vorhersehbare Probleme mit der Zensur zu vermeiden, Interview vom 1. März 1994.
51
Der Schriftsteller und Publizist Baltasar Porcel meint dazu in A. Beneyto (1975: 99): „Está la censura que te impone el Régimen y está la censura que te imponen las publicaciones, y que, por tanto, no siempre ha sido culpa del Régimen, sino que, a veces, ha sido culpa de las publicaciones, que han tenido más miedo del que debían haber tenido." („Es gibt die Zensur, die das Regime auferlegt, und es gibt die Zensur, die die Verlage auferlegen, und die nicht immer die Schuld des Regimes ist, sondern manchmal die Schuld der Verlage, die ängstlicher handelten als sie hätten handeln müssen.")
52
Zum Beispiel Jordi Úbeda vom katalanischen Verlag Abadía de Montserrat: Ab dem neuen Pressegesetz von 1966 präsentierte der Verlag Manuskripte nicht mehr vor der „freiwilligen" Vorzensur. Der Verlag riskierte für diese neue Meinungsfreiheit lieber eventuelle Beschlagnahmungen oder Geldstrafen. Interview vom 28. Februar 1994.
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Autor vorgenommen wurden. Interviews mit Verlagsangestellten oder die in Verlagsarchiven gespeicherte Korrespondenz können dafür ebenso Anhaltspunkte liefern wie der Vergleich von Varianten (insbesondere von Textversionen, die der Verlag archiviert hat). Bei den in dieser Arbeit untersuchten Romanen läßt sich die Frage nur fur Torrentes Javier Marino und für Delibes' Cinco horas con Mario entscheiden: Torrente nahm die zensurbedingten Veränderungen nach eigener Aussage selbst vor; Delibes gab an, bereits beim Schreibprozeß Umgehungsstrategien entwickelt zu haben, um den Roman unantastbar für die Zensur zu machen. Die Urheberschaft der zensurbedingten Streichungen und Veränderungen in Martin-Santos' Tiempo de silencio lassen sich nicht eindeutig klären. Wahrscheinlich gingen sie vom Verlag aus, denn die Zensur schickte das Manuskript an den Verlag zurück und forderte die Mitarbeiter auf, die beanstandeten Stellen zu revidieren, was diese - vermutlich in Absprache mit dem Autor - auch taten.
4. Zensur als komplexer Prozeß - der Zensor als „gatekeeper" Die Zensurentscheidung besteht nicht einfach nur aus der Streichung des Zensors, sondern gestaltet sich vielmehr als Ergebnis eines komplexen Prozesses, auf den verschiedene Faktoren einwirken. Hans-Christoph Hobohm konstatiert das Paradox zwischen „der Komplexität des Diskurses Zensur und ihrem sich negativ manifestierenden Ausdruck, der häufig nur aus der Formel 'refusé'" bestünde. 53 Dieser Aussage ex negativo stehe eine komplizierte Analyse der performativen Aspekte der Zensur und der Bedingungen der Zensurentscheidung gegenüber: „Analyse der Zensur ist gleichzeitig auch immer Analyse der Redebedingungen der betroffenen Texte". 54 Ergänzen müßte man: und Analyse der Bedingungen des Zum-Schweigen-Bringens von Texten. Untersucht werden soll daher im folgenden, wie die Zensurentscheidung zustande kommt. Denn Zensoren treffen ihre Entscheidung nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten Normen, ihre Arbeit unterliegt auch zahlreichen internen und externen Zwängen wie dem organisatorischen Ablauf der Zensur, dem Druck bestimmter 'pressure groups' oder Kursschwankungen der offiziellen Politik. Diese Faktoren dürfen keinesfalls vernachlässigt werden, da sie die Entscheidung häufig genauso stark mitbeeinflussen wie die geltenden Nonnen. Die vielbeklagte „Willkür der Zensur" fände durch eine stärkere Mitberücksichtigung dieser Faktoren in vielen Fällen eine rationale Erklärung. 53
54
Hans-Christoph Hobohm: „Der Diskurs der Zensur", in: Günther Berger (Hg.): Zur Geschichte von Buch und Leser im Frankreich des Ancien Régime. Beiträge zu einer empirischen Rezeptionsforschung. Rheinfelden 1986, S. 53-67, dort S. 53. NoltingHauff (1991: 35) verweist allerdings darauf, daß die Zensurentscheidung keineswegs immer auf reine Performanz beschränkt sei; im spanischen Siglo de Oro mußten die Zensoren ihre Entscheidungen sogar durch ausführliche Gutachten begründen; gleiches gilt in der Regel auch für die franquistischen Zensoren. Hobohm 1986, S. 54.
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Knetsch
Die Nachrichtenforschung bietet fllr den Prozeß der Informationsselektion einen Ansatz, der auch fllr die Zensurforschung interessant sein dürfte: das in der Kommunikationswissenschaft zentrale „gatekeeper"-Modell erlaubt eine systematische Erfassung von Faktoren, die auf den Prozeß der Nachrichtenauswahl einwirken. 55 Die von Kurt Lewin geprägte Metapher des „gatekeepers" hat David Manning White 1950 auf den Nachrichtenredakteur übertragen, 56 der wie ein Pförtner oder Torwart darüber wacht, wer oder was das Tor passieren darf. Die „gatekeeper"-Forschung untersucht, nach welchen Kriterien ein Nachrichtenredakteur bestimmte Nachrichten durchläßt oder unterdrückt, und welche Faktoren den Auswahlprozeß beeinflussen. 57 Mit umgekehrter Perspektive läßt sich das „gatekeeper"-Modell auch auf die Zensurforschung anwenden, denn wie der Nachrichtenredakteur läßt der Zensor bestimmte Informationen passieren, während er andere unterdrückt. Doch anstelle der Kriterien für die Informationsauswahl interessieren in seinem Fall jene für die \nformal\onsunterdrückung. Der Zensor als „gatekeeper" wacht darüber, daß nur solche Äußerungen seine Behörde passieren, die den Anforderungen des Regimes Genüge leisten. Statt an Nachrichtenfaktoren für eine positive Selektion orientiert sich der Zensor an gewissen Tabus des Regimes für eine negative Selektion.
4.1. Darstellung der Methode In der „gatekeeper"-Forschung wird, wie Gertrude Joch Robinson ausfuhrt, das in die Nachrichtenredaktion eingehende Material verglichen mit dem, was veröffentlicht wird: Der input wird in Beziehung gesetzt zum output, um die Kriterien für die Nachrichtenselektion herauszufinden. 58 Diese Selektion erfolgt nach stan55
Eine breitere Anwendung des „gatekeeper"-Modells wird auch im Vorwort zu Pamela J. Shoemakers Studie Gatekeeping vorgeschlagen (London, New Dehli 1991, S. vii): „Gatekeeping, as she shows, is applicable to much more of communication research than just the original domain of news editing. The concept offers interesting insights into organizational communication and behavior and is related to recent theories ranging from the psychology of choice and decision making to the macro dynamics of ideology and social change."
56
In seiner Fallstudie über die Selektionskritericn eines Nachrichtenredakteurs einer kleinen amerikanischen Zeitung hat White herausgefunden, daß „Mr. Gates", wie er den Redakteur nannte, bei seiner Auswahl entsprechend seinem persönlichen Hintergrund sehr subjektiv vorgeht. Persönliche Vorlieben, die politische Orientierung des Redakteurs, aber auch die Vermutung darüber, was die Leser interessieren könnte, bilden dessen Orientierungsraster. In: „The Gatekeeper. A Case Study in the Selection o f News", in: Journalism Quarterly 27/1950, S. 383-390.
57
Vgl. Gertrude Joch Robinson, „Fünfundzwanzig Jahre "Gatekeeper'-Forschung: Eine kritische Rückschau und Bewertung", in: Jörg Auffermann/Wilfried Scharf/Otto Schlie (Hg.): Fernsehen und Hörfunk für die Demokratie. Ein Handbuch über den Rundfunk in der Bundesrepublik. Opladen 1981. S. 344-355.
58
Ebenda, S. 345.
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Zensurteil
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dardisierbaren Faktoren, sogenannten „Nachrichtenfaktoren", wie sie etwa östgaard, Galtung/Ruge oder Schulz herausgearbeitet haben. 39 Erst die Kenntnis dieser Faktoren vermittelt einen Einblick in den „Weltbildapparat" der Redakteure, nach dem Nachrichtenwirklichkeit „konstruiert" wird. 60 In meiner Zensurstudie soll auf der Basis der Kriterien für die InformationsUnterdrückung ein ideologisches Raster erarbeitet werden, das als Erklärungsmuster für die Zensurentscheidungen dient. Diese Kriterien vermitteln einen Einblick in den „Weltbildapparat" des Zensors und des Regimes, dessen Werte er treuhändlerisch vertritt denn an den Zensurkriterien läßt sich sehr genau die jeweils gültige ideologische Norm ablesen. Dafür lassen sich ähnlich wie in der „gatekeeper"-Forschung input und output vergleichen: die der Zensur vorgelegten Originalmanuskripte mit den zensierten und veröffentlichten Texten. Aus den Unterschieden kann man auf die Zensurkriterien schließen. In dieser Arbeit werden die Zensurkriterien einerseits durch die hier beschriebene Auswertung von Streichungen, also jener Textpassagen, die vom Zensor unterdrückt wurden, und andererseits durch die Inhaltsanalyse der Zensurgutachten untersucht.
4.2. Prozeßcharakter der Zensorenentscheidung Der Nachrichtenredakteur wie der Zensor sind eingebunden in eine bürokratische Organisation, die auf den Entscheidungsprozeß miteinwirkt. Diese institutionalen Abhängigkeiten des „gatekeepers" werden von der Theorie der bürokratischen Organisation 61 berücksichtigt, die den Journalisten nicht als isoliertes Individuum, sondern als Mitglied einer „Nachrichten"-Bürokratie betrachten, auf die verschiedene interne und externe Faktoren einwirken. Interne Faktoren Nachrichtenjournalisten haben die Entscheidungskriterien in der Regel internalisiert, das heißt, sie richten sich normalerweise nicht nach fixierten Regeln, sondern handeln durch den Sozial isierungsprozeß „automatisch" nach den in ihrer Redaktion geltenden Normen. Warren Breed hat vor dem Hintergrund der Organisationstheorie untersucht, warum die Journalisten einer bestimmten Zeitung relativ einheitlich entscheiden und sich der Richtung der Zeitung anpassen. 62 Die Übernahme der Normen erfolgt durch verschiedene Faktoren wie Rügen durch
59
Eine guten Überblick über die Nachrichtenwertforschung bietet Winfried Schulz in „Ein neues Weltbild für das Femsehen", in: Media Perspektiven 1/1982, S. 18-25.
60
Ebenda, S. 20f.
61
Vgl. Joch Robinson 1981, S. 346.
62
Warren Breed: „Soziale Kontrolle in der Redaktion: eine funktionale Analyse", in: Jörg Auffermann/Hans Bohrmann/Rolf Sülzer (Hg.): Gesellschaftliche Kommunikation und information. Bd. 1. Frankfurt/M. 1973, S. 356-378.
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den Chef, konkrete Anweisungen, Klatsch in der Redaktion, die Beobachtung von Vorgesetzten, Maßregelungen oder einfach die Furcht vor Sanktionen. Analog dazu entscheiden auch die Zensoren gemäß relativ einheitlichen Mustern. Zwar können die Zensurkriterien schriftlich fixiert sein, doch in der Regel vollzieht sich die Entscheidungsfindung im Arbeitsalltag ähnlich wie in der Zeitungsredaktion. Carlos Robles-Piquer, Chef der Bilcherzensur unter Informationsminister Fraga Iribarne, bestätigt, daß sich Zensurkriterien eher durch die Praxis als durch offizielle Normen vermittelten.63 In seiner Amtszeit habe es gar keine schriftlich fixierten Kriterien für die Bücherzensur gegeben, sie seien auf internen Sitzungen diskutiert worden, und in Zweifelsfällen hätten sich die Zensoren direkt an ihn gewandt. Die Entscheidung in der Nachrichtenredaktion wird zudem stark eingeschränkt durch organisatorische Zwänge wie Produktionsabläufe, Zeit und Platzangebot, Faktoren, die auch in der Zensurbehörde eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen: Im Franquismus verhinderte vor allem die Masse der zu beurteilenden Werke pro Zensor eine genaue und sorgfältige Lektüre und begünstigte eine oberflächliche Suche nach tabuisierten Schlüsselbegriffen. 64 Auch gruppendynamische Prozesse innerhalb der Redaktion/Zensurbehörde wirken auf den Entscheidungsprozeß ein. Als besonders relevant für die franquistische Zensur erweist sich das SpannungsVerhältnis unterschiedlicher Machtgruppen innerhalb des Regimes. Externe Faktoren Sehr viel stärker als Nachrichtenredakteure im demokratischen System sind die Zensoren im autoritären Regime Pressionen von außen ausgesetzt: Zeitungsredaktionen unterliegen dem Druck organisierter Interessengruppen, wichtiger Anzeigenkunden, zentraler Informanten oder auch Politiker. Auf die Zensurbehörde üben ranghohe Politiker oder verschiedene Machtgruppen des Regimes Druck aus (vgl. „Textexterne Einflußfaktoren der franquistischen Bücherzensur"). Auch die politischen Schwankungen des Regimes spiegeln sich in der Regel unmittelbar in den Entscheidungen der Zensoren wider - immer wieder werden die Mitarbeiter angewiesen, in gewissen Fragen „veränderte Kriterien" anzuwenden. Der gesetzliche Rahmen spielt ebenfalls eine wichtige Rolle: Im Franquismus beeinflußte insbesondere die Neufassung des Pressegesetzes von 1966 die Zensurpraxis erheblich.
4.3. Prozeßcharakter der Zensur Die Analogie des Prozesses der Nachrichtenauswahl zu der Arbeit der Zensur geht noch weiter: So wie der Nachrichtenfluß vom Ereignis bis zum Rezipienten mehrere Stufen umfaßt (mindestens: die Auswahl der Fakten durch den Reporter 63
Vgl. Interview mit der Verfasserin vom 17. Mai 1994.
64
Vgl. Kapitel IV. „Praxis der franquistischen Bücherzensur".
///. Allgemeiner Zensurteil
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vor Ort; Auswahl durch die Agentur; Auswahl durch die Zeitung, welche die Nachrichten von der Agentur bezieht), 65 vollzieht sich auch der Prozeß der literarischen Zensur über mehrere Instanzen, an dessen Ende erst das gültige Zensururteil steht. 66 Pamela Shoemaker entwirft ein komplexes kybernetisches Modell, das sämtliche „gatekeeper"-Stufen enthält und darauf abzielt, alle auf den Selektionsprozeß einwirkenden Faktoren - soziologische, aber auch psychologische - zu erfassen. 67 Entsprechend läßt sich auch die Zensur als Prozeß mit mehreren „gatekeepem" begreifen, der in den Köpfen der Schreibenden in Form von Selbstzensur beginnt. In nächster Instanz wird das Manuskript vom Verlag kontrolliert. Die offizielle Zensur des Regimes schließlich vollzieht sich wiederum auf der Basis einer mehrstufigen Hierarchie-Pyramide, die sich in der Regel zusammensetzt aus einfachen Zensoren, die das Gros des eingegangenen Materials begutachten, den Behördenchefs, die die Zensurentscheidung treffen, und schließlich den übergeordneten Beamten und Politikern (im Fall der franquistischen Zensur dem Generaldirektor für Bücherzensur und dem Informationsminister), die grundsätzliche Richtungsentscheidungen treffen.
5. Umgehungsstrategien als Formen uneigentlicher Rede Eine literarische Zensurtheorie, auf die für die Analyse von Tamstrategien gegen die Zensur zurückgegriffen werden könnte, steht bislang aus. Die Zensurforschung hat sich mit dem Problem bisher vor allem aus institutioneller und historischer Sicht beschäftigt. Dennoch gibt es in der literaturwissenschaftlichen Zensurforschung erste Ansätze, Theorien uneigentlichen Sprechens auf die verdeckte Schreibweise von Schriftstellern in der Diktatur zu übertragen.
65
Den Prozeß der mehrstufigen Nachrichtenselektion stellt Joch Robinson am Beispiel der Nachrichtenagentur Tanjug dar, in: „Foreign News Selection Is Non-Linear In Yugoslavia's Tanjug Agency", in: Journalism Quarterly 47/1970, S. 340-57, dort besonders S. 344-347.
66
Von einer mehrstufigen Zensurpyramide spricht auch William Albig, vgl. Otto 1968, S. 117f. Allerdings läßt sich Albigs Modell nur bedingt auf die Zensur in einem diktatorialen System anwenden. Denn Albig geht am Fallbeispiel der USA vom Zensurprozeß in der Demokratie aus, auf den nacheinander folgende Stufen wirken: das Unbewußte im Freudschen Sinne, die kulturellen Werte und Normen der Gesellschaft, die Normen der Gruppe als unorganisierte Gruppenzensur, das Meinungsklima, organisierte Gruppenzensur und schließlich die legale, gesetzlich geregelte Zensur. Nicht alle Stufen sind jedoch Zensur im eigentlichen Sinne, sondern eher Einflußfaktoren auf die Meinungsbildung, wie sie in Deutschland etwa Noelle-Neumann untersucht hat.
67
Shoemaker 1991, S. 71-75. Das Modell setzt sich aus drei Schaubildern zusammen: das erste, „Ideology and Culture", stellt den „gatekeeping"-Prozeß mit sämtlichen Einflußfaktoren dar; das zweite, „Communication routines and organizational characteristics" ist gewissermaßen eine „Vergrößerung" der organisationsinternen Abläufe; das dritte, „Intraindividual gatekeeping processes", zeigt als „Nahaufnahme" den Prozeß im Kopf des „gatekeepers".
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Neuschäfer arbeitet mit Freuds Modell der „Traumzensur", um die staatliche Zensur zu erklären 68 und argumentiert, Freud selbst habe die Mechanismen der Traumzensur am Beispiel der Tarnstrategien von Schriftstellern gegen die staatliche Zensur erklärt. Dabei orientiert sich Neuschäfer an den für die Zensuranalyse sehr brauchbaren Traumtechniken der Verdichtung und Verschiebung. Problematisch ist allerdings sein Versuch, Verdichtung und Verschiebung in den Umgehungsstrategien eindeutig zu trennen. 69 Erich Rotermund faßt den theoretischen Rahmen etwas weiter: Er orientiert sich an den Theorien indirekter Sprechakte, unter die sich das Freud-Modell subsumieren läßt. 70 Rotermund interessiert sich dabei vor allem für den doppelten Vermittlungsprozeß verbotener Botschaften für den Zensor und den komplizenhaften Leser. Allerdings hat er weniger eine Weiterentwicklung der Zensurtheorie im Sinn, als eine konkrete Applizierung der indirekten Sprechaktmodelle auf die zensurorientierte Literaturanalyse. Ein Weiterdenken von Rotermunds wenig expliziertem theoretischen Rahmen erscheint vielversprechend, um ein Kommunikationsmodell für das doppelte sprachliche Spiel zwischen Autor und Zensor einerseits und Autor und komplizenhaftem Leser andererseits zu entwickeln.
5.1. Die Doppelcodierung für Komplizen und Zensor Dabei sind an den jeweiligen Adressaten jeweils unterschiedliche Bedeutungsdimensionen eines Textes gerichtet: eine oberflächliche Bedeutungsdimension an den Zensor und eine unterschwellige Subbedeutung an den komplizenhaften Leser. 71 Die Verwendung von mehrdeutiger Sprache hat zwei Vorteile für den Autor in einem System, das die Literaturproduktion überwacht, a) Der Idealfall: wenn der Autor das Gemeinte indirekt ausdrückt, verstehen Regimevertreter nur die oberflächliche und nicht die subversive Bedeutung; sie lassen den Text unversehrt, selbst wenn er gegen Tabus verstößt.
68
Neuschäfer 1991, S. 47-50.
69
Vgl. Nolting-Hauff 1991, S. 50f„ Fußnote 67.
70
„Texte in 'verdeckter Schreibweise' intendierten ... eine Spaltung des Lesepublikums: für die kritischen Rezipienten waren esoterische Aussagen gedacht, die systemkonformen Leser hingegen sollten auf exoterische Aussagen fixiert und damit am Verstehen des wirklichen Sinnes der Botschaft gehindert werden", in: Rotermund, „Tarnung und Absicherung" 1994, S. 225.
71
Diese Bedeutungsdimensionen können sich in der Praxis auch derart überlagern, daß nicht mehr klar entscheidbar ist, welche der beiden die vom Autor „wirklich gemeinte" ist. Quevedo etwa treibt das Spiel zwischen verschiedenen Bedeutungsschichten zuweilen so weit, daß sie sich gegenseitig verweben, konterkarieren oder in Frage stellen. In diesem Fall ließe sich vielleicht eher von Verunklarungsstrategie gegen die Zensur sprechen.
///. Allgemeiner
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b) Falls die Regimevertreter aber die subversive Bedeutung doch verstehen, bietet die mehrdeutige Sprache eine Rückzugsmöglichkeit auf die scheinbar konforme Bedeutung der Aussage. Diese Rückzugsmöglichkeit gewährt dem Autor Schutz in Fällen, in denen das Regime den Autor wegen Subversivität belangen will, aber auch dem „komplizenhaften Zensor", der seine Aufgabe als Zensor nicht wahrnehmen will. Ein Beispiel für den „komplizenhaften Zensor" gibt Miguel Delibes an: Er wurde zeitweilig von einem Pater protegiert, der seine Werke schätzte. 72 Bei den Modellen indirekter Sprechakte werden Kommunikationsprozesse untersucht, bei denen das explizit Gesagte nicht das Gemeinte ist. Dieter Wunderlich bezeichnet mit „indirekten Sprechakten" sprachliche Formen indirekter Ausdrucksweise, die „wörtlich genommen werden können, jedoch eigentlich nicht wörtlich genommen werden sollten." 73 Auf die analoge Funktionsweise verschiedener Formen indirekter Redeweise wie Ironie, Metapher oder Allegorie ist mehrfach hingewiesen worden: 74 Ihre trennenden Aspekte 75 sollen hier vernachlässigt werden, da es nicht um die Erklärung bestimmter rhetorischer Stilmittel geht, sondern um die Entwicklung eines allgemeinen Kommunikationsmodells. Geklärt werden muß allerdings, wie sich diese für Sprechsituationen konzipierten Modelle auf literarische Kommunikationsstrukturen applizieren lassen. Waming nimmt diese Übertragung filr den Fall der Ironie vor. 76 Während sich im Sprechakt Ironie nur unter den situativen Bedingungen des jeweiligen Sprechaktes vollziehen kann, zeichnet sich der fiktionale Diskurs durch seine „Situationsabstraktheit", seine pragmatische Leere aus. Während also im Sprechakt die Situation selbst den pragmatischen Rahmen schafft, der das Verständnis von Ironie ermög-
72
Interview mit der Verfasserin vom 6. Mai 1994.
73
Dieter Wunderlich: „Zur Konventionalität von Sprechhandlungen", in: ders.: Linguistische Pragmatik. Frankfurt/M. 1972, S. 32.
74
So analysiert Hans Hörmann die Gemeinsamkeiten von „Semantische(r) Anomalie, Metapher und Witz", in: Folia Linguistica 5/1971, S. 310-330. Peter von Polenz untersucht das Prinzip des „Mitverstehens" an verschiedenen rhetorischen Figuren indirekter Ausdrucksweise wie Ironie, Übertreibung, Anspielung, Metapher, etc. in: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/New York 1985, S. 298-327; Wolf-Dieter Stempel sieht Analogien zwischen dem Freudschen Witzmodell und der Ironie in: „Ironie als Sprechhandlung", in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Poetik und Hermeneutik. Das Komische. München 1976, S. 205-235, dort S. 213.
73
Wayne C. Booth erklärt derartige Verallgemeinerungen für undifferenziert. Aber auch er erkennt die hier relevante Gemeinsamkeit indirekter Redeverfahren an, neben einer oberflächlichen Lektüre auch tieferliegende verborgene Lektüremöglichkeiten zu offerieren, in: A Rhetoric oflrony. Chicago/London 1974, S. 21f.
76
Rainer Waming: „Der ironische Schein: Flaubert und die 'Ordnung der Diskurse'", in: Eberhard Lämmert (Hg.): Erzählforschung. Stuttgart 1982, S. 290-318, dort S. 292-300.
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licht, erweist sich die Signalisierung von Ironie fiir die Literatur als komplizierter und in der Regel ambivalenter. Warning stellt daher die Frage nach „der spezifischen Pragmatik des fiktionalen Diskurses": in fiktiven Texten liegt eine „Situationsspaltung" vor in eine interne Sprechsituation, die Erzählsituation, und die exteme Rezeptionssituation, den Akt des Lesens. Die Ironie eines Textes wird dabei Uber die Instanz des Erzählers vermittelt und muß sich erst im Verlauf der Lektüre durch Erfahrungsbildung, das Prinzip der Rekurrenz, erschlossen werden. Die Übertragung von Modellen indirekter Sprechakte auf zensurrelevante Texte bietet sich insofern an, als sich gerade diese Art von Literatur als intentionaler kommunikativer Akt auffassen läßt, in dem der Autor seinem Leser wie im Ironie-Akt Nichtgesagtes suggeriert. Ein wichtiger Unterschied zwischen Ironie und Umgehungsstrategien besteht darin, daß letztere nicht notwendigerweise Komik produzieren. Als Orientierung filr den doppeltkodierten Kommunikationsprozeß der Zensur dient Ronald Tanakas Ironiemodell. 77 Tanaka geht nicht von der herkömmlichen Ironie-Definition in der Rhetorik aus („Ironie ist eine Sprachfigur, die das Gegenteil vom Gesagten meint"), sondern entwickelt ein an indirekten Sprechakten angelehntes, sehr allgemeines Ironie-Modell, das man auf Umgehungsstrategien übertragen kann. Tanakas Modell besteht aus drei Personen: Sprecher A, solidarisierten! Partner H' und Objektperson H. Außerdem unterscheidet er zwischen der eigentlichen Bedeutung p einer Aussage und ihrer uneigentlichen Bedeutung q. Eine Äußerung S ist filr Tanaka ironisch, wenn der Sprecher A sie in der Absicht trifft, daß für gewisse Hörer H und filr gewisse Hörer H' gilt: 1.
daß H die Sprechabsicht von A so begreift, als meine er p,
2.
daß H' aber begreift, daß A ' s Behauptung, daß p, impliziert, daß A in Wirklichkeit q meint,
3.
daß die Äußerung S von A gewisse Signale f aufweist, durch die A H ' zu erkennen gibt, daß A nicht p meint.
4.
Gleichzeitig soll H' As ursprüngliche Absicht begreifen, daß A S äußert, um H zu täuschen und H' zum Komplizen zu machen. (Solidarisierung zwischen A und H').
Tanaka geht also in seinem Modell davon aus, daß eine Botschaft zwei unterschiedliche Dimensionen beinhaltet, von denen die direkte (p), sich an eine anzugreifende Objektperson H richtet und die implizite (q) an den solidarisierten Partner des Sprechaktes H'. Bestimmte Signale f sollen H' nahelegen, daß die direkte Bedeutungsdimension nicht die tatsächlich gemeinte ist. Die angegriffene Person H kann laut Stempel auch eine Institution, eine Gruppe oder eine zu kritisierende Haltung sein. 78 Die Objektperson H muß nicht notwendigerweise anwe77
78
Ronald Tanaka: „The Concept of Irony", in: Journal of Literary Semantics 3/1973, S. 41-56, dort S. 46-49. Stempel 1976, S. 213.
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send sein, um das Gelingen des Sprechaktes zu gewährleisten, notwendige Bestandteile des Sprechaktes sind lediglich der Sprecher A und der solidarisierte Partner H \ Diese Konstellation wird im Fall von Literatur sogar zur Regel. Für den Spezialfall der Zensur muß Tanakas Modell abgeändert und um eine vierte Person erweitert werden. Denn Tanakas Objektperson H ist im Fall der Umgehungsstrategien gegen die Zensur zweigeteilt. 79 Man muß unterscheiden zwischen dem Objekt der verdeckten Angriffe - dem Regime (seinen Werten, Politikern, seiner Politik) - und dem Adressaten der Tarnstrategien - dem Zensor. Mein Zensur-Modell setzt sich folglich zusammen aus dem regimekritischen Autor A, dem solidarisierten Partner H' (komplizenhafter Leser), dem Objekt der verdeckten Angriffe H (Regime bzw. Vertreter des Regimes) und dem Adressaten der Tarnstrategien Hz (Zensor). Hz (Zensor), Empfänger von p
P
^ H (Regime), Objektperson
H' (komplizenhafter Leser), Empfänger von q H und Hz werden in diesem Modell getrennt, da der Zensor Hz zwar die Aussage treuhänderisch für das Regime kontrolliert, aber in der Regel nicht Ziel der verbalen Angriffe ist (denn der Autor will ja durch seinen Text normalerweise nicht den Zensor angreifen). Nur für den Sonderfall, daß ein direkter Regimevertreter ein kritisches Buch direkt in die Hände bekommt, ist auch H als Leser am Kommunikationsprozeß beteiligt; H ist dann zugleich Objektperson und Adressat; er entspricht dann H in Tanakas Modell. Wie an den Zensor richtet sich an ihn die offensichtliche Textdimension p, die den Autor vor etwaigen Vergeltungsmaßnahmen H's schützen soll. 80 Stempel zeigt in seinem analog zu Tanaka auf drei Personen aufbauenden IronieModell, wie sich die Ironisierung über die Scheinsolidarisierung mit der Objektperson, bzw. über eine Solidarisierung zwischen Sprecher und Partner voll-
79
Die Anregung zu dieser Aufspaltung der Objektperson des herkömmlichen IronieModells verdanke ich I. Nolting-Hauff.
80
Im Franquismus kam es öfters vor, daß ein bereits autorisiertes Buch einem wichtigen Regimevertreter, etwa einem Politiker oder Angehörigen des Militärs, in die Hände fiel, der das Buch anzeigte, weil er sich darin angegriffen fühlte - er entspricht im Modell H.
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zieht. 81 Dabei Ubernimmt der Sprecher zum Schein die Position der angegriffenen Person und formuliert negative Aussagen über sie somit ex negativo, indem er das Gegenteil vom Gemeinten sagt. Gleichzeitig aber gibt er diese zum Schein vollzogene Identifizierung einem dritten, dem Komplizen, als ironische Inszenierung zu erkennen, um sich mit ihm „hinter dem Rücken" der Objektperson gegen sie zu solidarisieren. Im Fall von Umgehungsstrategien besteht die Scheinsolidarisierung mit dem Zensor in der Einreichung eines Textes, der „harmlos" erscheint und die Werte des Regimes scheinbar affirmiert, während sich die Solidarisierung mit dem komplizenhaften Leser auf der Basis der impliziten Bedeutung vollzieht, die signalisiert werden muß. In der Realität gibt es zu dem bisher dargestellten Idealtyp allerdings Abweichungen, bei denen der Kommunikationsprozeß auf der Basis von Doppelcodierungen nicht reibungslos funktioniert. 1.
Die Signale f sind zu auffällig, und Hz erkennt die subversive Bedeutung q durchaus; er zensiert den Text. Die Tarnung war durchschaubar. Ein Beispiel dafür ist Javier Marino von Torrente Ballester, das trotz Umgehungsstrategien durch den Autor verboten wurde.
2.
H' erkennt die unterschwellige Bedeutung q nicht, da die Signale f zu wenig ausgeprägt sind. Die Tarnung wurde nicht als solche erkannt. Martin-Santos' hochkomplexer Roman Tiempo de silencio birgt in sich die Gefahr der Übercodierung.
3.
Hz entspricht dem komplizenhaften Leser H \ Das heißt, der Zensor verhält sich solidarisch mit Autor A, versteht auch die Botschaft q, aber er hält zum Schein seine Treuhändler-Rolle aufrecht. Er tut so, als würde er nur die offensichtliche Bedeutung p des Textes begreifen, um nicht als Zensor in Aktion treten zu müssen. Dieser Fall träfe auf den wohlwollenden, einen bestimmten Autor protegierenden Zensor wie im Fall Delibes zu.
5.2. Listige Verschwörer - Signale für den Komplizen Das Gelingen des zensurbedingten Kommunikationsaktes hängt von textexternen Bedingungen, aber auch von textinternen Strategien ab, durch die ein Autor dem Leser signalisiert, daß das Gesagte nicht das Gemeinte ist. Textexterne Faktoren In Erinnerung an Tanakas Modell sollen die Bedingungen untersucht werden, die dafür ausschlaggebend sind, daß H' die Signale f einer Äußerung derart begreift, daß er nach einer getarnten Bedeutung q der Aussage sucht. „Verstehen" ist nach Peter von Polenz: 82
81
Stempel 1976, S. 212-218.
82
Polenz 1985, S. 299f.
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... nicht ein bloßer 'Empfang' fertiger transportierter Informationseinheiten - wie man es in technischen Kommunikationsmodellen (mit „Sender" und „Empfänger") darstellt - sondern Ergebnis eines kombinierten HANDELNS des Rezipierenden, nämlich eine Kombination aus einerseits ANWENDEN von Sprachwissen (WIEDERERKENNEN von Ausdrucksformen und Bedeutungen) und andererseits ANNAHMEN MACHEN über das, was der Sprecher/Verfasser mit seinen Äußerungen GEMEINT hat oder haben könnte.
Für das Verstehen reicht es nach Polenz' Definition nicht, einen gemeinsamen Code mit dem Autor zu haben und erworbenes Sprachwissen anzuwenden, wie es die mechanischen Sender-Empfänger-Modelle nahelegen. Der Hörer/Leser muß zugleich Annahmen machen über das Gemeinte, die sich zwar nie hundertprozentig mit dem vom Autor Gemeinten decken - selbst nicht bei großem Einverständnis zwischen Autor und komplizenhaftem Leser -, aber sie können sich annähern. Wenn die Annahmen und das Gemeinte zu stark auseinanderklaffen, ist der Sprechakt mißlungen. Im Fall von Literatur gestaltet sich Verstehen komplizierter, da wie gesagt die unmittelbaren, relativ leicht verständlichen Signale der unmittelbaren Sprechsituation wegfallen. Die Aussage im Text wird vermittelt Uber eine Erzählinstanz geäußert, die man nicht mit dem realen Autor in eins setzen kann. Der Leser kann sich beim Verstehensprozeß nur auf die Intention des „impliziten Autors" stutzen, ein Konstrukt, das dem Ergebnis des hermeneutischen Akts des Lesens entspricht. Dabei kann der Leser nicht sicher gehen, daß die Aussage des „impliziten Autors" wirklich konform geht mit dem realen Autor, bei regimekritischen, auf die soziale Wirklichkeit bezogenen Texten ist dies allerdings anzunehmen. Dennoch bilden selbst regimekritische Texte Realität nicht ab; sie rekurrieren zwar auf die Wirklichkeit, aber in modellhafter Weise, wie Jurij M. Lotman zeigt. 83 Lotman teilt Texte in sujetlose und sujethafte Texte ein, die die herrschende Norm affirmieren bzw. übertreten. Sujethafte Texte zeichnen sich durch ein „revolutionäres Element" aus, indem der Held eine Grenze überschreitet, die der herrschenden Norm entspricht. Wenn man dieses Modell auf getarnte kritische Texte appliziert, erweisen sich diese Texte als gleichzeitig sujetlos und sujethaft. Auf der oberflächlichen, filr den Zensor bestimmten Ebene affirmieren sie vorgeblich die herrschende Ordnung - sie sind sujetlos. Es liegt dabei eine Scheinsolidarisierung mit den offiziellen Werten vor. Auf der impliziten Textebene jedoch verhalten sie sich sujethaft, indem sie die vom Regime gesetzte Grenze Uberschreiten; die Erfassung dieser Überschreitung setzt jedoch die Entschlüsselungsarbeit des komplizenhaften Lesers voraus. In Form dieser Entschlüsselung vollzieht sich die Solidarisierung zwischen Leser und Autor. Trotz der dargestellten Unterschiede zwischen indirekten Sprechakten und uneigentlichen Verfahren in der Literatur lassen sich wichtige Gemeinsamkeiten finden. Polenz' filr
83
Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer
Texte. 2. Aufl. München 1986.
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das Gelingen eines Sprechaktes ausschlaggebende Faktoren sind auch itlr die Dekodierung von Umgehungsstrategien entscheidend: 84 1.
die Kenntnis der Person des Sprechers/Autors, ihrer Einstellungen und Gewohnheiten;
2.
das Wissen von der Welt, in der man lebt;
3.
die Kenntnis und Einschätzung der Situation und des Kommunikationsablaufs;
4.
die Kenntnis bestimmter Regeln, nach denen miteinander kommuniziert wird.
Diese Faktoren können filr das Autor/Leser-Verhältnis im autoritären System spezifiziert werden. 1.
Damit der komplizenhafte Leser die Intention eines regimekritischen Textes entschlüsseln kann, bedarf es gewisser Kenntnisse über die Einstellung des realen Autors. Das heißt, in den Texten eines bekanntermaßen kritischen Autors erwarten Leser eher verdeckte Angriffe als bei einem neutralen oder konformen; sie richten bei der Lektüre ihre Aufmerksamkeit von vornherein auf die verschlüsselte Bedeutung eines Textes.
2.
Zugleich sind auch Kenntnisse über die reale Welt nötig, auf die sich der Autor bezieht. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn wir als Leser, denen der historische Bezugsrahmen nicht mehr geläufig ist, zahlreiche Anspielungen nicht verstehen können.
3.
Die Kommunikationssituation muß den Lesern soweit klar sein, daß sie wissen, welche Themen im Regime tabuisiert werden, und wo daher eine Tarnung zu erwarten ist.
4.
Auch der vierte Punkt von Polenz' Faktoren trifft auf die Zensur zu: die Kenntnis der Kommunikationsregeln, die die Verständigung zwischen Autor und Leser möglich machen. Juan Goytisolo hat filr die Literatur unter dem Franquismus anschaulich formuliert, was damit gemeint ist:83 Die Lektüre dessen, was heute [in den 60er Jahren, d.V.] in Spanien veröffentlicht wird - von den Leitartikeln der offiziellen Presse bis zu den Rezensionen und Artikeln der minderheitlichen Kulturzeitschriften - spiegelt diese Situation vollkommen wider, und der ausländische Leser oder einer, der, wie ich, infolge eines langen Exils in der geistigen Gymnastik, die besagte
84
Polenz 1985, S. 300, sowie John Langshaw Austin: How to do things with words. Cambridge/Massachusetts 1962, S. 14f. Austin berücksichtigt für das Gelingen eines Sprechaktes die Konventionen, nach denen sich die Kommunikation vollzieht, die Umstände, unter denen sie sich vollzieht, die Einstellungen des Sprechers und des Hörers („thoughts or feelings") sowie die Art der Aussage („correctly and completely").
85
Juan Goytisolo: Dissidenten. Barcelona 1977.
Frankfurt/M. 1984, S. 118. Originalausgabe:
Disidencias.
III. Allgemeiner
Zensurteil
41
Lektüre erfordert, ein wenig aus der Übung gekommen ist, steht oft perplex vor einer Reihe von Anspielungen, deren kryptischer Charakter das Verständnis unmöglich macht. Aber wir müssen mit Blanco White daran denken, daß 'die repressiven Regierungen unterworfenen Völker, denen es nicht erlaubt ist, frei zu sprechen, die Lebhaftigkeit von Stummen besitzen, um sich durch Zeichen zu verständigen.'
Textinterne Strategien In der Forschungsliteratur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß ein Sprecher/Autor dem Leser die Uneigentlichkeit des Gesagten durch einen Verstoß gegen bestimmte Konversationsprinzipien signalisiert. Dieser bewußte Regelverstoß wirkt als „Alarmklingel" 86 auf den Leser. Dafür muß man sich zunächst einmal über das Gelingen einer „reibungslosen" Sprechhandlung klar werden. H. P. Grice geht davon aus, daß ein normales Gespräch von einem generellen Kooperationsprinzip getragen wird, also: der Sprecher bemüht sich um Verständlichkeit, der Hörer ist gesprächs- und aufnahmebereit. Für den Sprecher stellt Grice vier „Konversationsmaximen" auf, die das Gelingen des Gesprächs ermöglichen: 87 1.
Quantitätsprinzip:
- Mache deinen Gesprächsbeitrag so informativ wie erforderlich. - Mache deinen Beitrag nicht informativer als erforderlich. 2.
Qualitätsprinzip:
Versuche deinen Beitrag wahrheitsgemäß zu machen (sag nichts, wovon du glaubst, es sei unwahr, sag nichts, wofür du keinen hinreichenden Nachweis hast.) 3.
Relevanzprinzip:
Bleib beim Wesentlichen. 4.
Ausdrucksprinzip:
Rede klar und deutlich (vermeide Dunkelheit im Ausdruck, sei kurz, sei methodisch). Diese Prinzipien lassen sich mit gewissen Ergänzungen und Modifikationen auch auf Texte übertragen. 88 Solange ein Autor sich an diese Maximen hält, verhält er sich im Sinne von Grice „kooperativ" und ist bestrebt, sich dem Leser möglichst reibungslos verständlich zu machen - zum Beispiel in Sachtexten, Gebrauchsanweisungen, wissenschaftlichen Abhandlungen. Literarische Texte weichen allerdings sehr häufig von diesen Prinzipien ab; die ästhetische Qualität eines Textes scheint solche Regelverstöße geradezu vorauszusetzen. Doch diese Abweichun-
86
Hörmarin 1971, S. 317.
87
Vgl. Wunderlich 1972, S. 56, sowie Polenz 1985, S. 311.
88
Vgl. Polenz 1985, S. 311.
42
Gabriele Knetsch
gen (Metaphern, Ironie, Allegorien etc.) wirken erst vor der Folie des normalen Sprechaktmodells als literarische Besonderheiten. Anders als diese uneigentlichen Redeverfahren in ästhetisch orientierten Texten sind Tarnstrategien in regimekritischen Texten nicht in erster Linie ästhetisch motiviert. Verstöße gegen die Konversationsmaximen erfüllen hier eine doppelte Funktion: Sie sind unvermeidbar, denn die Zensur zwingt den regimekritischen Autor, gegen diese Maximen zu verstoßen - er darf eine verbotene Botschaft j a nicht klar und deutlich zum Ausdruck bringen, wie es die Konversationsmaximen erfordern. Gleichzeitig ist ein derartiger Regelverstoß semantisch aufgeladen, da das Nichtgesagte eine bestimmte Subbedeutung impliziert, die der komplizenhafte Leser entschlüsseln soll. Uneigentliche Redeverfahren basieren auf einer prinzipiellen Ambivalenz, die aber erst durch die hermeneutische Arbeit des Lesers erschlossen werden muß. Erst die hermeneutische Kompetenz des Lesers stellt die implizite Bedeutung Uberhaupt her, insofern werden Umgehungsstrategien auch potentiell ästhetisch fruchtbar. Ausgelöst wird der Decodierungsprozeß durch einen Regelverstoß gegen die Konversationsmaximen von Grice, denn die intentionale Störung des normalen Kommunikationsverlaufs fällt dem aufmerksamen Leser auf und signalisiert ihm, daß der Autor nur auf den ersten Blick - aufgrund der sonst üblichen Erwartung - die Maximen verletzt, daß sich dieser Verstoß allerdings auf einer zweiten Ebene als sinnvoll erweist. Ein Beispiel aus Delibes' Cinco horas con Mario89 soll diesen Zusammenhang erläutern. Delibes thematisiert in seinem Roman über die Franquistin Carmen und ihren regimekritischen toten Mann, den Schriftsteller und Lehrer Mario, die Verwendung von Umgehungsstrategien. So schreibt Mario über den Spanischen Bürgerkrieg: „Dónde està esa FUERZA? ELLA no tiene cabeza, ni forma, ni nadie sabe dónde se esconde" („Wo ist diese KRAFT? - SIE hat keinen Kopf, keine Form und niemand weiß, wo sie sich versteckt", Versalien im Original, S. 50). Diese „Kraft" ist im Roman dafür verantwortlich, daß die Soldaten ihre Pflicht erfüllen und auf die Feinde schießen. Carmen liest die Passage auf der wörtlichen Ebene und rezipiert die für den Zensor bestimmte oberflächliche Bedeutung des Textes: Sie fragt sich, was für eine rätselhafte „Kraft" die gestandenen Soldaten wohl zu ihrem Tun bewegen mag. Die Passage bleibt dunkel und verstößt gegen das Ausdrucksprinzip. Aber dem komplizenhaften Leser signalisiert der Verstoß gegen das Ausdrucksprinzip, nach einer Bedeutung auf einer höheren Ebene zu suchen, auf der sich der Regelverstoß als sinnvoll erweist. Als zusätzliches Signal wirkt hier die von der Norm abweichende Großschreibung von „esa fuerza" - sie signalisiert dem komplizenhaften Leser, daß der Autor eine Bedeutung im Sinn hat, die er nicht äußern darf: „Esa fuerza" entspricht der Macht der franquistischen Herrschaft, die die Soldaten zwingt, politische Gegner im Bürgerkrieg zu erschießen. 89
Miguel Delibes: Cinco horas con Mario. 13. Aufl. Barcelona 1992.
/ / / . Allgemeiner
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Grice nennt solche bewußten Verstöße mit dem Ziel, dem Hörer etwas anderes als das Gesagte nahezulegen, „conversational implicatures". 90 Allerdings riskiert ein Autor durch einen bewußt vorgenommenen Regelverstoß, sich nicht allen Lesern verständlich zu machen. Im Fall der zensurbedingten Umgehungsstrategien nutzen die Autoren dieses „Manko" gezielt aus, denn der Autor hofft auf einen konformen Leser H, der mit Unverständnis auf die Anomalie reagieren soll bzw. sich mit einer wörtlichen Lektüre zufrieden gibt, und einen aufmerksamen Leser H \ der das Code- und Wertesystem des Autors teilt und dem nach einem ersten Moment des Unverständnisses ein Licht aufgehen soll. 91 Rotermund arbeitet auf der Basis der Regelverstöße von Grice Tamstrategien heraus, die durch absichtsvolle „Fehler" Mitzuverstehendes beim Leser hervorrufen. 92 Er führt das bewußte Weglassen wichtiger Informationen, das „argumentum ex silentio" an (Verstoß gegen das Quantitätsprinzip) oder die Verletzung des Relevanz-Prinzips, indem vor allem Details aufgeführt werden, die mit dem eigentlichen Sachverhalt nur peripher zu tun haben. Dabei beklagt er das Fehlen einer Systematisierung dieser Regelverstöße in Form einer „Poetik der .verdeckten Schreibweise'" 93 und stellt letztlich die Frage nach einer Systematisierung der Signale f . Diese erscheint jedoch zweifelhaft, denn die Möglichkeiten, eine Störung im Textverlauf zu realisieren, sind so vielfältig wie die rhetorischen Mittel selbst. Wamings Einschätzung der Ironiesignale dürfte daher auf alle Signale uneigentlichen Sprechens zutreffen: 94 Freilich sind solche Signale ... keine eigene Klasse sprachlicher Zeichen. Ironiesignale verfügen über kein eigenes System, über keinen eigenen Code, sondern sie operieren parasitär auf den Faktoren, die an dem jeweiligen Sprechakt beteiligt sind. Sie können prinzipiell an jedem dieser Faktoren ansetzen, um von seiner Störung her den ganzen Sprechakt zu stören und ihn damit - als einen ironischen gelingen zu lassen. Ironiesignale, das wäre unser erstes Fazit, sind nicht rekurrent, sondern okkurent, d.h. bestimmbar nur unter den Bedingungen des je realisierten Sprechakts.
José Sánchez Reboredo hat zwar eine Systematisierung von Umgehungsstrategien für die antifranquistische Literatur versucht, dabei handelt es sich jedoch
90
An diesem Modell ist auch Tariakas Ironie-Modell orientiert. Grice geht im Gegensatz zu Tanaka allerdings nur von zwei Personen aus, die bei Tanaka dem Sprecher und dem komplizenhaften Hörer H' entsprächen. Das Modell von Grice ist abgedruckt in: Wunderlich 1972, S. 57.
91
Zu Abweichungen von diesem idealtypischen Fall, siehe oben.
92
Rotermund, „Herbert Küsels Dietrich Eckart-Artikel"
93
Ebenda, S. 245.
94
1994, S. 240.
Rainer Warning: „Ironiesignale und ironische Solidarisierung", in: Wolfgang Preisendanz/R.Waming (Hg.): Poetik und Hermeneutik Das Komische. München 1976, S. 416-423, dort S. 420.
Gabriele Knetsch
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eher um eine zeitlich begrenzte, wenngleich vielfältige und interessante Beispielsammlung, als um eine wirkliche „Rhetorik der Zensur". 95 Einerseits findet er viele Belege für Zensurstrategien, die gemäß den von rhetorischen Figuren beeinflußten Techniken indirekter Rede funktionieren, andererseits - und dies ist der interessantere Aspekt - kann er zeigen, daß sich im Franquismus offenbar eine eigene Sprache zweiter Ordnung gegen die Zensur herausgebildet hat, die regimekritischen Lesern geläufig war. So wurden bestimmte Metaphern von verschiedenen Autoren immer wieder mit der gleichen verschlüsselten Subbedeutung verwendet, etwa „el aire" und „el mar" als Anspielung auf die Freiheit für Spanien, „piedra" für die Repression im Staat, „muros" filr Gefängnis oder „abrir las ventanas" filr die Reformbedürftigkeit der Diktatur. Sicherlich sind diese sprachlichen Bilder nicht originell, doch sie erfüllten ihren Zweck, einerseits verständlich für den komplizenhaften Leser zu sein und andererseits eine RUckzugsmöglichkeit gegenüber der Zensur zu bieten. Wenn man eine Typologie der Umgehungsstrategien anstrebt, ließe sich am ehesten auf zwei grundsätzliche Substitutionsverfahren, wie sie bereits die antike Rhetorik kannte, zurückgreifen: Substitution durch Kontiguitätsverhältnisse, die das Gemeinte und das Substitut in ein raumzeitliches Verhältnis zueinander stellen (z. B. Symbol oder Metonymie) oder Substitution durch Similaritätsverhältnisse, die zwischen dem Gemeinten und dem Substitut eine Ähnlichkeitsbeziehung herstellen (z. B. Metapher). Sigmund Freud hat diese beiden fundamentalen Prinzipien uneigentlichen Sprechens als Verschiebung und Verdichtung fruchtbar gemacht filr seine Traumdeutung und später für die Witz-Theorie, die sich den Theorien zu indirekten Sprechakten zuordnen läßt. Dabei entspricht die Verschiebung der Substitution durch Kontiguitätsverhältnisse, denn das Wesentliche an ihr ist laut Freud „die Ablenkung des Gedankenganges, die Verschiebung des psychischen Akzents auf ein anderes als das angefangene Thema". 9 6 Als Beispiel nennt er den Witz: „Hast du genommen ein Bad?" - „Wieso, fehlt eins?" Dabei wird der Akzent verschoben von Bad auf genommen. Bei der Verdichtung werden hingegen Bilder erzeugt, „die völlig einem Objekt oder einer Person gleichen bis auf eine Zutat oder Abänderung, die aus anderer Quelle stammt ,..". 97 Sie führt analog zu den Similaritätsverhältnissen der Rhetorik zu Verkürzungen und zu Ersatzbildung. Ein Beispiel dafür wäre der Witz „Ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär", wobei zwei Gedanken in einen gesetzt werden: Rothschild behandelte mich ganz familiär, soweit das bei einem Millionär überhaupt möglich ist.
95
96
Sánchez Reboredo 1988.
Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Der Humor. Frankfurt/M., S. 67.
97
Ebenda, S. 45.
/ / / . Allgemeiner
Zensurteil
45
Diese zensurtheoretischen Überlegungen auf der Basis indirekter Sprechakte gründen sich auf die Annahme, daß man bei Literatur, die vor der Zensur getarnt wird, von Autorintention und Wirklichkeitsbezug eines Textes ausgehen muß. Nur, wenn man dem Text eine nonkonformistische Intention zuspricht, ist es Uberhaupt zweckmäßig, nach Tarnstrategien zu suchen. Bei der Analyse der Tamstrategien kann nicht auf die Berücksichtigung des historischen Kontextes, der äußeren Kommunikationssituation, sowie des realen Autors verzichtet werden. Ein rein textbezogenes Vorgehen im Sinne einer poststrukturalen Dezentrierung des Subjekts scheint filr die Zensurforschung weder ergiebig, noch sinnvoll zu sein. 98 Die Erwartung einer getarnten Autorintention lenkt den komplizenhaften Leser bei seiner Lektüre auf die Spur einer Sprache zweiter Ordnung, und diese getarnte Autorintention gilt es auch als „besonderer", nämlich wissenschaftlicher Leser im Auge zu behalten.
6. Verfahren des beredten Schweigens Eine Literatur, die wirklich unter freiheitlichen Bedingungen entstehen konnte, war in der Geschichte eher die Ausnahme. In ganz unterschiedlichen Epochen und Systemen mußten sich Schriftsteller Strategien überlegen, um trotz Zensur veröffentlichen zu können. „Die Zensur zwingt zu geistreicherem Ausdruck der Ideen durch Umwege", schreibt Johann Wolfgang von Goethe. 99 Der Satiriker Karl Kraus kommentierte das Schreiben unter der Zensur mit dem bissigen Satz: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten". 100 Die Schwierigkeiten einer Systematisierung der Zensurstrategien wurde oben bereits diskutiert, hier sollen anhand einiger Beispiele aus unterschiedlichen Epochen typische Verfahren zur Täuschung der Zensur dargestellt werden. Schriftsteller im spanischen Siglo de Oro, im deutschen Vormärz, im Nationalsozialismus oder im Franquismus erfanden durchaus ähnliche Camouflage-Techniken wie sie etwa Nolting-HaufF, Hömberg, Rotermund, Sánchez Reboredo oder Neuschäfer herausgearbeitet haben. 101 a) Das argumentum ex silentio Schriftsteller trachteten zu allen Zeiten danach, die Spuren der Zensur für ihre Leser sichtbar zu machen - häufig ließen sie die zensierten Seiten einfach weiß oder markierten die gestrichenen Stellen durch Auslassungspunkte (Sánchez, S. 48-52). Immer wieder wird ein Beispiel aus Heines Reisebildern zitiert: Seite 228
98 99
Vgl. Nolting-Hauff 1991, S. 51. Zitiert in: Peter Dittmar: Lob der Zensur. Geister. Köln 1987, S. 66.
100 101
Verwirrung
der Begriffe.
Verwirrung
der
Ebenda, S. 46.
Walter Hömberg: Zeitgeist und Ideenschmuggel. Die Kommunikationsstrategie des Jungen Deutschland. Stuttgart 1975; Nolting-Haufif 1991; Rotermund 1994, S. 225-237 und S. 239-248; Sánchez Reboredo 1988; Neuschäfer 1991.
46
Gabriele Knetsch
enthält nur Auslassungsstriche mit Ausnahme von zwei Passagen: „Die deutschen Censoren... Dummköpfe". 102 Der Gebrauch von Initialen oder von Synonymen markiert häufig verbotene Namen oder Zeitumstände. So schrieb der antifranquistische Dichter Victoriano Cremer eine Fábula de B.D., wobei der Inhalt des Gedichts unzweifelhaft auf die dubiose Ermordung des Anarchistenfilhrers Buenaventura Durruti hindeutet (Sánchez, S. 62). Um auf den verbotenen Kommunismus anzuspielen, ersetzten antifranquistische Dichter das offizielle Symbol durch einen verwandten Begriff statt von Hammer und Sichel sprachen sie zum Beispiel von Messer und Sichel (ebenda, S. 69); statt das „Kommunistische Manifest" zu nennen, erwähnte ein Dichter einfach das signifikante Datum: „Febrero 1848" (ebenda, S. 72). Um die Behinderung durch die Zensur zu signalisieren, verstoßen Schriftsteller wie gezeigt häufig gezielt gegen die Griceschen Konversationsmaximen. Der spanische Theaterautor Buero Vallejo siedelte sein 1949 geschriebenes Stück Historia de una escalera auf der Treppe eines Mietshauses an. In den drei Akten erzählt er die Geschichte der Nachbarn über drei Jahrzehnte hinweg - und läßt ausgerechnet das zentrale, aber konfliktive Bürgerkriegsjahr 1939 aus (Neuschäfer, S. 127). Ein zweites Beispiel für das argumentum ex silentio ist ein Zeitungsartikel von Herbert KUsel über den Nazi-Schriftsteller Dietrich Eckart. Der Autor der erzwungenen „Geburtstagshommage" nennt zahlreiche, für das Werk Eckarts irrelevante Details über dessen pittoreskes Leben, während er sich über seine literarischen Qualitäten fast völlig ausschweigt (Rotermund, S. 243). b) Metaphern und Symbole Gerade die antifranquistischen Schriftsteller benutzten wie erwähnt eine Fülle immer wieder verwendeter Symbole und Metaphern wie „Nacht", „Winter" oder „Mauer" zur Allusion auf die politische Unterdrückung. Eine beliebte Camouflage-Technik besteht auch darin, die Krankheit eines Helden in Analogie zu setzen zu den krankhaften Zuständen der aktuellen historischen Situation. So kritisierten zwei Dichter des „Jungen Deutschland", Theodor Mündt in Charlotte Stieglitz (Hömberg, S. 102) und Heinrich Heine in den Florentinischen Nächten,103 das reaktionäre, kraftlose Deutschland der Restauration durch diese Metapher. Der spanische Romancier Martín-Santos überträgt in Tiempo de silencio die Erforschung von Krebs auf die Untersuchung der sozialen Geschwüre des Franquismus. Houben zitiert einen Zeitungstext, in dem die schwächliche französische Regierung von Louis Philippe und seine Berater angegriffen werden: „General Sebastiani sieht, was man auch sagen mag, sehr 102
Heinrich Hubert Houben: Der ewige Zensor. Nachdr. der Ausgabe von 1926, Kronberg 1978, S. 56.
103
Elvira Grözinger: „Die 'doppelte Buchhaltung'. Einige Bemerkungen zu Heines Verstellungsstrategie in den Florentinischen Nächten" , in: Joseph A. Kruse (Hg.): HeineJahrbuch ¡979. Hamburg 1979, S. 67f.
///. Allgemeiner
Zensurteil
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kränklich aus; er leidet an Schwäche im Rückgrat, die ihm fast nicht gestattet, aufrecht zu stehen. Er ist bekanntlich einer von den Männern, zu denen Ludwig Philipp das meiste Zutrauen hat." (Houben 1978, S. 90).
c) Verlegung der Kritik in ein anderes Land oder in eine andere Zeit Diese Technik entspricht Freuds „Verschiebung" und gehört zu den klassischen Umgehungsstrategien. Dabei wird die Kritik am eigenen Staat in ein fremdes oder fiktives Land bzw. in eine andere Epoche verlegt, während der Text zugleich Parallelen zur aktuellen Situation aufweist. Der Journalist Rudolf Pechel tarnte seine Kritik am NS-Regime als Rezension eines Buches über den Stalinismus. In Pecheis Zeitungsartikel „Sibirien, das heißt Konzentrationslager, frieren, hungern, sterben oder besser: langsam verrecken" von 1937 liefert er unter antikommunistischem Vorzeichen eine detaillierte Analyse des nationalsozialistischen Terrors (Rotermund, S. 226). Miguel Delibes entwirft 1969 in der Parabel Parábola del náufrago ein fiktives autoritäres System, das sich gleichermaßen auf die Diktatur Stalins oder Francos beziehen läßt.
d) Zitate anerkannter Sprechinstanzen Als besonders ergiebige Quelle zur Untermauerung von Kritik an Kirche und Staat erweist sich die Bibel - schließlich genießt sie in den traditionellen Zensursystemen Europas unerschütterliche Autorität. Der Anführer des „Jungen Deutschland" Ludolf Wienbarg formulierte seine Kritik an Kirche und Klerus in Wanderungen durch den Tierkreis mit Hilfe von Bibelzitaten (Hömberg, S. 114f.). Auch der Spanier Miguel Delibes konterkarierte 1966 in Cinco horas con Mario die franquistischen Klischees seiner Protagonistin Carmen mit Sätzen aus der Bibel. Andere zitierbare Quellen sind Vertreter der herrschenden Ordnung oder anerkannte Klassiker, deren Aussagen auf die aktuelle Situation übertragen werden (Sánchez, S. 121-126). So legte der Vormärz-Schriftsteller Heinrich Laube negative Kommentare über Standesschranken und Adelsprivilegien ausgerechnet einem Adeligen in den Mund (Hömberg, S. 117).
e) Tarnung durch den Erzähler Auch verschiedene Erzähler-Konstellationen dienen den Autoren als Rückzugsmöglichkeit. Der pikareske oder unwissend-naive Erzähler darf analog zum Hofnarren ausplaudern, was die Zensur einem seriösen Erzähler verwehrt. Der Schelm des anonym veröffentlichten Lazarillo de Tormes von 1554, aber auch der brutale Pascual in Camilo José Celas La familia de Pascual Duarte von 1942 können auf diese Weise ein ungeschöntes Bild der sozialen Realität vermitteln. Eine zweite Rückzugsmöglichkeit bietet der objektive, neutrale Erzähler, wie er insbesondere in den 50er Jahren von den antifranquistischen Vertretern der novela social gepflegt wurde: Der Erzähler referiert ohne zu werten wie ein Megaphon Eindrücke der sozialen Umwelt. Der objektive Erzähler tritt bereits im 19. Jahrhundert auf, etwa im naturalistischen Roman Flauberts. Auch damals schon wurde die Tauglichkeit des objektiven Erzählers als Umgehungsstrategie erkannt.
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Gabriele Knetsch
So schreibt Hömberg über Karl Gutzkows Oeffentliche Charaktere, eine Sammlung von Porträts wichtiger Persönlichkeiten des Zeitgeschehens: „Der Autor läßt seine eigene politische und ideologische Haltung selten durchscheinen, er beharrt vielmehr auf der Anbieterposition des unabhängigen Beobachters." (S. 108).
IV. Praxis der franquistischen
Bücherzensur
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IV. PRAXIS DER FRANQUISTISCHEN BÜCHERZENSUR - DAS DIFFIZILE SPIEL ZWISCHEN ZENSOR, AUTOR UND VERLEGER Dieses kurze Kapitel gehört an den Anfang der Analyse der franquistischen Btlcherzensur, denn es untersucht zwei zentrale Fragen. Erstens: wie reagierten die Autoren auf die Zensur? Und zweitens: wie arbeiteten die franquistischen Zensoren? Als Quellen dienen die Zensurdokumente sowie meine Interviews mit Autoren, Verlegern und mit Zensor Carlos Robles-Piquer. Dieses Kapitel schafft also die Grundlage, um die darauffolgenden Detailanalysen der franquistischen Btlcherzensur nachvollziehen zu können. Die BUcherzensur wird im Sinne des „gatekeeper"-Modells als mehrstufiger und komplexer Prozeß untersucht, auf den verschiedene „gatekeeper" einwirken: die Autoren selbst durch Selbstzensur, die Verleger, einflußreiche Gruppen des Regimes, die Zensoren - letztlich sogar regimekonforme Leser, die sich bei der Lektüre selbst zensieren.
1. Selbstzensur und verdecktes Schreiben unter Franco Wie im „Allgemeinen Zensurteil" gezeigt, beginnt der Zensurprozeß mit der Selbstzensur der Autoren. Charakteristisch für den Schreibprozeß in der Diktatur dürfte die Aussage von Francisco Umbral sein: 104 Efectivamente, existirán sin duda unos condicionamientos históricos, psicológicos, nacionales que influyan en todos nosotros, uno ya no los percibe, puesto que desgraciadamente ha sido criado en ellos. De modo que no sé si me autocensura o no, creo que digo todo lo que quiero, esto es un problema de estilo, la censura es un problema de estilo, de modo que las cosas se pueden decir todas porque en literatura no importa tanto lo que se dice, importa lo que no se dice, lo que se sugiere. (In der Tat existieren wohl ohne Zweifel gewisse historische, psychologische und nationale Bedingungen, die uns alle prägen. Man merkt sie gar nicht mehr, weil wir ja in ihnen groß geworden sind. Daher weiß ich nicht, ob ich mich selbst zensiere oder nicht. Ich glaube, daß ich alles sage, was ich will, denn das ist ein Problem des Stils. Die Zensur ist ein Problem des Stils, insofern als man alles sagen kann, denn in der Literatur ist nicht so wichtig, was man sagt, sondern was man nicht sagt, was man nur andeutet.)
Umbral spricht zwei Phänomene an, die in diesem Kapitel relevant werden: Viele Autoren unter Franco zensierten sich beim Schreibakt selbst, denn sie hatten die Tabus durch ihre Erziehung in der Diktatur verinnerlicht und richteten sich bewußt oder unbewußt - bereits bei der Textgenese nach diesen Tabus. Gleichzeitig machte die Zensur die Schriftsteller nicht völlig mundtot, denn sie entwikkelten Tarnstrategien, um nonkonforme Ideen zu publizieren.
104
Beneyto 1975, S. 43.
Gabriele Knetsch
50
Eine wertvolle Quelle zu diesem Themenkomplex stellt Antonio Beneytos Sammlung von 43 Autoreninterviews dar, in denen unter anderem nach Zensur und Selbstzensur gefragt wird. 105 Diese interessanten, noch in der Diktatur entstandenen Gespräche dokumentieren unterschiedliche Erfahrungen und Positionen bekannter spanischer Schriftsteller im Hinblick auf die Zensur. Als weitere Quellen verwende ich die Ergebnisse von Abelläns Umfrage unter 95 Schriftstellern 106 sowie eigene Interviews 107 . Unabhängig von ihrer Haltung zur Zensur waren den spanischen Autoren die Tabus des Regimes in der Regel geläufig, wie die Auswertung der genannten Quellen ergibt. Sie konnten zwar nicht die Zensurentscheidung im einzelnen abschätzen, doch hatten sie zumindest das grobe Normenraster des Systems im Kopf. 1 0 8 Laut Abellän gab nur etwa ein Drittel der Befragten an, sich nicht selbst zu zensieren - zumindest nicht bewußt, wie der Forscher vorsichtig hinzufügt. 109 Die meisten Autoren - sowohl bei Abellän als auch bei Beneyto und in meinen eigenen Interviews - gaben Selbstzensur hingegen unumwunden zu. Sie nannten dafür folgende Gründe: den Wunsch, in Spanien zu veröffentlichen; vorhersehbare Schwierigkeiten durch bestimmte, für die Zensur nicht akzeptable Stellen zu umgehen; Zeitverschwendung durch sinnlose Konflikte mit der Zensur zu vermeiden; die Absicht, bestimmte Ideen auf alle Fälle unversehrt durch die Zensur zu bringen. Die Antworten bei Beneyto zeigen, daß sich die Autoren über die Bedeutung des Begriffs „Zensur" keineswegs einig waren. So verstanden manche wie zum Beispiel Carmen Martin Gaite darunter „stilistische Zensur", oder besser: „Selbstkorrektur" im positiven, selbstkritischen Sinne. 110 Dionisio Ridruejo unterschied
105
Ebenda.
106
Manuel L. Abellán: „Fenómeno censorio y represión literaria", in: ders. (Hg.): Diálogos Hispánicos de Amsterdam 5: Censura y literaturas peninsulares. Amsterdam 1987, S. 5-25.
107
Interviews mit Juan Marsé, Ana Maria Matute, Miguel Delibes, Gonzalo Torrente Ballester, Manuel Vázquez Montalbán und Juan Goytisolo.
108
Ana Marta Matute bestätigt, daß man nach den ersten Erfahrungen mit der Zensur in etwa voraussehen konnte, welche Stellen die Zensur akzeptieren würde und welche nicht. Auch Torrente Ballester meint, durch die Praxis mit der Zensur Erkenntnisse Ober die Kriterien gewonnen zu haben.
109 110
Abellán 1987, S. 20.
„Por supuesto que me autocensura, porque soy una persona muy crítica." („Natürlich zensiere ich mich selbst, denn ich bin ein sehr kritischer Mensch.") In: Beneyto 1975, S. 264. Zur Unterscheidung zwischen Selbstzensur und Selbstkorrektur, vgl. Kap. III. 3. „Gegen die Begriffsverwirrung - Grunddefinitionen zur Zensur".
IV. Praxis der franquistischen
Bücherzensur
51
seinerzeit als einer der wenigen Befragten klar zwischen „Selbstzensur" und „Selbstkorrektur": 111 Distingamos entre autocensura y autocorrección. Todo escritor se autocorrige tachando, cambiando o añadiendo para lograr claridad - u oscuridad - y estilo. Por otra parte, hoy nos autocensuramos todos - en más o en menos - usando reticencias y sobreentendidos para poder decir parte de lo que queremos. (Unterscheiden wir zwischen Selbstzensur und Selbstkorrektur. Jeder Schriftsteller korrigiert sich selbst, indem er streicht, ändert oder hinzufügt mit dem Ziel, mehr Klarheit - oder mehr Dunkelheit • und einen besseren Stil zu erreichen. Andererseits zensieren wir uns heute alle selbst, indem wir - mehr oder weniger Andeutungen und Anspielungen verwenden, um einen Teil dessen zu sagen, was wir sagen wollen.) Einige Autoren gaben an, bewußt mit den Beschränkungen der Zensur zu spielen und einen gewissen Ehrgeiz daran zu setzen, verbotene Botschaften zwischen den Zeilen zu vermitteln wie der bereits zitierte Francisco Umbral: 1 1 2 ... todas las ideas que se me han ocurrido las he desarrollado de una otra; es decir la censura puede haber influido quizás en el lenguaje, en expresión, pero no en la idea en sf. De modo que nunca he tenido que ninguna idea, sino que quizá le he dado un desarrollo no sé si más enigmático, pero he realizado las ideas.
forma o de la forma de renunciar a sutil o más
(... alie Ideen, die mir eingefallen sind, habe ich auch auf irgendeine Art und Weise dargestellt; das heißt, die Zensur hat vielleicht die Sprache beeinflußt oder die Form des Ausdrucks, aber nicht die Idee selbst. Ich mußte also niemals auf die Idee verzichten, sondern ich habe sie vielleicht subtiler und verrätselter dargestellt, aber ich habe meine Ideen doch verwirklicht.) Doch nur eine Minderheit der Befragten entwickelte einen derartigen sportlichen Ehrgeiz. Einige lehnten die Selbstzensur als Vorstufe zur staatlichen Zensur ñlr sich vollkommen ab; Autoren wie Joan Brossa gaben an, ohne Rücksicht auf die staatliche Zensur zu schreiben, selbst auf die Gefahr hin, in Spanien gar nicht veröffentlichen zu können. Brossa argumentierte, daß Selbstzensur ftlr ihn eine Art Kollaboration mit dem Regime bedeute. Auf die Frage nach Selbstzensur antwortete er: 113 Nunca. A veces veo claramente que el poema que escribo no puede „pasar", pero sigo adelante. Si me paro, tengo la sensación de tomar parte en una estafa colectiva o algo así. Que luego el texto no se publique ya es otra cuestión. Mientras escribo prescindo de toda autocensura. (Niemals. Manchmal sehe ich ganz klar, daß das Gedicht, an dem ich schreibe, nicht „durchkommt", aber ich schreibe weiter. Wenn ich es nicht täte, hätte ich 111
Beneyto 1975, S. 125.
112
Ebenda, S. 43.
113
Ebenda, S. 79.
Gabriele
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das Gefühl, an einem kollektiven Betrug oder so etwas mitzumachen. Daß der Text später nicht veröffentlicht wird, ist eine ganz andere Frage. Aber während ich schreibe, sehe ich von jeglicher Selbstzensur ab.)
Ana María Matute zensierte sich zwar selbst, aber auch sie betrachtete das indirekte Schreiben durch Umgehungsstrategien nicht als künstlerisches Spiel, sondern litt extrem unter dem geknebelten Schreibprozeß. Ihrer Ansicht nach hat die Zensur die Qualität ihrer Bücher nicht gefördert, sondern im Gegenteil, die besten Werke habe sie erst in der Demokratie geschrieben: 114 Llega un momento en que el mejor censor eres tú. Era una frustración continua. Todavía me caen gotas de sudor acordándome como tenía que buscar sinónimos ¿cómo lo digo de otra manera? (Es kommt der Augenblick, wo man selbst sein bester Zensor ist. Für mich war es eine ständige Frustration. Noch heute bekomme ich Schweißausbrüche, wenn ich an die Suche nach Synonymen - wie sag ich's anders - denke.)
Für Juan Goytisolo stellte der zensorische Zwang einen wichtigen Grund dar, ins Exil zu gehen, denn er weigerte sich, weiterhin Kompromisse mit dem Regime einzugehen. Auch er betrachtet die Zensur nicht als stimulierenden Impuls, sondern als Hemmnis für seinen Schaffensprozeß. Erst in Frankreich, frei von Repression und Kontrolle, entstanden Goytisolos bedeutendste Romane: 115 Con Campos de Níjar vencé la censura. Lo tenían que prohibir entero o probarlo; lo autorizaron. En aquel momento estuve muy orgulloso. Pero me cansé de este juego. N o me interesaba. Quería ser libre en la creación literaria. (Mit Campos de Níjar gelang mir ein Sieg Uber die Zensur. Sie mußte das Buch entweder ganz verbieten oder autorisieren, und sie autorisierte es. Damals war ich sehr stolz darauf. Doch irgendwann war ich dieses Spiel müde. Es interessierte mich nicht mehr. Ich wollte in meinem literarischen Schaffen ganz frei sein.)
Schon diese wenigen Zitate zeigen, daß Neuschäfers gerade filr Literaturwissenschaftler suggestive These von der kreativitätsfördernden Wirkung der Zensur so undifferenziert offenbar nicht zutrifft. 116 Sie kann wohl nicht verallgemeinert werden, wie dies Neuschäfer mit seinem Verweis auf die von Freud herausgearbeiteten Mechanismen der Traumbildung nahelegt. Die - häufig intentiona) entwickelten literarischen Umgehungsstrategien und die vom Willen nicht beeinflußbare Traumbildung weisen offenbar auch gewichtige Unterschiede auf, die eine einfache Übertragung von Freuds Traummodell auf die Literatur erschweren. Neuschäfer offeriert zwar eine Fülle von überzeugenden Fallbeispielen, die seine These belegen, aber er setzt sich nicht mit den (vermutlich überwiegenden) Gegenbeispielen auseinander, bei denen Zensur die ästhetische Qualität mindert.
114
Interview vom 24. Februar 1994.
115
Interview vom 20. Januar 1995.
116
Neuschäfer 1991, S. 48.
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Neuschäfer entwirft seine These auch ohne Berücksichtigung der Schriftsteller selbst und gründet sie nur auf ihre Produkte, die Texte. Dabei verzichtet er auf die hierfür relevante Methode der Schriftsteller-Befragung zur Textgenese. Hier ließe sich Breuers Kritik von der mangelnden Interdisziplinarität der Zensurforschung vorbringen. Neuschäfers Vorgehen ist zwar literaturwissenschaftlich korrekt, aber zensurhistorische Anforderungen erfüllt es nur bedingt, denn es ist zweifelhaft, ob sich seine These lediglich durch Textanalysen belegen läßt. Neuschäfers These muß deshalb modifiziert werden: Wie sich die Zensur auf den Schreibprozeß auswirkt, scheint unabhängig von literaturwissenschaftlicher Theoriebildung in hohem Maße vom individuellen Schreibstil und der ästhetischen Auffassung des einzelnen Schriftstellers abzuhängen. Denn nicht alle Autoren vertreten ein ästhetisches Ideal, das sich an der Uneigentlichkeit von Sprache orientiert; auch ist Uneigentlichkeit an sich noch kein ausreichendes literarisches Qualitätsmerkmal. Das Kommunikationshemmnis der Zensur wirkt sich vor allem positiv auf jene Schriftsteller aus, die sowieso dazu neigen, indirekte Schreibverfahren als Teil ihrer individuellen Stilistik einzusetzen. In solchen Fällen können sich ästhetisch und politisch motivierte Verschlüsselungstaktiken decken. Man sollte aber auch die Aussagen von Schriftstellern ernst nehmen, die ihre Produktivität durch die Zensur stark beeinträchtigt sehen, weil sie sich keinen Normen von außen, sondern nur ihren eigenen Regeln beugen wollen. Goytisolos literarischer Aufstieg im Exil oder die Ausführungen von Ana Maria Matute sind dafür eindrucksvolle Belege.
2. Die strenge Hierarchie der Zensurbehörde Solange die Vorzensur existierte, also bis 1966, mußten die Verlage jedes Buch selbst unveränderte Neuauflagen bereits autorisierter Exemplare - den Zensoren vorlegen. Bücher-, Presse-, Theater- und Filmzensur unterstanden getrennten Behörden und arbeiteten teilweise nach eigenen Kriterien. Das galt zumindest für die Zeit nach 1943, denn in der Frühphase des Franquismus funktionierte diese Trennung noch nicht perfekt: Unter den Gutachten des Jahres 1943 finden sich auch einige zu Drehbüchern, Theaterstücken, Liedern oder Zeitschriften. 117 Religiöse Werke brachten oft schon das „Nihil obstat" der Kirchenzensur mit und passierten dann in der Regel auch die staatliche Zensur. Schriften mit einem Umfang von weniger als 32 Seiten wurden - von Ausnahmen abgesehen - direkt von den Zensurbehörden der Provinzen autorisiert. 118 Alle übrigen Bücher muß117
In einer Anordnung an den Leiter der Bücherzensur vom 22.6.1943 wird ausdrücklich klargestellt, daß sich die Bücherzensur von diesem Zeitpunkt ab nur noch um die Autorisierung von Büchern zu kümmern und Drehbücher, Theaterstücke, Plastiken etc. an die zuständigen Zensurstellen weiterzuleiten habe, AGA 1379, 1943.
118
Vgl. „Normas generales confeccionadas por la Delegación Provincial de Huesca para las Delegaciones Comarcales dependientes de la misma regulando sus actividades de propaganda", in: Abellán 1980, S. 264. Wenn diese Schriften ein Tabu-Thema betreffen, müssen sie direkt an die Zentrale in Madrid geschickt werden. Solche Tabus sind:
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ten die Verlage zwar bei den Provinzbehörden einreichen, aber diese schickten sie weiter zur zentralen BUcherzensur nach Madrid. Die Verleger durften ihre Korrespondenz offiziell nicht persönlich an die Beamten der Behörde richten, sondern mußten sich an den Leiter der Bücherzensur wenden, damit die Anonymität der einfachen Zensoren gewahrt blieb.119 Diese werden auch in den Zensurgutachten nicht namentlich genannt, sondern treten dort nur durch eine Nummer und ihre - oft unlesbare - Unterschrift in Erscheinung. Die Gutachten waren geheim; weder Verleger noch Autoren durften sie einsehen.120 Laut Vorschrift sollte ein Verlag innerhalb von sieben Tagen den Zensurbescheid und bei Autorisierung des Buches die Vertriebsgenehmigung bekommen121 - ohne diese Genehmigung durfte kein Buch verkauft werden. Wie man den Datumsangaben in den Dokumenten entnehmen kann, dauerten die Genehmigungen jedoch meist einige Wochen; bei problematischen Fällen konnte sich das Verfahren sogar monatelang, in Einzelfällen jahrelang hinziehen wie bei Juan Marsös preisgekröntem Roman Si te dicen que cai. Denn bei konfliktiven Büchern wurden mehrere Zensoren mit Gutachten beauftragt. In Zweifelsfällen wurde ein Buch vom Direktor der Zensurbehörde, ganz selten sogar vom Informationsminister persönlich begutachtet. Die Behörde funktionierte streng hierarchisch. Der „Lektoratschef' verteilte die Bücher an den Stamm seiner „Lektoren" - so wurden euphemistisch die Zensoren der untersten Stufe genannt - und berücksichtigte dabei im Idealfall die ideologische und fachliche Ausrichtung seiner Mitarbeiter. Die „Lektoren" lasen jedes Werk als erste und gaben schriftlich ihr Urteil dazu ab. Um nicht wegen ideologischer Unzuverlässigkeit zur Rechnung gezogen zu werden, beanstandeten sie in der Regel weit mehr als letztendlich wirklich gestrichen wurde. Robles-Piquer weist darauf hin, daß die Zensoren unter seiner Amtszeit sehr viel strenger als notwendig arbeiteten, da viele von ihnen noch im Dienst von Fragas Vorgänger, dem strengen Informationsminister Arias-Salgado, gewesen waren und sich nicht an die neuen Kriterien gewöhnen konnten.122 Sanktionen - entweder die Verweigerung des Honorars für ein nicht genehmes Gutachten oder im schlimmsten Fall die Entlassung des „Lektors" - dürften daher nicht allzu oft vorgekommen sein. Auf der Basis dieser Gutachten überprüfte der religiöse Themen, militärische Fragen, die Geschichte „unserer ruhmreichen nationalen Bewegung", die Geschichte der Falange sowie die republikanischen Parteien vor dem Spanischen Bürgerkrieg. Zwar sind diese Regelungen von einer Provinzbehörde erarbeitet worden, aber man kann davon ausgehen, daß im autoritären Franco-Regime diese Fragen überall gleich gehandhabt wurden. 119
Ebenda, S. 267.
120
Interview mit Zensurchef Carlos Robles-Piquer vom 17. Mai 1994. Siehe Anhang.
121
„Normas ..." 1944, S. 266.
122
Interview vom 17. Mai 1994.
¡V. Praxis der franquistischen Bücherzensur
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Lektoratschef die kritischen Stellen und gab seinen Vorschlag Uber Autorisierung oder Verbot eines Werkes bzw. über die zu streichenden Passagen ab. Der Leiter der BUcherzensur oder dessen Stellvertreter hatten schließlich die Kompetenz, ein Buch zu autorisieren oder zu verbieten. In vielen Fällen wurde allerdings nicht das ganze Werk verboten, die Zensoren nahmen vielmehr Anstoß an konkreten Einzelpassagen, die gegen ein Tabu verstießen. Die vorzunehmenden Änderungen teilte die Behörde dem Verlag schriftlich zusammen mit der Aufforderung mit, die geänderten Druckfahnen erneut vorzulegen. Erst wenn der Verlag alle beanstandeten Stellen gestrichen oder zur Zufriedenheit der Zensoren abgewandelt hatte, bekam er die Vertriebsgenehmigung filr das Buch. Meistens strich der Verleger - oft in Absprache mit dem Autor - die problematischen Stellen. Bei Büchern, die ihm besonders am Herzen lagen, feilschte er allerdings mit dem zuständigen Zensor um eine akzeptable Lösung, wie die befragten Autoren und Verleger, aber auch Robles-Piquer berichteten. Diese Verhandlungen fanden normalerweise zwischen Verlag und Zensurbehörde statt, hin und wieder setzte sich auch der Autor selbst mit einem Zensor in Verbindung. Der Ex-Zensurchef Robles-Piquer lud nach eigener Aussage Autoren besonders schwieriger Zensurfälle gerne zum Mittagessen ein, um über konfliktträchtige Passagen in entspannter Atmosphäre zu sprechen. Manuel Vázquez Montalbán erzählt die Anekdote Uber die kuriosen Zensurverhandlungen zu seinem Gedichtband Movimiento sin éxito.'23 Anstoß erregte der Satz „Prinzessinnen, die weder häßlich, noch katholisch, noch sentimental sind" und auf die Königin Friederike bezogen war. Der Zensor strich die Stelle, da Friederike die Mutter einer zukünftigen Königin Spaniens sein könnte. Also schlug der Autor „Königin Juliane" vor. Der Zensor wies auch diesen Vorschlag zurück, denn ein Schwiegersohn der Königin könnte zukünftiger König Spaniens sein. Schließlich einigten sich Autor und Zensor auf „Grace von Monaco" mit dem Placet des Zensors: „Die ist weder Königin noch sonstwas".
3. Die Zensoren - Täter oder Komplizen? Obwohl die „Lektoren" keine Entscheidungsbefugnis hatten, hing das Urteil Uber ein Buch doch wesentlich von ihren Gutachten ab, denn die ranghöheren Zensoren verließen sich bei der Entscheidung auf die Vorarbeit ihrer Untergebenen, konnten sie doch unmöglich alle Bücher selber lesen. 124 Schon die Belastung der einfachen „Lektoren" erscheint enorm: Etwa 30 Mitarbeiter gehörten zum Stamm der Bücherzensur, wie man aus der Numerierung der „Lektoren" in den Gutachten ableiten kann. Einige arbeiteten als fest angestellte Beamte, andere wurden als freie Mitarbeiter pro Gutachten auf Honorarbasis bezahlt, wie man den Ge123 124
Interview vom I. März 1994.
Robles-Piquer verweist auf die Nachteile seiner übergrttndlich arbeitenden Zensoren: Alle von den „Lektoren" als problematisch empfundenen BQcher habe er selber gelesen, Interview vom 17. Mai 1994.
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haltslisten entnehmen kann. 125 Diese „Lektoren" sahen sich im Jahr 1943 mit Uber 8500 Publikationen (darunter allerdings Telefonbüchern, Gebetsbüchem, Rechentabellen, Fachbüchern und ähnlichem, was später nicht mehr zensiert werden mußte), im Jahr 1961 mit über 7200 Büchern und 1966 mit über 8800 Büchern konñ-ontiert. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß es sich bei einem Teil der Werke um Neuauflagen oder völlig unproblematische Titel handelte und außerdem zusätzlich exteme Hilfsgutachter bestellt wurden, ist aus diesem Zahlenverhältnis ersichtlich, daß die „Lektoren" sicher keine Zeit hatten, ein Werk gründlich zu lesen. In der Tat haben sowohl die befragten Autoren als auch die Verleger darauf hingewiesen, daß die Zensur sehr oberflächlich gearbeitet und vor allem auf bestimmte Schlüsselbegriffe reagiert habe. 126 Sobald ein Tabu verhüllt genug zum Ausdruck gebracht wurde, nahmen die Zensoren oft gar keinen Anstoß daran. Robles-Piquer bringt die Funktion von Tarnstrategien auf den Punkt: El modo de decir las cosas es a veces tan importante como lo que uno no diga. Si Ud. dice las cosas con habilidad es más fácil que no provoquen reacciones. (Die Art und Weise wie etwas gesagt wird ist manchmal so wichtig wie das, was nicht gesagt wird. Wenn Sie die Dinge geschickt formulieren, ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß sie keine Reaktionen provozieren.)
Es liegt nahe, daß die „Lektoren" beim Querlesen oder stichprobenartigen Lesen kritische Stellen einfach übersehen haben; die vermeintliche Willkür der Zensur läßt sich somit zum Teil einfach auf diese zwangsläufige Schludrigkeit zurückführen. Andererseits stellt sich auch die Frage, ob die „Lektoren" sehr motiviert waren. Sie hatten unter einer mäßigen Bezahlung und geringem Ansehen zu leiden, in der Anfangsphase auch unter schlechten Arbeitsbedingungen. So beklagten sie sich 1943 bei der Leitung der Propagandadelegation über fehlende Arbeitsmaterialien, verschlissene Möbel, einen nicht funktionierenden Aufzug und dazu die grobe Behandlung durch das Hilfspersonal und den Pförtner. 127 Wer aber waren die Zensoren? Welche Ausbildung und welche Ideologie prägten sie? Es ist nicht leicht, sich von diesen Personen ein Bild zu machen, denn die Personalakten der noch lebenden Zensoren dürfen im Archiv nicht eingesehen werden. Bei dem Lebenslauf des Zensors Guillermo González de Canales handelt es sich daher um einen nicht-repräsentativen Zufallsñind aus dem Archiv in Alcalá de Henares, der jedoch hochinteressant ist, weil es González ce Canales später gelang, in der Hierarchie aufzusteigen: Der 26jährige Tierarzt wurde 1943 125
Leg. 9003, 1942/43.
126
Ein Beleg für diese oberflächliche, stichprobenartige Lektüre ist, daß mai unter den Zensurexemplaren Bücher findet, in denen noch gar nicht alle Seiten aulgeschnitten sind, z. B. bei dem Roman Frou-Frou, exp. 2641, AGA 13.307, 1961.
127
AGA 1379, 1943. Die Arbeitssituation der Pressezensoren hat Justino Siiova dargestellt in: La censura deprensa durante elfranquismo. Madrid 1989.
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eingestellt ohne jegliche literarische Vorbildung. Er zeichnete sich allerdings als treuer Regimebefürworter aus, denn noch während des Bürgerkrieges war er in Madrid in die Falange eingetreten und hatte sich später als Freiwilliger für den Rußlandfeldzug der División Azul gemeldet. 128 Die Argumente der Gutachten lassen darauf schließen, daß in der Zensurbehörde Vertreter der verschiedenen Machtgruppen des Franquismus saßen: Geistliche Zensoren sollten idealerweise religiöse Werke beurteilen, Falangisten Bücher, in denen die Falange eine Rolle spielte, Angehörige des Militärs Werke, in denen es um militärische Belange ging. Doch aufgrund der unterschiedlichen ideologischen Zugehörigkeit der Zensoren lassen sich zum Teil auch widersprüchliche Gutachten zu ein und demselben Buch erklären. So interessierte sich ein geistlicher Zensor sicher weniger für Angriffe auf die Falange, während ein falangistischer Zensor nicht so streng über obszöne oder unmoralische Passagen wachte. Die fachliche Spezialisierung scheint in der Praxis jedoch eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, wie die Auswertung der Zensurgutachten ergeben hat, und es ist fraglich, inwieweit die Zensoren literarisch kompetent waren. Gewiß wurden in manchen Fällen „Spezialisten" - häufig Geistliche fllr theologische Fragen - um ein Zusatzurteil gebeten. Andererseits gab es auch „Lektoren", die über Bücher des „niederen Genres" der Trivialliteratur nicht hinauskamen, denn einige Namen sind nur auf den Gutachten zu anspruchsloser Literatur zu finden. In der Regel mußten die „Lektoren" aber alles lesen: Sachbücher, Prosa, Lyrik. Nicht immer begriffen sie, was sie da lasen, wie folgender Stoßseufzer aus einem Gutachten zeigt: „Für mich ein absolut unverständliches technisches Buch". 129 Abellán weist darauf hin, daß viele Zensoren der Frühphase geisteswissenschaftlich gebildete, bekannte Falangisten - Professoren, Schriftsteller, Kritiker - mit literarischem Anspruch gewesen seien; er spricht daher von der „glorreichen Epoche" der Zensur. 130 Es ist allerdings anzunehmen, daß diese kompetenten Zensoren eher weiter oben in der Hierarchie angesiedelt waren, denn die normalen „Lektoren"-Gutachten sind selten mit besonderer Brillanz und bisweilen mit ortographischen Fehlern geschrieben. Ab 1962, der Fraga-Ära, die Abellán die „triviale Epoche" nennt, filllten nach seiner Einschätzung vor allem reine Bürokraten dieses Amt aus. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht ein internes Dossier über die Theater- und Kinozensur aus der Fraga-Zeit, welches sogar die Lebensläufe sämtlicher Zensoren in diesen beiden Behörden beinhaltet. 131 Die Informationsschrift über Funktionsweise und Zusammensetzung der Behörde geht zwar nicht speziell auf die Bücherzensur ein, läßt aber Analogien zu: Ein Großteil der
128
Lebenslauf von Guillermo González de Canales y López Terrer, 5.1.1943, AGA 1379.
129
Exp. 7985, AGA 7303, 1943.
130
Abellán 1980, S. 110, Fußnote.
131
Ministerio de Información y Turismo, Dirección General de Cinematografía y Teatro: Informe sobre la censura cinematográfica y teatral. Madrid, o. J. (ca. 1963).
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Theater- und Kinozensoren ist um die 50 Jahre alt. Einige haben ihre Laufbahn als Beamte im Informationsministerium begonnen, nur der kleinere Teil ist wirklich spezialisiert auf Theater oder Kino - als Journalist, Autor, Filmemacher, Theaterregisseur oder Lehrer an der staatlichen Filmschule. Es ließen sich also entgegen Abelláns Behauptung durchaus noch unter Fraga Intellektuelle in den Dienst des Regimes stellen, wenngleich sie nicht zur ersten Riege gehörten. Obwohl die Bedeutung der Ideologie in den 60er Jahren nachgelassen hatte, zeigt das Dossier, daß auch noch unter Fraga sämtliche Machtgruppen vertreten waren: eine große Gruppe von geistlichen Zensoren, einige Angehörige des Militärs sowie Falangisten. Die Lebensläufe der Zensoren verdeutlichen, daß trotz der politischen Richtungswechsel des Regimes in der Zensurbehörde Kontinuität herrschte: Einige arbeiteten dort bereits seit den 40er Jahren. Laut Torrente Ballester, der vor allem Kontakt zu Zensoren der Frühphase hatte, akzeptierten viele diesen Posten aus rein pragmatischen Gründen, um sich damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 132 Diese Aussage mag durch die Sympathiegefühle eines Mannes, der unter den frühen Zensoren Freunde hatte, parteiisch gefärbt sein. Und sicher gab es unter ihnen auch fanatische Eiferer wie Gabriel Arias-Salgado, die mit der Überzeugung, Seelen zu retten, zensierten. In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El País sagte etwa der Filmzensor Alberto de la Escalera, er und seine Kollegen hätten ihr Amt durchaus emstgenommen und es als gewisses Privileg und als Pflicht zur Verteidigung der Gesellschaft empfanden. 1 3 3 Doch in der täglichen Arbeit gingen solche idealistischen Ziele oft unter, denn die meisten Gutachten wirken leidenschaftslos, ohne Achtsamkeit und Anspruch schnell hingeschrieben. Der Prototyp des einfachen Zensors schien der biedere Beamte zu sein, der nicht mehr als sein Amt ausfüllte, ohne eine ideologische Mission zu vertreten. Wenn die Zensoren also kritische Stellen nicht zensierten, dann nicht unbedingt aus Dummheit. Die befragten Verleger und Autoren bestätigen, daß viele Zensoren ihre Arbeit als lästige Pflicht betrachteten und einige sogar eine gewisse Komplizenschaft eingegangen seien. Gestrichen werden mußte, was zu auffällig gegen das Regime verstieß. Laut Manuel Vázquez Montalbán wurde einer seiner Zensoren wütend, weil ihn der Autor durch zu offensichtliche Regimekritik dazu zwang, als Zensor zu handeln: „Hätten Sie das nicht indirekter sagen können?", fuhr ihn der lustlose Zensor an. 134
132
Interview vom 5. Februar 1994 in Salamanca. Siehe Anhang.
133
Soledad Alameda: „Nosotros, los censores", in: El País, 13.3.1977, S. 1 lf.
134
Interview mit Vázquez Montalbán vom 1. März 1994.
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4. Textexterne EinfluBfaktoren der Bucherzensur Die Verlage führten in ihrer Korrespondenz mit der Zensurbehörde immer wieder bestimmte Faktoren ins Feld, um das Urteil der Zensur über ein Buch zu mildern - in einigen Fällen durchaus mit Erfolg. Einige Werke wurden trotz ihres problematischen Inhalts gerettet, weil sie als „Klassiker" eingestuft wurden. So ließen die Zensoren etwa eine homoerotische Szene im antiken Ganymed unversehrt, weil die griechische Sage „allgemein bekannt" sei. Sie autorisierten Machiavellis Principe, obwohl der Autor nach Ansicht des Zensors die spanischen Politiker der Renaissance nicht positiv genug darstellte.135 Auch zeitgenössische Autoren hatten es leichter, die Zensur zu passieren, wenn sie schon den Rang des „Klassikers" erreicht hatten. So führten die Zensoren etwa zur Verteidigung von Delibes seinen „klassischen Stil" an und sahen großzügig Uber einige kritische Stellen hinweg, die sie bei einem unbekannten Autor sicher gestrichen hätten.136 Preise und Auszeichnungen, Erfolge im Ausland, Übersetzung in verschiedene Sprachen machten die Verleger ebenfalls geltend, um kritische Werke durch die Zensur zu schleusen. Der Verlag Seix Barrai versuchte, die zahlreichen Textverstümmelungen durch die Zensur in den Erzählungen des Exilautors Francisco de Ayala mit dem Argument abzuwenden, der Autor werde als beispielhafter spanischer Autor in zahlreichen amerikanischen und europäischen Universitäten gelesen.137 Die Gutachten zu den beiden Büchern Tormenta de verano von Juan Garcia Hortelano und Si te dicen que cai von Juan Marsö füllen dicke Mappen; denn beide Werke verstießen zwar gegen franquistische Tabus, aber sie hatten andererseits wichtige Trümpfe vorzuweisen: internationale Preise, Übersetzungen im Ausland und einen gewissen Bekanntheitsgrad. Ein Verbot dieser Romane hätte im Ausland Aufsehen erregt. Die Autorisierung hingegen ließ sich im eigenen Land nur schwer rechtfertigen - die Zensoren gerieten in die Zwickmühle (vgl. VI.3. und VII.3.) Auch Prestige und Status eines Verlages oder Autors beeinflußten die Entscheidung: So wurden Verlage mit kritischem Programm in der Regel strenger zensiert
135
Exp. 6121, AGA 13.582, 1961; exp. 7227, AGA 7282, 1943.
136
Exp. 3566, AGA 13.386, 1961, Las ratas. In der Begründung des Zensors heißt es: „Novela sobre el campo, y los pueblos de Castilla, esbozada con el ingenio y la clásica estilística de este autor. No faltan algunas frases humorísticas sobre el supuesto gobernador de la provincia, pero adobado todo con la exigente ... (im Original unlesbar)." („Roman über das Leben auf dem Land und in den Dörfern Kastiliens, mit der klassischen Stilistik und dem Genie dieses Autors. Es kommen zwar einige humoristische Sätze über den vorgeblichen Provinzgouverneur vor, aber alles mit der erforderlichen ... [im Original unlesbar] abgeschwächt.")
137
Exp. 4722, leg. 464, 1972.
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als regimekonforme Verlage;138 angesehene große Verlagshäuser respektierten die Zensoren eher als kleine unbekannte. Im Fall von Delibes gilt: Als Schriftsteller hatte er sich ein gewisses Renommee verschafft, zudem schien sein Verlag Destino durch anspruchsvolle Bücher und eine von den Falangisten gegründete Literaturzeitschrift einen guten Ruf zu genießen.139 Im umgekehrten Fall wurde im Jahr 1966 die Voltaire-Biographie eines deutschen Autors besonders hart zensiert (und schließlich verboten), da bereits ein früheres seiner Bücher auf dem Index der katholischen Kirche stand.140 Das Mißtrauen der Zensoren wurde sicher noch geschürt, weil die Biographie bei dem oppositionellen Verlag Grijalbo erscheinen sollte. Manche Werke wurden durch bedeutende und vom Regime geachtete Fürsprecher gerettet. So hatte es zum Beispiel der katholisch-katalanische Verlag Abadia de Moniserrat leichter, nichtkonforme theologische Bücher und vor allem eine oppositionelle Zeitschrift auf katalanisch zu veröffentlichen, da das berühmte Kloster hinter dieser Verlagspolitik stand. Die Zensoren wurden zur Nachsicht gezwungen, wenn sie sich nicht mit dem Abt von Montserrat persönlich anlegen wollten.141 Anfang der 40er Jahre beriefen sich einige Autoren auf den Rückhalt des deutschen Botschafters in Spanien, um Bücher mit nationalsozialistischer Tendenz, die den franquistischen Zensoren nicht paßten, veröffentlichen zu können.142 Zu den „inoffiziellen" Möglichkeiten gehörte das graue Feld der „enchufes" oder „Beziehungen", die gerade in Spanien - einem Land, in dem viel über persönliche Kontakte funktioniert - ein paralleles System zu den offiziellen Normen bildeten. Trotz der offiziellen Anonymität der Zensoren sorgten in der Praxis viele Verlage und Schriftsteller dafür, daß ihre Bücher von Kontaktleuten gelesen wurden, die ihnen wohlgesonnen waren, wie die Aussagen der befragten Schriftsteller und Verleger zeigen. Das Verlagshaus Destino pflegte gute Beziehungen zum Leiter der Zensurbehörde in Madrid, der die Bücher an die einzelnen „Lektoren" weiterverteilte. Dadurch erlangte der Verlag Einfluß darauf, in wessen Hände das zu zensierende Buch geriet und konnte besonders harte Zensoren umgehen. Torrente Ballester gelang es meist, über Bekannte oder Verwandte mit den Zensoren Kontakt aufzunehmen: So schaffte er es durch einen Brief an Infornutionsminister Fraga, einen ehemaligen Schüler, den vielfach zensierten Roman Don Juan doch zu veröffentlichen. Selbstverständlich war es für bekannte Autoren eher 138
Vgl. die Liste der verbotenen Bücher in: Cisquella et alii 1977, S. 146-172 Besonders hart betroffen von der Zensur waren kleine linke Verlage, z. B. Ediciones 62, Editorial ZYX-Zero oder Nova Terra.
139
Interview mit Verleger Andreu Teixidor vom Verlag Destino vom 27. Januir 1994.
140
Exp. 7975, AGA 17.734, 1966.
141
Interview mit Verleger Jordi Übeda von Abadia de Montserrat vom 28. Februar 1994.
142
Zum Beispiel Carmen Velacoracho: Un Caudillo, exp. 7520, AGA 7290, 1)43.
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möglich, solche Kontakte zu knüpfen, als für Autoren ohne Ruhm und Namen. 1 4 3 Laut Mario de la Cruz, der während des Franquismus als Lektor bei Plaza y Janés in Barcelona arbeitete, bemühte sich sein Verlag um möglichst „diplomatische" Beziehungen zu den Zensoren, um sie statt durch Konfrontation lieber durch Verhandlungen zu möglichst vielen Rückziehern zu bewegen. 144 Manche Autoren entwickelten für diese Verhandlungen gezielte Strategien. So fügte Torrente häufig mit Absicht auffällig inakzeptable Passagen ein, die für das Werk von geringer Bedeutung waren, um die Zensoren dadurch von den wahrhaft kritischen Stellen abzulenken. 145 Schließlich hing die Zensurentscheidung von der Zielgruppe ab, an die sich ein Buch richtete. Werke, die für ein breites, ungebildetes Publikum bestimmt waren, wurden normalerweise strenger zensiert, während Bücher für eine intellektuelle Elite mehr Toleranz genossen. Es gab Bücher, die ausdrücklich nur für einen eingeschränkten Nutzerkreis zugelassen waren. So trägt noch 1977 die spanische Übersetzung El lamento de Portnoy von Philip Roth den Stempel: „Lektüre nur für gebildete Personen, Verkauf an Minderjährige verboten". 146 Verboten wurde 1966 ein Roman trotz seines moralischen Endes, in dem katholische Priester im Bürgerkrieg negativ dargestellt wurden, denn „ungebildete Leser gehen das Risiko ein, nur den kritischen und negativen Teil des Buches zu behalten", heißt es im Gutachten. 147 Teure Ausgaben reduzierten den Leserkreis, so daß eine Veröffentlichung in einigen Fällen trotz der Bedenken der Zensoren geduldet wurde, wie zum Beispiel bei dem moralisch anstößigen Roman Bei Ami von Guy de Maupassant. Erst nachdem der Verlag eine exquisite Lederausgabe vorschlug, kam das Buch durch die Zensur, wenngleich mit zahlreichen Streichungen. 148 Seit 1966 setzte auch die neue Gesetzgebung der Entscheidungsfreiheit der Zensoren gewisse Grenzen: Die „Lektoren" verwiesen in den Gutachten von 1966 immer wieder auf das neue Gesetz, um ihre Urteile zu begründen. Überhaupt arbeitete die Zensur nicht immer gleich streng. Auch innerhalb eines politisch relativ homogenen Zeitraums zog die Behörde immer wieder die Schraube an und lockerte sie wieder. Diese Schwankungen hingen von tagespolitischen Ereignissen oder von Protesten wichtiger Regimevertreter gegen die Zensurentschei-
14:5
Robles-Piquer meint allerdings, daß der Zugang zu ihm über die Verlage relativ einfach gewesen sei. Interview vom 17. Januar 1994.
144
Interview vom I. März 1994.
145
Interview mit Torrente Ballester vom 8. Februar 1994.
146
Exp. 13076, AGA 457, 1977, Orig.: „Lectura para personas de amplio criterio, prohibida su venta a menores de edad."
147
Exp. 5303, AGA 17.514, 1966, Orig.: „La doctrina se salva a fuerza de tesón, pero los lectores no formados corren el riesgo de quedarse con la parte crítica y negativa solamente."
148
Exp. 2342, AGA 13.286, 1961.
Gabriele Knetsch düngen ab. Die Verleger kalkulierten nach Aussage von Mario de la Cruz und José Carrasco diese Schwankungen mit ein - sie sprachen sich schnell herum und warteten mit der Einreichung von kritischen Werken einfach solange, bis sich der zensorische Eifer wieder gelegt hatte. 149
149
Interviews mit Mario de la Cruz, Verlag Plaza y Janes, vom 1. März 1994, und José Carrasco, Distribuidora Edhasa, vom 24. März 1994.
V. Zensur der Frühphase (1939-1951)
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V. ZENSUR DER FRÜHPHASE - LIEBÄUGELN MIT DEM FASCHISMUS UND ABKEHR VOM FASCHISMUS (1939-1951) Die folgenden drei Kapitel sind als Detailanalysen der franquistischen Bücherzensur konzipiert. Sie lassen sich drei Phasen des Franquismus zuordnen: der quasi-faschistischen Frühphase (1939-1951), der Zeit der Konsolidierung des Regimes (1951-1966) und der konfliktiven Spätphase (1966-1975).
1. Die Bucherzensur von 1939-1951 Die Bücherzensur unter Franco wird in den folgenden Analysen interdisziplinär aus kommunikationswissenschaftlicher und literarischer Sicht untersucht. Dabei beschäftigt sich Teil 1 des Kapitels mit der Institution der Bücherzensur, während in Teil 2 die Auswirkungen der frühen Zensur auf Literatur am Beispiel von Gonzalo Torrente Ballesters Javier Marino (1943) aufgezeigt werden. Ein kurzer Ausblick thematisiert die Reaktion der Zensur auf andere Romane der Epoche. Die Untersuchung der Institution umfaßt folgende Analysepunkte: einen kurzen historischen Überblick, die Darstellung der Kommunikationspolitik der Frühphase, das Literaturangebot der Zeit und die Auswertung der Zensurkriterien filr 1943, das Erscheinungsjahr von Javier Mariüo.
1.1. Soziopolitischer Überblick Die quasi-faschistische Phase Die Franco-Diktatur war in der Frühphase durch faschistische Merkmale geprägt, denn sie stand den Achsenmächten Deutschland und Italien nahe. Aber auch der Einfluß der faschistischen Falange auf Ideologie und Aufbau der staatlichen Institutionen machte sich bemerkbar. Dennoch wird kontrovers diskutiert, ob der Franquismus den faschistischen Systemen zuzuordnen sei, 150 denn ganz offensichtlich entfernte sich das langlebige Franco-Regime mit der Zeit erheblich von seiner ursprünglichen Ausrichtung. Zudem war der Faschismus in der Frühphase des Franquismus zwar eine dominante, aber nicht die einzige Ideologie, da sich das Regime von Anfang an auf unterschiedliche, teilweise konkurrierende reak-
150 Paul Preston verteidigt die These, der Franquismus weise im Vergleich mit Deutschland und Italien zwar nationalspezifische Unterschiede auf, sei aber aufgrund ähnlicher Strukturen als faschistisches System einzustufen, in: Las derechas españolas en el siglo XX: autoritarismo, fascismo y golpismo. Madrid 1986, S. 17-41. Tusell (1989: 30-45) weist dagegen daraufhin, daß es innerhalb des Franquismus einen beschränkten Pluralismus gegeben habe, wo das faschistische Element der Falange nur eines unter rivalisierenden anderen gewesen sei, das sich in Spanien zudem nie wirklich durchsetzen hätte können.
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tionäre Gruppierungen stützte. Daher wird der Franquismus häufig als „autoritäres Regime" eingestuft. 151 Zunächst sollen totalitäre Elemente der FrUhphase diskutiert werden, die in dieser Arbeit aufgrund der genannten Einschränkungen als quasi-faschistisch bezeichnet wird. Totalitäre Elemente brachte vor allem die im Oktober 1933 von José Antonio Primo de Rivera, Alfonso García Valdecasas und Julio Ruiz de Alda gegründete Falange Española in den „Neuen Staat" ein. 1934 verschmolz die Falange mit den Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista zu FE y de las JONS. Seit dem Spanischen Bürgerkrieg nahm ihr Einfluß stetig zu, sie gewann immer mehr Mitglieder und wurde zu einem entscheidenden Machtfaktor im Krieg und in der Nachkriegszeit. Allerdings bildete sich in den Reihen der Falange auch eine Art Opposition gegenüber Franco. In der Zeit des Zweiten Weltkrieges kritisierten die alten Kämpfer einer ursprünglich sozialrevolutionär-faschistischen Bewegung innenpolitisch den reaktionären Kurs des Regimes und außenpolitisch den „neutralen" Kurs, sprich: den Nichteintritt in den Krieg auf seiten Hitlers. Die Falange lieferte dem neuen Regime einen Mythos und eine Ideologie, die sich am italienischen Faschismus, (weniger) am Nationalsozialismus, aber auch an den Idealen der spanischen 98er Generation und an Ortega y Gasset orientierte. 152 So baute die Falange den von Franco wenig überzeugend gestalteten Führerkult auf (zum Beispiel mit dem Heilsruf „Franco, Franco, Franco"). Sie gründete und überwachte vertikale Gewerkschaften mit Zwangsmitgliedschaft filr Arbeiter und Arbeitgeber; an die Stelle des Klassenkampfes setzte sie den Korporativismus, ein staatlich verordnetes „harmonisches Verhältnis" zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Einen guten Eindruck von der Ideologie der Falange vermittelt das von Primo de Rivera gegründete Parteiorgan FE. FE preist eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik als goldenen Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus: 153 Nosotros queremos un Estado que presida y ordene la iniciativa privada que armonice los intereses muchas veces opuestos de una economía, con la brújula puesta en el bien de España. (Wir wollen einen Staat, der die Privatinitiative leitet und ordnet, der die in der Wirtschaft oft entgegengesetzten Interessen harmonisiert und den Kompaß auf das Wohl Spaniens richtet.)
Dieses Prinzip wurde im Fuero del Trabajo („Arbeitsgesetz") von 1938 umgesetzt, der Grundlage der franquistischen Arbeitsgesetzgebung. Das Gesetz schrieb Mindestlöhne, die obligatorische Sozialversicherung, die Organisation von Unternehmen und Gewerkschaften unter dem Blickwinkel „Sicherheit und
151
Linz, Juan J.: „Una teoría del régimen autoritario. El caso de España", in: Stanley G. Payne (Hg.): Política y sociedad en la España del siglo XX. Madrid 1978, S. 267-319.
152
José Carlos Mainer: Falange y Literatura.
153
„Ni capitalismo, ni marxismo", in: FE 18.1.34, S. 9.
Barcelona 1971, S. 37.
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Stabilität statt Freiheit" vor. 154 Die Falange schuf die theoretische Basis für die wirtschaftliche Autarkie des frühen Franquismus, eine Idee, die Franco nicht bloß aus ideologischen Gründen, sondern auch aus materieller Not wegen des Wirtschaftsboykotts der Alliierten übernahm. Im Namen der Falange fand 1937, also noch im Bürgerkrieg, die Gründung der Einheitspartei FETy de las JONS statt, in der alle Gruppierungen des franquistischen Lagers zum sogenannten Movimiento zusammengeschlossen wurden. Diese neue Einheitspartei entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Instrument, um den Einfluß der Falange durch ein Machtgleichgewicht mit den anderen Gruppierungen einzudämmen. Aus ihr wurde bald ein bürokratischer Moloch mit eigenem Ministerium, der mit den ideologischen Utopien der frühen Falange wenig gemeinsam hatte. Doch bis Ende des Zweiten Weltkrieges versuchten die Falangisten nach Mussolinis und Hitlers Vorbild, ihre Ideologie durch eine totalitär konzipierte und von ihren Mitgliedern besetzte Pressekontrolle zu monopolisieren: tägliche Presseanweisungen mit zwangsweise zu veröffentlichenden Artikeln, die obligatorische Einschreibung der ideologisch gesäuberten Journalisten in ein Register und die Zensur aller Veröffentlichungen lassen faschistische Vorbilder klar erkennen. Die Konzeption einer staatlich gelenkten Presse wurde im Pressegesetz von 1938 zementiert. 135 Auch die gesetzlich fundierten, harten Repressionen gegen politische Feinde legen einen Vergleich mit totalitären Systemen nahe: 270.000 politische Gefangene saßen 1939 im Gefängnis, im Jahr 1945 waren es noch immer 43.000. Zwischen 1939 und 1945 wurden - j e nach Quelle - zwischen 28.000 und 200.000 Menschen exekutiert. 156 Als „Rote", Freimaurer (Francos persönliche Obsession) oder Anhänger der Zweiten Republik hatten sie gegen die Ley de responsabilidades políticas („Gesetz der politischen Verantwortung") oder die Ley de represión contra la masonería y el comunismo („Gesetz zur Unterdrückung der Freimaurerei und des Kommunismus") verstoßen. Das „Gesetz der politischen Verantwortung" diente als Rechtfertigung für die brutale Repression und beabsichtigte: 157 ... liquidar las culpas de este orden contraídas por quienes contribuyeron con actos u omisiones graves a forjar la subversión roja, a mantenerla viva durante más de dos años y a entorpecer el triunfo, providencial e históricamente ineludible, del Movimiento Nacional ...
154
Vgl. Ramón Tamames: La República. La Era de Franco. Madrid 1973, S. 475.
155
Vgl. Boletín Oficial del Estado, 23.4.1938, S. 6915-17.
156
Vgl. Shirley Mangini: Rojos y rebeldes. La cultura de la disidencia durante el franquismo. Barcelona 1987, S. 26; Tusell 1989, S. 40, und Juan Pablo Fusi: Franco. Spanien unter der Diktatur 1936-1975. München 1992, S. 74. (Span. Orig.: Franco. Autoritarismo y poder personal. Madrid 1985).
157
Boletín Oficial del Estado, 13.2.1939, S. 824.
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Gabriele Knetsch (... die Schuld all derer zu tilgen, die durch Taten oder gravierende Unterlassungen dazu beitrugen, die rote Subversion zu schmieden, sie über mehr als zwei Jahre aufrechtzuerhalten und den historisch unvermeidbaren Triumph der Nationalen Bewegung zu torpedieren ...)
Auch in den „schuldtilgenden" Tribunalen war die Präsenz von Falangisten vorgeschrieben. Trotzdem konnte sich die Falange im „Neuen Staat" nicht völlig mit ihren Zielen durchsetzen, denn die anderen Machtgruppierungen teilten ihre Ideale keineswegs. Den revolutionären und sozialkritischen Gehalt (etwa die Verstaatlichung der Banken) lehnte Franco von Anfang an ab, schon aus Rücksichtnahme auf die einflußreichen und wohlhabenden konservativen Kreise und die Kirche. Mit dem Militär geriet die Falange wegen ihres deutschlandfreundlichen Engagements im Zweiten Weltkrieg ebenfalls in Konflikt. 158 Die neue Einheitspartei war also keineswegs ideologisch einheitlich, sondern unterlag heftigen internen Kämpfen zwischen Falangisten, Kirchenanhängem, Angehörigen des Militärs, Monarchisten und Karlisten, so daß sich ein Machtgefiige mit wechselnden Konstellationen herausbildete, das Franco meisterhaft zur Stabilisierung seiner eigenen Position ausnützte. 159 Franco selbst, ein Vertreter der Armee, bediente sich eklektisch bei allen politischen Ideen der oben genannten Gruppierungen. Ihr gemeinsamer Nenner war die Ablehnung der liberalen Politik der Zweiten Republik zugunsten einer konservativen, antidemokratischen Denkweise. Im Grunde korrespondierten die rückwärtsgewandten Werte der Kirche wesentlich besser mit der franquistischen Machtelite als die totalitären, Sozialrevolutionären der Falange. 160 Auch die unpolitische Apathie des vom Bürgerkrieg erschöpften Volkes hatte wenig gemein mit den fanatisierten Massen im totalitaristischen Nationalsozialismus. Gegen eine totalitaristische Einordnung des Franquismus spricht auch die fehlende totalitäre Kontrolle im Privatbereich, will man diese Rolle nicht der Allgegenwart der mit dem Staat eng verzahnten Kirche zuweisen (manche Historiker sprechen von „Klerikalfaschismus"). 161 Denn die Kirche nahm nicht nur Einfluß auf die Gesetzgebung (z. B. Verbot der Zivilehe und der Scheidung). 162 Sie dominierte auch in Bildung und Erziehung: die Lehrpläne an Schulen und Univer-
158
Tusell 1989, S. 66.
159
Sheelag M. Ellwood schreibt, daß es in den 40er Jahren von Teilen der Falange, des Militärs und der Monarchisten verschiedene Komplotts und Versuche, Franco zu beseitigen und ein neues System zu installieren gegeben habe, in: „Falange y Franquismo", in: Josep Fontana (Hg.): España bajo el franquismo. Barcelona 1986, S. 46-50.
160
Die ideologischen Grundsätze der Falange sind nachzulesen in „Puntos iniciales de F.E.", in: F£7.12.1934, S. 6f.
161
Vgl. Walther L. Bemecker: Spaniens Geschichte seil dem Bürgerkrieg. 2. Aufl. München 1988, S. 72.
162
Ebenda, S. 70.
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sitäten orientierten sich an der katholischen Lehre. Erst 1970 wurde diese Ausbildung durch ein neues Bildungsgesetz reformiert. Die Priester der 40er Jahre hatten außerdem ein gewichtiges Wort in allen Belangen der Alltagsmoral mitzusprechen. So legte etwa eine Verordnung des Erzbischofs von Toledo, Enrique Pia i Deniel, genau die Länge von Frauenröcken und -ärmeln fest. 163 Die Folgen der ineffektiven staatlichen Autarkiepolitik im Sinne einer importsubstituierenden Wirtschaft waren für die Spanier bis Mitte der 50er Jahre spürbar: die Kaufkraft der Arbeitereinkommen lag unter dem Niveau von 1935. „Hunger" war das Hauptthema des kleinen Mannes, das in der sozialen Literatur der 50er Jahre immer wieder behandelt wurde. 164 Schwarzmarkt und Rationierungsmarken (bis 1951), Korruption, Mehrfachbeschäftigung wegen der geringen Mindestlöhne, Slums an den Stadträndern, fehlende Rohstoffe und Devisen, Stagnation in Forschung und Entwicklung kennzeichneten den Alltag des unterentwickelten Spanien der 40er Jahre. Eine drastische Beschreibung dieses Elends liefert ein nur für die staatlichen Institutionen bestimmtes Dokument von 1944: 165 ... y entre las minas las gentes se amontonan aprovechando ansiosamente una sola habitación para albergarse cuatro o cinco familias, buscando refugio en sótanos o cuevas de tierra y durmiendo en repugnante mezcolanza de sexos y edades. La miseria es tan enorme que difícilmente se puede explicar. Sin muebles, sin vestidos, sin casi comida: asi viven muchos miles de almas en las afueras de Madrid, dedicados a la busca, a la ratería y a la mendicidad, depauperados y recelosos. (... und zwischen den Ruinen drängen sich die Menschen, die begierig ein einziges Zimmer mit vier oder fünf Familien teilen, die Schutz in Kellern oder Erdhöhlen suchen und in einer widerwärtigen Mischung der Geschlechter und der Altersgruppen zusammen schlafen. Das Elend ist so groß, daß man es nur mit Mühe erklären kann. Ohne Möbel, ohne Kleider, fast ohne Essen: so leben viele Tausende von Seelen in den Außengebieten von Madrid und widmen sich dem Durchsuchen von Müll, dem Diebstahl und der Bettelei, arm und argwöhnisch.)
Bis Anfang der 50er Jahre mußte das Land im Gegensatz zu Deutschland wegen seiner nazifreundlichen Vergangenheit und seiner bruchlos weitergeführten Diktatur ohne ausländische Finanzhilfe auskommen. Dabei hatte sich Franco nie hundertprozentig für Hitler entschieden, verfolgte vielmehr eine pragmatische Schaukelpolitik, die sich an der Entwicklung des Zweiten Weltkrieges orientierte: wohlwollende Neutralität zu Beginn des Zweiten Weltkrieges bei ideologischer Sympathie für den Antikommunismus und das perfekt durchgeführte Autoritätsprinzip in Deutschland, offene Unterstützung der Achsenmächte („Nicht-
163
Vgl. L. Alonso Tejada: La represión
sexual en la España de Franco. Barcelona 1977.
164
Silencio
165
amoro-
Vgl. Bemecker 1988, S. 92 und S. 125. Daß das Thema auch in Tiempo de eine wichtige Rolle spielt, wird in der Analyse gezeigt.
„La moralidad publica y su evolución", zitiert in: Carmen Martín Gaite: Usos sos de la postguerra española. Madrid 1987, S. 93.
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kriegsfilhrung") ab 1940 - kurz vor der französischen Kapitulation - und Rückkehr zur Neutralität auf Druck der überlegenen Alliierten ab Oktober 1943. 166 Langsame Entfaschisierung Der Sieg der Alliierten im Jahr 1945 hatte für Spanien gravierende Folgen: Das Land wurde nicht in die UNO aufgenommen und vom Ausland isoliert. 167 Nach dem Ende des Faschismus nahm Franco einige kosmetische Veränderungen vor, die zwar dem Bürger nicht mehr Freiheiten, dafür aber dem Regime durch eine erste Institutionalisierung die nötige Stabilität zum Überleben verliehen. Franco sorgte für ein neues „Image", das er dem Ausland mit dem Begriff der „organischen Demokratie" verkaufte: Er drängte faschistische Symbole der Falange zurück, entließ politische Häftlinge und erließ 1945 den Fuero de los Españoles („Grundgesetz der Spanier"), in dem das Land als „katholischer und sozialer Rechtsstaat" deklariert wurde. 168 Die faschistische Rhetorik wurde durch die „nationalkatholizistische" in den Hintergrund gerückt. „Nationalkatholizismus" bezeichnet die Verbindung zwischen der „Essenz Spaniens", der imperialen Geschichte und dem Katholizismus (Vorbild waren die Katholischen Könige als Verteidiger der Religion). 169 Erzkonservative Vertreter des Katholizismus gewannen an Einfluß. Ihr überzeugter Vertreter Gabriel Arias-Salgado sorgte ab 1951 als neuer Informationsminister dafür, daß sich ihre Kriterien auch in der Zensur durchsetzten. Durch das enge Verhältnis des Franquismus zum Vatikan gelang es schnell, ehemals faschistische Züge durch einen religiös motivierten Antikommunismus zu substituieren. Die spanische Kirche hatte bereits im Bürgerkrieg eine wichtige Rolle gespielt, denn sie legitimierte den Militäraufstand als Cruzada („Kreuzzug") gegen die antiklerikale Zweite Republik: „Spanien hat in diesem alten Europa ein vorherbestimmtes Schicksal ..., die christliche Zivilisation vor dem antisozialen und zerstörerischen Werk des Marxismus zu retten". 170 Im Gegenzug erhielt die Kirche wichtige Privilegien, die von der Fest-
166
Die Gründe fllr den abrupten Kurswechsel des Regimes analysiert Fusi (1992: 76-81). Er sieht den entscheidenden Faktor in der internationalen Seeblockade Großbritanniens gegen Spanien und den damit eingestellten Erdöl- und Nahrungsmittellieferungen.
167
Nur Argentinien, der Vatikan und das vom Diktator Salazar beherrschte Portugal unterhielten weiterhin Beziehungen zu Franco.
168
Zum Inhalt des Fuero de los Españoles vgl. Tamames (1973: 481).
169
Rafael Valls analysiert die Ideologie des Franquismus anhand der Lehrwerke der Frühphase, in: „Ideología franquista y enseñanza de la historia en España, 1938-1953", in: Josep Fontana (Hg.): España bajo el franquismo. Barcelona 1986, S. 233.
170
Aus dem Hirtenbrief Kardinal Gomás, El sentido cristiano español de la guerra („Der christlich-spanische Sinn des Krieges") vom 1.7.1937, zitiert in: Manuel Tuñón de Lara: „Kultur und Kulturen, Ideologien und geistige Einstellungen", in: ders. (Hg.): Der Spanische Bürgerkrieg - eine Bestandsaufnahme. Frankfurt 1987, S. 427f. Tuflón de Lara bietet in diesem Aufsatz eine sehr gute Darstellung der Ideologien im rechten und
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Schreibung des Katholizismus als Staatsreligion über den Einfluß auf die Zensur bis zu staatlichen Subventionen reichten. Opposition Die langsame Entmachtung der Falange desillusionierte die „idealistischen" Anhänger, zu denen auch der Propaganda-Chef und Dichter Dionisio Ridruejo zählte. Aufgrund der Distanz zwischen Francos Realpolitik und den Idealen von José Antonios ursprünglicher Falange brach Ridruejo bereits im August 1942 durch einen schonungslos-anklagenden Brief offiziell mit dem Caudillo und entwickelte sich von da an zu einem anerkannten Oppositionellen im Land. 171 Ihm folgte eine Gruppe von falangistischen Intellektuellen, denen die geistigen Grenzen des Regimes schnell zu eng waren, und die - zumindest in kultureller Hinsicht - den Keim einer regimeinternen Opposition legten. Eine zweite Gruppe bildeten die Monarchisten um den Thronanwärter Don Juan de Borbón, der die Diktatur gerne durch die Restauration der konstitutionellen Monarchie in ein demokratisches Land verwandelt hätte. Franco wollte davon nichts wissen und entmachtete Don Juans Anhänger. 172 Ein Teil der illegalen Parteien der Zweiten Republik versuchte vom Exil aus, Widerstand gegen das Franco-Regime zu organisieren. Wegen ihrer Zerstrittenheit, mangelnder Kooperation und ihres Realitätsverlustes blieb er jedoch wirkungslos. 173 Die hauptsächlich von den Kommunisten organisierte Guerilla in Spanien hatte in den 40er Jahren wegen der harten Repression keine Chance; 1949/50 stellte sie den Kampf fast ein. Als sich das Regime nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte und langsam auch vom Ausland anerkannt wurde, hatte die Opposition jegliche Hoffnung auf einen demokratischen Wandel verloren.
im linken Lager. Zum „Nationalkatholizismus" vgl. auch Raúl Morodo: Los ideológicos del franquismo. Acción Española. Madrid 1985, S. 141-161. 171
orígenes
Der Brief ist abgedruckt in Dionisio Ridruejos Memoiren: Casi unas memorias. celona 1976, S. 240-42.
172 173
Bar-
Vgl. Fusi 1992, S. 82-92.
Das Dilemma der völlig rückwärts gewandten und zugleich inaktiven Exil-Opposition stellt Max Aub dar in seiner satirisch-melancholischen Kurzgeschichte „La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco" („Die wahre Geschichte vom Tode Francisco Francos"), in: ders.: La verdadera historia de la muerte de Francisco Franco. 2. Aufl. Barcelona 1980. Die im mexikanischen Exil lebenden Intellektuellen fuhren noch 20 Jahre nach dem Bürgerkrieg in der typisch spanischen Tertulia ihre kleinlichen Parteistreitigkeiten weiter. Sie diskutieren detailliert jeden Schritt des Krieges, bis der entnervte Kellner 1959 nach Spanien reist, um dem Palaver mit der Ermordung Francos ein Ende zu setzen.
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1.2. Überblick über die Kommunikationspolitik Zensurpolilik Die Wurzeln der franquistischen Kommunikationspolitik liegen noch im Bürgerkrieg: Denn gleich zu Beginn des Aufstands rief die Militärjunta - im Gegensatz zur republikanischen Seite, die mit den geltenden Gesetzen weiterregierte - am 30. Juli 1936 den Kriegszustand mit obligatorischer Vorzensur für alle Veröffentlichungen aus und verkündete harte Strafen für die Veröffentlichung „falscher oder tendenziöser" Berichterstattung. 174 Das Pornographie-Gesetz vom 23. Dezember 1936 legte bereits während des Krieges die bis zum Tode Francos geltenden grundsätzlichen Tabus des Regimes fest: Alle Druckerzeugnisse „pornographischen Inhalts oder sozialistische, kommunistische, anarchistische und ganz allgemein zersetzende Literatur" wurden verboten. 175 Die Zivilgouverneure erhielten im September 1937 die Anordnung, in Schulen, Kulturzentren und Bibliotheken alle Werke zu zerstören, die „Ideen verbreiten, welche für die Gesellschaft schädlich sein können". 176 Die Bücher regimefeindlicher Autoren, so eine Verordnung vom 12. November 1938, durften weder in den Schaufenstern der Buchhandlungen noch in den Verlagsprospekten gezeigt werden, selbst wenn ihr Inhalt völlig harmlos war. Verleger und Buchhändler mußten alle noch vorhandenen „zersetzenden" Schriften bei den neuen Machthabern abliefern. Auf der Basis dieser Büchersäuberungen erstellte eine neugegründete Kultur- und Bildungskommission einen Katalog verbotener Autoren und Werke. 177 Diesen - recht unvollständigen - Katalog ergänzten die Zensoren im Laufe der Zeit durch ihre praktische Arbeit. 174
Boletín Oficial de la Junta de Defensa Nacional de España, 30. Juli 1936, Nr. 3.
175
Boletín Oficial del Estado. 23. Dezember 1936, S. 1908f.
176
Boletín Oficial del Estado,
177
17. September 1937, S. 3395.
Gallofré 1991, S. 18-50. Abellán (1980: 139, Fußnote 101) spricht - leider ohne Angaben von Quellen - über geheimnisumwitterte „schwarze Listen" von Autoren, deren Namen nicht einmal erwähnt werden durften. Weder die recht gründlich arbeitende Historikerin Gallofré noch ich selbst sind auf diese Listen gestoßen. Hingegen ist in Zensurdokumenten gelegentlich die Rede von einem „blauen Katalog verbotener Werke", der offenbar auf der Basis der praktischen Zensurarbeit entstand und als Orientierung für Zensoren und Buchhändler diente. So heißt es in der Notiz vom 18.12.1943 des Sektionsleiters der Bücherzensur an den Zensurleiter: „En cumplimiento de lo dispuesto por esta Delegación Nacional de Propaganda, el 15 de noviembre pasado, tengo el gusto de adjuntarte fichero azul de obras prohibidas, con el fin de que te sirvas dictaminar sobre el mismo, informando sobre el particular a nuestro Delegado Nacional". („In Erfüllung der Verordnung vom 15. November dieser Propaganda-Delegation freue ich mich, Dir den blauen Katalog der verbotenen Werke beizufügen, damit Du darüber entscheidest und unsere Nationale Delegation über die Entscheidung informierst.") In: Korrespondenz der Delegación Nacional de Propaganda, Censura de Libros, AGA 1379.
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Gallofré führt verschiedene Verbotslisten regionaler Zensurbehörden auf, die so unterschiedliche Autoren beinhalten wie Zola, Voltaire, Rousseau, Upton Sinclair, Gorki, Carmen de Burgos, Balzac, Ortega y Gasset, Sender, Lerroux, Bellamy 178 N a c h dem Bürgerkrieg besiegelten die Franquisten am Tag des Buches (21. Mai 1939) ihr kulturzerstörerisches Werk analog zu den Nationalsozialisten durch eine „feierliche Verbrennung" von marxistischer, anarchistischer und liberaler Literatur. 179 Dies blieb jedoch eine einmalige Aktion mit Symbolcharakter. In der Regel wurden verbotene Bücher in Papiermasse verwandelt, denn der Rohstoff Papier war knapp in der Nachkriegszeit. 180 Der Einfluß der Falange auf den „Neuen Staat" zeigt sich an der Organisationsstruktur des Propagandaapparats, aber auch an der Ideologie der Informationspolitik.181 Im Bürgerkrieg konfiszierte die Falange die Volksfrontzeitungen und baute sich daraus ein beeindruckendes Presseimperium auf, das bis nach Francos Tod bestand (1940 besaß das Movimiento 40 Zeitungen). 182 Nachdem die aufständischen Militärs im Januar 1937 eine „Staatliche Delegation filr Presse und Propaganda" unter General Millán Astray gegründet hatten, richtete die Falange eine Parallelorganisation filr ihre eigenen Publikationen ein. Erst 1938, als Franco in den besetzten Gebieten reguläre Regierungsstrukturen aufbaute, verschmolzen beide Delegationen unter der Federführung der Falangisten zur Delegación Nacional de Prensa y Propaganda („Nationale Presse- und PropagandaDelegation"), die sich wiederum in einen Presse-, einen Radio- und einen Propagandadienst untergliederte. 183 Die Bücherzensur gehörte zu letzterem und wurde von Dionisio Ridruejo geleitet. Neben Ridruejo bekleideten vor Kriegsende auch andere falangistische Intellektuelle hohe Posten im Propagandaapparat, unter ihnen Verfasser von Bürgerkriegsromanen: Subsecretario de Prensa y Propaganda wurde J. M. Alfaro; J. A. Giménez Arnau, der Autor von El puente, leitete die Presseabteilung; Carmen de Icaza und Ángel Riveras de la Portilla standen neben Ridruejo der Propaganda-Abteilung vor. 184 Der gesamte Propagandaapparat unterstand Francos Schwager, dem Innenminister und Falange-Mitglied Serrano Sufler. Dieser Aufbau scheint eine totale Verfügungsgewalt der Falangisten 178
Gallofré 1991, S. 47 u. S. 49.
179
Vgl. Román Gubem: La Censura: Función política y ordenamiento jurídico franquismo (1936-1975). Barcelona 1981, S. 57.
180 Vg| Korrespondenz der Delegación 15.3.1943, AGA 1379.
Nacional de Propaganda,
bajo el
Censura de Libros,
181
Vgl. Kap. V. 1.1. „Soziopolitischer Überblick".
182
Vgl. Ebba Lorenzen: Presse unter Franco. München, New York 1978, S. 116-129.
183
Vgl. Juan Beneyto Pérez: „La política de comunicación en España durante el franquismo", in: Revista de Estudios Políticos 11/1979, S. 61f.
184 vgl. Regine Schmolling: Literatur der Sieger. Der spanische Bürgerkriegsroman im gesellschaftlichen Kontext des frühen Franquismus (¡939-1943). Frankfurt 1990, S. 67.
72
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über die Medien zu signalisieren, doch Propagandachef Ridruejo behauptet in seinen Memoiren das Gegenteil: Die Falangisten seien in ihren Entscheidungen stark von konkurrierenden Machtgruppen, insbesondere der spanischen Kirche, behindert worden. Nach Aussage des Propagandachefs waren die Zensurkriterien der Kirche wesentlich rigoroser als die der Falange: 185 Una junta superior, más o menos secreta y con abundante participación eclesiástica, establecía normas y confeccionaba listas de exclusiones. Eran decisiones inapelables. Luché alguna vez porque se pudieran publicar ciertas obras de Goethe, de Kant, de Stendhal, etcétera. Y casi siempre fui derrotado. (Eine Ubergeordnete Junta, die mehr oder weniger heimlich und mit überwältigender geistlicher Beteiligung agierte, stellte Normen auf und machte Ausschlußlisten. Es handelte sich um unumstößliche Entscheidungen. Ich setzte mich manchmal dafür ein, bestimmte Werke von Goethe, Kant, Stendhal etc. zu veröffentlichen. Und ich unterlag fast immer.)
Der Falangist wollte vielleicht seine Verantwortung für die repressive Kulturpolitik der Frühphase etwas schmälern. Doch die Zensurgutachten bestätigen den enormen klerikalen Einfluß. Juan Beneyto, einer der frühen Leiter der „Sección de censura de libros", weist ebenfalls auf Pressionen von Seiten der Kirche und des Militärs hin - beide Lager hätten an die staatliche Zensurbehörde ihre eigenen Anweisungen geschickt. 186 Ab 1942/43 erhielt die Kirche ein absolutes Entscheidungsmonopol darüber, was als moralisch unbedenklich zu gelten hatte, dabei spielte die kirchliche Zeitschrift Ecclesia eine Vorreiterrolle. 187 In diesem Organ listete die Kirche regelmäßig einen Indice de libros prohibidos
auf, einen Bü-
cherkanon, den die Gläubigen in freiwilliger Selbstkontrolle meiden sollten. Doch die Kirche übte auch immer stärkeren Einfluß auf die staatliche Zensur aus. Der Kampf zwischen den ideologischen Machtgruppen verhinderte letztendlich, daß die Falange ihre Vorstellungen einer totalitären Propaganda hundertprozentig umsetzen konnte. 188 Einen guten Einblick in das falangistische Kommunikationskonzept bietet Serrano Sufiers Pressegesetz vom 23. April 1938, das sowohl an der nationalsozialistischen Gesetzgebung wie auch an der des faschistischen Italien orientiert war. 189 185
Ridruejo 1976, S. 435.
186
Juan Beneyto Pérez: „La censura literaria en los primeros años del franquismo. Las normas y los hombres", in: Manuel L. Abellán (Hg.): Censura y literaturas pminsulares. Diálogos Hispánicos de Amsterdam 5. Amsterdam 1987, S. 27-56, dort S. "'4.
187
Vgl. Schmolling 1990, S. 69.
188
Jesús Timoteo Álvarez: „La información en la era de Franco: Hipótesis interpretativa", in: ders. (Hg.): Historia de los medios de comunicación en España. Periodismo imagen y publicidad (1900-1989). Barcelona 1990, S. 221-346, dort S. 224.
189
Einen Vergleich zwischen dem spanischen und den beiden ausländischen Fressegesetzen führt Elisa Chuliá Rodrigo durch in: „La legislación de prensa del priner franquismo: la adaptación española de un modelo importado", in: Javier Tusell (Hg.): El
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Das Gesetz verfolgte zwei Hauptanliegen: die strikte Kontrolle der Presse und ihre Vereinnahmung als Propagandainstrument des Staates. 190 Dieses Kriegsgesetz bestimmte 28 Jahre lang die Informationspolitik des franquistischen Staates, bis es 1966 von dem liberaleren Pressegesetz Fraga Iribarnes abgelöst wurde. Der Falangist Serrano Sufler beabsichtigte 1938, der „Libertinage der demokratischen antinationalen und sektiererischen Presse" ein Ende zu bereiten durch ein „anderes, aktuelleres und exakteres Konzept, das ausschließlich auf Wahrheit und Verantwortung" basiere - auf der Verantwortung für das nationale Interesse und ein einheitliches Spanien. 191 Denn die sogenannte bürgerliche „Pressefreiheit" sei nichts anderes als das „Recht zur Lüge, zur Besudelung und zur Diffamierung als methodisches System zur Zerstörung Spaniens". Demgegenüber entwickelte der damalige Innenminister eine Konzeption von der Presse als Institution im Dienst des Staates, in dem der Journalist folgende Aufgaben erfüllen sollte: 192 ... transmitir al Estado las voces de la Nación y comunicar a ésta las órdenes y directrices del Estado y de su Gobierno; siendo la Prensa órgano decisivo en la formación de la cultura popular y, sobre todo, en la creación de la conciencia colectiva, no podía admitirse que el periodismo continuara viviendo al margen del Estado. (... dem Staat die Stimmen der Nation zu überbringen und dieser die Anordnungen und Direktiven des Staates und der Regierung; da die Presse ein entscheidendes Organ in der Bildung der Volkskultur und vor allem in der Ausbildung eines kollektiven Bewußtseins ist, kann nicht geduldet werden, daß der Journalismus weiterhin am Rande des Staates lebt.)
Jegliche Propaganda gegen den spanischen Staat und gegen die Katholische Kirche war verboten. Die Umorientierung des Journalisten vom staatsunabhängigen Berichterstatter in der Demokratie zum Ideologen des autoritären Regimes verdeutlicht auch der zu leistende Schwur, „vor Gott, vor Spanien und vor dem Caudillo, der Einheit, Größe und Freiheit des Vaterlands mit vollkommener, totaler Treue gegenüber den Prinzipien des nationalsyndikalistischen Staates zu dienen ,..". 193 Das autoritäre Informationskonzept galt selbstverständlich nicht bloß für die vom Staat als vordringlich erachtete - Presse, sondern für alle Medien: Alle régimen de Franco. Congreso Internacional de la UNED, Mayo 1993. Bd. 1. Madrid 1993, S. 423-33. 190
Boletín Oficial del Estado, 23. April 1938, S. 6915-6917.
191
Ebenda.
192
Ebenda, S. 6915.
193
„Juro ante Dios, por España y su Caudillo, servir a la Unidad, a la Grandeza y a la libertad de la Patria con fidelidad íntegra y total a los principios del Estado Nacional Sindicalista, sin permitir jamás que la falsedad, la insidia o la ambición tuerzan mi pluma en la labor diaria." Zitiert in: Gubern 1981, S. 30.
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Druckerzeugnisse bedurften von Anfang an einer staatlichen Genehmigung. Im Pressegesetz von 1938 wurde die obligatorische Vorzensur festgeschrieben. Eine explizite Bücherzensur erließ die Regierung allerdings erst sechs Tage später als Zusatz. Sie wurde nie so konsequent geregelt wie die Zensur ftir die aktuellen Medien oder den Film, weil man dem Buch nicht so große Wirkung auf das Individuum zumaß. Grundsätzlich fixierte das Regime offiziell keine Zensurkriterien bis zum Amtsantritt Fraga Iribarnes im Jahr 1962. Juan Beneyto, bis 1941 Chef der Biicherzensur, listet eine Reihe höchst disparater Zensuranweisungen unterschiedlicher Provenienz auf. 194 Im Bürgerkrieg stammten sie zum Teil direkt aus dem Regierungslager des Generalísimo, andere wiederum wurden auf unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen im Propaganda-Apparat erlassen. Angesichts des herrschenden Normen-Wirrwarrs verfaßte Beneyto 1940 auf eigenen Faust einen Normen-Kodex und legte ihn dem Generaldirektor fiir Propaganda vor - leider blieb sein Vorschlag ohne Antwort. 195 Laut Beneyto hatten die Zensoren darüber zu wachen, ob kirchliche, politische oder militärische Institutionen verunglimpft wurden, ob die Publikation der offiziellen internationalen Politik widersprach, ob der Caudillo sowie die katholische Moral und ihr Dogma respektiert wurden. Es durften keine frühen Parteischriften der Falange veröffentlicht werden, ebensowenig wie Bücher in den Sprachen der spanischen Nationalitäten. Bücher von Autoren, deren Gesamtwerk gegen die Prinzipien des Movimiento verstießen, sollten verboten werden. Eine widersprechende Norm forderte jedoch, ausschließlich auf der Grundlage der Texte zu entscheiden, unabhängig von der Haltung des Autors. Es gab also gewisse Ansätze, Kriterien ftlr die Bücherzensur zu etablieren, doch diese blieben zu disparat und zu heterogen, um Autoren und Verlegern eine verläßliche Orientierung zu bieten. Zudem waren sie geheim. So beklagten Autoren, Journalisten und Verleger das Fehlen konkreter Regeln immer wieder. Denn einerseits waren sie willkürlichen Zensurentscheidungen vollkommen ausgeliefert und konnten gegenüber dem Regime keine gesetzlichen Ansprüche geltend machen. Andererseits hätte eine gesetzliche Fixierung der Zensurnormen auch ihre gezielte Umgehung erleichtert. Die Regierung modifizierte die Zensurbestimmungen mehrmals. So nahm sie 1944 alle liturgischen und katholischen Texte in lateinischer Sprache von der Zensur aus sowie die Literatur vor 1800 und Liedtexte vor 1900, bei denen nicht zu erwarten war, daß sie mit dem Antiliberalismus des Regimes in Konflikt gerieten. Das 19. Jahrhundert und die Zeitgeschichte blieben unter Franco tabuisiert. Die neuen Regelungen hatten einerseits eine stärkere Privilegierung der Katholischen Kirche zur Folge und andererseits eine Entlastung der völlig über-
194 195
Beneyto Pérez 1987, S. 30-33.
Ebenda, S. 38-40. Beneyto arbeitete auch ein Beurteilungsschema für die Zensoren aus. Sie hatten folgenden Fragen zu beantworten: Verstößt das Buch gegen die Moral oder das Dogma? Gegen die politischen Institutionen oder die Persönlichkeiten des Regimes? Hat das Buch irgendeine literarische oder dokumentarische Bedeutung?
V. Zensur der Frühphase
(1939-1951)
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forderten Zensoren, die bis dato jedes Manuskript gleich welcher Fachrichtung kontrollieren mußten. In die Kompetenz des Militärs fielen hingegen alle Bücher über militärische Fragen, insbesondere über den Spanischen Bürgerkrieg. 196 In den Zensurbehörden arbeiteten immer Mitarbeiter mit militärischem Rang, die vermutlich auf diesbezügliche Tabuverstöße achteten. Wenn ein Werk die Zensur passierte, das den Unmut eines Angehörigen der Armee erregte, kam es vor, daß einzelne Offiziere oder der Generalstab des Heeres das Buch anzeigten und die Beschlagnahmung anordneten. 197 Die Macht des Militärs zeigte sich auch darin, daß publizistische Angriffe auf Soldaten bis zum Tode Francos als schweres Delikt betrachtet wurden; sie wurden so gut wie immer zensiert, denn eine Kritik an den Streitkräften schien einer Kritik am - ursprünglich von den Militärs erkämpften - System gleichzukommen. 198 Kulturpolitik des Staates Auch wenn spanische Intellektuelle immer wieder Zweifel an den kulturellen Interessen franquistischer Politiker bekunden, 199 führte die Regierung doch gewisse Maßnahmen zur Förderung einer nationalistischen Kultur durch. Die Schriftsteller mußten zwar nicht wie bei den Nationalsozialisten Mitglied einer Reichskulturkammer werden, aber 1941 gründete die spanische Regierung zur Gleichschaltung der Verlage ein Instituto National del Libro Espahol, das von der Propaganda-Delegation abhing. Dieses Institut sollte die Verlagspolitik überwachen und lenken, Prämien zur Förderung einer nationalen Literatur aussetzen, 200 die spanische Buchproduktion wirtschaftlich unterstützen und sie nach außen hin vermarkten. 201 So erging etwa 1943 angesichts der „Überschwemmung des Marktes" durch ausländische Märchen folgender Befehl von der PropagandaDelegation an dieses Institut:202 196
Vgl. Sinova 1989, S. 100.
197
Manuel L. Abellán nennt Beispiele filr Werke, die auf Betreiben des Militärs sanktioniert wurden, in: „Sobre censura. Algunos aspectos marginales", in: Cuadernos de Ruedo ibérico 49-50/1976, S. 135f.
198
Vgl. Lorenzen 1978, S. 104.
199
Gonzalo Torrente Ballester meint, daß die Förderung von Literatur nicht zur Imagepflege des Regimes gehört habe, „dem Regime waren die Intellektuellen egal". Viele Intellektuelle seien entweder ins Exil oder zur Falange gegangen, nach Ansicht Torrentes die einzige Gruppierung jener Zeit, die liberale Ideen tolerierte, Interview vom 8. Februar 1994.
200
Über die Förderung der Literatur durch staatliche und Verlagsliteraturpreise schreibt José Maria Martínez Cachero ausführlich in Historia de la novela española entre 1936 y 1973. Madrid 1975.
201
Die Aufgaben des „Nationalen Instituts des Spanischen Buches" sind aufgeführt im Boletín Oficial del Estado, 23. Mai 1941, S. 715f.
202
Korrespondenz der Delegación de Propaganda,
20.2.1943, AGA 1379.
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Ante la reiterada presentación de cuentos populares extranjeros y sobre temas ajenos a nuestra tradición literaria, se ha comunicado a las Editoriales Bruguera y German Plaza de Barcelona y la Editorial Valenciana de Valencia, que en adelante deberán dar entrada principalmente a cuentos populares españoles o de la antigüedad clásica sobre temas heróicos y morales a los cuales debe estar más especialmente ligada la formación infantil, lo que te comunico con el ruego de que lo trasmitas a las demás Editoriales que se dediquen a esta clase de publicaciones. (Angesichts der wiederholten Vorlage ausländischer Volksmärchen über Themen, die unserer literarischen Tradition fremd sind, wurden die Verlage Bruguera und German Plaza in Barcelona sowie die Editorial Valenciana aus Valencia angewiesen, von nun an vor allem spanische Volksmärchen oder solche aus der klassischen Antike über heroische und moralische Themen, an denen sich die Bildung der Kinder besonders orientieren sollte, zu veröffentlichen. Bitte gib diese Information an die übrigen Verlage weiter, die sich dieser Art von Publikationen widmen.) Es wurde auch ein staatlicher Buchverlag, Editora Nacional, gegründet, der von der Falange abhing. Staatlich geförderte Propagandafilme nach deutschem und italienischem Vorbild oder sogar in Koproduktion sollten ein heroisches Bild vom Vaterland vermitteln. 203 Allerdings verliefen solche Bemühungen wegen der knappen Geldmittel des nationalen Spaniens nicht sehr erfolgreich. Selbst wenn franquistische Politiker und Militärs persönlich wenig kulturelles Interesse zeigten, versuchten sie doch, die Kultur als Legitimations- und Propagandainstrument in ihre Dienste zu stellen. Denn, so der damalige Bildungsminister Pedro Sainz Rodríguez, „man mußte der Welt zeigen, daß die Erhebung nicht bloß ein Aufstand von Militärs, Mauren, Bankleuten und Priestern war, sondern daß auch Intellektuelle und Zivilpersonen sehr verschiedener Herkunñ daran beteiligt waren". 204 Die kulturelle Realität im Land sah jedoch düster aus. Ein Großteil der bedeutendsten Intellektuellen der Zweiten Republik war entweder im Bürgerkrieg umgekommen (zum Beispiel der von den Falangisten erschossene Federico García Lorca) oder ins Exil gegangen (Juan Ramón Jiménez, die meisten Dichter der 27er Generation, Sender, Ortega y Gasset, Max Aub, Pérez de Ayala etc.). Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen waren von „Roten" gesäubert worden, darunter viele kompetente Lehrer und Wissenschaftler. Die wirt-
203 204
Vgl. Gubem 1981, S. 27, 66 und 79.
„Había que demostrar al mundo que el Alzamiento no había sido sólo una sublevación de militares, moros, banqueros y clérigos, sino que también habían intervenido intelectuales y personas civiles de muy diversas procedencias." In: Alicia Alted: „Notas para la configuración y el análisis de la política cultural del franquismo en sus comienzos: la labor del ministerio de educación nacional durante la guerra", in: Josep Fontana (Hg.): España bajo el franquismo. Barcelona 1986, S. 215-229, dort S. 224.
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schaftliche Autarkie fand in der selbstgewählten Abschottung der Kultur ihre Entsprechung. Viele moderne und innovative Autoren wie Gide, Proust, Joyce, Faulkner und Hemingway waren in der Frühzeit des „Neuen Staates" verboten und kamen erst mit fünf bis zehn Jahren Verspätung ins Land, so daß sich die junge Schriftstellergeneration der Nachkriegszeit nur mit Hilfe der illegal eingeschmuggelten Exemplare über neue literarische Strömungen unterrichten konnte. 205 Dieser Bildungsnachteil macht sich bemerkbar in der vergleichsweise späten Auseinandersetzung spanischer Nachkriegsromanciers mit den im übrigen Europa und in (Nord- und Süd-) Amerika längst bekannten intellektuellen Strömungen und neuen Erzähltechniken. Die Diktatur unterdrückte aber auch das avantgardistische Erbe des sich emanzipierenden Spaniens der 20er und 30er Jahre. Manuel Vázquez Montalbán spricht daher von einer „Verfälschung des intellektuellen Nationaleigentums durch die Zensur". 206 Denn als spanisches Kulturgut galten zwar die katholischen Autoren des Siglo de Oro, die Kreuzzugspolitik der Katholischen Könige, die klassische Lyrik Garcilasos, nicht aber der Einfluß von Juden, Mauren und Konvertiten auf die spanische Kultur, der heterodoxe Schelmenroman oder die verdienstvolle, aber kirchenkritische Volkskultur- und Bildungsarbeit der Zweiten Republik. Kulturell und wissenschaftlich interessierte Studenten der 40er Jahre mußten sich autodidaktisch bilden, denn ganz abgesehen vom niedrigen Niveau des Lehrpersonals dominierte an den Universitäten theologisches statt analytisches Denken, das selbst in der Naturwissenschaft bloß solche Ergebnisse zuließ, die nicht gegen das Dogma der Katholischen Kirche verstießen. Eine Konsequenz dieses repressiven Klimas war die Unterdrückung einer lebendigen Kultur, die auf Diskussion und Austausch beruhte. Der gesellschaftliche Diskurs blieb am linken Rand bis über die Mitte hinaus stark eingeschränkt und kam einem Monolog der Sieger gleich. Eine Literaturkritik, die einen Überblick über die Kulturproduktion im Lande verschaffte, war so gut wie inexistent, denn negative Kritik durfte in den 40er Jahren in keiner Form, nicht einmal in ästhetischer Hinsicht geäußert werden. 207 Laut Torrente Ballester, selbst ein bekannter Theaterkritiker jener Zeit, druckten die Zeitungen bloß Lobeshymnen; unliebsa-
205
Mangini 1987, S. 15. Torrente meint allerdings, daß man durch den blühenden illegalen Bücherschmuggel dennoch zu den wichtigsten Büchern Zugang gehabt habe, Interview vom 8. Februar 1994, siehe Anhang.
206 207
Interview mit Manuel Vázquez Montalbán vom 1. März 1994.
Eine Verordnung vom 4. November 1941 erlaubt zwar wieder Literaturkritik „über den intellektuellen Wert jeglichen Schriftstellers in Spanien", schränkt aber gleich ein, daß dabei immer „Respekt und Korrektheit, die dem guten Geschmack verpflichtet sind, gewahrt werden müssen, und daß die Kritiken nicht zu persönlichen Auseinandersetzungen geraten dürfen". Span. Originalzitat bei Sinova 1989, S. 192.
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me Autoren schwiegen sie tot. 208 Oppositionelle Denker wagten sich angesichts der eindeutigen Haltung des Regimes gegenüber feindlichen Ideologien gar nicht zu äußern. Aus Verdruß über die geistige Leere des Landes leiteten falangistische Intellektuelle erste Öfüiungstendenzen in die Wege, 2 0 9 indem sie an Positionen vor dem Bürgerkrieg anknüpften, vor allem an die 98er Generation und deren Suche nach dem „spanischen Wesen". Fernando Morán sieht das Verdienst dieser Intellektuellen nicht in einer Überwindung der totalitären offiziellen Ideologie, sondern in der Wiedereinführung des „problematischen Charakters" in das nationale Denken. 210 Symptomatisch dafür ist der 1949 erschienene Essay von Pedro Lain Entralgo España como problema, dessen zweifelnder Titel bereits ein Fragezeichen hinter den triumphierenden Nationalismus des Regimes setzte. 211 Mit der 1940 gegründeten Zeitschrift Escorial wollten die Falangisten Lain und Ridruejo konservativen republikanischen Intellektuellen, die sich der nationalen Sache nicht angeschlossen hatten, ein Forum bieten. Diese kulturelle Horizonterweiterung erklärten sie im Redaktionsmanifest zu einem ihrer Hauptziele. Erstaunlich offen wehrten sich diese Schriftsteller gegen eine Vereinnahmung durch das Regime: 212 ... se convoca a 'todos los valores españoles', no importa que 'hayan servido en éste o en el otro grupo y tengan éste u otro residuo íntimo de intención. Los llamamos asi a todos porque a la hora de restablecerse una comunidad no nos parece posible que se restablezca con equívocos y despropósitos; y si nosotros queremos contribuir al restablecimiento de una comunidad intelectual, llamamos a todos los intelectuales y escritores en función de tales y para que ejerzan lo mejor que puedan su oficio, no para que tomen el mando del país ... Escorial no es una revista de propaganda, sino honrada y sinceramente una revista profesional de cultura y 208
Torrente Ballester berichtet von gezielten Eingriffen von oben auf seine Arbeit. Als der Kritiker einmal ein Theaterstück des Verwandten eines Ministers zu besprechen hatte, erging von der Propaganda-Delegation die Anweisung zu einer positiven Kritik. Torrentes Weigerung hatte allerdings - vielleicht wegen seines guten Rufes als Kritiker oder seiner Nähe zu den falangistischen Intellektuellen - keine Folgen. Interview vom 8. Februar 1994.
209
Eine gut dokumentierte Darstellung des kulturellen Engagements der Falange enthält die Literaturgeschichte von Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur. Frankftirt/M. 1990, S. 939-948.
210
Fernando Morán: Explicación de una limitación. La novela realista de los años 50 en España. Madrid 1971, S. 50-53.
211
Die heute etwas angestaubt wirkende Polemik um das spanische Wesen mit dem Franquisten Calvo Serer, der als Antwort auf Lain sein „Spanien, ohne Problem" (España, sin problema, 1949) entgegensetzte, kann man nachlesen in Elias Díaz: Pensamiento español, 1939-1975. Madrid 1978, S. 74-83.
212
Zitiert in: José Luis Abellán: La cultura en España. Ensayo para un diagnòstico. Madrid 1971, S. 15.
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letras. No pensamos solicitar de nadie que venga a hacer aquí apologías líricas del régimen o justificaciones del mismo. (Wir wenden uns an ,alle spanischen Werte', unabhängig davon, ob sie in diesem oder in jenem Lager gekämpft haben und ob sie diese oder jene geheime Absicht hegen. Wir rufen deshalb alle auf, denn wenn wir schon die intellektuelle Gemeinschaft wiederherstellen wollen, halten wir es für unmöglich, dies zweideutig und mit Ungereimtheiten zu tun. Da wir dazu beitragen wollen, diese wiederherzustellen, rufen wir alle Intellektuellen und Schriftsteller in dieser Funktion auf, daß sie ihre Aufgabe so gut sie können erfüllen, und nicht, daß sie die Führung dieses Land übernehmen sollen ... Escorial ist keine Propagandazeitschrift, sondern aufrichtig und ernsthaft eine professionelle Kultur- und Literaturzeitschrift. Wir bitten niemanden, daß er hier lyrische Apologien auf das Regime oder Rechtfertigungen desselben abfassen soll.) Die Kulturbeflissenheit der Falange zeigt sich auch an der Gründung einer eigenen Stilkommission im Jahr 1938 und an der Einführung eines ästhetischen Kriteriums für die Bücherzensur: Der „valor literario" mußte von den Zensoren immer mitberücksichtigt werden und konnte sogar filr das Verbot eines Buches maßgeblich sein, wie die Auswertung der Zensurgutachten zeigen wird. Das falangistische Stilideal orientierte sich an der klassizistischen Renaissance-Poesie Garcilasos. Falangistische Dichter schrieben intime religiöse Gedichte oder Liebeslyrik; in den Essays dominierte ein Ubersteigerter nationalrevolutionärer Ton mit Anspielungen auf das (römische und spanische) Imperio. Anleihen aus dem italienischen Faschismus waren die Verherrlichung von „Jugend" oder „Fruchtbarkeit".213 Doch der falangistische Einfluß auf die Kultur des Landes war nicht von Dauer. Zwar unterstellte Franco 1941 die Zensur unter dem neuen Namen Vicesecretario de Educación Popular offiziell der Falange. Aber der Chef der neuen Behörde, Gabriel Arias-Salgado, wollte die Zensur als orthodoxer Katholik in den „Dienst der göttlichen Ordnung" stellen. 214 1942 entließ Franco die falangistischen Zensurchefs. Von da an setzte sich die katholische Hegemonie durch: Arias verstärkte die Zensorenriege sofort um einen Theologen mit erheblichen Kompetenzen. 215 Ab 1943 wendete sich das Regime von den faschistischen Achsenmächten 213
Gumbrecht 1990, S. 941-943.
214
Arias-Salgado: Política española de la información. Bd. 2. S. 109: „Estas líneas maestras son la sumisión y el servicio real al orden divino ...".
215
In einem Brief vom 3. Juni 1943 an den Generaldirektor für kirchliche Angelegenheiten bat Arias-Salgado um die Zuweisung eines Theologen ftir die Zensurbehörde, um die Zensurentscheidungen mit den von der Kirche gewünschten Kriterien in Einklang zu bringen, AGA 1379, 1942-45: "En el deseo de acordar las resoluciones de censura con los criterios deseados por la Iglesia, varios servicios dependientes de esta Vicesecretaría utilizan el asesoramiento de sacerdotes, y con el propósito de dar a este asesoramiento una mayor amplitud y dotarla de aquella responsabilidad que permita en todo caso tomarla en cuenta con carácter general para todo territorio, ruego a Ud. que haga las gestiones convenientes a fin de que sea designado un teólogo que, adscrito a la
Gabriele Knetsch
80
ab und zu den Alliierten hin. 1945 war der Entmachtungsprozeß der radikalen, Sozialrevolutionär orientierten Falange endgültig abgeschlossen: Die Zensur wurde nun auch ganz offiziell dem Movimiento entzogen und dem - traditionell von den Katholiken dominierten - Bildungsministerium angegliedert. Auch der Sieg der Alliierten ließ es Franco nicht länger ratsam erscheinen, auf die Falange zu setzen. Doch die Zensurbehörde führte ein Eigenleben und hielt sich nicht immer an den Kurswechsel. Denn es leuchtete den Beamten offensichtlich überhaupt nicht ein, warum sie erst alliiertenfeindlich und dann plötzlich alliiertenfreundlich zensieren sollten. Das Außenministerium führte 1943 einen nervenaufreibenden Kleinkrieg mit der Zensurbehörde, die weiterhin die Ideologie der Achsenmächte unterstützte und positive Meldungen über England, Frankreich und Amerika unterdrückte. Beredtes Zeugnis davon gibt das Schreiben des Außenministers Jordana an Franco Uber das kontraproduktive Verhalten der Zensurbehörde:216 Si en la censura de lo exterior, en lo cual se iba consiguiendo unidad de criterio tras una lucha que sólo mi paciencia hubiese podido soportar, va por un lado la Vicesecretaría de Educación Popular, que en estos días ha perdido la serenidad, y yo por otro, creo que se producirá un gran estrago en nuestra política exterior. Con los sucesos de Italia todo lo que aquí parece bien, a ellos les parece mal y no hay modo de entenderse, cosa incomprensible. (Endlich haben wir es - nach einem Kampf, den nur meine Geduld ertragen konnte - geschafft, die Kriterien für die Zensur außenpolitischer Meldungen zu vereinheitlichen. Doch wenn nun das Stellvertretende Sekretariat für Volksbildung, das dieser Tage wohl die Nerven verloren hat, einen Weg einschlägt und ich einen ganz anderen, werden wir meiner Meinung nach unserer Außenpolitik grossen Schaden zufügen. Bei den Ereignissen in Italien [Sturz Mussolinis, d.V.] finden die Zensoren alles schlecht, was wir hier gut finden. Es ist unglaublich, aber eine Einigung erscheint unmöglich.)
Gallofré hat anhand der Zensurdokumente nachgewiesen, daß trotz der politischen Umorientierung auf höchster Ebene beim Zensorenpersonal Kontinuität bestand. Selbst nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus vollzogen die Zensoren die staatlich verordnete Entfaschisierung nicht sofort mit. Eine offizielle, schriftlich fixierte Anordnung zur neuen Zensurpolitik ist jedoch weder im Boletín Oficial del Estado, noch in den Akten des Archivs von Alcalá zu finden und scheint es tatsächlich nicht gegeben zu haben.217 1951 entstand ein neues Ministerium für Tourismus und Information, dessen seltsame Kompetenzverschränkung auf zwei Neuorientierungen des Regimes verweist: den Beginn des Massentourismus und den Abschied von der faschistischen Propaganda. Zum
Sección de Censura de Libros, pueda orientar a la Jefatura de la misma y en casos concretos emitir los dictámenes correspondientes". 216 217
Zitiert in: Sinova 1989, S. 111. Vgl. auch Gallofré 1991, S. 220-222.
V. Zensur der Frühphase
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(1939-1951)
neuen Minister wurde der bisherige Zensurchef Gabriel Arias-Salgado bestellt er führte sein strenges Regiment bis 1962, als der liberalere Fraga dieses Amt übernahm.
1.3. Das Literaturangebot Der Verlagskatalog von Seix Barrai aus dem Jahr 1944 spiegelt die desolate Situation der Kultur der Nachkriegsjahre perfekt wieder. Das Angebot war noch spärlich: Von 260 Titeln insgesamt machten etwa drei Viertel Schulbücher, Ratgeber, Flugzeugmodelle oder Sachbücher aus. 218 Die Belletristik beschränkte sich laut Katalog auf Biographien („Beispielhafte Leben großer Männer") etwa Uber Alexander den Großen oder Julius Cäsar, sowie auf Abenteuerromane, die unter dem Motto „unantastbare Moralität, unerschöpfliches Vergnügen, unverbesserbare Aufmachung" angepriesen wurden. 219 Immerhin neun Bücher zur Zeitgeschichte entsprachen dem patriotisch-faschistischen Zeitgeist mit Titeln wie El infierno bolchevique ('„Das bolschewikische Inferno") oder La locura roja („Der rote Wahnsinn"). Zu diesen damals weitverbreiteten Abrechnungen mit den „Roten" zählten auch die Erlebnisberichte franquistischer Schriftsteller Uber den Spanischen Bürgerkrieg. Die Autoren strichen in der Regel die Greuel im republikanischen Lager und die Heldentaten auf franquistischer Seite gebührend heraus. Ein Vergleich mit den Verlagskatalogen von 1946 und 1948 zeigt, daß sich bis dahin keine grundsätzlichen Änderungen abzeichneten; die meisten Titel wurden einfach weitergeführt. Wie die Zensurgutachten erkennen lassen, bestand das Gros der Literatur in den 40er Jahren aus sakralen Werken, historischen Heldenromanen, unpolitischen Liebesromanzen und biederen Familiengeschichten. „Ohne politische Tendenz" schien nicht nur den Zensoren, sondern auch den von Krieg und Hunger geplagten Lesern am liebsten zu sein. Oft handelte es sich um Übersetzungen zweit- und drittklassiger ausländischer Autoren. Bei Seix Barrai stellten sakrale Titel wie die Historia sagrada oder La santa misa zwar eher die Ausnahme dar, doch die Zensurgutachten erfassen eine Fülle religiöser Werke mit Titeln wie Asi nos quiere Dios oder Vocaciön al sacerdote. Das Autarkiestreben und die politische Weltabgewandheit des Landes spiegelt sich also in der Literaturproduktion wider. Mehrmals lehnten die Zensoren der 40er Jahre Bücher mit der Begründung ab, sie seien eher für ein europäisches als für ein spanisches Publikum bestimmt. 220 Systemkritische Werke existierten nach der brutalen Verfolgung 218
Vgl. Seix y Barral Hnos: Catálogo
Editorial.
Barcelona 1944.
219
Ebenda, S. 22. Span. Orig.: „Moralidad intachable, amenidad inagotable, presentación inmejorable".
220
Zum Beispiel Zensurgutachten von 1943 zu La Force en nous von Charles Baudouin, exp. 8382, AGA 7314: „El todo parece más dirigido a un público 'europeo' lejano del espíritu verdadero español." („Das Ganze scheint eher an ein europäisches Publikum gerichtet, das dem wahren spanischen Geist fernsteht".)
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aller Franco-Gegner praktisch nicht. Linke, antiklerikale oder liberale Ideen kamen höchstens in ausländischen Büchern zur Sprache, die der spanischen Zensur allerdings nicht sehr häufig vorgelegt wurden.
1.4. Die Zensurkriterien Im Jahr 1943 gingen gemäß dem Index der zensierten Bücher aus dem gleichen Jahr insgesamt 8561 chronologisch durchnumerierte Titel in der Behörde ein. Daraus wurde eine Zufallsstichprobe von 50 Zensurgutachten gebildet - jedes 171. Gutachten kam somit in die Stichprobe. 221 Beanstandungen aus moralischen und politischen Gründen dominierten: In 21 Fällen wurden moralische Tabus berührt (30%), in 28 Fällen politische Tabus (39%). 222 Die überraschend hohe Rate bei den politischen Tabuverstößen trotz des repressiven Klimas erklärt sich einerseits durch die Übersensibilität der frühen Zensoren in politischen Dingen. So verboten die Zensoren das harmlose Kindernlärchen Rotkäppchen - vermutlich, weil sie darin eine Anspielung auf die „Roten" zu entdecken glaubten. 223 Andererseits fielen unter die Beanstandungen aus politischen Gründen vor allem nonkonforme Äußerungen aus den eigenen Reihen. Angriffe auf Gruppen des Regimes oder auf die katholische Religion wurden (zumindest von Autoren in Spanien) selten geäußert: Nur in vier Büchern kritisierten die Autoren Falange, Kirche oder Militär - alle vier wurden verboten. Das Kuriosum der „Zensur der literarischen Qualität" (immerhin 14% aller Verstöße, meist verbunden mit dem Verbot des Buches) gab zwar in der Regel nicht allein den Ausschlag für ein Verbot, aber Texte, die gegen eines der oben genannten Kriterien verstießen und zudem schlecht geschrieben waren, hatten keine Chance, autorisiert zu werden. Doch selbst konforme Texte konnten verboten werden, weil sie den Zensoren „unsinnig", „vulgär" oder „schlecht geschrieben" erschienen. Sie forderten den Autor eines harmlosen Kinderbuches mit „moralischem Hintergrund" auf, das Werk zu überarbeiten, da es „ohne Brillanz" verfaßt sei. 224 221
Allerdings gibt nicht jedes dieser Gutachten etwas für die Auswertung der Zensurkriterien her, weil die Zensoren häufig gar nichts beanstandeten. In diesen Fällen war es nötig, auf andere Gutachten auszuweichen. Die Gutachten werden chronologisch durchnumeriert im Archiv in Alcalá de Henares aufbewahrt. Im Fall von unergiebigen Gutachten griff ich auf die nächsthöheren Nummern zurück. Erwiesen sich auch diese Gutachten als irrelevant für die Analyse der Zensurkriterien, berücksichtigte ich die nächstniedrigeren Nummern. Dieses Verfahren ist zwar nicht streng statistisch, folgt aber zumindest einer gewissen Systematik.
222
Gezählt werden die Argumente, nicht die Zensurgutachten, denn ein Werk kann gleichzeitig gegen mehrere Tabus verstoßen. Nicht immer allerdings werden die Bücher auch tatsächlich zensiert.
223
Exp. 3600, AGA 7177, 1943.
224
Exp. 6502, AGA 7264, 1943.
V. Zensur der Frühphase (1939-1951)
83
Die Härte der Zensur in der quasi-totalitären Phase des Franquismus zeigt sich an der hohen Sanktionsquote: 75% aller Texte, in denen die Zensoren etwas zu beanstanden hatten, wurden auch tatsächlich zensiert (durch Streichungen oder Verbot). In den übrigen Fällen stellten die einfachen Zensoren, die lectores, zwar Tabuverletzungen fest, aber der Ubergeordnete Zensor hielt sie nicht filr gravierend. Auffällig ist, daß sich die Zensoren bei Uber der Hälfte aller Texte, selbst bei relativ harmlosen, gar nicht die Mühe machten, einzelne Stellen zu streichen, das Buch wurde vielmehr gleich ganz verboten, wenn auch nur der geringste Zweifel an seiner ideologischen und moralischen „Reinheit" bestand. 225
Angriffe auf das politische Dogma Aus den gestrichenen Stellen und den Argumenten der Zensurgutachten läßt sich ein Klassifikationsraster bilden, das klar zeigt, auf welche Verstöße die Zensoren reagierten. Dabei kristallisieren sich folgende Themenbereiche heraus. •
„España eterna" - Darstellung der spanischen Geschichte
•
die Tabus „Zweite Republik" und „Spanischer Bürgerkrieg"
•
Feindbilder des Franquismus
•
Kritik an Verbündeten des Franquismus
•
Darstellung der Wirklichkeit
•
Kritik an der aktuellen Politik des Regimes.
Die Helden und Herrscher der spanischen Geschichte mußten gebührend glorreich gezeichnet sein und durften keinen, vor allem keinen moralischen Makel tragen. 226 Das spanische Ehrenprinzip wurde unter Franco wieder ernst genommen und vom privaten Bereich auf die staatliche Ebene gehoben. So kam ein Kinderbuch Uber die Entdeckung Amerikas nicht durch die Zensur, weil der Autor Kolumbus und Magellán weniger ausführlich abhandelte als die englischen Helden. 227 Die glorreiche Darstellung der imperialen, katholischen Vergangenheit war den Franquisten wichtig, weil die Geschichte das Fundament und die Legitimierung ihrer Herrschaft bildete. Geschichte wurde vom Regime im Sinne des konservativen Historikers Menéndez Pelayo als ständiger Kampf zwischen 225
Abellán (1980: 151) kommt filr die 40er Jahre und sogar noch für die 50er Jahre unter Arias-Salgado zu ähnlichen Ergebnissen. Die Frühphase sei gekennzeichnet durch wenige Streichungen in den Texten, durch klare Kriterien und eine strenge Zensurpraxis. Er ermittelte diese Ergebnisse durch eine quantitative Auswertung der Karteikarten des Zensurkatalogs im Archivo Histórico von Alcalá de Henares.
226
In einer Biographie über Napoleon wird eine abfällige Äußerung über die spanische Königsfamilie von Ferdinand VI. gestrichen (exp. 222, AGA 7139). Eine Erzählung über das Leben auf dem Meer wird von zwei Stellen bereinigt, die die Eroberung Amerikas durch die Spanier negativ darstellen (Versklavung der Indios und Bereicherung der Missionare; exp. 7686, AGA 7294).
227
Exp. 1227, AGA 7110, 1943, ClifTord Collinson: Exploration and Adventure.
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den „ewigen Werten" des katholischen Spaniens und dem gottlosen Anti-Spanien definiert: Franco hatte den Bürgerkrieg gewonnen, um die katholischen Werte vor dem anarchischen Chaos zu verteidigen wie einst die Katholischen Könige. In diesem Sinne war der Spanische Bürgerkrieg gemäß der Ideologie als „heiligster aller Kriege", als Cruzada oder als Guerra de Liberación228 darzustellen. Eine Aufarbeitung aus der Sicht der Verlierer gestattete die Zensur bis zum Ende der Diktatur nicht, denn der Bürgerkrieg gehörte zusammen mit der Zweiten Republik zu den absoluten Tabus des Regimes. Es versteht sich, daß nur in zwei Fällen der Stichprobe eine nichtkonforme Darstellung überhaupt versucht (und selbstverständlich gestrichen) wurde. „Alles was sich auf Urteile über die E r h e bung' [Francos, d. V.] bezieht, muß besonders streng überwacht werden ...", heißt es in der Sammlung von inoffiziellen, fiir den praktischen Gebrauch zusammengefaßten Regeln des Zensors Juan Beneyto aus dem Jahr 1940. 229 Anspielungen auf linke demokratische Politiker unterdrückten die Zensoren, so als hätte es sie nie gegeben. Folgerichtig strichen sie aus einer Porträtsammlung bedeutender Politiker die Interviews mit dem PSOE-Gründer Pablo Iglesias, dem Anarchisten Angel Pestaña und dem sozialistischen Politiker Indalecio Prieto heraus. Sie autorisierten hingegen die Passagen, in denen die republikanische Zeit kritisiert wurde, aber auch die Interviews mit König Alfons XIII. und seinem Sohn Don Juan, weil sie „nicht im mindesten die aktuelle Politik berühren". 230 Die Vertreter der Zweiten Republik und ihre Parteien waren in Übereinstimmung mit dem Pornographie- und Kommunismusgesetz von 1936 Teil der Feindbilder des Franquismus: Kommunismus, Anarchismus, Sozialismus, Pazifismus, Liberalismus und Separatismus gehörten zu den Tabus des Regimes. 231 Eine franqui228
Vgl. Menéndez-Reigada: Catecismo patriótico español. Salamanca 1939: „... la más santa de las guerras ... La Cruzada", zitiert in: Laureano Robles: „Historiografía filosófica en el primer franquismo", in: Hispania. Revista española de Historia 176/1990, S. 1417-1452, dort S. 1427.
229
Span. Orig.: „Debe vigilarse especialmente lo que se refiera a juicios sobre el Alzamiento, suprimiéndose toda valoración desorbitada de la intervención de distintos elementos en forma que pueda dar lugar a desvirtuar su sentido unitario en lo militar y en lo político," in: Beneyto Pérez 1987, S. 38.
230
Exp. 8046, AGA 7304, 1943, Galería: El caballero audaz. Span. Orig.: „Entre los personajes atados se encuentra (sie) el rey D. Alfonso XIII, D. Juan, los cuales son considerados con afecto y simpatía, pero sin rozar para nada con la actual política." Sinova (1989) gibt für die Presse eine ganze Liste von Namen an, die nicht erwähnt werden durften, weil sie dem Regime feindlich gesinnt waren: Dazu gehörten etliche ausländische Schauspieler, die für die Republik Partei ergriffen hatten (z. B. Charly Chaplin), die herausragenden Politiker der Zweiten Republik, aber auch spanische prorepublikanische Künstler wie der Schriftsteller Pío Baroja, Jacinto Benavente (in der Anfangszeit) und vor allem Garcia Lorca, der von den Franco-Truppen ermordet wurde.
231
Der Catecismo patriótico español (Robles, 1990: 1428) zählt - in Anlehnung an die sieben Todsünden - sieben Gefahren für das Vaterland auf: „Los enemigos de España
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(1939-195!)
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stische Besonderheit war die Phobie gegen das Freimaurertum. 232 Mit diesen Begriffen verband sich all das, was Franco bekämpfen wollte: Unordnung, sexuelle Freizügigkeit, Atheismus, Mißachtung der traditionellen, konservativen Werte, Antimilitarismus, wirtschaftliches Chaos. Um die „Einheit Spaniens" zu wahren, unterdrückte das Regime die Nationalitäten im Land und verbot in der Frühphase den Gebrauch ihrer Sprachen: Zwei katalanische Bücher aus der Stichprobe wurden daher ohne weitere Begründung verboten, darunter die regimekonforme Autobiographie eines katholischen Priesters. 233 Die „Regionalsprachen" wurden bereits 1939 verboten, es sei denn sie waren für „die Verbreitung der Prinzipien der Bewegung und die Leistungen der Regierung" nützlich. 234 Es existierten aber zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel, etwa für folkloristische Texte. Außerdem herrschte offenbar noch 1943 unter den Zensoren selbst Unklarheit über die Behandlung katalanischer Texte. Daher unternahmen die Verlage immer wieder den Versuch, katalanische Texte durch die Zensur zu bringen. 235 Auch die Verbündeten des Franquismus unterstanden dem Schutz der Zensur: So durfte ein wissenschaftliches Werk über die Psychoanalyse nur ohne das entsprechende Kapitel über den „vorgeblichen Minderwertigkeitskomplex des deutschen Volkes" veröffentlicht werden, da dieses „trotz seines objektiven und unparteiischen Charakters vielleicht unverschämt ist". 236 Der Antiklerikalismus der faschistischen Literatur brachte die Zensoren wegen des Einflusses der Kirche jedoch in einen permanenten Wertekonflikt. Während die Zensoren die Bücher spanischer Autoren in der Frühphase oft schon beim geringsten Zweifel eines religiösen Verstoßes verboten 237 , legten sie bei deutschen Autoren andere Maßstäbe an: Um die Beziehungen zur Freundesmacht nicht zu gefährden, behandelte son siete: el Liberalismo, la democracia, el judaismo, la masonería, el capitalismo, el marxismo y el separatismo." („Es gibt sieben Feinde Spaniens: den Liberalismus, die Demokratie, den Judaismus, die Freimaurerei, den Kapitalismus, den Marxismus und den Separatismus".) 232
Die Zensoren hatten diese Phobie verinnerlicht: So wird in einem Gutachten vorsichtshalber erwähnt, daß in einem unpolitischen Krimi die Rede von einer „geheimen Gesellschaft" sei, die „eine Schlüsselrolle" in der Handlung spiele, obwohl hier nicht im geringsten von der Freimaurerei die Rede sei. Exp. 8120, AGA 7306, 1943, Wilkie Collins: La dama blanca.
233
Exp. 5634, AGA 7237, 1943, Jaume Collell: Efemerides dels meus 8t) anys de sacerdoti und exp. 342, AGA 7084, 1943, José Maria Tous y Maroto: Comedies.
234
Norm abgedruckt in: Gallofré 1991, S. 57.
235
Ebenda, S. 174-177.
236
Exp. 7023, AGA 7278, 1943, F. Oliver Brachfeld: Los sentimientos de inferioridad y su compensación.
237
So zum Beispiel das moralisch anstößige Buch La fiel infantería des Falangisten García Serrano.
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die Zensur nationalsozialistische Veröffentlichungen so schonend wie möglich Angriffe auf die Katholische Kirche wurden nur gestrichen, ohne deswegen das ganze Buch zu verbieten wie bei spanischen Autoren üblich. Die Darstellung der Wirklichkeit sollte möglichst dem Harmonie- und Moralbild des Franquismus entsprechen: unpolitisch, positiv, harmlos. Beanstandet wurden grausame Morde, Darstellungen brutaler Gewalt, ein „pessimistisches Lebensgefilhl", pikareske Gaunereien. Tabuwörter ersetzten die Zensoren durch Euphemismen: Huren hießen mujeres de mala vida, der Geschlechtsakt mußte so indirekt ausgedrückt werden, daß man ihn nur noch erahnen konnte. Was nicht existieren sollte in dieser Welt, machten die Striche der Zensoren inexistent. 238 Das defizitäre Regime der 40er Jahre sollte möglichst problemlos erscheinen. Kritik an der aktuellen Politik kommt in der Frühphase aus den oben genannten Gründen ohnehin so gut wie nie vor. Nur in einem Fall der Stichprobe kritisierte eine spanische Autorin die Politik Francos. Die glühende Verehrerin Hitlers warf den spanischen Generälen ihre Tatenlosigkeit im Zweiten Weltkrieg und die Neutralität Spaniens vor. Das Buch wurde komplett verboten. 239 Angriffe auf die Katholische Kirche Die religiöse Zensur läßt sich in folgende Tabuthemen untergliedern: •
Angriffe auf die Institution der Katholischen Kirche
•
Angriffe auf Symbole der Kirche
•
Verstöße gegen die katholische Glaubenslehre.
Die franquistische Zensur knüpfte in diesem Punkt direkt an die spanische Inquisition an, die Franco durchaus als Vorbild galt: Schon im Siglo de Oro verbot die Zensur Bücher, die gegen die katholische Glaubenslehre verstießen wie z. B. die Werke der Reformatoren Calvin und Luther. 240 Beide Autoren waren auch im
238
Das gilt auch für die Pressekontrolle. Sinova (1989: 246) wertet die Tabus des Regimes mittels der staatlichen Presseanweisungen aus. Die Presse sollte ein positives, friedliches und harmloses Bild vermitteln von einem Land, in dem alles in Ordnung sei, und das außerdem gut ernährt, arbeitend und glücklich sei.
239
Exp. 7520, AGA 7290, 1943, Carmen Velacoracho: Un Caudillo. Zensurgutachten fehlt, aber die Anmerkungen und Striche der Zensoren im Text lassen auf ein Verbot wegen der anstößigen Verunglimpfung der Generäle schließen.
240
Vgl. Fr. H. Reusch (Hg.): Die Indices Librorum Prohibitorum des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1886, S. 381 ff. Der franquistische Autor Antonio Sierra Corella schreibt 1947 eine spanische Zensurgeschichte im Hinblick auf eine Rechtfertigung der Zensur des Regimes. Er verteidigt die Zensur im Siglo de Oro mit den Worten: „En los expurgatorios españoles se hacen aclaraciones justas, observaciones paternales y amistosas, que incluso son beneficiosas para la corrección de la expresión y belleza del estilo". („In den spanischen Expurgationsindices werden gerechte Klarstellungen, väterliche und freundschaftliche Beobachtungen vorgenommen, die sogar nützlich sind, um Ausdruck und die Schönheit des Stils zu verbessern.") In: ders.: La censura de libros y papeles en
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(1939-1951)
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frühen Franquismus verboten. Die Toleranzschwelle bei vermeintlichen Angriffen auf die Katholische Kirche war damals extrem niedrig: So kamen die Lausbuben-Geschichten von Ludwig Thoma nicht durch die Zensur, da sich der Autor Uber den katholischen Religionsunterricht lustig machte. 241 In einer Biographie über Napoleon wurden dessen Schmähungen der Kirche gestrichen, obwohl sich die antiklerikale Haltung Napoleons gar nicht mit der Intention des Autors deckte - die Zensoren verwechselten Autor und Erzähler. 242 Selbst Redensarten wurden unterdrückt: Der nach Ansicht der Zensur häretische Spruch „als ob er der Papst höchstpersönlich wäre" fiel dem Rotstift zum Opfer. 243 Ähnlich verhielt es sich mit Angriffen auf die Symbole der Kirche und Glaubensinhalte, die 1943 allerdings kaum vorkamen. 244 In einem Kriminalroman vermutete der Zensor in einer Passage eine vage Parodie auf die Bibel und bat den Kirchenzensor um Überprüfung. 245 Diese Übervorsichtigkeit erklärt sich durch die Macht der Katholischen Kirche und die Abhängigkeit des franquistischen Regimes vom kirchlichen Wohlwollen. Mit der Dominanz theologischen Denkens in den 40er Jahren ist die heute geradezu lächerlich wirkende Beurteilung fiktiver und wissenschaftlicher Literatur nach den Maßstäben der kirchlichen Morallehre und der katholischen Dogmen zu erklären. So wurde etwa ein Science-Fiction-Roman verboten, weil sein Autor die Evolutionstheorie vertrat. 246 Folgende Lehren und Weltanschauungen wurden ebenfalls zensiert, weil sie dem Katholizismus widersprachen: Positivismus, Materialismus, Psychoanalyse, nichtkatholische Konfessionen. Das Gutachten zu einem philosophischen Fachbuch über den menschlichen Willen mutet absurd an: Der Zensor beanstandete, daß der Autor - ein Philosoph und kein Theologe - seine Thesen nicht auf religiösem Hintergrund entwickelte. 247 Angriffe auf die Moral Die Verstöße gegen die Moral lassen sich in folgende Untergruppen gliedern: •
Sexualität
•
unmoralische Handlungen
•
schlechter Lebenswandel. España y los índices y catálogos españoles de los prohibidos y expurgados. 1947, S. 11.
241
Exp. 4962, AGA 7216, 1943.
242
Exp. 2222, AGA 7139, 1943.
243
Exp. 4131, AGA 7194, 1943, Georges Simenon: El hombre de Londres.
244
Nur eine einzige Nennung der Stichprobe von 1943 fällt unter diese Kategorie.
245
Exp. 7332, AGA 7285, 1943, Fidel Prado Duque: Chantage.
246
Exp. 14, AGA 7076, 1943, Dessiderius Papp: La vida de las estrellas.
247
Exp. 8382, AGA 7314, 1943, Charles Baudouin: La force en nous.
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Die franquistische Zensur zeichnete sich bis ans Ende des Regimes durch eine geradezu manische Prüderie aus. 248 Bisweilen hat man allerdings den Eindruck, daß die Zensoren in ihrer Vorstellung weit über das hinaus gingen, was im Text tatsächlich stand. Selbst bei völlig harmlosen Büchern führten die „Lektoren" penibel jeden möglichen Verstoß gegen die Moral auf. Ihre Urteile Uber eine zu offen dargestellte Sexualität bewegten sich auf einer differenzierten Skala zwischen „einem zu leichtfertigen, typisch französischen Ton", „pikanten Anspielungen und nicht sehr dezenten Wörtern", „stellenweise recht sinnlichem Ton", „offensichtlicher Unmoral, die das Buch unautorisierbar macht" und „Pornographie". Es fällt auf, daß die Zensoren sittliche Unmoral, Liberalismus und Atheismus gerne mit den Franzosen in Verbindung brachten. 249 Die franquistischen Zensoren strichen insbesondere Tabuwörter wie „Prostituierte", „Bordell", „Orgasmus", Nennungen der Geschlechtsorgane, aber auch unverblümte Darstellungen der sexuellen Annäherung zwischen Mann und Frau. Bücher, in denen solche Stellen in den Augen des Zensors überhandnahmen, wurden als „Pornographie" verboten. Bei den unmoralischen Handlungen orientierten sich die Zensoren an den Lehren der Katholischen Kirche: Selbstmord, Ehebruch, Scheidung, Mord, Diebstahl wurden zensiert. Die zehn Gebote sollten im Grunde auch für die Literatur gelten. Allerdings gab es für diese „Schandtaten" eine gewisse Hierarchie. Ehebruch und Scheidung wurden in der Frühphase (und bis in die 60er Jahren) so gut wie nie toleriert. Auch Selbstmord durfte nur bei gleichzeitiger Verurteilung zu Papier gebracht werden. 250 In einer arabisch-andalusischen Sage rechtfertigte sich 248
So konnte man auf den Straßen und an öffentlichen Orten noch in den 60er Jahren Schilder mit der Aufschrift lesen: „En España está prohibida la blasfemia y la palabra soez." („In Spanien sind Blasphemie und unzüchtige Äußerungen verboten.") Zitiert in: Cisquella et alii 1977, S. 16.
249
Der Zensor des Romans El embrujo de Ceilan von Francis Croisset hebt explizit den etwas leichtfertigen, „typisch französischen Ton einiger Passagen" dieser Geschichte hervor. Da das Werk aber „ohne Frivolität" geschrieben sei, könne es mit Streichungen veröffentlicht werden, exp. 6866, AGA 7274, 1943. Dies ist nicht bloß typisch für den Franquismus. Das Klischee der unzüchtigen Franzosen galt zum Beispiel auch in reaktionären Kreisen zur Zeit des „Jungen Deutschland", wie Hömberg (1975: 112) nachweist. Reaktionäre Kritiker schleuderten wütende Invektiven gegen den kritischen Roman Wally, die Zweiflerin von Karl Gutzkow und sprachen von „französischer Affenschande", „Schmutz französischer Unzucht" oder der „potenzierten Nachahmung der neufranzösischen Frechheit".
250
Sogar in den Normen filr die Filmzensur von 1963 heißt es noch: „Se prohibirá la justificación del suicidio". („Die Rechtfertigung des Selbstmordes ist verboten.") In: B.O.E., 8. März 1963, S. 516. In den Autoreninterviews wiesen sowohl Torrente Ballester als auch Miguel Del i bes auf die Schwierigkeiten mit der Bücherzensur hin, wenn es um das Thema Selbstmord ging. Und in der Presse mußten die Journalisten zu Umschreibungen greifen wie „eine rasche Krankheit" oder „ein unvorhergesehener Unfall", vgl. Sinova 1989, S. 246.
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der Freitod der Heldin nur „durch das Ambiente, in dem die Geschichte spielt".25' Mord und Diebstahl waren hingegen notwendiger Bestandteil der populären Krimis und wurden großzügiger zensiert: Ein Kriminalroman über einen Diebstahl durfte zum Beispiel erscheinen, da der Täter das gestohlene Geld am Ende zurückgab und seine Tat bereute.252 Hingegen verstanden die Zensoren keinen Spaß bei humorvollen Darstellungen „unmoralischer Handlungen": Ein Roman, der „einen pikaresk eingefädelten Raub komisch darstellen will", wurde rundweg verboten.253 Schlechte Chancen hatten auch Bücher, deren Protagonisten sich durch einen schlechten Lebenswandel auszeichneten: unter „morbiden Lebensverhältnissen", in einem „unangenehmen Realismus" lebten oder „deren Handlungen es grundsätzlich an Moral fehlt und die unseren Sitten fremd sind". Die vier betreffenden Bücher der Stichprobe passierten die Zensur nicht unversehrt. Angriffe auf Institutionen oder Gruppen des Regimes Zu den vor Angriffen zu schützenden Gruppierungen gehörten bis an das Ende des Franquismus das Militär, die Falange, die Guardia Civil, die Kirche und die marokkanischen Fremdenlegionäre, die auf der franquistischen Seite im Bürgerkrieg gekämpft hatten und als besonders grausam galten. Tabu waren auch alle staatlichen Institutionen (insbesondere die Zensurbehörde selbst!) und die franquistischen Politiker, an erster Stelle natürlich der Caudillo.254 Gerade anhand der Beanstandungen dieser Kategorie lassen sich die Machtkämpfe im franquistischen Lager gut beobachten: Überzeugte Katholiken wetterten gegen die faschistische Ausrichtung der Falange und wurden zensiert, aber auch begeisterte Faschisten, die dem Militär ein zu lasches Engagement filr Hitler vorwarfen, teilten ihr Schicksal. Der Gedichtband eines katholischen Priesters wurde verboten, weil er „wütende Angriffe auf die Falange und auf Deutschland" formulierte. Zudem ließ offenbar auch die Qualität seines Textes sehr zu wünschen übrig: „In meinem Leben habe ich noch nicht so viel Unsinn und Banalität zusammen gesehen, wie sie dieser Dorfpfaffe schreibt, und auch nicht so schlechte Verse", schreibt
251
Exp. 1558, AGA 7118, 1943, Gonzalo de la Torre: El mirador. Span. Orig.: „... y el episodio final - suicidio de Celina - que se explica teniendo en cuenta el ambiente en que se desarrolla la novela...".
252
Exp. 4131, AGA 7194, 1943, Georges Simenon: El hombre de Londres.
253
Exp. 3089, AGA 7163, 1943, Carlos Rullán Bauzá: La herencia del tío. Span. Orig.: „Es un cuento cuyo argumento consiste en querer dar gracia a un robo hecho con picardía, lo cual me parece absolutamente inadmisible."
254
Vgl. die Normen von Zensor Juan Beneyto Pérez (1987: 38): „Debe vigilarse asimismo cuanto pueda resultar molesto a las instituciones militares, civiles, eclesiásticas o políticas." („Es muß ebenso alles überwacht werden, was die militärischen, zivilen, kirchlichen oder politischen Institutionen stören könnte.")
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der diensthabende Zensor lakonisch. 255 Aber selbst gutgemeinte Darstellungen der Falange hatten Schwierigkeiten, wenn sie nicht der offiziellen Sichtweise entsprachen. Die Zensurbehörde suspendierte zum Beispiel einen Roman, in dem feine adelige Damen auf das Wohl des Falange-Gründers José Antonio trinken. Das High-Society-Image paßte wohl nicht zu den revolutionären Gedanken der frühen Falange und stieß dem (wahrscheinlich falangistischen) Zensor unangenehm auf. 256 Ein anderes Buch fiel der Zensur zum Opfer, weil Marokkaner als grausam und hart dargestellt wurden, obwohl es sich gar nicht um die für Franco kämpfenden Fremdenlegionäre handelte.
2. Die Analyse von Torrente Ballestero Javier Marino (1943) Auf der Basis der im vorigen Kapitel dargestellten Zensurnormen und des soziopolitischen Hintergrundes soll Torrente Ballesters Javier Marino als paradigmatischer Roman filr die kulturell starken Einschränkungen unterliegende Frühphase untersucht werden. Diese zensurorientierte Textanalyse umfaßt die Darstellung der weltanschaulichen Position des Autors, die Zensurgeschichte des Romans sowie die Untersuchung des Protestpotentials und der Umgehungsstrategien.
2.1. Vom Falangismus zur Desillusion - die weltanschauliche Position des Autors Wie viele Spanier in den franquistisch besetzten Landesteilen trat auch Gonzalo Torrente Ballester im Bürgerkrieg in die Falange ein; er gehörte damit zu den sogenannten camisas nuevas, den „Neuhemden". Diese Mitglieder hatten das blaue Hemd der Falange häufig aus Opportunismus, nicht aus politischer Überzeugung angelegt. Aus welchen Gründen Torrente selbst Mitglied wurde, läßt sich heute kaum zuverlässig rekonstruieren. Er selbst behauptet, in erster Linie die Rettung von sich und seiner Familie im Sinn gehabt zu haben, 257 denn als der Jungverheiratete Geschichtslehrer bei Kriegsausbruch von einem Forschungsaufenthalt in Paris nach Spanien zurückkehrte, waren die Falangisten dort die neuen Herren: 258 Cuando me marché por la guerra a Galicia, me dijo mi padre que todos mis amigos eran fusilados. Mi primera impresión que tuve en Vigo fue una carnavalada, porque mucha gente iba disfrazada con uniformes militares, falangistas, requetés. Pero después, cuando cogí el autobús para ir a Ferrol, vi gente fusilada en los caminos. Entonces me di cuenta que no era una carnavalada. Cuando vine a Ferrol, me fui a ver a un fraile. Entonces él me dijo:,Mañana vete y hazte falangista'. 255
Exp. 6127, AGA 7253, 1943, Pedro González Herrón: Jarrón de Sevres. „En mi vida he leído tanto disparate y vulgaridad juntos como los que escrive (sie!) este cura de aldea, ni tampoco versos tan malos".
256
Exp. 2051, AGA 7135, 1943, Carlos Manuel Riviera Dupont: Rutas Humanas.
257
Interview mit Torrente Ballester vom 8. Februar 1994, siehe Anhang.
258
Ebenda
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(Als ich wegen des Kriegsausbruchs nach Galicien zurückkehrte, sagte mir mein Vater, daß alle meine Freunde erschossen worden waren. Mein erster Eindruck in Vigo war der eines Karnevals, denn viele Leute gingen verkleidet in Uniformen von Militärs, Falangisten oder Requetés. Aber als ich dann den Bus nach Ferrol nahm, sah ich am Wegrand erschossene Menschen liegen. Da wurde mir klar, daß es kein Karneval war. Als ich nach Ferrol kam, besuchte ich einen Ordensbruder; er sagte zu mir: .Morgen geh und tritt in die Falange ein'.) Torrente hatte in der Tat Grund, sich in acht zu nehmen, immerhin hatte er sechs Jahre zuvor als Redakteur bei der anarchistischen Zeitung La Tierra gearbeitet; danach war er Anhänger einer galicischen Regionalistenpartei - keine günstigen Referenzen im neuen Regime, das unerbittlich gegen alle Linken und Separatisten vorging. Die Polizei beschattete ihn trotz seiner Mitgliedschaft in der Falange nach eigener Aussage bis 1942. 2 5 9 Doch der Autor sympathisierte durchaus mit den Ideen der Falange - nicht der Falange Francos, der die Partei zur Marionette degradiert hatte, sondern der revolutionären von José Antonio Primo de Rivera. 260 Er freundete sich 1937 mit einer Gruppe bekannter falangistischer Intellektueller in Burgos an, deren Anführer Zensurchef Dionisio Ridruejo war, außerdem schrieb er filr die falangistische Kulturzeitschrift Jerarquía. Torrente begründet sein politisches Engagement damit, daß damals ausschließlich die (revolutionäre) Falange den Intellektuellen gewisse Freiheiten geboten habe, während sie den reaktionären Franquisten aus diesem Grund suspekt gewesen sei. 2 6 1 Die Parteifreunde von Burgos, schreibt Torrente 1977 im Prolog zu seiner Gesamtausgabe, verbanden drei gemeinsame Ziele: 2 6 2 1. die geistige Öffnung des Regimes; 2. soziale Forderungen; 3. die Sorge Uber den kulturellen Niedergang des Landes unter Franco.
259
Ebenda.
260
Zu den inneren Konflikten der Falange und den verschiedenen Tendenzen innerhalb der Partei siehe Stanley G. Payne: Falange: Historia del fascismo español. Madrid 1985, sowie Ellwood Sheelag: Prietas las filas. Madrid 1984.
261
Interview mit Torrente Ballester: „Había sectores en la parte franquista, para quienes los falangistas eran como comunistas. Porque en su programa primitivo en la parte de los negocios, de los bancos, eran bastante radicales. Por ejemplo, defendían la estatificación de la Banca ... Yo compartía las ideas de esta Falange radical." ("Es gab Kreise im franquistischen Lager, für die die Falangisten wie die Kommunisten waren. Denn in ihrem ursprünglichen Programm waren sie ziemlich radikal, was den ökonomischen Teil anbelangt. Zum Beispiel verteidigten sie die Verstaatlichung der Banken ... Ich teilte diese Ideen der radikalen Falange.")
262
Gonzalo Torrente Ballester: Obra Completa. Bd. 1, 1977, S. 52.
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Torrente glaubte anfangs wie auch andere idealistische Falangisten, diese Ziele über die Partei im neuen Regime durchsetzen zu können. Doch das Scheitern des revolutionären Flügels der Falange machte dem Autor schließlich klar, daß es sich um eine Illusion handelte. Für General Franco, der wie er aus El Ferrol kam, empfand der gebildete Katholik nach eigener Aussage von Anfang an keine besondere Sympathie. Ein politischer Essay des Autors aus dem Jahr 1939 erläutert seine politische Position - drei Jahre vor der Veröffentlichung seines ersten Romans Javier Marino. In dem Bändchen Antecedentes históricos de la subversión universal („Historische Voraussetzungen für die allgemeine Subversion") versuchte er, die Umbruchs- und Krisensituation im damaligen Europa zu erklären; zugleich offenbarte er dabei sein eigenes antidemokratisches Wertesystem. 263 Sowohl den Marxismus als auch den Liberalismus lehnte der Autor als rein materialistische Ideologien ab. Der Liberalismus - ein „reiner Vorwand zur Bereicherung der Bourgeoisie" - war für ihn allerdings der schlimmere Feind, während er für die linken Ideologien durchaus gewisse Sympathien hegte, denn sie verfolgten für ihn im Ansatz richtige Ziele, obgleich ihre Vertreter Utopisten und Träumer seien. 264 Wie der revolutionäre Flügel der Falange hätten sich auch Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten die Verbesserung der Situation der Landarbeiter und des Industrie-Proletariats auf ihre Fahnen geschrieben - beide Lager träten zudem für eine Revolution gegen die bestehende bürgerliche Gesellschaft ein. Wie die Anarchisten träumte der Falangist Torrente von einer Rückkehr zu einer archaischen, fortschrittsfeindlichen Lebensform. 265 Torrente liebäugelte in die263
Ders.: Cuadernos de Orientación universal. Madrid 1939.
política.
Antecedentes
históricos
de la
subversión
264
Über den Anarchismus schreibt Torrente (ebenda, S. 12): „Es la consecuencia más sincera de la democracia. ... Pero el anarquismo es un sueño de perturbados, de anormales o de inadaptados". („Er ist die ehrlichste Konsequenz der Demokratie. Aber der Anarchismus ist ein Traum von Verwirrten, Anormalen oder Unfähigen".) Dem Sozialismus gesteht Torrente gewisse Verdienste zu (S. 21): „En esta sociedad desordenada y sin núcleo y espíritu firme, pudo el socialismo hacer grandes progresos, y los hizo de hecho". Torrentes Einwand dagegen: „... se convierte en un partido domesticado que acaba colaborando con la burguesía". („In dieser ungeordneten Gesellschaft ohne Zentrum und ohne festen Geist konnte der Sozialismus große Fortschritte erzielen und erzielte sie auch in der Tat... Aber er verwandelt sich nun in eine gezähmte Partei, die am Ende mit der Bourgeoisie zusammenarbeitet".)
265
Ein Vergleich der Parteiorgane von Anarchisten und Falangisten, La revista blanca und FE zeigt, daß die scheinbar völlig entgegengesetzten Bewegungen sich in vielen Punkten überschneiden: Beide vertreten antidemokratische, dem Industriezeitalter nicht angemessene Ideologien, sind technikfeindlich, beide proklamieren ein hehres Menschheitsideal vom selbstdisziplinierten Übermenschen, äußern sich in einem pathetischen, überhöhten Stil, der wenig zur Lösung konkreter Probleme beiträgt. Beide bekämpfen den parlamentarischen Liberalismus als „Instrument der Reichen und Mächtigen" und predigen einen heroischen Aktivismus, der in die Revolution gegen das Bürgertum
V. Zensur der Frühphase
(1939-1951)
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sem Essay eindeutig mit dem Faschismus: Freie Wahlen, Pressefreiheit und freie Marktwirtschaft lehnte er in Übereinstimmung mit den falangistischen Prinzipien ab. Sein Staatsideal basierte wie die Utopie des griechisch-orthodoxen Studenten Tefas in Javier Marino auf christlichen Prinzipien. Die Essenz seiner „Gesellschaftsanalyse" lautet: 266 Los tiempos anteriores ... no fueron felices, pero con todo puede afirmarse, sin error, que eran mejores que los presentes. Concretamente, fueron mucho mejores para las clases pobres de la sociedad, para los trabajadores del campo y de la industria principalmente, pues las clases ricas han vivido bien en todos los tiempos. (Die früheren Zeiten ... waren nicht glücklich, aber man kann mit Sicherheit sagen, daß sie besser waren als die heutigen. Ganz konkret waren sie viel besser für die armen Klassen der Gesellschaft, für die Landarbeiter und das Industrieproletariat vor allem, denn die reichen Klassen haben zu allen Zeiten gut gelebt.) Drei Jahre später zeichnete sich jedoch eine ideologische Umorientierung Torrentes ab. Im Jahr 1942 kündigte sein Freund Dionisio Ridruejo, dem Javier Marino auch gewidmet ist, dem Caudillo in einem spektakulären Brief die Gefolgschaft auf. Die „revolutionäre" Falange wurde in der Folge aus allen politischen Ämtern herausgedrängt, und Torrente selbst distanzierte sich von der veränderten, angepaßten Partei. 267 Er kehrte in seine Heimat Galicien zurück und hielt sich von der Politik fern. Die Arbeit an Javier Marino fiel mit großer Wahrscheinlichkeit genau in diese Zeit politischer Desillusion: Das Buch wurde im Mai 1943 bei der Zensurbehörde eingereicht; im Winter des Vorjahres, also einige Monate nach Ridruejos kritischem Brief, hatte es Torrente vermutlich geschrieben. 2 6 8
münden soll. Es ist also gar nicht so abwegig, daß Torrente sich ideologisch vom Anarchisten zum Falangisten wandelte. 266
Torrente Ballester: Cuadernos de orientación, S. 5.
267
Zur politischen Desillusion von Torrente Ballester und seinen Freunden vgl. auch Ignacio Soldevila-Durante: „Nueva lectura de Javier Mariflo", in: Anales de la novela de posguerra 2/1977, S. 43-53, dort S. 44. Soldevila-Durante meint allerdings, Torrentes damaliges Bekenntnis zur Freiheit habe nichts mit einem Glauben an die Demokratie zu tun, sondern sei nur intellektuell und rein geistig gemeint.
268
Torrente selbst ist sich über den genauen Zeitpunkt des Schreibens nicht mehr ganz sicher. Im Interview vom 8. Februar 1994 sagte er: „En el aflo 42 yo me aparté de todo esto, de manera que la escritura de este libro ... más o menos coincidió. ... Yo mismo tengo dudas." („Im Jahr 1942 entfernte ich mich von all dem [dem Falangismus], so daß die Arbeit an diesem Buch ... ungefähr damit zusammen fiel. Ich habe selbst Zweifel darüber.")
94
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2.2. Ein Falangist in Paris - Einfuhrung zu Javier Marino Der Protagonist Javier Marifio erlebt den Beginn des Spanischen Bürgerkrieges als Student in Paris. 269 Dort hält er sich mit Hilfe eines Forschungsstipendiums auf, um in der Pariser Nationalbibliothek eine Handschrift zu kopieren. Marifio, ein junger Spanier aus Galicien, stellt sich als katholischer Falangist dar. Er verkehrt im kosmopoliten, leichtlebigen Pariser Studentenmilieu und unterhält auch Freundschaften mit ideologisch andersdenkenden Jugendlichen. Allerdings zeigt sich im Verlauf des Textes, daß er - anders als Torrente selbst - weder an die Sozialrevolutionären Utopien der Partei, noch an die Religion glaubt. De facto vertritt er avant la lettre ein typisch franquistisches Weltbild. Er ist schon aufgrund dieser ideologischen Differenzen nicht als Alter Ego des Autors zu denken. Zu seinen engsten Bekannten zählen der Kubaner Carlos Bernárdez und seine russische Freundin Irene (ein kommunistisches Paar, zu dem Mariflo ein äußerst gespanntes Verhältnis unterhält), außerdem der griechisch-orthodoxe Student George Tefas, die adelige Kommunistin Magdalena und die Fürstin Sofía Coria. Die Freundschaft mit Magdalena de Hauteville entwickelt sich zu einem echten Liebesverhältnis, das jedoch aufgrund der ideologischen Differenzen der Partner einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt ist. Magdalena würde Mariño gerne heiraten und ist sogar bereit, auf ihre Ideologie zu verzichten. Doch dieser weist sie zurück, denn Madalena hatte vor ihm bereits einen Liebhaber, ein gewichtiges Hindernis für Mariño: er fordert von der unverheirateten Frau gemäß dem spanischen Ehrenkodex Jungfräulichkeit. Der Schluß im Originalmanuskript unterscheidet sich stark von dem in der 1943 publizierten Zensurfassung. In der Originalfassung findet der Grundkonflikt zwischen Mariños Ideologie und seiner Liebe zu Magdalena keine Lösung. Javier verläßt seine Freundin. Angeblich, um im Bürgerkrieg seiner patriotischen Pflicht als Falangist nachzukommen, in Wirklichkeit schifft er sich nach Südamerika ein, um der Verantwortung zu entkommen. Magdalena begeht daraufhin aus Verzweiflung Selbstmord. In der Zensurfassung zieht Mariño heldenhaft in den Bürgerkrieg und nimmt Magdalena mit, um sie zu heiraten. Beide bekennen sich gemeinsam zum katholischen Glauben. Der Roman umfaßt 431 Seiten und ist in vier explizit gekennzeichnete Teile gegliedert. Darin stellt Torrente in chronologischer Abfolge die Entwicklung der Hauptfiguren Magdalena und Javier dar. Die zensurbedingte Fassung wurde um einen Prolog und einen Epilog ergänzt, die den neuen Schluß abhandeln. Javier Marino wird überwiegend aus der Perspektive des - nur bedingt zuverlässigen Protagonisten erzählt. Es existiert außerdem ein relativ dezenter personaler Erzähler, der Mariños Perspektive hin und wieder konterkariert. Teile des Romans fokalisieren das Innenleben des Protagonisten. Auffälligstes Stilmerkmal ist al-
269
Gonzalo Torrente Ballester: Javier Mariño. Obra completa. Bd. 1. Barcelona 1977, S. 101-550.
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lerdings der umfangreiche Dialog-Anteil in direkter Rede; Torrentes erster Roman orientierte sich offenbar noch stark am Theaterschaffen des jungen Autors. 270 Die Figuren erhalten in Javier Marino somit ausreichend Gelegenheit, ihre ideologischen Positionen explizit darzustellen. Man könnte das Buch in dieser Hinsicht als Ideenroman bezeichnen, da sein Schwerpunkt nicht auf der Handlung liegt (sie beschränkt sich auf den wenig spektakulären Studentenalltag in Paris), sondern auf der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen.
Die Versionen von „Javier Marino" Die Originalversion ist verschollen, da Torrente das ursprüngliche Manuskript verloren hat; auch im Archivo General de la Administración von Alcalá de Henares ist kein Exemplar mehr vorhanden, und der ursprüngliche Verlag, die falangistische Editora Nacional, existiert nicht mehr. Als einzige Quelle zur Originalversion stehen daher die Ausführungen des Autors selbst zur Vertilgung: In der Gesamtausgabe von 1977 beschreibt Torrente die Zensurgeschichte und die zensurbedingten Manipulationen an Javier Marino,271 zusätzliche Angaben macht er in einem Interview mit der Verfasserin. 272 Die veröffentlichte Fassung von 1943 weicht danach in zentralen Punkten vom Originalmanuskript ab. Diese zensurbedingte Version wurde 1977 in der Gesamtausgabe veröffentlicht, und zwar als Nachdruck der Fassung von 1943, da Torrente damals schon nicht mehr Uber sein Manuskript verfügte. 1985 veröffentlichte Torrente bei Seix Barrai eine revidierte Fassung. Er änderte einige offensichtlich durch die Zensur entstellte Passagen, erkennt aber im Vorwort die Unmöglichkeit an, 42 Jahre später den Originaltext wiederherzustellen. 273 Diese Version ist also keine wissenschaftlich verläßliche Rekonstruktion des Originals, sie dient aber in Zweifelsfällen als zusätzliche Entscheidungshilfe.
270
Torrente selbst weist auf diese Nähe seines Buches zum Theater und zur dialogischen Struktur hin, ebenda, S. 105.
271 272
Ebenda, S. 105-115. Interview vom 8. Februar 1994 in Salamanca.
273 Torrente Ballester: Javier Marino. Barcelona 1985, S. 9: „Ante la imposibilidad de repetir el primitivo, he peinado el único existente en varios párrafos, expresiones e incluso palabras sueltas que considero innecesarios; añadí una ligera manipulación de las últimas páginas, que me permitió, creo, darle al desenlace una mayor verosimilitud por el mero procedimiento de 'humanizar' las razones que mueven, finalmente, al personaje." (Angesichts der Unmöglichkeit, den ursprünglichen Text zu wiederholen, habe ich den einzig vorhandenen in einigen Absätzen, Ausdrücken oder einzelnen Wörtern, die ich für unnötig halte, etwas frisiert. Außerdem fílgte ich eine leichte Manipulation der letzten Seiten ein. Das erlaubte mir, glaube ich, dem Schluß eine größere Wahrscheinlichkeit zu geben, einfach dadurch, daß ich die Gründe .humanisierte', die den Protagonisten antreiben.")
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2.3. Warum das Buch verboten werden mußte - Zensurgeschichte des Romans Obwohl Javier Marino das Buch eines im Prinzip regimekonformen Autors ist, wurde es von der Zensur verboten. Javier Marino war kein Einzelfall, wie das Verbot von García Serranos Roman La fiel infantería oder Celas La colmena zeigt, (vgl. Kap.V.3. „Reaktion der Zensur auf andere Romane"). An diesen Zensurfällen lassen sich die internen Kompetenzstreitigkeiten unterschiedlicher ideologischer Gruppen innerhalb der Zensurbehörde ablesen. Die widersprüchlichen Gutachten zu Javier Marino finden dadurch eine plausible Erklärung.
Eine halbherzige Konversion - zensurbedingte Veränderungen im Roman Das Ziel des jungen Autors war ein publizierbares, aber kein anbiedernd lobhudelndes Buch. Daher legte er den Roman einer befreundeten Zensorin vor, bevor er ihn offiziell in der Zensurbehörde einreichte. Diese erfahrene Freundin meldete nach kritischer Lektüre Bedenken an und empfahl Torrente die oben genannten Änderungen. Die explizite Selbstzensur 2 7 4 läßt sich im Fall von Javier Marino also klar belegen. 2 7 5 Torrente verwandelte den ursprünglichen Schluß in ein regimekonformes happy end und verkündete seine gewandelte Gesinnung plakativ mit dem neuen Untertitel Historia de una conversión („Geschichte einer Bekehrung"). Dennoch ist der ursprüngliche Schluß nach Aussage des Autors im Text noch vorhanden, und zwar in den Vorstellungen und Tagträumen Mariños. 2 7 6 Mariño verbringt die letzte Nacht vor seiner Abreise aus Frankreich mit Magdalena. Als er aufwacht, malt er sich das Ende der Beziehung aus: 2 7 7 Mariño tritt allein auf das Schiff, Magdalena fährt nach Paris zurück und bringt sich in ihrem Zimmer um. Der griechisch-orthodoxe Jorge Tefas berichtet Mariño daraufhin in einem Brief von Magdalenas Selbstmord und macht den Spanier dafilr verantwortlich. So könnte das Buch in der Originalversion plausibel geendet haben. In der geänderten Version ist dieser Tagtraum Auslöser für Mariños Entschluß, Magdalena zu heiraten. Auch die Flucht nach Südamerika existiert in der Zensurfassung zumindest als Überlegung des Protagonisten. 2 7 8 Dabei kommt er zu dem wenig orthodoxen Ergebnis, daß sein Engagement für den Bürgerkrieg völlig nutzlos sei (S. 521): Luego, España, ahora partida y revuelta. Un día pasará, y sobre sus piedras vendrá la paz, y el sosiego en el espíritu de sus hombres. Nada habrá cambiado, porque
274
Zum Begriff „explizite Selbstzensur" vgl. Kap.lll.3.
275
Torrente Ballester: Obra Compleia. S. 106.
276
Interview vom 8. Februar 1994. Vgl. auch Soldevila-Durante 1977, S. 46.
277
Torrente Ballester: Obra Completa, S. 527-533.
278
Ebenda, S. 520f.
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en España nada cambia esencialmente, y sus hazañas y sus gestos quedan en la mitad. Es inútil pelear. Todo es lo mismo. (Nun, Spanien ist jetzt geteilt und in Aufruhr. Eines Tages wird über die Steine des Landes wieder. Frieden kommen und Gelassenheit über die Gemüter der Menschen. Und nichts wird sich geändert haben, denn in Spanien ändert sich im wesentlichen nichts; seine Heldentaten und großen Gesten bleiben auf halbem Wege stecken. Es ist nutzlos zu kämpfen. Alles ist einerlei.) Derart heterodoxe Gedanken des Helden wurden durch das neue Ende im Sinne des Regimes „korrigiert". Außer dem neuen Schluß fügte Torrente zusätzliche Teile ein, die sich in ihrer Apologetik stark vom übrigen Werk unterscheiden. 279 So schrieb er einen Prolog und einen Epilog. Im Prolog wird die „Geschichte einer Bekehrung" als Rückblende angekündigt: Mariño rekonstruiert als Kriegsinvalide mit zerschossenen Beinen seine Erinnerungen; an seiner Seite lebt Magdalena als seine Frau. Der Epilog spielt während der gemeinsamen Schiffsreise nach Spanien und bekräftigt Marifios regimekonforme Bekehrung (S. 543-46), indem das Paar zusammen in der Kirche betet (wenngleich Magdalena damit noch Schwierigkeiten hat) und die erlebte Rede die vaterländischen Gefilhle des Protagonisten herausstellt (S. 545): Porque al pisar la tierra de España sería sólo un hombre de la quinta del treinta y uno, y dentro de muy pocos días, vestido de uniforme, partiría para las trincheras. (Denn wenn sie spanischen Boden beträten, würde er nur noch ein Mann des Jahrgangs 1931 sein und in wenigen Tagen würde er mit einer Uniform bekleidet zu den Schützengräben ziehen.) Die Konversion des Protagonisten vollzieht sich auf drei Ebenen: Er gewinnt seinen bislang angezweifelten Glauben wieder, er kehrt nach Spanien zurück, um seine patriotische Pflicht im Krieg zu erfüllen, und er kommt seiner moralischchristlichen Verantwortung durch die Heirat mit Magdalena nach. Doch die Konversion wirkt kaum plausibel. 280 Im Verlauf der Handlung versucht Mariños Vertrauter Tefas zwar mehrmals, den Protagonisten zum Glauben zu bekehren, aber seine Appelle verhallen noch im vierten und letzten Teil des Buches konsequenzenlos. 281 Erst ein theatralisches „Wunder" durch Tefas' „heilige" 279
In der Obra Completa hat Torrente die Einfügungen im Anhang zu Javier abgedruckt, S. 543-550.
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Schmolling (1990: 276) weist daraufhin, daß der geläuterte Protagonist in völliger Diskordanz zu seinem bisherigen Charakterbild stehe. Er korrespondiere in der geänderten Fassung mit den vorbildlichen Helden, wie sie in den zeitgenössischen Bürgerkriegsromanen immer wieder typisiert werden.
281
Ein Beispiel für diese ergebnislosen Bekehrungsversuche: Nachdem Tefas Mariño im vierten Teil des Romans davon zu überzeugen versucht, Magdalena aus Barmherzigkeit zu heiraten, so wie es wahres Christentum gebiete, blockt Mariño völlig ab und verlagert seine aufrichtige Antwort nach innen (S. 437): .Javier, al escucharlo, buscaba furiosamente razones que oponerle, bravas mentiras ingeniosas o cínicas que disimularan al mismo tiempo su amor y su indecisión. Pero la presencia de George era
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Schwester Eulalia bringt Mariños Unglauben ins Wanken. Nachdem Eulalia eine sterbende Prostituierte bekehrt hat, betet Mariflo Uberwältigt das Glaubensbekenntnis (S. 475). Aber schon auf der nächsten Seite gewinnen die Zweifel - bis zum Schluß des Romans - wieder die Oberhand. Erst auf den letzten Seiten findet eine „Konversion" statt. Die Konversion fällt stark aus der Struktur des Romans heraus. Wie ein Deus ex machina tritt Eulalia erst im dritten Kapitel des letzten Teils auf - davor spielt sie überhaupt keine Rolle, ja sie wird nicht einmal erwähnt. Torrente scheint Eulalia ausschließlich zum Zweck der Bekehrung einzuführen. Der naive, theatralische Ton der Szene steht außerdem nicht im Einklang mit dem kühlen, analytischen Stil des übrigen Textes. Das Pathos der Dialoge wirkt unfreiwillig komisch, etwa wenn die sündige Prostituierte die Heilige ankreischt (S. 465): ¡Eres el diablo, pero yo quiero un diablo macho para morir, no un diablo hembra! ¡Suéltame, zorra de Dios, suéltame la mano! (Du bist der Teufel, aber ich will einen männlichen Teufel zum Sterben, keinen weiblichen Teufel. Laß mich los, Gotteshündin, laß meine Hand los!) Das ursprüngliche Romanende stand offensichtlich besser im Einklang mit der Persönlichkeit des Helden und der Anlage des Romans. Die Verschleierungstaktik der regimekonformen Aufpfropfung war zu plump, um die Zensur zu täuschen, denn zwei der urteilenden Zensoren hoben die Oberflächlichkeit der Bekehrung hervor; der katholische Zensor Andrés de Lucas schreibt:282 El autor la [la novela, d. V.] titula „Historia de una conversión". La conversión, sin embargo honda y sincera, por un fin puramente espiritual, apenas se vislumbra en el protagonista que lucha siempre en medio de dudas y desfallecimientos. (Der Autor nennt ihn [den Roman, d. V.] „Geschichte einer Bekehrung". Die Bekehrung läßt sich, auch wenn sie tiefgehend und aufrichtig zu einem rein geistigen Zweck gemeint ist, am Helden kaum wahrnehmen, der ständig gegen Zweifel und Schwächen kämpft.) Der Kommunikationsprozeß auf der Basis von Doppelcodierungen 283 ist in diesem Fall gescheitert, denn die Inkohärenz der Bekehrung wirkte nicht nur als
como un soplo sobre su alma, que la dejase desvalida de los recursos habituales. No creía en el razonamiento de George, porque no creía en Dios, pero sentía sobre sí la fuerza de sus argumentos ...". („Als Javier das hörte, suchte er wütend nach Argumenten, um ihn zu widerlegen, mutige, geistvolle oder zynische Lügen, die gleichzeitig seine Liebe und seine Unentschlossenheit verbargen. Aber die Anwesenheit von George war wie ein Hauch auf seiner Seele, der ihn seiner gewöhnlichen Mittel beraubte. Er glaubte nicht an die Logik von George, weil er nicht an Gott glaubte, aber er fühlte die Kraft seiner Argumente ..."). 282 AGA 7161, exp. 3045, 1943. Dieses und alle anderen Gutachten zu Javier Marino sind im Anhang aufgeführt. 283
Vgl. „Allgemeiner Zensurteil".
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Störsignal auf den kritischen Leser und motivierte ihn, nach einer subversiven Subbedeutung im Text zu suchen, sondern sie alarmierte auch den Zensor.
Der kurze Traum vom literarischen Erfolg - die Reaktion der Zensur und der Kritik Drei Zensurgutachten liegen zu Javier Marino vor - zwei positive und ein negatives. Zusätzlich gibt Torrente den Inhalt eines Gesprächs mit Zensurchef AriasSalgado in der Neuauflage von 1985 wieder. Die beiden falangistischen Zensoren Leopoldo Panero und José María Peña Mesa 2 8 4 befürworteten die Veröffentlichung, da sie die unmoralischen Szenen des Buches und seinen „rauhen Realismus" durch das moralische Ende vollauf gerechtfertigt sahen. Panero, ein Dichter aus dem Intellektuellenkreis um Ridruejo, fand, daß die „Reinheit des christlichen Lebens" durch den Kontrast mit dem morbiden Pariser Ambiente besonders gut herausgearbeitet sei. 285 Auch Peña Mesa nahm die Bekehrung des Protagonisten scheinbar für bare Münze und betonte die „subtile Apologie patriotischer, moralischer und religiöser Werte". 2 8 6 Es ist möglich, daß beide Zensoren den jungen Torrente - durch eine bewußt oberflächliche Lektüre aus Sympathie für den falangistischen Kameraden - decken wollten, zumindest Panero dürfte Torrente aus Burgos persönlich bekannt gewesen sein. Jedenfalls verloren die Zensoren kein Wort über die Ambiguität des Romans und unterschlugen dadurch den eigentlich zensurrelevanten Aspekt. Das Buch erschien, und ab Dezember 1943 lag Javier Marino in den Schaufenstern der Buchhandlungen aus. Die Kritiker reagierten zum Teil lobend, zum Teil ablehnend auf den neuen Roman. 287 J. M. Sánchez-Silva kritisierte im November 1943 in Arriba nicht nur den maßlosen Umfang des Romans, sondern besonders die zynische Haltung des Autors sowie seine freizügige Sprache. Auch der Kritiker von Pueblo, José Antonio Cortázar, nahm Anstoß am „kruden, anstößigen Sprachstil" („Un lenguaje crudo e hiriente") wie er in der vom Regime wenig geschätzten „novela tremendista" gepflegt wurde. Beide Kritiker sahen in Magdalena die eigentliche positive Heldin des Romans. Interessant ist, daß Torrentes ModifikationsStrategie auch bei ihnen offenbar aufging. Cortázar lobte ausdrücklich die regimekonforme Konversion Marifios.
284
Die Namen dieser eigentlich anonymen Zensoren konnten durch einen Vergleich ihrer Unterschriften auf den Zensurgutachten mit den Unterschriften in den Gehaltslisten dieser Zeit ermittelt werden.
283
se ofrecen como contraste y documento vivo algunas escenas rudas y realistas que en el fondo sirven para subrayar' la diferencia entre la pureza de la vida cristiana y el ambiente morboso, grosero y triste de determinados grupos sociales cosmopolitas y desentrañados de todo vínculo espiritual profundo." Exp. 3043, AGA 7161, 1943.
286
Ebenda: „Una sutil apología de los valores patrióticos, morales y religiosos."
287
Vgl. Schmolling 1990, S. 281-283.
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Gleich nach der Veröffentlichung hatte sich der junge Torrente um einen offiziellen Schriftstellerpreis beworben. Doch einer der Juroren war der katholische Zensurchef Arias-Salgado, der den Bewerber nicht mit nationalen Ehren dekorierte, sondern sein Buch kurzerhand verbot. 288 In zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten setzte Arias dem Autor detailliert die Gründe fllr die Konfiszierung auseinander • das Resultat einer gewissenhaften Analyse, die sich in etlichen Punkten mit der Untersuchung dieser Arbeit deckt: 289 a) Moral •
Das unmoralische Ambiente von Paris wird vom Autor nicht genügend verurteilt.
•
Die Beziehungen zwischen den Figuren des Romans geben kein gutes Beispiel ab und bleiben bis zum Ende unmoralisch. Die moralischen Skrupel des Helden wirken aufgesetzt.
b) Politik •
Der Held vertritt eine ambivalente politische Position. Die ideologische Festigkeit wirkt falsch; der Schluß ist nicht überzeugend; die Bekräftigung seiner Prinzipien erfolgt eher aus eigennützig-persönlichen, denn aus patriotischen Motiven.
•
Mariflo sei kein „wahrer Spanier", sondern ein von ausländischen Werten beeinflußter Pseudointellektueller, der keine wirklichen patriotischen Gefühle kenne und feige die Flucht vor dem Bürgerkrieg ergriffen habe.
•
Sympathielenkung im Buch: die positive Darstellung einer Kommunistin und eines griechisch-orthodoxen Christen sind inakzeptabel.
c) Religion •
Mariflo kennt - bis zum Schluß - keine wirklichen religiösen Gefühle.
•
Die griechisch-orthodoxe Religion wird zu positiv, der Katholizismus zu abwertend dargestellt.
•
Verunglimpfung der katholischen Sakramente: die Beichte des Helden wird im Roman abgewertet.
•
Bekehrung des Helden: er hat die Gnade Gottes nicht verinnerlicht, sondern zweifelt permanent daran.
288
Schmolling vermutet, besonderen Anstoß habe Marifios kritisch-rationales Verhältnis zur Glaubensfrage erregt: „Im Gegensatz zu den bisher analysierten Bürgerkriegsromanen behandelt dieser die Identiät des Helden unter dem leitenden Gesichtspunkt der Möglichkeit von Normennegation in bezug auf die Institutionen Staat und Kirche." (S. 279).
289
Torrente gibt das Gespräch inhaltsgemäß im Vorwort zu der Seix Barrai-Fassung von 1985 wieder, S. 7-10.
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Um die Konfiszierung des Romans zu rechtfertigen, forderte Arias-Salgado eine neue Zensurexpertise an und setzte dafür den „Asesor Eclesiástico" Andrés de Lucas ein. 290 Lucas wiederholt im Gutachten vom März 1944 einige von Arias' Argumenten und deklariert den Roman im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern als „schädlich" für die „große Masse der ungebildeten Leser":291 Besonders stört den Zensor die detaillierte Darstellung heterodoxer Ideen im Roman - selbst wenn der Autor diese nicht billige. Considero esta obra realmente nociva y perjudicial para una gran masa de lectores poco formados: I. Por el fondo crudamente realista de toda la obra. El fin no puede justificar los medios. Aunque el fin del autor sea, sin duda, noble y moralizador, los medios son, sin embargo, desproporcionados. 2. Por la descarnada descripción de frecuentes escenas inmorales ... 3. Por la detallada exposición que de sus teorías revolucionarias e ideas inmorales (aunque el protagonista se oponga a ellas) hacen algunos personajes de la novela ... 4. Por cierta (sie) frases groseras y palabras de mal gusto ... 5. Por la descripción del ambiente estudiantil de la Ciudad Univ. de Paris, tan lleno de frivolidad, como falto de moralidad, (ich halte dieses Werk für wirklich schädlich fllr die große Masse der wenig gebildeten Leser: I. Aufgrund des kruden, realistischen Hintergrundes des ganzen Werkes. Das Ziel kann nicht die Mittel rechtfertigen. Auch wenn das Ziel des Autors sicher nobel und moralisierend ist, sind die Mittel doch maßlos. 2. Aufgrund der schamlosen Beschreibung häufiger unmoralischer Szenen ... 3. Aufgrund der detaillierten Darlegung, die einige Personen des Romans von ihren revolutionären Theorien und unmoralischen Ideen machen (auch wenn der Autor dagegen ist) ... 4. Aufgrund einiger anstößiger Sätze und Worte schlechten Geschmacks ... 5. Aufgrund der Beschreibung des Studentenmilieus des Campus von Paris, das voller Frivolität ist und jeglicher Moralität entbehrt.
Torrentes kurzes RomandebUt endete also unmittelbar nach der Veröffentlichung mit der definitiven Konfiszierung seines Buches, bis 1977 blieb Javier Marino von der Bildfläche verschwunden. Der Chefzensor Arias-Salgado war zwar ideologisch unerbittlich, doch er wollte sich zumindest korrekt gegenüber dem jungen Schriftsteller verhalten - er ließ Torrente nach Aussage des Autors ein Ausfallhonorar zahlen.
2.4. Das kritische Potential des Romans und seine Tarnstrategien Wie gezeigt, begann sich Torrente in der Zeit, als er an Javier Marino schrieb, von der offiziellen Politik zu distanzieren, so daß der Zeitpunkt der Textgenese in etwa mit der politischen Desillusion des Autors zusammenfällt. Torrentes Distanz zum Regime hat scheinbar paradoxerweise gerade mit seinen falangistischen Wurzeln zu tun. Denn die Sozialrevolutionären Utopien der Falange erwiesen sich ab 1942 als inkompatibel mit den Werten Francos. Meine These für Javier Marino lautet deshalb: Torrentes aufkeimende kritische Haltung gegen290
Vgl. Schmolling 1990, S. 282.
291
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über dem Franquismus deutet sich in seinem ersten Roman an. Allerdings verdeutlichen sich diese Zweifel erst 1945 in seinem zweiten Roman El golpe de Estado de Guadalupe Limón.292 Darin thematisiert er seine politische Glaubenskrise, indem er beschreibt, wie ein politischer Führer zum Mythos stilisiert wird eine deutliche Anspielung auf den Umgang des Regimes mit Falangefìihrer José Antonio Primo de Rivera. Es stellt sich die Frage, ob und wie Torrente über die gezeigten Fälle hinaus ein regimekritisches Potential in seinen Erstlingsroman einbrachte und inwieweit er sich beim Schreibakt selbst zensierte. Torrentes eigene Aussagen dazu erscheinen widersprüchlich.293 Er behauptet, in Javier Marino noch keine gezielten Umgehungsstrategien entwickelt zu haben, da er mit seinem Debütroman zum erstenmal mit der Bücherzensur in Kontakt geraten sei. Andererseits gibt er zu, daß er bereits damals gewisse Vorstellungen von den Tabus des Regimes im Kopf gehabt habe, die sich freilich erst im Verlauf des Regimes konkretisierten. Diese Aussage läßt sich untermauern durch seine Erfahrungen als Theaterkritiker, denn durch seine journalistische Arbeit kannte er zumindest die Kriterien der Pressezensur. Naheliegend, aber empirisch nicht belegbar ist daher in jedem Fall eine unbewußte Selbstzensur. 2.4.1. Das Analyse-Vorhaben Zunächst sollen die Figurenperspektiven im Text dargestellt werden. Figurenperspektiven bezeichnen die weltanschaulichen Positionen der Figuren; sie umfassen nicht bloß ihre politischen und religiösen Orientierungen, sondern darüber hinaus auch moralische Prinzipien, Lebenseinstellungen und Wertvorstellungen, die sie aufgrund ihrer Herkunft prägen. In den darauffolgenden Schritten zeige ich, wie die Figurenperspektiven textintem bewertet werden und welche dialogischen Wechselbeziehungen sie eingehen.294 Am Ende des Kapitels wird die Frage diskutiert, ob man im Fall von Torrentes Konfrontation konkurrierender Figurenperspektiven von Dialogizität im Sinne Bachtins293 sprechen kann und ob echte Dialogizität in Romanen, die in Diktaturen entstehen, überhaupt möglich ist.296 292
Torrente Ballester: Obra compleia, Bd. 1, S. 555-848.
293
Interview vom 8. Februar 1994.
294
Eine ähnliche Vorgehensweise schlägt Michail Bachtin zur Analyse der Redevielfalt im Roman vor, in: Rainer Grübel (Hg.): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt 1979, S. 294f. Bachtin fordert 1. den Bestand der Stimmen aufzudecken, 2. das „Ausmaß der Entfernung jeder Sprache von der letzten Sinninstanz des Werkes" zu untersuchen und 3. die dialogischen Wechselbeziehungen der Stimmen zu analysieren - dies alles vor dem Hintergrund der Redevielfalt außerhalb des Werkes.
295
Bachtin entwickelt und verwendet sein Dialogizitätskonzept in: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971.
296
Schmolling (1990: 284) geht davon aus, daß der Roman in seiner ursprünglichen Fassung einen gewissen Wertepluralismus sowie die Möglichkeit institutionaler Nor-
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Für die Analyse der Figurenperspektiven habe ich zwei Oppositionen gebildet, die sich als roter Faden durch den Text ziehen: die Opposition rechts/links und die Opposition ideologieorientiert/undogmatisch; beide werden bei Torrente von der Opposition Schein/Sein überlagert. Die Opposition ideologieorientiert/undogmatisch ist von Bachtins Unterscheidung „pathetisches Wort"/ „humanes Wort" abgeleitet. 297 Mit dem „pathetischen Wort" meint Bachtin das monologische, klischeehafte, heroisierende und hohle Wort der Apologeten, während er mit dem „humanen Wort" das dialogische, individuelle und authentische Wort bezeichnet, das den wahren Intentionen und der wahren menschlichen Expression angemessen ist. Im Zentrum des „pathetischen Wortes" steht eine Ideologie, im Zentrum des „humanen Wortes" steht der Mensch. Bachtins Opposition impliziert im Sinne seines ideologiekritischen Ansatzes eine negative Bewertung des „pathetischen Wortes" und eine Aufwertung des „humanen Wortes". Die Bachtinsche Opposition möchte ich auf Javier Marino übertragen, denn ich gehe von folgender Vermutung aus: Torrente vertritt wie Bachtin eine ideologiekritische Weltsicht. In seinem Werk zerstört er das „pathetische Wort" sämtlicher Ideologien (einschließlich der franquistischen) und wertet statt dessen ein undogmatisches, „humanes" Wort (und vor allem Handeln) auf. Dies kommt einer Regimekritik gleich, da das franquistische Regime zu jener Zeit stark ideologisiert war und gewaltsam einen monologischen Diskurs oktroyierte, in dem keine diskursive Abweichung geduldet wurde. Bachtin bezieht die Opposition „pathetisches Wort"/„humanes Wort" auf die Struktur des Gesamttextes: stehen die verschiedenen Positionen in einem Werk im gleichberechtigten Dialog oder sind sie einer dominanten Perspektive untergeordnet? Gleichzeitig untersucht Bachtin aber auch das dialogische Wort am einzelnen Perspektiventräger: wie äußert sich dialogisches Sprechen in der konkreten Figur? 298 Beide Fragestellungen gehen auch in die Analyse von Javier Marino ein. Zur Tarnung des regimekritischen Potentials kommen im Roman verschiedene Umgehungsstrategien zum Einsatz, die durch gezielte Ambivalenzen den Zensor täuschen sollen. Der Roman wird überwiegend aus der Perspektive des reaktionären Marifio fokalisiert, der zugleich als handelnde Figur und dogmatischer „Re-
menverweigerung erkennen läßt, meint aber, diese Haltung werde durch die Figur des Antihelden wieder zurückgenommen. 297 298
Bachtin 1979, S. 274-79.
Das dialogische Wort ist für Bachtin (1971: 222f.) das an der „fremden Rede" ausgerichtete Wort, darunter faßt er so verschiedene Verfahrensweisen wie die Dialog-Replik, die Parodie oder die Stilisierung. Er entwickelt eine ganze Systematik des dialogischen Wortes. Wie das dialogische Wort in den Protagonisten Dostojewskis umgesetzt wird, zeigt Bachtin in seiner Analyse, S. 228-284. In einem nächsten Schritt untersucht er darauf aufbauend Dialogizität als Konstruktionsprinzip des Romans, S. 284-302.
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flektor" auftritt. 299 Der Protagonist erfüllt damit die Rolle einer regimekonformen Bewertungsinstanz, gleichzeitig werden seine Urteile aber durch seine eingeschränkte Zuverlässigkeit relativiert. Durch Kontrast- und Korrespondenzbezüge kommentieren sich die Figuren zudem indirekt gegenseitig - der komplizenhafte Leser kann daraus immer wieder Schlußfolgerungen ableiten, die den reaktionären Urteilen Mariflos zuwiderlaufen. 2.4.2. Versuchte Meinungsvielfalt - konkurrierende Figurenperspektiven im Text Die Figurenperspektiven gruppieren sich auf einer ersten, oberflächlichen Ebene um den grundsätzlichen Gegensatz rechts/links. Dieser Gegensatz ist für das franquistische Regime relevant in der Erwartung einer möglichst positiv dargestellten Rechten und einer negativ dargestellten Linken.
Gute Rechte, linke Schlechte? - Das Personal in „Javier Marino" und ihre Positionen: Der Autor kontrastiert in Magdalena und Carlos Bernárdez zwei unterschiedliche kommunistische Vertreter. Beide verhalten sich auf der ideologischen Ebene dogmatisch, ihr Wesen („fondo de humanidad") konterkariert jedoch aus unterschiedlichen Gründen ihre Ideologie. Der Leser erhält den Eindruck eines „guten" und eines „schlechten" Repräsentanten des Kommunismus. Carlos Bernárdez, ein intelligenter, aber arbeitsscheuer und gesellschaftlich gescheiterter Bohemien, vertritt eine gewalttätige, eigennützige Vision des Kommunismus, wie sie rechten Vorurteilen entspricht (S. 166f.). 300 Sie impliziert die Gleichsetzung einer lockeren Sexualmoral mit der Revolution, die Vision eines brutalen Aufstands durch die „furia popular", bei dem Kirchen geschändet und die Frauen der Bourgeoisie vergewaltigt werden sowie die Rache der Unterdrückten an den Besitzenden. Carlos legt sein Konzept vom Kommunismus im Dialog mit Marifio dar, und zwar in stark emotionalisiertem, doktrinärem Ton, der Carlos' persönliche Ressentiments gegenüber Marifio als arrogantem, wohlhabenden Klassenvertreter zum Ausdruck bringt. An anderer Stelle äußert er sich jedoch sehr viel pragmatischer über die Revolution: „Cuando triunfe cualquier revolución, procuraré agarrarme a un puesto oficial y tirar así el resto de mi vida". („Wenn irgendeine Revolution triumphiert, werde ich versuchen, einen offiziellen Posten an mich zu reißen und so den Rest meines Lebens zu verbringen", S. 157). Eine ganz andere Art von Kommunismus vertritt Magdalena, die positive „Heldin" des Romans. Für die adelige Marxistin ist die Ideologie Religionsersatz -
299
Das Prinzip des Reflektors wird unten erklärt in „Das Spannungsverhältnis zwischen Erzähler und Reflektor".
300
Diese und alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf Torrente Ballester: Obra Completa, Bd. 1.
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aus Desillusion über die heuchlerische Moral ihrer Klasse hat sie sich von den großbürgerlichen Werten und dem Katholizismus abgewandt. Im Unterschied zu Bernárdez nimmt sie die Ideologie wirklich ernst (S. 277): Kommunismus bedeutet für sie eine gerechtere Gesellschaft, die sich fiir Arme und Unterdrückte einsetzt, die Überwindung von Klassenkampf, Macht und Ausbeutung. Magdalenas Position wandelt sich im Verlauf des Romans von einer extrem ideologieoientierten zu einer humanen, undogmatischen Haltung. Eine gewisse Tarnung ihrer Position gegenüber der Zensur besteht in ihrer Zugehörigkeit zum Adel; Magdalena erscheint trotz ihrer Parteizugehörigkeit positiv, aber sie ist eigentlich gar keine „echte" Kommunistin, sondern eine wohlerzogene, alles andere als proletarische Idealistin. Der Repräsentant des Anarchismus, ein idealistischer spanischer Student namens Antón Meillet, vertritt im Dialog mit Marifio und anderen reaktionären Studenten eine naive und radikale Konzeption anarchistischer Lebensgemeinschaft mit Vegetariertum auf dem Lande, Nudismus und Körperkult (S. 298f.). Die Verwirklichung egalitärer Prinzipien, meint Meillet, erfordere absolute sexuelle Freiheit, inklusive Inzest und Sodomie. Meillets Ausführungen werden im Text resümiert als „tópicos naturistas de la literatura ácrata" („naturverherrlichende Klischees der anarchistischen Literatur', S. 298). Torrente läßt zudem einige gemäßigte Linke auftreten, die - entgegen den Erwartungen des Regimes - positiv und respektvoll dargestellt werden. Es handelt sich dabei jedoch um Positionen von Randfiguren. Hier zwei Beispiele, die auf die Zensur besonders provokant gewirkt haben müssen. Da ist einmal der gebildete Historiker und Spanienkenner Jean Cassou, 301 der auf einer republikanischen Parteiveranstaltung in einer vom personalen Erzähler referierten Rede überraschend unverhüllt Kritik am Regime übt, indem er die aufständischen Militärs als „Alliierte des Faschismus", als „Feinde der Freiheit" und „Verteidiger der Tyrannei" bezeichnet (S. 226). Gleichzeitig lobt der Redner die sozialen Reformen der Zweiten Republik und kritisiert, die Franquisten brächten diese Errungenschaften durch ihre reaktionäre Politik in Gefahr. Andererseits fährt Torrente einen französischen katholischen Priester ein, der sich entgegen der „Kreuzzugspolitik" des Regimes mit der linken Regierung der Zweiten Republik solidarisiert. Dieser im Kern wertkonservative Abt erklärt Marifio, warum die republikanische Regierung aus katholischer Sicht legitimiert und der Aufstand der Militärs zu verurteilen sei (S. 273): Die Gläubigen schuldeten der rechtmäßigen Autorität absoluten Gehorsam. Diese heterodoxe Passage ging Chefzensor Arias-Salgado offenbar zu weit, denn er empörte sich, daß der einzige Priester im Roman, der explizit zu Wort kommt, ausgerechnet ein Anti-
301
Marifio erkennt „no sin dolor" („nicht ohne Schmerz") die Qualitäten des gebildeten Antifranquisten als Spanienkenner, Historiker und Übersetzer Philipps II. an (S. 226).
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franquist sei. 302 Torrente kontrastiert den antifranquistischen Priester pikanterweise mit einem orthodoxen spanischen Geistlichen, der Mariño im letzten Teil des Romans die Beichte abnimmt und auf dessen Glaubenszweifel mit bloßen Klischees antwortet. Wie die beiden Kommunisten Magdalena/Carlos kommentiert sich auch dieses Priester-Paar gegenseitig - im Kontrast zu den Argumenten des antifranquistischen Abtes erscheint die Position des rechten Priesters unauthentisch und verlogen. Ähnlich wie bei den linken Figurenperspektiven werden auch die rechten Positionen doppelt besetzt. Mit Marido und Tefas besetzt Torrente die Position der reaktionären Rechten mit einem Doppelgänger-Paar. 303 Tefas ist ein gläubiger Griechisch-Orthodoxer und fungiert als Mariflos „schlechtes Gewissen". Oberflächlich betrachtet entsprechen sie sich: Beide sympathisieren mit dem Faschismus, beide bezeichnen sich als gläubige Christen und Patrioten, beide sind in Magdalena verliebt, obwohl sie ein ideologischer Abgrund von dieser Frau trennt. Doch die Freunde widersprechen sich in ihrem Wesen: Was Mariño nach außen hin zu sein vorgibt, setzt Tefas in seinem Leben wirklich um. Mariño stellt sich im Dialog mit anderen Figuren (Außenperspektive) als stark ideologisierter Falangist dar. Er propagiert Patriotismus und heldenhaften Kampf im Spanischen Bürgerkrieg und einen äußerlichen Katholizismus in Verbindung mit einem reaktionären Frauenbild. Das traditionelle spanische Ehrenprinzip spielt eine zentrale Rolle in Mariños Denken. Sein standhaftes Festhalten daran spiegelt den franquistischen Rekurs auf die Werte des Siglo de Oro wider. Analog zur franquistischen Moral vertritt Mariño eine rein „äußere Ehre", die auf die Billigung durch die Öffentlichkeit abzielt. 304 Dieses Werteschema entspricht weniger den Prinzipien der Falange als dem reaktionären Denken des Franquismus. Um die textimplizite Kritik an diesen Werten vor der Zensur zu schützen, verlegt Torrente die Handlung in die Zeit vor der Diktatur und außerdem ins Ausland nach Paris, das fiir das Regime den Inbegriff von Unmoral und Liberalismus darstellte. In dieser zeitlichen und örtlichen Verschiebung läßt sich mit Sicherheit eine Tarnstrategie sehen, um den Meinungspluralismus und die sexuelle Ungezwungenheit des Romans zu rechtfertigen, die im Spanien der 40er Jahre undenkbar gewesen wären. Auch Mariños demonstrativ vorgetragene Regimetreue erscheint als plumper Versuch, den Zensoren eine Orthodoxie vorzuspiegeln, die das Werk nicht einlöst.
302
Vgl. Neuauflage von 1985, S. 9.
303 Vgl. Aglaja Hildenbrock: Das andere Ich. Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Tübingen 1986, S. 20. Mit dem Begriff „Doppelgänger" bezeichnet man einerseits zwei physisch oder psychisch ähnliche, aber andererseits auch zwei sich in ihrer totalen Gegensätzlichkeit ergänzende Figuren. 304
Vgl. Harald Weinrich: „Die fast vergessene Ehre", in: ders.: Literatur für Leser. Stuttgart u. a. 1971, S. 165.
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Marifto ist ein gespaltener Held. Seine apologetisch vertretenen Prinzipien werden in der Innenperspektive durch innere Monologe, Selbstanalysen und Tagebuchaufzeichnungen, aber auch durch sein Verhalten ständig konterkariert. Die falangistische Überzeugung ist der Desillusion gewichen, die vor dem Hintergrund von Torrentes eigener politischer Entwicklung durchaus als autobiographisches Bekenntnis verstanden werden kann (S. 274): Creía en la acción, en el deporte y en la poesía pura, y para clarificar su alma estudiaba matemáticas. Pero aquello había sido una ilusión, sin otro consuelo que el de ser ilusión colectiva. También lo era el desengaño: sus cantaradas andaban, como él, desorientados por el mundo, como quien ha vivido una mentira y, desprevenido, se encuentra con la realidad atroz y repelente. (Er glaubte an den aktiven Kampf, den Sport und die reine Poesie, und um seine Seele zu reinigen, studierte er Mathematik. Aber das war eine Illusion, ohne anderen Trost als den, daß es eine kollektive Illusion war. Genauso wie die Ernüchterung: seine Kameraden liefen wie er desorientiert durch die Welt, wie jemand, der eine Lüge gelebt hat und unvorbereitet auf die rauhe, abstoßende Wirklichkeit trifft.)
Tefas tritt auf der politischen Ebene wie Mariño als dogmatischer Ideologe auf. Er setzt sich für ein byzantinisches Imperium mit einer Komponente patriarchalischer sozialer Gerechtigkeit ein (S. 362f.). Er glaubt, daß sich die Prinzipien des Glaubens auf der politischen Ebene umsetzen lassen (eine Idee, mit der Torrente damals tatsächlich sympathisierte). Zwar liebäugelt Tefas mit dem Faschismus, lehnt aber die Diktaturen Hitlers und Mussolinis ab - vermutlich aus religiösen Gründen. Auf der religiösen Ebene vertritt er allerdings ein humanes Christentum, das auf Nächstenliebe und Barmherzigkeit fußt, indem es den Menschen, nicht das Dogma ins Zentrum stellt. Die Position der gemäßigten Rechten wird mit mehreren, eher negativ dargestellten Randfiguren besetzt. Hier zwei Beispiele: Als Pendant zu dem republikanischen Redner Cassou führt der Autor zwei konservative Redner ein: einen Theologen, der einen rationalistischen Katholizismus propagiert (S. 347f.), und einen bürgerlichen Philosophen, dessen Theorie zwar nicht ausgeführt wird, von dem Mariño aber mit großer Bewunderung spricht (S. 353). In beiden Fällen erweisen sich die propagierten Ideen als Schein, indem sie durch das Verhalten der Sprecher konterkariert werden: Der bürgerliche Philosoph Rothe vergnügt sich nach seinem Vortrag in einem dubiosen Nachtlokal; der Katholik Roselló legt keinen Wert auf den Inhalt seiner Ideen, sondern er sonnt sich nur eitel im Glanz seiner Brillanz. Die Opposition:
ideologieorientiert
gegen
undogmatisch
Die Darstellung der Opposition rechts/links hat gezeigt, daß sie von einer sehr viel relevanteren Opposition, ideologieorientiert/undogmatisch, überlagert wird. Ideologen und undogmatische Figuren finden sich in beiden Lagern - die neue Opposition läuft also quer zur Opposition rechts/links. Die Opposition ideologieorientiert/undogmatisch kann sogar innerhalb einer Person auftreten: Die Kom-
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munistin Magdalena verhält sich zunächst stark ideologieorientiert (sie gibt dem „Klassenfeind" Mariflo nicht einmal die Hand) und entwickelt sich aufgrund ihrer Liebe zu Mariflo hin zu einer undogmatischen Position. Mariflo verhält sich ideologieorientiert nach außen, er gibt sich dagegen in der Innenperspektive als zynischer Pragmatiker zu erkennen. Der griechisch-orthodoxe Tefas tritt in politischen Dingen ideologisch auf, verhält sich auf der religiösen Ebene aber undogmatisch (vgl. Kap. 2.4.4.b). Damit sind die drei Hauptfiguren ambivalent. Trotzdem unterscheiden sie sich, denn bei Tefas dominiert die undogmatische Komponente, ebenso wie nach ihrer Positionsveränderung bei Magdalena. Nur Mariflo hält (in der vermutlichen Originalversion) bis zum Schluß am dogmatischen Verhalten fest. 2.4.3. Gezielte Unklarheit bei der Bewertung der Figurenperspektiven Die Figurenperspektiven lassen sich wegen der Perspektivendominanz Mariflos nicht ohne Schwierigkeiten beurteilen. Mariflo ist die einzige Figur, die in der Innenperspektive gezeigt wird, alle übrigen können ihre Position höchstens in direkter Rede zum Ausdruck bringen. 305 Mariflo tritt nicht nur als handelnde Figur, sondern zugleich als Reflektor im Sinne Stanzeis auf. 306 Im Gegensatz zum Erzähler vermittelt der Reflektor das Geschehen in der Innenperspektive durch seine Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle; er äußert sie in inneren Monologen oder in der erlebten Rede. Der Leser gewinnt dadurch den Eindruck, direkt in den Protagonisten „hineinzuschauen". Stanzel geht davon aus, daß die Darstellung einer Figur in der Innenperspektive eine Privilegierung bedeute, weil die Sympathie des Lesers durch die Aufhebung der Distanz auf sie gelenkt werde. 307 Bei Javier Mariflo verhält sich dies jedoch anders, da die Innenperspektive bei ihm eher ein Mittel zur Konterkarierung seiner Lügen und zur Demonstration seiner Ambivalenz ist. Es liegt jedenfalls auf der Hand, daß die Aussagen des Reflektors subjektiv gebrochen sein müssen, der Leser kann seinen Urteilen nur bedingt trauen - insbesondere, wenn es sich um eine so stark ideologische Figur handelt wie Javier Mariflo. Zur Beurteilung seiner Position muß der Leser daher noch zusätzliche Informationen heranziehen. Einerseits wird der Reflektor selbst, wie später gezeigt, von den übrigen Figuren in der direkten Rede bewertet. Andererseits existiert ein personaler und dem Reflektor übergeordneter Erzähler, der zwar meist stark zurücktritt, aber an manchen Stellen seine Position durchscheinen läßt. Der Rückzug auf die Position des Reflektors ist eine klassische Strategie gegen die Zensur, denn der Autor kann damit argumentieren, gar nicht seine eigene, sondern nur die Position der Figur dargestellt zu haben. Dieses Argument gab in 305
Eine Ausnahme ist Magdalena, da der Leser von ihrem Innenleben in eingeschränktem Maße auch in Form eines Tagebuches erfährt, das Mariflo liest.
306
Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 6. Aufl. Göttingen 1995, S. 195.
307
Ebenda, S. I73f.
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einem berühmten Zensur-Prozeß den Ausschlag: So wollte der Staatsanwalt eine Passage in Madame Bovary wegen Verherrlichung von Ehebruch unter Anklage stellen. Der Verteidiger entlastete Flaubert jedoch, indem er nachwies, daß die Stelle in der Innenperspektive des Reflektors dargestellt war und die Gedanken Emma Bovarys, nicht die des Autors widerspiegelte.308 Das Spannungsverhältnis zwischen Erzähler und Reflektor Der personale Erzähler erfüllt in Javier Marino Uber weite Strecken bloß formale Funktionen, vor allem wenn er die zahlreichen Dialogteile einleitet und verbindet.309 An solchen Stellen ist er als Bewertungsinstanz kaum relevant. Dennoch wertet der Erzähler durchaus bei der Darstellung der Figuren im Text, dann allerdings häufig kontaminiert durch die Rede des Reflektors, bzw. bei der Darstellung des Reflektors selbst. Nicht immer lassen sich Reflektorrede und Erzählerrede eindeutig auseinanderhalten, sie überlagern sich häufig in sogenannten Textinterferenzen. Textinterferenzen sind nach Wolf Schmid Aussagen im Erzählbericht, bei denen gewisse Merkmale auf den Personentext und andere auf den Erzähltext verweisen. In ein und derselben Aussage sind also zugleich zwei Vermittlungsinstanzen präsent, die unterschiedliche Positionen vertreten können.310 Bachtin bezeichnet diese Vermischung von zwei verschiedenen „Stimmen" innerhalb einer Äußerung als „Hybridisierung" und sieht darin ein Zeichen von Dialogizität, da er davon ausgeht, daß die beiden darin wahrnehmbaren „Bewußtseine" sich gegenseitig kommentieren.311 Bachtins Behauptung wird von Schmid modifiziert, indem er von einer eindeutigen Hierarchie beider Stimmen ausgeht: Die übergeordnete Erzählerrede kommentiert bei Textinterferenzen indirekt die untergeordnete Figurenrede (z. B. durch Ironie in der erlebten Rede).312 Schmids Beobachtung trifft auf den Erzähler in Javier Marino zu, der ein distanziertes, manchmal ironisches Verhältnis zum Protagonisten entwickelt, wie folgendes Beispiel zeigt.313 308
Ebenda, S. 177.
309
Auf den „fast ausschließlich funktionellen Charakter des Erzählers bei der Dialogregie durch die verba dicendi und andere Inquitformeln" verweist Stanzel (S. 243). Zu den Merkmalen eines unpersönlichen Erzählers, bei dem die neutral darstellende Sprachfunktion überwiegt, vgl. auch Wolf Schmid: Der Textau/bau in den Erzählungen Dostoevskijs. München 1973, S. 113-116.
310
W. Schmid untersucht - Bachtin erweiternd - Textinterferenzen zwischen Personenund Erzählerrede in den Erzählungen Dostojewskis (S. 62f.).
311
Bachtin 1979, S. 244-46.
312
Schmid 1973, S. 142.
313
Auf die ironischen Elemente im Werk Torrente Ballesters geht - in allerdings sehr allgemeiner Form - Margarita Benitez ein in: Sàtira, ironia y parodia en las novelas de Gonzalo Torrente Ballester de Javier Marifio hasta La Saga/Fuga de J. B. Diss. Columbia University 1985, S. 83. Benitez zeigt, daß Ton-ente sehr häufig den wahren Charak-
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Mariño stellt sich in einem Tagtraum Magdalenas Selbstmord vor (S. 532f.). In diesem Szenario teilt er sich selbst die Rolle des mutigen Helden in einem spanischen Schützengraben zu, der in dem Moment von einer feindlichen Kugel getroffen wird, als er die Nachricht von Magdalenas Tod erhält. Doch die Vorstellung vom Heldentod kontrastiert nicht bloß stark mit Mariños bisheriger Feigheit - was seinen Tod wenig glaubhaft, j a lächerlich erscheinen läßt -, das übertriebene Pathos der Szene weist auch darauf hin, daß Mariño nur seine ideologischen Klischees abspult. Er erkennt zwar die Bedrohung für seine verzweifelte Freundin, aber er reagiert darauf selbstbezogen und inhuman, da er in der Fiktion seinen theatralischen Heldentod höher bewertet als die existentielle Gefahr für Magdalena (S. 533). Después sentía un golpe en la espalda, y caía. Dos camaradas lo llevaban a rastras. Acudía el médico. ¿Estaba herido? Sí, estaba herido en la espalda. Iba desfalleciendo. Iba a morir. Con el último aliento les decía: „Si he representado bien, aplaudid": frase un poco prematura, porque la herida no era mortal. (Dann spürte er einen Stoß auf dem Rücken und fiel. Zwei Kameraden zogen ihn. Der Arzt kam. War er verletzt? - Ja, er war am Rücken verletzt. Er würde in Ohnmacht fallen. Er würde sterben. Mit dem letzten Atemzug sagte er: „Wenn ich gut gespielt habe, dann applaudiert": ein etwas voreiliger Satz, denn die Wunde war nicht tödlich.) Die Ironisierung des Helden soll an dieser Textinterferenz etwas genauer untersucht werden. Der „Heldentod" Mariños wird in erlebter Rede dargestellt (ab „¿Estaba herido?" - der Frage des Arztes und der Kameraden - bis „Con el último aliento les decía"). Der pathetische Sprachduktus Mariños („iba desfalleciendo", „iba a morir", „con el último aliento") vermischt sich mit dem „objektiven" Bericht des Erzählers („les decía", „frase un poco prematura porque la herida no era mortal"). Burkhardt Wagner zeigt in den Werken Flauberts, wie sich gerade die erlebte Rede durch die Überlappung der Sprache des Erzählers mit der der Figur zur Ironisierung naiver, lächerlicher, klischeehafter oder unechter Gefühle eignet: 314 In der erlebten Rede wird ein Sachverhalt unter Beibehaltung der subjektiven Sprechweise der Figur in der „objektiven" Erzählform referiert. Der ironische Effekt entsteht dadurch, daß der Erzähler den Inhalt der Figurenrede scheinbar emst nimmt und in die Form eines objektiven Berichts kleidet - das aber ist eine Ehre, die sie nicht verdient, da sie eigentlich banal oder inhaltsleer ist. Auf diese Weise deckt auch der Erzähler bei Torrente die Sprache Mariños als hohl auf. Mariños Rede wird als das enthüllt, was Bachtin „monologisch" oder „pathetisch" nennt - eine klischeehafte Rhetorik, die nicht das Wesen der Dinge berührt. In diesem Verfahren steckt ein regimekritisches Potential, denn Mariños Vor-
ter seiner Personen ironisch überführt, indem er das Bild, das die Helden von sich selbst haben, kontrastiert mit dem davon abweichenden Bild der anderen. 314
Burkhardt Wager: Innenbereich und Äußerung. München 1972, S. 22-51.
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Stellungen vom Heldentod entsprechen genau der franquistischen Propaganda der vierziger Jahre, die den Spanischen Bürgerkrieg als „Cruzada" und die franquistischen Soldaten als Helden feierte. Verwirrspiel für den Leser - Textinterferenzen als
Verschleierungsstrategie
Um auf die Position des impliziten Autors zu schließen, müßte der Leser die Position des Erzählers strikt von der des Reflektors trennen, doch dies ist häufig gar nicht möglich. Der Roman gewinnt durch Textinterferenzen an Ambiguität und verschleiert die Sprechinstanzen: Korrespondiert eine Aussage mit der Meinung des Erzählers (Außenperspektive) oder des Reflektors (Innenperspektive)? Die Mehrdeutigkeit von Textinterferenzen kommt zustande, weil in der Überlagerung von Personen- und Erzähltext die Anteile beider Instanzen zu einer oft unauflösbaren Einheit verschmolzen werden, wobei sich nicht eindeutig klären läßt, wo die indirekte Wiedergabe des Personentextes endet und die reine Erzählerrede einsetzt. 315 Da sich die Textinterferenz formal als objektiver Erzählerbericht ausgibt, läßt sich der subjektive Anteil der Figur nur im Zusammenhang mit der Bedeutungsintention des gesamten Textes identifizieren. Der unbefangene Leser geht von einer objektiven Darstellung in der Erzählerrede aus, ohne den Anteil der Figurenrede im Text zu erkennen, da sie ja nicht explizit gekennzeichnet wird. Diese Strategie kommt in Javier Marino auffälligerweise gerade dann zum Einsatz, wenn ideologisch konfliktive Figuren dargestellt werden wie der Kommunist Bernárdez oder der Anarchist Meillet. Beide werden aus einer platten antikommunistischen Warte gezeigt, die sich aber nicht eindeutig dem Erzähler oder dem Reflektor zuordnen läßt (vgl. unten). Dies legt die Vermutung nahe, daß der Autor durch Textinterferenzen seine wahre Haltung verschleiern, aber gleichzeitig die Zensur zufrieden stellen wollte. Gemäß dem Zensurmodell im „Allgemeinen Zensurteil" liegen also auch hier zwei Textdimensionen vor: die oberflächliche für den konformen Leser besteht in der Identifizierung des Erzählers mit der Figur, die uneigentliche erfordert eine hermeneutische Leistung des Lesers, indem er solche Stellen als Textinterferenzen durchschaut, deren Werturteile der Figur und nicht dem Erzähler zuzuordnen sind. Diese Strategie zeigte durchaus Erfolg, denn in den Zensururteilen, die für die Autorisierung des Romans sprechen, wird die franquistische Ideologie des Helden mit der Position des Autors gleichgesetzt. 316 Selbst einige Literaturkritiker identifizieren die Haltung Torrentes mit derjenigen Mariflos 317 - deutliche Belege für die irreführende Am313
Vgl. Schmid 1973, S. 146. Schmid sieht in dieser Uneindeutigkeit lediglich ein ästhetisches Verfahren, es liegt jedoch auf der Hand, daß sich diese Uneindeutigkeit auch gezielt als Tarnstrategie gegen die Zensur einsetzen läßt.
316 317
Vgl. „Zensurgeschichte von Javier
Marino".
Vgl. Soldavila-Durante 1977, S. 48. Luis Negrö analysiert Javier Marino als Beispiel filr die regimekonforme Literatur der Frühphase des Franquismus, weil der Held ein Falangist ist. Dabei nimmt er nicht nur - wie die Zensoren - die propagandistischen Phrasen Mariflos für bare Münze, sondern geht stillschweigend von der Einheit zwi-
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bivalenz des Verfahrens. Die Funktionsweise von Textinterferenzen als Tarnstrategie soll an einem Textbeispiel gezeigt werden. Die Passage besteht aus einer narrativisierten Rede des Kommunisten Carlos Bernárdez (S. 206): Llevaba propósitos más elevados. Los conventos saqueados ofrecían ocasión de pillaje, y las monjas exclaustradas y perseguidas, grandes posibilidades de diversión. La lista de Don Juan no contaba ninguna religiosa todavía, pero la guerra de España podía ampliar la lista. (Er hatte noch höhere Ziele. Die geplünderten Klöster boten Gelegenheit zur Kriegsbeute und die verfolgten Nonnen außerhalb der Klausur große Vergnügungsmöglichkeiten. Die Liste von Don Juan enthielt noch keine Nonne, aber der Krieg in Spanien konnte die Liste verlängern.) Die Textstelle gibt den Inhalt formal aus der Erzählerperspektive wieder, aber nicht objektiv, sondern kommentierend aus einer reaktionären Sicht. Für die Interpretation des Gesamttextes ist nun relevant, ob diese Bewertung einem distanzierten, übergeordneten Erzähler oder dem ideologisch befangenen Reflektor zuzuordnen ist. Ist Carlos „tatsächlich" so verabscheuenswtlrdig, wie er in der Passage dargestellt wird (Urteil des Erzählers), oder entspricht das Urteil vielmehr Marifios Feindbild vom Kommunismus? Die Stelle liegt eingebettet in ein Streitgespräch zwischen Mariño und Carlos, in dem Carlos von Mariflo in direkter Rede ganz ähnlich bewertet wird („Eres el mismo sujeto despreciable, un tipo vil". - „Du bist ein verachtenswertes Subjekt, ein abscheulicher Typ", S. 206). Das heißt, die zitierte Passage entspricht inhaltlich offensichtlich Marifios Bewertung und seinem polemischen Sprachduktus („propósitos más elevados", „grandes posibilidades de diversión", „la lista de Don Juan"). Geklärt werden muß aber auch die Position des Erzählers zu Carlos, denn er könnte j a dieselbe Meinung wie Marifto vertreten. Wahrscheinlicher ist allerdings gemessen am Gesamtkontext eine distanzierte Position. Dann wäre die Aussage nicht bloß eine Information über Carlos („Carlos ist ein Nonnenschänder"), sondern zugleich über Mariño („Mariflo ist ein Reaktionär und stellt die Rede Carlos' gemäß den ideologischen Stereotypen dar")- Letzteres bedeutete für den Leser, daß er der Bewertung dieser Aussage nur bedingt trauen kann. Die Passage bleibt ambivalent, die Position des Erzählers läßt sich schwer dingfest machen - gerade deshalb wirken Textinterferenzen als zensursichere Tamstrategie. 2.4.4. Die Rechten sind nicht immer gut - Bewertung der Figuren Abgeleitet von der Ausgangshypothese, daß Torrente in seinem Roman eine ideologiekritische, desillusionierte Weltsicht vertritt, stelle ich folgende Vermuschen Held und Autor aus, in: L'exaltation du franquisme dans le roman et le récit en Espagne à partir de 1936. Diss. Sorbonne, Paris o. J., S. 211-223. M. Benitez (1985: 79) betont dagegen, daß die Protagonisten in den frühen Romanen Torrentes vom Autor eigenständige, höchstens von autobiographischen Elementen beeinflußte Figuren seien und häufig ironisch gezeichnet würden.
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tung auf: Die Positionen dogmatischer Vertreter werden in Javier Marino eher negativ, während die Positionen undogmatischer Vertreter eher positiv dargestellt werden. In die Bewertung der Figurenperspektiven fließen folgende Faktoren ein: die Präsentation der Figuren durch den Erzähler bzw. Reflektor, die Kommentierung ihrer Positionen durch andere Figuren, ihr Verhalten, Kontrast- und Korrespondenzbezüge zu anderen Figuren. 318 Ich will mich bei der Analyse im wesentlichen auf die zentralen Positionen beschränken. Da sich die Opposition rechts/links für die Bewertung der Figuren als sekundär erwiesen hat, wird nur noch mit der zweiten Opposition weitergearbeitet.
Die Bewertung der dogmatischen Positionen Hauptvertreter der rechten Dogmatiker sind der reaktionäre Held Mariño selbst sowie sein positives Pendant, der griechisch-orthodoxe Student Tefas. Diese zentralen Bedeutungsträger sollen mit der Randfigur des faschistischen Rumänen Antonio Lupescu verglichen werden, einem stark ideologisierten Repräsentanten, der die faschistischen Klischees von Antisemitismus und Antikommunismus reproduziert. In seiner Radikalität fungiert er als rechtes Pendant zum oben erwähnten Anarchisten Meillet. Torrente hat das Paar nach eigener Aussage als Zugeständnis an das Regime eingefügt und in der Neuauflage von 1985 wieder gestrichen. 319
a) Javier Marino, ein wankelmütiger Antiheld Die negative Bewertung Mariftos durch den Erzähler wird auf der Ebene der Figuren bestätigt. Tefas konterkariert Mariflos Position besonders in religiöser Hinsicht. Er übt harte Kritik an einem rein äußerlichen Christentum, wie es Marifio repräsentativ für den spanischen Nationalkatholizismus vertritt: „No creo ofenderle si le digo, una vez más, que lo dudo. No creo en su catolicismo, bueno en todo caso para morir, pero no para vivir." („Ich glaube, ich verletze Sie nicht, wenn ich es Ihnen noch mal meine Zweifel ausdrücke: Ich glaube nicht an Ihren Katholizismus, der höchstens gut zum Sterben ist, aber nicht zum Leben." S. 267). Tefas argumentiert, Marifio begehe eine noch größere Sünde als Magdalena, wenn er sich ihrer nicht aus christlicher Nächstenliebe erbarme und sie entgegen dem spanischen Ehrenprinzip! - heirate. Dies ist ein starker Vorwurf nicht nur gegen den Protagonisten, sondern auch gegen die Moral des Franquismus - ein Vorwurf, den der Leser ernstnehmen muß, da Tefas als integerer Vertreter des christlichen Glaubens eine glaubwürdige Autorität darstellt. Tefas 318
Manfred Pfister gibt für seine Figurenanalyse im Drama einen ähnlichen Katalog von Komponenten an in: Das Drama. 4. Aufl. München 1984, S. 90. Wie wird die Figur dargestellt? Wie verhält sie sich? Wird sie durch den Handlungsablauf bestätig oder widerlegt? Gibt es eine Hierarchisierung der dargestellten Perspektiven? Wie werden sie gewichtet? Lassen sich Kontrast- oder Korrespondenzbezüge zu anderen Figuren herstellen, durch die sie sich gegenseitig erläutern? Auf welche Weise manifestiert sich die Haltung des Autors zu den verschiedenen Perspektiven im Text?
319
Interview vom 8. Februar 1994.
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erfährt Rückendeckung durch die Parallele zwischen Magdalena und ihrer Namensheiligen, die in der Legendenbildung mit der Sünderin im LukasEvangelium assoziiert wird - eine Autorität, die der Franquismus schwerlich in Frage stellen konnte. Jesus vergibt der Sünderin, als sie ihm Reue und Liebe bezeugt. 320 Vor dieser Folie wirkt Mariflos Beharren auf dem Ehrenkodex angesichts von Magdalenas authentischen Gefühlen buchstäblich pharisäerhaft. Die Zensoren haben diese subtile Kritik an den Werten des Franquismus entweder nicht bemerkt oder absichtlich Stillschweigen darüber bewahrt. Aber das Bibelzitat war nicht nur den katholisch erzogenen Autoren im Franquismus als Tarnstrategie heilig, sondern weist in der Zensurgeschichte eine ehrwürdige Tradition auf. 321 Auch der Kommunist Carlos Bernárdez durchschaut Mariños aufgesetzten Glauben und weist ihn - aus einer Perspektive völligen Unverständnisses - auf die provinzielle Lächerlichkeit seines Verhaltens hin: In der Weltstadt Paris brauche Mariño nicht den Moralapostel zu spielen. Doch Carlos besitzt offensichtlich nicht Tefas' Integrität, um Mariños Position glaubwürdig in Frage zu stellen. Allerdings bewertet sich Javier Mariño auch selbst. Dabei werden Innen- und Außenperspektive des Reflektors gezielt gegeneinander ausgespielt. Während der Protagonist im Dialog mit anderen seine propagandistischen Lügen verbreitet, bekennt seine innere Stimme den unaufrichtigen Charakter seiner Äußerungen. Für Mariños Unaufrichtigkeit lassen sich Gründe wie Eitelkeit, Selbstschutz oder sein „Image" anführen. Vor einer faschistischen Zeitungsverkäuferin gebärdet sich Mariño als fanatischer Falangist und kommentiert sein Verhalten im inneren Monolog parallel dazu als „Lügen" (S. 192). Als er seine Beziehung zu Magdalena reflektiert, gibt er zu, auch ihr gegenüber nur eine „kleine, lustige Farce" gespielt zu haben (S. 281): ... además, él representaba junto a ella una pequeña y divertida farsa que implicaba ciertos compromisos que no estaba decidido a cumplir, porque ni era católico ni sus simpatías políticas eran tantas que le empujasen a guerrear él también. (... außerdem hatte er ihr eine kleine, lustige Farce vorgespielt, die gewisse Kompromisse implizierte, die er nicht zu erfüllen bereit war. Denn er war weder katholisch, noch reichten seine politischen Sympathien soweit, daß er sich verpflichtet gefühlt hätte, in den Krieg zu ziehen.)
Der Leser kann aber auch auf die Unzuverlässigkeit der Figur schließen durch einen Vergleich zwischen Mariños Verhalten und seinen aggressiv vorgetragenen Prinzipien, die im Verlauf des Textes allesamt demontiert werden. So instrumentalisiert der Protagonist sein patriotisches Bekenntnis zum Bürgerkrieg lediglich zum persönlichen Nutzen. Im Gespräch mit dem ideologischen Gegner Bernárdez fingiert er seine Indifferenz in Bezug auf den Krieg, da die Aufständischen sowieso bald siegen würden (S. 204). Bei seiner Freundin Magdalena setzt 320
Lukas, 7,36-50.
321
Vgl. Kap.III.6. „Verfahren des beredten Schweigens".
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er hingegen auf ihr Mitgefühl, um ihre Zärtlichkeit zu wecken (S. 237 und 269). Gegenüber Tefas betont er die patriotische Notwendigkeit, mutig in den Krieg zu ziehen, um die Heirat mit Magdalena abzublocken (S. 435). Er signalisiert also verschiedenen Figuren unterschiedliche Haltungen, abhängig von der Wirkung, die er jeweils erzielen will. Seine wahre Haltung mag irgendwo dazwischen liegen - zwischen Furcht, Desinteresse und einem schlechtem Gewissen, weil er sich nicht mehr für seine Ideologie engagiert. Bei der Darstellung der Figurenperspektiven hat sich gezeigt, daß Torrente bevorzugt mit Paarbildungen arbeitet, die, so meine Vermutung, als Mittel indirekter Kommentierung fungieren, insbesondere, da der Erzähler häufig stark in den Hintergrund rückt und somit als Bewertungsinstanz wegfällt. Auf die Doppelgänger-Strukturen zwischen Marifio und Tefas wurde bereits hingewiesen, nun stellt sich die Frage, wie der Autor diese Strukturen zur Bewertung von Mariflo einsetzt. Bachtin faßt Doppelgängerstrukturen unter die dialogischen Kompositionsprinzipien. 322 Indem nämlich der Autor aus einem Widerspruch in einer Figur zwei Figuren macht, kann er beide darüber ins Gespräch bringen. Nach diesem Prinzip kontrastiert Torrente den franquistischen Antihelden Javier Mariflo mit dem gläubigen griechisch-orthodoxen Jorge Tefas. Tefas reißt seinem negativen Doppelgänger Mariflo die Maske vom Gesicht. Tefas' Kritik entspricht der „zweiten Stimme" Mariflos, wie sie bei diesem nur im inneren Monolog zum Ausdruck kommt - nur dort setzt sich der Protagonist „dialogisch" mit seinen laut geäußerten Phrasen der „ersten Stimme" auseinander. Kontrastbezüge bestimmen das Paar Marifio/Magdalena. Sie vertreten antagonistische Ideologien (ein Gegensatz, der sich jedoch als scheinbar erweist, da Magdalena ihre Ideologie schließlich aufgibt), aber sie sind auch in ihrem Wesen antagonistisch. Obwohl Magdalena - aus der Sicht des Regimes - der „falschen" Ideologie anhängt, erscheint sie mit ihrer selbstlosen Opferbereitschaft und ihrem moralischen, an höheren Werten orientierten Lebenswandel integerer als der ideologisch „korrekte" Mariflo. 323 b) Die Ambivalenz des griechisch-orthodoxen Jorge Tefas Bei der Bewertung von Tefas' Position muß man unterscheiden zwischen der politisch-ideologischen und der religiösen Ebene. Auf der politischen Ebene gehört Tefas zu den fanatischen Ideologen, und seine Ideologie wird wie die von Mariflo textintem in Frage gestellt. Auf einer politischen Veranstaltung vermittelt
322 323
Bachtin 1971, S. 35, 51 und 237-43.
In seinem Vorwort zu Javier Marino fragt sich Torrente Ballester mit kritischer Distanz zu seinem Frühwerk nicht ganz zu Unrecht, wie sich ein so ernsthaftes Mädchen wie Magdalena in einen „Schwachkopf' wie Javier Mariflo verlieben konnte, Obra Completa, S. 110.
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der Grieche ein pathetisches Bild seiner politischen Vorstellungen. 324 Er tritt in Bachtins Sinn „monologisch" auf, denn er spricht klischeehaft, apologetisch, propagandistisch. Tefas' Ideologie wird zusätzlich auf der Figuren-Ebene durch Mariflo und Magdalena negativ bewertet: Mariño macht sich über Tefas' Träume vom byzantinischen Imperium mit ironischer Distanz lustig (S. 362f. und S. 438) und qualifiziert den Freund als fanatischen Spinner ab (S. 184). Auch Magdalena steht Tefas' politischen Ideen distanziert gegenüber, wenngleich sie sich aus Achtung vor dem Freund respektvoller verhält als Mariño (S. 363). Schließlich werden die politischen Grundsätze der Figur aber auch auf der Verhaltensebene konterkariert, indem ihr Verhalten mit ihrer Utopie konfrontiert wird: Das mediokre, theatrale Ambiente der „byzantinischen Kaiserkrönung" - der Höhepunkt von Tefas' politischem Engagement - straft seine pathetische Rede von der Größe des byzantinischen Imperiums Lügen. Auf der religiösen Ebene ist die Figur hingegen ernst zu nehmen. Mariño wertet, um sich selbst zu schützen, Tefas' Religiosität als „Naivität" ab: „¡Qué admirable ingenuidad la de Jorge, y qué grande su corazón!" („Was für eine bewundernswerte Naivität besaß Jorge, und wie groß war sein Herz!", S. 268). Aber Marifios „zweite Stimme" bleibt doch nicht unbeeindruckt von Tefas. Der Leser ist bei der Beurteilung der Figur jedoch nicht ausschließlich auf das Urteil des Reflektors angewiesen, denn Tefas erhält ausreichend Gelegenheit, seine religiösen Prinzipien in direkter Rede darzulegen. Dabei zeigt sich die Überlegenheit seiner Argumentation, denn Tefas' Konzeption eines humanen Christentums erscheint inhaltlich differenzierter als Mariños klischeehaft aufgesetzter Katholizismus. Aber auch sein Verhalten wirkt kompetenter. Gerade in jenen Passagen, in denen Tefas' Rede mit der inneren Stimme Mariños korrespondiert, tritt er in echten Dialog mit seinem Gegenüber (S. 434f.): Hace algún tiempo le hablé a usted de Magdalena, y le hice un ruego que usted no pudo cumplir. No se lo reprocho. Pero hoy le haré otro muy distinto. Cuando se vaya a España, llévesela con usted. Ya sé que le pido el sacrificio de su honor, pero entienda que lo hago porque no comparto sus ideas. No quiero ofenderle, sino salvar a Magdalena. (Vor einiger Zeit habe ich mit Ihnen über Magdalena gesprochen, und ich bat Sie um etwas, das Sie nicht erfüllen konnten [Magdalena nicht mehr zu treffen, um ihr keine falschen Hoffnungen zu machen, d. V.]. Das mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf, aber jetzt bitte ich Sie um etwas ganz anderes. Wenn Sie nach Spanien
324 f g f a s f orc i e |-t e in byzantinisches Reich von Griechenland bis zum Ural und verherrlicht es mit pathetischen Worten (S. 443): „Y entonces habrá acabado para siempre nuestra esclavitud y la vuestra, rumanos, búlgaros, rusos y eslovenos, y la de todos los que adoran a Jesucristo y padecen bajo la tiranía y son perseguidos por la fe. La cruz se levantará sobre los campos." („Dann wird unsere Sklaverei für immer beendet sein, und auch eure, Rumänen, Bulgaren, Russen und Slovenen, und all derer, die Jesus Christus anbeten und unter der Tyrannei leiden, die für ihren Glauben verfolgt werden. Das Kreuz wird sich dann über die Felder erheben.")
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gehen, dann nehmen Sie sie mit. Ich weiß, daß ich Sie bitte, Ihre Ehre zu opfern, aber Sie verstehen, daß ich nicht Ihre Ideen teile. Ich will Sie nicht beleidigen, sondern Magdalena retten.)
Tefas sucht nach einer individuellen Lösung fllr das Paar. Dabei ist er im Gegensatz zum apodiktisch auftretenden Mariño fähig, seine Position zu revidieren: Als er merkt, daß sich das Paar trotz der zweifelhaften Absichten Mariños nicht trennt, erkennt er diese Realität ohne Rücksicht auf seine eigenen Gefühle für Magdalena und seine moralischen Bedenken an. Sein Gegenüber wird vom dialogischen Sprecher formal in die Rede miteinbezogen, indem Tefas Mariños Position und seine möglichen Einwände aufgreift („ya sé que le pido el sacrificio de su honor"), somit setzt er sich in seiner Rede mit den Argumenten des Gegenübers auseinander. c) Antonio Lupescu - eine faschistische
Pflichtübung
Antonio Lupescu erhält umfassend Gelegenheit, sich in der direkten Rede selbst darzustellen (S. 302-307) und entwirft von sich das Bild eines Helden, dessen Schicksal zu Herzen geht. Lupescu beichtet Mariño, wie er aus Rache die Mörder seiner Frau und seiner Kinder umgebracht hat. Er erklärt die grausame Tat der Mörder, sowjetischer Soldaten, mit der „Tyrannei der Juden" und der „sowjetischen Tyrannei". Diese ideologischen Plattitüden werden allerdings nicht weiter ausgeführt und wirken so aufgesetzt, daß sie wie eine ideologische Pflichtübung des Autors im Hinblick auf die Zensur erscheinen. Die eigentliche Geschichte konstituiert sich weniger durch Lupescus Racheakt, als durch Lupescus an Hiob erinnernde Prüfungen und Leiden. Der Rumäne überzeugt den Leser nicht als Faschist, sondern weil er sich menschlich bewährt hat: durch den Kampf um die Liebe seiner Frau und durch seine Bemühungen, die daraus resultierende Glaubenskrise zu überwinden. Die Position des Rumänen wird aus der Innenperspektive des Reflektors Marino bewertet: Der Zyniker Mariño ist beeindruckt von Lupescus Charakterstärke seine Reaktion verleiht Lupescus Aussage Authentizität: „El relato del rumano era una serie implacable de golpes asestados directamente a su corazón, contra los que no podía defenderse". („Die Geschichte des Rumänen war eine Reihe von unbarmherzigen Schlägen gegen sein Herz, gegen die er sich nicht wehren konnte", S. 306). Während Mariño Lupescus Liebesgeschichte mit seiner eigenen vergleicht, wird ihm die Banalität seiner ideologischen Probleme mit Magdalena bewußt. Der personale Erzähler tritt in der Bewertung des Rumäne,n zurück, denn seine Position wird weder in der langen Rede des Faschisten, noch in Mariños Innenperspektive offenbar. Die Bewertung der linken Dogmatiker soll sich auf die Kommunisten Magdalena und Carlos Bernárdez beschränken, zwei unterschiedlich bewertete Figuren derselben Ideologie.
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d) Zwei konträre Kommunisten - Magdalena und Carlos Bernárdez Wie bei der Bewertung Tefas' muß man auch bei Magdalena differenzieren zwischen ihrer Person und ihrer Ideologie. Ihre Person wird aus der Perspektive unterschiedlicher Perspektiventräger als vollkommen integer dargestellt: Tefas bezeichnet sie im Vergleich mit Marifio als die ernsthaftere, komplexere und humanere Persönlichkeit (S. 257), Sofia lobt ihre charakterlichen Qualitäten (S. 518); selbst Marifio ist sich ihres positiven Charakters bewußt (er betont, daß sie ihm moralisch „weit überlegen" sei, S. 341 f.). Was die Bewertung ihrer ideologischen Position betrifft, muß sich der Leser zunächst auf das Urteil des Reflektors Marifio verlassen, da die Figur aus seiner Perspektive eingeführt wird: Er bewertet ihre Ideologie als Verkleidung oder Maske, die zu dem Wesen des Mädchens im Widerspruch stehe (S. 241). Die Präsentation Magdalenas in der erlebten Rede ist klar von den Werturteilen des Reflektors durchsetzt; sie spiegeln Mariños eigene Interessen und sein Wunschdenken wieder, denn er findet Magdalena einerseits attraktiv und möchte sie positiv darstellen, lehnt aber andererseits ihre Ideologie ab und muß sie abwerten. Mariños ambivalentes Urteil wird im Verlauf des Romans allerdings auch durch andere Bewertungsinstanzen bestätigt. Der Reflektor erweist sich daher in diesem Fall als zuverlässig. Dennoch vertritt die Kommunistin ihre Ideologie glaubwürdig, denn ihr Leben entspricht ihrer Doktrin: Sie ordnet sich der Parteidisziplin unter (beispielsweise studiert sie auf Anordnung der Partei Sozialrecht), sie lebt diszipliniert und asketisch, sie opfert Zeit und Engagement der Partei. Wenn Magdalena sich in der direkten Rede über ihre Ideologie äußert, spricht sie zwar wie die übrigen Ideologen monologisch, indem sie voller Pathos die Parteiklischees reproduziert. Doch jenseits dieser Klischeehaftigkeit bestätigt ihr der Erzähler Glaubwürdigkeit (S. 240): Ahora, repetía lugares comunes y frases hechas de la propaganda revolucionaria. Pero su voz, profundamente personal, les daba vida y dignidad. (Nun wiederholte sie die Gemeinplätze und Klischees der revolutionären Propaganda. Aber ihre Stimme klang so persönlich, daß sie ihnen Leben und Würde gab.)
Marifio nutzt Magdalenas Ambivalenz gezielt aus, um ihre Utopie konsequent zu unterminieren - mit Erfolg. Denn Magdalenas Zweifel gewinnen die Oberhand, ohne daß sie sich jedoch von Mariños reaktionärer Position überzeugen ließe. Für sie bedeutet der Verlust ihres Glaubens eine Tragödie. Das Ergebnis dieser Niederlage ist die innere Leere (S. 351). Denn Magdalena braucht die sinnstiftende Utopie, um die als unbefriedigend empfundene Wirklichkeit zu ertragen. Nur unter diesen Umständen ist ihre radikale Verzweiflung verständlich, mit der sie Mariño ihre ideologische Niederlage gesteht: „Pero ahora ... estoy desolada, y me gustaría morir." („Aber jetzt bin ich verzweifelt, und ich möchte am liebsten sterben." S. 352). Der Glaube an die Liebe ersetzt bei ihr schließlich den Glauben an die Ideologie - und wird durch Mariños Weigerung, sie zu heiraten, ent-
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täuscht. Auch aus diesem Grund ist der ursprüngliche Schluß mit Magdalenas Selbstmord folgerichtiger als das aufgepfropfte happy end. Mit Carlos Bernárdez entwirft Torrente eine zu Magdalena ideologisch korrespondierende, aber menschlich kontrastierende Figur. Bernárdez stellt seine Konzeption vom Kommunismus wie Magdalena in direkter Rede dar, doch im Gegensatz zu ihr betont er, vermischt mit persönlichen Ressentiments gegen die ,.Ausbeuter-Klasse", die negativen Aspekte der Ideologie. Der Reflektor kommentiert Bernárdez' ideologische Ausführungen wie folgt in der Innenperspektive (S. 167): Javier había escuchado afectándose impasible, mas procuraba reconstruir el proceso emocional que él mismo había provocado. Todas aquellas cosas que decía impersonales, de clase contra clase, significaban un tú y un yo. Era el artista fracasado contra el hombre seguro, el amigo débil contra el fuerte, el hombre inteligente y abúlico contra el dueño de sí mismo. (Javier schien ungerührt zuzuhören, aber er versuchte, den Geftthlsausbruch zu rekonstruieren, den er selbst provoziert hatte. Alle Dinge, die Bernárdez unpersönlich sagte, von Klasse zu Klasse, bedeuteten ein „Ich" und ein „Du". Der gescheiterte Künstler lehnte sich auf gegen den selbstsicheren Mann, der schwache Freund gegen den starken, der intelligente und willensschwache Mensch gegen den Beherrscher seiner Gefühle.)
Diese Bewertung stimmt mit dem Eindruck überein, den auch Carlos' Selbstdarstellung vermittelt, selbst wenn der Reflektor ihn wie gezeigt an anderen Stellen stark vorurteilsbeladen bewertet. Abgesehen von Mariños verzerrter Selbsteinschätzung (die Analyse von Mariños Position hat ergeben, daß er seine Gefühle keineswegs gut beherrscht) scheint die Beurteilung des Reflektors hier als zuverlässig: Carlos ist intelligent, aber willensschwach (er fand zwar ohne Schwierigkeiten einen Job als Hauslehrer, gab ihn aber lustlos wieder auf)- Bernárdez ist als Dichter gescheitert und versucht, sich von einer Gesellschaft aushalten zu lassen, die er fllr sein Scheitern verantwortlich macht: „¿Es más que yo el inteligente, el culto, el refinado? ¡Yo soy tan hombre como cualquiera, aunque no haya tenido dinero para comprarme los lujos intelectuales!" („Ist der Intelligente, Gebildete, Feine mehr als ich? Ich bin genauso ein Mann wie er, auch wenn ich nicht das Geld hatte, mir intellektuellen Luxus zu kaufen!", S. 167). Auch auf der Verhaltensebene konterkariert Bernárdez seine ideologischen Prinzipien: Er ist kein echter „Proletarier", sondern ein - gesellschaftlich gescheiterter - Intellektueller: kunstsinnig, belesen. Er vertritt zumindest in künstlerischer Hinsicht die bürgerlichen Ideale, die er bekämpft. Seine Vorstellung von der Revolution als Rache am Bürgertum läßt sich in Übereinstimmung mit dem Urteil des Reflektors als Enttäuschung darüber erklären, daß er von der Gesellschaft zurückgewiesen wird, deren Werte er in gewisser Weise bewundert. Doch Ideologie und Verhalten widerprechen sich bei ihm in einem weiteren Punkt: Bernárdez fordert in einer apologetischen Rede nicht bloß die Gleichheit aller Menschen, sondern auch den Ausschluß von „Parasiten" und „Faulenzern" aus der neuen Gesellschaft. Andererseits gehört er selbst zu jenen „Parasiten" und „Fau-
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lenzem", die sich von der Revolution nichts weiter als einen bequemen Posten erhoffen. Der Kubaner stellt sich - aus der Sicht von Reflektor und Erzähler - als unglaubwürdiger, wenngleich intelligenter Vertreter des Kommunismus dar, der seine Ideologie zum persönlichen Nutzen mißbraucht.
Desillusioniert, aber human - die Bewertung undogmatischer Positionen Die undogmatischen Perspektiventräger wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Vertreter, die sich an spirituellen Werten orientieren (die Familie Tefas) und Vertreter, die sich an individuellen Bedürfhissen orientieren (die Fürstin Sofia Coria, Irene und Magdalena nach ihrem Bruch mit dem Kommunismus). Bei Jorge Tefas wurde bereits gezeigt, daß die undogmatisch-religiöse Komponente seiner Position vom Erzähler - und insgeheim auch vom Reflektor - positiv bewertet wird, die dogmatisch-politische Komponente hingegen negativ. Dieser Befund entspricht der These, daß undogmatische Positionen im Text positiver beurteilt werden als dogmatische. Sie soll an zwei weiteren Figuren überprüft werden, an Sofía Coria und an Bernárdez' Freundin Irene.
a) Sofia Corias Desillusion über die Welt Aus der Perspektive des Reflektors wird die Fürstin von Anfang an positiv bewertet: „Le pareció a Javier una mujer humana, de vuelta de muchas cosas, un poco desengañada." - „Sie machte auf Javier den Eindruck einer menschlichen Frau, die mit vielem bereits abgeschlossen hatte und etwas desillusioniert war." (S. 289). Sein Urteil wird bestätigt durch das, was sie im Dialog mit Mariño äussert, aber auch durch ihr Verhalten. Sofia wirkt glaubwürdig, denn auch sie verhält sich im Gespräch mit Mariflo dialogisch (S. 340f.): No me gustaría nada que me tomase usted por una mujer de ideas avanzadas. Creo que soy más bien una reaccionaria, aunque en algún tiempo no lo haya sido. Pero el mundo avanza más deprisa que nosotros, y las ideas envejecen, como las personas. Las mías tienen arrugas, como mi cara. Sin embargo, me agradería convencerle de que todo su conflicto sentimental parte de una injusticia: exigir a su novia lo que no se ha exigido a usted, lo que ella misma no le exige ni le exigiría. (Ich möchte nicht, daß Sie mich für eine Frau mit fortschrittlichen Gedanken halten. Ich glaube eher, ich bin eine Reaktionärin, auch wenn ich das früher nicht war. Doch die Welt schreitet schneller fort als wir, und die Ideen werden alt wie die Personen. Meine haben schon Falten wie mein Gesicht. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn ich Sie davon überzeugen könnte, daß Sie in Ihrem Gefühlsproblem von einer Ungerechtigkeit ausgehen - von Ihrer Freundin das zu fordern, was Sie von sich selbst nicht fordern, und was sie nicht von Ihnen fordert noch fordern würde.)
Sofia äußert keine ideologischen Plattitüden, sondern sucht nach einer individuellen Lösung für Mariños Konflikt. Dabei bezieht sie wie Tefas seine möglichen Einwände („fremde Rede") in ihre eigene Rede mit ein („no me gustaría nada que me tomase ..."). Es gibt keine längeren Passagen, in denen sie ihre Position monologisch vertritt - alles ist bei ihr Frage und Antwort mit Bezug auf ihr Gegenüber (vgl. S. 340f.). Sofia ist wie Tefas fähig, ihre eigene Position zu revidieren -
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so gesteht sie, daß ihre eigenen konservativen Ansichten längst veraltet seien und sich der Welt anpassen müßten: Dies ist ein Vorwurf an Mariflo und indirekt ein Vorwurf an das Regime, da die starren Anschauungen des Franquismus wie die von Mariflo schon damals nicht mehr mit der Zeit in Einklang standen. b) Irene, die Verkörperung des Lustprinzips Bei der Kommunistin Irene klaffen die Bewertungen durch den Reflektor und den Erzähler klar auseinander. Der Reflektor wertet die Figur durch propagandistische Verfahren ab. Er beschränkt sich Uberwiegend auf die Beschreibung physischer Merkmale, um dadurch ihre Position zu diskreditieren (S. 174). Sobre los demás recuerdos, él de Irene desnuda, grandota y mantecosa, era como esos desnudos desagradables de la pintura moderna que parecen complacerse en mostrar a la mujer como ser asqueroso y lascivo. Así, también los miembros de la rusa eran bastos y anchos, de grandes planos simples, hechos en carne como madera, y su alma estúpida y brutal. (Unter den übrigen Erinnerungen war die an die nackte, große, fette Irene. Sie sah aus wie diese unangenehmen Nackten der modernen Malerei, der es scheinbar gefällt, die Frau als widerliches und laszives Geschöpf darzustellen. So waren auch die Gliedmaßen der Russin grob und üppig, primitiv wie ein Stück Holz, aber aus Fleisch gemacht. Ihre Seele war dumm und brutal.)
Die Textstelle steht in der erlebten Rede, die Ablehnung der modernen Malerei entspricht jedoch klar der reaktionären, antimodernen Haltung Marifios; der Vergleich zwischen Irene und der modernen Malerei kommt einer Diffamierung gleich, die das reaktionäre Klischee „Kommunismus ist gleich Unmoral" reproduziert. 325 Die Art der Bewertung sagt im Übrigen mehr über die Vorurteile des Bewertenden als Uber das Wesen der Bewerteten aus, denn Mariflo weigert sich, auf Irenes Argumente einzugehen. So kontert er Irenes Zweifel an seiner eigenen lustfeindlichen Moral bloß mit heuchlerischen Phrasen seiner Ideologie: „Soy un hombre de honor, simplemente." („Ich bin einfach ein Ehrenmann." S. 208). Die Figur wird deutlich benachteiligt, weil sie im Gegensatz zu den meisten anderen kaum Gelegenheit erhält, ihre eigene Position darzustellen. Ihre Konzeption vom Kommunismus reduziert sich auf ein rein pragmatisches Verhältnis zur Partei, in der sie sich als Übersetzerin ihren Lebensunterhalt verdient. Irene glaubt an keine Ideale, keine Moral und keine Utopien (S. 179). Doch nur einmal darf sie sich rechtfertigen (S. 208): Pero nosotros - respondió Irene - también tenemos nuestras razones. Las expuso detalladamente, y de nuevo, inevitablemente, la conversación recayó sobre lady Chatterley. Javier escuchaba sin interés y sus argumentos perdían fuerza.
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Da Soldevila-Durante (1977: 47) nicht zwischen der Haltung des Autors und der Figur differenziert, schreibt er die klischeehafte Darstellung Irenes Torrente selbst zu, den er filr einen „Kommunistenhasser" hält.
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(Aber wir haben auch unsere Gründe, antwortete Irene. Sie erklärte sie ausführlich. Und erneut kam das Gespräch unvermeidlich auf Lady Chatterley. Javier hörte desinteressiert zu, und die Argumente verloren an Kraft.)
Die erwähnten Argumente werden im Text jedoch ausgespart. Dieses auffällige Verstummen läßt sich durchaus als Form von Selbstzensur des Autors erklären, der davor zurückschreckte, einer „lasziven Kommunistin" ein Forum zur Rechtfertigung ihrer Postion einzuräumen. Zunächst scheint sich das Reflektor-Bild von der lüsternen, animalischen Kommunistin auch auf der Verhaltensebene zu bestätigen: Irene zeigt sich nackt vor Marifio, sie macht ihm unsittliche Vorschläge („Te dejo acostar conmigo si me regalas tu impermeable."- „Du darfst mit mir schlafen, wenn du mir deinen Regenmantel schenkst." S. 156), und sie schockiert den Freund durch ihre unverhüllte Direktheit in sexuellen Dingen („¿Ya tienes amante, Javier?" - „Hast du schon eine Geliebte, Javier?", S. 207). Doch unmerklich gestaltet sich Irenes Persönlichkeit komplexer als es die simplen Urteile des Reflektors vermuten lassen. Irene ist zwar in Bezug auf Sexualität direkt, aber - im Gegensatz zu Marifio - aufrichtig. Schein und Sein fallen bei ihr zusammen. Irenes offene „Unmoral" korrespondiert mit Mariflos verborgener „Unmoral". Mariflos Befehl, sich zu verhüllen („Y que te tapes cuanto antes ..." - „Deck dich sofort zu ...", S. 164), ist nicht bloß wörtlich gemeint, sondern drückt auch sein Entsetzen darüber aus, daß sie ihr wahres, an körperlichen Bedürfnissen ausgerichtetes Wesen nicht durch den Schein transzendentaler Werte verdeckt. Vielleicht verhält er sich ihr gegenüber so aggressiv, weil er in ihr ein verzerrtes Spiegelbild seines eigenen Inneren erblickt (er nennt sie sogar wörtlich „esperpento", S. 162). Irenes Negativ-Image wird aber besonders durch ihre tolerante, undogmatische Haltung gegenüber dem Klassenfeind Mariflo konterkariert - wenngleich in einer so marginalen Szene, daß der Leser sie leicht überlesen kann: Irene greift mehrmals beschwichtigend in die Auseinandersetzungen zwischen Bernárdez und Mariño ein, und als Bernárdez den arroganten Freund wütend fragt, warum er überhaupt mit dem Paar Umgang pflege, kommt Irene ihm mit einer sympathischen, versöhnlichen Antwort zuvor (S. 208): Prefiero que no digas nada, Javier. Estás con nosotros por casualidad y tolerancia. ¿No es eso lo que querías decir? - Javier se encogió de hombros y dijo luego: - Sí. Acaso sea eso. (Mir ist es lieber, du sagst gar nichts, Javier. Du verkehrst mit uns aus Zufall und Toleranz. Wolltest du das nicht sagen? - Javier zuckte mit den Schultern und sagte dann: - Ja, vielleicht ist es das.)
Da Irene fast ausschließlich aus der Perspektive des Reflektors gezeigt wird, ergibt sich ein verzerrtes, den reaktionären Klischees entsprechendes Bild dieser undogmatischen Kommunistin. Durch die spärlichen Bewertungen des Erzählers aber kann es kaum korrigiert werden.
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2.5. Javier Marino, ein „dialogischer" Roman? Bachtin setzt den „monologischen" Roman, bei dem eine Stimme im Text Uber die anderen dominiert, mit dem autoritären, dogmatischen Diskurs der Machthaber gleich, während er dem „dialogischen" Roman, in dem verschiedene gleichberechtigte Stimmen miteinander ins Gespräch gebracht werden, eine subversive Rolle zuteilt. 326 Denn durch literarische Mehrstimmigkeit wird jeder absolute Wahrheitsanspruch unterminiert: Es gibt keine absolute Wahrheit, sondern viele Wahrheiten, repräsentiert durch unabhängige Bedeutungsträger mit „autonomen Bewußtseinen" - der Erzähler darf dabei keine Partei ergreifen. Bachtins Opposition zwischen monologischen und dialogischen Texten impliziert den Gegensatz von offizieller und inoffizieller Literatur in Einheitssprache oder Redevielfalt. 327 Bachtin entwickelt dabei eine sehr konkrete Vorstellung vom Ideal eines mehrstimmigen Romans: In ihm müssen „alle sozioideologischen Stimmen der Epoche vertreten sein ... kurz, der Roman muß ein Mikrokosmos der Redevielfalt sein". 328 Diese Stimmen sollen die unterschiedlichen ideologischen Diskurse einer Gesellschaft widerspiegeln. Somit erhält sein Dialogizitätskonzept eine gesellschaftspolitische Komponente, die durch Bachtins ideologiekritische Haltung, seine Ablehnung des sozialistischen Realismus, untermauert wird. Auch Torrente Ballester läßt in Javier Marino verschiedene ideologische Diskurse seiner Zeit zu Wort kommen. Inwieweit aber kann man bei diesem Roman von echter „Dialogizität" sprechen? Inwieweit unterminiert er den herrschenden Diskurs des franquistischen Regimes? Inwieweit ist ein wirklich dialogischer Roman in einer Diktatur Uberhaupt möglich? Torrente stellt in Javier Marifto einen Meinungspluralismus her, der in der gesellschaftlichen Realität des Spanien der 40er Jahre nicht mehr existierte. Torrente verlegt die Handlung hingegen kurz vor den Franquismus an den Beginn des Bürgerkrieges. Bei ihm ist also noch die ganze Bandbreite der relevanten Ideologien der Epoche vom Anarchisten bis zum Faschisten vertreten. Indem er die Vertreter miteinander konfrontiert, ermöglicht er eine dialogische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ideologien, wie sie das Regime zum Zeitpunkt des Romans längst unterbunden hat. Die Analyse hat gezeigt, daß der Autor dialogische Verfahren einsetzt wie die Kontrastierung von Innen- und Außenperspektive, Korrespondenz- und Kontrastbezüge zur Kommentierung der Figuren oder die häufige Verwendung von Dialogen zwischen unterschiedlichen Perspektiventrägern. Auch die Überlagerungen von Erzählerrede und Figurenrede wie sie in den Textinterferenzen zwischen Erzähler und Reflektor Mariflo auftreten, signalisieren laut Bachtin Dialogizität, denn in der Textinterferenz dient das Wort gleichzeitig zwei verschiedenen Sprechern und
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Vgl. Bachtin 1971 sowie ders. 1979.
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Vgl. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990, S. 180.
328
Bachtin 1979, S. 290.
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kann somit gleichzeitig verschiedene Intentionen ausdrücken.329 Aber nicht nur stilistisch ist der Roman an Bachtins Opposition orientiert. Sie wird auch auf der Inhaltsebene umgesetzt: monologische Ideologen werden gegen undogmatische, sich dialogisch verhaltenden Figuren ausgespielt. Der Roman weist also Ansätze von Dialogizität auf, die erstaunlich weit gehen, wenn man die harte Repression und die strenge Zensur der FrUhphase des Franquismus bedenkt. Eine wirkliche Gleichberechtigung der ideologischen Positionen wird in Javier Marino jedoch nicht realisiert. Dies verhindert vor allem die Perspektivendominanz des Reflektors Mariño, der die offizielle Ideologie des Regimes repräsentiert. Die verschiedenen ideologischen Vertreter charakterisieren sich daher nicht durch „autonome Bewußtseine" wie Bachtin fordert, sie sind vielmehr der dogmatischen Reflektorfigur untergeordnet. Zwar können selbst linke Bedeutungsträger ihre Position in direkter Rede darstellen - wie die Gutachten zeigen, ging dies den Zensoren viel zu weit -, dennoch werden sie in der Regel diskriminiert. So entsprechen die Aussagen des Kommunisten Bernárdez und des Anarchisten Meillet rechten Klischees von den „Roten". Auch auf der discours-Ebene setzt der Autor Dialogizität nur teilweise um. Die Figuren drücken sich nicht in unterschiedlichen Stilen aus, wie Bachtin filr den dialogischen Roman fordert; differenzieren läßt sich im Grunde nur zwischen der klischeehaften Propaganda der Ideologen und der individuellen Sprache der undogmatischen Sprecher. Monologische Teile, in denen die Sprecher apodiktisch ihre Ideologie vertreten, wechseln mit dialogischen Passagen ab, in denen das „fremde Wort" anderer Figuren miteinbezogen wird. Eine echte ideologische Auseinandersetzung findet nur bedingt statt, denn Mariño, Dreh- und Angelpunkt der Konfrontation, verhält sich im Gespräch mit anderen fast immer monologisch. Auf der für die Zensur bestimmten oberflächlichen Ebene wird der Gegensatz zwischen monologischem und dialogischem Verhalten in der veröffentlichten Version zugunsten des monologischen Wortes des Franquismus entschieden - der regimekonforme Schluß besiegelt die Konversion des wankelmütigen Helden. Auf der impliziten Ebene dagegen unterliegen die Ideologen gegenüber den undogmatischen Figuren - der monologische Schluß steht dazu im Widerspruch.
2.6. Schlußfolgerungen - die Position des impliziten Autors Ein im Roman nicht aufgelöster Widerspruch irritiert den Leser: Einerseits wird das ideologische Schwarz-Weiß-Denken - wie die Analyse gezeigt hat - immer wieder konterkariert, andererseits werden einige Figuren aber gerade nach diesem Denkmodus dargestellt (etwa die beiden Linken Meillet und Irene). Diese widersprüchlichen Signale erschweren die Beurteilung der Position des Autors, aber es bietet sich eine Erklärung an: Der Autor wollte - nach eigener Aussage -
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Ebenda, S. 213.
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unbedingt die Autorisierung der Zensur erlangen und mußte dafür auf einer oberflächlichen Ebene den Eindruck von Regimekonformität wahren. Der Preis dafür war hoch, denn der Autor nahm eine der Ästhetik des Werkes widersprechende Inkonsistenz in Kauf: Er verwendete zur Tarnung seiner Absichten monologische Darstellungsverfahren, die er sowohl auf der discours-, als auch auf der histoireEbene konterkarierte. Allerdings bietet der Autor für diese Inkonsistenz einen Ausweg: Besonders klischeehafte Urteile sind häufig - wenngleich nicht eindeutig - dem voreingenommenen Reflektor zuzuordnen. Die Ambivalenz der erlebten Rede kommt dem Autor dabei zur Hilfe, denn bei den Textinterferenzen zwischen Reflektorrede und der Rede eines übergeordneten Erzählers wird die wahre Beurteilungsinstanz verschleiert. Textinterferenzen funktionieren daher, bewußt oder unbewußt, als Tarnung der Position des impliziten Autors. Dieser interne Widerspruch - einerseits teilweise Erfüllung der Regimeerwartung, andererseits inhaltliche Kritik an dessen Denkprinzipien - läßt sich an einem weiteren Punkt aufzeigen. Die zentralen Bedeutungsträger - mit der wichtigen Ausnahme des Protagonisten - werden erwartungsgemäß mit eher positiven Rechten (Sofía Coria, Tefas, und sogar die Kommunistin Magdalena besitzt hinter ihrer Fassade einen wertkonservativen Kern) bzw. negativen Linken (den Kommunisten Bernárdez und Irene sowie dem Anarchisten Meillet) besetzt. Dennoch weicht der Autor von diesem Modell ab, indem er das Verhältnis bei den weniger ins Auge fallenden Randfiguren umdreht (beispielsweise bei dem republikfreundlichen Abt oder dem republikanischen Redner Jean Cassou). Außerdem erweisen sich scheinbar eindeutige Schwarz-Weiß-Figuren als komplexere Charaktere, wie an den Beispielen des faschistischen Rumänen oder der Kommunistin Irene gezeigt wurde. Der Autor erfüllt die Opposition rechts/links mit der regimekonformen Konnotation „rechts = gut und links = schlecht" also nur scheinbar. Unter der Oberfläche geht es ihm um die Hinterfragung ideologischen Denkens überhaupt. Sein ideologiekritischer Ansatz umfaßt sowohl rechte wie linke Ideologien und schließt den Franquismus mit ein, der durch den ambivalenten Vertreter Mariflo besonders zwiespältig repräsentiert wird. Ein ideologiekritischer Ansatz entspricht im Franquismus der 40er Jahre einem regimekritischen Ansatz. Torrentes in Teilen dialogischer Diskurs geht insofern weit über den monologischen Diskurs des Regimes hinaus, selbst wenn er seinen Figuren keine echte Unabhängigkeit zugesteht. Die ideologiekritische Haltung des Autors zeigt sich besonders bei der textintemen Bewertung der Figuren, denn stark ideologisierte Bedeutungsträger werden in der Regel abgewertet, während undogmatische Bedeutungsträger (mit Ausnahme von Irene) positiv bewertet werden, vor allem wenn an die Stelle einer Ideologie eine humane Haltung tritt. Die Bewertung der einzelnen Positionen geschieht auf der Reflektorebene direkt, auf der Erzählerebene hingegen indizial - sie muß vom Leser erst erschlossen werden. Dabei ergibt sich das Bild eines unpersönlichen, distanzierten Erzählers, der der ideologiekritischen Position des impliziten Autors nahesteht.
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Der Autor ergreift für keine Position im Text konkret Partei - es gibt verschiedene positiv bewertete Figuren. Positiv erscheinen sowohl Tefas als auch Sofia Coria trotz differierender inhaltlicher Positionen. Diese ideologische Unentschiedenheit kann zum einen mit dem Grundprinzip des Romans erklärt werden, daß Ideologien letztlich irrelevant sind, die wirkliche Spaltung liegt zwischen Ideologen und undogmatischen Vertretern. Aber auch autobiographische Hintergründe mögen eine eindeutige Festlegung verhindert haben - der reale Autor befand sich in einer Situation des ideologischen Umbruchs. So lassen sich autobiographische Korrespondenzbezüge zu ganz verschiedenen Figuren im Text herststellen: Mit Mariflo verband den realen Autor die politische Desillusion in bezug atf die falangistischen Ideale, mit Tefas die utopische Konzeption eines religiösen Staates, mit Magdalena die bittere Enttäuschung nach dem Verlust ihres politischen Glaubens. Diese politische Unsicherheit spiegelt sich vermutlich in der Position des impliziten Autors wider. Zumindest aber steht Torrentes persönliche Desillusion zu jenem Zeitpunkt im Einklang mit der Ablehnung ideologischen Derkens, wie sie sich im Roman manifestiert. Die Sympathielenkung des Lesers zu den undogmatischen, humanen Vertretern signalisierte möglicherweise auch für den realen Autor einen Ausweg aus der Frustration durch die Politik.
3. Die Reaktion der Zensur auf andere Romane der Frühphase Die Zensur der Werke eines falangistischen Autors war in der Frühphasi des Franquismus kein Einzelfall. Gleichzeitig mit Ballesters Javier Marino verschwand das von Rafael García Serrano in einem ekstatisch-gewalttätigen Tonfall verfaßte Buch La fiel infantería vom Markt - ein flott geschriebener Romaa, der die Rolle der Falange im Bürgerkrieg heroisierte. Selbst das erfolgreiche Erstlingswerk La familia de Pascual Duarte des damaligen Zeitschriftenzensors Camilo José Cela durfte in der Erstauflage nicht lange zirkulieren. Die Macht der Kirche läßt sich an diesen Vetos der Zensurbehörde ganz klar ablesen. Denn politisch war keiner der drei Autoren verdächtig, aber die Verstöße gegen die moralischen Prinzipien ließ die Zensur nicht durchgehen. La fiel infantería mußte den Zensoren schlichtweg obszön und blasphenisch erscheinen. Die jungen Falangisten im Roman fluchen, sprechen Gotteslästerungen aus, saufen und treiben sich mit Frauen herum. Sätze wie die folgenden strich der empörte Zensor so dick aus, daß sie kaum mehr lesbar sind: „Estoy bien seguro de que él soñaba, no con aprisionar un rojo, sino con aprisionar una novicia." („Ich bin sicher, daß er nicht daran dachte, einen Roten einzusperren sondern eine Novizin."); „... la conciencia intranquila de pecadillo mortal ...' („... das Gewissen unruhig vor lauter TodsUndlein ...") oder „Algo asi como un ciablo le aconseja que llevase un clavel en la boca y publicase libros pornográficos con tapas de devocionario." („So etwas wie ein Teufel rät ihm, eine Nelke im Mund zu tragen und pornographische Bücher im Gebetsbucheinband zu veröffentlichen.") Es überrascht, daß so ein deftiges Buch zunächst überhaupt durci die Zensur kam, und läßt sich - ähnlich wie bei Javier Marino - nur durch die ialan-
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gistischen Freunde des Autors in der Zensurbehörde erklären. Veröffentlicht werden durfte es allerdings nur unter der Bedingung, daß der Autor seinem Buch eine Erklärung voranstellte, aus welchen Gründen er solche Ausdrücke für notwendig erachtete. Der Erstzensor fand das Buch allen moralischen Einwänden zum Trotz literarisch sehr gelungen. 330 Zudem zeichnete es sich seiner Meinung nach durch einen „höchst falangistischen und patriotischen Geist" aus, wenngleich der Zensor zu bedenken gab, daß es in dem Text nur so von gewalttätigen Szenen und obszönen Wendungen, die eine „wohlerzogene Person nicht vor Frauen ausspricht", wimmelte. Der kirchliche Zensor schlug hingegen einen schärferen Ton an. Er prangerte die pornographischen Wendungen an und signalisierte ganz klar, daß der Lebenswandel der jungen Falangisten gegen die katholische Lehre verstoße. Die obszöne Sprache verletze den guten literarischen Geschmack sowie „die Reinheit des religiösen Gefilhls". Offensichtlich setzte sich zunächst der falangistische Flügel der Zensurbehörde durch, denn am 26. Oktober 1943 wurde das Buch autorisiert. Doch zweieinhalb Monate später, im Januar 1944, ordnete der Vizesekretär der Educación Popular, Gabriel Arias-Salgado, an, das Buch zu konfiszieren - genau wie Javier Marino. Etwas anders verhält sich der Fall Camilo José Cela. Cela arbeitete seit dem 7.9.1942 selbst als Zeitschriftenzensor, wie sein Name auf der Gehaltsliste der Zensoren zeigt. 331 Im Vergleich zu den Bücherzensoren verdiente er mit 750 Peseten im Monat überdurchschnittlich gut. Aber auch sonst genoß er eine Vorzugsbehandlung durch die Hierarchie, denn Juan Aparicio, der Chef der Abteilung fllr Presse und Propaganda persönlich, protegierte den Schriftsteller. 332 Dadurch erklärt sich vermutlich auch, daß sein Roman La familia de Pascual Duarte in der Zensurbehörde glimpflicher behandelt wurde als die Bücher von Torrente Ballester und García Serrano. 333 La familia de Pascual Duarte stellt aus der Perspektive eines ungebildeten, kriminellen Helden dessen Lebensgeschichte von der ärmlichen Kindheit in der Extremadura bis zum Ende in der Todeszelle des Gefängnisses dar. Dabei kontrastieren - ganz in der Tradition des picaroRomans - der heitere, leichte Ton des Erzählers mit dessen grauenhaften Mordtaten und provozieren einen Effekt, den man in Spanien tremendismo nennt. Zwar verfügte Arias-Salgado im Januar 1944 wie bei Torrente und García Serrano eine Konfiszierung der ersten und der zweiten Auflage von La familia de Pascual Duarte, da der Lebenswandel Pascual Duartes ganz offensichtlich gegen die Normen der Katholischen Kirche verstößt Doch offenbar wurde Cela vorgewarnt, denn als die Inspekteure im Verlag Editorial Aldecoa ankamen, standen
330
Exp. 6336, AGA 7260,1943.
331
Leg. 9004, top. 21/27, „nóminas" 1943.
332
Vgl. Julio Rodríguez-Puertolas: Literatura fascista española. Bd. 1. Madrid 1986, S. 585-587.
333
Vgl. Neuschafer 1991, S. 301-304.
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Gabriele Knetsch
sie vor leeren Regalen, „... manifestando el citado Gerente que la primera edición se hallaba totalmente agotada y que la segunda ... se hallaba ya repartida por todas las librerías españolas quedándoles solamente cuatro ejemplares que se recogieron ...". („... wobei der genannte Verlagschef uns sagte, daß die erste Auflage bereits vollkommen vergriffen und die zweite schon in allen spanischen Buchhandlungen verteilt war, so daß nur noch vier Exemplare übrigblieben, die wir konfiszierten ,..". 334 Das Verbot dauerte überdies nicht lange an: Bereits im Juni 1944 autorisierte die Zensurbehörde eine Luxusausgabe von La familia de Pascual Duarte, wenngleich nur mit 300 Exemplaren und ohne Werbung. Am 7.11.1945 wurde „por órden del secretario nacional", also auf höchster Ebene, schließlich eine dritte Auflage von 5000 Exemplaren für Spanien autorisiert; parallel dazu erschien eine dritte Auflage in Buenos Aires. Die großzügigere Behandlung durch die Zensur läßt sich aber vermutlich nicht allein durch Celas gute Beziehungen zum Machtapparat erklären. La familia de Pascual Duarte weist als Schutz gegen die Zensur auch die nötige Zweideutigkeit auf, wie Neuschäfer in seiner Zensuranalyse des Romans nachgewiesen hat. 3 3 5 Die p/awo-Struktur des Romans erlaubt es, prekäre Aussagen weder dem Erzähler noch dem unzuverlässigen Helden eindeutig zuzuordnen - der ungebildete Schelm als Sprachrohr wirkt als Verschleierungsstrategie gegen die Zensur. Als zweiten Trick zur Umgehung der Zensur führt Cela eine komplizierte Rahmenkonstruktion ein, durch die er sich als Autor von dem Text seines Protagonisten distanziert - darin wird behauptet, der auf dem Buchdeckel stehende Verfasser sei nicht der Autor, sondern nur ein Kopist, der das Manuskript nur unter stärksten Bedenken der Öffentlichkeit preisgebe. Gleichzeitig stellt Pascual seinen Lebensbericht als „Beichte" dar, „bereut" also somit seinen unmoralischen Lebenswandel. Schließlich wird die Handlung durch die Rahmenhandlung vordatiert, so daß keine aktuellen Bezüge mehr zum franquistischen Regime bestehen. Ein geschickter Umgang mit der Sprache und enchufes kommen bei Cela zusammen, um den Roman zu retten. Weniger Glück hatte Cela im Jahr 1946 allerdings mit seinem Folgeroman La Colmena. Es liegen zwei Zensurgutachten zu diesem Stadtroman über das Madrid der Nachkriegszeit vor. 336 Der Dichter und Bücherzensor Leopoldo Panero will das Buch trotz „descripciones crudas del bajo ambiente social" („kruder Beschreibungen des unteren sozialen Ambientes") mit Streichungen freigeben, weil er vom literarischen Wert überzeugt ist. Doch das Buch scheiterte am kirchlichen Zensor Andrés de Lucas, der sich empört über die Unmoral und die Obszönität des Werkes: „La obra es francamente inmoral y a veces resulta pornográfica y en ocasiones irreverente." („Das Werk ist wirklich unmoralisch und
334
Exp. 6508, AGA 7265, 1943.
335
Neuschäfer 1991, S. 79-88.
336
Exp.61-46, AGA 7762, 1946.
V. Zensur der Frühphase (1939-1951)
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manchmal sogar pornographisch, gelegentlich sogar blasphemisch."). Der implizite Erzähler des Romans tritt so gut wie nicht in Erscheinung und scheint objektives Zeugnis abzulegen Uber die spanische Nachkriegsgesellschaft in Madrid, indem er die zahllosen Figuren des Romans in ihrer kolloquialen Sprache selbst zu Wort kommen läßt über die Not des Alltags, Hunger, Prostitution und Sex. Der unverblümte „Realismus" des Romans fällt der Zensurbehörde negativ auf. Tabus werden zu direkt zum Ausdruck gebracht, wie etwa in folgendem Satz: „... pero el hombre prefiere camelar a la simple de la Visi y pegarse la vida sin dar golpe." („... aber der Mann will lieber, daß sich die dumme Visi prostituiert und leben, ohne einen Finger krumm zu machen.") 337 La Colmena wurde im März 1946 verboten und selbst bei der erneuten Vorlage im Dezember 1953 nicht wieder autorisiert. Zum erstenmal erschien der Roman im Jahr 1951 in Buenos Aires. Sogar der im Hinblick auf die Zensur eher unproblematische Miguel Delibes mußte in seinem Roman El Camino von 1950 Streichungen hinnehmen. Delibes stellt darin den Alltag in einem kastilischen Dorf aus der Sicht eines einährigen Jungen dar. Der naive Erzähler funktioniert auch hier als Trick zur Umgehung der Zensur, wie er schon aus La familia de Pascual Duarte bekannt ist: Die zweifelhafte Autorität des Sprechers schwächt dessen Aussagen ab und mildert dadurch ihren kritischen Gehalt. Abgesehen davon schreibt Delibes aber auch in einem sehr viel weniger direkten, derben Stil als Cela. Dennoch zog sich das Verfahren im Fall von El Camino länger hin als gewöhnlich - ein Indiz für die Bedenken der Zensoren. Erst ein Brief des Autors an den Zensurchef Juan Beneyto persönlich konnte das Verfahren beschleunigen. 338 Innerhalb von drei Tagen war El Camino zwar genehmigt, allerdings mit sechs Streichungen Textstellen, die der Zensur entweder als moralisch oder religiös anstößig erschienen, weil sie zu explizit Tabus benannten. Gestrichen werden mußte etwa die Beichte der Dorfbewohnerin La Guindilla: „Padre, me acuso ... me acuso de haber besado a un hombre en la oscuridad de la noche." („Pater, ich klage mich an ... ich klage mich an, in der Dunkelheit der Nacht einen Mann geküßt zu haben.") Unter das Zensurkriterium „Angriffe gegen die Religion" fiel eine sanftironische Anspielung auf die Begehrlichkeit des Dorfpriesters. Die Opferung in der Kirche wird begleitet mit den Worten: „... don José, el cura, que era un gran santo, contestaba con un responso, corno si diera las gracias." („... Don José, der Priester, der ein großer Heiliger war, antwortete mit einem Responsorium als ob er sich bedankte".) Die Harmlosigkeit der Passagen zeigt, wie gering die Toleranzschwelle der Zensur in der Frühphase war.
337
Camilo José Cela: La Colmena. 12. Aufl. Barcelona/Madrid 1972, S. 63.
338
Exp.5197, AGA 9279, 1950.
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
VI. DAS SPANISCHE WIRTSCHAFTSWUNDER KONSOLIDIERUNG DES REGIMES (1951-1966)
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UND
DIE
1. Die Bücherzensur von 1951-1966 Die 50er Jahre markieren eine Wende in Francos Herrschaft: Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wurde Spanien wieder in die Weltgemeinschaft aufgenommen. Francos Antikommunismus zählte von da ab im westlichen Ausland mehr als das diktatorische Wesen seiner Herrschaft. Die Zensurkriterien spiegeln diese politische Umorientierung klar wider. Die Kommunikationspolitik dieser Phase wurde wesentlich von einem Mann geprägt: dem strengkatholischen Informationsminister Gabriel Arias-Saigado. Am Beispiel des zentralen Romans Tiempo de silencio von Luis Martin-Santos sollen die Auswirkungen der neuen Zensurpolitik auf die Literatur untersucht werden. Die Analyse wird wie im vorhergehenden Kapitel durch einen Ausblick auf die Zensur anderer Romane der Epoche ergänzt.
1.1. Soziopolitischer Überblick Die politische
Entwicklung
Ab 1950 trat Spanien den internationalen Organisationen bei, 1951 bekam das Land den ersten amerikanischen Kredit. Auf dem Höhepunkt der Koreakrise, 1953, wurde die Isolation endgültig gebrochen: Das Konkordat mit dem Vatikan verschaffte Franco Anerkennung im Ausland und Einfluß auf die Ernennung der Bischöfe im Inland; die staatlicherseits gewährten Privilegien der Kirche wurden nun offiziell vom Papst bestätigt. 339 Der zweite große Erfolg der Diktatur im gleichen Jahr war das Stützpunktabkommen mit den USA. Auch hier ging es um internationale Anerkennung und - davon abhängig - um dringend benötigte Devisen in Form von amerikanischer Wirtschaftshilfe. Der Preis dafür war hoch: Franco überließ den Amerikanern auf spanischem Territorium Stützpunktbasen filr Atomwaffen, über deren Gebrauch er nicht mitentscheiden durfte. 340 Die außenpolitische Öffnung brachte auch eine wirtschaftliche Umorientierung des Regimes mit sich. Die Liberalisierung des Außenhandels, die Inanspruchnahme von ausländischer Wirtschaftshilfe und der Beginn der Auslandsinvestitionen in Spanien entsprachen nun nicht mehr der falangistischen Wirtschaftskonzeption, bescherten dem Land aber den ersehnten Aufschwung und bescheidenen Wohlstand. Der Beginn des Tourismus und Geldüberweisungen der immer zahlreicheren Wirtschaftsemigranten in den europäischen Industrieländern taten ihr übriges. Die Entideologisierung des Regimes begann in der Wirtschaftspolitik: Ab 1957 wurden die alten antikapitalistischen, paternalistischen Grundsätze über Bord geworfen. Eine neue Generation von Politikern, in Harvard geschulte 339
Zum Inhalt des Konkordats vgl. Bernecker 1988, S. 104-108.
340
Ebenda, S. 100-104.
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Gabriele Knetsch
Technokraten des Opus Dei, führten mit der Regierungsumbildung von 1957 eine erfolgsorientierte, neoliberalistische Politik ein: Sie bestand aus Stabilisierungsplänen, dem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und im Jahr 1958 der Verabschiedung der Ley de Convenios Colectivos Sindicales, einem Arbeitsgesetz, das nun endlich direkte Verhandlungen zwischen Großbetrieben und den dort Beschäftigten ermöglichte. 341 Der materielle Erfolg legitimierte das erstarkte Regime, und der offizielle Sprachgebrauch änderte sich: „Die faschistisch geprägte Rhetorik des Nationalsyndikalismus wich ... einer trockenen und dürren Sprache, die von wirtschaftlichen und technischen Begriffen nur so wimmelte." 342 Mit diesem Kurswechsel begann der Siegeszug des von Franco protegierten Opus Dei: Ziel dieser 1928 von José María Balaguer de Escrivá gegründeten katholischen Elitebewegung war die Besetzung möglichst ranghoher Ämter in Politik, Bildung und Wirtschaft, um ihren Einfluß in der Gesellschaft geltend zu machen. Diese geheimlogenartig organisierten Laien vertraten zwar politisch konservative Werte und erstrebten keine Veränderung des Regimes, aber sie arbeiteten professionell und innovativ mit modernen empirischen Methoden. Der Opus-Gründer verkündete in seinem Glaubensbekenntnis Camino eine leistungsorientierte Heilslehre, die gut zu der neuen Politik des Regimes paßte: 343 Oras, te mortificas, trabajas en mil cosas de apostolado ..., pero no estudias. - No sirves entonces si no cambias. El estudio, la formación profesional que sea, es obligación grave entre nosotros. (Du betest, du kasteist dich, du arbeitest in tausend Dingen des Apostolats .... aber du studierst nicht. - Wenn du dich nicht änderst, bist du zu nichts nütze. Das Studium, welche Berufsausbildung auch immer, ist bei uns eine schwerwiegende Verpflichtung.) Der wirtschaftliche Aufschwung des Regimes brachte jedoch neue soziale Spannungen mit sich: Ein enormes Handelsdefizit und die wachsende Inflation führten zu hohen Preissteigerungen, denen die Regierung die Löhne nicht anpaßte. Mit der wirtschaftlichen Verbesserung war also keine soziale verbunden, und die „Zeit des Schweigens" wurde schon 1951 in Barcelona zum erstenmal durch einen Streik wegen der übermäßigen Tariferhöhung bei öffentlichen Verkehrsmitteln durchbrochen. 1956 geriet zu einem Jahr des Protests: Die Arbeiter erstreikten höhere Löhne; die Studenten protestierten gegen die rückschrittliche Ausbildung an den Universitäten und forderten freie Studentenverbände anstelle
341
Zu den konkreten Maßnahmen vgl. Fusi 1992, S. 143-146.
342
Ebenda, S. 146f.
343
José Maria Balaguer de Escrivà: Camino, „consejo 334", zitiert in: Gumbrecht 1990, S. 994.
VI. Die Konsolidierung des Regimes
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des obligatorischen falangistischen „Universitätssyndikats". 344 Dem Protestjahr 1956 gingen, dank des katholisch-liberalen Kulturministers Joaquín Ruiz Giménez und den Universitätsrektoren Antonio Tovar und Pedro Lain Entralgo (beide waren Falangisten aus dem Umfeld Ridruejos) gewisse Lockerungstendenzen in Kultur und Bildung voraus. Ganz neue Töne waren nun in der Kulturpolitik zu hören, der Minister sprach von der Freiheit der Kunst, statt von ihrer Propagandafunktion im Staat: 345 ... el arte tiene una esfera de autonomía, la de la expresión libre del alma individual, en la que el Estado, en su propio interés, no deberá inmiscuirse. (Die Kunst hat eine Aura der Selbständigkeit, die des freien Ausdrucks der individuellen Seele, in die sich der Staat in seinem eigenen Interesse nicht einmischen soll.)
Doch das kurze Experiment der Freiheit in Bildung und Kunst fand ein schnelles Ende: Franco setzte Ruiz Giménez als vermeintlichen Verantwortlichen für die Proteste 1956 kurzerhand ab. Opposition
Die Regimegegner aus den Reihen der Besiegten des Bürgerkrieges verloren an Bedeutung gegenüber der Opposition der Kinder der Sieger, die den Krieg nicht mehr aktiv miterlebt hatten. Sie verfolgten andere Ziele, denn viele Intellektuelle und Studenten protestierten zunächst nicht aus politischen Gründen, sondern weil sie die kulturellen Begrenzungen nicht akzeptierten. Repräsentativ ist in dieser Hinsicht das Zeugnis des katalanischen Literaturkritikers Josep Maria Castellet: 346 Yo dirfa que aquello más que promovido por cuestiones políticas estrictas era promovido por mi conciencia de la opresión cultural. Fue más una oposición cultural que otra cosa. (Ich würde sagen, daß dies [das unkonformistische Verhalten] mehr als durch rein politische Fragen durch mein Bewußtsein der kulturellen Unterdrückung hervorgerufen wurde. Es handelte sich eher um eine kulturelle Opposition.)
Wie viele Intellektuelle seiner Generation schloß Castellet sich weniger aus ideologischer Überzeugung, denn aus einer diffusen Protesthaltung heraus der im Untergrund agierenden Kommunistischen Partei an. Diese linken Intellektuellen veröffentlichten ihre Ansichten mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten in
344
Tusell (1988: 256) sieht im Protestjahr 1956 einen ersten Hinweis auf die Endphase des Franquismus, während Bernecker (1988: 145f.) damit den Beginn einer breiteren Opposition ansetzt.
345 346
Zitiert in: Gumbrecht 1990, S. 999.
Juan F. Marsal: Intelectuales y política en la generación de los años 50. Barcelona 1979, S. 86.
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offiziellen, in der Regel falangistischen Organen. 3 4 7 Auch die Arbeiter machten sich zunächst die offiziellen Institutionen zunutze. Die politischen Parteien im Untergrund wechselten schließlich ebenfalls ihre Strategie und sprachen sich ftlr Infiltration, statt Guerilla-Taktik und Illegalität aus. Die ersten Arbeiterproteste kamen unter dem Schutzschild der kirchlichen Arbeitervertretungen zustande, denn unabhängige Gewerkschaften waren ebenso wie Streiks illegal. Ein Teil der Kirche (nicht die Hierarchie!) trat mittlerweile für eine Verbesserung der Situation der Arbeiter ein: Sogenannte „Arbeiterpriester" ergriffen offen Partei für die vom Regime mißachtete Unterschicht. 348 Doch erst in den 60er Jahren verwandelten sich die dissidenten Splittergruppen in eine Opposition mit Massenbasis, die ihrem Protest seit 1962 durch Streiks, Aktionen und Briefe massiv Ausdruck verlieh. Die spanische Gesellschaft hatte sich gewandelt und modernisiert, denn Tourismus und Emigration schafften auch mehr Kontakte zum Ausland. Nicht mehr nur die Parteien organisierten nun Widerstand, die Politisierung fand in allen Lebensbereichen statt: Die Universitäten dienten als Inseln, wo offen dissidente (vor allem marxistische) Ideen diskutiert wurden; bestimmte Berufsgruppen (Anwälte, Journalisten) protestierten immer häufiger; Arbeiterstreiks waren an der Tagesordnung, vor allem seit wirtschaftlich motivierte Streiks im Jahr 1965 legalisiert wurden. Geistig-moralischen Auftrieb erhielt die Opposition schließlich von der katholischen Kirche in Rom, denn der liberale Papst Johannes XXIII. und das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) mit einem Credo für mehr soziales Engagement der Kirche, für Toleranz und ökumenische Verständigung brachten Franco und seine konservativen „Kreuzzugsbischöfe" in Verlegenheit. Der generation gap machte sich auch in der spanischen Kirche bemerkbar, denn viele junge Geistliche schlössen sich gegen den Widerstand der älteren Generation in der Kirchenhierarchie den konziliaren Ideen in der Hoffnung auf praktische Auswirkungen auf die rigide Politik der Diktatur an. Viele vertraten Ideen, die zugleich von Sozialismus und Katholizismus geprägt waren. 349
347
Viele der von Marsal interviewten Intellektuellen aus Katalonien veröffentlichten in ihrer Jugend in der falangistischen Studentenzeitung Laye, obwohl sie sich ganz klar von der falangistischen Ideologie distanzierten.
348
Zur Entwicklung der oppositionellen Strömungen innerhalb der spanischen Kirche und zu den Gründen für die Umorientierung der Kirchenvertreter vgl. Juan José Ruiz Rico: El papel político de la Iglesia Católica en la España de Franco (1936-71). Madrid 1977, S. 157-171.
349
Ruiz Rico analysiert detailliert die Konflikte innerhalb der spanischen Kirche zwischen den jungen, sozial und politisch engagierten Erneuerern und den älteren franquistischen Bischöfen, die den Ergebnissen des Konzils eine konservative und für die gesellschaftliche Praxis nicht relevante Interpretation gaben. 1973 war der Wechsel endgültig vollzogen, wie eine Umfrage der Bischofskonferenz demonstriert: unter den politischen Vorlieben der Priester lag der Sozialismus auf Platz I. S. 185-219.
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1962 überwand die Oppositionsbewegung erstmals ideologische Differenzen, als sich die Führer konservativer und linker antifranquistischer Parteien beim gemeinsamen Treffen in München die Hand reichten. Die bisher konsequent unterdrückten Regionalkulturen im Baskenland und in Katalonien formulierten ihre Ansprüche. Das Regime wurde dadurch einerseits zu gewissen Kompromissen gezwungen, andererseits versuchte es, die Unruhen durch repressive Maßnahmen zum Verstummen zu bringen. Wie empfindlich die Regierung gegenüber Protesten der Opposition und der damit verbundenen negativen Publicity im Ausland reagierte, zeigte die harte Bestrafung der Teilnehmer des Münchner Treffens: Sie wurden verhaftet oder verbannt, entlassen oder mußten Geld- oder Gefängnisstrafen ableisten. Trotzdem ließ sich der Widerstand nicht mehr brechen wie in den 40er Jahren.
1.2. Überblick über die Kommunikationspolitik Zensurpolitik Die Zensurpolitik der 50er Jahre wurde von Informationsminister Gabriel AriasSalgado geprägt, einem dogmatischen Vertreter der nationalkatholischen Ideologie. In zahlreichen Artikeln, Interviews und Vorträgen entwickelte er eine „Informationsdoktrin" auf der Basis der katholischen Lehre. 350 In der Frühphase hatte sich das Regime - abgesehen von der kurzen Präambel des Pressegesetzes auf die Ausarbeitung weniger praktischer Normen und Anweisungen beschränkt. Diese gesetzliche Basis stellte Arias keineswegs in Frage, offenbar erschien ihm aber die Zensurpraxis legitimationsbedürftig in einer Zeit, in der Spanien erste Kontakte zur demokratischen Welt aufnahm. Vor allem betrachtete er es als vordringlich, die durch die Falange geprägte Pressepolitik in einen katholischen Rahmen zu stellen. So grenzte er sein Ideal zunächst von den bereits bekannten, unverändert gültigen Feindbildern Liberalismus und Marxismus ab: Beide nähmen „von der Existenz Gottes keine Notiz" und kannten „keine wahrhaftige Ethik", sondern nur die „Freiheit zum Irrtum". 351 Arias nahm mit seinem ultrakatholischen Konzept explizit auf die totalitäre Ideologie der Falange Bezug. 352 Die Zensur, argumentierte er, diene der Verteidigung eines Gemeinwohls, das nur durch die staatliche Autorität und nicht durch konkurrierende Interessengruppen gefunden werden könne. Für die Richtigkeit dieses Gemeinwohls garantiere ein „katholischer Staat de jure und de facto" wie der Franquismus, weil die seinen Handlungen zugrunde liegenden Werte eine „Garantie des guten Gebrauchs und der Anwendung dieser Fä-
350
Gabriel Arias-Salgado: Política española
351
Ebenda, S. 29f.
352
de la información.
Bd. 2. Madrid 1958.
Er bekräftigt noch einmal die Domäne der Falangisten im „nationalen Journalismus", der auf den falangistischen Werten basiere, ebenda, S. 134.
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higkeit" seien. 353 Dieses Prinzip läßt sich mit dem Kernsatz „Freiheit nur für das Gute" zusammenfassen, der wie eine Fundamentierung des Gebots einer heilen Welt in Literatur und Massenmedien erscheint. Als Tabus nannte der Informationsminister Veröffentlichungen Uber die Institutionen und den Staatschef, die Prinzipien der Bewegung, die Verteidigung und die nationale Sicherheit, das Militär und diplomatische Beziehungen, sowie ganz allgemein alle „beunruhigenden Fragen, deren Ungelegenheit ganz offensichtlich ist". 354 Die Verflechtung katholischer und staatlicher Interessen durch das Konkordat äußerte sich auch in der Kommunikationspolitik, denn der Staat verpflichtete sich, Geistlichen in der Öffentlichkeit, sprich: in Radio und Fernsehen, genügend Raum zur Verteidigung der religiösen Wahrheit einzuräumen. Trotz der Orientierung der staatlichen Zensur an der katholischen Glaubenslehre richtete die Kirche ihre eigene Zensurbehörde ein, die ein abweichendes Bewertungssystem entwikkelte und sich am Index Librorum Prohibitorum ausrichtete. Erst Bücher mit dem „Nihil obstat" durften auch aus geistlicher Sicht bedenkenlos gelesen werden. Die kirchlichen Beurteilungen der Bücher wurden von 1944 bis I9S4 in der katholischen Zeitschrift Ecclesia abgedruckt, allerdings hatte die Kirche kein anderes Druckmittel als die Androhung der Exkommunizierung bei der Lektüre „sündiger Werke". 355 Andererseits entwickelte sich wie gesagt ausgerechnet im Schöße der Kirche ein erster moderater Widerstand gegen das Regime, und da Kirchenorgane wie zum Beispiel Ecclesia von der staatlichen Zensur ausgenommen waren, ermöglichten sie immer wieder auch nonkonformistische Äußerungen. Zugleich häufte sich in den Reihen der katholischen Journalisten der Ruf nach einer Konkretisierung der Zensurnormen. 1952 gab der „Nationale Rat für katholische Presse" Vorschläge für eine Reform des Pressegesetzes heraus, um die Kriterien der Zensur durchsichtiger zu machen. Schließlich forderten diese Katholiken, die im „Grundgesetz der Spanier" zugesagte Meinungsfreiheit tatsächlich zu gewähren und die Vorzensur auf den Ausnahmezustand zu beschränken. 356 Dabei lehnte die Kirche, die ja ihre eigene Zensur unterhielt, die Kontrolle der öffentlichen Meinung keineswegs grundsätzlich ab, brachte aber der Bevormundung durch den Staat, insbesondere durch die totalitäre Praxis der obligatorischen Presseanweisungen, ihre entschiedene Gegnerschaft entgegen, weil sie sich dadurch in ihrer Souveränität
353
Ebenda, S. 131.
354
Ebenda, S. 110.
355
Eine Analyse der kirchlichen Bewertungsmaßstäbe führen Manuel L. Abellán und Jeroen Oskam anhand von Ecclesia durch in: „Función social de la censura eclesiástica. La crítica de libros en la revista Ecclesia (1944-1951)", in: Journal of interdisciplinary literary studies 1/1989, S. 63-118.
356
Javier Terrón Montero: La Prensa de España durante el régimen de Franco. 1981, S. 128f, sowie Lorenzen 1978, S. 32-37.
Madrid
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des Regimes
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eingeschränkt sah. Auf dem Höhepunkt der Diskussion zwischen liberalen Katholiken und Arias-Salgado schaltete sich der Bischof Ángel Herrera Oria, Chefredakteur von zwei Zeitungen, höchstpersönlich ein und distanzierte sich öffentlich von Arias' Versuch, die Katholische Kirche zu vereinnahmen: 357 La Iglesia no puede callar en este punto. ... El silencio de la Iglesia podría interpretarse como un asentimiento puro y simple a las palabras del señor ministro. Y no es éste el caso. Ni todas las ideas del discurso ni el régimen actual se acomodan al ideal ofrecido, defendido y querido por la Iglesia en esta materia. (Die Kirche kann in diesem Punkt nicht schweigen. ... Das Schweigen der Kirche könnte man als klare und einfache Zustimmung der Kirche zu den Worten des Herrn Minister auffassen. Und das ist nicht der Fall. Weder alle Ideen seiner Rede, noch das gegenwärtige Regime stimmen mit dem Ideal überein, das die Kirche in dieser Angelegenheit hegt, verteidigt und wünscht.)
1959 schien der berief tatsächlich sollte. Aber erst voran. Es dauerte Kulturpolitik
Minister Konsequenzen aus diesen Vorwürfen zu ziehen: Er eine Kommission ein, die ein neues Pressegesetz ausarbeiten sein Nachfolger Fraga Iribame trieb dieses Projekt tatkräftig immerhin noch bis 1966, bis das Gesetz verwirklicht wurde.
Die liberale Bildungs- und Kulturpolitik des Ministers Ruiz Giménez (1951-56) löste das Land aus seiner intellektuellen Isolierung. Der italienische Neorealismus, die amerikanischen Nachkriegsautoren der lost generation (Faulkner, Dos Passos und Hemingway), der Behaviorismus und der Neopositivismus kamen ins Land und wurden von den spanischen Intellektuellen interessiert aufgenommen. Denn der von diesen Strömungen vertretene empirische Ansatz bot eine willkommene Alternative zu der Vermischung von Ideologie, Theologie und Wissenschaft auf offizieller Seite. 358 Die Entideologisierung des Diskurses in Wirtschaft und Politik scheint in der Kultur eine Entsprechung zu finden, denn eine neue Generation von Intellektuellen, die den Krieg nur als Kind miterlebt hatte, begann sich vom Regime zu distanzieren und entwickelte ihre eigene, von den oben genannten Strömungen inspirierte Kunstform: die novela social. Ihr Ziel war trotz ihres sozialkritischen Hintergrundes - die möglichst objektive, möglichst detailgetreue und möglichst unpersönliche Abbildung der Mißstände auf dem Land, der Arbeitsbedingungen des Proletariats oder der städtischen Randgruppen. 359 Die Intellektuellen sympathisierten in den 50er Jahren mit den marxistischen Ideen. Doch da das Regime bis in die 60er Jahre marxistische Bücher verbot und diese nur illegal in kleinen Mengen eingeführt werden konnten, vertraten sie nach Ansicht des Literaturkritikers Castellet allerdings einen „fast ausschließ-
357
Zitiert bei Terrón Montero 1981, S. 131 f.
358
Bilbao 1977, S.
359
Vgl. Pablo Pedro Gil Casado: La novela social en España (1942-65). Wisconsin 1967.
Vgl. Equipo Reseña: La cultura española durante el franquismo. 15 lf.
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lieh intuitiven Marxismus ohne Texte". 360 Trotz aller künstlerischer Unzulänglichkeiten erfüllte die novela social in der Literatur eine wichtige Funktion, denn die Zensur führte zu einer Umverteilung der Aufgaben: Während die aktuellen Medien wegen ihrer Breitenwirkung so stark zensiert wurden, daß sie kein wahrheitsgetreues Bild der sozialen Wirklichkeit vermitteln konnten, übernahm in den 50er Jahren die weniger streng kontrollierte novela social die Informationsrolle der Presse. Denn einerseits galt das lesende Publikum als elitäre Minderheit, die das Regime tolerierte, solange sie sich ruhig verhielt. Andererseits funktionierte die scheinbar objektive Distanz der Erzähler als Tarnung filr die sozialkritischen Inhalte. Als „Zeuge", der nicht in die Figuren des Romans hineinschauen kann, dokumentiert der Erzähler der novela social in externer Fokalisierung negative Aspekte des spanischen Alltags, ohne sie explizit zu kommentieren, etwa in Form eines Reiseberichts wie Goytisolos Campos de Nijar oder durch das photographische Auge eines „neutralen" Beobachters wie in El Jarama von Sánchez Ferlosio (vgl. Kap.VI.3.). 36 ' Die novela social entwickelte sich zum Credo der jungen, regimekritischen Autoren. Sie wurde gefördert durch den renommierten Verleger und Dichter Carlos Barrai, der einen Großteil dieser Romane veröffentlichte, und durch den oben zitierten Kritiker Castellet, der die novela social theoretisch untermauerte. Ihren politischen Kampf gegen das Regime fochten diese Intellektuellen auf den Seiten der Bücher aus. Der politische Hintergrund bietet einen Erklärungsgrund, warum die spanischen Autoren noch 1959 bei einem internationalen Kolloquium über den Roman diese Richtung hartnäckig gegenüber ausländischen Kollegen verteidigten, obwohl der Realismus im übrigen Europa durch zeitgemäßere Strömungen wie den nouveau roman Robbe-Grillets und Butors längst verdrängt worden war. Sicher ist Gumbrechts Einwand berechtigt, daß „Mangel" und „Rückstand" der spanischen Literatur nicht bloß auf staatliche Repression und Zensur geschoben werden können, sondern auch die Frage nach literarischen Talenten gestellt werden muß.362 Aber offensichtlich schien der Sozialroman trotz seiner Tendenz zu Wiederholung und Langeweile den Autoren jenes Moments eine historische Notwendigkeit und unabhängig vom ästhetischen Wert - ein kulturpolitisches Bedürfnis. Selbst ein so ambitionierter und innovativer Schriftsteller wie Martín-Santos machte das politische Engagement der novela social zum Ausgangspunkt für sein Werk. Allerdings markierte er mit Tiempo de silencio bahnbrechend den Wendepunkt zwischen Sozialroman und einer erzähltechnisch ambitionierteren Literatur. Seine 360
Span. Orig. in: Marsal 1979, S. 89: „... hicimos una determinada evolución ideológica con un grupo de jóvenes formado por mí hacia el 'marxismo' (entre comillas) porque era un marxismo sin textos, casi puramente intuitivo."
361
Vgl. Geneviève Champeau: „Decir callando", in: Mélanges de la Casa de Velázquez 24/1988, S. 280.
362
Gumbrecht 1990, S. 998.
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Kritik am Regime drückte er nicht mehr bloß durch die Beschreibung der Realität aus, sondern durch die Zerstörung der franquistisch-nationalistischen Mythen und die Unterwanderung der offiziellen Sprache. 363 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das erwachende politische Bewußtsein unter Intellektuellen, Studenten und Arbeitern eine starke Wirkung auf die Kulturproduktion der 50er Jahre hatte. 1961 schickten über 200 Intellektuelle aller politischen Tendenzen einen Brief an Arias-Salgado mit Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung der Zensur. 364 Doch die kulturelle Öffnung des Regimes weitete sich noch nicht auf die Politik und folglich auch nicht auf die öffentliche Meinung aus. Die Entlassung von Erziehungsminister Ruiz Giménez im Jahr 1956 machte die prekäre Situation der Lockerungstendenzen manifest.
1.3. Das Literaturangebot Auch die Verlage waren inzwischen selbstbewußter geworden. Sie legten der Zensurbehörde nun Bücher vor, die eine vorsichtige Vergangenheitsbewältigung in Angriff nahmen, wie mehrere Abhandlungen über deutsche Konzentrationslager zeigen. 365 Außerdem wurden 1961 verschiedene Sexuallehren - offenbar aufgrund eines dringenden Nachholbedarfs - eingereicht. 366 Die Konsequenzen dieser Lockerung waren auch in der fiktionalen Literatur spürbar. Seix Barrai hatte sich mit dem Katalog von 1962 ein zeitgemäßeres Image zugelegt und verlegte nun regimekritische Vertreter der novela social wie Juan García Hortelano, Alfonso Grosso, López Salinas und Juan Goytisolo. 367 Außerdem stellte sich der Verlag durch die Veröffentlichung wichtiger ausländischer Autoren wie Butor, Robbe-Grillet, Pavese oder Henry Miller inzwischen deutlich weltoffener dar.
1.4. Die Zensurkriterien Das Jahr 1961, Erscheinungsjahr von Tiempo de silencio, markierte bereits das Ende der Ära Arias-Salgado, denn ein Jahr später wurde der Minister für Tourismus und Information durch den jüngeren Manuel Fraga Iribarne ersetzt. Im Jahr 1961 gingen laut Zensurindex insgesamt 7294 Werke in der Behörde ein. 50
363
Vgl. die Analyse von Tiempo de
364
Udo Rukser: „Spanische Zensur - heute", in: Der Monat, 154/1961, S. 85-87.
silencio.
365
Seix Barrai verlegte 1962 den Titel El tercer Reich y los judios („Das Dritte Reich und die Juden") in: Catàlogo, März 1962, S. 16. Vgl. auch die Zensurgutachten von 1961 zu La mentirà de Ulises von Paul Rassinier (exp. 579, AGA 13.149) und zu La maison des otages von André Frossard (exp. 876, AGA 13.168), beide zum Thema deutsche Konzentrationslager.
366
Zum Beispiel eine Einführung in die sexuelle Aufklärung: El libro de la joven („Das Buch der jungen Frau") von einem „Doktor Camot", exp. 1478, AGA 13.224, 1961.
367
Seix Barrral, Catàlogo,
März 1962.
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Gabriele
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Gutachten wurden im Zufallsverfahren filr die Stichprobe herausgegriffen - jedes 161. Gutachten kam dabei in die Stichprobe. Die Auswertung der Gutachten von 1961 zeigt, daß die Bücher - wie 1943 - vor allem aus moralischen und politischen Gründen zensiert wurden. Der wichtigste Unterschied zum Zensurverhalten von 1943: die Verbotsrate ging von 52% auf 13% zurück. Die Zensoren waren im Jahr 1961 dazu übergegangen, eher einzelne Stellen zu streichen als das ganze Buch zu verbieten - ein Trend, der sich unter Fraga verstärkte. 368 Zudem ist ein leichter Rückgang der Sanktionsquote überhaupt zu verzeichnen: während im Jahr 1943 noch 75% aller von den „Lektoren" monierten Verstöße tatsächlich verfolgt wurden, waren es 1961 nur noch 63%. Die veränderte Zensurpraxis erklärt sich vor dem Hintergrund verstärkter (insbesondere wirtschaftlicher) Auslandskontakte des Regimes, denn ein paar Streichungen, glaubten die Zensoren, ließen sich im demokratischen Ausland eher vermitteln als das komplette Verbot eines Buches. Eine Zensur der literarischen Qualität gab es 1961 nicht mehr.
Angriffe auf das politische Dogma Die Kriterien für Darstellungen der spanischen Geschichte hatten sich kaum geändert, nur die Mode der historischen Romane war 1961 ziemlich abgeebbt. Nach wie vor verteidigten die Zensoren die nationalkatholische Tradition und ihre Institutionen (Inquisition, Kreuzzüge, Katholische Könige). 369 Das Thema Spanischer Bürgerkrieg erhielt mit immerhin neun Nennungen der Stichprobe eine neue Präsenz in der Literatur. Wie die Längsschnittanalyse zeigt, war es offenbar zahlreichen spanischen Autoren der 50er und frühen 60er Jahre ein besonderes Anliegen, über den Bürgerkrieg zu schreiben. Allerdings beschränkten sie sich in der Regel auf eher unpolitische Beschreibungen des Kriegsklimas. Oder sie schrieben über die Folgen filr die Bevölkerung, ohne dem Regime offen die Schuld zuzuweisen. 370 Viele Dichter gingen allerdings einen Schritt weiter, denn offenbar wurde die elitäre Lyrik weniger streng als Romane zensiert. Sie betrauerten - von der Zensur argwöhnisch begutachtet - die zerrissene Einheit des Landes und die verfeindeten „zwei Spanien". So schrieb etwa der regimekritische Dichter Blas de Otero die Zeilen: „Dos Españas, frente a frente./ Al tiempo de guerrear/ al tiempo de guerrear/ se perdió la verdadera." („Zwei Spanien standen sich gegenüber./ Sie kämpften gegeneinander/ sie kämpften gegeneinander/ dabei ging das wahre Spanien verloren.") Zensor Nr. 27 zeigte sich zwar begeistert von
368
Die Rate der Streichungen stieg im gleichen Zeitraum von 23% auf 51%.
369
So empört sich der Zensor eines historischen Romans nicht bloß über den Vergleich der Inquisition mit den KZs der Nationalsozialisten, sondern vor allem - wie 1943 über die ungebührliche Darstellung der Könige mit ihren Manien und Deformationen, exp. 5256, AGA 13.520, 1961, Janine Villars: La Reine folie d'amour.
370
Duelo en el paraíso von Juan Goytisolo (1954) oder En esta tierra von Ana Maria Matute (1955).
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
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den „wunderbaren Gedichten", aber er verbot das Buch wegen seines „schwerwiegend politischen Charakters". Selbst ein so Franco-freundlicher Historiker wie der Amerikaner Burnett Bolloten handelte sich mit seiner Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges Probleme ein, weil er sich nicht an den offiziellen Sprachgebrauch hielt. Er stellte nämlich die „Roten" der Wahrheit entsprechend als „rechtmäßige Seite" dar und bezeichnete die Franco-Truppen als „Aufständische". 371 Doch der Sprachgebrauch wurde 1961 noch streng kontrolliert. Bei den Feindbildern unterschieden die Zensoren von 1961 offenbar zwischen internationalen Gegnern und „Feinden" im eigenen Land. Vor allem bei ausländischen Autoren hatte sich die Zensur nun mit aktuelleren Spielarten des Kommunismus zu befassen: dem Maoismus oder dem Castro-Regime. Solange diese Ideologien „neutral" und „ohne eindeutige Präferenz" abgehandelt wurden, tolerierte sie die Zensur, wenn diese Lehren nicht auf die Situation in Spanien übertragen wurden. Positive Darstellungen dieser Ideologien galten nach dem Pornographie- und Kommunismusgesetz hingegen als „illegale Propaganda" und konnten sogar gerichtlich verfolgt werden. 3 7 2 Keinerlei Lockerung läßt sich bei den traditionellen spanischen Feindbildern feststellen: Republikanische Persönlichkeiten, Freimaurer, Atheisten, j a selbst die inzwischen bedeutungslos gewordenen Anarchisten wurden immer noch durch den Rotstift getilgt. Zweischneidig war die Haltung des Regimes zum Liberalismus. Zwar hatten sich marktwirtschaftliche Prinzipien in Spanien vollkommen durchgesetzt, aber ein politischer Liberalismus stand den Interessen der Diktatur nach wie vor entgegen. Dieser Zwiespalt wird deutlich in zwei widersprüchlichen Zensururteilen: So passierte ein Geschichtsbuch über die liberale Republik im Mexiko des 19. Jahrhunderts problemlos die Zensur, denn das Buch sei mit „objektivem Geist" geschrieben, so der Zensor. Andererseits galt „liberal" immer noch als Schimpfwort, und eine spanische Essaysammlung, nach dem Urteil des Zensors „ein Lob der liberalistischen Doktrin", durfte nur mit zahlreichen Streichungen erscheinen. 3 7 3 Texte auf katalanisch wurden inzwischen autorisiert, solange sie nicht im Verdacht standen, separatistisches Gedankengut zu verbreiten. Proble-
371
Trotz des großen Respekts, den die Vertreter des Regimes dem Autor bekundeten, mußte er einen Halbsatz in einer Fußnote streichen, weil darin in einem Zitat die nationalen Truppen kritisiert wurden, exp. 3504, AGA 13.379, 1961, Burnett Bolloten: El gran engaño.
372
Ein Buch über die Bekämpfung des Hungers in der Welt wird wegen seines „technischen Charakters" gebilligt, untolerierbar ist hingegen eine „Apologie des maoistischen Regimes", weil der Autor behauptet, die kommunistischen Reformen Mao-Tse-tungs stellten das bedeutendste Ereignis unserer Zeit dar. Der Zensor hält das für „reine Propaganda", exp. 4366, AGA 13.455, 1961, Josne de Castro: Le livre noir de la faim.
373
Exp. 3357, AGA 13. 369, 1961, Ernesto de la Torre Villar: El triunfo de la república liberal (1857-60) sowie exp. 7154, AGA 13.676, 1961, Antonio Menchaca: Hoy, ayer, mañana, ensayos de historia.
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matisch blieben hingegen fremdsprachige Übersetzungen ins Katalanische: So wurde die katalanische Version eines (politisch irrelevanten) französischen Textes über den bergbegeisterten König Albert im April 1961 normgemäß abgelehnt und erst bei der Neuvorlage Anfang 1962 aufgrund eines positiven Gegengutachtens autorisiert. 374 Hierzu gaben offenbar die neuen Kriterien Fraga Iribarnes den Ausschlag, denn laut Zensurchef Carlos Robles-Piquer bestand eine der ersten Änderungen unter seiner Amtszeit in einer Abschaffung der Diskriminierung gegenüber den nichtspanischen Minderheiten. 375 Am deutlichsten zeigt sich die politische Entwicklung des Franquismus daran, daß Angriffe gegen die ehemaligen Verbündeten Francos nicht mehr verboten waren - das Regime hatte sich von seinen totalitären Anfängen vollkommen distanziert. Da die Nationalsozialisten nicht mehr zu den schützenswerten Gruppierungen gehörten, durften sie in einem Spionageroman unzensiert die Bösen sein. 376 Sogar die Wahrheit Uber die deutschen KZs wurde geduldet, solange die Autoren sich nicht zur spanischen Zusammenarbeit mit den Nazis äußerten. 377 Kritik an der Politik des Regimes, 1943 noch so gut wie inexistent, kam 1961 häufiger vor (immerhin sieben Verstöße in der Stichprobe, die allerdings jedesmal zensiert wurden). Gestrichen wurden zum Beispiel Passagen in einer Sammlung historischer Essays, in denen „negative Kritik an dem 'leeren integristischen und traditionalistischen politischen Gedankengut'" des Regimes geäußert wurde. 378 Die Zensoren durchschauten auch die Camouflage in einem wissenschaftlichen Werk über das griechische Drama, in das der Autor indirekt seine Forderung nach mehr Meinungsfreiheit eingeschrieben hatte. 379 Das Buch durfte nur mit Streichungen erscheinen. Die spanischen Schriftsteller lebten 1961 wie der Rest der Gesellschaft nicht mehr abgeschirmt vom übrigen Europa, und sie protestierten deshalb häufiger gegen die politische Unbeweglichkeit der Diktatur. Aber selbst auf Kritik in verhüllter Form reagierten die Zensoren noch außerordentlich sensibel. So wurde etwa folgende stark verschlüsselte Metapher gestrichen: 380 „L'Espagne aussi connaît la nuit. Mais dans la peinture espagnole, la 374
Exp. 6570, AGA 13.621, 1961, René Mallieux: El Rei Albert,
375
Interview vom 17. Mai 1994 in Madrid.
376
Exp. 4832, AGA 13.490, 1961, Enrique Sánchez Pascual: Noche sin fin.
Alpinista.
377
Exp. 579, AGA 13.149, 1961, Paul Rassinier: La mentira de Uiises. Diese Dokumentation über die nationalsozialistischen Konzentrationslager wird erlaubt, allerdings muß der Autor eine Anspielung auf Konzentrationslager in Spanien streichen: „Debe tacharse la alusión inexacta que se hace sobre los campos españoles." („Die falsche Anspielung auf die spanischen Lager muß gestrichen werden.")
378
Exp. 7154, AGA 13.676, 1961, Antonio Menchaca: Hoy, ayer, mañana, ensayos de historia.
379
Exp. 6866, AGA 13.649, 1961, José María de Quinto: La tragedia y el hombre.
380
Exp. 876, AGA 13.168, 1961, André Frossard: La maison des otages.
VI Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
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lumière déchire les ténèbres comme un cri soudain dans un silence suspect." Offenbar bezogen die Zensoren die „Dunkelheit" ganz klar auf den Franquismus. Angriffe auf die Moral Bei der Kontrolle obszöner Tabuwörter trat 1961 keine Lockerung ein, denn die Körperfeindlichkeit der Diktatur hatte sich nicht geändert. Carlos Robles-Piquer, Generaldirektor für Bücherzensur unter Fraga, rechtfertigte diese Zensur damit, daß es „nicht dasselbe" sei, „diese Ausdrücke auf der Straße zu hören, wie sie gedruckt zu sehen". 381 Pornographie war im Franquismus undenkbar, es fällt jedoch auf, daß die Autoren der (lberbordenen Trivialliteratur 1961 die dürftigen Handlungen als Vorwand für sinnlich-erotische Darstellungen nutzten. Diese Heftchen-Romane können als von der Zensur geduldeter Pomographie-Ersatz gedeutet werden. Dabei hielten sich die Autoren pro forma an die traditionelle Moral des Regimes. So ließ eine Autorin die Ehefau des Helden rechtzeitig vor dem (nur angedeuteten) Geschlechtsakt mit seiner Geliebten bei einem Flugzeugabsturz sterben, um einen Ehebruch zu vermeiden. 382 Die Doppelmoral des Regimes offenbarte sich darin, daß die Zensur dieses Spiel mitmachte, denn das Buch durfte ohne Eingriffe veröffentlicht werden. Wie oberflächlich und auf den äußeren Schein bedacht die Zensur vorging, zeigt auch die Streichung des Titels Sed de besos („Durst nach Küssen"), der sicher weniger „sexuell erregend" wirkte als der - völlig unzensierte - Rest der trivialen Liebesschnulze. 383 Neu war auch, daß der rein wissenschaftliche Charakter eines Werkes Abhandlungen über Sexualität legitimierte, solange der Autor nicht Morallehren vertrat, die sich gegen die Kirche richteten. Ein Beispiel daftlr ist ein Sachbuch über Homosexualität: Obwohl der „Lektor" meinte, filr das breite Publikum sei es eine „ungesunde Lektion von Perversionen", autorisierte der Behördenleiter das Buch nach anfänglicher denegación,384 Bei der Beurteilung von unmoralischen Handlungen war die Zensur ebenfalls etwas moderner geworden. Die patriarchalischen Bemühungen um die schriftliche Fixierung einer heilen Welt ohne Morde, Diebstähle und Gaunereien hatten die Zensoren fast aufgegeben. 385 Der Selbstmord schien nun kein absolutes Tabu
381
Interview vom 17. Mai 1994, span. Orig.: „No es lo mismo oirías en la calle que verlas escritas".
382
Exp. 3796, AGA 13.408, 1961, María Mercedes Orteil: Todos se han ido.
383
Exp. 2919, AGA 13.329, 1961.
384
Exp. 6, AGA 13.103, 1961, Hans Giese: Der Homosexuelle. Span. Orig.: „Para el gran público sería una malsana lección de perversiones".
385
Einwände wie der von Padre Aguirre „... hay un robo y no se devuelve lo robado y no aparece sanción del delito cometido ..." („... es kommt ein Raub vor, und das Geraubte wird nicht zurückgegeben und das Verbrechen nicht bestraft...") stammen noch aus der alten Zensoren-Schule und sind für die Zensurentscheidung nicht mehr ausschlag-
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mehr zu sein, solange er im Buch nicht gerechtfertigt wurde. 386 Bei „unmoralischen Handlungen", die gegen die katholische Sexualmoral verstießen, verhielt sich die Zensur jedoch immer noch unerbittlich. So strich sie ein nüchternes Kapitel Uber voreheliche Partnerschaften in einem Bericht über das Leben in Deutschland. 387 Andererseits autorisierte der Zensor einen Roman, in dem ein verheirateter Polizist sich von einer sinnlichen Französin verführen und auf Abwege lenken ließ. Doch die lasterhafte Französin entschuldigt wohl vieles, außerdem kehrt der Held wieder auf den rechten Weg zurück: „Die unmoralischen Handlungen werden am Ende erkannt". 388 Protagonisten, die reuelos einen unmoralischen Lebenswandel führten - was ohnehin so gut wie ausschließlich bei ausländischen Autoren vorkam -, hatten in der Regel keine Chance, durch die Zensur zu kommen. Hier verbanden sich manchmal politische mit moralischen Vorbehalten: In dem französischen Roman Frou-Frou, einem Buch über die freie Liebe, wurde nur der Prolog komplett gestrichen, weil die Autorin die freizügige Lebensauffassung darin theoretisch untermauerte, der Rest durfte veröffentlicht werden. 389 Offenbar erschien den Zensoren die praktische Ausführung dieser Liebeskonzeption gemäß dem propagandistisch verwendeten Klischee von den sexbesessenen Franzosen akzeptabler als die Kraft der Argumente. Angriffe auf die Religion Der neue Geist machte sich ein Jahr vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils bereits bemerkbar, denn die Autoren reichten deutlich häufiger kirchenkritische Werke ein als im Jahr 1943. Wissenschaftliche Bücher wurden nun nicht mehr verboten, weil ihre Ergebnisse gegen die Lehre der Kirche verstießen. Die Freiheit reichte sogar so weit, nicht katholische Religionen wie den Buddhismus oder den brasilianischen Spiritismus „objektiv und informativ" darzustellen. Diese Toleranz erstreckte sich jedoch nicht auf die negative Charakterisierung von Kirchenvertretern. Selbst bei harmloser Kritik an der Institution Kirche reagierten die Zensoren noch empfindlich: Vier von sechs Beanstandungen der Untergruppe „Kritik an der Institution Kirche" wurden definitiv gestrichen. Die Zensur verbot etwa eine harmlose Schwankszene zwischen einem geistlichen
gebend, in: exp. 1890, AGA 13.255, 1961, Charles Franklin: Muerte de un hombre pálido. 386
Ana María Matutes Werk El pequeño teatro (aus der Längsschnittanalyse) passierte die Zensur ohne Probleme, obwohl sich die - vom Zensor allerdings negativ beurteilte Protagonistin am Ende umbringt, exp. 5122, AGA 10.812, 1954.
387
Exp. 5997, AGA 13.569, 1961, Virgilio Cabello Rodríguez: Mi Berlin.
388
Exp. 1890, AGA 13. 255, 1961, Charles Franklin: Muerte de un hombre pálido. Span. Orig.: „...las inmoralidades están reconocidas como tales".
389
Exp. 2641, AGA 13.307, 1961, Cécil Saint-Laurent: Frou-Frou.
VI. Die Konsolidierung des Regimes
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Liebhaber und einer verheirateten Frau. 390 Ein anderer Autor kritisierte die Politik des Vatikans als zu patemalistisch und eurozentriert. Interessanterweise kam dieses Buch durch die Zensur - vielleicht weil der Respekt gegenüber den spanischen Bischöfen genügend gewahrt blieb, denn der Autor konzentrierte sich auf die Rolle der Kirche in den Missionsländern. 391 Angriffe auf Institutionen oder Gruppen des Regimes Auffällig ist in dieser Untergruppe die Zunahme regimekritischer Angriffe von 6% im Jahr 1943 auf über das Doppelte mit 13% im Jahr 1961. Bei den kritischen Autoren handelt es sich nicht mehr nur um Kritiker aus den eigenen Reihen wie 1943, sondern um echte Oppositionelle. Undenkbar wäre 18 Jahre früher etwa ein beißend parodistisches Theaterstück Uber Franco und seine Militärs gewesen - es wurde natürlich verboten. 392 Zur neuen Zielscheibe wurde das Opus Dei, das es inzwischen zu Macht und Einfluß in vielen Schlüsselpositionen gebracht hatte: In zwei der acht Fälle in der Stichprobe kritisierten die Autoren diese religiöse Organisation, aber die Angriffe wurden jedesmal gestrichen. Die übrigen Stützen des Regimes - Militär, franquistische Politiker, die Falange oder staatliche Institutionen (die Zensurbehörde selbst, die Justiz oder die Arbeitsbehörden) - blieben weiterhin tabuisiert, wurden aber inzwischen öfter attackiert. Doch nur in einem Fall verboten die Beamten das ganze Buch, während sie in den übrigen sieben Fällen die anstößigen Stellen einfach strichen. 393
2. Die Analyse von Martin-Santos' Tientpo de silencio (1961) Die zensurorientierte Analyse von Tiempo de silencio umfaßt zwei Aspekte: Zunächst wird die Reaktion der Zensur auf den Roman untersucht; dargestellt werden dabei die Zensurgeschichte des Romans und zensurbedingte Streichungen. Dabei fällt auf, daß sich diese Streichungen weniger auf politische als auf moralische oder religiöse Verstöße beziehen, obwohl der Autor mit seinem Buch explizit regimekritische Intentionen verfolgte. Der Hauptteil der Analyse beschäftigt sich daher mit der Frage, a) worin die Regimekritik des Romans überhaupt besteht und b) wie sie derart getarnt wurde, daß die Zensoren den Roman nicht verboten haben.
390
Exp. 6866, AGA 13.649, 1961, José Maria de Quinto: La tragedia y el hombre. Eine Parallelszene passiert die Zensur jedoch, vielleicht weil der Geistliche nur einfacher Pfarrer, kein Abt ist wie oben, exp. 149, AGA 13.115, 1961, Cuentos de hadas famosas.
391
Exp. 551, AGA 13.533, 1961, Jacinto Boneta: Fracaso de la Iglesia.
392
Exp. 6720, AGA 13.635, 1961, Juan Ventura Barrio: La Incompleta.
393
In einem Fall erkennt der Zensor sogar, daß ein Verbot des Buches die kritischen Thesen des Autors noch bestätigen würde und schlägt daher kurzerhand die Autorisierung mit Streichungen vor, exp. 7154, AGA 13.676, 1961, Antonio Menchaca: Hoy, ayer, mañana.
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2.1. Ein verfolgter Sozialist - weltanschauliche Position des Autors Im Gegensatz zu Torrente Ballester gehörte der Arzt Luis Martín-Santos (19241964) als aktives Mitglied der Sozialistischen Partei (PSOE) zu den oppositionellen Regimekritikern. Mehrmals kam er wegen seines politischen Engagements ins Gefängnis: zum erstenmal wurde er 1957 festgenommen; ein Jahr später verbrachte er vier Monate im Gefängnis; im Mai 1959 und im August 1962 verhaftete ihn die Polizei erneut. 394 Offenbar überwachte ihn die Polizei, denn in seiner Zensurakte finden sich nicht bloß Gutachten, sondern zusätzliche Informationen über Lebenslauf und Parteizugehörigkeit des Autors. Diese Daten hatte die Zensurbehörde in Madrid bei seinem Tod im Jahr 1964 von der Baskischen Provinzdelegation eingefordert - Martín-Santos lebte in San Sebastián. In der Antwort der Provinzdelegation heißt es stilistisch unbeholfen: 393 Su vida normal no era de privaciones; más bien con lujo y con clínicas en San Sebastián y Madrid. Creo que, a pesar de todo, era un hombre mito, con una clara 'forma de estar' y una disimulada 'forma de ser'. Fue la cabeza del pequeño grupo de 'intelectuales' no afectos, de los que abundan en la profesión médica. Consiguió un puesto en el Psiquiátrico Provincial, pese a todas las circunstancias. Cuando fue nombrado Director de ese centro, otro médico psiquiatra, el Doctor Bueno, se suicidó por lo que él consideró una injusticia manifiesta. Todo lo que se dice, puede no ser exactamente cierto. De todas formas esa persona que tuvo grandes y [unlesbares Wort] amigos y, como ocurre en estos casos, también enemigos. (In seinem Alltagsleben mußte er keinen Mangel leiden, er lebte eher im Luxus mit Kliniken in San Sebastián und Madrid. Ich glaube dennoch, daß er ein Mensch war, der zu einem Mythos geworden ist, mit einer eindeutigen „Art sich zu geben" und einer verborgenen „Art zu existieren". Er war der Kopf einer kleinen Gruppe von regimekritischen 'Intellektuellen', wie sie im medizinischen Gewerbe im Oberfluß vorkommen. Er erhielt trotz all dieser Umstände einen Posten in der Provinzpsychiatrie. Ein anderer Psychiater, Doktor Bueno, brachte sich um, weil er das fllr eine offensichtliche Ungerechtigkeit hielt. Alles, was man sagt, muß nicht unbedingt stimmen. Auf jeden Fall hatte diese Person große und [unlesbares Wort] Freunde - und auch Feinde, wie das in solchen Fällen üblich ist.) Luis Martín-Santos machte trotz seiner politischen Heterodoxie eine brillante Karriere.396 Er studierte wie sein Vater in Salamanca Medizin, promovierte in Madrid und arbeitete zunächst als Chirurg. Unter dem Einfluß seines angesehenen Lehrers, Pedro Lain Entralgo, eines Intellektuellen und enttäuschten Falangisten, widmete er sich den Theorien Karl Jaspers. Er wechselte von der Chirurgie 394
Vgl. José-Carlos Mainers Prolog zu Tiempo de destrucción. Barcelona 1975, S. 9-42, dort S. 12. Der Nachruf auf Martín-Santos im Parteiorgan Le Socialiste vom 6.2.1964 gibt Aufschluß über die Umstände seiner Verhaftungen und seine Arbeit im ExekutivKomitee des PSOE.
395
Exp. 4244, caja 13.446, 1961, vgl. Anhang.
396
Zu Martín-Santos' Lebenslauf vgl. Mainer 1975, S. 9-21.
V!. Die Konsolidierung
des Regimes
(¡951-1966)
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zur Psychiatrie Uber, die seinen philosophischen Neigungen besser zu entsprechen schien. 1949/1950 studierte er Psychiatrie in Heidelberg, verbrachte eine Zeit in Paris und beschäftigte sich mit Heidegger und Sartres Existenzialismus. 1951 wurde Martín-Santos mit 27 Jahren Direktor der Psychiatrischen Klinik von San Sebastián. 1959 bereitete er sich im Gefängnis auf die Prüfungen für eine Professur in Salamanca vor, doch ein Bewerber aus Opus De/'-Kreisen wurde ihm vorgezogen. Martín-Santos machte sich durch wissenschaftliche Veröffentlichungen einen Namen, bevor er 1961 seinen einzigen vollständigen Roman Tiempo de silencio veröffentlichte. Er arbeitete an einer Fortsetzung des Romans, Tiempo de destrucción, doch im Januar 1964 kam er mit 40 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Martín-Santos markiert mit seinem herausragenden Erstlingswerk die Wende von der novela social hin zu einer ästhetisch ambitionierteren Literatur. Inhaltlich und ideologisch steht Martín-Santos den Vertretern der novela social zwar noch nahe. Der überzeugte Sozialist situiert die Handlung von Tiempo de silencio im unterentwickelten Madrid um 1949 - allerdings mit vielen Bezügen zu seiner eigenen Zeit. Formal läßt er sich von avancierten modernen Autoren inspirieren - Joyce und Proust gehörten zu Martín-Santos' Lieblingsschriftstellern. Er entwickelt neuartige Strukturen und eine eigene Sprache, um den Diskurs des Regimes nicht nur auf der Inhalts-Ebene zu konterkarieren, sondern um der verbrauchten Sprache der Franquisten auch formal etwas Neues entgegenzusetzen. 397 Nicht mehr die rein objektive Beschreibung der Wirklichkeit war sein Ziel, sondern die Einführung eines subjektiv interpretierenden und zugleich ästhetischen Schreibstils. Den Realismus der novela social fand er zu wenig komplex, zu monoton und zu langweilig.398 Ästhetische Qualität und politisches Engagement stellten für ihn keinen Widerspruch dar. Dabei weist Martín-Santos in einem Interview von 1964 explizit auf die Notwendigkeit hin, Umgehungsstrategien gegen die Zensur zu entwickeln: 399 En la actualidad la única arma con que el español cuenta para la modificación de una realidad insoportable, es precisamente la de escribir una novela suficientemente hábil para que pase la censura, o suficientemente real para que preocupe políticamente al lector. N o hay que olvidar que el escritor español oculta generalmente, bajo su caparazón de hombre de pluma, un animal político en trance de ser definitivamente emasculado. (Zur Zeit hat der Spanier nur eine Waffe, um die unerträgliche Realität zu verändern: Er muß einen Roman schreiben, der listig genug ist, um durch die Zensur zu kommen oder realistisch genug, um den Leser politisch zu bewegen. Man darf nicht vergessen, daß der spanische Schriftsteller in der Regel unter seinem Panzer
397
Vgl. Mangini 1987, S. 150.
398
Janet WinecofT Diaz: „Luis Martin-Santos and the contemporary Spanish novel", in: Hispania 51/2, Wisconsin 1968, S. 232-238, dort S. 237
399
Le Socialise,
6.2.1964, S. 2.
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eines Mannes der Feder ein zoon politicon verbirgt, das in Gefahr ist, definitiv entmännlicht/kastriert zu werden.) Auf die Frage der Hispanistin Winecoff Díaz nach dem Ziel seines Schreibens nennt er ästhetische und politische Ziele: 400 „Modificar la realidad española (también divertirme yo)" - „Die spanische Realität verändern (und mich dabei vergnügen)". In diesem Zusammenhang gibt er auch klar über seine politische Position Auskunft: Er vertrete eine demokratische und reformorientierte Politik mit dieser moderaten politischen Vision unterschied er sich von zahlreichen kommunistischen Schriftsteller-Kollegen in Spanien, die sich dann Ende der 60er Jahre enttäuscht und desillusioniert vom Kommunismus abwandten. Er habe zudem keinerlei religiöse Gefühle. Allerdings weist ihn sein Roman als genauen Bibelkenner aus, doch vermutlich läßt sich das von einer soliden katholischen Schulausbildung im Franco-Spanien erwarten.
2.2. Pedro, der glücklose Krebsforscher - Einführung in den Roman Die Handlung von Tiempo de silencio erinnert stark an Thematiken der novela social. Die Aufwertung der Form gegenüber der Handlung läßt den Roman jedoch in einem neuen Licht erscheinen. Das Buch des t/Zysicx-Bewunderers Martin-Santos ist als Odyssee durch verschiedene Madrider Milieus konzipiert: Pedro, ein junger, noch nicht approbierter Arzt, arbeitet an einem von Geld- und Materialmangel gezeichneten staatlichen Institut in der Krebsforschung. Er seziert Mäuse, die aus einer amerikanischen Forschungseinrichtung stammen, um an ihnen die Entstehung von Krebs zu untersuchen. Dabei träumt der angehende Forscher vom Nobelpreis und von der Befreiung der Menschheit von dieser Krankheit. Doch alle infizierten Mäuse sterben, so daß Pedros Arbeit die Grundlage entzogen wird. Einen Ausweg offeriert der Tierfänger und Lumpensammler Muecas, ein Bewohner der Madrider Slums. Muecas hat in seiner armseligen Hütte mittels gestohlener Versuchstiere eine eigene „Mäusezucht" aufgebaut, um die Tiere illegal an das Forschungsinstitut zu verkaufen. Auf Anregung seines Mitarbeiters Amador läßt sich Pedro auf den Handel ein. Pedro wohnt in einer bescheidenen Pension im Zentrum von Madrid, die von einer alten Offizierswitwe geführt wird. Sie hofft, ihre hübsche Enkelin Dorita mit Pedro zu verkuppeln - ein Plan, der dessen Karriereplänen allerdings im Weg steht. Der junge Forscher aus der Provinz fungiert durch seine Kontakte mit Muecas und der Pension als Bindeglied zwischen Linter- und untere- Mittelschicht; gleichzeitig verkehrt er durch seinen reichen Freund Matías in den besseren Kreisen, ohne von diesen jedoch akzeptiert zu werden. Die beiden widmen sich an einem Samstag exzessiv dem Madrider Nachtleben, machen n einem Bordell Station und beenden die Nacht sturzbetrunken. Bei seiner Rückkehr in die Pension entjungfert Pedro Dorita. Wenig später erscheint Muecas in der Pension und bittet Pedro um Hilfe: Pedro soll eine im franquistischen Spanien streng
400
Winecoff Díaz 1968, S. 237.
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
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verbotene Abtreibung an der schwangeren Tochter Florita vornehmen. Das Mädchen ist bei Pedros Eintreffen bereits tot, der junge Forscher bemerkt das allerdings nicht und gibt sich selbst die Schuld. Daher flüchtet er in oben erwähntes Bordell, wo ihn die Polizei festnimmt. Doch durch die überraschende Aussage von Floritas ungebildeter Mutter Encama - im Text wird sie mit der archetypischen Erdmutter assoziiert - stellt sich Pedros Unschuld heraus: Muecas selbst hat die Abtreibung vorgenommen. Sein Motiv: er hatte seine eigene Tochter vergewaltigt und geschwängert. Pedro dient als Sündenbock für die Tat. Seine wissenschaftliche Karriere ist zerstört, und auch der Ausweg in das private Glück wird vernichtet, denn Floritas Verehrer Cartucho ersticht aus Rache Pedros Freundin Dorita, weil er noch immer glaubt, daß Pedro schuld am Tod Floritas sei. Zum Schluß des Romans fährt der resignierte Protagonist zurück in die Provinz. Die Erzählform des Romans charakterisiert sich durch ihre Heterogenität. Ähnlich wie bei Martin-Santos' Vorbild, James Joyces Ulysses, wechselt die Erzähltechnik in Tiempo de silencio episodenweise. Der Roman besteht aus einer weitgehend chronologischen Abfolge von 64 nur durch eine Leerzeile getrennten Kapiteln ohne Überschrift. Durch den Protagonisten Pedro werden sie miteinander verbunden. Perspektive und Sprechinstanz ändern sich dauernd. Ein häufiges Verfahren in Tiempo de silencio ist der innere Monolog, 401 dabei tritt Pedro jedoch nicht als einzige Sprechinstanz auf. 402 So ist das Ich im Einleitungsmonolog im Labor, in der Gefängnis-Episode und am Schluß vor der Rückkehr in die Provinz zwar identisch mit Pedro, sonst monologisieren jedoch andere Figuren: Zweimal erfährt der Leser die Gedanken von Pedros Zimmerwirtin (4. und 17. Episode, S. 20-29, bzw. S. 96-99); einmal ist es Cartucho, der über seine Gefühle zu Florita nachdenkt (S. 54-57), und in der 42. Episode (S. 193-200) werden in einem permanenten, nur schwach signalisierten Perspektivenwechsel sogar vier innere Monologe unterschiedlicher Sprecher ineinander verwoben.
401
Zum inneren Monolog vgl. Dornt Cohn: La transparence intérieure. Modes de représentation de la vie psychique dans le roman. Paris 1981, S. 283. Cohn nimmt eine Typologie verschiedener Formen des inneren Monologs vor und nennt als allgemeine Merkmale das Fehlen einer expliziten Exposition, einen Einstieg in médias res, eine elliptische Syntax, ein auf den Sprecher abgestimmtes Vokabular, Verzicht auf Erklärungen des Gesagten, da die monologisierende Figur nicht im Hinblick auf einen Leser, sondern zu sich selbst spricht.
402
Eine Analyse insbesondere der drei inneren Monologe Pedros nimmt Carmen de Zuleta vor in „El monôlogo interior de Pedro en Tiempo de silencio", in: Hispanic Review 45/1977, S. 297-309.
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Gabriele Knelsch
Meist aber dominiert ein Erzähler, der j e nach Episode unterschiedliche Rollen einnimmt und mal als personaler, mal als auktorialer Erzähler auftritt. 403 Hier einige Beispiele: a) Fokussierung der Handlung aus der Perspektive eines pseudowissenschaftlichen, scheinobjektiven Erzählers - eine Erzählform, die wie eine Parodie auf die objektive Tatsachenschilderung in der novela social wirkt: mit grausamer Akribie stellt der Erzähler etwa die blutige Abtreibung an Florita unter dem Blickwinkel der neuesten medizinischen Techniken dar; die Slumbewohner werden als Eingeborenen-Stamm aus der Sicht des Ethnologen und das Begräbnis Floritas aus der Sicht des Ökonomen beschrieben. b) Der analytisch-essayistische Erzähler: In Episoden wie Le Gran Bouc (S. 155-133), im Revue-Theater (S. 269-276) oder im Stierkampf-Kapitel (S. 223-225) analysiert der Erzähler die Realität der spanischen Gesellschaft. Diese Episoden wirken wie eigenständige essayistische Einlagen zur theoretischen Fundierung der Romanhandlung. c) Der auktorial-ironische Erzähler: in der Volksfest-Episode mit Doritas Tod (S. 276-285) sieht der Erzähler weit über den beschränkten Horizont der Figuren hinaus, kommentiert deren Handlungen und Gedanken aus ironischdistanzierter Warte und interpretiert das Geschehen. Ähnliche Funktion erfüllt der Erzähler in der Beschreibung der ineffektiven Tertulias (S. 78-82), an denen Pedro und Matias neben anderen Intellektuellen teilnehmen. Auch hier verbindet sich die Erzählung der Handlung mit einer Bewertung des Geschehens von „oben". d) In einigen Episoden tritt der Erzähler auch ganz hinter die Figuren zurück. Zum Beispiel im Dialog zwischen dem Gefängniswärter und Pedro: der Erzähler beschränkt sich auf die reine Informationsvermittlung, die Personen stellen sich in der direkten Rede selbst dar (S. 249-251). Martin-Santos entwickelt in seinem Roman auch verschiedene Dialogformen: Neben „traditionellen" Dialogen, die sich aus der kompletten Figurenrede zweier Gesprächspartner konstituieren (z.B. der groteske Dialog zwischen dem liebestollen Matias und der alten Hure, S. 106-111), fügt der Autor auch mehrere inkomplette oder zerstückelte Dialoge ein. So besteht etwa das Verhör Pedros durch den Polizisten (S. 207f.) nur aus den Satzanfängen der beiden Sprecher, sowie einer kurzen allgemeinen Handlungsanweisung in Klammem: „Usted sabe perfectamente ... (lögica, lögica, lögica)". - „Sie wissen ganz genau ... (Logik, 403
Feiisa L. Heller stellt die These auf, die durch einen Erzähler vermittelten Teile des Romans seien ebenfalls dem Protagonisten Pedro zuzuordnen, der dann gewissermaßen aus einer anderen Perspektive spricht, in: „Voz narrativa y protagonista en Tiempo de silencio", in: Anales de la novela de posguerra 3/1978, S. 27-37. Die Autorin unterscheidet also zwischen Pedro-Protagonist und Pedro-Erzähler. Ihre Sichtweise erscheint allerdings problematisch, da diese Zuordnung der Erzähler-Passagen im Text nicht signalisiert wird.
VI Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
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Logik, Logik)". Das Gespräch zwischen Dorita und dem Gefängniswärter Uber die Hañbedingungen Pedros reduziert sich auf die Antworten des Staatsvertreters, während die Fragen des Mädchens ausgespart bleiben (S. 222f.). Die Modernität des Romans zeigt sich in einem permanenten Wechsel von Techniken, Perspektiven und Sprechinstanzen, die vom Leser eine aktive Entschlüsselungsarbeit voraussetzen. Während der reihende Aufbau der Handlung durchaus noch traditionell ist, stellen die avancierten Erzähltechniken der einzelnen Episoden, aber auch die symbolbeladene Sprache hohe Anforderungen an die Lektüre. Diese Komplexität des Buches funktioniert mit Sicherheit auch als Verwirrungs- und Umgehungsstrategie gegenüber der Zensur.
2 3 . Zensurgeschichte von Tiempo de silencio „ Politisch völlig harmlos " - Gutachten der Zensoren An der Behandlung von Tiempo de silencio durch die Zensur läßt sich die Entwicklung der spanischen Zensurpolitik klar nachvollziehen. Als das Buch 1961 zum erstenmal der Zensur vorgelegt wurde, herrschte noch der strenge Geist von Arias-Salgado: Das Buch durfte zwar erscheinen, allerdings entstellt durch zahlreiche Streichungen. Ab 1962 lockerte sich die Zensur unter dem neuen Informationsminister Fraga Iribarne allmählich, so daß der Verlag 1964 einen neuen Anlauf nahm, das Buch ohne Streichungen zu veröffentlichen. 404 Die Zensur revidierte in der Tat gemäß dem - vor allem in moralischen Dingen - freieren Geist etliche Streichungen, aber sie filgte auch neue hinzu, so daß sich die zweite, 1965 erschienene Auflage beträchtlich von der ersten unterschied. In den darauffolgenden Auflagen änderte sich nichts, erst nach Fragas Abtreten wurde das Buch 1969 wieder begutachtet. Denn der neue Informationsminister Alfredo Sánchez Bella, ein ultrakonservatives Opus De/-Mitglied, schien der Arbeit seines Vorgängers nicht zu trauen und ließ bei Neuauflagen die früheren ZensorenUrteile überprüfen. Tiempo de silencio kam jedoch in der 1964 autorisierten Fassung erneut durch die Zensur. Ab 1972 erschien jedes Jahr eine Neuauflage, bei der die Zensur lediglich auf die vorhergehenden Autorisierungen verwies und die Bücher im depósito legal ablegte.
404
Ronald F. Rapin hat in seinem etwas oberflächlichen Aufsatz „The Phantom Pages in Luis Martin-Santos' Tiempo de silencioin: Neophilologus 71/2, Amsterdam, April 1987, S. 235-243, überraschenderweise die Erstauflage mit der achten Auflage von 1971 verglichen. Er glaubt, daß die Veränderungen gegenüber der Erstfassung erst in diesem Jahr stattfanden. Offenbar kennt Rapin die veränderte Neuauflage von 1965 nicht, die mit der Fassung von 1971 identisch ist. Irrtümlich erklärt er die Freigabe zahlreicher Stellen mit dem erst 1966 verabschiedeten neuen Pressegesetz. Zudem hält er zu Unrecht die Verleger für die Zensoren, was er mit der Abschaffung der Vorzensur im neuen Pressegesetz begründet. Rapins Spekulationen hätten sich durch die Einsicht in die Zensurdokumente relativ einfach klären und richtigstellen lassen.
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Gatriele
Knetsch
Die Auflage von 1961 wurde überraschenderweise durch einen Priester, Padre Francisco Aguirre, gerettet, während der Erstzensor das Buch wegtn seiner Unmoral fllr nicht publizierbar hielt (ihn störten insbesondere Muecas' Inzest und die Abtreibung an Florita). 405 Aguirre sprach sich in einem Zusatzgutachten hingegen für die Veröffentlichung aus - allerdings unter der Bedingung zahlreicher Streichungen. Für die Neuauflage fragte der Padre 1964 bei der Behörde nach, ob er das Buch nach den veränderten, weniger strikten Kriterien (Fragas) neu beurteilen solle; doch offensichtlich verzichtete die Behörde auf sene Mitarbeit, denn in der Zensurakte liegt keine Revision seines Urteils vor. Das Buch wurde statt dessen von drei anderen Zensoren gelesen. Am großzügigsten 7sigte sich ein Mitarbeiter, der keine Nummer trägt und dessen Unterschrift nicht lesbar ist: Er wollte das Buch ganz ohne Streichungen autorisieren, denn, so seil Argument einzelne Streichungen hätten gar keinen Sinn, der Roman sei überall gleichermaßen „schmutzig". 406 Er signalisiert damit, daß die Heterodoxie des komplexen Werkes nicht durch einzelne Striche getilgt werden kann. Die Zensoen Nr. 4 und Nr. 27 äußerten sich allerdings skeptischer. Am konzisesten fonmlierte Nr. 4 seine Einwände: 407 Sobre todo las frases tachadas con lápiz rojo ... rozan en su sentido faródico la blasfemia, cuando no llegan a ella, puesto que originalmente se refieen a cosas santas y aún al mismo Dios ... Así como las descripciones en la página .. exceden en crudeza de lo que el 'tremendismo' corriente parece autorizar; el lecor suscrito opina que no se debe autorizar la publicación íntegra de esta novela que en el terreno literario merecería muy respetuosa atención. (Vor allem die rot unterstrichenen Sätze ... kommen in ihrer parodisischen Art nahe an die Blasphemie heran, wenn sie nicht gar blasphemisch sine, denn ursprünglich beziehen sie sich auf heilige Dinge und auf Gott selbst.... Ebenso Ubersteigen die Beschreibungen auf Seite ... die kruden Darstellungei des üblichen tremendismo, wie man sie normalerweise autorisiert. Der unteneichnende Lektor ist der Meinung, daß dieser Roman nicht unzensiert veröffentli:ht werden darf, der auf literarischem Gebiet jedoch äußerst respektvolle Achtung verdient.)
Die literarische Qualität war 1961 eigentlich kein Zensurkriterium mehr wie in den 40er Jahren, und Zensor Nr. 4 lobte als einziger die Qualität de; Buches. Die übrigen Zensoren praktizierten eher eine mechanische Suche nacl tabuisierten Schlüsselstellen. Erstaunlich ist, daß keiner der Zensoren die politiiche Implikation des Buches erkannte - ein Hinweis darauf, daß dem Autor die Tarnung offenbar geglückt war bzw. daß sich Zensoren schwertun, etwas zu zmsieren, was nicht in konkreten Einzelpassagen gestrichen werden kann. Der Zeisor der Ausgabe von von 1969 wies sogar expressis verbis daraufhin, daß in ctm Buch von
405
Zensurgutachten von Zensor Nr. 11, 24.7.1961, caja 13.446, 1961. /lie Zensurgutachten sind im Anhang aufgeführt.
406
Zensurgutachten vom 9.9.1964, caja 13.446, 1961.
407
Zensurgutachten von Zensor Nr. 4, 22.2.1964, caja 13.446,1961.
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
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Politik nicht die Rede sei. 408 Er meinte, es sei lediglich in einer „unangenehmen Sprache" geschrieben wie sie jene Werke charakterisiere, die „die niederen Instinkte" thematisierten und in einem „verachtenswerten Milieu" spielten. Buch ohne Bordellszenen - zensurbedingte
Veränderungen im Roman
Am schlimmsten entstellten die Zensoren die Erstauflage von 1961: Sie strichen zwei komplette Kapitel, zwei große Absätze und zahlreiche Einzelpassagen. In der 1964 autorisierten und 1965 unter dem neuen Informationsminister Fraga Iribarne erschienenen Ausgabe wurden hingegen etliche dieser Stellen freigegeben. Im folgenden sollen die zensurbedingten Abweichungen in der ersten und der zweiten Auflage aufgeführt und mit dem Originalmanuskript von MartinSantos verglichen werden. Dabei greife ich auf folgende Quellen zurück: a) Das Originalmanuskript mit den Unterstreichungen der Zensoren (O) - es liegt in der Zensurmappe zu Martin-Santos von 1961, b) die Druckfahnen für die Erstauflage von 1961 (I), c) die Druckfahnen der zweiten Auflage von 1965 (II) - sie liegen ebenfalls in der Zensurmappe, d) die Neuausgabe von 1993, die mit dem Original O so gut wie identisch ist 993) 409 Folgende Tabelle zeigt die zensurbedingten Streichungen in den Ausgaben von 1961 und 1965:
408 409
Zensurgutachten von Zensor Nr. 14, Februar 1969, exp. 1072, AGA 92, 1969.
Martin-Santos: Tiempo de silencio. 36. Aufl. 1993. In Klammern gebe ich neben der Seitenzahl des maschinengeschriebenen Originalmanuskripts die Seitenzahl dieser aktuellen, der Manuskriptfassung entsprechenden Ausgabe an, damit der Kontext der gestrichenen Stellen eingesehen werden kann.
Gabriele Knetsch
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Manuskript (O)
1. Aufläse (I)
2. Auflage (II)
1961
1965
1. Angriff auf die Kirchen-Hierarchie nicht gestrichen,
gestrichen,
„... semejante a la de otras ocupantes de sillas gestatorias más trabajosamente conquistadas a lo largo de los siglos y gracias a ritos tradicionalmente estipulados entre los que la castidad con mantenimiento de integridad glandular no le parecía en aquel momento el menos molesto."
I: S. 68.
II: S. 70.
statt „masturbatorio": „inevitable", I: 70.
freigegeben, II: 72.
O: S. 66 (1993: S. 85).
2. Obszönität „Resultaba grato permanecer en el vasto invernadero de opulentas peonías, en lugar de caminar hacia un pre-sunto Dachau masturbatorio". 0 : 68(1993:87).
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
Manuskript ÍO)
1. Aufläse m 1961
ganzes Kapitel gestrichen, I: 80„La inmediata proximidad de los lugares sagrados ... como si una mal- 90. dición los persiguiera y sólo la negra y fresca noche pudiera limpiarles del mismo modo que limpia el océano." O: 79-89(1993:99-111). 3. Bordell-Szene
155
2. Auflage HI) 1965 einzelne Stellen gestrichen: „¡Virgenes de Jerusalin...", II: 93. „Yo soy...", 11:91.
Konkrete Streichungen der 2. Auflage: Blasphemische Bibel-Parodie „¡Vfrgenes de Jerusalén, no lloréis por mf, llorad más bien por vosotras y por vuestros hijos! Como azucena entre lirios así a ti te busco, oh desconocida de la noche. ¿Dónde está la elegida de mi corazón? ¿Dónde está el cálido pecho en que pueda reclinar mi fatigada cabeza?", 0 : 82 (1993: 103 f.). „Yo soy el que soy", O: 88 (1993: 110). 4. Blasphemische Bibel-Parodie „Los baños purificativos, el bautizo, la resurrección del muerto llevado en el carro que cae al vadear el rfo, ]a piscina de Siloé. la inmersión de la muchacha iorobada con mal de Pott en el eluelú de la gruta de lurdes. el taurobolio, el baflo de sangre bajo el eran ídolo de los sacrificios, el Jordán con una concha venida de un mar que no está muerto, la voz desde lo alto explicando que éste es su hijo amado, la lluvia, la lluvia." 0 : 96f. (1993: 121).
nicht gestrichen, mit Ausnahme der Stelle: J a muchacha jorobada ... la gruta de lurdes", I: 87.
gedruckt ohne die unterstrichenen Stellen, II: 99.
Gabriele Krutsch
156 Manuskript (O) 5. Anspielung auf Floritas Abtreibung
1. Aufläse (I) 1961
2. Auflage (II)
gestrichen, I: 93.
freigegeben,
1965 II: 105.
„Si me la descomponen me están descomponiendo los mismos virgos ya tocaos", O: 103(1993: 128). 6. Zweite Bordell-Szene gestrichen, I: 93. „El gran ojo acusador... constituyéndose de este modo de nuevo ama de la noche." O: 146-150(1993: 18085). 7. Muecas'Inzest „El fue el que la chingó. En mis barbas. Y yo que le tenía miedo al Muecas. Y no hice más que darme la hartá de tetas. Vaya alipori." O: 159 (1993: 195f.)
gestrichen: „El fue el que la .... Vaya alipori." Sowie unterstrichener Halbsatz, I: 144.
freigegeben, II: 105.
freigegeben, II: 160.
..¡Toma vorágine v ríete de los que se acuestan con putas vieias!". O: 159 (1993: 196). 8. Pedros Schäferstündchen mit einer Prostituierten kurz vor seiner Festnahme „Pedro, efectivamente, estaba en la alcoba acompañado de una dama ... cuando era chica." 0 : 164 (1993: 202-204).
ganze Szene gestri- freigegeben, chen, I: 149. II: 165f.
9. Die Macht des Phallus ganze Szene gestri- freigegeben, „Miraré las mozas castellanas, grue- chen, I: 219. II: 237. sas en las piernas como perdices cebadas ... grito mientras me capan." O: 239. (1993: 290f.).
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966) Manuskript fO)
1. Auflage (I) 1961
10. Pedros symbolische
Kastration
unterstrichene „Es cómodo ser eunuco, es tranquilo, Stellen gestrichen, I: 220. estar desprovisto de testículos, es agradable a pesar de estar castrado tomar el aire y el sol mientras uno se amojama en silencio." 0 : 241 (1993: 293);
157 2. Auflage (II) 1965 freigegeben, II: 239.
ebenda: „Entonces vendrá una mujer, una linda mujer a tu consulta y te dirá lo que padece, prurito de ano." (ebenda). II. Obszönität ,,¿Y qué demonios puede importarle a nadie si yo soy ingenioso o no soy ingenioso o si era ingeniosa la puta que me parió?". 0 : 242 (1993: 294). 12. Blasphemische Anspielung auf den Hl. Laurentius a ese sanlorenzaccio que sabes, a ese sanlorenzón ...". O: 242f C1993: 295).
unterstrichener Teil freigegeben, ersetzt durch „la II: 240. madre que me parió", I: 222.
unterstrichene Stelle gestrichen, I: 222.
gestrichen: „a ese sanlorenzón mamón", II: 240
2. Auflage:..... a ese sanlorenzón mamón". O: 243. 410
Die gestrichenen Stellen - ein
Erklärungsversuch
Bei der Kommentierung der gestrichenen Stellen soll von den Argumenten der Zensoren selbst ausgegangen werden. Sie machten nicht politische, sondern vor allem moralische und religiöse Gründe geltend und beschränkten sich auf die Streichung von relativ offensichtlichen Tabuverstößen. Bei Martín-Santos verbinden sich beide Tabuarten, da er religiöse Inhalte und Symbole häufig durch einen sexuellen Kontext deformiert. Ronald F. Rapins These, daß die Zensoren sexuell anstößige Stellen gestrichen hätten, weil sie die sexuellen Abnormitäten
410
Dieser Halbsatz fehlt überraschenderweise in der Neuauflage von 1993.
158
Gabriele Knetsch
im Werk als Metaphern fllr das politische System deuteten, 411 erscheint mir nicht plausibel, denn so „tiefsinnig" pflegten die schlechtbezahlten und überlasteten Zensoren nicht zu lesen. Rapins Interpretation entspricht jedoch durchaus einer legitimen Lektüremöglichkeit fllr den komplizenhaften Leser.
a) Moralische Zensur Die sogenannten „Lektoren", Zensoren der untersten Ebene, markierten 1961 in Martín-Santos' Manuskript mehr als letztendlich gestrichen wurde. Diese Differenz betrifft vor allem obszöne Wendungen wie „Me cago en el corazón de su madre". - „Ich scheiße auf das Herz seiner Mutter". Anscheinend hielt der entscheidende Zensor jedoch solch derbe Ausdrücke filr angemessen für das problematische Milieu, in dem der Roman zum Teil spielt, und ließ sie stehen. Andere „Obszönitäten" überschritten 1961 jedoch die Grenze des Tolerierbaren: Dazu gehörte das Wort „masturbatorio" (vgl. Tabelle, 2). Wie die Auswertung der Gutachten gezeigt hat, lehnte sich die franquistische Zensur in der Beurteilung „unmoralischer Handlungen" wie Selbstmord, Ehebruch oder Mord eng an die Tabus der Kirche an. Masturbation wurde nach der katholischen Lehre verurteilt und folgerichtig gestrichen. Auffällig - aber gemessen an den Zensurkriterien nicht erstaunlich - ist, daß die Zensoren nicht auf die eigentlich schockierende Zusammenstellung von Masturbation mit Gaskammer, KZ und Dachau reagierten. Dieser Befund bestätigt das rein mechanische Vorgehen der Zensoren, denn unter Arias-Salgado war der Nationalsozialismus im Gegensatz zur Frühphase ja kein Tabu mehr. Moralische (oder auch religiöse) Zensur fand bei der Streichung eines Satzes von Cartucho, dem verzweifelten Verehrer von Florita, statt. Er kommentiert die erzwungene Abtreibung des jungen Mädchens mit dem Satz: „Si me Ii descomponen me están descomponiendo los mismos virgos ya tocaos" - „Wenn sie sie mir kaputtmachen, ist es so, als ob sie mir alle schon berührten Jungfrauen kaputtmachten." (Tab. 5). Anstößig wirkte auf die Zensur die explizite Erwähnung der entehrten Jungfrauen. Die Abtreibung wird sonst im ganzen Buch nie direkt benannt, so daß sie schwerlich gestrichen werden konnte. Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung des sexuellen Mißbrauchs durch Muecas: Obwoh; der Text Uber weite Passagen den gewaltsamen Inzest zwischen ihm und seiner Tochter Florita thematisiert, strichen die Zensoren nur einen zu direkt formulierten Satz: „Él fue el que la chingó". - „Er war es, der sie fickte". (Tab. 7). Einige Sätze später strichen die Zensoren eine Anspielung auf die Prostitution. Die Prostitution war zwar in den 40er Jahren noch legal, aber in de' Literatur durfte sie nicht benannt werden: 412 „... ¡ríete de los que se acuestan con putas 411 412
Rapin 1987, S. 236.
Vgl. die Aussage von Zensor Robles-Piquer, der darauf hinwies, daß es nidit dasselbe sei, ob man eine Obszönität im Gespräch auf der Straße sagte oder in einierr Buch lese, Interview vom 17. Mai 1994.
VI. Die Kotsoilidierung des Regimes (1951-1966)
159
viejas!" -,... lach über die, die mit alten Huren schlafen!" (Tab. 7). Aus demselben Grunl wurde eine ganze Szene gestrichen, in der sich der Protagonist Pedro vor der Polizei in einem Bordell verbirgt (Tab. 8). Auch eine Passage Uber die Macht d e männlichen Geschlechtstriebes wurde gestrichen (Tab. 9), denn „Phallus" gelhörte zu den Tabu-Wörtern, die in gedruckter Form nicht erscheinen durften. E n e ähnliche Reizwort-Zensur liegt bei der Streichung des Ausdrucks „la puta qje me parió" - „die Hure, die mich zur Welt gebracht hat" (Tab. 11) vor. Schließlich strichen die Zensoren die Formulierung „der Hoden beraubt" „deproviso d e testículos" (Tab. 10), sowie eine deutliche Anspielung auf den Sexualtrieb des Protagonisten: „prurito de ano" - „Kribbeln im Arsch" (Tab. 10). All diese Streichungen wurden in der zweiten Auflage freigegeben, worin sich die Bestrebungen des neuen Informationsministers Fraga Iribame manifestieren, eine allzu prüde, bloß reizwortorientierte Zensur aufzugeben und an ihre Stelle eine „intelligente Zensur" zu setzen. b) Religiöse Zensur Neben de: moralischen Anstößigkeit des Buches monierten die Zensoren von 1961 und 1964 vor allem die respektlose Verwendung sakraler Themen. Unter Fraga wurden blasphemische Passagen jedoch detaillierter und damit gezielter gestrichen, während die bloße Erwähnung eines sexuell konnotierten Ausdrucks kaum mehr problematisch schien: Dies zeigt sich an den beiden 1961 noch komplett verbotenen Bordell-Kapiteln; 1965 durften sie in bereinigter Form erscheinen: „¡Vírgenes de Jerusalén, no lloréis por mí, llorad más bien por vosotras y por vuestros hijos!" - „Ihr Töchter Jerusalems, weint nicht über mich; doch weint über euch selbst und eure Kinder!" (Tab. 3). Dies sagt Pedros Freund Matías beim Eintritt ins Bordell zu den Prostituierten; er zitiert damit Jesus, der sich vor seiner Kreuzigung an die ihn betrauernden Frauen wendet. 413 Der Zusammenhang zwischen der Bibelstelle und der zitierten Passage wird klar, wenn man die Fortsetzung des Jesus-Wortes berücksichtigt: „Denn seht, es werden Tage kommen, an denen man sagen wird: Selig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht genährt haben!" Die Unfruchtbarkeit ist das Los der Prostituierten, die eine Sexualität praktizieren, deren Sinn nicht in der Zeugung liegt. Die unfruchtbare Sexualität der Prostituierten fügt sich in die im Werk wiederkehrende Isotopie von sexueller Disfunktion (Vergewaltigung, Abtreibung, Kastration) ein. Die Zensoren schienen die politische Deutung dieser Stelle jedoch nicht zu berücksichtigen, sondern beanstandeten nur die Blasphemie, die durch den obszönen Kontext entsteht. In derselben Szene strichen die Zensoren von 1964 ein weiteres Bibelzitat: Als die Bordellbesitzerin Pedro und Matías zur Sperrstunde loswerden will, weigert sich der betrunkene Matías mit dem hoheitsvollen Satz „Yo soy el que soy". -
4,3
Lukas 23,28f.
160
Gabriele
Knetsch
„Ich bin, der ich bin". Das Zitat stammt aus der Szene mit dem brennenden Dombusch. Gott antwortet damit auf Moses Frage nach seinem Namen. 414 Bei der nächsten Zensurstelle (Tab. 4) tritt der Fall ein, daß die Zensoren 1964 mehr strichen als 1961. Pedro hat im Rausch die schöne Tochter seiner Zimmerwirtin entjungfert und versucht, sich mit etwas kaltem Wasser zur Besinnung zu bringen. In diesem Kontext arbeitet Martín-Santos mit der Isotopie Wasser/Taufe/Heilung/Reinigung. In beiden Ausgaben fehlt die Passage: „la inmersión de la muchacha jorobada con mal de Pott en el gluglú de la gruta de lurdes" - „das Eintauchen des Mädchens, das von der Pott-Krankheit bucklig geworden ist, in das Blubbern der Grotte von Lourdes". Die Pott-Krankheit ist eine eitrige tuberkulöse Wirbelentzündung und verursacht einen Buckel. 415 Die Zensoren nahmen wohl vor allem Anstoß an dem respektlosen Ton, mit dem Martín-Santos sich über die geheiligten Wasser des Marienwallfahrtsortes Lourdes lustig macht. Die Zensoren von 1964 strichen zusätzlich alle weiteren Stellen, die einen biblischen Bezug erkennen lassen, so zum Beispiel alle Anspielungen auf die Taufe: „el bautizo" („die Taufe"), sowie die Stelle „el Jordán con una concha venida de un mar que no está muerto, la voz desde lo alto explicando que éste es su hijo amado" - „der Jordan mit einer Muschel, die vom Meer kam, das nicht tot ist, die Stimme von oben, die erklärt, dies sei ihr geliebter Sohn". Die Überlagerung des biblischen Bezugs mit der Anspielung auf die schaumgeborene Venus in ihrer Muschel wirkte auf die katholischen Zensoren Francos offenbar als blasphemische Verdichtung. Wasser erscheint im übrigen bei Martín-Santos - im Gegensatz zur negativen Isotopie von Trockenheit und Unfruchtbarkeit - als Symbol für Leben, Fruchtbarkeit und Liebe positiv konnotiert. In diesen Zusammenhang paßt auch die letzte Streichung innerhalb dieser Passage, „la piscina de Siloé" - „die Teichanlage von Schiloach". Diese Teich- und Badeanlage lag an der einzigen, nie versiegenden Quelle in Jerusalem; sie war lebenswichtig für die Wasserversorgung der Stadt. Heute ist sie - wie Lourdes - eine heilbringende Marienquelle. Anstoß erregte bei den katholisch gebildeten Zensoren auch die parodistische Erwähnung katholischer Heiliger. Die Wortspiele mit dem Heiligen Laurentius am Schluß des Romans, ebenfalls klassische Beispiele filr Freuds Verdichtung, fielen dem Rotstift zum Opfer (Tab. 12). San Lorenzo, der Schutzheilige des Klosters El Escorial, wurde der Legende nach auf dem Grill gefoltert und soll zu seinen Folterern gesagt haben: „Dreht mich um, auf dieser Seite bin ich schon durch". Martín-Santos machte aus San Lorenzo einen „sanlorenzón", eine Art „Superlaurentius", und einen „sanlorenzaccio" - in Anspielung auf den TyrannenMörder Lorenzaccio (das gleichnamige Stück von Alfred de Musset wurde von der Zensur Napoleons III. übrigens wegen seiner aufwiegelnden politischen Wir-
414 415
Exodus 3,14.
Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 254. Aufl. Berlin/New York 1982, S. 956.
VI. Die Konsolidierung
des Regimes
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kung verboten!). Diese Wortspiele legen eine politische Implikation nahe, die möglicherweise auch die Zensoren durchschauten: Der Hl. Laurentius, Fürsprecher der Armen, Kämpfer gegen die Mächtigen und Diktatoren, endet auf dem Grill und wird zum Märtyrer. Dem entspricht das Schicksal der machtlosen spanischen Oppositionellen unter Franco. Aber nicht nur die Verunglimpfung katholischer Dogmen, Symbole und Lehren wurde von der Zensur kontrolliert, sie wachte auch über die respektvolle Behandlung von Kirchenvertretem, wie die Auswertung der Zensurgutachten von 1961 gezeigt hat. So mußte den Zensoren der mokante, satirische Ton als blanke Blasphemie erscheinen, mit dem Martín-Santos die geistlichen Würdenträger in folgender Passage abqualifiziert: Pedros betrunkener Freund Matías zelebriert im Café eine obszöne Papst-Parodie (Tab. 1): Esta breve ruptura de lo habitual, conseguida a tan bajo precio, le llenó de una convicción de infalibilidad semejante a la de otras ocupantes de sillas gestatorias más trabajosamente conquistadas a lo largo de los siglos v gracias a ritos tradicionalmente estipulados entre los que la castidad con mantenimiento de integridad glandular no le parecía en aquel momento el menos molesto. (Dieser kurze Ausbruch aus dem Alltag, der zu einem so geringen Preis zu erreichen war, erfüllte ihn mit einer Überzeugung von Unfehlbarkeit, wie sie ähnlich auch andere haben, die, aufgrund traditionell vereinbarter Riten, von denen ihm in diesem Augenblick die Keuschheit unter Beibehaltung der Unversehrtheit der Drüsen als der keineswegs am wenigsten lästige erschien, auf päpstlichen Sänften sitzend, die sie im Verlauf von Jahrhunderten auf mühsame Weise erobert haben.)
Die Parallele zwischen dem betrunkenen Matías und den Päpsten durchschauten die Zensoren von 1964 offenbar sofort, überraschend ist allerdings, daß sie ausgerechnet die überdeutliche Passage „Überzeugung seiner Unfehlbarkeit" stehen ließen. Die Zensoren von 1961 haben die Stelle hingegen vollkommen übersehen.
2.4. Der Mythenansatz als Tarnstrategie - Analysevorhaben Den politischen Gehalt des Romans ließ die Zensur weitgehend unangetastet, denn Martín-Santos hat seine Kritik am Franquismus weniger in einzelnen Anspielungen auf das Regime formuliert als in Form einer künstlerisch hochkomplexen Kritik an den Mythen der autoritär-katholischen Gesellschaft. Dazu bediente er sich mehrdeutiger und schwer zu entschlüsselnder literarischer Verfahren, die es a) den oberflächlich, weil unter Zeitdruck arbeitenden Zensoren fast unmöglich machten, Kritik zu erkennen und die sich b) nicht in einzelnen Passagen äußert, die die Zensoren hätten streichen können. Der folgende Teil der Analyse beschäftigt sich daher vor allem mit der Umsetzung und der Tarnung der in Tiempo de silencio zentralen Mythenkritik. In diesem Rahmen wird allerdings auch auf „traditionelle" Umgehungsstrategien hingewiesen, die im Text zur Tarnung von Einzelanspielungen eingesetzt werden. Im Fall von Martín-Santos ist eindeutig von Selbstzensur auszugehen, hatte ihn doch sein Engagement als Sozialist öfter in Konflikt mit der Diktatur gebracht, so daß ihm die Grenzen des Akzeptierten wohlbekannt waren. Wie erwähnt hat er
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explizit die Verwendung von Umgehungsstrategien gegen die Zensur herausgestellt. Auch war Martín-Santos als politischer Häftling vorbestraft und als einschlägiger Regimekritiker bekannt, daher konnte er nicht wie Torrente Ballester auf das Wohlwollen der Zensoren hoffen. „ Tiempo de silencio " als Kritik an den franquistischen Mythen In Tiempo de silencio werden verschiedene Mythen des Franco-Regimes und ganz allgemein der España eterna thematisiert. Zu diesen offiziellen Mythen zählen: die glorreiche Vergangenheit des spanischen Imperiums; die Hispanität bzw. das „genuin spanische Wesen"; spanische Ehre und Heldentum; Machismus; nationale Einheit und Gemeinschaft; Katholizismus und Moral; sowie - neu im Franquismus der 60er Jahre - Spanien als Teil Europas (wenngleich nur in wirtschaftlicher Hinsicht, denn in politischer und sozialer Hinsicht gilt der Slogan des Tourismus-Ministeriums „Spain is different"). Diese Mythen - offizielle Idealbilder des Systems - wurden den Spaniern bereits im Schulunterricht vermittelt. 4 ' 6 Martín-Santos kontrastiert sie mit der negativen sozialen Realität des Landes: Unterentwicklung und große soziale Unterschiede, Initiativenlosigkeit, Stagnation der Gesellschaft, Repression und Amoral. Reibungspunkte mit der Zensur waren daher vorprogrammiert, und ohne Tarnung hätte das Buch vermutlich keine Chancen gehabt, autorisiert zu werden. Denn die offiziellen Mythen waren als Teil der franquistischen Ideologie durch die Zensur geschützt. So durfte die nationale Einheit des Landes bis zum Ende der Diktatur nicht in Frage gestellt werden: alle Anspielungen auf nationale Forderungen der nicht spanischsprachigen Minoritäten wurden unterdrückt. Auch die „glorreiche spanische Vergangenheit" oder der Spanische Bürgerkrieg konnten in den 60er Jahren nicht kritisch aufgearbeitet werden: die Zensur wachte, wie die Gutachten gezeigt haben, über eine positive Darstellung der Katholischen Könige, der spanischen Entdecker oder der Inquisition. Der Katholizismus der Spanier durfte 1961 ebenfalls nicht in Frage gestellt werden: Obgleich inzwischen Bücher über andere Konfessionen erlaubt waren, galt eine kritische Auseinandersetzung mit der katholischen Religion noch als Tabuverstoß. Aber nicht nur Martín-Santos' Mythenkritik war im Hinblick auf die Zensur problematisch. Besonders brisant mußte ihre Verbindung mit einer gesellschafts416
Vgl. Rafael Valls: „Ideología franquista y enseflanza de la historia en España, 19381953", in: Josep Fontana (Hg.): España bajo el franquismo. Barcelona 1986, S. 230245. Dazu gehörten laut Rafael Valls die Identifikation Spaniens mit dem Katholizismus als „Essenz der Geschichte", die Verteidigung eines Imperio, das auf der Vorherrschaft des katholischen Glaubens basiere, der Bezug auf die Werte des Siglo de oro. die Verherrlichung der glorreichen spanischen Geschichte und insbesondere der Katholischen Könige als siegreiche Vollender der Reconquista, die Besinnung auf ein „genuin spanisches Wesen", aber auch der Haß auf das aufklärerisch gesinnte „Anti-Spanien". Diese Mythen werden auch bei Juan Goytisolo kritisiert, vgl. dazu die Analyse von Linda Gould Levine: Juan Goytisolo: La destrucción creadora. Mexico 1976.
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politischen Analyse unter sozialistischem Vorzeichen wirken, wie sie MartinSantos in seinem Roman de facto vornimmt (vgl. insbesondere die Analysekapitel „Die Welt der chabolistas", „Le Gran Bouc", „Der Mythos vom Stierkampf und das Kapitel zur s/Ye/ic/o-Symbolik). Schließlich finden sich dort wie in der novela social eine Reihe konkreter Anspielungen auf die Mißstände im Land. Dazu gehört das bereits durch den Titel signalisierte Ambiente von Repression und Stillschweigen, 417 aber auch die Darstellung von Elend, Unterentwicklung und sozialer Ungleichheit. Die Regimekritik bei Martfn-Santos ist wesentlich komplexer und radikaler als in der novela social. Denn der Autor beschränkt sich nicht darauf, die spanische Realität objektiv zu beschreiben, ihm geht es vor allem um eine kritische Analyse der Mißstände - und letztlich um eine Ablehnung des ganzen Systems. Ein wichtiger Grund für die Langlebigkeit der novela social in Spanien war aber gerade die Tatsache, daß die gesellschaftliche Realität in den Romanen zwar - mit Einschränkungen - beschrieben, aber aufgrund der Zensur nicht gewertet wurde. Die in Tiempo de silencio implizierte Bewertung mußte also gut getarnt werden - zu dem Preis einer stark eingeschränkten Verständlichkeit. Für die Untersuchung der Umgehungsstrategien reicht es daher nicht aus, einzelne regimekritische Anspielungen herauszuarbeiten, sondern es soll besonders der sehr viel weitreichendere systemkritische Anspruch des Autors berücksichtigt werden.
Der Schriftsteller als Mythenkritiker Zur Umsetzung seiner Mythenkritik setzt Martin-Santos verschiedene Verfahren ein, von denen drei zentrale in den nachfolgenden Kapiteln genauer untersucht werden: a) Groteske und Karnevaleske b) die Umkehrung der etablierten Hierarchien und c) die Entwicklung eines verborgenen inoffiziellen Gegencodes zur Unterwanderung der offiziellen Mythen. Wie die Analyse zeigen wird, funktionieren die genannten Verfahren als Werkzeuge der Mythenzerstörung und der Tarnung zugleich. Die Demythifizierung vollzieht sich auf zwei Ebenen: Auf der histoire-Ebene werden verschiedene offizielle Mythen im Text thematisiert und indirekt kritisiert. Auf der discours-Ebene reflektiert der Text die Mythenbildung des Regimes sowie die Demythifizierung durch den Autor. Durch die groteske Verfremdung zerstört Martin-Santos die Mythen von der Überlegenheit des Iberers („Die Welt der chabolistas ", S. 50-54) und der Hyperpotenz des spanischen Macho (Le Gran Bouc, S. 155-59). Die Mythen vom Iberer und vom hyperpotenten Macho werden vom Autor mit neuem Sinn gefüllt und - in Form eines neuen Mythos - umgedeutet: der Iberer als Opfer der Unterentwicklung und der Macho als impotenter Kollaborateur des Regimes.
417
Über die Repression im Lande konnte 1961 nicht geschrieben werden - selbst stark verschlüsselte Anspielungen wurden gestrichen, wie die Zensur eines Buches von André Frossard zeigt, der ebenfalls mit der „silencio"-Thematik arbeitet, vgl. Zensurkriterien von 1961.
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Durch die Umkehrung der offiziellen Hierarchien wird der Stierkampf-Mythos (S. 223-225) zerstört. Bei seiner Mythenkritik geht der Autor von einer scheinbar fest etablierten Hierarchie aus: Stierkämpfer über Opfer-Stier. Er demontiert die im offiziellen Mythos behauptete Naturgegebenheit dieser Hierarchie und entleert den Mythos seines Sinns. Zu diesem Zweck dreht er die Hierarchien um und löst sie schließlich ganz auf. Martin-Santos unterwandert schließlich auch die Sprache der offiziellen Mythen durch eine eigene Symbolik und Metaphorik, denn seine Mythenkritik beschränkt sich nicht auf die Inhalte. Dies geschieht in einer doppelten Bewegung: Einerseits verwendet Martin-Santos den Code des offiziellen Systems in mythenkritischer Absicht und zeigt die Falschheit dieser Sprache, zugleich macht er sie zum Ausgangspunkt eines eigenen Sprachsystems. Gezeigt wird dieses Verfahren an der Isotopie von „silencio"/„grito"/„palabra". Martin-Santos' Verfahren weist deutliche Parallelen zu einer Methode auf, die Roland Barthes zur Mythenkritik vorgeschlagen hat. 418 Barthes zerlegt den Mythos in seine Bestandteile und unterscheidet dabei drei semiologische Systeme. Das erste entspricht dem Saussureschen Sprachsystem aus Signifikant, Signifikat und Zeichen (signifiant, signifié, signe). Das zweite ist das System des offiziellen Mythos, und das dritte entspricht dem aufgepflanzten Mythos des Schriftstellers. Der offizielle Mythos nimmt das signe des ersten Systems und macht es als Signifikant zum Ausgangspunkt eines neuen Systems zweiten Grades. Zur Unterscheidung nennt Barthes das signe auf der Ebene des Sprachsystems „Sinn" (sens) und auf der Ebene des Mythos „Form" (forme). Dabei weist er auf die Doppelgesichtigkeit des Signifikanten des Mythos hin, denn er ist auf der Ebene des Sprachsystems sinngesättigt und „voll", während er im neuen System als leere „Form" verwendet und instrumentalisiert wird. Denn im Mythos wird das signe seines „Sinns" entleert, indem es seines eigentlichen Kontextes, seiner Geschichte beraubt wird („il s'appauvrit, l'histoire s'évapore", S. 203). Durch ein neues Signifikat, Barthes nennt es im System des Mythos „Konzept" (concept), wird der Sinn deformiert. Die Verbindung aus Form und Konzept heißt im System des Mythos „Bedeutung" (signification). So wie das signe auf der Saussureschen Ebene dem Wort entspricht, entspricht die signification dem Mythos selbst. Die Aufgabe des Mythenkritikers besteht nun darin, bewußt zwischen dem sens des ersten Systems und der forme des zweiten Systems zu unterscheiden, die im Mythos eine scheinbar naturgegebene Einheit eingehen. Diese vermeintliche Einheit wird er als künstlich hergestellte Kausalität entlarven. Er wird seine Auf-
4,8
Roland Barthes: Mythologies. Paris 1957, S. 193-233. Stacey L. Dolgin untersucht Tiempo de silencio ebenfalls unter dem Aspekt der Mythenkritik und arbeitet dabei mit dem MythenbegrifF von Roland Barthes, dem Marxschen EntfremdungsbegrifT und Brechts V-Eflekt, in: La novela desmitificadora espanola (1961-82). Barcelona 1991. Besonders interessant erschien mir die - bei Dolgin jedoch nicht detailliert ausgeführte Parallele zu Barthes' Mythenmodell.
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merksamkeit dafllr auf das sinngesättigte signe des ersten Systems richten und seinen eigentlichen Kontext restituieren. Der nächste Schritt besteht in der Demythifizierung. Aus dem Inneren des Systems heraus erweist sich dies allerdings als schwierig, weil die Mythenkritik selbst Gefahr läuft, vom Mythos vereinnahmt zu werden. Barthes spricht in diesem Zusammenhang von einem „Raub der Sprache" (S. 217). Die beste Methode zur Mythenzerstörung ist nach Barthes die Aufpfropfung eines neuen Mythos zweiten Grades. Dabei entleert der Mythenkritiker - analog zur offiziellen Mythenbildung - den offiziellen Mythos seines Sinns und verwendet ihn als leere Form für sein eigenes Konzept, die Mythenkritik. Sowohl Barthes als auch Martin-Santos verwenden einen negativ konzipierten Mythenbegriff. Der Mythos steht bei beiden Autoren im Dienste einer bestimmten Gruppe (der Bourgeoisie bzw. des franquistischen Regimes); er dient dazu, einen für diese Gruppe günstigen Status quo abzusichern, indem er falsche Zusammenhänge herstellt und sie als unveränderbar ausgibt. Dadurch steht der Mythos einer Transformation der gesellschaftlichen Realität entgegen. Die Mythenkritik ist also die Voraussetzung, um den für einen Teil der Bevölkerung negativ wirkenden Status Quo zu verändern. Mythenkritik fällt insofern mit einer kritisch-politischen Haltung zusammen.
2.5. Mythenzerstörung durch groteske Deformation Eines der wichtigsten Verfahren zur Umsetzung und Tarnung von Martin-Santos' Mythenkritik ist die Groteske, die deshalb an dieser Stelle genauer diskutiert werden soll. Die Groteske - eine Definition Trotz unterschiedlicher Interpretationen419 besteht ein Grundkonsens über zentrale Aspekte der Groteske: Sie besteht in einer Deformation der gewohnten Ordnung, verbindet das Komische mit dem Monströsen und bringt heterogene, unzusammengehörige Elemente zusammen. Häufig berührt sie das Phantastische, kann aber zugleich satirische Funktion aufweisen. Die vorliegende Arbeit stützt sich vor allem auf Michail Bachtins karnevaleske Konzeption der Groteske, wie er sie vor allem in seinem Werk Rabelais und seine Welt entwickelt.420 Dort verbindet Bachtin die in der Dostojewski419
Wolfgang Kayser betont in seinem Standardwerk - im Sinne der Romantik - vor allem den unheimlichen, schrecklichen Aspekt der Groteske, in: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg 1957. Überwiegend psychologische Erklärungsmodelle diskutiert James Iffland in seiner Arbeit über die Groteske bei Quevedo: Quevedo and the Grotesque. London 1978. Iffland bringt dabei die satirische Funktion der Groteske mit ihrem „dionysischen Aspekt" zusammen. Die Besonderheit der Gattung bestehe gerade darin, Schrecken und Lustgefühl zugleich auszulösen.
420
Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. 1987, insb. S. 69-105.
Frankfurt/M.
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Analyse421 herausgearbeitete Konzeption der Karnevaleske mit der Lach- und Volkskultur, die er vor allem am „grotesken Körper" festmacht.422 Grotesk ist ein Körper, der in seinen fundamentalen Körperfunktionen gezeigt wird (Essen, Trinken, Fortpflanzung, Geburt). Er ist in der materiellen Welt verankert und tritt Uber seine eigenen Grenzen hinaus. Körperlicher Exzeß, der fruchtbare, sich vermehrende Körper, körperliche Ausscheidungen sind groteske Motive im Sinne Bachtins, der die Körperlichkeit zu einem positiven, lebensbejahenden und undogmatischen Prinzip aufwertet. Dabei denkt er jedoch nicht an den isolierten, individuellen Körper, sondern an den sich durch Geburt und Tod ständig erneuernden „Volkskörper", dessen Erneuerung im Karneval ritualisiert wird.423 Das Groteske ist ein Gegenprinzip zu allem Hohen, Geistigen, Idealen und Ideologischen, und das Lachen der Groteske richtet sich auf das Höchste, auf die Autorität, um diese zu verspotten. Bachtin spezifiert den Begriff der Groteske durch den Terminus „grotesker Realismus" (S. 103), der seiner Konzeption genauer zu entsprechen scheint. Er meint damit - im Unterschied zu der Groteske der Romantik - eine „ganz elementar materialistische und dialektische Lebensauffassung".424 Bachtin wertet den komischen Aspekt der Groteske gegenüber dem schrecklichen, unheimlichen Aspekt auf, wie ihn insbesondere Wolfgang Kayser im Hinblick auf das 19. Jahrhundert und die Moderne betont. Das ist nicht erstaunlich, wenn man Bachtins Textkorpus - in erster Linie die Literatur des Mittelalters und der Renaissance - berücksichtigt. Die Groteske im Sinne Bachtins und die Karnevaleske sind zwei eng verwandte Begriffe, die in Rabelais und seine Welt aneinander gekoppelt vorkommen (etwa als „karnevalesk Groteskes".425 Werke, die Bachtin der Karnevalsliteratur zurechnet, tragen nach seiner Deutung zugleich groteske Züge (z.B. Rabelais' Gargantua und Pantagruel, Cervantes' Don Quijote oder die Werke Shakespeares). Denn laut Bachtin knüpft die literarische Groteske der Renaissance (aber auch späterer Epochen) umittelbar an die volkstümliche Kamevalskultur an und nimmt Merkmale des Karnevals in sich auf: „Die karnevaleske Welterfahrung und das groteske Motiv leben und vermitteln sich innerhalb der literarischen Tradition, vor allem als Tradition der Renaissance-Literatur".426 Gleichzeitig erzeugt aber der Karneval selbst groteske Motive, wie Bachtin am Beispiel der „Kamevalshölle" zeigt. Denn der als Zelebrie421
Bachtin 1971.
422
Vgl. Vorwort von R. Lachmann, in: Bachtin 1987, S. 10.
423
Lachmann weist auf diesen Zusammenhang zwischen Karneval und groteskem Körper hin: „Bachtin, so scheint es, liest die Kamevalspraxis wie die Realisierung eines Mythos, dessen Fokus der Körper ist", S. 37.
424
Bachtin 1987, S. 103
425
Ebenda, S. I45f.
426
Ebenda, S. 84.
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rung eines Mythos gedeutete Karneval bringt die Ambivalenz, das Heterogene dieses Mythos zur Anschauung: Der Karneval feiert den Jahreswechsel, er begräbt das alte und begrüßt das neue Jahr. Tod und Geburt, Anfang und Ende, Fruchtbarkeit und Absterben fallen im Karnevalsritual zusammen. Versinnbildlicht wird diese Ambivalenz durch das groteske Motiv des „schwangeren Todes". Groteske und Karnevaleske ordnet Bachtin dem Bereich des Inoffiziellen, des Unseriösen, des Ausbruchs aus dem Alltag und der Lachkultur zu. In seiner Dostojewski-Analyse 427 entwickelt er einen konkreten Merkmalskatalog für „karnevaleske Literatur": 428 1. Intim-familiärer Kontakt zwischen Menschen bzw. Elementen, die im Alltag durch Schranken getrennt sind; die Umkehrung hierarchischer Ordnungen. 2. Das Merkmal der Exzentrizität: die sozialhierarchischen Beziehungen des Alltags werden exzentrisch und deplaziert (vom Standpunkt des Alltags aus) und unter einem neuen Blickwinkel betrachtet. 3. Die Mesalliance: Geheiligtes vereinigt sich mit Profanem, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten. 4. Die Profanierung: heilige Texte werden parodiert, erniedrigt und „geerdet". 5. Wahl und Sturz des Karnevalskönigs: gekrönt wird der Antipode des tatsächlichen Königs, der Sklave oder der Narr. Er wird zunächst erhöht, um danach erniedrigt und gestürzt zu werden - der Karnevalskönig signalisiert Tod und Erneuerung des Volkskörpers, sowie die Relativität jeder Ordnung. 6. Grotesk-karnevaleske Gestalten: Geburt und Tod in der Gestalt des schwangeren Todes, die Vereinigung von Alter und Jugend, kurz: das Zusammenbringen von Paaren nach dem Kontrastprinzip, aber auch die zweckentfremdete Verwendung von Dingen, z.B. von Töpfen als Kopfbedeckung oder von Hausgeräten als Waffen. In Tiempo de silencio lassen sich Merkmale von Bachtins karnevalesker Groteske wiederfinden, zumal Martfn-Santos eine ähnliche ideologische Haltung wie Bachtin vertritt. Gerade das Konzept eines positiv gedeuteten „Volkskörpers" im Zusammenhang mit Ideologiekritik prägt auch Tiempo de silencio. Die Funktion des Lachens kann bei Martin-Santos wie bei Bachtin als befreiendes Verspotten der Autorität und des diktatorischen Systems gedeutet werden, andererseits ist
427 428
Bachtin 1971, S. 136-142.
Bachtin (1987: 85) arbeitet mit diesen Merkmalen auch in den Analysen grotesker Literatur seines Rabelais-Buches. Darin definiert er die „karnevalesk-groteske Form" im Prinzip ähnlich: „... sie sanktioniert die Zwanglosigkeit der Phantasiegebilde, erlaubt, Unterschiedliches zu kombinieren und Entferntes anzunähern, verhilft zur Loslösung vom herrschenden Weltbild ... Sie erlaubt einen anderen Blick auf die Welt, die Erkenntnis der Relativität alles Seienden und der Möglichkeit einer grundsätzlich anderen Weltordnung."
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von der ungezwungenen Heiterkeit, wie Bachtin sie als typisch für die groteske Renaissance-Literatur feststellt, in Tiempo de silencio wenig zu spüren. Hier begehrt ein sarkastischer, manchmal makaberer Humor gegen die Repressivität des Alltags auf. Ein aussagekräftiges Beispiel für diese durch Repressivität behinderte Karnevaleske ist die Volksfest-Episode am Ende des Romans (S. 276285). Pedro feiert mit Doritas Familie seine Verlobung auf dem Volksfest. Darin wird ein - sehr bescheidener - Nahrungsexzeß in Szene gesetzt: Pedro kauft Dorita nacheinander Kokosnuß, Waffeln, Zuckerwatte und wieder Kokosnuß. Die Wiederholung des ersten Elements der Nahrungskette aber wird konträr zu Bachtins Konzeption gleichsam als Maßlosigkeit, als eine Art von Grenzüberschreitung bestraft. Denn Cartucho, der den Tod Floritas an Dorita rächt, tritt genau in dem Augenblick zu ihr, als sie die zweite Kokosnuß ißt, und schlägt sie ihr aus der Hand („Te va a sentar mal" - „Das bekommt dir nicht", S. 284). Als Pedro ihr auch noch churros bringt, tötet Cartucho das Mädchen. Nahrungsexzeß und Tod fallen in diesem Moment zusammen. Eine spanische Sonderform der Groteske ist das Valle-Inclänsche esperpento.™ Laut Valle-Inclän kann die Wahrheit über den „tragischen Sinn des spanischen Lebens" nur gefunden werden, indem die Deformationen des Lebens in einem „konkaven Spiegel" ihrerseits wieder deformiert werden. 430 Das esperpento ist einerseits Ausdruck der radikalen Angst des Menschen vor seiner Existenz, andererseits aber legt Valle-Inclän auch Wert auf die historisch-satirische Verankerung der Gattung in Form von Kritik an den Institutionen und Sitten des Volkes. Tiempo de silencio weist durchaus Parallelen zum esperpento auf, doch trennt ihn ein grundsätzlich anderer ideologischer Hintergrund von Valle-Inclän und der 98er-Generation: 431 Zwar geht es auch bei Martin-Santos um die Analyse der spanischen Wirklichkeit als groteske Deformation, aber der Sozialist zielt im Gegensatz zu den 98ern auf ein klares politisches Engagement ab.
429
Emilio Carilla dehnt den von Valle-lnclán in den 20er Jahren geprägten Begriff auch auf frühere Epochen in Spanien aus und zeigt, daß es zwischen Quevedos „Buscón" und der Konzeption des esperpento viele Gemeinsamkeiten gibt, in: „El Buscón, esperpento esencial", in: Filología, 19/1982-84 Facultad de Filosofía y letras, Universität von Buenos Aires, S. 11-44. Rodolfo Cardona/Anthony N. Zahareas gehen in ihrem Standardwerk zu Valle-lnclán detailliert auf die Merkmale des esperpento ein: Visión del Esperpento. Teoría y práctica en los esperpentos de Valle-lnclán. Madrid 1970.
430
Ramón del Valle-lnclán: Luces de Bohemia. 24. Aufl. Madrid 1990, S. 168: „Los héroes clásicos reflejados en los espejos cóncavos dan el Esperpento. El sentido trágico de la vida española sólo puede darse con una estética sistemáticamente deformada. ... España es una deformación grotesca de la civilización europea."
431
Vgl. Alfonso Rey: Construcción S. 159.
y sentido
de „Tiempo
de silencio".
Madrid 1988,
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Grotesker Stil bei Martín-Santos Ironie und Groteske durchziehen das ganze Werk gleichsam als Grundhaltung des Autors und fungieren gleichzeitig als wichtige Strategien zur Tarnung regimekritischer Äußerungen. Martín-Santos reiht sich durch intertextuelle Bezüge im Roman explizit in die groteske spanische Tradition ein, etwa durch die Thernatisierung von Goyas Le Grand Bouc oder durch Anspielungen auf Cervantes. Gleichzeitig weist der barocke Stil von Tiempo de silencio selbst groteske Merkmale auf. Er charakterisiert sich durch die Häufung von Paraphrasen, Hyperbeln und Sprachwucherungen, die manieristisch über die Norm der klassischen Rhetorik hinausgehen. Ein Beispiel für den sprachlichen Exzeß ist die Beschreibung der nie namentlich genannten Stadt Madrid (S. 15f.): Dieses groteske Stadtporträt besteht aus einem einzigen Satz, der sich Uber eineinhalb Seiten hinzieht. Der Autor beginnt den Satz mit den Worten „Hay ciudades tan descabaladas, tan faltas de sustancia histórica, tan traídas y llevadas por gobernantes arbitrarios ..." - „Es gibt Städte, die so kopflos sind, denen es so sehr an historischer Substanz mangelt, die so sehr durch willkürliche Regierende geführt werden ...". Dazwischen schiebt sich eine endlose asyndetische Reihung („tan ..., tan ..., tan ..."), die als pars pro toto für die Diktatur ein kritisches, ironisch-überzeichnetes Bild der Hauptstadt abgibt: Madrid wird von willkürlichen Herrschern geführt, ist auf naive Weise selbstzufrieden, wurde kapriziös in die ödnis gebaut, etc. Beendet wird der Satz lakonisch mit den spöttischen Worten „... que no tienen catedral." - „... daß sie keine Kathedrale haben.". 432 Auch die Personen in Tiempo de silencio tragen groteske Züge. Der Gran Bouc (vgl. unten) wird als Mesalliance von Mensch und Tier, nämlich von Philosoph und Ziegenbock gezeigt. Auch das Gesichtszucken des inzestuösen Muecas („Fratze") oder die Dickleibigkeit seiner Frau Encarna wirken grotesk. Florita stirbt bei einer Abtreibung - Geburt und Tod fallen bei dem jungen Mädchen zusammen, so daß sie das groteske Motiv des schwangeren Todes personifiziert. Besonders auffällig aber sind Exzentrizität (die permanente Deformation der bekannten Ordnung durch ungewöhnliche Perspektiven) bzw. Mesalliance (das Zusammenbringen von Heterogenem und Widersprüchlich-Paradoxem): Die bescheidene „merienda" in Pedros Pension zur Feier des neuen Schwiegersohns wird aus dem Blickwinkel einer feinen Abendgesellschaft, Muecas' Elendshütte aus der Perpektive eines reichen Gutsbesitzers und die Gefängniszelle Pedros unter dem Aspekt des Freizeitwertes dargestellt.
432
In der Tat wurde die Kathedrale, ein stilloses pompöses Gebäude, erst in den 90er Jahren fertiggestellt, da bis dahin kein Geld dafür vorhanden war. Durch seine fehlende Kathedrale machte sich Madrid zum Gespött der Spanier - der Mangel der Kathedrale signalisiert aber zugleich, im Gegensatz zu alten Bischofsstädten wie Toledo oder Avila, die fehlende historische Substanz der Stadt.
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Zwei Beispiele solcher grotesken Deformationen werden nun genauer analysiert, wobei gezeigt werden soll, wie Martín-Santos die Groteske auch als Tarnstrategie nutzt, um seine antifranquistische Gesellschaftskritik zu camouflieren. a) Die Welt der „ chabolistas " - der Mythos vom hombre ibero Die Lebenswelt der Madrider Slum-Bewohner wird im achten Kapitel (S. 50-54) mittels einer nicht-realistischen Aufzählung von heterogenen Gegenständen beschrieben. In den Glendshutten finden sich Kristall-Lampen aus Böhmen; Schmutz und Unrat; eine Hand im Spitzenhandschuh, die Schweine im Bad füttert; Decken des franquistischen Heeres. An diese Beschreibung schließt sich eine scheinwissenschaftliche Analyse der Slums aus dem Blickwinkel eines Ethnologen an (ab: „Pero, qué hermoso a despecho ...", S. 52). Dabei wird die Unterentwicklung im franquistischen Spanien mit verschiedenen primitiven Stämmen (den Stämmen Zentralafrikas, den Eskimos oder den Bewohnern Tasmaniens, S. 53) verglichen. Como si no se hubiera demostrado que en el interior del iglú esquimal la temperatura en enero es varios grados Fahrenheit más alta que en la chabola de suburbio madrileño. Como si no se supiera que la edad media de pérdida de la virginidad es más baja en estas lonjas que en las tribus del Africa central... (Als ob nicht bewiesen wäre, daß die Temperatur im Inneren des Eskimo-Iglus im Januar einige Grade Fahrenheit höher ist als in der Hütte eines Madrider Vororts. Als ob nicht bekannt wäre, daß das Durchschnittsalter, in dem die Mädchen ihre Jungfräulichkeit verlieren, in diesen Breiten niedriger ist als bei den Stämmen Zentralafrikas...)
Der groteske Effekt des Kapitels entsteht durch die überzogene Parallele zwischen den unterentwickelten, aber „europäischen" Spaniern und den primitiven Ureinwohnern. Der Erzähler geht in dieser Passage sogar noch einen Schritt weiter und „beweist" durch angebliche Fakten, daß die Primitiven in ihrer Entwicklung höher stehen als die chabolistas (S. 53), er kehrt somit die anerkannte Hierarchie um. Die Analyse wird von einem auktorialen Erzähler vorgenommen, der vorgeblich mit den Mythen des Regimes solidarisch geht. Parodiert wird hier vor allem der Mythos vom hombre ibero; nach Aussage des Erzählers bilden Erfindungsreichtum und Spontaneität die „Essenz" seines Wesens (S. 52): ¡De qué maravilloso modo allí quedaba patente la capacidad para la improvisación y la original fuerza constructiva del hombre ibero! ¡Cómo los valores espirituales que otros pueblos nos envidian eran palpablemente demostrados en la manera como de la nada y del detritus toda una armoniosa ciudad había surgido a impulsos de su soplo vivificador! (Auf welch wunderbare Art zeigte sich doch dort das Improvisationstalent und die ursprüngliche gestalterische Kraft des Iberers! Wie wurden doch die geistigen Werte, um die andere Völker uns beneiden, greifbar in der Art, wie aus dem Nichts und dem Müll eine komplette harmonische Stadt entstanden ist - durch seinen belebenden Atem!)
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In ironischer Scheinsolidarisierung mit dem herrschenden Diskurs nimmt der Erzähler die offiziellen Werte - die „kulturelle Größe" und die „Essenz" Spaniens 433 - ernst, aber er belegt sie in einer pseudologischen Beweisführung ausgerechnet an der Welt totaler Unterentwicklung, die dem offiziellen Mythos de facto widerspricht. Die Ordnung der chabolistas ist regellos und gewalttätig. Aber sie wird von einer Offizialität signalisierenden Sprachebene explizit als logisch bestätigt: „Era muy lógico, pues, encontrar en los cuartos de baflo piaras de cerdos chilladores..." - „Es war also ganz logisch, in den Bädern Herden von quiekenden Schweinen zu finden..." (S. 51). Auf diese Weise wird nicht nur das Hohe in einen Kontext gestellt mit dem Niedrigen, sondern das Niedrige als Beleg fllr die vermeintliche „Wahrheit" des offiziellen Mythos angeführt. Martín-Santos erreicht durch dieses Verfahren drei Ziele. Er schafft ein durch groteske Übertreibung und Verzerrung getarntes Abbild der Mißstände im franquistischen System. Er führt vor, wie der offizielle Diskurs diese Mißstände durch Mythenbildung verschleiert. Und er macht seine Kritik für die Zensur unangreifbar, denn sie läßt sich am Text nicht explizit festmachen. Der euphorische, vemeintlich die offiziellen Mythen verteidigende auktoriale Erzähler entspricht der expliziten Textebene, die an den Zensor gerichtet ist. Die implizite Ebene entsteht erst im Kopf des Lesers und setzt dessen hermeneutische Arbeit voraus. Die absurde Logik der Beweisführung wirkt auf ihn als Signal, die Rede des Erzählers nicht ernst zu nehmen - sie wird im Text ironisch vorgeführt. Gleichzeitig beinhaltet das Kapitel konkrete regimekritische Anspielungen. Der absurde Vergleich zwischen Primitiven und chabolistas ermöglicht die Thematisierung von Tabus, die in direkter Form nicht durch die Zensur kämen: die Verletzung des Inzest-Verbots, Anspielungen auf Prostitution und voreheliche Defloration, die Angst vor dem Terror der Staatspolizei (S. 51-53). 434 Am letzten Beispiel soll die Funktionsweise der Tarnung gezeigt werden. Die Angst der Primitiven vor einem höheren Wesen wird gleichgesetzt mit der Angst der chabolistas vor der Polizei (S. 53): Como si la creencia en un ser supremo no se correspondiera aquí con un temor reverencial más positivo ante las fuerzas del orden público igualmente omnipotentes. (Als ob der Glaube an ein höheres Wesen sich hier nicht deckte mit einer ehrfürchtigen, allerdings positiveren Furcht vor den Kräften der öffentlichen Ordnung, die genauso allmächtig erscheinen.)
Nur für oberflächliche Leser eine abstruse Parallele: die „Kräfte der öffentlichen Ordnung" - ein Euphemismus für die repressive spanische Polizei - sind allmäch433
Valls (1986: 234) nennt mit Martín-Santos übereinstimmend die Richtung franquistischer Mythenbildung: „... volver a las ,esencias' de España, a su catolicidad y desde ella recrear el imperio (en sentido católico) y la grandeza cultural de España, tal como en los siglos XV-XVII".
434
Vgl. Analyse der Zensurkriterien von 1961.
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tig, gefährlich und willkürlich wie eine primitive Gottheit. Sie erscheinen im Grunde ebenso unzivilisiert und unvereinbar mit einer europäischen Demokratie wie das ser supremo der Eingeborenen. In ironischer Identifizierung mit dem Regime gibt der Erzähler j e d o c h der - scheinbar - höherentwickelten Staatsmacht vor der offensichtlichen Primitivität der Gottheit den Vorzug. Auch die auf den ersten Blick willkürlich erscheinende Aufzählung der Baumaterialien der chabolas enthält in Form von Verdichtungen zahlreiche Hinweise auf Mißstände im franquistischen Spanien, denn verschiedene Substanzen dieser wildwuchernden Architektur tragen für den Leser Symbolcharakter (S. 50): La limitada llanura aparecía completamente ocupada por aquellas oníricas construcciones confeccionadas con maderas de embalaje de naranjas y latas de leche condensada,... con trozos de manta que utilizó en su día el ejército de ocupación, ... con fragmentos de la barrera de una plaza de toros pintados todavía de color de herrumbre o sangre, con las latas amarillas escritas en negro del queso de la ayuda americana, con piel humana y con sudor y lágrimas humanas congeladas. (Die begrenzte Ebene erschien vollkommen bedeckt mit jenen traumhaften Bauten, die man hergestellt hatte aus dem Holz von Orangenkisten und Kondensmilchdosen, ... mit Deckenstücken, die damals das Besatzungsheer benützte, ... mit Teilen der Bande einer Stierkampfarena, die noch immer mit der Farbe von Eisenrost oder Blut bemalt waren, mit den gelben, schwarz beschriebenen Käsebüchsen der amerikanischen Wirtschaftshilfe, mit menschlicher Haut und Schweiß und gefrorenen menschlichen Tränen.)
Die Tarnung der regimekritischen Botschaft geschieht durch die doppelte Semantisierung der Symbole, die sich an zwei verschiedene Leser richten, wie im „Allgemeinen Teil" ausgeführt: Ein eilig-oberflächlicher Leser wie der Zensor hat in der Regel nicht die Zeit, in den Symbolen mehr zu sehen als harmlose Baumaterialien, während der komplizenhafte Leser die Inadäquatheit dieser M a terialien als Störsignal empfindet und eine Lektüre auf zweiter Ebene vornimmt. Dieser Leser wird in den Objekten der Aufzählung andere - politische - Kontexte entdecken: die Deckenstücke des Besatzerheeres verweisen auf die franquistischen „Besatzer" im Spanischen Bürgerkrieg, die blutfarbene Bande der Stierkampfarena auf die blutige Spaltung des Volkes im Krieg, wie sie im „Stierkampf-Kapitel" genauer dargelegt wird, Käseschachteln der amerikanischen Wirtschaftshilfe spielen auf die Hungerjahre der Nachkriegszeit an. Körperflüssigkeiten wie Tränen, Schweiß und Menschenhaut lassen sich nicht nur mit Bachtins „Volkskörper" assoziieren, sie signalisieren auch die Falschheit des offiziellen Mythos angesichts des Leidens der spanischen Bevölkerung.
VI. Die Konsolidierung
des Regimes
(1951-1966)
b) ,Le Gran Bouc' - Mythos vom spanischen Macho und der Mythenbildung
173 Selbstthematisierung
Die Episode über Le Gran Bouc (S. 155-59) tarnt sich als Bild-Analyse von Goyas gleichnamigem Werk. 435 Eine Reproduktion dieses Bildes hängt in Matías' Zimmer, durch diesen Bezug wird die Episode Pedros Erfahrungen mit der Oberschicht zugeordnet. Der Text entspricht allerdings einem relativ autonomen essayistischen Einschub, der die Haupthandlung zum Stillstand bringt, um sie theoretisch zu fundieren. Die Episode wirkt wie ein stark verrätselter, assoziativer Traum, in dem zahlreiche Motive des Buches in verdichteter Form noch einmal aufgegriffen und neu kombiniert werden. Das Kapitel kann auf zwei Ebenen gelesen werden: a) als konkrete Kunst-Analyse des Goya-Bildes und b) im übertragenen Sinn als Analyse des franquistischen Spanien. Ein auktorialer, diesmal nicht ironisierter Erzähler fungiert einerseits als Betrachter des Bildes, andererseits nimmt er die doppeldeutige Interpretation vor. Das Goya-Bild beinhaltet neben dem aufrecht sitzenden Ziegenbock eine Gruppe von armen Frauen, die im Text als „mauvaises couches redupl¡cativas" (S. 156) bezeichnet werden, aber auch tote Kinder (abgetriebene Föten und verhungerte Kinder). Der Einleitungssatz des Kapitels ist möglicherweise einem Kunstkatalog entnommen und referiert Daten über das Gemälde: „Scène de sorcellerie: Le Gran Bouc ..." (S. 155). Francisco Goya gehört zu den spanischen Genies, die der Franquismus - genauso wie Cervantes - im Namen der Hispanität vereinnahmt hat. Martín-Santos nimmt hier eine gegenläufige, mythenkritische GoyaInterpretation vor, so wie er in einem weiteren Kapitel eine nonkonformistische Cervantes-Lektüre vorschlägt (vgl. unten). Der Bildbeschreibung des Erzählers zufolge sitzt der Ziegenbock inmitten einer Menge von armen Frauen mit verzerrten Gesichtern, schaut sie aus einem Auge an und hebt die Hufe in die Höhe. Eine Geste, die widersprüchliche Funktionen zu umreißen scheint, denn die Figur wird im Text als „buco gozador" („geniessender Bock", S. 158), als „Sündenbock" und als eine Art Heilsbringer interpretiert. Auf der zweiten Interpretationsebene geht die Bildanalyse weit Uber den bei Goya angelegten Kontext hinaus und weist Bezüge zum franquistischen Spanien auf. Diese Doppeldeutigkeit soll am Beispiel der abgetriebenen Föten der als „auparishtaka" bezeichneten armen Frauen gezeigt werden (S. 155f.):
435
Martín-Santos scheint hier zwei Bilder Goyas miteinander zu vermischen, „El gran cabrón" und „El aquelarre". „El gran cabrón" zeigt einen Ziegenbock inmitten von armen Frauen mit verzerrten Gesichtern. Auf dem zweiten Bild, „El aquelarre", sieht man ebenfalls einen Ziegenbock; er steht da mit erhobenen Pfoten, umgeben von armen Frauen, zusätzlich sind darauf tote Kinder und erhängte Föten abgebildetet. MartínSantos bezieht sich auf Elemente aus beiden Bildern. Abgebildet sind die Gemälde in Pierre Gassier et alii: Goya. Köln 1994, S. 328 und S. 122.
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Allí, con ojo despierto, mirando a la muchedumbre femelle que yace sobre su regazo en ademán de auparishtaka y de las que los abortos vivos parecen expresar en súplica sincera la posible revitalización ... (Dort schaut er mit wachem Auge auf die weibliche Menge, die auf seinem Schoß sitzt in der Haltung der 'auparishtaka 1 und deren noch lebendige abgetriebene Föten in scheinbar aufrichtigem Flehen ihre mögliche Wiederbelebung zum Ausdruck bringen...)
Die abgetriebenen Föten rufen die an Florita abgenommene Abtreibung in Erinnerung. Die armen Frauen auf dem Goya-Bild korrespondieren mit der Erdmutter Encama und ihren zerlumpten Nachbarinnen der chabolas. Die im Grand Bouc indirekt thematisierte Sinnlosigkeit des Kindersterbens läßt sich auf das Paradigma Florita übertragen, und die unter menschenunwürdigen Bedingungen hausenden chabolistas des franquistischen Systems bringen analog zu den im Text erwähnten indischen „auparishtaka" zwar viele Kinder zur Welt, die aber durch eine extreme Sterblichkeit bedroht sind. Zur Verknüpfung des Goyabildes mit der zeitgenössischen Realität setzt der Autor das in Freuds Traum-Theorie zentrale Verfahren der Verdichtung ein:436 Verdichtung und Verschiebung sind laut Freud die Haupttechniken zur Umgehung der Zensur des Unbewußten:437 Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen. ... Der Erfolg dieser Verschiebung ist, daß der Trauminhalt dem Kern der Traumgedanken nicht mehr gleichsieht, daß der Traum nur eine Entstellung des Traumwunsches im Unbewußten wiedergibt. Die Traumentstellung aber ist uns bereits bekannt; wir haben sie auf die Zensur zurückgeführt, welche die eine psychische Instanz im Gedankenleben gegen die andere ausübt.
Bei der im Grand Bouc vor allem eingesetzten Verdichtung gehen von einem Element des Trauminhalts verschiedene, häufig scheinbar völlig heterogene Assoziationsverbindungen aus, die Uber ein „mittleres Gemeinsames" verknüpft werden. Der Traum ist laut Freud ein „Weber-Meisterstück".438 Die Parallele zwischen den Verschlüsselungstechniken im Traum und den grotesken Assoziationen bei Martín-Santos zur Umgehung der politischen Zensur zeigt sich in diesem Kapitel besonders deutlich, denn in Tiempo de silencio werden der Figur des Ziegenbocks analog zur Technik der Traumbildung zahlreiche heterogene Kontexte aufgepfropft, indem Motive und Symbole aus den übrigen Kapiteln in
436
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. auch „Allgemeiner Zensurteil".
437 438
30.-35. Tausend. Frankfurt 1996, S. 289. Vgl.
Ebenda, S. 3 l 2 f .
Freud verdeutlicht die Verdichtungstätigkeit bei der Traumbildung durch ein treffendes Bild, das dem Verfahren in Le Gran Bouc entspricht: „Ein Tritt tausend Fäden regt,/ Die Schifflein herüber, hinüber schießen,/Die Fäden ungesehen fließen,/Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt". Ebenda, S. 289.
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konzentrierter Form zu einem neuen, verschlüsselten Kontext verwoben werden. So korreliert ein Apfel in der Pfote des Bocks einerseits mit dem Vortrag eines Philosophen und andererseits mit der autoritären Puffmutter Doña Luisa, die man mit einer Tomate in der Hand in derselben Position sieht. Die Bezeichnung des Bocks als „cabrón expiatorio" (S. 155) geht Hand in Hand mit der SündenbockFunktion Pedros, aber auch des Märtyrers San Lorenzo am Schluß des Romans. Die weiblichen Armen im Bild weisen wie gesagt Parallelen zu den unterentwikkelten Indern, aber auch zu der Situation der cAaÄo/a-Bewohner von Madrid auf. Le Gran Bouc vermittelt durch das Verfahren der Verdichtung den Eindruck eines Konzentrats des ganzen Romans. Die Positionierung genau in der Mitte des Romans unterstreicht die Schlüsselstellung des Kapitels. Das Verfahren der Verdichtung wird auch zur Charakterisierung des Ziegenbocks angewendet. Er verkörpert einerseits als „capro hispánico bien desarrollado" (S. 155) den Mythos vom potenten spanischen Macho, auf einer zweiten Ebene aber läßt er sich mit Ortega y Gasset in Verbindung bringen, denn der Apfel in der Pfote des Bocks dient als Bindeglied zu dem Philosophen, der zwei Kapitel später in ähnlicher Pose vor der Madrider High-Society über seine Perspektiventheorie referiert (S. 162f.). Wie der Bock steht der Philosoph dabei im Zentrum weiblicher Bewunderung und läßt sich unschwer als Ortega y Gasset identifizieren. 439 Grotesk ist in dieser Episode bereits das Motiv, die Mesalliance zwischen Ziegenbock und renommiertem Philosophen. Wie Bachtins Karnevalskönig wird der Bouc zunächst als Philosoph/Vertreter metaphysischer Wahrheit spöttisch erhöht und schließlich als triebgesteuerter, animalischer Ziegenbock erniedrigt sein abgehobener, realitätsferner Diskurs wird dadurch „geerdet". Ortega y Gasset war zwar als Anhänger der Republik nach dem Spanischen Bürgerkrieg ins Exil gegangen, doch nach seiner Rückkehr im Jahr 1946 verhielt er sich weitgehend unpolitisch. Er entwickelte sich von einem von sozialen Ideen inspirierten Intellektuellen zu einem konservativen, wenngleich im Prinzip antifranquistischen Denker. 440 Junge Linke wie Martín-Santos warfen Ortega sein fehlendes politisches Engagement im Franquismus und die Dominanz einer puren Stilistik als „Verrat" vor. Die ambivalente Haltung des Ziegenbocks weist also durchaus Analogien zu dem spanischen Philosophen auf.
439
Vgl. Esperanza G. Saludes: „Presencia de Ortega y Gasset en la novela Tiempo de silencio de Luis Martín-Santos", in: Hispanic Journal 3/1981-82, S. 91-103.
440
Vgl. Alain Guy : Historia de Ia filosofía española. Barcelona 1985, S. 287-299. Ortega markiert den linken Rand des vom Regime akzeptierten Denkens. Trotz seiner politischen Zurückhaltung unter Franco wurde sein Begräbnis zum Symbol des antifranquistischen Widerstands. Darauf scheint der Schlußsatz im Grand Bouc anzuspielen (S. 158): „... te llevaremos a la tumba cantando un gorigori que parecerá casi como triste..." („... wir tragen dich zu Grabe und singen dir ein Gebet, das beinahe traurig erscheinen wird...").
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Die Goya-Interpretation des auktorialen Erzählers soll nun im Hinblick auf die regimekritische Ebene genauer untersucht und entschlüsselt werden. Sexuelle und intellektuelle Potenz fallen bei dem Bock zusammen, denn mittels des „dominio fálico" (S. 155) beherrscht er die Frauen aller Gesellschaftsschichten. Der Ziegenbock triumphiert dadurch nicht nur als Macho, sondern auch als Intellektueller, exemplifiziert durch seinen brillanten, aber inhaltsleeren Diskurs Uber die „quiddidad de la manzana". Trotz oder wegen seiner scheinbaren intellektuellen und sexuellen Potenz enttäuscht er die Zuhörerinnen, die von ihm die Verkündigung von „Wahrheit" erwarten (S. 156): Las mujeres se precipitan; son las mujeres que se precipitan a escuchar la verdad. Precisamente aquellas a quienes la verdad deja completamente indiferentes. Él levantará su otra pezuña, la derecha, y en ella depositará una manzana. Y mostrando la manzana a la concurrencia selectísima, hablará durante una hora sobre las propiedades esenciales y existenciales de la manzana. La quiddidad de la manzana quedará mostrada ante las mujeres a las que la quiddidad indiferencia. (Die Frauen überstürzen sich. Es sind die Frauen, die sich überstürzen, um die Wahrheit zu hören. Doch gerade sie läßt die Wahrheit vollkommen gleichgültig. Er wird seine andere Pfote, die rechte, erheben und in ihr einen Apfel halten. Und während er den Apfel der höchst ausgewählten Versammlung zeigt, wird er eine Stunde lang über die essentiellen und existentiellen Eigenschaften des Apfels sprechen. Die Quiddidad des Apfels wird vor den Frauen bewiesen werden, die die Quiddidad völlig kalt läßt.)
Der Mythos vom spanischen Macho wird durch seine Impotenz/Inkompetenz, die drängenden sozialen Probleme zu lösen, konterkariert. Zwar kennt der Bock die soziale Realität, denn sein tiefer Blick durchdringt sie sehr genau (S. 157). Aber sein Diskurs lenkt davon ab. Die Wahrheit ist jedoch auf dem Goya-Bild in monströser Form abgebildet: Abgetriebene Föten, verhungernde Kinder, Frauen mit verzerrten Gesichtern, die sich hilfesuchend an den Bock wenden, sind die Elemente der schaurigen Wirklichkeit, auf die der Bock blickt - Mißstände, die sich in einer regimekritischen Lektüre von der Ebene des Goya-Bildes auf den Franquismus übertragen lassen. Doch der Bock verbirgt diese Mißstände (wie Ortega, aber auch wie die Propaganda des Regimes) hinter der eleganten Stilistik einer leeren Rhetorik (S. 159): ... aficionas a la gente bien tiernamente a la filosofía, como chico de la blusa tan espontáneo, tan grácil, con tan sublime estilo, con tan adornada pluma, con la certera metáfora desveladora que te perdonarán los niños muertos que no dijeras de qué estaban muriendo ... (... du begeisterst die Leute zartfühlend ftlr die Philosophie, so spontan wie ein Junge in seinem Hemd, so graziös, mit solch sublimem Stil, mit so vergoldeter Feder, mit der treffsicheren und enthüllenden Metapher, daß dir die toten Kinder verzeihen werden, daß du nicht sagst, woran sie starben ...)
Anstatt die Wahrheit Uber die soziale Realität im Lande zu sagen, rechtfertigt der Ziegenbock/Ortega die Unterentwicklung der Spanier als erblich bedingt und
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unveränderbar aufgrund ihrer „sangre visigótica" (S. 158).441 Damit macht er sich letztlich zum Handlanger des Regimes, zum „Mythenbildner". Der Erzähler liefert folgende ironisch-sarkastische Zusammenfassung der Bocks-Rede (S. 158): Todos somos tontos. Y este ser tontos no tiene remedio. Porque no bastará ya nunca que la gente esta tonta pueda comer, ni pueda ser vestida, ni pueda ser piadosamente educada en luminosas naves de nueva planta construidas, ni pueda ser selectamente nutrida ... puesto que víctimas de su sangre gótica de mala calidad y de bajo pueblo mediterráneo permanecerán adheridos a sus estructuras asiáticas y así miserablemente vegetarán vestidos únicamente de gracia y no de repulsiva técnica del noroeste. (Alle sind wir dumm. Und gegen diese Dummheit gibt es keine Abhilfe. Denn es wird nie genügen, daß diese dummen Leute essen können, sich anziehen können, anständig erzogen werden können in hellen, neugebauten Gebäuden, durch eine ausgewählte Nahrung ernährt werden können, ... denn als Opfer ihres schlechten gotischen Blutes und als niederes mediterranes Volk werden sie ihren asiatischen Strukturen verhaftet bleiben, und so vegetieren sie dahin - bekleidet nur mit Anmut und nicht mit der widerwärtigen Technik des Nordwestens.)
Der implizite Autor stimmt zwar mit dieser ernüchternden Analyse der gesellschaftlichen Realität Uberein. Er glaubt jedoch nicht wie der Bock an genetisch bedingte Einflüsse, sondern an historisch-politische Faktoren und damit an die Veränderbarkeit der sozialen Verhältnisse. Der Bock (bei Martín-Santos trägt er anders als bei Goya eine Maske) verbirgt hinter seiner Fassade aber zugleich eine regimekritische Botschaft. Seine Ambivalenz als Mythenbildner und Heilsgestalt wird symbolisiert durch seine erhobenen Pfoten. Die rechte Pfote hält einen Apfel, während der Bock über die „quiddidad des Apfels" räsoniert und die Frauen „verzaubert". Die linke Pfote verweist hingegen auf den Heils-Charakter des Bocks, indem sie eine Verbindung zu den „mauvaises couches" herstellt (S. 156): ... se complace en depositar la pezuña izquierda benevolentemente sobre el todavía no frío ya escuálido, no suficientemente alimentado, cuerpo del raquitismus enclencorum de las mauvaises couches reduplicativas. (... es beliebt ihm, gütig seine linke Pfote auf den noch nicht ganz kalten, abgemagerten, nicht genügend ernährten, rachitisch-schwächlichen Körper der gebärfreudigen mauvaises couches niederzulegen.)
In der Dichotomie zwischen links gleich gut und rechts gleich schlecht mag man einen verschlüsselten Hinweis auf die politische Einstellung des Autors sehen, der aber subtil genug ist, daß er den Zensoren entging. Doch der Text legt auch inhaltlich eine politische Implikation nahe: einerseits durch die sozialkritische lsotopie aus Kindersterblichkeit, Hunger, revolutionären Massen, andererseits durch den Hinweis auf die hoffnungsvollen Frauengesichter, die von der „Sonne in der Nacht" erleuchtet werden (S. 157) - eine Metapher, die in antifranquistischen Texten häufiger vorkommt, um die Hoffnung auf eine Veränderung der 441
A. Rey (1988: 210) analysiert den Stellenwert von Ortega y Gasset ausführlicher.
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Diktatur auszudrücken. 442 Die Frauen im Text lassen sich als Widerstandsfiguren deuten. Sie charakterisieren sich durch das Paradox von einerseits groteskexzessiver Fruchtbarkeit (sie bringen „genios elefantiasicos" - „elephantische Genies" zur Welt, S. 157) und andererseits Hunger und Kindersterblichkeit. Trotz der lebensfeindlichen Mangelsituation halten die armen Frauen den ausgemergelten „Volkskörper" am Leben, dadurch stellen sie ein positives Prinzip von Körperlichkeit im Sinne Bachtins dar. Der Bezug auf Ortega stützt eine politische Lektüre ebenfalls, denn ähnlich wie dieser „verrät" der Ziegenbock die Interessen des Volkes, weil er sich nicht für eine Veränderung des Status Quo einsetzt - er verwandelt sich vielmehr in einen brillanten, umschmeichelten „buco gozador" der Oberschicht. Der Bock/ Philosoph wird dadurch zum Emblem für einen regimestabilisierenden Umgang mit der Realität des Landes, der ihn für die Vereinnahmung durch den herrschenden Diskurs prädestiniert. 443 Auf einer dritten Ebene läßt er sich somit als Inkarnation offizieller Mythenbildung selbst interpretieren.
2.6. Mythenzerstörung durch Umkehrung der offiziellen Hierarchien Martin-Santos' Mythen-Kritik greift auf die gesamte offizielle Ordnung Uber, indem er die etablierten Hierarchien unterwandert, umkehrt und zerstört. Ziel seiner literarischen Aktivität ist es, die vermeintliche Unveränderbarkeit der gegebenen Ordnung in Frage zu stellen und letztendlich ihre Transformierbarkeit zu signalisieren, allerdings ohne ein konkretes Gegenmodell zu entwerfen. Dabei entgeht der Autor einer simplen Dichotomie, wie sie Vertretern der novela social häufig vorgeworfen wird (Unterschicht/ Proletariat ist gut, Oberschicht/ „Ausbeuter"-Klasse ist böse): 444 Die kapitalistische Klassengesellschaft führt nach 442
Sánchez Reboredo (1988: 76-83) führt mehrere Beispiele für die Verwendung dieser Metapher an und schreibt, es handle sich um eines der gebräuchlichsten semantischen Felder in der antifranquistischen Literatur.
443
Juan Luis Suárez Granda weist in Guias de lectura. Tiempo de silencio. Luis MartínSantos, Madrid 1986, auf die konkrete Kritik des Romans an der Haltung Ortegas hin (S. 92): „Ortega es el gran disertador frivolo, consciente de los problemas de España, pero indiferente a los mismos." („Ortega ist der große, frivole Deserteur, der sich der Probleme Spaniens zwar bewußt ist, aber ihnen indifferent gegenübersteht.")
444
WinecofT( 1968:233) zitiert ihn in diesem Sinne: Dicho en otros términos, el campo de batalla entre el bien y el mal no es ya el alma del hombre, sino el medio social. El hombre no es un ser de una pieza: bueno, si es proletariado, malo si es burgués. Esta dialéctica ... no es muy recomendable bajo la etiqueta del realismo. Un hombre que no sufre dudas y contradicciones íntimas no está vivo por dentro." („... Mit anderen Worten: das Schlachtfeld zwischen gut und böse ist nicht mehr die Seele des Menschen, sondern das soziale Umfeld. Aber der Mensch ist nicht aus einem Stück, gut, wenn er Proletarier ist und schlecht, wenn er bürgerlich ist. Diese Dialektik ... ist nicht sehr empfehlenswert unter dem Etikett des Realismus. Ein Mensch, der keine Zweifel und inneren Widersprüche verspürt, ist innerlich nicht lebendig.")
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seiner Deutung gerade zu einer Auflösung eindeutiger Oppositionen, da die Unterschicht sich durch die Übernahme der Werte der Oberschicht von ihren eigenen Interessen entfremdet und sich dadurch in einen Teil der herrschenden Ordnung verwandelt, wie am Beispiel von Le Gran Bouc gezeigt wurde. Auf welche Weise Martin-Santos die Umkehrung von Hierarchien zur Zerstörung der offiziellen Mythen einsetzt, wird an zwei Beispielen untersucht: a) der Analyse des Stierkampfes und b) an der Selbstthematisierung des Schreibprozesses im Cervantes-Kapitel. In beiden Fällen wird die offizielle Ordnung des Regimes durch den Schreibprozeß des Schriftstellers unterminiert. a) Der Mythos vom
Stierkampf
Das 49. Kapitel (S. 223-225) weist deutliche Parallelen zu Le Gran Bouc auf. Auch hier handelt es sich um eine vorgebliche Kunstanalyse, die sich auf einer oberflächlichen Ebene mit dem Werk Goyas beschäftigt und auf einer zweiten Ebene auf die Diktatur bezogen werden kann. Im Unterschied zu Le Gran Bouc richtet sich das Interesse des auktorialen Erzählers diesmal allerdings nicht auf die pintura negra des Malers, sondern auf seine Tapicerien, die auf den ersten Blick heiteren „typisch spanischen" Bilder der majasy toreros, wie sie heute im Museo del Prado zu sehen sind. 445 Diese Motive entsprechen einem Spanienklischee, das der Franquismus vor allem im Hinblick auf den Franquismus propagandistisch ausgenutzt hat. Martin-Santos spielt im Text konkret auf ein GoyaBild namens „El pelele" 446 an: „un pelele relleno de trapos rojos" - „ein Hampelmann voll roter Tücher" (S. 224). Auf diesem Bild ist eine ausgestopfte männliche Puppe abgebildet, die von einer Frauengruppe mit Hilfe eines gespannten Leintuchs in die Luft geworfen wird. Die Figur des pelele wird in Tiempo de silencio mit einem blutenden Stierkämpfer assoziiert. Zu Beginn dieses Kapitels wird die Analysemethode selbst thematisiert; in einem zweiten Schritt leitet der Erzähler von Goyas Spanien- und Stierkampf-Bildem auf den Stierkämpfer über; in einem dritten Schritt nimmt er eine regimekritische Analyse des Stierkampf-Mythos vor, der par excellence filr die franquistischen Werte Hispanität, Machismus und Heldentum steht. Martin-Santos ist nicht der einzige Schriftsteller, der den Stierkampf in Verbindung mit den politischen Verhältnissen analysiert und kritisiert hat: Auch Juan Goytisolo demythifiziert den Stierkampf (genaugenommen das brutale Stiertreiben in den spanischen Dörfern) in seinem Roman Sehas de identidad.wl Der Stierkampf wird von spanischen Linken noch heute mit dem reaktionären Spanien assoziiert, 448 insbesondere da der Franquismus ihn wie den Flamenco als 445
Vgl. Gassier et alii 1994, Bildnummern 57-69, 70-86, 124-141, 142-153, 154-159.
446
Ebenda, Nr. 301.
447
Vgl. die brutale und blutige Darstellung des Stiertreibens in Juan Goytisolo: Senas de identidad. 7. Aufl. Barcelona 1988, S. 116-118.
448
Interview mit Rosa Montero vom 20. April 1996 in Madrid.
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Inbegriff des spanischen Wesens vereinnahmt hat. Ortega y Gasset bezeichnet den Stierkampf hingegen als Ausgangspunkt filr das Verständnis der spanischen Kultur. Diese thematische Referenz ist jedoch nicht der einzige Hinweis auf den spanischen Philosophen in Martin-Santos' eigener - von Ortega abweichender Stierkampf-Analyse. Das Kapitel kann unmittelbar als Fortsetzung zu Le Grand Bouc gelesen werden, denn beinahe wörtlich wird die Position des Ziegenbocks/ Philosophen noch einmal aufgegriffen (S. 224): 449 No debe bastar ser pobre, ni comer poco, ni presentar un cráneo de apariencia dolicocefálica.... para quedar definido como ejemplar de cierto tipo de hombre ... (Es darf nicht genügen, arm zu sein, wenig zu essen, und einen Schädel von dolicocefalischer Erscheinung zu haben, ... um als Exemplar eines bestimmten Menschenschlags definiert zu werden...)
Der Erzähler nimmt im Zusammenhang mit der Kritik am Stierkampf-Mythos die sozialkritische Analyse der spanischen Wirklichkeit vor, die der Gran Bouc der
weiblichen Menge vorenthalten hat. Dabei wird nicht nur aufgedeckt, inwiefern das Regime Mythen wie den Stierkampf zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung braucht, sondern auch beschrieben, wie bei der Mythenkritik vorzugehen ist: Der Erzähler will das offizielle klischeehafte Spanien („la España de pandereta") mit Rückgriff auf alle leyendas negras und das, was die spanischen
Maler unter ihrer Lackschicht verborgen haben, analysieren: „ese algo deberá ser analizado, puesto a la vista, medido y bien descrito" (S. 224). Ziel ist auch hier eine nonkonformistische Interpretation der spanischen Maler, insbesondere Goyas. Dafür schlägt der Erzähler vor, sich gleichzeitig außerhalb und innerhalb des Systems zu situieren, außerhalb durch den Blick des Malers, des Touristen, des unbeteiligten Analytikers und innerhalb durch die Identifikation mit dem Torero. 450 Dabei setzt der Erzähler am herrschenden System mit seinen Mythen an: den fröhlichen Tourismus-Prospekten und dem Stierkampf als folkloristischer Darbietung. Die regimekritische Stierkampf-Interpretation des Erzählers soll nun genauer untersucht werden. Die Opposition zwischen Stier und Torero wird in Tiempo de 449 450
Vgl. Analyse ., Le Gran Bouc ".
Analyse von außen (S. 223f.): „Habrá que volver sobre todas las leyendas negras, inclinarse sobre los prospectos de más éxito turístico de la España de pandereta, levantar la capa de barniz a cada uno de los pintores que nos han pintado ..." („Man wird auf alle 'schwarzen Legenden' zurückkommen, sich über die erfolgreichsten Touristenprospekte des Klischee-Spaniens beugen und die Lackschicht aller Maler, die uns gemalt haben, aufdecken müssen ..."). Analyse von innen (S. 224): „Acerquémonos un poco más al fenómeno e intentemos sentir en nuestra propria carne - que es igual que la de él - lo que este hombre siente ..." („Nähern wir uns dem Phänomen etwas mehr und versuchen wir, in unserem Fleisch - das genauso ist wie seines - zu fühlen, was dieser Mann fühlt..."). Vgl. dazu Claude Talahites substantielle semiotische Analyse: „Tiempo de silencio" de Luis Martin-Santos, Etüde des structures semiotiques. Diss. Paris 1978. Bd. 2, S. 184.
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silencio umgedreht: Nicht der mutige Torero tötet den Stier, sondern der kraftvolle Stier den hilflosen Torero. Diese Inversion degradiert den Torero vom Helden zu einem Opfer, das das Publikum sehnlichst wünscht (S. 224): ... la gran masa de sus semejantes, igualmente morenos y doliocéfalos, exige que el cuerno entre y que él quede, ante sus ojos, convertido en lo que desean ardientemente que sea: un pelele relleno de trapos rojos. (... die große Masse der ihm Entsprechenden, ebenso dunkel und doliocefalisch wie er, fordert, daß das Hom ihn durchdringt und daß er sich vor ihren Augen in das verwandelt, was sie sehnlichst wünscht: einen Hampelmann voll roter Tücher.)
In diesem Zusammenhang ist Martín-Santos' Freud-Lektüre für die Analyse interessant. 451 Freud überträgt in Totem und Tabu das Verhältnis zwischen Opfertier und opfernder Person auf den Ödipus-Komplex. 452 Dabei bezeichnet er das „Totemtier" als Ersatz fiir den Vater und assoziiert das Tieropfer mit der Kastration des Vaters und mit der Auflehnung der Söhne gegen die väterliche Autorität. Martín-Santos überträgt diese Opposition auf seine Spanien-Analyse. Dabei assoziiert er den Stier wie Freud mit dem Vater und dem Autoritätsprinzip, aber gleichzeitig auch mit dem Publikum - in weiterem Sinne mit der spanischen Gesellschaft - („¿Pero qué toro llevamos dentro ...?" - „Aber welchen Stier tragen wir in uns ...?", S. 225). Der Torero entspricht bei Martín-Santos in Analogie zu Freud dem Sohn, aber auch dem Sündenbock. Doch Martín-Santos kehrt die bei Freud aufgestellte Opposition um: Anstelle der Tötung des Stiers/Vaters durch den Sohn wird in Tiempo de silencio der Torero/Sohn vom Stier/Vater/Publikum umgebracht. Der Torero begehrt damit nicht gegen die Autorität auf, er wird ihr vielmehr gewaltsam untergeordnet, und zwar mit Zustimmung des Publikums bzw. der spanischen Gesellschaft. Die Parallelen zwischen dem Torero und Pedro sind auffällig: Die Vergewaltigung Doritas durch Pedro wird assoziiert mit dem Akt des Stierkämpfers, der immer wieder mit dem Schwert zusticht (S. 120); beide fungieren explizit als Sündenböcke; beide erfüllen ambivalente Rollen als Macho und Opfer in einer repressiven Gesellschaft. Der Torero gehört als Spanier zur spanischen Gesellschaft („la gran masa de sus semejantes", S. 224) und wird als Sündenbock zugleich von ihr ausgeschlossen. Denn auf ihn richtet sich der Haß der Gemeinschaft: Der Stierkampf dient als Ventil für einen Haß, der aufgrund der Repression im Regime keinen anderen Kanal findet. Es liegt, so der Erzähler, im Interesse der Diktatur, diesen Haß zu „institutionalisieren" und zu kanalisieren (S. 224): 451 452
Ebenda, S. 184-192.
Sigmund Freud: Totem und Tabu. Leipzig/Wien/Zürich 1922, S. 189: „Die Psychoanalyse hat uns verraten, daß das Totemtier wirklich der Ersatz der Vaters ist, und dazu stimmte wohl der Widerspruch, daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß seine Tötung zur Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet und es doch betrauert".
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Si este odio ha podido ser institucionalizado de un modo tan perfecto,... será debido a que aquí tenga una especial importancia para el hombre y a que asustados por la fuerza de este odio, que ha dado muestras tan patentes de una existencia inextinguible, se busque un cauce simbólico en el que la realización del santo sacrificio se haga suficientemente a lo vivo para exorcizar la maldición y paralizar el continuo deseo que a todos oprime la garganta. (Wenn dieser Haß auf so perfekte Weise institutionalisiert werden konnte, ... so liegt das wohl daran, daß er hier fllr den Menschen von besonderer Bedeutung ist. Erschreckt durch die Kraft dieses Hasses, der offensichtliche Beweise seiner unauslöschlichen Existenz gezeigt hat, sucht man nach einem symbolischen Kanal, in dem das geheiligte Opfer lebendig genug vollzogen werden kann, um die Verdammung zu exorzieren und den dauerhaften Wunsch, der allen die Kehle zuschnürt, zu lähmen.)
Zur Instititutionalisierung des Hasses braucht das Regime den Mythos und den Sündenbock. Der Haß eines Volkes richtet sich, wie René Girard zeigt, gegen kein spezielles Individuum,453 der Sündenbock definiert sich nicht nach Begriffen von Schuld oder Unschuld, er muß vielmehr ein „opferbares", sprich: widerstandsloses Opfer sein. Dafìlr kommen besonders die schwachen Mitglieder einer Gemeinschaft wie Frauen, Kinder und Außenseiter in Frage. Pedro ist prädestiniert für die Rolle des Sündenbocks, denn er entspricht dem unerfahrenen jungen Mann aus der Provinz, der als angehender Forscher keiner Schicht und keiner Gruppe zuzuordnen ist. Die Funktion des Opfers ist es laut Girard, eine Gesellschaft vor ihrer eigenen Gewalt zu bewahren und Spannungen, Rivalitäten, Bruderkämpfe zu eliminieren. Diese Funktion weist Martín-Santos dem Stierkampf in der franquistischen Gesellschaft zu. Der Stierkämpfer ist nicht (nur) Held, sondern Opfer einer unterdrückten Gesellschaft, die ein Ventil braucht, um die sozialen Spannungen im Staat abzubauen. Das Regime aber benötigt Mythen wie den Stierkampf, damit sich die aufgestauten Aggressionen des Volkes - etwa in Form einer Revolution - nicht gegen das Regime selbst richten. Auch im Stierkampf-Kapitel verwendet Martín-Santos Umgehungsstrategien gegen die Zensur. Die Tarnung besteht wie in Le Grand Bouc in der anspielungsreichen, stark verschlüsselten Sprache, wobei der Autor jedoch nicht auf groteske Verfahren zurückgreift. Das Verhältnis der Gemeinschaft zum Stierkämpfer ist zwiespältig, denn wie der pharmakos wird er zugleich verehrt und gehaßt.454 Diese doppelte Funktion des Toreros bezeichnet der ambivalenten Ausdruck „hostia emisaria" („Sünden-Hostie"). Assoziiert wird damit (S. 225): ... esa polarización de odio contra un solo hombre y que ese odio y divinización ambivalentes se conjuraron cuantos revanchismos irredentos anidaban en el corazón de unos y de otros ... 453 454
Vgl. René Girard: La violence et le sacré. Paris 1972, S. 13-62 und S. 102-129.
Ebenda, S. 138. Ähnliches gilt für den symbolischen Vatermord im Ritual bei Freud: Der Vater steht dem Machtbedürfiiis der Söhne und ihren sexuellen Ansprüchen im Weg, aber zugleich lieben und bewundern sie ihn, vgl. Freud 1922, S. 192.
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(... diese Polarisierung des Hasses gegen einen einzigen Mann - dieser ambivalente Haß und diese Vergötterung verschworen sich gegen alle ungelösten Revanchismen, die in den Herzen der einen und der anderen nisteten ...)
Welche „ungelösten Revanchismen" sind damit gemeint? Die „Polarisierung des Hasses" steht in einem Kontext mit den „Jahren, die der großen Katastrophe folgten". Diese Passage läßt sich konkret auf den Umgang der Diktatur mit den Kriegsverlierem beziehen: Wenn man die „große Katastrophe" mit dem Spanischen Bürgerkrieg assoziiert, dann legen die „ungelösten Revanchismen" zwischen „den einen und den anderen" die durch Franco gewaltsam unterdrückte Konfrontation zwischen den dos Españas nahe. 455 Anspielungen auf die dos Españas mußten 1961, wie oben gezeigt, allerdings sehr vorsichtig formuliert werden, da die Zensoren sie in einigen Fällen selbst in verschlüsselter Form nicht akzeptierten. 456 Dies wäre eine Erklärung für den stark esoterischen Charakter der Passage. Dank der Repression des Regimes ist der Kampf zwischen den dos Españas zwar nach außen hin eindeutig entschieden zugunsten des reaktionären Lagers, in den „Herzen" der Bevölkerung aber ist dieser Kampf noch längst nicht ausgefochten, weil die sozialen Ungleichheiten weiterhin bestehen. Der Stierkampf-Mythos erfüllt dabei wie gezeigt systemstabilisierende Funktion, denn er einigt das durch unterschiedliche Interessen gespaltene Volk (S. 225): ... la fuerza pública, la prensa periódica, la banda del regimiento, los asiliados de la Casa de Misericordia y hasta un representante del Señor Gobernador Civil colaboran tan interesadamente en el misterio. (... die Kräfte der öffentlichen Ordnung, die Tagespresse, die Militärkapelle, die Heimbewohner der Casa de Misericordia und sogar ein Repräsentant des Herrn Zivilgouverneur haben ein Interesse daran, bei dem Mysterium zusammenzuarbeiten.)
Es werden verschiedene Gruppierungen und Institutionen der Diktatur erwähnt, die an der (erzwungenen) Aufrechterhaltung des Friedens beteiligt sind: die repressive Polizei, die kontrollierte und konforme Presse, das Militär, der Zivilgouverneur, aber auch die Armen des Asyls, die sich mit der staatlich garantierten Barmherzigkeit eines armseligen Heimplatzes zufrieden geben. Der Stierkampf ermöglicht diesen Armen die Entladung ihres Hasses gegen den Torero als Substitut filr das wahre Haßobjekt, das Regime.
455
Auch A. Rey (1977: 71 f.) weist auf den esoterischen und mehrdeutigen Charakter der Passage hin. Er interpretiert „el gran catästrofe" einmal als den Verlust der letzten spanischen Kolonien unter Alfons XIII. („desastre de Anual") und zum anderen ebenfalls als stark getarnten Bezug auf den Spanischen Bürgerkrieg. Dabei bezieht er den „Haß gegen einen einzigen Mann" allerdings direkt auf Franco, was indirekt sicher impliziert ist, aber der Figur des Opfers ihren Substitut-Charakter als Sündenbock nehmen würde.
456
Vgl. das Beispiel des Dichters Blas de Otero in der Auswertung der Zensurgutachten von 1961.
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Letztlich läßt sich die Begeisterung des spanischen Volkes fiir den Stierkampf sogar als autodestruktiver Akt deuten, wie Claude Talahite nahelegt. 457 Dieser Gedanke wird in Martín-Santos' Stierkampf-Symbolik umgesetzt: Das Volk, „la gran masa de sus semejantes" (S. 224), lenkt die Gewalt nicht gegen den die staatliche Autorität verkörpernden Stier, sondern gegen den schwachen Torero gegen seinesgleichen und damit letztlich gegen sich selbst. Das Volk rebelliert nicht gegen das repressive Regime, sondern verhält sich konform. b) Hommage an Cervantes - Selbstthematisierung der Mythenkritik Zu Beginn seiner nächtlichen Odyssee (S. 74-78) reflektiert Pedro auf dem Weg in die Madrider Innenstadt über Cervantes. 458 Ein personaler Erzähler referiert seine Gedanken in der erlebten Rede und entwirft - im Kontrast zum üblichen Erzählstil in Tiempo de silencio auffällig frei von Sarkasmus oder Ironie - ein Cervantes-Bild, das Martín-Santos' eigene Position wiederzugeben scheint. Cervantes' „Vision des Humanen", sein „Glaube an die Freiheit" und seine „desillusionierte Melancholie fern von jedem Heroismus und jeder Übertreibung, von jedem Fanatismus wie von jeder Sicherheit" (S. 74) entsprechen einem positiven Gegenkonzept zu den franquistischen Mythen der España eterna und kontrastieren mit der spanischen Wirklichkeit. Von den „fantasmas" dieser Wirklichkeit befreit sich Cervantes durch den Schreibprozeß. Pedro entwickelt darüber eine eigene sogenannte „Sechs-Spiralen-Theorie" und stellt dabei die Mythenkritik und die Entwicklung einer zensursicheren Sprache im Don Quijote in das Zentrum seiner Überlegungen. Das Kapitel fungiert als mise en abyme von MartínSantos' eigenem Schreibprozeß, 459 denn wie viele Autoren unter Franco thematisiert er die Zensur und den Schreibakt selbst in seinem Roman. 460 Die Thematisierung des Schreibprozesses findet in Tiempo de silencio auf mehreren Ebenen statt: durch konkrete Anspielungen auf die Zensur; durch die Entwicklung einer Symbolik zum Ausdruck des Schweigegebotes und des Schreibprozesses („silencio"- „Schweigen" oder „cáncer"- „Krebs", vgl. unten) und schließlich durch
457
Talahite 1978, S. I 9 l f .
458
Manuel Sol vergleicht Cervantes' Don Quijote und Tiempo de silencio vor allem in formaler Hinsicht, in: „Don Quijote en Tiempo de silencio", in: Cuadernos Hispanoamericanos, 430/1986, S. 73-83.
459
Auch Gustavo Pérez Firmat betont die starke Autoreferentialität des Textes: „... the novel tends to constitute objects and scenes that invite naturalization as emblems o f the entire text. In other words. Tiempo de silencio is full of metaphors of Tiempo de silencio", in: „Repetition and Excess in Tiempo de silencio", in: Publications of the Modern Language Association of America 96/2, März 1981, S. 194-209, dort S. 197.
460
Neuschäfer (1991: 162) verweist auf diesen Befund im Zusammenhang mit seiner Sastre-Analyse: „Das Schweigegebot, die Grundform der Zensur also, wird bei Sastre, wie bei vielen anderen Autoren seiner Generation, immer gleich mitthematisiert, wenn es um die Darstellung der herrschenden Verhältnisse geht...".
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autoreferentielle Passagen, in denen der Text seine eigene Vorgehensweise reflektiert, wie bereits für das Stierkampf-Kapitel gezeigt wurde. 461 Die „Sechs-Spiralen-Theorie" dieser Episode soll nun genauer ausgeführt werden. Cervantes' literarische Strategien erscheinen darin als Verfahren des Nonkonformisten zur Unterminierung des offiziellen Systems seiner Zeit; es entspricht der Tätigkeit des Mythenkritikers, der die offiziellen Mythen zerstört. Auch hier liegt eine Tarnung vor, denn gesprochen wird zwar über einen Romanschriftsteller aus dem 17. Jahrhundert, der unter dem Zwang der Inquisition schreiben mußte, mitimpliziert ist aber der Schriftsteller unter Franco, wenn nicht gar Martin-Santos selbst. In diesem Zusammenhang stellt der personale Erzähler in Pedros Don Quijote-Analyse das procedere von Cervantes' Mythenkritik dar. Sie basiert - wie schon im Stierkampf-Kapitel gezeigt - auf der Umkehrung und Neusituierung der offiziellen Oppositionen. Folgende Oppositionen werden etabliert: die (richtige) Welt der Gesellschaft/die (falsche) Idealwelt der Ritterromane, Rationalismus/Wahn, möglich/unmöglich, Norm/Individualität, innen/außen. Innerhalb dieser Opposition situiert sich Don Quijote zunächst auf der Seite des nicht-offiziellen Pols. Er glaubt an die (falsche) Idealwelt und wird von der Gesellschaft (den „ciudadanos" - „Mitbürgern") als gut, aber wahnsinnig ausgeschlossen - die Bürger lachen Uber ihn. Don Quijote kennt zwar die Schlechtigkeit der realen Welt, aber er glaubt - und nur darin besteht eigentlich sein „Wahn" - an die Transformierbarkeit dieser Welt und an eine Annäherung an seine Idealwelt. Gleichzeitig geben auch die Vertreter des herrschenden Systems vor, an die positiven Werte von Don Quijotes Idealwelt zu glauben - aber sie streben in Wirklichkeit keine Veränderung der Welt an. Statt dessen machen sie diese idealen Werte zu Mythen. In einem weiteren Schritt werden die Oppositionen der offiziellen Hierarchie aufgehoben. Don Quijote steht wie der Torero zugleich innerhalb und außerhalb des Systems, das er unterwandert: Er ist einerseits Teil dieser Gesellschaft und weiß, daß die Welt schlecht ist (er ist „Realist"), andererseits stellt er sich bewußt außerhalb dieses Systems, indem er die Opposition zwischen realer und idealer Welt aufhebt und glaubt, daß die Welt der Ritterromane an die Stelle der realen Welt treten kann (er ist „Idealist"). Er will letztlich genau die Werte umsetzen, an die die Gesellschaft zu glauben vorgibt. Erst durch seine Positionierung außerhalb des Systems kann er die Widersprüche zwischen Mythen und Wirklichkeit erkennen. Wie der Mythenkritiker wird er dem System gefährlich, weil er durch seine Erkenntnis die Stabilität des Status Quo in Gefahr bringt, vor allem dann, wenn er anderen seine Erkenntnis mitteilt. Er muß sich daher verrückt stellen und so tun, als wüßte er nichts von der realen Welt, denn wenn die Gesellschaft erkennt, daß Don Quijote in Wirklichkeit gar nicht verrückt ist, wird sie seinen 461
G. Pérez Firmat (1981: 196) analysiert unter dem Aspekt der Autoreferentialität die Szene im Atelier des deutschen Malers, insbesondere den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff „Magma".
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Autor als „öffentliche Gefahr" („peligro público", S. 76) verfolgen. Der Autor des Don Quijote entgeht der Gefahr der „Kreuzigung" nur durch die Tarnung seines Textes. Cervantes selbst schmuggelt in sein Werk einen Satz ein, der sich als Hinweis auf Umgehungsstrategien deuten läßt:462 ... aunque pusieron silencio a las lenguas, no le pudieron poner a las plumas, las cuales, con más libertad que las lenguas, suelen dar a entender a quien quieren lo que en el alma está encerrado. (... selbst wenn sie die Zungen zum Schweigen brächten, könnten sie doch nicht die Fedem zum Schweigen bringen, die gewöhnlich mit mehr Freiheit als die Zungen dem, der hören will, das zu verstehen geben, was in der Seele eingeschlossen ist.)
Pedros Cervantes-Theorie entspricht offensichtlich Martín-Santos' eigener Vorgehensweise, wie sie im Verlauf der Analyse herausgearbeitet wurde, denn auch Martín-Santos geht bei seiner Mythen-Kritik von den Werten des Systems selbst (den offiziellen Mythen) aus. Er gibt zunächst vor, an sie zu glauben (allerdings meist in einer ironischen Pose) und stellt sich gleichzeitig außerhalb und innerhalb des Systems, um die Mythen mit der sozialen Realität zu konfrontieren. Er verwendet die offiziellen Begriffe/Werte gemäß dem oben dargelegten Schema von Barthes für seinen eigenen Mythos zweiten Grades und unterwandert dadurch die etablierten Hierarchien. In seiner Hommage an Cervantes zeigt Martín-Santos, wie dessen „hacerse loco" („sich verrückt stellen") als Umgehungsstrategie gegen die Inquisition funktioniert - es liegt wie gesagt nahe, die Passage konkret auf sein eigenes Anschreiben gegen den Franquismus zu beziehen (S. 76): Lo que Cervantes está gritando a voces es que su loco no estaba realmente loco, sino que hacia lo que hacía para poder reírse del cura y del barbero, ya que si se hubiera reído de ellos sin haberse mostrado previamente loco, no se lo habrían tolerado y hubieran tomado sus medidas montando, por ejemplo, su pequeña inquisición local... (Cervantes schreit es laut heraus, daß sein Verrückter nicht wirklich verrückt war, sondern daß er das nur tat, um über den Pfarrer und den Barbier lachen zu können, denn wenn er über sie gelacht hätte, ohne sich vorher verrückt zu stellen, hätten sie es nicht erlaubt und hätten dagegen Maßnahmen ergriffen, indem sie etwa ihre kleine Lokalinquisition errichtet hätten ...)
In Martín-Santos' Cervantes-Analyse werden Überlegungen angestellt, die dem im Theorieteil dieser Arbeit entwickelten Modell für Umgehungsstrategien nicht unähnlich sind. Die Botschaft des regimekritischen Autors funktioniert auf zwei Ebenen: Cervantes stellt sich verrückt (Tarnung der regimekritischen Botschaft mittels des Tricks des „unzuverlässigen Erzählers"), so daß der regimekonforme Leser/der Zensor (bei Martín-Santos bzw. Cervantes Barbier und Pfarrer) über
462
Miguel de Cervantes: Don Quijote de ¡a Mancha I. Ediciones Cátedra, Madrid 1994, Kap. XXIV, S. 294.
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den Text als Verrücktheit lacht, während der komplizenhafte Leser die Signale des Autors hört („lo que Cervantes está gritando a voces"). Er versteht, daß Don Quijote nicht wirklich verrückt ist, sondern seine Botschaft auf einer anderen Ebene gelesen und decodiert werden muß, um seine wahre Bedeutung zu enthüllen. Verwiesen sei hier noch auf eine zweite Passage, in der die Zensur autoreferentiell thematisiert wird. Diese Anspielung erfolgt in der Episode, die im Atelier eines deutschen Malers spielt (S. 86-91). Matías und Pedro haben ihn auf ihrer nächtlichen Odyssee kennengelernt, ganz konkret erfolgt sie im Zusammenhang mit den „fäkaloiden" Bildern des Deutschen und den schamlosen Aktbildern seines spanischen Ateliergenossen. Pedro stellt selbst den Bezug zwischen den abgebildeten Nackten und der Repression im Regime her: „El número de desnudos que pinta indica el nivel alcanzado por la represión de un pueblo." - „Die Anzahl der gemalten Nackten verweist auf das Niveau der Unterdrückung eines Volkes" (S. 87). Der repressive Kontext wird durch die Assoziation der Nackten mit den Gaskammern deutscher KZs verstärkt: „Nada me ha recordado más las cámaras de gas." - „Nichts hat mich mehr an die Gaskammern erinnert" (S. 87). Diese wiederum assoziiert der Autor mit der spanischen Inquisition: „... los dos iberos ... no organizadores de pogromos, aunque sí quizás en sus genes, varios siglos antes, de inquisiciones ..." - „... die beiden Iberer ..., die zwar keine Organisatoren von Pogromen waren, aber vielleicht in ihren Genen, vor einigen Jahrhunderten, von Inquisitionen ..." (S. 89). Der Autor stellt eine Assoziationskette und damit einen indirekten Zusammenhang her zwischen der Repression im Franquismus, im Nationalsozialismus und im Zeitalter der Inquisition. Zugleich thematisiert er - auffälligerweise nicht für den Franquismus - die staatlichen Unterdrückungsmechanismen (Gaskammern, Inquisition). Dem Leser wird dadurch eine Parallele zwischen der Repression in den drei Regimen suggeriert und der Franquismus implizit als diktatoriales System wie Nationalsozialismus oder das Spanien der Inquisition charakterisiert. Aber auch die Reaktion der Künstler auf die staatliche Repression wird mitthematisiert. Während der „Iberer" mit dem körperlichen Exzeß seiner fröhlichen Nackten antwortet, malt der ernsthafte Deutsche in seinen düster-neoexpressionistischen Bildern „kollektive Verzweiflung" (S. 89). In beiden Fällen tarnt die Kunst ihre Aussage, denn sowohl das verschlüsselte Bild des Deutschen, als auch die scheinbar harmlosen Nackten signalisieren Eingeweihten die Repression des Systems, thematisieren sie aber nicht direkt. 463
463
In zwei weiteren Fällen wird auf die Fluchtmöglichkeiten der Intellektuellen vor der staatlichen Repression angespielt: einerseits die Tertulias, andererseits das Opium. Die Tertulias werden mit leerem, ineffektivem Gerede identifiziert, aber dieses Gerede hat Ventil-Funktion gegen die Repression; es besteht in einem „desprenderse de dogmas dogmáticamente establecido" - „einem dogmatischen Sich-hinwegsetzen über die Dogmen", S. 82. Eine ähnlich ineffektive Fluchtmöglichkeit aus der repressiven Realität
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Martin-Santos ist also als selbstreflektierter Autor zu betrachen, allerdings erklärt sich diese Haltung keineswegs durch rein spielerische, ästhetische Prinzipien, wie dies Michael Ugarte 464 meint. Ugarte stellt den Aspekt der sprachlichen Selbstunterminierung des Schriftstellers in den Vordergrund, indem er auf der einen Seite den permanenten Willen zur Symmetrie und Beherrschung der Welt im Roman aufzeigt und auf der anderen Seite demonstriert, wie Martin-Santos dieses Prinzip durch Chaos, sprachlichen Exzeß und verbale Distorsionen im Roman außer Kraft setzt. Ugarte hält diese Verfahren fiir unvereinbar mit einem sozialkritischen Standpunkt. Die Befunde der hier vorgenommenen Analyse widersprechen allerdings dieser Folgerung, denn Martin-Santos nutzt Verfahren der Selbstunterminierung gerade, um Mythen jeglicher Art - auch potentielle eigene zu zerstören und durch eine Analyse der materiellen Faktoren zu ersetzen. Der spielerische Aspekt des autoreferentiellen Verfahrens in Tiempo de silencio steht zwar wie die Skepsis des Autors, neue „Wahrheiten" zu etablieren, außer Frage. 465 Dies führt bei ihm allerdings keineswegs zu einer totalen Relativität der Werte oder gar zu einem Rückzug auf unpolitische Positionen.
2.7. Unterwanderung der Mythen durch einen Gegencode Die Zerstörung der offiziellen Mythen erfaßt in Tiempo de silencio nicht nur die von ihnen vermittelten Inhalte, sondern auch ihre Sprache. Die Sprache nämlich erweist sich, wie im Zusammenhang mit Barthes' Modell gezeigt, als besonders anfällig für Mythenbildung und muß daher ebenfalls unterminiert werden. 466 Martin-Santos verfolgt dafür eine doppelte Strategie: Er verwendet einerseits den offiziellen Code und führt ihn parodistisch vor, um seine Falschheit und Hohlheit zu entlarven (vgl. die Parodie des offiziellen Sprachduktus in „Die Welt der chabolistas", S. 50-54), aber er entwickelt zugleich einen inoffiziellen, verdeckten Gegencode. Dieser Gegencode besteht aus einer eigenen Symbolik und Metaphorik und vermittelt unter der Oberfläche die zensierte und vom Mythos verbietet der Rausch, der die Klassenunterschiede in der gemeinsamen Lust verwischt (S. 235): „... e ir gozando todos de la misma visión colectiva pintada con vivos colores, al modo de un cinematógrafo en tecnicolor comunitario y sin censura ..." („... und alle genießen die gleiche kollektive Vision in bunten Farben, wie die eines Filmemachers in einem gemeinsamen Farbfilm und ohne Zensur..."). 464
Michael Ugarte: „Tiempo de silencio and the Language of Displacement", Language Notes 96/2, März 1981, S. 340-57.
465
Modern
Das Verfahren der Selbstunterminierung des ironischen Schriftstellers diskutieren Paul de Man in „Die Rhetorik der Zeitlichkeit", in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt 1993, S. 105-130 (Unterkapitel über „Ironie") sowie Warning 1982, S. 290318. Beide Autoren distanzieren sich vom herkömmlichen Ironie-Modell mit einer eindeutigen Opposition zwischen Autor und solidarisiertem Leser auf der einen Seite und Ironie-Objekt auf der anderen Seite und gehen von einem Modell aus, in dem die Ironie den Autor selbst miteinschließt und dessen eigenen Diskurs erfaßt.
466
Vgl. oben, „Der Schriftsteller als Mythenkritiker".
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schieierte Wahrheit Uber die soziale Realität unter Franco. Neben der Funktion der Mythenzerstörung erfüllt der Gegencode die einer Tarnstrategie, denn die von ihm vermittelte Gegenwahrheit fiele unweigerlich der Zensur zum Opfer, wenn sie direkt geäußert würde. Erhellend zum Einsatz von nonkonformistischer Sprache wirken die Ausführungen Juan Goytisolos, der wie Martín-Santos in mythenkritischer Absicht schreibt. 467 Goytisolo reflektiert in seinem Essay-Band Disidencias468 darüber, inwiefern der oppositionelle Schriftsteller auch die offizielle Sprache unterwandern muß und nennt dafür zwei Gründe: Dem Nonkonformisten stehe nur eine Sprache zur Verfügung, die bereits besetzt sei von den „Verteidigern der allgegenwärtigen offiziellen Ideologie" (S. 33f.). Daher müsse er ihr mißtrauen, gegen sie andenken: El desafecto se esfuerza, hoy como ayer, en instalar en su ámbito un elemento de subversión - ideológica, narrativa, semántica - que la corrumpe y desgasta. (Der Nonkonformist bemüht sich heute wie gestern, in seine Umgebung ein Element der - ideologischen, erzählerischen, semantischen - Subversion einsickern zu lassen, die sie korrumpiert und zermürbt.)
Der zweite Grund gilt speziell für den zeitgenössischen spanischen Roman ab Martín-Santos - laut Goytisolo der erste zeitgenössische Nonkonformist in Spanien, der auch die Sprache reflektiert einsetzt: Sozialkritische Themen hätten in der kapitalistischen Gesellschaft der 60er Jahre durch den immer engeren Kontakt mit dem Ausland ihre Sprengkraft verloren. Daher, so Goytisolo, müsse der Schriftsteller sein Engagement auf eine andere, nämlich sprachliche Ebene verlagern (S. 127). Die Entwicklung des inoffiziellen Gegencodes in Tiempo de silencio soll an zwei Beispielen gezeigt werden: a) an der Krebs-Metapher und b) am Symbolfeld 469 „silencio" - „Schweigen" (einschließlich der Opposition „grito" - „Schrei" bzw. „palabra" - „Wort"). a) Krebs als Metapher für den Schreibprozeß Krebs wird in Tiempo de silencio auf mehreren Ebenen thematisiert. Wörtlich: der Genforscher Pedro analysiert die Vermehrung von Krebszellen mit dem Ziel, 467
Zum mythenkritischen Umgang mit Sprache vgl. Dolgin 1991 sowie Gould Levine 1976.
468 469
Juan Goytisolo: Disidencias.
Barcelona 1978.
Das Symbol ist nach Heinrich Lausberg ein Spezialfall der Metonymie, bei der ein Begriff außerhalb der Ebene seines konzeptuellen Inhalts verlagert und auf einer Ebene situiert wird, deren Wirklichkeit an die des Begriffs angrenzt bzw. sie kreuzt. Im Fall des Symbols handelt es sich um die Kombination zwischen einem sozialen Phänomen und dem Symbol selbst: Das Symbol bezeichnet als Objekt eines sozialen Phänomens das soziale Phänomen selbst (z.B. „Toga" für Frieden oder „Waffe" für Krieg), in: Handbuch der liierarischen Rhetorik. 3. Aufl. Stuttgart 1990, S. 292-294.
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das Unkontrollierbare zu kontrollieren und die Menschheit zu heilen: Er erhofft sich den Nobel-Preis, wenn er zeigen kann, daß Krebs nicht genetisch bedingt, sondern durch einen Virus verursacht ist und durch Impfung bekämpft werden kann. Diese oberflächliche Ebene vermittelt den Eindruck eines im Hinblick auf die offiziellen Werte affirmativen Textes. Auf der zweiten Ebene wird die Gesellschaft mit der Krebs-Metapher assoziiert, denn die Gesellschaft wird interpretiert als großer, grotesk deformierter Körper, der von Krebszellen befallen ist, die sich ständig vermehren wie die sozialen Mißstände. Die Sozialkritik wird getarnt durch die Verschiebung hin zu einem medizinischen Kontext. Der Text selbst gibt einen Hinweis auf die Parallele zwischen der Anatomie des menschlichen Körpers und der Gesellschaft. Beide stehen nicht nur im Austausch miteinander, der Mensch ist auch das Abbild der Gesellschaft: „... un hombre es la imágen de una ciudad y una ciudad las visceras puestas al revés de un hombre ... " - „... ein Mann ist das Abbild einer Stadt, und die Stadt entspricht den umgestülpten Eingeweiden eines Menschen ..." (S. 18). Das Bild der umgestülpten Eingeweide weckt Assoziationen an Bachtins grotesken Volkskörper, der durch Körperöffhungen Uber seine Grenzen hinaus und (entgegen restriktiver Einschränkungen in der Diktatur) mit der Welt in Austausch tritt. 470 Analog zur Pedros Krebsforschung stellt sich nun die Frage, ob der „Krebs" der Gesellschaft erblich ist, wie etwa die Theorie des Gran Bouc suggeriert, oder ob es einen „Impfstoff' dagegen gibt - etwa in Form von sozialen Reformen oder einem neuen politischen System. Der Text selbst legt die These vom Virus des Krebses und von seiner Ansteckungsgefahr nahe, indem etwa das „Krebsgeschwür" der chabolas als ansteckend bezeichnet wird: „aquel mundo infernal ... que contamina" (S. 259). Wenn ein „Virus" die sozialen Ungerechtigkeiten verursacht, ist ein Heilmittel dagegen möglich; allerdings wird es im Roman - unter anderem sicher aus Zensurgründen - nicht thematisiert (aber implizit eingefordert!). Pedros These vom Virus-Charakter des Krebses suggeriert auf beiden Ebenen - der individuell-medizinischen und der sozialen - die „Befreiung" der Menschen von den krankhaften Wucherungen.
470
Vgl. Bachtin 1987, S. 358f.: „Der groteske Körper ist, wie schon mehrfach betont, ein werdender. Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen ... Deshalb spielen jene seiner Teile, in denen er über sich selbst, über seine eigenen Grenzen hinauswächst und einen neuen, zweiten Körper produziert, eine besondere Rolle, der Bauch und der Phallus. Die nächstwichtige Rolle nach dem Bauch und den Geschlechtsorganen nimmt für den grotesken Körper der Mund ein, der die Welt verschluckt, und dann der Hintem, denn all diese Ausstülpungen und Öffnungen zeichnen sich dadurch aus, daß an ihnen die Grenze zwischen zwei Körpern oder Körper und Welt überwunden wird."
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Auf der dritten Ebene reflektiert die Krebs-Metapher den Schreibprozeß. Der Krebs wird nun von außen ins Innere des Schriftstellers verlagert, der als Teil der Gesellschaft auch Teil des krebsbefallenen Körpers ist. Der Schriftsteller wird nicht nur - wie alle übrigen Bürger/Körperzellen - vom Krebs des Volkskörpers befallen, sondern er wird selbst zur Krebszelle. Sprachlicher Exzeß, destruktivkrankhafte Fnichtbarkeit, groteske Wucherungen führen zur Zersetzung des Systems von innen. Der Schreibprozeß ist unkontrollierbar und wie Krebs nicht einzudämmen. Auch der alles kontrollierenden Zensur gelingt dies nur scheinbar, denn die zerstörerischen Wucherungen brechen unter der kontrollierten Oberfläche verdeckt hervor. Explizit formuliert wird die Analogie zwischen den unkontrollierten Wucherungen des Krebses und dem Schreibprozeß in der Darstellung von Schriftstellern als „hombres que derramaron sus propios cánceres sobre papeles blancos" „Männer, die ihre eigenen Krebsgeschwüre über weißes Papier fließen ließen" (S. 78). Mit einer ähnlichen Formulierung beschreibt Freud den Schreibakt als Strategie zur Umgehung des verbotenen Geschlechtsaktes mit der Mutter; er identifiziert ihn symbolisch mit dem Koitus, „consistente en dejar fluir, de un mango de caña, un líquido, sobre un trozo de papel blanco". 471 Die sprachliche Parallele zu Freud ist ein deutlicher Hinweis auf die Assoziation des Schreibaktes mit der Zensur; wenngleich bei Martín-Santos nicht bloß die Zensur des Unbewußten, sondern zugleich die offizielle der Diktatur gemeint ist 4 7 2 Laut Freud unterdrückt die Zensur die Traumbildung nicht, sondern ist vielmehr ihre Voraussetzung. 473 Ohne Zensur gibt es keine Träume bzw. keine Schrift, könnte man überspitzt formulieren. 474 Die Krebs-Metapher ist ambivalent. Einerseits impliziert sie - im Gegensatz zur permanenten Präsenz von Sterilität und Ersatz im Roman - Vermehrung, Fruchtbarkeit, Vitalität, Exzeß: Die krebsinfizierten Mäuse vermehren sich ohne Unterlaß ebenso wie die chabolas oder die „Juden in den Ghettos" (S. 91). Aber auch die schöpferischen Tätigkeiten Cervantes' und des deutschen Malers („alemán-ratón-canceroso", S. 83) werden als krebsartig beschrieben. Anderer471
Zitiert in: Jacques Derrida: „Freud y la escena de la escritura", in: ders.: La escritura y ¡a diferencia. Barcelona 1989, S. 314. (Orig. L'écriture ou la différence. Paris 1967). Zitat aus der spanischen Übersetzung, um die Ähnlichkeit zur zitierten Passage zu verdeutlichen.
472
Vgl. Martín-Santos' Cervantes-Analyse: „En ese ,hacer loco' a su héroe va embozada la última palabra del autor" - „Indem er seinen Helden ,verrückt macht', bleibt das letzte Wort des Autors verhüllt" (S. 76). Siehe dazu Freud, Traumdeutung, S. 312f.
473 474
Ebenda, S. 313, Fußnote 1.
Derrida diskutiert diesen Zusammenhang ausführlich in seiner oben zitierten FreudAnalyse. Er stellt eine Parallele her zwischen der Tätigkeit des Unbewußte zur Umgehung der inneren Zensur und dem Schreibprozeß und erklärt diese Tätigkeit am Beispiel des „Wunderblocks".
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seits impliziert Krebs Tod, Krankheit und (Auto-) Destruktion: mehrere Figuren im Roman sterben an den Wucherungen des Krebses, und auch die krankhafte franquistische Gesellschaft wird wie gezeigt mit Krebs assoziiert. In jedem Fall impliziert die Krebs-Metapher Unkontrollierbarkeit und Chaos. Die Gefahr für das Regime liegt nicht bloß in einem das Regime unterminierenden Potential des Schreibprozesses, sondern vor allem in seiner „Ansteckungsgefahr" - denn auch auf der dritten Ebene der Metapher wird die These vom Virus-Charakter des Krebses favorisiert. Sobald die Bürger die Tarnung der Botschaft des Schriftstellers durchschauen, könnten sie sich „anstecken" und ebenfalls zu Nonkonformisten werden. 475 Hierin zeigt sich letztlich noch der Glaube des regimekritischen Schriftstellers an die Macht seiner Texte, der Martín-Santos mit der spanischen literatura comprometida der 50er Jahre verbindet. b) „Silencio" - „grito" - „palabra" Ordnung im Land
- Zerstörung des Mythos von Ruhe und
Die Bedeutung von „silencio" in Tiempo de silencio zeigt sich bereits durch seine Position im Titel. Dieser im Text selbst mehrdeutig verwendete Begriff wird in der Forschung ganz unterschiedlich interpretiert: als Anspielung auf die Repression im Regime, auf das Scheitern der Kommunikation, 476 auf das stumme Unbewußte im Gegensatz zum eloquenten Verstand 477 oder sogar auf die unmenschlichen Folgen der lautlosen Atombombe. 478 Sánchez Reboredo zeigt in seiner „Rhetorik gegen die Zensur", daß Martín-Santos keineswegs als einziger Autor unter Franco mit dem symbolträchtigen Begriff arbeitete, sondern „silencio" bereits einem etablierten Gegencode angehörte. 479 In Tiempo de silencio werden ganz unterschiedliche Kontexte und Räume, unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit mit dem „silencio"-Motiv belegt: Doña Luisas Bordell zeichnet sich durch „un discreto silencio avergonzado" aus (S. 102); das vornehme Haus von Matias' Mutter ist ausgestattet mit lautloser Technik, schalldämpfenden Teppichen und weichen Kissen (S. 149f.); im Gefängnis hört man nicht die Schreie der Häftlinge, sondern nur „un proñindo silencio" (S. 210); in der Pension weben die drei Frauen der Familie „el necesario silencio" 475
Im Cervantes-Kapitel heißt es, wer die getarnte Botschaft Quijotes durchschaute, könnte sich „anstecken" - „pudiera llegar a contagiarse", S. 76.
476
Ricardo Gullón: „Mitos órficos y cáncer social", in: El Urogallo dort S. 89.
17/1972, S. 80-89,
477
John Cavigilia schreibt: „silence is synonymous with mindlessness"; als bestes Beispiel dafür nennt er Encarna, in: „A simple Question o f Symmetry: Psyche as Structure in Tiempo de silencio", in: Hispania 60/1977, S. 452-460, dort S. 457.
478
Gumbrecht (1990: 1016) deutet „silencio" mit Bezug auf die Atombombe als Ausdruck des traumatischen Erlebens des technisch totalen Zweiten Weltkrieges.
479
Sánchez Reboredo (1988: 40-48) nennt ähnliche Titel aus den 50er Jahren wie „Lo demás es silencio" von Celaya oder „Dejar crecer este silencio", von López Pacheco.
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um Pedro (S. 140). Allerdings wird „silencio" nicht nur mit Ruhe in Verbindung gebracht, sondern auch mit dem Schweigegebot. Die Pensionsbesitzerin befiehlt der aufmüpfigen Bediensteten zu schweigen (S. 143). In Muecas' Familie wird das Schweigegebot gleich mehrfach thematisiert: Als Florita, die „Märtyrerin der Wissenschaft", Pedro Uber die wahren Hintergründe der menschenunwürdigen Mäusezucht aufklären will, befielt ihr Muecas, den Mund zu halten (S. 63): Calla, hija Y no hables más que cuando te pregunten. Mira tu madre qué callada está y qué poco molesta. Y, sin embargo, aguantó la misma pejiguera. (Schweig, Tochter. Sprich nur dann, wenn man dich fragt. Schau, wie still deine Mutter ist und wie wenig sie stört. Und das, obwohl sie dieselben Unannehmlichkeiten aushalten mußte.)
Auf den zweiten, für Muecas sehr viel gefährlicheren Bruch des Schweigegebotes reagiert dieser mit brutaler Gewalt. Als Pedro im Anschluß an die mißglückte Abtreibung nach dem Schuldigen fragt, verrät die kleine Schwester ihren Vater mit den schlichten Worten „¡Fue usted!" (S. 139). Muecas' blinde Fußtritte bringen das Mädchen zum Verstummen. Auch Pedros Drang, nicht nur die Beschaffenheit der Gene, sondern auch die soziale Realität des Landes zu erkunden, bleibt unbefriedigt. 480 Als er Muecas fragt, unter welchen Umständen die Frauen die Mäuse aufziehen, blockt dieser ab: „Puede usted preguntarlo, pero yo no se lo diré por respeto." - „Sie können zwar fragen, aber ich werde es Ihnen aus Respekt nicht sagen" (S. 64). Ausgangspunkt von Martín-Santos Mythenkritik bildet die Umdeutung von „silencio": Der offizielle Mythos bringt „silencio" mit Ruhe, Ordnung und Frieden im Land in Verbindung: 481 dank der Politik des Regimes gibt es keinen Krieg, keine sozialen Unruhen, keine Kriminalität, keine politische Instabilität. Im mythenkritischen Sprachgebrauch von Martín-Santos bedeutet „silencio" hingegen gewaltsames Zum-Schweigen-Bringen, aber auch Verschweigen. Anhand des „silencio"-Motivs in Matías' Haus soll die Polyvalenz des Begriffs an einem Beispiel aus der Oberschicht gezeigt werden. Auf den ersten Blick wirkt das Ambiente des reichen Hauses gediegen, ruhig, friedlich - es herrscht „silencio" in der offiziellen Bedeutung (S. 150): 480
Pedros soziale Ambitionen werden ausdrücklich, wenn auch stark ironisiert, erwähnt: „Necesitaba llegar hasta el fondo de aquella empresa de cría de ratones que - simultáneamente - era empresa de cría humana en condiciones - tanto para los ratones como para los humanos - diferentes de las que idealmente se consideran soportables." - „Er mußte bis zum Grund dieses Unternehmens einer Mäusezucht vordringen, die - gleichzeitig - auch ein Unternehmen von Menschenzucht war. Einer Menschenzucht, die sowohl für die Mäuse, als auch für die Menschen - unter Bedingungen verlief, die von jenen abwichen, die man idealerweise als erträglich bezeichnen würde" (S. 64).
481
Wie sehr das Regime diesen Mythos pflegte, zeigt eine große Propaganda-Kampagne von 1964 zu „25 años de la paz" - „Fünfundzwanzig Jahre Frieden". Dabei schrieb sich das Regime die „Ruhe" im Land seit dem Spanischen Bürgerkrieg als besonderes Verdienst zu.
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Matías le hizo un gesto para que se sentara en alguno de aquellos sillones y él lo hizo sintiendo cómo su cuerpo se hundía progresiva y lentamente a través de una serie de capas de plumón de pato, de acogedores almohadones y de muelles de fabricación británica totalmente silenciosos. (Matías machte ihm ein Zeichen, sich auf einen jener Sessel zu setzten. Als er das tat, spOrte er, wie sein Körper allmählich und langsam durch mehrere Schichten von Gänsefedern, bequemen Kissen und absolut lautlosen Matratzen britischer Herstellung sank.)
Erst die Analyse zeigt, daß „silencio" auch hier mit „Verschweigen"/„ZumSchweigen-Bringen" auf verschiedenen Ebenen gleichgesetzt werden muß. Verschwiegen wird auf der individuellen Ebene die inzestuöse Beziehung zwischen Matías und seiner Mutter (der junge Mann weicht als Ersatz auf eine alte Hure aus, vgl. S. 106-111). Auf der weitreichenderen gesellschaftlichen Ebene läßt sich „silencio" aber auch im Kontext der Klasseninteressen der Oberschicht interpretieren: Das „silencio"-Motiv wird mit moderner Technik assoziiert - der Aufzug in Matías' Haus bewegt sich lautlos, die Tür öffnet sich automatisch und geräuschlos (S. 149). Zugleich korreliert „silencio" aber auch mit der bestialischen Abtreibung an der mittellosen Florita in der 26. Episode (S. 129-133), die grotesk aus der Perspektive der lautlosen (nicht vorhandenen) neuesten medizinischen Technik beschrieben wird. 482 Diese doppelte Korrelation geht einher mit der Thematisierung des Klassenkonflikts erstens bei Florita und zweitens bei Pedro. Denn Pedro wird als Nichtzugehöriger aus dem „aire puro" der Welt der Oberschicht ausgegrenzt (S. 150), so wie Florita aus der Welt moderner Medizintechnik ausgeschlossen bleibt: 483 Pedro se movía difícilmente envuelto por la magnificencia. Los grandes cortinones parecían arropar un aire específico impidiendo que se introdujera el aire vulgar de la calle impurificado por miasmas. (Pedro bewegte sich mit Schwierigkeiten, denn er war eingehüllt von der Großartigkeit. Die großen schweren Vorhänge schienen sich mit einem speziellen Geruch zu umhüllen, um zu verhindern, daß die vulgäre, unreine Luft von der Straße hereinkam.)
Sowohl bei Floritas Begräbnis als auch in Matías' Haus werden somit deutliche Klassengrenzen markiert. Die in beiden Szenen beschriebenen Fortschritte modemer Technik kommen nicht allen Spaniern gleichermaßen zugute: Pedro hat nicht teil am Komfort in Matías' Haus, Florita stirbt sinnlos, da ihr keine modernen medizinischen Geräte zur Verfügung stehen. Denn Wirtschaftsaufschwung und Technologisierung des prosperierenden Spanien der 50er Jahre werden nicht genutzt, um die Unterentwicklung im Land zu beseitigen. Über diese soziale 482
Die modernen Abtreibungstechniken ermöglichen den „grito sin dolor", während hingegen Florita bei der primitiven Prozedur „con palabras destempladas" schreit, S. 130.
483
Auf dem Empfang von Matías' Mutter wird er später folgerichtig von der Oberschicht - j a selbst von seinem Freund Matías - geschnitten.
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Ungleichheit aber legt sich der Mantel des Schweigens - in Matías' Haus, bei Floritas Abtreibung und letztlich im ganzen Land. Das Pendant zu „silencio" ist „palabra". Während „silencio" Zensur und Schweigegebot verkörpert, steht „palabra" für Mythenbildung und Propaganda. Das Wort steht wie die Technik im Dienste der Mächtigen. Zu den wortmächtigen Figuren gehören Muecas, der Philosoph/Bock, der Polizist bei Pedros Verhör oder Pedros Chef im Forschungsinstitut. Das Wort ist damit bei Vertretern der offiziellen Institutionen angesiedelt, aber auch bei Figuren, die von der herrschenden Ordnung profitieren und an der Aufrechterhaltung des Status Quo interessiert sind (das sind nicht nur Vertreter der Oberschicht!). Das Wort funktioniert als Waffe und Taktik. Muecas benutzt zur Verschleierung seiner Tat eine barocke, ornamentale Sprache; der Philosoph/Ziegenbock verschweigt die desolate Wirklichkeit durch seinen brillanten, aber banalen Diskurs über den Apfel. Der Polizist und Pedros Chef mißbrauchen das Wort zur Invertierung/Pervertierung des eigentlichen Sinns, indem sie Pedro durch eine (schein-) logische Beweisführung zwingen, eine falsche, ihren eigenen Interessen entsprechende Wahrheit zu akzeptieren. Das Wort ist in Tiempo de silencio eindeutig negativ konnotiert, weil es durch die offiziellen Mythen manipuliert und instrumentalisiert wird. Deshalb mißtraut der Schriftsteller dem Wort. Ein Gegenmodell verkörpern die beiden Randfiguren Encama und Cervantes. In ihnen thematisiert sich das Verfahren der Mythenkritik selbst. Denn beide müssen sich - wie der nonkonformistische Schriftsteller - des bereits von der offiziellen Ideologie besetzten Wortes bedienen, obwohl sie ihm nicht trauen bzw. nicht damit umgehen können. Cervantes nutzt das Wort, um gegen die Wirklichkeit anzuschreiben, Encarna nutzt es in sehr rudimentärer Form, um ihren Ehemann Muecas anzuzeigen. Zugleich sind aber beide aus dem herrschenden Diskurs ausgeschlossen und sprachohnmächtig: Encarna, weil sie ohne Kultur ist; Cervantes, weil sein Wort zensiert wird. Sie brechen aus dem offiziellen Denken des Systems aus, denn ihr Denksystem funktioniert nicht wie dieses logisch-rational, sondern assoziativ: beide evozieren ihre Leiden als „fantasmas", als krebsartige Wucherungen (S. 78 bzw. S. 245). Wie der mythenkritische Schriftsteller wirken diese Figuren kreativ - die Erdmutter erschafft Erde/Leben/Haus (S. 246), Cervantes die Romanwelt seiner Figuren. Voraussetzung dafür ist jedoch ein destruktiver Akt: So zerstört Cervantes durch sein Schreiben die offiziellen Mythen, und Encarna kann als schützende Erdmutter nur auftreten, weil sie den Gewaltmenschen Muecas durch ihre Anzeige vernichtet. In diesem Zusammenhang ist das Wahrheitskonzept Encarnas wichtig. Sie hat nicht teil an einer philosophischmetaphysischen Wahrheit, wie sie der Grand Bouc vertritt (S. 248f.): 484
484
Carole A. Holdsworth diskutiert die Opposition zwischen dem männlichen logozentristis:hen Denksystem Ortegas und Encarnas Rolle als Erdmutter, in „The Scholar and the Earth Mother in Tiempo de silencio" in. Hispanófila 92/1988, S. 41-48.
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No saber nada. No saber que la tieua es redonda.... Y sin embargo, haberle dicho: .Usted hizo todo lo que pudo'. Y repetir obstinadamente: ,E1 no fue'. No por amor a la verdad, ni por amor a la decencia, ni porque pensara que al hablar así cumplía con su deber ... sino sólo a emitir gemidos y algunas palabras aproximadamente interpretables ... ,EI no fue' y seguir gimiendo por la pobre muchacha surgida de su vientre y a través de cuyo joven vientre abierto ella había visto con sus propríos ojos, írsele la vida preciosísima que, como único bien, le había transmitido. (Nichts wissen. Nicht wissen, daß die Erde rund ist. ... Und trotzdem gesagt haben: ,Sie haben alles getan, was Sie konnten.' Und dauernd wiederholen: ,Er war's nicht'. Nicht aus Wahrheitsliebe, nicht aus Anstand, nicht weil sie glaubte, das sei ihre Pflicht... sondern nur Stöhnen ausstoßen und einige kaum interpretierbare Worte ... ,Er war's nicht'. Und weiter stöhnen, weil das arme Mädchen aus ihrem eigenen Bauch herausgekommen war. Weil sie mit ihren eigenen Augen gesehen hatte, wie das wunderschone Leben aus seinem jungen, geöffneten Bauch geschwunden war - das einzige Gut, das sie ihm jemals mitgegeben hatte.) Trotz ihrer Unbildung erfaßt gerade Encama die Zusammenhänge der Repression in ihrem Umfeld sehr genau. Anders als der Ziegenbock/Philosoph zieht sie daraus Konsequenzen und handelt. Sie denunziert ihren Mann nicht „aus Liebe zur Wahrheit" - sie interessiert sich filr keine Wahrheit und steht im Roman auch nicht als Allegorie der Wahrheit. 485 Es geht vielmehr um eine sehr viel essentiellere Motivation: den rein materiellen Schutz des Lebens. Encarna wird in dieser Szene - wie Cervantes - zu einer humanen, undogmatischen Oppositionsfigur stilisiert, der es gelingt, die repressive Wirklichkeit ihres Umfeldes zu verändern. Meistens artikulieren sich die Machtlosen in Tiempo de silencio gar nicht, und wenn, dann nur durch einen unartikulierten Schrei („grito"). Floritas Schreie bei der Abtreibung rauben den Anwesenden „la necesaria serenidad" („die nötige Gelassenheit", S. 130). Die kleine Schwester reagiert auf Muecas' Schläge mit „grandes gritos que luego se convirtieron en lamentos inarticulados, en convulsiones y en un ataque de nervios disparatado, insoportable" („lauten Schreien, die sich später in unartikuliertes Weinen, in Konvulsionen und einen wahnsinnigen, unerträglichen Nervenanfall verwandelten", S. 139). Nach dem Tod Floritas schreien und weinen die Frauen („las plañideras" - „die Klageweiber"), während die Mutter mit ihrem „Hija, hija, hija" in ein „runrún continuo como de motor o de cascada" verfällt („ein kontinuierliches Geheule wie ein Motor oder eine Kaskade", S. 137), das die Männer so entnervt, daß sie Encama isolieren und zu einer entfernten Verwandten schicken.
485
In seinem Nietzsche-Aufsatz Eperons (Paris 1978) entwickelt Derrida die Idee, daß die Frau im logozentristischen Denksystem mit der Wahrheit identifiziert wird - dies bedeutet nach Derrida ein Sich-bemächtigen, eine Einverleibung der Frau zu eigenen Zwecken: Sie wird als Allegorie mißbraucht. Ein Denksystem, das den Phallogozentrismus überwinden will, identifiziert die Frau hingegen mit der Skepsis gegenüber der Wahrheit und dem Wort.
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In Tiempo de silencio schreien vor allem die Frauen, während die Männer verstummen. Zwei Ausnahmen durchbrechen diese Regel: die Eunuchen im Schlußmonolog und Cervantes. In der symbolischen Kastrationsszene am Ende des Romans wird Pedro verglichen mit den Sklaven der Türken. Die neuen Herren kastrieren sie, um Eunuchen für den Serail zu produzieren: Im Unterschied zum resignierenden Pedro schreien sie ohne Unterlaß mit „gritos de dolor", „gritos de protesta o despedida de su virilidad" („Schmerzensschreien", „Protestschreien oder Schreien zum Abschied von ihrer Männlichkeit", S. 291). Auch Cervantes „schreit" - jedoch auf der symbolischen Ebene der Schrift -, daß sein „Verrückter" (Don Quijote) nicht wirklich verrückt ist (S. 76). Die Haltung der Eunuchen und Cervantes' kontrastiert also mit der Pedros und des Heiligen Laurentius (S. 294f.). Letztere leiden zwar ebenfalls an den herrschenden Verhältnissen. 486 Analog zum Heiligen, der durch eine gleichmäßigere Verteilung der Reichtümer die Situation der Armen verändern will, strebt Pedro die Heilung der Gesellschaft an. Doch beide scheitern an den Machtverhältnissen und werden zu ineffektiven, „kastrierten" Märtyrern. 487 Sie scheitern, weil sie - im Gegensatz zu Encarna oder Cervantes - das Denksystem des etablierten Systems verinnerlicht haben und sich ihm unterwerfen: „sanlorenzo era un macho, no gritaba ..." „Sanktlaurentius war ein Macho, er schrie nicht ..." (S. 295). Analog dazu filgt sich Pedro widerstandslos in sein Schicksal (S. 244): No tenia ningún objeto empezar a gritar ... Los hombres deben afrontar las consecuencias de sus actos. El castigo es el más perfecto consuelo para la culpa. (Es hatte keinen Zweck zu schreien anzufangen ... Die Männer/Menschen müssen die Konsequenzen ihrer Handlungen auf sich nehmen. Die Strafe ist der perfekteste Trost für die Schuld.)
Der Schrei erscheint in Tiempo de silencio als das einzig effektive Protestmittel, denn er zwingt die Unterdrücker zu reagieren: durch eine Steigerung der Repression, durch Isolierung der Schreienden, oder - wie im Fall von Encarna - sogar durch eine Veränderung der unerträglichen Situation. Der Schrei dient - wenngleich unartikuliert - dem öffentlichmachen der Repression, er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unterdrückten und wird den Unterdrückern dadurch gefährlich. Schreie treten im Roman häufig in Kombination mit „insoportable" („unerträglich") auf und stören die falsche Ruhe des Systems. Die Schreienden entsprechen in Tiempo de silencio den Randfiguren - Frauen, Schriftstellern, Eunuchen -
486
Sankt Laurentius, ein römischer Märtyrer, verteilte sämtliche ihm anvertrauten Kirchengüter unter den Armen. Als der Stanhalter die Auslieferung der Kirchengüter forderte, führte Laurentius ihn zu den Armen und sagte: "Dies sind unsere Schätze, unsere Perlen und Schmuckstücke". Der Statthalter interpretierte diesen Satz als Spott und ließ Laurentius foltern, in: Albert Christian Selber: Calendario perpetuo de los santos. Barcelona 1994, S. 282.
487
Pedro wird explizit als Märtyrer bezeichnet beim Abendmahl in der Pension - „... se unía a la mesa de mártires ..." er nahm am Tisch der Märtyrer Platz ...", S. 72.
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doch durch ihr Schreien verschaffen sie sich eine Aufmerksamkeit, die ihnen von den Machthabern sonst versagt wird. Dies kann als implizite Handlungsaufforderung an den Leser gedeutet werden, das von der Diktatur erzwungene Schweigen zu brechen und gegen die Repression im Staat aufzubegehren. Das Verbot, Tabus explizit zu machen, spiegelt sich auch auf der discours-Ebene wider: in der permanenten Periphrase, in schwierigen Neologismen, im Verstekken der relevanten Information durch barocke, omamentale Wortungetüme, im Verschweigen des eigentlich Relevanten (argumentum ex silentio). Folgendes Beispiel soll die Selbstthematisierung des Schweigegebotes demonstrieren: Die Abtreibung an Florita wird in einer wortreichen, komplizierten pseudowissenschaftlichen Sprache dargestellt, die eine Exaktheit vorspiegelt, die sie nicht erfüllt, denn die zentrale Information bleibt ungesagt, während sich die Exaktheit auf irrelevante Nebenaspekte bezieht. Dieser Verstoß gegen das Relevanzprinzip der Griceschen Konversationsmaximen wirkt als Signal auf den komplizenhaften Leser: 488 Die relevante Information - Abtreibung - darf nicht direkt geäußert werden. Ausdrücke wie „die Expulsion des Gebärmutterinhalts", „der Akt", „die Operation durch den Magier mit der Nadel" (S. 130f.) ersetzen die direkte Benennung. Der sexuelle Mißbrauch durch Muecas wird in diesem Kontext zwar preisgegeben, aber in einer völlig unangemessenen Form, denn das Tabu wird beiläufig in einem Nebensatz innerhalb einer scheinlogischen Klassifizierung angedeutet. Der Erzähler teilt die Anwesenden in verschiedene willkürliche Kategorien ein, die letzte birgt die Wahrheit: „... sabedores de que el padre de Florita estaba en trance de llegar a ser padre-abuelo y simples sospechadores de la misma casievidente verdad" - „Wissende, daß Floritas Vater gerade Vater-Opa wurde und einfach nur Ahnende der beinahe offensichtlichen Wahrheit" (S. 130).
2.8. Schlußfolgerungen Tiempo de silencio wurde der Zensur mehrmals vorgelegt und durch zahlreiche Streichungen entstellt, die jedoch vor allem religiös und moralisch motiviert waren. Eine politische Zensur konnte nicht greifen, da die Komplexität des Romans die Entschlüsselung des impliziten sozialkritischen Gehaltes außerordentlich schwierig machte. Die Zensoren bemerkten die politische Komponente nicht oder wurden aufgrund der Indirektheit des Textes doch zumindest nicht zum Handeln motiviert. Martin-Santos zerstört in Tiempo de silencio Mythen der franquistischen Ideologie. Sein Procedere wurde mit Hilfe von Roland Barthes' Modell der Mythenkritik untersucht am Beispiel der Mythen vom hombre ibero, vom spanischen Macho, vom Stierkampf und von Frieden und Ordnung im Land. Sowohl bei Barthes als auch bei Martin-Santos zielt die Mythenkritik darauf ab, offizielle Mythen als künstlich hergestellte Kausalitäten zu entlarven. Diese vermeintlichen
488
Vgl. „Allgemeiner Zensurteil".
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Wahrheiten stehen im Dienste bestimmter Interessengruppen und zementieren den filr diese Gruppen günstigen Status Quo, indem sie die gegebene Realität als unveränderlich oder naturgegeben darstellen. Der erste Schritt, um die Realität zu verändern, ist daher die Mythenkritik. Diesen Schritt verbindet Martin-Santos mit einer radikalen Kritik an den gesellschaftlichen Mißständen unter Franco, die er durch Umgehungsstrategien tarnen mußte. Untersucht wurden insbesondere drei Verfahren: die groteske Deformation, die Unterwanderung der etablierten Hierarchien und die Entwicklung eines inoffiziellen Gegencodes. Diese Verfahren erfüllen eine doppelte Funktion: Sie dienen einerseits der Umsetzung der Mythenkritik und fungieren andererseits als Camouflagetechniken. Dabei geht der Autor weit über den Ansatz der novela social hinaus. Nicht nur die literarischen Techniken stellen sich in Tiempo de silertcio komplizierter dar, auch die Methode der Sozialkritik erreicht ein anderes Niveau, denn Martin-Santos bildet Mißstände nicht bloß ab, sondern interpretiert sie zugleich. Er analysiert die franquistische Gesellschaft als teils agrarische, teils kapitalistische Klassengesellschaft. Seine camouflierte Botschaft lautet: Solange die gesellschaftlichen Strukturen nicht geändert werden, bleibt Spanien unterentwickelt, denn die beachtlichen wirtschaftlichen Erfolge der 50er Jahre kommen nur den Eliten des Landes, nicht aber den benachteiligten Sektoren zugute. Auch wenn Martin-Santos die Handlung - vermutlich auch aus Zensurgründen - in die 40er Jahre zurückverlegt, bezieht sich seine Gesellschaftsanalyse eindeutig auf das Spanien seiner Zeit. Der Text birgt eine implizite Aufforderung zur (revolutionären?, reformistischen?) Veränderung des Systems, ohne jedoch ein konkretes Gegenmodell anzubieten. Ohne Tarnung hätte diese brisante Botschaft den Autor in Gefahr gebracht, immerhin war sozialistische und marxistisch orientierte Literatur bei Erscheinen von Tiempo de siiencio streng verboten. Dies dürfte dem engagierten Sozialisten deutlich bewußt gewesen sein, so daß man von einer Selbstzensur des Autors ausgehen kann. Die schwierige Decodierung dieser Botschaft setzt einerseits Kenntnisse der politischen Einstellung und der Biographie des Autors voraus und andererseits eine sehr genaue Lektüre des Romans sowie Kenntnisse der spanischen Geschichte. Tiempo de siiencio läßt sich aber auch auf einer wörtlichen Ebene lesen, die wenig von dieser regimekritischen Einstellung vermittelt: als Geschichte eines jungen, unbedarften Krebs-Forschers, der durch eigenes Verschulden seine illegale Mitwirkung an einer Abtreibung - ins Gefängnis kommt und dadurch seine wissenschaftliche Karriere zerstört. Nach den offiziellen Regeln wird Pedro dabei zurecht bestraft; auf der oberflächlichen Ebene verhält sich der Roman also konform. Allein diese Ebene rezipierten vermutlich die Zensoren zumindest offiziell. Abschließend stellt sich die Frage, inwieweit die Zensur die Ästhetik des Romans beeinflußt hat. Gerade die Zensurfassung von 1961 erlitt durch die Streichung der beiden Bordell-Kapitel eine ganz erhebliche Störung des ästhetischen Gleichgewichts. Weitaus relevanter erscheint allerdings die Beeinflussung des Original-
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manuskripts durch die Selbstzensur des Autors. Wie die Analyse gezeigt hat, wirkt die Komplexität des ganzen Romans als Tarnstrategie gegen die Zensur. Diese Vermutung erhärtet sich durch den Vergleich mit Goytisolos Senas de Identidad, einem ähnlich kritischen Roman. Goytisolo formulierte kritische Anspielungen auf den Franquismus aber sehr viel expliziter, so daß das Buch erst 1976, also nach Francos Tod, in Spanien erscheinen durfte. Trotzdem verdankt Tiempo de silencio seine avancierten Romantechniken sicher nicht nur der Zensur. Martin-Santos suchte vielmehr einen Ausweg aus der ästhetischen Sackgasse des spanischen Romans. Außerdem hatte er die großen Romanciers der Moderne, Joyce und Proust, rezipiert und strebte danach, Spanien nicht nur aus seiner sozialen, sondern auch aus seiner kulturellen Unterentwicklung herauszuführen. In Tiempo de silencio fällt das Streben nach formaler Modernisierung mit zensurbedingter Selbstzensur zusammen. Martin-Santos konnte sicher darauf vertrauen, daß die Zensoren - wie der Großteil der spanischen Leser - mit modernen Romantechniken wenig vertraut waren und die subtile Regimekritik kaum entschlüsseln konnten. Allerdings wirft der elitäre Charakter des Buches ein gundsätzliches Problem auf: Wen erreichte die regimekritische Botschaft Uberhaupt noch? Kann ein so tfocoars-lastiges Buch wie Tiempo de silencio die vom Autor intendierte Aufgabe erfüllen, gesellschaftliche Mißstände aufzudecken und die „Wirklichkeit zu verändern"? Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Schwierigkeit des Buches einen Teil der politisch beeinflußbaren Leserschaft abschrecken könnte.
3. Die Reaktion der Zensur auf andere Romane der Konsolidierungsphase Wie aber reagierte die Zensur auf die literarische Hauptströmung der 50er Jahre, auf die novela social? Der spanische Sozialroman trat ja mit dem erklärten Anspruch auf, Sozialkritik zu leisten, dennoch passierte ein Großteil dieser Literatur die Zensur - mit Ausnahme einzelner Streichungen - relativ problemlos. Wie läßt sich dieser Widerspruch erklären? Gerade Erzähltechniken, die die novela social entscheidend mitprägten, wirkten als ausgezeichnete Tarnstrategien gegen die Zensur, wie die Analyse verschiedener Sozialromane im Hinblick auf die Zensur gezeigt hat. 489 G. Champeau stellt literarische Verfahren dar, mit denen es den Autoren der novela social trotz der vermeintlichen Objektivität des Erzählers, trotz der reinen Beobachterhaltung von außen gelingt, Kritik an den sozialen Mißständen zum Ausdruck bringen. Die Zensur war ein ganz entscheidender Faktor dafür, daß sogenannte Objektivierungstechniken wie die filmische Aufnahme oder die Entpersönlichung des Erzählers in Spanien überhaupt derart erfolgreich waren. Die kritische Haltung des Autors äußert sich darin, welche Details er für seine scheinbar objektive Bestandsaufnahme der Welt auswählt und
489
Champeau 1988, S. 277-295. Zur novela social vgl. Gil Casado 1967, sowie Gonzalo Sobejano: Novela española de nuestro tiempo. Madrid 1970.
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in welcher Weise er sie anordnet. So stellt zum Beispiel Juan Goytisolo in seinem Reiseroman Campos de Nijar*90 den Widerspruch zwischen dem armseligen Dorfalltag in Nijar und den ideologischen Phrasen des Regimes dar, indem er einen Dialog zwischen dem Reisenden und dem Wirt über den eklatanten Nahrungsmangel der Region unterbricht durch die Beschreibung der im Lokal aufgehängten Plakate, die für Luxusuhren werben. 491 Ähnlich verfährt Alfonso Grosso in seinem Roman La zanja,*92 laut G. Sobejano „una novela social paradigmática". 493 Er erwähnt die Armut andalusischer Höhlenbewohner und das Symbol der repressiven Falange in ein und demselben Satz, ohne dabei allerdings eine explizite Verbindung herzustellen. Die Schlußfolgerungen bleiben dem Leser überlassen. 494 Doch eine Sozialkritik, die so subtil geäußert wurde wie in Campos de Nijar oder La zanja, konnte die Zensur relativ problemlos passieren. Schließlich formulierten die Autoren der beiden Romane die Angriffe gegen das Regime nicht direkt, so daß die Autoren den Zensoren keinen Ansatz für Streichungen boten. Der Zensor von Grossos La zanja bemerkte zwar durchaus die „nur scheinbar naiven Beschreibungen des Autors, die in Wirklichkeit scharfsinnig und ganz gewollt sind". Trotzdem passierte das Werk die Zensur mit wenigen und eher unerheblichen Streichungen wie der Unterdrückung obszöner Wendungen. Nur einige zu explizite Hinweise auf die politische Situation fielen dem Rotstift zum Opfer, zum Beispiel der folgende Nebensatz: Los hombres no forman grupos de más de tres personas, por lo que, ante la imposibilidad de discutir todos juntos el problema, al estar prohibidas las reuniones de más de cuatro miembros. (Die Männer bilden keine Gruppen von mehr als drei Personen, weil sie sonst nicht alle zusammen das Problem diskutieren können - schließlich sind Versammluneen mit mehr als vier Mitgliedern verboten.)
490
Juan Goytisolo: Campos de Nijar. Barcelona 1959.
491
Champeau 1988, S. 287.
492
Alfonso Grosso: La zanja. Barcelona 1961.
493
Sobejano 1970, S. 322.
494
Zitat in: Champeau 1988, S. 288: „Se atraviesan ahora los suburbios del lugar, con sus casas excavadas en la tierra, sus cuevas adornadas de pitas y chumberas, sus niños desnudos, panzudos y hambrientos, sus candilejas de aceite y las aspas rojas del escudo de Falange orlado de pintura luminosa." („Jetzt geht es durch die Vorstädte des Ortes mit ihren aus der Erde ausgehobenen Häusern, mit ihren Agaven- und Feigenkaktusverzierten Höhlen, den nackten Kindern, dickbäuchig und hungrig, mir ihren Ölfunzeln und den roten WindmUhlenflügeln des Falange-Symbols, das in leuchtender Farbe aufgemalt war.")
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Auch das Paradebeispiel der novela social, der Roman El Jarama von Rafael Sánchez Ferlosio, 495 kam ohne Schwierigkeiten durch die Zensur. Es liegt nur ein Gutachten vor, so daß man davon ausgehen kann, daß die Zensoren das Werk als nicht besonders problematisch einstuften. Der Zensor begnügte sich bei der Begutachtung mit der Beschreibung der harmlosen Oberfläche des Romans, in dem es um Sonntags-Ausflügler aus Madrid und vom Lande geht, die einen Tag am Fluß Jarama verbringen - die Sommerfrische wird jäh unterbrochen, als eines der Mädchen im Fluß ertrinkt. Der Autor gibt minutiös die Gespräche der Beteiligten wieder, die so klingen, „als hätte sie jemand mit dem Tonband aufgenommen", wie der Zensor zutreffend feststellt. 496 Eben diese Technik rechtfertigt in seinen Augen auch den übermäßigen Gebrauch von obszönen Wendungen, die sich, obwohl sie „sehr schlechten Geschmacks sind", nicht unterdrücken ließen. Über den kritischen Gehalt des Romans äußerte sich der Zensor überhaupt nicht, obwohl gerade El Jarama die politischen Intentionen des Sozialromans nach Meinung von Sobejano optimal erfüllt. 497 Denn in den banalen Gesprächen der Sommerfrischler scheint die soziale Situation der 50er Jahre immer wieder durch, etwa wenn die Guardia Civil über die guten Sitten wacht oder die jungen Arbeiter über ihre materiellen Schwierigkeiten sprechen. Der Autor legt auf diese Art Zeugnis über die soziale Realität ab, ohne sie expressis verbis zu kritisieren oder gar die Schuldigen zu benennen. Doch die negative Grundstimmung der Beteiligten bleibt dem Zensor nicht verborgen, der sie als „tedio" („Überdruß") und „aburrimiento veraniego" („sommerliche Langeweile") bezeichnet. Diese negative Grundstimmung wurde zwar von der Zensur nicht gouttiert und regelmäßig negativ hervorgehoben, sie war aber in den 50er Jahren kein ausreichender Grund, um einen Roman zu verbieten. Ausreichenden Grund filr ein Verbot sahen die Zensoren jedoch im spektakulären Fall von Juan García Hortelanos Tormenta de verano.498 Der Roman verstößt viel eindeutiger gegen franquistische Tabus wie El Jarama oder La zanja, denn der Protagonist des Romans führt gemäß den Kategorien der Zensurkriterien klar einen unmoralischen Lebenswandel, der gegen die katholischen Werte des Regimes gerichtet ist (vgl. Kap. VI. 1.4. „Zensurkriterien"). Javier, ein schillernder Vertreter der spanischen Bourgeoisie, zeichnet sich zwar durch sein soziales Gewissen und gewisse Sympathien für die Unterschicht aus, allerdings sind seine Moralvorstellungen für die franquistische Zensur alles andere als akzeptabel. Javier betrügt seine Ehefrau mit der Frau seines Cousins, gleichzeitig unterhält er ein Verhältnis mit einer Prostituierten. Er erlebt das Ambiente der Bourgeoisie voller Überdruß und Selbstzweifel, die sich zu einer seelischen Krise steigern.
495
Rafael Sánchez-Ferlosio: El Jarama. 14. Aufl. Barcelona 1981.
496
Exp. 252, AGA 11.319, 1956.
497
Gonzalo Sobejano: Novela española de nuestro tiempo, Madrid 1970, S. 238.
498
Juan García Hortelano: Tormenta de verano. 4. Aufl. Barcelona 1970.
VI. Die Konsolidierung des Regimes (1951-1966)
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Ausgelöst wird sie durch das Auffinden eines toten Frauenkörpers - wie sich herausstellt, der Körper einer Prostituierten, deren Tod zu Unrecht einigen einfachen Fischern angelastet wird. Zu dem Roman Tormenta de verano liegen fünf Gutachten vor. 499 Aufgrund des Erstgutachtens wurde der Roman 1961 verboten. Der Zensor gesteht dem Protagonisten Javier zwar gewisse moralische Skrupel zu, doch das Buch verstoße gegen „die einzig akzeptable Spielart von Moral - die katholische Moral". Denn der Held verbringe „mindestens 250 Seiten mit Frauen im Bett, die nicht seine sind", das ganze Buch sei eine „skandalöse Chronik" einer Ferienkolonie an der Costa Brava. Die Zensur verfährt im Fall von Tormenta de verano nicht anders als in ähnlichen Fällen - Romane, deren Helden reuelos einen unmoralischen Lebenswandel führen, der eklatant gegen die katholische Moral verstieß, konnten im Wirtschaftswunder-Spanien der 50er Jahre nicht erscheinen. Besondere Brisanz erhielt der Zensurfall Juan García Hortelanos erst, als der Roman trotz Verbot mit einem Literaturpreis, dem Premio Internacional de Literatura Formentor, ausgezeichnet wurde. Denn dadurch geriet die Zensur in die Bredouille, wie die komplizierte Kasuistik zeigt, mit der die Zensoren die Aufrechterhaltung ihres Verbotes rechtfertigten. Sie fürchteten einerseits einen Skandal durch das Verbot eines international bekannten und prämierten Buches: „Es cierto que los constantes acusadores de España, una vez más, utilizarán esta prohibición contra nosotros." („Sicherlich werden die permanenten Ankläger Spaniens das Verbot wieder einmal gegen uns verwenden.") Andererseits, so die Zensoren, entbinde auch ein Literaturpreis den Staat nicht von seiner Pflicht, Uber die Moral zu wachen. Der Gutachter vom 14. August 1961 gibt schließlich zu bedenken, daß all der Wirbel aufgrund eines Verbotes eher in Kauf zu nehmen sei als der internationale Skandal, wenn ein derart unmoralischer Roman veröffentlicht würde in einem Land, das konfessionell katholisch sei. Dieser Zensor führte als letztes Argument für das Verbot von La tormenta de verano die „schwere Verpflichtung, beispielhaft voranzugehen", an. Das Buch blieb also verboten mit einer Ausnahmelösung für die „lectores de criterio maduro": Die Zensurbehörde genehmigte eine einmalige Miniauflage von unter 1000 Exemplaren für die „reiferen" Leser gewisser sozialer Kreise, „die das im Buch dargestellte Ambiente selbst kennen". Durch diese etwas absurd anmutende Kompromißlösung bemühten sich die Zensoren, allen relevanten Kriterien gerecht zu werden. Ana María Matute 500 mußte gleich zwei Buchverbote und eine komplette RomanVerstümmelung durch die Zensur hinnehmen. Die Autorin gehört zu jenen, die am meisten unter der franquistischen Zensur zu leiden hatten. Die beiden Romane Julio y termidor und Luciérnagas wurden verboten, En esta tierra mußte aufgrund der Zensur derart verändert werden, daß sich die Autorin jegliche Neu499
Exp. 3459, AGA 13.375, 1961.
500
Ana María Matute: Obra completa. Barcelona 1971.
Gabriele Knetsch
204
auflage des Romans verbat. 501 Das Verbot von Luciérnagas im Jahr 1953 soll an dieser Stelle genauer dargestellt werden. Das Gutachten zu dem Roman fehlt in der Zensurmappe, nur der Vermerk „denegar" weist eindeutig auf die Entscheidung der Behörde hin. M. L. Abellán, der eine Kopie im Besitz der Autorin einsehen konnte, hat das Gutachten jedoch abgedruckt. 502 Luciérnagas stellt eine Familie aus der katalanischen Oberschicht dar, parallel dazu werden die Lebensgeschichten von Jugendlichen unterschiedlicher Klassen im Barcelona der Nachkriegszeit skizziert. Das pessimistische, nihilistische Lebensgefílhl dieser novela tremendista zieht sich durch alle Schichten. Der Zensor lobt zwar den außerordentlichen literarischen Wert des Buches, setzt sich am Ende aber dennoch filr ein Verbot des Romans ein, weil er in Luciérnagas jegliche religiösen und moralischen Werte zerstört sieht. Ausschlaggebend filr das Verbot dürfte die antireligiöse Tendenz des Buches gewesen sein: Der Zensor beklagt „un total sentimiento antirreligioso que llega a la irreverencia en muchos pasajes" („ein absolut antireligiöses Gefühl, das an vielen Stellen an die Blasphemie heranreicht"). Wie ein Vergleich mit den Zensurkriterien der Konsolidierungsphase zeigt, reagierte die Zensur zwischen 1951 und 1966 noch außerordentlich sensibel auf jegliche Kritik an der katholischen Religion, so daß ein solcher Vorwurf beinahe automatisch ein Verbot des Romans nach sich ziehen mußte. Gleichzeitig führt der Zensor von Luciérnagas die Unmöglichkeit an, einzelne Stellen zu streichen, da die destruktive Grundhaltung gegenüber Religion und Moral sich durch den ganzen Roman ziehe. Aber auch politische Zensurgründe werden angeführt, wenngleich sich diese im Text sehr viel schwieriger manifest machen lassen. In diesem Zusammenhang erwähnt der Zensor die indirekte Kritik an der Sozialpolitik des Regimes. Die Autorin stelle das harte Leben der Armen dar, wobei sie die Schuld an den sozialen Verhältnissen zwar niemandem offen zuweise, aber doch die Verantwortlichkeit des Movimiento durchblicken lasse. Angriffe auf das Movimiento galten aber bis zum Ende des Regimes als absoluter Zensurgrund. Ein Buch wie Luciérnagas verstieß wohl zu offensichtlich gegen den franquistischen Wertekodex der 50er Jahre, als daß es die Zensur problemlos hätte umgehen können.
501
Vgl. Abellán 1976, S. 3.
502
Ebenda.
VII. Die Spätphase (1966-1975)
205
VII. DIE SPÄTPHASE - SPANIEN AUF DEM WEG ZUR EUROPÄISIERUNG (1966-1975) 1. Die Bucherzensur von 1966-1975 Die Endphase des Franquismus ist nicht bloß durch den körperlich-geistigen Verfall des Caudillo gekennzeichnet, sondern auch durch das hektische Hin und Her zwischen öffnungs- und Bremstendenzen, die auf die Zensurpolitik unmittelbare Auswirkungen hatten. Auch die Bucherproduktion unterscheidet sich deutlich von der der 50er Jahre, denn linke und kritische Bücher standen inzwischen auf der Tagesordnung. Als prototypisches Beispiel soll Miguel Delibes' Klassiker Cinco horas con Mario untersucht werden. Das Buch ist zwar nur fünf Jahre nach Tiempo de silencio erschienen. Dennoch hatte der Amtsantritt des neuen Informationsministers Fraga Iribarne f!lr die Zensurpraxis eine größere Toleranz mit sich gebracht, wie bereits der Vergleich der beiden Auflagen von Tiempo de silencio gezeigt hat.
1.1. Soziopolitischer Überblick Die franquistische Politik mußte sich der modernisierten Gesellschaft anpassen, zumal Spanien die Mitgliedschaft in der EG anstrebte. Das Regime polierte daher sein Image auf, indem es einige liberalere Gesetze erließ. Allerdings wurden sie so rigide ausgelegt, daß de facto die alten Strukturen bewahrt wurden. Das Wohlwollen des Auslands im Kalten Krieg war inzwischen offener Feindseligkeit gegenüber der Diktatur gewichen; die Kirche kam als Legitimationsspender nicht mehr in Frage; die Demokratisierung der Bürger machte auch eine politische Öffnung des Regimes unumgänglich. Wie immer vollzog Franco den Kurswechsel durch eine Regierungsumbildung: Der reformorientierte Diplomat Fraga Iribame löste 1962 den religiösen Eiferer Arias-Salgado nach 20 Jahren im Amt als Informationsminister ab. Doch erst 1966 gelang es ihm, sich mit seinem - für die Öffnung Spaniens fundamentalen neuen Pressegesetz (Nueva Ley de Prensa e Imprenta) gegen die Hardliner durchzusetzen. Die wichtigsten Punkte des Gesetzes waren die Abschaffung der Vorzensur und die Einführung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit und Selbstkontrolle.503 Obwohl im Land weiterhin keine Meinungsfreiheit herrschte („Freiheit" galt nur im Rahmen der franquistischen Gesetze und der Grundsätze des Movimiento), stärkte dieses Gesetz das Selbstbewußtsein von Journalisten und Autoren.504 Je mehr kritische Zeitungen und Verlage gegründet wurden, je kühner über die Situation im Land berichtet wurde, desto mehr machte die Opposition von der neuen Freiheit Gebrauch. Die Regierung konnte nun nicht
503
Vgl. Lorenzen 1978, S. 261-304.
504
Mangini 1987, S.201.
206
Gabriele
Knetsch
mehr alles verbieten, doch immerhin wurden zwischen 1966 und 1972 etwa 600 Sanktionen verhängt. 505 1967 wurde die Ley Orgánica del Estado eingeführt. 506 Damit wurden geltende Gesetze, die teils noch aus dem Bürgerkrieg stammten, reformiert und vom totalitären Beigeschmack gesäubert. Erstmals erließ die Regierung eine beschränkte Religionsfreiheit und die Möglichkeit, „politische Assoziationen" zu bilden (sie wurden jedoch nach langen Diskussionen erst 1974 zugelassen - echte Parteien waren sogar bis nach Francos Tod verboten). Wichtigster Punkt der Ley Orgánica war die Klärung der Nachfolge Francos. Der 75jährige sprach sich für die Trennung von Staats- und Ministerpräsident aus, um sein Regime über den Tod hinaus zu retten. Prinz Juan Carlos sollte das Amt des Staatspräsidenten übernehmen und wurde 1969 nach langem Zaudern vom Caudillo ins Amt gesetzt. Dem ultrakonservativen Carrero Blanco gedachte er das Ministerpräsidentenamt zu, doch ein tödliches ETA-Attentat auf den Franco-Nachfolger machte diese Pläne 1973 zunichte. Ab Mitte der 60er Jahre entwickelte sich die baskische Untergrundorganisation ETA zu einer der gefährlichsten Widerstandsgruppen gegen den Franquismus. Die ETA kämpfte gewaltsam für die Freiheit des Baskenlandes und gegen das repressive Regime. Die Regierung ging gegen sie unter internationalen Protesten mit der repressiven Härte der 40er Jahre vor. 1969 unternahm Franco aus Rücksicht auf die Falken einen Versuch, das Rad der Geschichte noch einmal zurückzudrehen: Wegen der Studentenunruhen erließ die Regierung den Ausnahmezustand im ganzen Land, die Zensur wurde wieder strenger gehandhabt. Der zu liberale Fraga mußte im Zuge des Matesa-Finanzskandals, in den einige Minister des Opus Dei verwickelt waren, seinen Hut nehmen. Laut López Rodó, einem Wirtschaftspolitiker des Opus, wurde Fraga entlassen, da er nicht fähig gewesen sei, „der Pornographie und dem Marxismus ein Ende zu bereiten". 507 Die neuen Minister, ideologielose Franquisten, gingen als „einfarbige Regierung" in die Geschichte ein. Die Krise des Regimes manifestierte sich durch mehrfache Kabinettumbildungen, das Anwachsen des Terrorismus und interne Meinungsverschiedenheiten. Auch die Regierung unter dem farblosen Arias Navarro brachte 1974 keinen echten Strukturwandel: Unter dem Druck der neofaschistischen Ultrarechten der Fuerza Nueva508 wurde die Regierung zu brutalen Maßnahmen verleitet, etwa zu der spektakulären Hinrichtung von fünf ETA-Terroristen.
505
Tusell 1989, S. 41.
506
Vgl. Bernecker 1988, S. 181-83.
507
Tejada 1977, S. 158.
508 V g i p r e s t o n 1986, S. 135-142. Die radikale Fuerza Nueva war eine Art staatlich geduldete Terrororganisation, die in den letzten Jahren Attentate auf Oppositionelle und Anschläge auf linke Buchhandlungen verübte.
VII. Die Spätphase (¡966-1975)
207
Doch in der spanischen Gesellschaft hatte sich inzwischen ein erhebliches Protestpotential gebildet, selbst innerhalb der spanischen Kirchenhierarchie. So protestierten etliche spanische Bischöfe öffentlich gegen die ETA-Urteile. In der „Gemeinsamen Versammlung von Bischöfen und Priestern" sprach sich 1971 ein Großteil für eine öffentliche Entschuldigung wegen der „Kreuzzugsvergangenheit" der spanischen Kirche aus: 509 Wir erkennen demütig an und bitten um Verzeihung, daß wir es nicht rechtzeitig verstanden haben, echte Diener der Wiederversöhnung im Schoß unseres durch einen Krieg zwischen Brüdern gespaltenen Volkes zu sein. Im Jahr 1973 verzichtete die Bischofskonferenz auf staatliche Privilegien und forderte Franco im Gegenzug auf, das Mitspracherecht bei der Bischofsemennung aufzugeben. Die mittlerweile recht aktiven Oppositionsparteien - einige, wie die Christdemokraten unter Ex-Erziehungsminister Ruiz Giménez vom Regime geduldet, andere, vor allem die Kommunisten, bis zum Schluß verfolgt vereinigten sich mit dem Ziel, die Demokratie wiederherzustellen. 1975 bildeten sie zusammen mit den Gewerkschaften ein Koordinationskomitee und wirkten nach Francos Tod am 20. November 1975 am Demokratisierungsprozeß des neuen Spanien mit.
1.2. Überblick Uber die Kommunikationspolitik Zensurpolitik Die 60er Jahre waren gekennzeichnet durch eine eklatante Phasenverschiebung: Die anachronistische autoritäre Realität in Politik und Gesetzgebung stand dem fortschrittlichen Entwicklungsstand der Gesellschaft entgegen. 510 Das Volk konnte nicht länger in abgeschirmter Unmündigkeit gehalten werden, denn das allgemeine Bildungsniveau sowie der Meinungspluralismus im Land hatten zugenommen. Durch die Säkularisierung der Gesellschaft büßten die konservativen Werte der Kirche an Autorität ein. Die Moralvorstellungen hatten sich dem übrigen Europa angenähert. 511 Diese Veränderungen machten auch einen Wandel der Zensurkriterien erforderlich. Fraga brachte zwei jüngere und kulturell aufgeschlossene Mitarbeiter ins Amt: für die Filmzensur José María García Escudero, der sich bereits in den 50er Jahren als Generaldirektor für Film für mehr Öffnung eingesetzt hatte, und Fragas Schwager Carlos Robles-Piquer für die Bücherzensur. Die neue Mannschaft revidierte allzu reaktionäre Züge der Zensur. Vor allem bei sexuellen und moralischen Themen verfuhr sie nun toleranter, während politische Äußerungen noch immer streng überwacht wurden. García Escudero zweifelte zwar nie an der
509
Zitiert in: Bernecker 1988, S. 177.
510
Vgl. A. López Pina/E. Aranguren: La cultura política de la España de Franco. Madrid 1976, S. 189-193.
511
Vgl. Tejada 1977, S. 143-46.
208
Gabriele
Knetsch
Notwendigkeit einer Überwachung der geistigen Produkte des Landes, aber er hatte bereits in seiner ersten Amtszeit 1954 eine „intelligente Zensur" gefordert, sprich: eine Zensur, die nicht alles nach den „Kriterien für Heranwachsende" beurteilte. 512 1962 durfte das spanische Kinopublikum daher an Elke Sommer den ersten Bikini auf der Leinwand bewundem, den es aus der Realität dank der offenherzigen ausländischen Touristinnen schon kannte. Sogar sowjetische Filme konnte man - im eingeschränkten Rahmen der „Spezialkinos" (salas especiales) sehen. Die BUcherzensur autorisierte nun spanische Übersetzungen vorher nicht tolerierter Autoren wie Marx, Freud, Kafka oder Sartre, und bislang totgeschwiegene Exilautoren durften gedruckt werden. Dennoch erschienen noch immer zahlreiche Werke stark zensiert (vgl. Zensurkriterien von 1966). Fraga erfüllte teilweise die Forderungen der Intellektuellen nach konkreten Regeln ftlr die Zensur, die sein Vorgänger permanent hinausgezögert hatte. So veröffentlichte der neue Minister im B.O.E vom September 1962, welche Gruppierungen in der Junta für Filmzensur repräsentiert sein sollten. 513 Am 8. März 1963 wurden dort detaillierte Regeln für die Filmzensur publiziert. 514 Einerseits orientierten sie sich nach wie vor stark an der katholischen Glaubenslehre: Verboten waren Angriffe auf die Katholische Kirche, aber auch Handlungen, die aus der Sicht des Katholizismus als verwerflich galten: Selbstmord, Euthanasie, Scheidung, Verhütungsmittel, „perverse" Sexualpraktiken (außer sie wurden moralisch verurteilt), Sucht und Verbrechen, brutale Szenen, „kolloquiale Ausdrücke und Szenen intimen Charakters, die gegen die elementarsten Normen des guten Geschmacks verstoßen". Andererseits wurden Angriffe auf das Regime indiziert, d.h. auf Franco, auf die Grundprinzipien des Staates und die franquistischen Institutionen. Nicht erlaubt waren auch die „tendenziöse Verfälschung" der Geschichte, die „anschwärzende und entwürdigende Darstellung politischer Ideologien" und Werke, die es wagten, „die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, zu leugnen". Diese Kriterien waren keineswegs neu. Sie galten auch vorher schon - sogar noch wesentlich strenger - aber sie waren bisher nirgends so explizit und für jedermann einsehbar. Die Theaterzensur übernahm diese Normen. 515 Doch die vom Regime weniger ernst genommene Bücherzensur kam weiterhin ohne schriftlich fixierte offizielle Regeln aus. Statt durch konkrete Normen regierte Zensurchef Robles-
5,2
Span. Orig. zitiert in Gubern 1981, S. 132: „... la censura para todos no podría hacerse siempre con un criterio exclusivo de censura para adolescentes ... En suma: una censura inteligente, constituida más con criterio de competencia personal que de representación administrativa, con normas fijas y públicas...".
513
Boletín Oficial del Estado, 28. September 1962, S. 1631.
514
Boletín Oficial del Estado, 8. Márz 1963, S. 495-497.
515
Boletín Oficial del Estado, 25. Februar 1964, S. 438-440.
Vil Die Spätphase
(1966-1975)
209
Piquer durch seine sogenannte „Politik des Dialoges".516 Den Vorwurf der Willkür entkräftet er im Interview mit der Verfasserin mit dem entwaffnenden Argument, die Zensur könne gar nicht willkürlich gewesen sein, denn die Regeln habe er persönlich festgelegt, und er habe immer nach denselben gehandelt. Trotz aller offiziellen Beteuerungen, das Regime zu demokratisieren und zu legalisieren, haftete dem Franquismus weiterhin der Ruch der rein personalen, unkontrollierten Macht der Diktatur an. Die neue „Politik des Dialoges" entsprach der paternalistischen Haltung des Regimes: Zensur sollte nun lieber im Guten als im Bösen ausgeübt werden. Ein Indiz für echte Demokratisierung kann daraus nicht abgeleitet werden. 1966 trat das langerwartete Pressegesetz in Kraft. Die wichtigste Änderung für die Verleger: die obligatorische Vorzensur wurde durch eine „freiwillige Konsultation" ersetzt, die jedoch keineswegs freiwillig war. Zwar bestätigte das neue Gesetz im ersten Satz die bereits im Fuero de los Españoles formal garantierte Meinungsfreiheit, setzte ihr aber mit dem Prinzip der „Selbstkontrolle" enge Grenzen.517 Denn mit diesem Prinzip war nicht wie in den westlichen Demokratien die Orientierung an privaten oder berufsständischen Moralcodices gemeint. Statt dessen wurde den Verlegern zugemutet, das Risiko, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, selbst zu kalkulieren. Das neue Gesetz schränkte die Meinungsfreiheit nach wie vor durch folgende Tabus ein:518 ... el respeto a la verdad y a la moral; el acatamiento a la Ley de Principios del Movimiento Nacional ... y demás Leyes Fundamentales; las exigencias de la defensa nacional, de la seguridad del Estado y del mantenimiento del orden público interior y la paz exterior; el debido respeto a las Instituciones y a las personas en la crítica de la acción política y administrativa; la independencia de los Tribunales, y la salvaguardia de la intimidad y del honor personal y familiar. (... den Respekt vor der Wahrheit und der Moral, die Hochachtung vor dem Gesetz der Prinzipien der Nationalen Bewegung ... und den übrigen Grundgesetzen; die Erfordernisse der nationalen Verteidigung, der Sicherheit des Staates, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Inneren und des äußeren Friedens; den gebührenden Respekt vor den Institutionen und Personen bei der Kritik politischer und administrativer Handlungen; die Unabhängigkeit der Gerichte und die Unantastbarkeit des Intimlebens und der persönlichen und familiären Ehre.)
Dieser Artikel 2 des neuen Pressegesetzes war ein „Gummiparagraph", so daß Verleger, die nicht von der „freiwilligen" Vorzensur Gebrauch machten, leicht die Beschlagnahmung der ganzen Auflage riskierten, weil das Buch gegen eines der genannten Tabus verstoßen konnte. Aus Angst vor dem finanziellen Verlust ließen viele Verleger Bücher weiterhin vorzensieren. Die neue „Selbstkontrolle"
516
Vgl. Interview vom 17. Mai 1994 in Madrid. Für Robles-Piquer bestand keinerlei Notwendigkeit für fixierte Normen.
517
Vgl. Lorenzen 1978, S. 275.
518
Boletín Oficial del Estado, 19. März 1966, Art. 2, S. 479.
210
Gabriele Knetsch
hatte zudem bei etlichen Schriftsteilem - zumindest zu Beginn der neuen Ära eine gesteigerte Selbstzensur zur Folge. 519 Obwohl die Vorzensur nun offiziell abgeschafft war, existiert erstaunlicherweise auch noch in der Zeit nach 1966 für jedes Buch eine eigene Akte mit Zensurgutachten im Archivo General de la Administración - bis Anfang der 80er Jahre! 520 Der Staat kontrollierte also entgegen dem neuen Gesetz die gesamte Literaturproduktion: Die Zensurbehörde hatte vor der Auslieferung Zugriff auf jedes Buch, denn die Verlage mußten sechs Exemplare bei der Zensur hinterlegen. Damit die Zensoren genügend Zeit hatten, ein Buch auf seine „Subversivität" zu prüfen, galt eine Frist von j e einem Tag pro 50 Seiten vor der Auslieferung. 521 Falls die Zensoren ein Buch für strafbar hielten, waren sie befugt, selbst ohne Gerichtsurteil die Beschlagnahmung zu veranlassen {Ley de Prensa e Imprenta, Art. 64). Gegen pornographische oder politisch subversive Bücher konnten sie aber auch gerichtlich vorgehen. Verleger auf der Anklagebank blieben dennoch eher die Ausnahme, denn die Beschlagnahmung eines mißliebigen Buches verursachte weniger Aufsehen als ein Prozeß. Meistens drückte sich die Zensurbehörde in solchen Fällen jedoch vor einer eindeutigen Entscheidung und bewahrte „amtliches Stillschweigen" (silencio administrativo) - eine Möglichkeit, Mißfallen einem Buch gegenüber auszudrücken, ohne selbst aktiv zu werden: Das Buch konnte zwar erscheinen, aber der Verlag riskierte, daß es im nachhinein beschlagnahmt wurde. Trotzdem gab es einzelne Gerichtsverfahren gegen Verleger oder Autoren sogar noch nach Francos Tod: So verurteilte das Oberste Gericht 1976 einen Mitarbeiter des Verlags Grijalbo, weil er ein Buch des Amerikaners Edwin Padiman publizierte, in dem „zahlreiche Szenen sexueller Entfesselung und makaberer
519
Vgl. die Aussagen der Schriftsteller in den Interviews von Beneyto (1975). So meint Francisco Candel (S. 36): „En cierto modo, sí era mejor la censura de Arias-Salgado, pues tú escribías un libro, lo enviabas y se acabó la historia: prohibían y tachaban o no, y ellos eran los responsables y los de la mala conciencia. Pero la censura posterior, la que implantó Fraga y han seguido los demás, es más sutil, porque ... no son ellos los que te censuran algo que tú ya te autocensuraste cuando lo escribiste, sino tú." („Die Zensur unter Arias-Salgado war in gewisser Weise besser, denn du schriebst ein Buch, schicktest es an die Zensur und damit hatte sich der Fall: Sie verboten es oder strichen einzelnen Stellen oder auch nicht, aber sie trugen die Verantwortung und das schlechte Gewissen. Die darauffolgende Zensur von Fraga und den übrigen Ministern arbeitete hingegen subtiler, weil... nicht sie dich zensierten, sondern du dich selbst, der du dich schon beim Schreiben zensiert hast.")
520
Die Begründung von Robles-Piquer zu diesem Sachverhalt lautet: „Eso no es censura, sino que el Estado toma una postura en contra de cada libro." („Das ist nicht Zensur, sondern einfach eine Stellungnahme des Staates zu jedem Buch.") Interview vom 17. Mai 1994.
521
Boletín Oficial del Estado, 19. März 1966, Art. 12, S. 480.
VII. Die Spätphase (1966-1975)
211
Realismus" vorkamen.522 Das Urteil fiel außergewöhnlich hart aus und signalisierte eine anachronistische Bekräftigung der alten Zustände: drei Monate Gefängnis, eine Strafe von 10.000 Peseten oder ersatzweise einen Monat Haft bei Nichterfüllung der Geldstrafe und neun Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. Cisquella et alii fanden durch eine Umfrage unter den Verlegern Hinweise, daß zwischen den Zensoren und den Beamten des Gerichts für öffentliche Ordnung - vor allem in der letzten Phase der Zensurverschärfung - offenbar eine enge Zusammenarbeit bestand.523 Besonders mißliebige Verlage konnten sogar geschlossen werden. Aber bei kleinen und finanzschwachen Verlagen wie Ediciö de Materials, Ediciones de Cultura Populär oder Ciencia Nueva reichte es, mehrere Bücher zu suspendieren, um den Bankrott dieser Häuser zu beschleunigen.524 Als zusätzliche Repressalie wurde die obligatorische Eintragung der Verlage in das staatliche Register gehandhabt: Kritischen Verlagen wurde die zur Publikation erforderliche Registernummer schlicht verweigert. Ohne diese Nummer durften sie - entgegen dem neuen Pressegesetz - nur dann publizieren, wenn sie ihre Werke der Zensur vorlegten. Das renommierte Haus Seix Barrai bewegte sich noch bis 1968 in diesen halblegalen Bahnen.525 Diese Haltung zeigt, daß sich das Regime bei allen Kontroll Vorkehrungen, die das Gesetz ohnehin bietet, noch bis in die 70er Jahre vor einem wirklich pluralen Diskurs schützen zu müssen glaubte. Erst der Generaldirektor für Volkskultur, Ricardo de la Cierva, schuf 1974 die indirekte Zensur durch die Verweigerung der Registernummer ab. Trotz dieser recht bescheidenen Öffnung reagierten konservative Kreise rechts von den amtierenden Politikern darauf mit hysterischer Empörung. 1963 verbot der Bischof der Kanarischen Inseln den Gläubigen den Film Bonjour Tristesse. In einem Hirtenbrief rief er ihnen angesichts der nach seiner Ansicht verlotterten
522
Das Urteil ist abgedruckt in einem Aufsatz des letzten Generaldirektors für Volkskultur, Miguel Cruz Hernández: „Del deterioro al desmantelamiento: los últimos años de la censura de libros", in: Manuel L. Abellán (Hg.): Diálogos Hispánicos de Amsterdam 5: Censura y literaturas peninsulares. Amsterdam 1987, S. 52f. Robles-Piquer meint hingegen, daß die Gerichte nicht immer zugunsten des Regimes entschieden hätten. Er berichtet von einem Verfahren gegen den Soziologen Elias Díaz, das angeblich der Autor gewann. Der Chefzensor selbst hatte Anzeige erstattet, weil er in einem Buch des Soziologen, das für die Demokratie plädierte, „Angriffe auf die Regierung" witterte, Interview vom 17. Mai 1994.
523
Cisquella et alii 1977, S. 50.
524
Ebenda, S. 60-64.
525
Ebenda, S. 56. Weitere Beispiele für die Diskriminierung linker Verlage durch diese Praxis S. 53-59. Die Zensurbehörde forderte sogar ein Polizeigutachten über den Verleger an, bevor sie den Verlag ins Register aufnahm.
212
Gabriele Knetsch
Zustände bei der staatlichen Zensur wieder die Orientierung an der Kirchenzensur ins Gewissen: 5 2 6 Peca mortalmente todo el que se proponga escoger como única norma de conciencia la censura de la referida Junta estatal, prescindiendo voluntariamente de las calificaciones dadas por los órganos oficiales de la Iglesia. (Derjenige begeht eine Todsünde, welcher vorsätzlich als einzige Gewissensnorm die staatliche Zensur zu Rate zieht und willentlich die Bewertungen der offiziellen Kirchenorgane mißachtet.) Gegen diese und ähnliche Vorwürfe reaktionärer Katholiken verteidigte sich die Generaldirektion für Film und Theater mit einem „Bericht Uber die Zensur von Film und Theater". 527 Der Autor des Berichts, wahrscheinlich der Direktor für Filmzensur García Escudero selbst, versuchte die Kritiker der Öffnungspolitik davon zu überzeugen, daß die neue Zensur keineswegs sehr viel laxer vorging als unter Arias-Salgado: Von den 2 8 autorisierten Filmen, die jene Moralapostel als „wahrhaft skandalös" und „äußerst schädlich" bezeichneten, waren laut Bericht bereits 17 von der vorangehenden Zensorenmannschaft zugelassen worden. Außerdem plädiert der Bericht für eine Nuancierung der Kriterien gemäß der Formel von der „intelligenten Zensur". Schließlich wies der Verfasser ausdrücklich auf den Unterschied zwischen den Kriterien der Kirchenzensur und der staatlichen Zensur hin: 528 Si bien es cierto que un Estado católico, como el nuestro, debe prohibir lo gravemente inmoral, no puede una censura civil ser tan exigente como la censura de carácter religioso, dedicada a orientar y formar la conciencia de los fieles ... La censura oficial del Estado tiene una misión fiscalizadora y tutelar de carácter amplio y de sentido no exclusivamente religioso y moral. (Obwohl natürlich ein katholischer Staat wie unserer alles schwerwiegend Unmoralische verbieten muß, kann eine zivile Zensur nicht so anspruchsvoll sein wie eine Zensur religiösen Charakters, die dafür da ist, das Gewissen der Gläubigen zu orientieren und zu formen ... Die offizielle Staatszensur hat die Funktion zu überwachen und zu schützen und zwar nach umfassenden Kriterien, nicht ausschließlich im religiös-moralischen Sinn.) Am Ende geht der Verfasser des Berichts zum Frontalangriff gegen die orthodoxen Kritiker Uber und distanziert sich deutlich von der Auffassung AriasSalgados: Die Verantwortung fUr das Seelenheil liege allein bei den Gläubigen selbst und nicht beim Staat. Oft seien die, die sich Uber bestimmte Werke aufregten, die ersten, die hingingen, um sie zu sehen.
526
Zitiert in Gubern 1981, S. 199.
527
Ministerio de Información y Turismo, Dirección General de Cinematografia y Teatro: Informe sobre la censura cinematográfica y teatral. Madrid o. J. (ca. 1963).
528
Ebenda, S. 9f.
VIL Die Spätphase (1966-1975)
213
Aber solche Argumente nützten wenig, denn 1969 entzog Franco „dem Informationsminister Fraga das Vertrauen"529 und besetzte den Posten mit dem ultrakonservativen Opus De;-Mitglied Alfredo Sánchez Bella. Es begann eine neue „Hexenjagd", 530 und die kulturelle Repression nach Fraga ähnelte der Zeit vor dem Pressegesetz von 1966. Diese „Etappe des Rückschritts" war gekennzeichnet durch die Zunahme von Verboten, Streichungen und Konflikten mit Autoren und Verlegern. Von da an führten schnelle Personalwechsel zur instabilen Zensursituation des Regimes in seinen letzten Lebenszügen: Die Zensoren reagierten nervös, ließen kritische Bücher mal passieren, mal verboten sie sie. Die Autoren zensierten sich dagegen kaum mehr selbst und betrachteten die Zensur als reine Formalität, so die übereinstimmenden Aussagen von ganz unterschiedlichen Autoren wie Torrente Ballester, Vázquez Montalbán und Juan Marsé.531 Nach dem Tode Carrero Blancos im Jahre 1974 trat Pío Cabanillas, ein ehemaliger Mitarbeiter Fragas, das Amt des Informationsministers an. Er setzte den liberalen franquistischen Historiker Ricardo de la Cierva als Generaldirektor für Volkskultur ein. Beide wollten das kulturelle Niveau der Bevölkerung heben. Dazu gehörte laut Pío Cabanillas vor allem eine Lockerung der Zensur:532 Es indispensable que la sociedad permita un cierto grado de inquietud, ligada a la permanente búsqueda del equilibrio, y rechace la fórmula simple de que la menor alteración deba ser tratada siempre como desorden. (Es ist unerläßlich, daß die Gesellschaft einen gewissen Grad an Unruhe zuläßt, die mit der ständigen Suche nach einem Gleichgewicht verbunden ist, und daß sie die simple Formel zurückweist, nach der die geringfügigste Veränderung immer als Unordnung behandelt werden muß.) Der wütende Protest der Ultrarechten blieb nicht aus: Faschistische Terroristen der Organisation Fuerza Nueva beantworteten solch liberale Töne mit Bomben. 533 Politiker des sogenannten „Bunkers" wie Blas Pifiar, Antonio Girón oder der faschistische Dichter José María Pemán konterten mit scharfen publizistischen Attacken. So schrieb Blas Piñar im September 1974 mit drohendem Unterton in der Zeitschrift Fuerza Nueva:534
529
Interview mit Robles-Piquer vom 17. Mai 1994. Robles-Piquer meint, daß Franco sich selbst kaum in die Kommunikationspolitik eingemischt habe. Er ließ einen Minister gewähren, solange er ihm vertraute. Sobald er ihm nicht mehr vertraute, ersetzte er ihn durch einen neuen Mann seiner Wahl.
530
Cisquella et alii 1977, S. 69, und Abellán 1980, S. 232.
531
Interviews dieser drei Autoren mit der Verfasserin.
532
Zitiert bei Amando de Miguel: Sociología del franquismo. Análisis ideológico de los ministros del régimen. Barcelona 1975, S. 356.
533
Cisquella et alii (1977: 122-125) nennen Beispiele filr die rechten Anschläge gegen die linke Kultur.
534
Zitiert bei de Miguel 1975, S. 360.
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Gabriele Knetsch
El proyecto de democratización que usted propugna no puede ser otro que la transformación en una democracia inorgánica y liberal, que nosotros rechazamos. (Die Pläne zur Demokratisierung, die Sie vorschlagen, können nur eine Umwandlung des Staates in eine unorganische und liberale Demokratie bedeuten, die wir verschmähen.) Interessant ist nicht so sehr, daß solche Sätze noch 1974 geäußert wurden, sondern daß die Regierung, die angeblich westlich-demokratische Maßstäbe vor Augen hatte, ihren Vertretern Gehör schenkte. Ende des Jahres setzte Franco den reformfreudigen Pío Cabanillas ab und den reaktionären León Herrera ein. 1975 wurde die Schraube nach dem Erlaß des „Gesetzes filr Vorkehrungen gegen den Terrorismus" in der Zensurpolitik noch einmal angezogen. Der letzte Zensurchef zu Francos Lebzeiten, Miguel Cruz Hernández, leitete schließlich zur Normalisierung Uber und versuchte, die gesellschaftliche Realität endlich mit dem Gesetz in Einklang zu bringen: Er lehnte jegliche Form von Vorzensur ab und forderte die Verleger auf, nicht mehr von der „freiwilligen Konsultation" Gebrauch zu machen. Allerdings wurden unter seiner Amtszeit noch besonders viele Bücher beschlagnahmt, da die Zensur sie vorher nicht mehr kontrollierte. Kulturpolitik „Dialog" hieß das Schlagwort in der Fraga-Ära. Robles-Piquers „Politik des Dialogs" ist diesem neuen Geist ebenso verpflichtet wie die filr die Zeit symptomatische Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Cuadernos para el Diálogo. Sie wurde 1963 von Ex-Minister Ruiz Giménez in der Absicht gegründet, dem franquistischen Monolog einen wahrhaft pluralistischen Diskurs entgegenzusetzen. Nachdem sein Versuch aus den SOer Jahren, einen Dialog zwischen Regierung und rebellierenden Studenten herzustellen, 1956 noch mit seiner Absetzung bestraft worden war, standen die Cuadernos para el Diálogo im Zeichen einer erneuten vorsichtigen Öffnung - diesmal nicht bloß kultureller, sondern auch politischer Art. Die Zeitschrift sollte einerseits verschiedenen Richtungen der Opposition ein Forum gewähren, aber zugleich das Regime nicht ausschliessen. 535 Die Entwicklung der Cuadernos spiegelt schließlich die politisch-kulturelle Entwicklung des ganzen Landes wider: Die Zeitschrift begann mit einer christdemokratischen Ausrichtung und der überwiegenden Mitarbeit von Regimevertretem, doch sie schlug im Laufe der Zeit immer radikalere Wege ein. 536 Das
535
Vgl. Díaz 1978, S. 174 f. Gumbrecht (1990: 1024) weist zu Recht daraufhin, daß das Wort „Dialog" immer auch die Möglichkeit impliziere, daß das orthodoxe Weltbild eine Bestätigung erfahre. Man kann daher im Titel der Zeitschrift durchaus eine Umgehungsstrategie sehen, um die Zensur vom regimefeindlichen Inhalt der Zeitschrift abzulenken.
536
Mangini (1987: 173) definiert die Richtung der Zeitschrift als Kreuzung zwischen christlichem Liberalismus und Marxismus. Das Verdienst von Cuadernos, so unterschiedliche Richtungen zusammenzubringen, war um so größer, als die verschiedenen Strömungen der Opposition uneinig waren und kaum zusammenarbeiteten. Die Zeit-
VIL Die Spätphase (1966-1975)
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Ziel der Redaktion war die Demokratisierung des Landes. Die Zeitschrift erfüllte - zusammen mit zahlreichen anderen neugegründeten Publikationen und kritischen Verlagen Anfang der 60er Jahre - die Funktion eines Parlaments auf dem Papier, denn diese Medien schafften eine öffentliche Meinung, die vom Regime bisher übergangen und als nichtexistent betrachtet wurde. Das Pressegesetz hatte zwar keine wirklich liberale Kommunikationspolitik ermöglicht, aber - vielleicht gegen den ursprünglichen Willen seiner Urheber - die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Autoren mit der gesetzlich versprochenen Pressefreiheit Ernst machten, denn die Presse nutzte die gesetzlich zugesicherte Freiheit und berichtete Uber gesellschaftliche Mißstände. Damit machte sie die novela social der 50er Jahre überflussig, die nun immer mehr an Attraktivität verlor. Selbst unter Autoren, die vorher diese Richtung verteidigten, geriet das gesellschaftliche Engagement des Künstlers ins Kreuzfeuer der Kritik, nachdem sich gezeigt hatte, daß nicht der naive Sozialrevolutionäre Glaube der Schriftsteller, sondern Wirtschaftswachstum, Industrialisierung und die Zunahme des Bildungsniveaus die soziale Situation in Spanien verbessert hatten. Desillusioniert schreibt Juan Goytisolo, dessen frühe Werke unter sozialrealistischem Vorzeichen standen: 537 ... resulta risible la pretensión del autor de una novela o de un libro de poemas con tiradas de 1500 a 3000 ejemplares, de transformar mediante su obra algo tan vasto y complejo como la realidad española. (... wie lächerlich wirkt der Anspruch eines Roman- oder Gedichtautors mit Auflagen zwischen 1500 und 3000 Exemplaren, mittels seiner Werke etwas so Weitgreifendes und Komplexes wie die spanische Wirklichkeit zu ändern.) Es reichte nicht mehr, die Mißstände zu beschreiben, sie mußten auch reflektiert werden, wie dies Martín-Santos exemplarisch vorgeführt hatte. Essays in der Richtung von christlichem Marxismus, Psychoanalyse oder marxistischer Philosophie kamen in Mode. 3 3 8 Die Romanciers wandten sich hingegen stärker ästhetischen und erzähltechnischen Fragen zu. Sie rezipierten und imitierten den Strukturalismus und natürlich den nouveau roman. Die Demythifizierung wird zu einem Charakteristikum jener zwar immer noch sozialkritischen, aber gegenüber vereinfachenden Modellen skeptischer gewordenen Intellektuellen. 539 Der Verlag
schrift Cuadernos wirkte dagegen auf eine Vereinigung aller oppositionellen Gruppen hin mit dem Ziel, langsam einen demokratischen Wandel durchzusetzen. 537
Zitiert in: E. García Rico: Literatura y política - en torno al realismo español. Madrid 1971, S 16.
538
Einen Überblick über die Literaturproduktion der späten 60er Jahre vermittelt Miguel Angel Garrido Gallardo in: Literatura y sociedad en la España de Franco. Madrid 1976, S 131-150. Vgl. auch Zensurkriterien von 1966.
539
Andere Autoren folgten Martín-Santos auf diesem Weg: zum Beispiel Juan Goytisolo mit Seras de identidad oder Juan Marsé mit Últimas tardes con Teresa. Mangini
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Gabriele
Krutsch
kam w i e d e r seiner Vorreiter-Rolle nach und wandte sich v o m Sozial-
roman ab. Im K a t a l o g v o n 1 9 6 9 legte er s e i n e A m b i t i o n e n dar, eine n e u e Kultur z u verbreiten, d i e das R e g i m e bisher in z u e n g e n G r e n z e n gehalten hatte Der umständliche Stil, die Ubervorsichtigen A n s p i e l u n g e n a u f die kulturelle L e e r e der N a c h k r i e g s z e i t und d i e Zerrissenheit der s p a n i s c h e n Literatur durch die Exdverlage sind ein H i n w e i s darauf, d a ß zu o f f e n e Kritik an der Kulturpolitik d e s R e g i m e s n o c h gefährlich w e r d e n konnte: 5 4 0 La cultura literaria de lengua española ha padecido, en los años de la postguerra civil y después, las inevitables consecuencias del aislamiento con respecto a los fenómenos humanísticos del mundo contemporáneo y de la dispersión de las actividades editoriales en núcleos editoriales separados de continente a continente que no han conseguido unificar sus mercados. La más evidente de estas consecuencias ha sido la total marginación de la sociedad literaria española, es decir, del conjunto de lectores de España, durante muchos años, de las tendencia;, modos y modas de la literatura y del pensamiento contemporáneo mundiales. La idea rectora de Biblioteca Breve ha sido la de incorporar a las posibilidades del lector español las obras y los autores más representativos de las vanguardias literarias y humanísticas de otras culturas y favorecer aquellos intentos literarios nacionales que trabajan en línea de alguna de esas vanguardias. (Die literarische Kultur in spanischer Sprache erlitt in den Jahren nach dem Birgerkrieg und danach die unvermeidbaren Folgen der Isolierung im Hinblick auf die geisteswissenschaftlichen Phänomene der zeitgenössischen Welt und die Verteilung der Verlagsaktivitäten auf Verlagseinheiten, die von Kontinent zu Kontinent getrennt sind, ohne es geschafft zu haben, ihre Märkte zu vereinigen Die offensichtlichste Folge war jahrelang die völlige Abschottung der literarischen Gesellschaft in Spanien, sprich: der spanischen Leser, von Tendenzei, Techniken und Moden in der Literatur und im zeitgenössischen Denken in der Welt. Die Leitidee der Biblioteca Breve [Literaturreihe bei Seix Barrai, d.V.] war es, dem spanischen Leser die Lektüre der Werke und Autoren zu ermöglichen, die für die literarischen und geisteswissenschaftlichen Avantgarden der anderen Kulturen besonders repräsentativ sind, und jene nationalen Literaturversuche zu fördern, die auf der Linie dieser Avantgarden arbeiten.) A b e r nicht b l o ß Autoren, V e r l e g e r und Politiker, sondern auch die L e s e r änderten sich. D a s veränderte g e s e l l s c h a f t l i c h e K l i m a und der Durchbruch des T a s c h e n b u c h s trug z u einer größeren A u f k l ä r u n g der B e v ö l k e r u n g bei: Au; der a h n u n g s l o s e n , evasionsorientierten
Leserschaft der N a c h k r i e g s z e i t war inzwi-
s c h e n e i n e politisch interessierte, literarisch g e b i l d e t e L e s e r g e m e i n s c h a f t v i e in anderen europäischen Ländern h e r a n g e w a c h s e n . V á z q u e z Montalbán s p r i c h v o n einer „demokratischen literarischen G e s e l l s c h a f t " . 5 4 1 D i e Leser hatten in langwährender K o m p l i z e n s c h a f t z u s a m m e n mit den Autoren gelernt, w i e kodierte
(1987: 154) spricht von einer „Literatur der Entmythifizierung", die mit Humor unl Ironie gegen die reaktionären Mythen in der spanischen Gesellschaft anschreibe. 540
Seix Barrai: Catálogo
541
Interview mit Manuel Vázquez Montalbán vom 1. März 1994.
Generaide
Publicaciones.
Frühling 1969, S. 10.
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Botschaften dekodiert werden mußten, um am Monolog des Regimes vorbei einen pluralen Diskurs zu etablieren.
1.3. Das Literaturangebot Im Seix Barrai-Katalog von 1969 wurden elf politische Essays, alle unter linkem bis offen marxistischem Vorzeichen, angeboten.542 Titel wie Eros und Zivilisation von Herbert Marcuse, Sowchosen und Kolchosen, eine Studie über die sowjetische Wirtschaft von René Dumont oder das Buch des Historikers E. H. Carr, Was ist Geschichte? Eine Reflexion über Zweck und Methode der historischen Wissenschaft vom marxistischen Standpunkt aus waren nun an der Tagesordnung. Die neue Toleranz des Zweiten Vatikanischen Konzils ließ sich an religionskritischen Büchern wie Religiöse Bewegungen zur Freiheit und Erlösung der unterdrückten Völker ablesen. In der Belletristik verlegte Seix Barrai 1969 die in Mode gekommenen lateinamerikanischen Schriftsteller, aber auch Autoren aus sozialistischen Ländern wie Anna Seghers oder Vladimir Tendriakov. Im Katalog von 1972 fallen insbesondere die Werke früher verbotener spanischer Exilautoren wie Max Aub, Francisco de Ayala oder Corpus Barga auf.543
1.4. Die Zensurkriterien Nur noch 43% aller von den „Lektoren" beanstandeten Verstöße wurden 1966 tatsächlich geahndet, je zur Hälfte durch Streichungen und Verbote (1961 betrug die Sanktionsquote noch 63%).544 Man kann von einem positiven Effekt des neuen Pressegesetzes sprechen, wenn man einerseits das sehr viel kritischere Literaturangebot und andererseits die gesunkene Zensurrate in Rechnung stellt. Ein weiteres Indiz filr den frischen Wind liefern die Zensurgutachten selbst: Die Zensoren bezogen sich darin wiederholt auf den neuen Geist des Gesetzes. Das galt vor allem für den Zensurchef, der aufgrund der neuen Regelung häufig zu strenge Urteile der einfachen „Lektoren" revidierte. Aber auch einige „Lektoren" vollzogen den Wandel in der Informationspolitik mit. So schlägt der vorher so gestrenge Kirchenzensor Padre Aguirre kühn die Autorisierung einer Umfrage unter französischen Mädchen zu ihrem Liebesleben vor (das offenherzige Buch wird dann allerdings doch verboten):545 Esta obra hubiera sido denegada antes de la nueva Ley de Imprenta; pero como el autor no aprueba la conducta de las chicas interrogadas, antes bien parece con542
Im Resümee zur literarischen Entwicklung von 1968 weist Seix Barrai explizit auf das große Interesse an Büchern zu politischen Themen hin, in: Catálogo General de
Publicaciones. Frühling 1969, S. 15. 543
Seix Barrai: Lista de precios. August 1972.
544
Es wurden wieder 50 Zensurgutachten aus den insgesamt 8852 Gutachten des Jahres 1966 ausgewertet, also jedes 177. Gutachten wurde berücksichtigt.
545
Exp. 6726, AGA 17.621, 1966, Natacha y Jean Duche: Hablan unas jóvenes.
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denarla ... yo creo que no hay en realidad fundamento para prohibir judicialmente su publicación. (Früher, vor dem neuen Pressegesetz, wäre dieses Werk verboten worden, aber da der Autor nicht das Verhalten der befragten Mädchen billigt - eher scheint er es zu verurteilen ... - glaube ich, daß es eigentlich keine Grundlage gibt, seine Veröffentlichung rechtlich zu verbieten.) Angriffe auf das politische Dogma Trotz der neuen Öflfhungspolitik hielt die Zensurbehörde die zentralen politischen Tabus aufrecht, die auch unter Fraga weiterhin streng kontrolliert wurden: Nach wie vor war eine kritische Auseinandersetzung mit der franquistischen Seite im Bürgerkrieg unmöglich.546 Die angemessene Darstellung der spanischen Geschichte und des Spanischen Bürgerkrieges wurden immer noch streng kontrolliert. Eine Biographie über Garcia Lorca wurde verboten, weil das Buch über die Schuld der Falange an seinem Tod berichtete. Der andalusische Dichter galt als Märtyrer der Linken und Symbol für die Kriegsgreuel der Franquisten, daher galt sein Tod noch 1966 als offizielles Tabu. Auch Anspielungen auf die faschistische Vergangenheit des Regimes und die Repression in der Nachkriegszeit unterdrückte die Zensur weiterhin. Allerdings forderte sie in historischen Werken nicht mehr die Verherrlichung der spanischen Vergangenheit. 547 Außerdem waren Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg offenbar nicht mehr so streng an den offiziellen Sprachgebrauch gebunden. Die Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges von J. M. Gómez Talavera A Concise History of Spain - eine interessante Parallele zu dem fünf Jahre zuvor erschienenen Werk von Bolloten - kam trotz zahlreicher Beanstandungen ohne Streichungen durch die Zensur, obwohl der Autor positiv von PSOE-Gründer Pablo Iglesias sprach, die Falange als „ultranationalistisch" und den Sieg der Volksfront von 1936 als rechtmäßig bezeichnete. 548 Bei fiktionalen Texten reagierten die Zensoren jedoch weiterhin empfindlich auf das Thema „Spanischer Bürgerkrieg", das von immer mehr Schriftstellern in der Endphase des Franquismus kritisch behandelt wurde. Wie die Längsschnittanalyse zeigt, mußten alle Autoren, die sich unverhüllt negativ über die Rolle der Sieger äußerten, Strei-
546
Vgl. exp. 7976, AGA 17.734, 1966, Fernando Vázquez Ocafla: Garcia Lorca.
547
Über kritische Äußerungen zur Inquisition sah der Zensor des Buches Los castillos y la corona von Towsend Miller großzügig hinweg: „De cualquier modo, ya se sabe que no hay unanimidad en todas las apreciaciones de los grandes reinados y de los personajes y acciones que en ellos destacaron." („Es ist ja schon bekannt, daß es keine einheitlichen Wertschätzungen über die großen Königreiche und über die Personen und Handlungen, die in ihnen hervortraten, gibt.") Exp. 4821, AGA 17.474, 1966.
548
Exp. 4945, AGA 17.486, 1966.
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chungen hinnehmen - sogar der im Hinblick auf die Bücherzensur eher unproblematische Miguel Delibes. 549 Unter die Feindbilder des Franquismus fallen in der Spätphase insbesondere nationalistische Veröffentlichungen von Katalanen und Basken. Das neuerwachte Selbstbewußtsein der nichtspanischsprachigen Landesteile zeigte sich an der Zunahme nationalistischer Texte: Immerhin drei von 58 Texten sind der Eigenständigkeit Kataloniens gewidmet. Alle drei wurden als „separatistisch" verboten. So mußte ein Verlag zum Beispiel einen Buchumschlag ändern, weil darauf eine jubelnde Menschenmasse zusammen mit einer katalanischen Fahne abgebildet war. 550 Kommunismus und Marxismus blieben auch unter Fraga Tabus, allerdings hatte sich die Zensurpraxis hier deutlich gelockert - vermutlich schon aufgrund der Masse an vorgelegten Werken dieser Richtung. Die Zensoren autorisierten 1966 eine Essay-Sammlung unter dem Titel El marxismo de nuestro tiempo und begründeten die Autorisierung etwas umständlich mit dem Argument, es handle sich nicht um den „klassischen Marxismus oder die modernen totalitären kommunistischen Ideologien, sondern um eine wichtige aktuelle Strömung in Europa, die innerhalb der sozialistischen Bewegung politischen Pluralismus fordert". 551 Dies stellte eine beachtliche Entwicklung dar, wenn man bedenkt, daß immer noch das „Gesetz gegen Pornographie und Kommunismus" von 1936 in Kraft war. Von insgesamt neun Werken mit offen marxistischem Inhalt aus der Stichprobe wurden immerhin sieben autorisiert mit Argumenten wie „es handelt sich nur um eine kühle Beschreibung", „ohne universalen Anspruch" oder „ohne ideologischen Marxismus". Über die beiden übrigen marxistischen Werke fielen die Zensoren jedoch her, als gelte es, den Teufel mit dem Weihwasser auszutreiben. Eine Darstellung der Russischen Revolution durfte nicht erscheinen, da es sich angeblich um „eine klare Verherrlichung der Sowjetunion" handlte. Eine kommunistische Wirtschaftstheorie wurde verboten, weil sie „in der Wirtschaftspolitik Prinzipien vertritt, die der traditionellen Doktrin entgegenstehen" und das Buch eine „klare, einfache und treue Darstellung der marxistischen Lehre" sei. 552 Offenbar ver549
In seinem El principe destronado wird eine „tendenziöse Anspielung auf unseren Krieg" gestrichen, exp. 14.400, caja 875, 1973. Vgl. dazu auch Kap. VII.3. „Reaktion der Zensur auf andere Romane".
550
Exp. 7073, AGA 17.657, 1966, Rafael Tasis: Tres.
551
Exp. 8672, AGA 17.796, 1966, Gilles Martinet: El marxismo de nuestro tiempo, span. Orig.: „Ensayo dentro de la línea del pensamiento marxista. No se trata, sin embargo, del marxismo clásico o de las modernas ideologías totalitarias comunistas, sino de una corriente imperante hoy dia en Europa en la que se reclama dentro del movimiento socialista el pluralismo político".
552
Exp. 5850, AGA 17.561, 1966, Giussep Bofta: Etapas de ¡a revolución rusa sowie exp. 4425, AGA 17.435, 1966, John Eaton: Economía Política.
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suchte die Zensur, bei Werken mit marxistischem Inhalt eine Scheidelinie zu ziehen zwischen solchen, die diese Ideen nur „objektiv" darstellten und solchen, die sie verherrlichten und dadurch „illegale Propaganda" betrieben. Wie marxistische Ideen in der Belletristik zensiert wurden, zeigt die Längschnittanalyse: Ana María Matutes Roman Los soldados lloran de noche kommt durch die Zensur, obwohl sie einen Anhänger der Kommunisten positiv darstellt, allerdings nach Einschätzung der Zensur „ohne politische Tendenz". 553 Mit Manuel Vázquez Montalbáns Manifiesto subnormal, einer bunten Collage aus Zitaten von Lenin, Ché Guevara, der Pasionaria und Picasso, konnte die Zensur offensichtlich nicht allzuviel anfangen; sie drückte sich durch „amtliches Stillschweigen" um die Entscheidung herum. 554 Die Kritik an der aktuellen Politik des Regimes provozierte inzwischen sehr viel weniger Probleme als noch 1961. Über Themen wie die Studentenunruhen an spanischen Universitäten, die Benachteiligung der Frau in der machistischen Gesellschaft oder die Kritik am kapitalistischen System konnten sich die Leser inzwischen sogar aus der Presse informieren, und solange die Autoren nicht eindeutig das Regime verantwortlich machten, schien die Zensur hier die Toleranzschwelle weiter hinauszuschieben. Angriffe auf die Katholische Kirche Die Zensur aus religiösen Gründen funktionierte ebenfalls weniger streng als 1961 (nur vier von zwölf beanstandeten Verstößen wurden tatsächlich geahndet). Die staatlichen Zensoren verwiesen hierfür auf die Kirchenzensur. Dennoch durfte man die Werte der Kirche wie bisher nicht in Frage stellen. In einem FBIRoman strichen die Zensoren die Parallele zwischen einer lasziven Liebhaberin mit der biblischen Eva, weil sie als Verunglimpfung der Bibel empfunden wurde. 555 Negative Darstellungen von Kirchenangehörigen schienen etwas laxer gehandhabt zu werden, aber in Kinderbüchern achteten die Zensoren offenbar noch genau auf eine respektvolle Darstellung des Geistlichenstandes. 556 Die ka-
553
Exp. 6624, AGA 14.863, 1963.
554
„Ein perfekt angemessener Titel", so das frustrierte Urteil des Zensors, exp. 702, caja 43, 1970.
555
Exp. 3363, AGA 17.327, 1966, Franciso Gonzalez Ledesma: Protagonista: Clive. Die gestrichene Stelle lautet: „La chica saltó de la cama. Clive sintió ganas de llamarla Eva. Porque Eva debió hacer así su aparición en el mundo." („Das Mädchen sprang aus dem Bett. Clive hatte Lust, sie Eva zu nennen. Denn Eva mußte so ihre Erscheinung in der Welt vollzogen haben.").
556
Ein Kinderbuch von Alexandre Dumas, Veinte años después, wird verboten, weil darin die Geldgier der Kardinäle und ein ehrgeiziger, revolutionärer Priester dargestellt werden: „La temática, por tanto, no es adecuado para lectores juveniles". („Die Thematik ist daher nicht für jugendliche Leser geeignet.") Exp. 8510, AGA 17.781, 1966.
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tholische Glaubenslehre durfte weiterhin nicht in Frage gestellt werden: Die Zensur strich ein Kapitel in einem medizinischen Fachbuch, in dem der Autor naturwissenschaftliche Erklärungen ftlr die Wunder Jesu entwickelte. Mit Verbot reagierte die Zensur auch auf ein Buch, in dem die christliche Lehre durch die Darstellung feiger, verführbarer und eigensüchtiger Priester im Bürgerkrieg abgewertet wurde. 557 Angriffe auf die Moral Im Hinblick auf die Moral herrschte unter Fraga offensichtlich mehr Toleranz, vor allem bei der Zensur unmoralischer Handlungen. Selbstmord, Duell und Ehebruch wurden häufig nicht mehr gestrichen, solange sie nicht explizit positiv gewertet wurden. Selbst die Scheidung akzeptierten die Zensoren - vorausgesetzt, die Trauung war nicht kirchlich vollzogen (was in Spanien de facto kaum vorkam). Die neue Großzügigkeit wird durch die Behandlung des einstigen TabuAutors Stendhal besonders deutlich. Die Zensoren lasen ihn zwar weiterhin mit größtem Mißtrauen, doch es fehlte die gesetzliche Grundlage, um gegen ihn vorzugehen. In diesem Sinne lautete das Gutachten zu Armancia:558 No voy a decir que esta novela como toda la obra de Shtendall (sie!) sea recomendable pero, lo que si es cierto que no hay reparos que hacerle al menos desde nuestro punto de vista, porque el tal duelo está ahí sin ninguna valoración, lo del matrimonio es muy corriente hoy día también. (Ich will nicht behaupten, daß dieser Roman - wie das Gesamtwerk von Shtendall (sie!) - empfehlenswert wäre, aber unserer Meinung nach kann man ihm auch bestimmt keine Einwände entgegenhalten, denn das Duell ist ohne Werturteil beschrieben und das mit der Ehe [Kritik an der Institution der Ehe, d.V.] ist heutzutage auch sehr üblich.)
Offensichtlich hatten die Zensoren inzwischen auch den Trick der Trivialautoren durchschaut, in ihren Romanen handfeste Erotikszenen zu verstecken, denn im Jahr 1966 verboten sie solche Bücher häufig wegen illegaler Pornographie (drei von vier Verboten aus moralischen Gründen treffen diese Art von Billigliteratur). In der gehobenen Belletristik wurden erotische Stellen hingegen einfach nur gestrichen, so im Klassiker Geschichten aus Tausend und einer Nacht. Angriffe auf die Institutionen und Gruppierungen des Regimes Hier änderte sich die Zensurpraxis kaum, denn die Zensoren reagierten auf solche Verstöße immer noch äußerst empfindlich. Ein katalanischer Autor erlaubte sich in einem - ansonsten unpolitischen Roman - einen Scherz auf eine ungehobelte Generalsgattin. 559 Der „Lektor" vermutete darin eine tendenziöse Absicht, den
557
Exp. 5650, AGA 17.543, 1966, Brian Inglis: Historia de la medicina sowie exp. 5303, AGA 17.514, 1966, Juan García Perez: El pecado del justo.
558
Exp. 2315, AGA 17.621, 1966.
559
Exp. 1950, AGA 17.178, 1966, Lorenzo Sant Marc: Temps enrera.
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Stand des Militärs zu verunglimpfen. Dennoch mußte die Stelle nicht gestrichen werden - die Anspielung war vermutlich tatsächlich zu harmlos. Kontrollstichprobe von 1973 - die Schraube wird wieder angezogen Die zehn zufällig ausgewählten Gutachten dieser Stichprobe lassen keine inhaltlichen Veränderungen der Kriterien erkennen, allerdings zeichnet sich für die Endphase eine deutliche Verschärfung der Zensur ab. Die Entscheidungen waren unberechenbarer geworden. Die Zensoren von 1973 verboten Bücher, die unter Fraga noch erlaubt waren, und gingen bei den Streichungen wieder kleinlicher vor. Auch fällt die häufige Anwendung des „amtlichen Stillschweigens" bei problematischen Büchern auf. Symptomatisch für diese Entwicklung ist die Diskussion Uber das vierfach begutachtete indische Erotikbuch Kamasutra. 560 Obwohl es 1964 bereits autorisiert wurde, meldeten die Zensoren 1973 bei der erneuten Vorlage des Buches wegen der detaillierten erotischen Beschreibungen höchste Bedenken an. Der Fall wurde an den Generaldirektor persönlich weitergeleitet. Obwohl es sich um einen „Klassiker" für eine minoritäre, gebildete Leserschaft handelte, wurde das Kamasutra mit „amtlichem Stillschweigen" belegt und riskierte somit die Beschlagnahmung im Falle einer Publikation. Bei Angriffen auf die Katholische Kirche wurden ebenfalls wieder strengere Maßstäbe angelegt, schließlich dominierten seit 1969 Vertreter des Opus Dei in der Regierung. So gaben die Zensoren eine spöttische Darstellung des Hexenkultes - trotz der offiziellen Abschaffung der Vorzensur! - nur mit Streichungen frei, weil „nicht geklärt ist, ob der mögliche Leser dieses Buches sich darauf einstellt und erkennt, daß es sich um einen Scherz handelt". 561 Solche Argumente erinnern an die Frühphase des Regimes zum Schutz des „unmündigen Bürgers" und korrelieren mit der allgemeinen Verschärfung der Repression in der Endphase, die sich in skandalösen Urteilen gegen die Opposition ausdrückte. Angriffe auf Institutionen des Regimes wurden unter den prekären Umständen eines überlebten Regimes besonders streng überwacht. Folgerichtig verboten die Zensoren ein Buch, das die Beteiligung des Opus Dei an der Repression behauptete und dem Regime Korruption unterstellte. 562 Aus der Längsschnittanalyse erregte Happy End von Vázquez Montalbán Anstoß, weil sich der Autor darin über „Carrero White" (Carrero Blanco, den 1973 ermordeten Vorsitzenden des Ministerrates) lustig machte. Das Werk durfte nur mit Streichungen veröffentlicht werden.
560
Exp. 5828, leg. 354, 1973.
561
Exp. 1459, leg. 90, 1973, Juan Llop Sellares: Las Brujas. Más allá de la superstición. Span. Orig.: „... falta por aclarar si el presunto lector de este libro va a discernir y percatarse de que se trata de una broma...".
562
Exp. 11656, leg. 717, 1973, Alberto Mascada Lorenzo: Una interpretación Dei.
del Opus
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Keine Änderung inhaltlicher Art gab es im Hinblick auf die Feindbilder des Franquismtis: Separatismus und Kommunismus gehörten zu den am strengsten überwachten politischen Tabus. Aber den Zensoren waren durch das Pressegesetz die Hände gebunden: So mißbilligten sie zwar ein von einem marxistischen Autor verfaßtes Werk aus der Kontrollstichprobe, doch sie konnten es nicht verbieten, da es „keine marxistische Propaganda" darstelle. 563 Die spätfranquistische Lösung für solche Fälle war „amtliches Stillschweigen".
2. Die Analyse von Delibes' Cinco horas con Mario (1966) 2.1. Ein sozialer Christ - weltanschauliche Position des Autors Miguel Delibes gehörte zu einem Kreis sozial engagierter Christen. In einem Interview mit der Verfasserin identifizierte er auch seinen Romanhelden Mario explizit mit einem oppositionellen Christentum, das stark vom Zweiten Vatikanischen Konzil sowie sozialistischen Ideen inspiriert war. 564 Miguel Delibes arbeitete als Redakteur, später als Chefredakteur bei El Norte de Castilla, einer Regionalzeitung mit liberaler Vergangenheit in seiner Heimatstadt Valladolid. 565 Durch seine journalistische Tätigkeit war ihm das Spiel mit der Zensur vertraut, dennoch geriet er durch kritische Artikel häufig mit der Pressezensur in Konflikt. Delibes hatte jüngere Kollegen wie den linken Schriftsteller Francisco Umbral an seine Zeitung gebunden. Diese vertraten ähnlich kritische Ideen wie er selbst und berichteten in El Norte wiederholt über die Situation der kastilischen Dörfer, insbesondere Uber die Armut, die unmenschlichen sozialen Verhältnisse und die Landflucht. Diese Journalisten wollten die neue Pressefreiheit unter Fraga nutzen. Doch da solche Themen von der Pressezensur noch immer sehr viel strenger kontrolliert wurden als von der Bücherzensur, mußte Delibes häufig auf seine Romane ausweichen, um diese Mißstände offener thematisieren zu können. 566 Cuando yo vi que en la prensa no podía decir nada de la pobreza de Castilla, que era un tema económico, me pasé a decirlo en un libro. Son el resumen de todas mis campañas en mi periódico.
563
Exp. 8759, leg. 532, 1973.
564
Interview mit Miguel Delibes, Valladolid, 6. Mai 1994: „Cuando piense en uno de este grupo, piense en Mario". Der Autor selbst trat einerseits gegen die Abtreibung und andererseits fiir soziale Gerechtigkeit oder die Nivellierung der Löhne ein.
565
César Alonso de los Ríos: Conversaciones con Miguel Delibes. Madrid 1971, S. 5974. José Francisco Sánchez erarbeitet in seinem Buch Miguel Delibes, periodista, Barcelona 1989, detailliert die Rolle des Norte de Castilla und Delibes' Engagement als Journalist unter dem Franquismus.
566
Interview vom 6. Mai 1994.
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(Als ich sah, daß ich in der Presse nicht von der Armut in Kastilien sprechen konnte - das war ein wirtschaftliches Thema - fing ich an, davon in einem Buch zu sprechen. Meine Bücher sind das Resümee meiner Pressekampagnen.)
Unter Fraga Iribarne trat Delibes im Jahr 1966 von seinem Posten als Chefredakteur zurück. Denn trotz der angeblichen Öfihungspolitik hatten die Probleme mit der Zensur überhand genommen: Als die Redakteure eine regelrechte Kampagne gegen die sozialen Mißstände auf dem Land führten, wurde Delibes vor die Zensurbehörde nach Madrid zitiert und verwarnt. Schließlich forderte das Informationsministerium von Delibes die Absetzung des stellvertretenden Chefredakteurs und drohte zugleich mit der Absetzung seines Nachfolgers, falls sich die Linie des Blattes nicht ändere. Delibes ließ sich diese Bevormundung nicht gefallen und zog sich aus dem Journalismus zurück.
2.2. „Ich mußte Mario sterben lassen" - Zensurgeschichte von Cinco horas con Mario Miguel Delibes hatte zwar als Journalist unter der Pressezensur stark zu leiden, die Zusammenarbeit mit der Bücherzensur verlief hingegen ziemlich problemlos, wie die Auswertung der Zensurgutachten ergab. 567 In El camino (1950) mußte der Autor wie gezeigt einige Stellen streichen, die die Zensoren für unmoralisch befanden. Doch Mi idolatrado hijo Sisi (1953) passierte die Zensur trotz des Selbstmordes des Protagonisten ohne Eingriffe. Die beiden Romane über die kastilische Provinz La hoja roja (1958) und Las ratas (1961) kamen trotz des sozialen Hintergrundes ebenfalls ohne Streichungen durch die Zensur. Auch gegen U.S.A. yyo (1965) und Cinco horas con Mario (1966) hatten die Zensoren nichts einzuwenden; sie lobten sogar den vorzüglichen Stil des Autors. Nur die beiden Romane Parábola del náufrago (1969) und El príncipe destronado (1973) aus der Endphase der Diktatur schienen die Zensoren stärker zu beschäftigen: Für Parábola del náufrago bestellte der Leiter der Behörde zwei Zensurgutachten, da er vermutlich gewisse Zweifel an der Konformität des Textes hegte. Doch der erste „Lektor" hatte trotz einiger „kruder Sätze" nichts gegen den Roman einzuwenden, und auch der zweite „Lektor" fand das Buch im Grunde unproblematisch. Zwar stellte er fest, daß das Buch eine harte Kritik an der Autokratie, an der Mißachtung der Menschenrechte und am Personenkult übe, er bezog diese Kritik allerdings nicht auf den Franquismus. 568 Das Buch könne ohne Bedenken veröffentlicht werden „ya que su narración es meramente expositivo" („da die Erzählung die Dinge einfach nur darstellt"). Im Fall von El principe
567
Vgl. exp. 5197-50, AGA 9279; exp. 1236-53, AGA 10218; exp. 5847-58, AGA 12242; exp. 3566-61, AGA 13386; exp. 9459-65, exp. 4897-66, AGA 17.481; exp. 8948-69; exp. 14.400, caja 875.
568
Exp. 8948-1969.
VIL Die Spätphase (¡966-1975)
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destronado wurde dem Verlag Destino nahegelegt, eine antimilitaristische Anspielung zu streichen. Daraufhin wurde das Buch autorisiert. 569 Es stellt sich die Frage, warum Delibes trotz seiner Schwierigkeiten mit der Pressezensur keine Probleme mit der BUcherzensur hatte. Doch Bücher- und Pressezensur waren wie erwähnt zwei voneinander unabhängige Behörden, die nicht nach denselben Kriterien vorgingen. Sozialkritische und ökonomische Themen ließen sich in Büchern eher veröffentlichen als im Massenmedium Presse. Laut Robles-Piquer lag der Grund darin, daß die Presse das Tagesgespräch stärker beeinflußte und die Politiker daher leichter reizen konnte als ein Buch. S7 ° Zudem erreichten die Bücher in der Regel viel geringere Auflagen als Tageszeitungen sie wirkten dadurch weniger massenwirksam und konnten dem Regime nicht so gefährlich werden. Delibes' Konflikte mit der Pressezensur beeinflußten die Beamten der Bücherzensur offenbar überhaupt nicht. Er hatte deutlich bessere Kontakte zu letzterer; nach eigener Aussage kannte er dort sogar einen ihm gewogenen Augustinerpater aus Valladolid. Delibes schickte diesem Pater einige seiner Manuskripte und bekam die Autorisierung, denn dieser Zensor wußte zwar, daß Delibes dem Regime kritisch gesinnt war, aber er hielt ihn nicht für einen subversiven Autor, der „die Leser vergiftete". 571 Ähnlich begründete Verlagsleiter Andreu Teixidor von Destino das entspannte Verhältnis zwischen Autor und Bücherzensur. Teixidor hat die Zensur in der Endphase der Diktatur erlebt und meint, Delibes sei nicht als „gefährlicher kommunistischer Autor" betrachtet worden, sondern als moderner Klassiker der spanischen Literatur. 572 Die Zensoren respektierten nach seiner Aussage auch das Renommee des Verlages und des international bekannten Autors und wollten im Ausland kein Aufsehen durch allzu strenge Urteile erregen. Andererseits machte es Delibes den Zensoren auch leicht, ihn zu verschonen, da er in seinen Romanen gezielt Tarnstrategien entwickelte, um seine Kritik nicht zu offen zu formulieren: 573 Desde que vi mi segunda novela censurada, dije que hay que hacer algo para evitar la censura. Se sabía más o menos lo que no se podia decir y había que tomar precauciones.
569
Die Streichung lautet: „Qué jodio chico! - dijo. - No piensa más que en matar, parece un general." („Verdammter Junge," sagte er, „er denkt nur ans Töten - wie ein General.") Exp. 14.400-1973, caja 875.
570
Interview vom 17. Mai 1994 in Madrid.
571
Interview vom 6. Mai 1994 in Valladolid, „Pensaba que yo no era un autor que iba a envenenar a los lectores. Tenía cierta confianza en mí aunque sabía que no era franquista".
572
Interview mit Aridreu Teixidor vom 27. Januar 1994 in Barcelona.
573
Interview vom 6. Mai 1994.
226
Gabriele Knetsch
(Nachdem ich sah, wie mein zweiter Roman zensiert wurde, sagte ich mir, daß ich etwas tun mußte, um die Zensur zu vermeiden. Man wußte mehr oder weniger, was man nicht sagen durfte, und man mußte eben gewisse Vorkehrungen treffen.)
Diese Vorkehrungen bestanden in einer erfolgreichen Anwendung des klassischen Arsenals von Umgehungsstrategien:574 Paräbola del näufrago ist eine zeitlich nicht situierte Parabel, die sich sowohl auf die Unterdrückung im Franquismus als auch auf kommunistische Diktaturen Ubertragen läßt. In El principe destronado wählt Delibes mit der Perspektive des Kleinkindes Quique das Verfahren des unzuverlässigen Erzählers, um Uber Konflikte zwischen dem franquistischen Vater und der liberalen Mutter sowie über die Unterdrückung der Frau zu schreiben. Die Tarnung funktionierte, denn der Zensurchef entkräftete die Bedenken des „Lektors" mit dem Hinweis auf den „Infantilismus" des Protagonisten.575 Für Cinco horas con Mario liegt nur ein Gutachten vor - ein Hinweis darauf, daß auch dieses Buch nicht als problematisch eingestuft wurde. Der Autor stellt den Regimekritiker Mario aus der Sicht der naiven Franquistin Carmen Sotillo dar. Die Tamstrategie der regimekonformen Erzählerin scheint aufzugehen, denn der Zensor konzentriert sich bei der Beurteilung des Buches allein auf die Protagonistin und erwähnt nur in einem Nebensatz den Protagonisten. Er sieht in Carmen die positive Hauptfigur des Romans576 und identifiziert ihre Position offenbar mit der des Autors, denn er billigt nicht nur Carmens Weltanschauung, sondern bescheinigt ihrem Schöpfer explizit eine „moralisierende Intention". Dennoch ist Neuschäfers Einwand richtig, daß man aus dem Gutachten nicht ableiten könne, ob der Zensor die regimekritische Seite nicht sah, oder ob er sie nicht sehen wollte, um Delibes' Buch zu schützen.577 Cinco horas con Mario ist ein belegbares Beispiel für Selbstzensur, denn Miguel Delibes begann das Buch nach eigener Aussage zunächst als Dialog zwischen Carmen und Mario zu schreiben. Doch aufgrund seiner früheren Erfahrungen mit der Zensur sei ihm schnell klar geworden, daß die Behörde regimekritische Äusserungen aus dem Munde Marios nicht tolerieren würde578. Er zerriß die fertigen Seiten und ließ Mario sterben.
574
Vgl. „Allgemeiner Zensurteil".
575
Die Anmerkung des Zensurchefs zu dem Gutachten des „Lektors" lautete: „De acuerdo, lector, algunas expresiones fuera del lugar, mas toda la obra responde a cierto infantilismo ...". - „Einverstanden, Lektor, einige Ausdrücke sind zwar fehl am Platz, aber das ganze Werk entspricht einem gewissen Infantilismus ...". Exp. 14.400-1973, caja 873.
576
Exp. 4897-66, AGA 17.481.
577
Neuschäfer 1991, S. 304.
578
Interview mit der Verfasserin vom 6. Mai 1994 in Valladolid. Delibes bestätigt auch im Interview mit de los Ríos (1971: 132), daß er die Monologform aufgrund der Zensur
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23. Eine entlarvende Totenwache - Einführung in den Roman Auf der ersten Seite des Romans steht eine schwarzumrandete Traueranzeige, die den T o d von Mario Diez Collado im Alter von 49 Jahren ankündigt. Sie ist auf das Jahr 1966 datiert (dasselbe Jahr, in dem der Roman veröffentlicht wurde, aber auch genau der Zeitpunkt, als Delibes seinen Posten bei El Norte de Castilla aufgab). Im ersten Kapitel treten die Trauergäste auf, um Marios Frau Carmen Sotillo ihr Beileid zu bekunden. Die im Verlauf des Romans relevanten Personen werden eingeführt, es werden erste Informationen über Mario vermittelt: Mario arbeitete als Gymnasiallehrer, Journalist und Schriftsteller mit sozialem Engagement. Die daran anschließende Totenwache verbringt Carmen allein am Bett des aufgebahrten Leichnams und läßt in diesen „Fünf Stunden mit Mario" ihr Leben mit ihm Revue passieren. Dabei blättert sie in Marios Bibel und wird durch die unterstrichenen Sätze zu wortreichen, temperamentvollen Repliken auf die Ansichten ihres toten Mannes inspiriert. Carmen redet sich ihren lange aufgestauten Frust über die schwierige Ehe des ungleichen Paares von der Seele, zugleich vermittelt sie beinahe eine Karikatur von Mario aus der Sicht einer ungebildeten und naiven Franquistin: Mario als blasser, weitabgewandter Intellektueller mit schmächtiger Figur; Mario als religiöser, genußfeindlicher Asket; Mario als kompromißloser Vorkämpfer filr soziale Gerechtigkeit, der sich jedoch wenig um die materiellen Bedürfnisse seiner Frau und seiner fünf Kinder kümmert. Carmen, die von Mario „mi pequeña reaccionaria" genannt wurde, vertritt die franquistischen Werte Autorität, katholische Moral, Nationalstolz und Klassenbewußtsein. Auf der Basis dieses Werteschemas beurteilt sie Mario aus einer Perspektive völligen Unverständnisses. Im Verlauf des Monologs zeigt sich, daß es sich bei Carmens Anklage eigentlich um eine Beichte handelt, die am Schluß in das Geständnis mündet, Mario mit ihrem Jugendfreund Paco betrogen zu haben. Paco, den Carmen am Anfang nur beiläufig in harmlosen Kontexten erwähnt, kehrt in ihrer Rede wie eine Obsession immer wieder, weil er all das verkörpert, was Mario nicht hat: Sexappeal, Männlichkeit und - mit seinem roten Sportauto - Teilhabe am Wohlstand der 60er Jahre. In der Frage, ob der Ehebruch wirklich vollzogen wurde, verhält sich der Roman übrigens ambivalent. Carmen selbst bestreitet - psychologisch nachvollziehbar -, daß die Verführung Uber ein paar Küsse hinausging, 579 doch gerade in diesem gewählt habe und sie überdies noch einen ästhetischen Gewinn darstelle: „Me parece interesante esto que dices porque, en efecto, es asi. Mira por dónde la censura puede llegar a forzar la imaginación y de esta forma permitir que se descubran nuevas fórmulas de expresión." („Mir erscheint interessant, was du sagst, denn es ist in der Tat so. Schau, wozu einen die Zensur bringt: sie regt die Phantasie an und erlaubt dadurch, daß neue Ausdrucksformen gefunden werden.") 579
„Paco me besó y me abrazó, lo reconozco, pero de ahí no pasó ..." („Paco küßte mich und umarmte mich, ich geb's zu, aber darüber ging es nicht hinaus ..."). Miguel Delibes: Cinco horas con Mario. 13. Aufl. Barcelona 1992, S. 281.
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Gabriele
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Punkt läßt die Unzuverlässigkeit der Figur ihre Aussage besonders fragwürdig erscheinen. Allerdings versichert sie an einer Stelle, der Ehebruch habe nicht stattgefunden, weil Paco - und nicht sie selbst! - rechtzeitig zur Vernunft gekommen sei und im letzten Moment einen Rückzieher gemacht habe (S. 281): ... Paco que perdería la cabeza y todo lo que quieras, pero, en resumidas cuentas, un caballero, Mario, „somos unos locos, pequeña; discúlpame" ... y eso que estaba como tonta, completamente hipnotizada, ni voluntad ni nada, un fardo, pero se lo iba a decir, palabra, y él, zás, se me adelantó ... (... Paco mag zwar den Kopf verloren haben und so, aber alles in allem ist er ein Gentleman, Mario, „Wir sind verrückt, Kleine, verzeih mir" ... und das, als ich wie blöd war, völlig hypnotisiert, ohne Willen und alles, ein Bündel, aber ich wollte es ihm sagen, Ehrenwort, und er, zack, kam er mir zuvor ...) Der 240 Seiten umfassende Roman besteht zum Großteil aus Carmens Monolog, einer Art memory monologue58°, wie er unten genauer ausgeführt werden soll. Die Zeit, die Carmen an Marios Totenbett verbringt, und die Zeit, die die Erzählung der Totenwache beansprucht, stimmen im Prinzip Uberein. Nach der Terminologie Genettes liegt eine „Szene" vor, denn Geschichte und Erzählung verlaufen - analog zum Drama - simultan; es besteht eine „konventionelle Gleichheit" von Erzählzeit und erzählter Zeit.581 Die Handlung konstituiert sich in Cinco horas ja im Grunde nur aus Carmens Monolog - die Erzählung selbst wird in diesem Fall zur Handlung. Carmens Monolog ist allerdings durch das erste und das letzte Kapitel in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der ein Erzähler Carmen in der Runde der Trauergäste vor und nach der Totenwache bzw. im Zwiegespräch mit ihrem Sohn Mario nach der durchwachten Nacht zeigt. Die Rahmenhandlung entspricht der äußeren, „extradiegetischen" Ebene: Carmens Monolog wird in diesem Kapitel explizit angekündigt, die Situation geklärt („Carmen se encara con su hijo y le muestra el libro: - Mario - dice -, acuéstate, te lo suplico. Quiero quedarme a solas con tu padre ..." - „Carmen tritt ihrem Sohn gegenüber und zeigt ihm das Buch [die Bibel, d.V.]: - Mario - sagt sie -, geh bitte ins Bett. Ich will mit deinem Vater allein sein ...", S. 37). Carmens Monolog ist der Rahmenerzählung untergeordnet und damit „intradiegetisch". 582 Er liegt auf einem niedereren Erzähl-
580
Vgl. Cohn 1981, S. 279.
581
Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994, S. 61, sowie S. 78-80. Genette stellt für die Romananalyse ein Schema auf, das aus fünf Kategorien besteht: Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus und Stimme. Die „Dauer" bezeichnet das Verhältnis zwischen der Dauer der Ereignisse („Geschichte") und der „Pseudo-Dauer" (Textlänge), die ihr Bericht in der Erzählung beansprucht (S. 22).
582
Über das Verhältnis der verschiedenen Textebenen sagt Genette (S. 163): „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende Akt dieser Erzählung angesiedelt ist."
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niveau, denn Carmen, die im Einleitungskapitel noch eine von einem Erzähler dargestellte Figur war, tritt nun selbst als Erzählerin auf. Auf beiden Erzählebenen wird das Geschehen also durch unterschiedliche Instanzen vermittelt. Während der Rahmenhandlung ein „heterodiegetischer" Erzähler zugeordnet ist - ein Erzähler, der nicht an der Handlung teilnimmt und das Geschehen in der Er-Form berichtet (üblicherweise heißt er „personaler Erzähler") -, gibt es auf der „intradiegetischen" Ebene keine andere Instanz als die monologisierende Carmen selbst. Laut Genette ist sie eine „autodiegetische" Erzählerin, denn sie ist nicht nur Teil der erzählten Geschichte, sondern zugleich „Heldin" des Erzählten. In das erste Kapitel der Rahmenhandlung ist eine weitere „intradiegetische" Handlungsebene eingeflochten: Einzelne kursiv gedruckte Zitate aus einem Gespräch zwischen Carmen und ihrer Freundin Valentina kurz nach der Entdeckung des Toten gehen der Protagonistin durch den Kopf, während sie ihre hausfraulichen Pflichten gegenüber den Trauergästen erfüllt. Aber auch Carmens Monolog läßt sich in weitere Erzählebenen untergliedern. Carmens Erzählung heißt „metadiegetisch": sie umfaßt Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben mit Mario. Doch mehrmals referiert die Protagonistin auch den Inhalt von Marios Büchern - sie entsprechen Erzählungen einer dritten Ebene (laut Genette sind sie „meta-metadiegetisch") und haben einen eigenen Erzähler, nämlich Mario, der allerdings nur vermittelt durch die Sprechinstanz Carmen auftritt. Marios Erzählungen kommen auf diese Weise nicht in der ursprünglichen Form ihres Erzählers vor, sondern als stark verzerrte Inhaltsangabe Carmens. Gerade darin besteht eine wichtige Tarnstrategie des Textes, da Marios Texte und Gedanken viel zu brisant wären, um sie in direkter Form durch die Zensur zu bringen. Inhaltlich ist Carmens Monolog an Mario ausgerichtet und als Replik auf dessen Ansichten konzipiert, so daß manche Kritiker auch von einem dialogischen oder dramatischen Monolog sprechen. 583 Delibes selbst hat den Roman kurz nach Erscheinen in einen Theatermonolog verwandelt, wofür er sich dank seiner kolloquialen, lebendigen Sprache sehr gut eignet. Dornt Cohn bezeichnet diese Variante des inneren Monologs als monodrama und nennt als Beispiel dafür die verlassene Ehefrau in Simone de Beauvoirs La femme rompue.5M Dieser Text ist als fiktives Telephongespräch zwischen der Verlassenen mit ihrem Mann konzipiert; die Frau richtet sich beim Sprechen an ihm aus, wobei allerdings seine Die narrativen Ebenen und das Verhältnis zwischen Erzähler und Figur behandelt Genette unter der Kategorie „Stimme" (S. 151-183). 583
Alfonso Rey etwa bezeichnete Carmens Monolog in seiner Analyse von Delibes' Erzähltechniken als Dialog mit fiktivem Gesprächspartner, in: La originalidad novelística de Delibes. Santiago de Compostela 1975, S. 190. Carlos Jerez Farrán spricht von „monodiálogo", in: „Las Bodas de Doña Camal y Don Cuaresma en Cinco horas con Mario", in: Neophilologus 2/1990, S. 225-239, dort S. 225.
584
Cohn 1981, S. 271.
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Antworten ausgespart werden. Auch Carmen wendet sich immer wieder an den toten Mario, so als handle es sich um ein Zwiegespräch („tu dirás", „cariño", „fíjate", „hijo"). Dieses Zwiegespräch mit einem Toten endet mit Carmens absurdem Flehen, Mario möge ihr den Fehltritt mit Paco verzeihen. Carmens Monolog gliedert sich in 27, jeweils etwa zehn Seiten lange Einzelkapitel, die stets durch eines der von Mario unterstrichenen Bibelzitate eingeleitet werden. Indirekt sind also Marios Ansichten - trotz seiner Abwesenheit - doch präsent.585
2.4. Kritisch aber gut getarnt - Analysevorhaben Cinco horas con Mario ist ein Paradebeispiel für einen gut getarnten Roman, der aufgrund effektiver Umgehungsstrategien keinerlei Schaden durch die Zensur nahm. Die wichtigste Strategie besteht in der Konzeption seiner Hauptfigur als regimekonforme, aber unzuverlässige Sprechinstanz. Carmen plappert unschuldig vieles aus, was die Zensur streng kontrolliert. Dabei erfüllt sie noch eine zweite Funktion: Sie vertritt zwar die offiziellen Werte des Regimes, aber auf wenig seriöse Weise. Wie in vielen Texten ist in Cinco horas das Auftreten eines unzuverlässigen Sprechers eng verbunden mit der Frage nach der Ironie des Textes, die sich in diesem Fall auf das franquistische Wertesystem beziehen läßt. In diese Richtung gehen die frühen Interpretationen des Buches,586 aber auch die zensurorientierte Analyse von H.-J. Neuschäfer. 587 Dieser Aspekt der Tarnung soll auch in dieser Arbeit nicht unter den Tisch fallen, weil er in der Tat sehr naheliegend ist und das Buch gerade von zeitgenössischen Lesern so rezipiert wurde. 588 Allerdings scheint die Tarnung in Cinco horas weiter zu reichen als es 585
Mario, meint Neuschäfer (1991: 91), gibt Carmen durch die Bibelzitate erst das Stichwort für ihre eigene Rede. Ihre Rede sei daher eigentlich ein Dialog, den der tote Mario sogar dominiere, da Carmen auf Marios Herausforderungen nur reagiere.
586
Zum Beispiel Sobejano in seiner Analyse (1970: 154); Agnes M. Gullón: „Descifrando los silencios de ayer: Cinco horas con Mario", in: Insula 396-397/1979, S. 4; Juan María Marín Martínez: „Miguel Delibes, el testimonio lúcido de la circunstancia española", in: Arbor. Ciencia, Pensamiento y Cultura 421/1981, S. 78-92, dort S. 90f. oder H. L. Boudreau: „Cinco horas con Mario and the Dynamics of Irony", in: Anales de la novela de posguerra 2/1977, S. 7-17.
587 588
Neuschäfer 1991, S. 89-101.
Miguel García-Posada bringt diese Lektüre auf den Punkt: „Leímos Cinco horas en su condición de texto de combate. En Carmen Sotillo veíamos la encarnación simbólica de todos nuestros males, la expresión del más odioso franquismo sociológico, obstinado en el mantenimiento de los valores tradicionales, morales, religiosos y familiares. En Mario Diez, en cambio, contemplábamos la expresión del resistente a la dictadura, caído como tantos otros, antes de que el dictador falleciera ..." („Wir lasen Cinco horas unter der Bedingung eines Kampftextes. In Carmen Sotillo sahen wir die symbolische Inkarnation aller unserer Übel, den Ausdruck des verhaßtesten soziologischen Franquismus, der sich darauf versteifte, die traditionellen moralischen, religiösen und familiären Werte aufrechtzuhalten ...") In: „Cinco horas con Mario: una revisión", in: Cristóbal Cuevas
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diese relativ offensichtlichen Umgehungsstrategien vermuten lassen. Denn Carmen ist nicht nur Apologetin des Regimes, sondern auch Opfer. In sexueller Hinsicht läßt sich die vermeintlich regimekonforme Carmen sogar als Widerstandsfigur interpretieren. Ihre Abrechnung mit Mario impliziert die Auflehnung einer unterdrückten Ehefrau gegen die patriarchalischen Züge des franquistischen Systems, von denen sich der Oppositionelle Mario nicht wirklich emanzipiert hat. Diese „feministische" Lesart fällt durchaus mit einer antifranquistischen Lesart im Sinne von Delibes zusammen, bezeichnete er doch selbst Carmens Schicksal als typisch ftlr die spanischen Frauen unter Franco. 589 In seinem späteren Roman El principe destronado ergreift er ebenfalls Partei für die unterdrückte Ehefrau gegenüber ihrem autoritären Ehemann. Daher soll in einem letzten Punkt das Protestpotential Carmens - entgegen ihrer konformen Rede - untersucht werden.
2.5. Carmen und die Wahrheit - eine zuverlässige Sprechinstanz? Üblicherweise läßt sich die Haltung des impliziten Autors zu seiner Figur Uber das Verhältnis Autor/Erzähler erschließen. 590 Doch in Cinco horas beschränkt sich die Darstellung durch einen heterodiegetischen Erzähler wie gesagt auf die kurze Rahmenhandlung, in der Carmen alternierend intern und extem, also abwechselnd aus der Innenperspektive und der Außenperspektive fokalisiert wird, während man sie im Schlußkapitel nur von außen wahrnimmt. 591 Im Einleitungskapitel wird Carmen häufig durch die erlebte Rede intem fokalisiert, in der sich die Rede der Figur und des Erzählers vermischen; der Erzähler verschwindet dabei hinter der Figur. 592 Dieses Verfahren wurde in der Analyse von Javier Marino bereits erläutert, wo es als Tarnstrategie relevanter ist Folgendes Beispiel zeigt die Anwendung der erlebten Rede zur Charakterisierung Carmens: Garcia (Hg.): Miguel Delibes: El escritor, la obra y et lector, Congreso de Literatura Contemporánea, Universidad de Málaga, 12.-15.11.1991. Barcelona 1992, S. 115-129, don S. 115f. 589
In Interview mit de los Ríos (1971: 56) sagt er über Carmen: „Si no llego a identificarme con ella, llego a sentir sin embargo piedad por ella. Comprendo asi a muchas mujeres espartólas, su simple mentalidad de mujer cristiana y su - en ocasiones emidiable sensación de seguridad." („Selbst wenn ich mich nicht mit ihr identifiziere, s o empfinde ich doch Mitleid mit ihr. Denn viele spanische Frauen sind wie sie: mit ihrer simplen Mentalität einer christlichen Frau und einem - gelegentlich - beneidenswerten Gefühl von Selbstsicherheit.")
590
Dies wurde am Beispiel der Analyse von Javier Marino gezeigt.
591
Vgl. Genette 1994, S. 134-138. Bei der „internen Fokalisierung" sagt der Erzähler nicht mehr, als die Figur weiß, erzählt wird aus dem Blickwinkel der Figur; bei der „externen Fokalisierung" wird die Figur von außen in objektiver, „behavioristischer" Weise dargestellt.
592
Wolf Schmid (1973: 62f.) spricht in solchen Fällen von „Textinterferenzen"; das sind Aussagen, bei denen gewisse Merkmale auf den Personentext und andere auf den Erzälltext verweisen.
232
Gabriele Knetsch
„Después de todo hizo bien en mandar a Bertrán a la cocina. Un bedel no debe estar nunca donde estén los catedráticos." („Schließlich hatte sie gut daran getan, Bertrán in die Küche zu schicken. Ein Pförtner durfte sich niemals dort aufhalten, wo sich die Professoren aufhielten." S. 13). Formal spricht hier zwar der Erzähler, doch inhaltlich gibt er die Werturteile der Figur wieder. Der Standpunkt des Erzählers läßt sich am ehesten erschließen durch die (spärlichen) Bewertungen in den externen Fokalisierungen, wie sie sich etwa in den Begrüßungsritualen von Carmen und ihren Bekannten manifestieren: „Carmen se inclinaba, primero del lado izquierdo y, luego, del lado derecho, fruncía los labios y dejaba volar el beso, de manera que la otra sintiera su breve estallido pero no su efusión." („Carmen neigte sich erst nach links, dann nach rechts, schürzte die Lippen und schickte einen Kuß in die Luft, so daß die andere zwar sein Geräusch, aber keine Innigkeit verspüren konnte." S. 23). Darstellungen wie diese erlauben eine erste Einschätzung der Figur und ihres Umfeldes. Sie zeigen, daß Carmen und ihr Bekanntenkreis auf äußere Konventionen Wert legen. Die Reaktion der Trauergäste auf Marios Tod wird als unaufrichtig beschrieben: Die Gäste fühlten sich geeint durch ein „diffuses Verantwortungsgefühl" und „scheinheilige Augen, die einstudiert gequält dreinblickten" („Les unía un difuso sentimiento de responsabilidad y unas pupilas hipócritas, estudiadamente atormentadas", S. 14). Außerdem deutet sich bereits die dominante Sexualitätsthematik an: Carmen tritt auf mit enganliegendem schwarzen Pullover und „aggressiven Brüsten" (S. 29). Den Händedruck der Beileidsbekundungen empfindet sie als Berührung, der sie sich ausliefert „como en adulterio" („wie im Ehebruch", S. 32). Aus solchen Details läßt sich eine gewisse Distanz des Erzählers - und damit auch des impliziten Autors - gegenüber Verhaltensweisen, wie sie Carmen und ihre Klasse prägen, ableiten. Dennoch muß der Leser sich für die Bewertung der Figur vor allem auf ihre eigenen Aussagen im Monolog stützen. Auf der Ebene des inneren Monologs übernimmt Carmen als autodiegetische Erzählerin die Funktion der alleinigen Informationsvermittlerin. Um ihre Erzählung beurteilen zu können, muß der Leser zunächst ihre Zuverlässigkeit prüfen. Der Begriff des unreliable author wurde von Wayne C. Booth geprägt; Shlomith Rimmon-Kenan definierte den Unterschied zwischen unzuverlässigem und zuverlässigem Erzähler folgendermaßen: 593 A reliable narrator is one whose rendering of the story and commentary on it the reader is supposed to take as an authoritative account of the fictional truth. An unreliable narrator, on the other hand, is one whose rendering of the story and/or commentary on it the reader has reasons to suspect. Zur Beurteilung von Zuverlässigkeit stellt Rimmon-Kenan fogende drei Faktoren auf: die persönliche Involviertheit der Figur, ihr begrenztes Wissen und ein pro593
Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago/London 1968, S. I58f. sowie Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction - Contemporary Poetics. London/New York 1983, S. 100.
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blematisches Werteschema. Gemessen an diesen Kriterien erscheint Carmen zunächst als eindeutig unzuverlässig. Sie steht ihrem Mann völlig voreingenommen gegenüber; ihr Monolog gerät zur Abrechnung mit Mario, in dem sie die Rolle der Anklägerin Übernimmt und ihm die Schuld für die enttäuschende Ehe zuweist: die Hochzeitsreise ohne Defloration - eine Erniedrigung (S. 113), Marios Depressionen - eine Faulenzerkrankheit (S. 251), er und seine intellektuellen Freunde - voller Komplexe (S. 134). Carmen stellt Mario so negativ dar, daß der Leser schon aus Mitleid Partei für Mario ergreift. Frühe regimekritische Leser wie der Literaturwissenschaftler Sobejano sahen in ihm daher automatisch das genaue Gegenteil von Carmens Schilderung und die eigentliche Identifikationsfigur des Romans. 594 Aber auch die beiden anderen von Rimmon-Kenans Unzuverlässigkeitsfaktoren treffen auf Carmen zu, Unwissenheit und ein problematisches Werteschema. Denn Carmen, eine ungebildete einfache Frau, entwickelt „Patentlösungen" zu komplexen Sachverhalten, die simpel und naiv wirken - insbesondere, da sie ihre Prinzipien mit einer Mischung aus populärem Witz, Borniertheit und offiziellem Klischeedenken vertritt. So verteidigt Carmen etwa die Inquisition mit dem Argument, ein klein bißchen Inquisition „hätten wir dringend nötig" („Una poquita de Inquisición nos está haciendo buena falta", S. 153), und Regimegegner würde sie am liebsten mit einer selektiv wirkenden Atombombe vernichten (ebenda). Die Unzuverlässigkeit der Sprechinstanz gilt laut Booth und Rimmon-Kenan allerdings erst dann, wenn das Werteschema der Figur gegen die Normen des impliziten Autors verstößt. 595 Wenn der implizite Autor hingegen die Werte der Figur teilt, gilt diese als zuverlässig, unabhängig von dem Eindruck, den sie beim Leser hinterläßt. Booth betont dabei die Schwierigkeit, die Unzuverlässigkeit im Text festzustellen - eine Ironisierung der Figur sei dafür nicht ausreichend: For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author's norms), unreliable when he does not. It is true that most of the great reliable narrators indulge in large amounts of incidental irony, and they are thus „unreliable" in the sense of being potentially deceptive. But difficult irony is not sufficient to make a narrator unreliable. Nor is unreliability a matter of lying, ... Unreliable narrators thus differ markedly depending on how far and in what direction they depart from their author's norms ...
594
Sobejano (1970: 154) interpretierte den Roman als einfache Opposition zwischen Carmen, der naiven, dümmlichen Vertreterin der offiziellen Ideologie und Mario, dem komplexen, intelligenten Regimekritiker: el ejemplo del imposible entendimiento entre una mujer necia y simplista y un hombre inteligente y complejo, entre el dogma de fe y el amor de caridad, entre una España cerrada y una España abierta, entre la autoridad y la libertad, la costumbre inautèntica y el esfuerzo auténtico."
595
Rimmon-Kenan 1983, S. 101 sowie Booth 1968, S. 158f.
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Das entscheidende Kriterium für die Unzuverlässigkeit der Figur ist also die Inkompatibilität ihrer Einstellungen mit denen des impliziten Autors. Auch wenn die Argumente der Figur noch so absurd anmuten - sie müssen textintem als solche gewertet werden. Doch gerade darin liegt die Crux solcher Texte, denn die impliziten Normen lassen sich häufig nur schwer festmachen, da sich der implizite Autor sozusagen hinter einem unzuverlässigen Erzähler „versteckt". Rimmon-Kenan weist darauf hin, daß man häufig überhaupt nicht klären könne, ob ein Erzähler zuverlässig oder unzuverlässig sei, da der Text die Frage letztlich offen lasse. Solche Texte nennt er ambiguous narratives.596 Der Leser wird dadurch in eine Haltung des Oszillierens zwischen zwei sich eigentlich ausschließenden Positionen gebracht. Der Einsatz eines unzuverlässigen Erzählers eignet sich daher gut als Strategie in regimekritischen Texten, um die Position des Autors gezielt zu verunklaren. Häufig tritt der unzuverlässige Erzähler wie auch in Cinco horas im Zusammenhang mit Ironie auf. Dabei wird das Werteschema des unzuverlässigen Erzählers „vorgeführt", indem sich impliziter Autor und impliziter Leser „hinter dem Rücken" der Figur gegen sie solidarisieren. In Cinco horas läßt sich die Position des impliziten Autors nur annäherungsweise rekonstruieren, weil Carmen (außer in der kurzen Rahmenhandlung) die einzige Sprechinstanz und damit das einzige Orientierungszentrum im Text darstellt. Der Leser muß sich aufgrund ihrer Aussagen letztlich selbst eine Meinung bilden. Da das Wertesystem des impliziten Autors nicht greifbar wird, läßt sich hier eine Tamstrategie vermuten, um das franquistische Werteschema der Figur ironisch „vorzuführen" (siehe unten). Ein zweiter Einwand kompliziert die Frage nach Carmens Zuverlässigkeit. Ihre politischen „Prinzipien" wirken zwar vollkommen klischeehaft, andererseits erscheinen Carmens Klagen über ihre persönliche Situation als frustrierte Ehefrau durchaus authentisch. Der Leser bekommt an Mario - trotz seiner moralischen Integrität - gewisse Zweifel und gibt Carmen in einigen Punkten unwillkürlich recht, wie die Analyse von Neuschäfer, aber auch andere neuere Interpretationen gezeigt haben. 597 Carmen vermittelt von dem politisch fortschrittlichen Mario das Bild eines Mannes, der im Privatleben eher traditionellen Verhaltensmustern folgt: Mario kümmert sich kaum um Kinder und Haushalt - und auch nicht um die finanziellen Sorgen der kinderreichen Familie. Er lebt in einem intellektuellen
596 597
Rimmon-Kenan 1983, S. 103.
Neuschäfer 1991, S. 98f. Verschiedene neuere Beiträge versuchen, für Carmen mehr Sympathie und Verständnis aufzubringen, als es in frühen Interpretationen in der Regel der Fall war, zum Beispiel Garcia-Posada. Einer der frühen Interpreten in dieser Richtung war Alfonso Rey. Rey (1975: 198) betont die sexuelle Frustration dieser Frau und interpretiert Carmens Rede nicht als Apologie des Regimes, sondern als Versuch, durch ihre Argumentation ihre Individualität gegenüber Mario zu verteidigen. Eine feministische Lektüre des Textes schlägt Silvia Burunat vor in „Miguel Delibes y el feminismo", in: Letras de Deusto 30/1984, S. 67-83.
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Elfenbeinturm und bürdet seiner Frau die Alltagsprobleme auf. Mario bestimmt den Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs mit seiner Frau und nimmt dabei auf Carmens Wünsche keine Rücksicht: So hat das Paar gegen Carmens Willen fünf Kinder, da der Sinn der Sexualität für den gläubigen Mario in der Kinderzeugung liegt (Carmen zitiert immer wieder wütend Marios Spruch: „No seamos mezquinos con Dios" - „Seien wir nicht geizig mit Gott", S. 153). Offenbar sind also nicht nur Carmens politische Einstellungen vom System geprägt, sondern auch Marios Vorstellungen von Ehe und Familie - liberal und aufgeklärt möchte er sein, autoritär und wie ein Macho verhält er sich analog zu anderen spanischen Ehemännern (S. 107). Pero contigo, cariño, sobran razones, igualito que hablarle a una pared; „sí", „no", „está bien", ni notas, ni interés, ni escucharme siquiera, que esto es lo que peor llevo, que los hombres no sois más que unos soberbios, os creéis en posesión de la verdad y a nosotras ni caso. (Aber es hat keinen Sinn, Liebling, mit dir zu diskutieren, da kann ich gleich mit einer Wand reden. „Ja", „nein", „ist gut", keine Aufmerksamkeit, kein Interesse, du hörst mir nicht einmal zu. Und das stinkt mir am meisten, daß ihr Männer so hochmütig seid. Ihr glaubt, ihr seid im Besitz der Wahrheit und beachtet uns gar nicht.) Carmens hartes Urteil über die Ehe entspricht so gar nicht dem franquistischen Loblied auf die Familie, wie man es von einer Apologetin des Regimes erwarten würde: „el día que os casáis, compráis una esclava" („an eurem Hochzeitstag kauft ihr euch eine Sklavin", S. 42). Es ist also davon auszugehen, daß sich das Verhältnis zwischen Figur und implizitem Autor komplizierter gestaltet als der erste Eindruck von Carmens Unzuverlässigkeit vermuten läßt. Für die weitere Textanalyse wird daher unterschieden zwischen ihren von außen übernommenen politischen Werturteilen und ihren persönlichen Erfahrungen als Ehefrau.
2.6. Ironisch oder linientreu? - die Ambivalenz von Carmens Rede Bei Erscheinen des Romans wurde die Rezeption durch zwei extreme Lektürearten geprägt: Der Zensor betrachtete Carmen wie bereits erwähnt als Abbild einer regimekonformen Frau aus dem Volke. 598 Die Pointe des Romans lag für ihn offenbar in der „moralisierenden Intention" des Romans: Carmen verstößt gegen die offizielle Norm, bereut ihren Fehltritt und stellt dadurch die alte Ordnung wieder her. Die Haltung des impliziten Autors und der Heldin fielen für den Zensor zusammen: 599 El monólogo resulta realmente interesante por traducir la mentalidad de una española provinciana ... que representa la conciencia de su clase social modesta y sana, con referencias a la actualidad en que vive inserta y a las circunstancias que 598
Vgl. „Zensurgeschichte von Cinco horas con Mario".
599
AGA 17.481, exp. 4897, 1966.
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la ha rodeado. Predomina el humorismo crítico en labios de una mujer española corriente, que tiene buen sentido y que no es o no sabe ser corrosiva.... La novela esta de Miguel Delibes nos parece de intención moralizadora... (Der Monolog ist wirklich interessant, weil er die Mentalität einer Spanierin aus der Provinz und ihr bescheidenes, gesundes Klassenbewußtsein darstellt. Dabei gibt es Bezüge zur Aktualität, in der sie lebt, und zu den Umständen, die sie umgeben. Es überwiegt ein kritischer Humor auf den Lippen einer gewöhnlichen spanischen Frau, die gute Absichten hegt und nicht zersetzend ist oder sein kann. ... Dieser Roman von Miguel Delibes scheint uns in moralisierender Absicht geschrieben ...)
Die frühen regimekritischen Leser lasen Carmens Monolog hingegen vereinfachend als Parodie auf das offizielle Denken. Nach dieser Lesart solidarisierte sich der Autor gemäß dem Ironie-Modell von Stempel und Waming 600 nur scheinbar mit seiner Figur und vertrat in Wirklichkeit die Position des toten Mario. Sobejanos - nicht gerade frauenfreundliches - Resümee verdeutlicht diese Interpretation:601 Carmen es Carmen, es la mujer española común y es cierta España satisfecha de su pasado y su presente. Mario es Mario, es el intelectual español esforzado y es una España que trabaja mirando hacia el futuro. (Carmen ist Carmen, die typische spanische Frau. Sie verkörpert ein Spanien, das selbstzufrieden auf Vergangenheit und Zukunft schaut. Mario ist Mario, der gequälte spanische Intellektuelle. Er verkörpert ein Spanien, das auf die Zukunft hinarbeitet.)
Das Ironie-Modell Stempel geht - in Anlehnung an die Freudsche Witzanalyse - von einem auf Sprechakte bezogenen Ironie-Modell mit drei Personen aus. Es besteht, wie bereits im „Allgemeinen Zensurteil" erläutert wurde, aus Sprecher, Hörer und einer Objektperson, gegen die sich die Ironie richtet. Stempel weist explizit daraufhin, daß die zweite Person, gegen die sich die Ironie richtet, bei dem Ironieakt nicht anwesend sein muß. Waming führt Stempels Modell weiter und Uberträgt es auf fiktionale Texte, bei denen der Wegfall der „zweiten Person" der Normalfall ist. Dabei richtet Waming sein Interesse vor allem auf die Signalisierung von Ironie. Der Sprecher identifiziert sich zum Schein mit der anzugreifenden Objektperson, indem er vorgeblich deren Werte, Einstellungen und Eigenschaften übernimmt. Durch bestimmte Signale gibt er dem Leser jedoch zu verstehen, daß das Gesagte nicht das Gemeinte ist. Er solidarisiert sich im ironischen Diskurs mit dem impliziten Leser gegen die Objektperson und macht sie im Ironieakt lächerlich. Allerdings besteht die Besonderheit der ironischen Äußerung gerade darin, daß sie sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinn verstanden werden kann und auf zwei verschiedenen Ebenen funktioniert. Dieser Aspekt ist filr die Ironie als
600
Stempel 1976, S. 205-235 und Waming 1976, S. 416-423.
601
Sobejano 1970, S. 156.
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Tarnstrategie zentral. Denn wie im Theorie-Teil gezeigt, ist eine Ebene des Textes - die explizite - auf den Zensor ausgerichtet und eine zweite, implizite Ebene auf den komplizenhaften Leser. Die Entschlüsselung der Ironie setzte die Vertrautheit des Lesers mit den Werten des Sprechers und das Verstehen der Ironiesignale voraus. Sie sind „ironiekonstitutiv", da sie die ironische illusio durchbrechen, sie verfremden und den Ironieverdacht Uberhaupt erst aufkommen lassen. 602 Im ironischen Sprechakt genügt oft die Intonation, um Ironie zu signalisieren, doch bei fiktiven Texten erschwert der Wegfall des situativen Rahmens die Dekodierung, so daß diese Texte oft ambivalent wirken. Beispiele für Ironiesignale sind das Zitieren von Klischees, die Übertreibung der Affirmation, etwa durch Hyperbolik, Emphase oder superlativische Ausdrucksweise, aber auch das Schaffen von absurden Kausalitäten, die das Opfer bloßstellen. Die Ironisierung
von Carmens
Position
Bei der Übertragung des Ironie-Modells auf Cinco horas con Mario603 entspricht Carmen der Objektperson, mit der sich der implizite Autor scheinbar solidarisiert, indem er ihr reichlich und unkommentiert Raum zur Darstellung ihrer reaktionären Weltanschauung gewährt. In einer regimekritisch-ironischen Lektüre steht Carmen metonymisch für die Ideologie des Regimes, die der implizite Autor durch das Mittel der Ironie indirekt angreift. Während dem komplizenhaften Leser die Widersprüche, Vereinfachungen und Klischees von Carmens Denken vorgeführt werden, erfährt er zugleich viel über das offizielle franquistische Denken. Seine Aufgabe besteht nun darin, die Ironiesignale so zu entschlüsseln, daß er die vermeintliche Solidarisierung des Autors mit Carmen als Tarnung erkennt, hinter der der Autor seine kritische Einstellung gegenüber der Figur - und damit dem Regime, dessen Ideen sie vertritt - verbirgt. Eine wichtige Technik zur Signalisierung von Ironie in fiktiven Texten besteht in der Inkompatibilität 604 der Aussagen einer Figur mit ihren Gedanken und Handlungen, aber auch in der Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen. Laut Jenny GrafBicher besteht die Leistung des Lesers darin, die nicht kompatiblen Einstellungen zu realisieren und als gezielten „Störfaktor" zu begreifen, um „aus der Erkenntnis ihrer Unvereinbarkeit beziehungsweise ihres relativ willkürlichen Verhältnisses zu den sachlichen Informationen die übergreifende ironische Einstellung selbst zu entwerfen". 605 Analog zum Modell fllr Umgehungsstrategien wirken diese „Störfaktoren" als „Alarmklingel", die dem Leser eine uneigentliche Bedeutung 602 603
Warning 1976, S. 419. Zur Ironisierung von Carmen vgl. Bourdeau 1977, S. 11-14.
604
Zur Inkompatibilität von Einstellungen als Ironiesignal vgl. Jenny Graf-Bicher: Funktionen der Leerstelle. Untersuchungen zur Kontextbildung im Roman am Beispiel von Les filles de joie von Guy de Cars und Les caves du Vatican von André Gide. München 1983, S. 95-100.
605
Ebenda, S. 99.
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des Gesagten signalisieren: Er soll die Rede der Figur nicht wörtlich nehmen gemeint ist vielmehr ihr Gegenteil. Obwohl Carmen eine nonkonformistische Sexualität vehement verurteilt, signalisiert sie zugleich Lust an dieser Sexualität; beide Einstellungen wirken auf den Leser inkompatibel und fungieren als Ironiesignal. So betont Carmen ständig ihre Tugendhaftigkeit und Prinzipienfestigkeit, etwa während sie vage Vermutungen darüber anstellt, ob Mario mit seiner Schwägerin ein Verhältnis hatte (S. 44): Claro, bien mirado, la tonta fui yo, o no tonta, vete a saber, el caso es que una tiene principios y los principios son sagrados. ... ¡Anda si yo hubiera querido! Con cualquiera, Mario, fíjate bien, con cualquiera. (Natürlich, genau genommen war ich die dumme. Oder auch nicht dumm, weißt du, aber man hat eben Prinzipien, und die Prinzipien sind heilig. Und ob ich gewollt hätte! Egal mit wem, Mario, merk's dir, egal mit wem.)
Doch Carmen „wollte" nicht nur, sie betrog ihren Mann tatsächlich, nämlich mit Jugendfreund Paco. Der zentrale Inhalt ihres Monologs, der Ehebruch mit Paco, bringt sie in eklatanten Widerspruch zu ihrem dogmatischen Festhalten an einem keuschen Lebenswandel. Diese Widersprüchlichkeit signalisiert dem Leser, daß Carmens ideologischen Positionen gegenüber Mißtrauen angebracht ist. Ein weiteres Verfahren zur Signalisierung der Ironie besteht darin, die Figur bloßzustellen, indem die Figur Kausalkonjunktionen, die absurde Kausalitäten etablieren, in ihrer Argumentation entwirft.606 Dies ist bei Carmen häufig der Fall. So bringt sie keinerlei Verständnis für die liberalen Diskussionen zwischen Mario und seinen Freunden auf, die sich über die Klassengesellschaft, die Macht des Geldes oder den Rassismus gegen Schwarze ereifern. Besonders auf den Wortführer der Gruppe, Don Nicolás, hat es Carmen abgesehen. Sein moralisches Engagement für die Schwarzen kann sie sich nur durch - völlig abwegig wirkende - persönliche oder materielle Vorteile erklären (S. 258): ... para mí que a don Nicolás le mandan cocos los negros o algo; si no, no me lo explico, hay que ver como los defiende, yo no sé si tendría un abuelo o así, pero diga lo que diga, los negros, no hay más que fijarse un poco, están echos de otro barro,... (... ich glaube ja, daß die Neger Don Nicolás Kokosnüsse oder sowas schicken. Wenn nicht, dann kann ich's mir nicht erklären, wie er sie so verteidigt! Ich weiß nicht, ob er vielleicht einen Großvater oder so hat, aber ganz egal, was er sagt. Die Neger, das sieht man auf den ersten Blick, sind aus einem anderen Holz geschnitzt, ...)
Die Übertreibung von Carmens Position ist ebenfalls ein starkes Indiz für Ironie: Carmen stellt sich wesentlich reaktionärer dar als das für die offizielle Politik zur Zeit des Romans galt, und ihre Ideologie wirkte 1966 anachronistisch, wie
606
Warning 1976, S. 420.
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Miguel García-Posada treffend bemerkt. 607 So tritt Carmen fllr die Ausweisung der allzu freizügigen Touristen ein, während für die sehr viel pragmatischere Regierung von 1966 Touristen eine Quelle für Devisen sind. Carmens Ausführungen gipfeln in einer ironischen Verdrehung der Ursachen (S. 152): Todo esto de las playas y el turismo, por mucho que tú digas, está organizado por la Masonería y el Comunismo, Mario, para debilitar nuestras reservas morales ... (Das mit den Stränden und der Tourismus ist von den Freimaurern und dem Kommunismus organisiert, Mario, um unsere moralischen Reserven zu schwächen. Da kannst du sagen, was du willst...)
Der ironische Witz der Passage besteht darin, daß Carmen die franquistische Regierung nicht nur rechts außen überholt, sondern sie auch noch - ungewollt mit ihren eigenen Waffen schlägt, indem sie die vom Regime propagierten Standardvorwürfe gegen die „unmoralischen" Regimefeinde wiederholt. Nur ist der boomende Tourismus eben nicht das Werk von „Freimaurern und Kommunisten", wie Carmen glaubt, sondern von der Regierung selbst initiiert, die sich zugunsten des schnellen Gewinns über frühere Positionen hinweggesetzt hat. Die Inkompatibilität von Carmens Einstellung mit den realen Fakten wirkt hier nicht nur als Ironiesignal gegen die Sprecherin, sondern auch als Seitenhieb gegen den scheinheiligen Opportunismus der Regierung. Auch Carmens antiquierte Vorstellungen vom Katholizismus gehören eher in die 40er Jahre des Franquismus als in die 60er Jahre. „Katholisch" bedeutet für sie im Sinn des Nationalkatholizismus autoritär, nationalistisch und einer rigiden Sexualmoral verhaftet. Die unter spanischen Katholiken der 60er Jahre verbreiteten sozialen Tendenzen und den ökumenischen Gedanken des Zweiten Vatikanischen Konzils betrachtet Carmen als subversiv. Ihre Haltung gegenüber „neumodischen Tönen" in der spanischen Kirche ist eindeutig (S. 89): Bien mirado, todo está ahora patas arriba, Mario, que a este paso cualquier día nos salen con que los malos somos nosotros ... y hasta los negros de África quieren ya darnos lecciones cuando no son más que caníbales ... Ya lo sabes, que a comprensiva y a generosa pocas me ganarán, pero antes la muerte, fíjate bien, la muerte, que rozarme con un judío o un protestante. (Genau betrachtet geht heute alles drunter und drüber, Mario. Jeden Tag können sie uns damit kommen, daß wir die Bösen sind ... und sogar die Neger in Afrika wollen uns Lektionen erteilen, wo sie doch nichts anderes als Kannibalen sind.... Du weißt, daß wenige so verständnisvoll und großzügig sind wie ich, aber eher den Tod, ja den Tod, als einen Juden oder einen Protestanten zu berühren.)
Die Ironie der Textstelle liegt erstens darin, daß Carmen durch ihre eigene Aussage deren Inhalt widerlegt, denn ihre Werturteile über „Neger", Juden und Protestanten sind alles andere als „verständnisvoll und großzügig", wie sie behaup-
607
García-Posada (1992: 121) weist auch darauf hin, daß Carmens Werte eher mit der Propaganda des frühen Franquismus, „Ordnung, Familie und Religion" als mit dem vom Zweiten Vatikanischen Konzil beeinflußten Status quo übereinstimmten.
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tet. Dieser interne Widerspruch wirkt bereits als Signal. Ein zweites Indiz filr die Ironisierung ihrer Position besteht in der unangemessenen Übertreibung: Sie wünscht sich „eher den Tod" als mit Vertretern anderer Konfessionen in Kontakt zu kommen; und sie sieht in den vorsichtigen sozialen Tendenzen der Kirche eine Gefahr für die Weltordnung, die sie zementieren möchte. Carmens anachronistische Ansichten mußten in den 60er Jahren als Hyperbel der offiziellen Position wirken. Dieses Verfahren läßt sich nicht nur als Ironiesignal deuten, sondern zugleich als Rückzugsstrategie des Autors gegenüber der Zensur: Ähnlich wie Martin-Santos und Torrente die Handlung der untersuchten Romane vor ihre Zeit verlegten und damit aktuelle Bezüge vermieden, stellte Delibes mit Carmen nicht das aktuelle politische Denken des Regimes dar, sondern ein bereits überwundenes Stadium. Trotz dieser Hinweise läßt sich die Ironie des Textes nicht eindeutig „beweisen". Auch eine wörtliche Lektüre ist vertretbar. Nur so funktioniert die Ironie als Rückzugsmöglichkeit. In Cinco horas wird die Ambivalenz des Textes wie gesagt dadurch begünstigt, daß es in Carmens Monolog keinen übergeordneten Erzähler gibt und die Figur zum substitutiven Orientierungszentrum des Romans wird. Die Figur wird dadurch nicht nur „von jeder narrativen Vormundschaft" befreit, 608 ihre Rede erscheint zugleich völlig unbewertet. Eine derartige Ironie funktioniert nicht mehr als reine Bloßstellungsstrategie, die Scheinsolidarisierung mit dem Opfer wird funktional ambivalent, und dem Leser bleibt, wie bereits im Zusammenhang mit dem unreliable narrator gesehen, selbst bei größtem Ironieverdacht eine letzte Bestätigung versagt: „Alle Interpretationen freilich finden ihre Grenze an der Geschlossenheit eines Diskursuniversums, aus dem sich der Erzähler als befragbare, als den verunsicherten Leser erlösende Instanz zurückgezogen hat." 609 Ohne extratextuelle Kenntnisse über den Autor, der erklärtermaßen antifranquistisch gesinnt war, ließe sich die Position des impliziten Autors in Cinco horas kaum ermitteln, denn das Zurücktreten des Erzählers entspricht im Prinzip einer Verschleierung der Position des impliziten Autors, während die Figurenperspektive als „simulatio" dieser Position dient. 610 Wie das Gutachten des Zensors 608
Genette 1994, S. 124.
609
Waming 1982, S. 298.
610
Ebenda, S. 301. Warning (1982: 296) denkt zwar in erster Linie an den unpersönlichen Erzähler Flauberts - doch seine Bemerkung gilt erst recht filr das völlige Wegfallen eines heterodiegetischen Erzählers im inneren Monolog. Warning weist auf die Schwierigkeiten filr die ironische Lektüre hin, wenn der Erzähler als Orientierungsinstanz im Text wegfällt, denn die Figur des Erzählers vermittelt in der Regel das Wertesystem des impliziten Autors: „Die Figur des Erzählers wird zum Orientierungszentrum, das die dargestellte Welt interpretatorisch bindet und in dieser Bindung dem Leser vermittelt - sei es mit oder ohne Ausdifierenzierung eines fiktiven Lesers als Rollenvorgabe des realen."
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zeigt, lassen sich die Ironiesignale im Text genausogut ignorieren und Carmens Werturteile der Position des Autors zuschreiben; damit liest man den Text als Affirmation des herrschenden Weltbildes. Das wichtigste Signal filr eine ironische Textlektüre ist Carmens problematisches, überzeichnetes Werteschema. Problematisch und überzeichnet wirkt es allerdings nur auf den regimekritischen Leser, während der konforme Leser ihre Prinzipien für durchaus normal hält. Die Ironisierung von Marios
Position
Die Ironie-Struktur im Text kompliziert sich, denn Carmen ist nicht das einzige Angriffsobjekt. Auch Mario - und mit ihm die linken Klischees - ist Ziel der Ironie; sie ist somit doppelseitig gerichtet. Über Mario weiß man nur das, was Carmen über ihn erzählt - sein „wirkliches" Leben bleibt weitgehend Spekulationen überlassen. Carmens Worten ist zu entnehmen, daß Mario sich moralisch integer verhalten hat, offenbar integerer als die materialistisch gesinnte Carmen selbst: Mario ließ sich nicht von seinen Schülern bestechen. Er unterstützte politische Häftlinge und Bettler auf der Straße. Und er wehrte sich vehement gegen Versuche des Regimes, ihn zu vereinnahmen (etwa indem er das Angebot eines Stadtratspostens ausschlug). Dennoch eignet sich auch Mario nicht als Identifikationsfigur, denn problematisch wirken seine eigene Widersprüchlichkeit (so propagiert Mario einerseits zwar Unbestechlichkeit, aber andererseits läßt er sich von Carmens Vater seine Zulassungsarbeit als Gymnasiallehrer schreiben), seine Realitätsfeme und seine dogmatische, humorlose Kompromißlosigkeit. 611 Neuschäfer erwähnt noch eine weitere, durchaus sympathische Dimension von Delibes' Mario-Porträt: Wenn Carmen sich über die bleichen, unästhetischen Intellektuellen am Strand lustig macht, könne man das nicht nur mit „faschistoider Intellektuellenfeindlichkeit" abtun: „... hier ist vielmehr die Selbstironie des Autors im Spiel, und nur wenn wir solche Äußerungen mit dem befreienden Lachen der Selbsterkenntnis quittieren, haben wir ihn ganz verstanden." 612 Die Inkompatibilität von Marios Prinzipien mit seinem Verhalten erweist sich als klares Ironiesignal. So spricht er mit seinen Freunden zwar - konform mit dem Diskurs der 60er Jahre - viel über „Dialog", doch mit seiner eigenen Frau, klagt Carmen, habe er kaum ernsthafte Unterhaltungen geführt. Begriffe wie „Dialog" und „Öffnung" waren Klischees, die nicht nur in oppositionellen Kreisen, sondern auch in der offiziellen Rhetorik verwendet (und sicher sehr unterschiedlich interpretiert) wurden. 613 Auch hier werden extratextuelle Kenntnisse vorausgesetzt, um das Ironiesignal überhaupt zu erkennen. Unwissentlich scheint Carmen
611
Vgl. Garcia-Posada 1992, S. 123-125.
612
Neuschäfer 1991, S. 101.
613
Vgl. die „Dialogspolitik" des Zensors Carlos Robles-Piquer!
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den Nagel auf den Kopf zu treffen, wenn sie sich über den theoretischen, praxisfernen Sprachgebrauch der Linken mokiert (S. 48): 614 Tú mucho con que si la tesis y el impacto y todas esas historias, pero ¿quieres decirme con qué se come eso? A la gente le importan un comino las tesis y los impactos, créeme... (Du mit deiner These und deinem Effekt und diesen Geschichten, aber kannst du mir sagen, womit man das ißt? Die Leute scheren sich einen Dreck um Thesen und Effekte, glaub mir...) Auch mit ihrer Kritik an der novela social geht Carmen nicht ganz fehl. Ihre Vorwürfe, Marios triste, sozial orientierte Bücher seien langweilig und würden kaum gelesen, entsprechen zwar prima vista der Reaktion der biederen Hausfrau auf die intellektuellen Aktivitäten ihres Mannes. Andererseits teilten letztlich renommierte Intellektuelle wie Luis Martín-Santos, die Goytisolo-Brüder oder der Verleger Carlos Barrai ihre Skepsis gegenüber einer literarischen Strömung, die Ende der 60er Jahre bereits überlebt wirkte. 615 Eine Lektüre, die in Mario den Guten und in Carmen die Böse sieht, wird also durch die doppelseitige Ironie des Textes durchkreuzt. Offenbar entwickelt der implizite Autor zu beiden Figuren eine gewisse Distanz. Die doppelseitige Ironie erweist sich als ausgezeichnete Strategie, den Text absolut unangreifbar filr die Zensur zu machen, denn dem Autor ist dadurch keine ironische Parteilichkeit gegen Carmen nachzuweisen. Aber das ist sicher nicht ihr primäres Motiv. Um die Ironisierung von Mario zu erklären, möchte ich vielmehr Neuschäfers These von der Selbstironie des Autors radikalisieren. Diese Selbstironie bezieht sich vermutlich nicht nur auf das weltferne Leben eines Intellektuellen, sondern ganz konkret auf Marios ideologische Positionen. Auch wenn Delibes filr sie im Grunde Sympathien hegt, wird er Mitte der 60er Jahre - ähnlich wie andere linke Intellektuelle in Spanien - in Zweifel geraten sein Uber allzu simple Ideologie-
614
Garcia-Posada (1992: 128) bestätigt: „Y el empleo obsesivo por parte de Mario de términos como estructuras y servilismo pertenecen a la memoria común de la gente de mi generación." („Der obsessive Gebrauch Marios von Begriffen wie Strukturen und Unterwürfigkeit gehören zu den gemeinsamen Erinnerungen der Leute meiner Generation".)
615
Vgl. E. Garcia Rico: Literatura y política - en torno al realismo español. Cuadernos para el diálogo, suplementos. Madrid 1971, S. I6f. Zum Beispiel charakterisiert der Schriftsteller Antonio Bernabéu die novela social - freilich aus anderer Perspektive ganz ähnlich wie Carmen: „... no pasó nunca de practicar un estrecho naturalismo, mero inventario de desdichas sin mayor penetración, plagado de aspiraciones reivindicatorías basadas en loables supuestos éticos cuya bondad las gentes de bien no pusieron nunca en entredicho." („... sie [die realistische Schule, d.V.] kam nie darüber hinaus, einen engen Naturalismus zu praktizieren, ein bloßes Inventar von Unglücksfällen ohne tiefere Durchdringung, heimgesucht von fordernden Bestrebungen, die sich auf lobenswerten ethischen Voraussetzungen gründeten, deren gutes Wesen die Oberschicht nie in Abrede stellte.")
VII. Die Spätphase
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Modelle. Die Distanz zu Mario kann man also auch interpretieren als Distanz des Autors zu eigenen früheren Positionen. Allerdings soll durch diese Selbstironie keinesfalls die Kritik an Carmens Wertesystem - und damit an der Ideologie des Regimes - zurückgenommen werden. Vielmehr scheint die doppelseitige Ironie einer ideologiekritischen Haltung im Sinne einer Demythifizierung zu entspringen. Diese Interpretation wird gestützt durch den Auftritt des jungen Mario im Schlußkapitel, das wieder der extradiegetischen Ebene angehört. Mario jr. versucht, den von Mario propagierten „Dialog" im Gespräch mit seiner Mutter in die Tat umzusetzen. Der Sohn verkörpert das Prinzip des Aufbruchs, des Neuanfangs und der Überwindung der für unüberwindlich gehaltenen Barrieren zwischen den „dos Españas", er kritisiert den „maniqueismo" der Eltern (S. 290): ... ¡los buenos a la derecha y los malos a la izquierda! Eso os enseñaron, ¿verdad que sí? Pero vosotros preferís aceptarlo sin más, antes que tomaros la molestia de miraros por dentro. Todos somos buenos y malos, mamá. Las dos cosas a un tiempo. (... Die Guten rechts und die Schlechten links! Das haben sie euch beigebracht, stimmt's? Aber ihr akzeptiert das auch ohne weiteres, ohne euch die Mühe zu machen, euch auch von innen zu betrachten. Wir sind alle gut und schlecht, Mama. Beides zugleich.)
Die Worte von Carmens Sohn machen explizit, vielleicht sogar etwas zu explizit, 616 was sich schon durch die Analyse von Carmens Monolog erschließen läßt. Der junge Mario doziert vor seiner Mutter plakativ: „Sencillamente tratamos de abrir las ventanas. En este desdichado país nuestro no se abrían las ventanas desde el día primero de su historia ..." („Wir wollen einfach die Fenster öffnen. In unserem unglücklichen Land wurden die Fenster seit dem ersten Tag seiner Geschichte an nicht geöffnet...", S. 288f.). 617 Diese abgegriffene öffiiungsmetapher und der schulmeisterliche Ton von Marios Rede könnten darauf hindeuten, daß Delibes auch den jungen Mario - mit Sympathie - ironisieren will, sobald dieser seine Thesen zu dogmatisch vorträgt.
2.7. Strategien zur Tarnung konkreter Tabus Die Konzeption von Carmen als unzuverlässige Sprechinstanz erfüllt nicht nur die Funktion, den offiziellen Diskurs zu ironisieren, sie fungiert neben anderen Umgehungsstrategien, die im folgenden untersucht werden, zur Tarnung brisanter Tabuthemen.
616
H. L. Bourdeau (1977: 15) empfindet den expliziten Schluß als „serious artistic error" und „anti-esthetic", da Delibes mit den Worten von Carmens Sohn nur etwas wiederhole, was er indirekt bereits in Carmens Monolog zum Ausdruck gebracht habe.
6,7
Sánchez Reboredo (1988: 100) hat etliche Beispiele aufgeführt, in denen das Öffnen von Türen und Fenstern als Metapher für den Wandel des Regimes gebraucht wurde diese Metapher mußte 1966 bereits als Klischee wirken.
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2.7.1. Carmen als naive, aber regimekonforme Sprechinstanz Marios Probleme mit der Zensur Carmen bezieht sich immer wieder auf Marios Querelen mit der Zensur, für sie ein ewiges Ärgernis, allerdings aus anderen Gründen als für Mario. Hat Carmen grundsätzlich schon wenig Verständnis für die schlechtbezahlten Aktivitäten ihres Mannes als Schriftsteller und Journalist, so kann sie erst recht nicht begreifen, warum sich Mario durch seine Unbeugsamkeit gegenüber der Zensur die Arbeit zusätzlich schwer macht und noch dazu sein geringes Gehalt aufs Spiel setzt - wo die zensierten Themen ihrer Meinung nach doch ohnehin niemanden interessierten! „... ¿quién iba a leer esas cosas tristes de gentes muertas de hambre que se revuelcan en el barro como puercos?" („... wer will schon diese langweiligen Dinge über verhungernde Menschen lesen, die sich im Schlamm wälzen wie die Schweine?", S. 48). Marios unnachgiebige Haltung gegenüber der Zensur bedeutet für Carmen nichts als „disgustos" - „Verdruß". Wozu dieser nutzlose Kampf um Worte? (S. 227): ... hay que ver los quebraderos de cabeza que os dan a vosotros las palabras, cielo santo, que qué lo mismo dará una cosa que otra, mira tú, Cruzada o guerra civil, que no lo entiendo, palabra, no es que me haga la tonta, te lo juro, que si tú dices Cruzada, todos sabemos que te refieres a la guerra civil y si dices guerra civil todos estamos al cabo de la calle de que quieres decir Cruzada, ¿no es eso? ... (... Das muß man gesehen haben, welches Kopfzerbrechen euch die Worte bereiten, heiliger Himmel. Ist doch Jacke wie Hose, schau, Kreuzzug oder Bürgerkrieg. Ich versteh's nicht, Ehrenwort, nicht, daß ich mich dumm stelle. Ich schwör's dir. Aber wenn du Kreuzzug sagst, wissen wir doch alle, daß du dich auf den Bürgerkrieg beziehst, und wenn du Bürgerkrieg sagst, ist für uns alle sonnenklar, daß du Kreuzzug sagen willst, oder ? ...)
Mit ihrer antiintellektuellen Rede gibt Carmen Details über die Zensur preis, die die Zensoren bei einem emsthaften Sprecher nicht akzeptiert hätten. Denn wie die Zensurpraxis zeigt, wurden Anspielungen auf diese Institution sehr penibel getilgt. 618 Das gilt insbesondere für Details über die Arbeitsweise der Zensur, wie sie Carmen unbewußt ausplaudert: In der Tat wurde die Einhaltung des offiziellen Sprachgebrauchs sehr genau kontrolliert, und das Wort „Bürgerkrieg" mußte bis in die 60er Jahre durch den franquistischen Euphemismus „Cruzada" ersetzt werden, auch wenn sich diese Praxis bei Erscheinen des Romans bereits gelockert hatte. 619 Tolerierbar dürften Carmens Äußerungen über die Repression nur deshalb gewesen sein, da die Figur ganz aus der Perspektive des herrschenden Regimes urteilt. Aber immerhin: auch wenn Carmen die Informationen entstellt vorbringt, stehen die Fakten im Text! Der Leser erhält ein ziemlich genaues
618 619
Vgl. Zensurkriterien von 1966.
Noch 1961 forderten die Zensoren den renommierten Historiker Burnett Bolleton, einen Franco-freundlichen Amerikaner, auf, in seiner Bürgerkriegsgeschichte den offiziellen Sprachgebrauch zu verwenden, exp. 3504, AGA 13.379, 1961.
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Bild über den Machtkampf zwischen Intellektuellen und Zensur. Und der komplizenhafte Leser versteht das Augenzwinkern des Autors. Auch die Anwendung von Umgehungsstrategien wird wie in Tiempo de silencio autoreferentiell thematisiert, wenngleich in deutlich weniger komplexer Form. Carmen gibt Details wieder, die sie von Mario und seinen Freunden gehört hat, jedoch ohne deren Sinn richtig zu verstehen. So fragt sie sich, was die Wörter in Kursivschrift oder Großbuchstaben in den Büchern ihres Mannes zu bedeuten haben, Wörter wie „ESA FUERZA" („DIESE KRAFT", S. 50). Sie erinnert sich auch daran, daß Mario ihr ein Gespräch über das „régimen severo" erklärt hat als „el de su estómago" (S. 237). 620 Somit berichtet sie Uber Zensurstrategien aus der Perspektive des ahnungslosen Opfers, gegen das sich diese Strategien richten. Sie repräsentiert in dieser Hinsicht die (idealtypische) Position des Zensors, da sie nur die explizite, das System affirmierende Textdimension versteht. Die Tarnung ihrer Rede besteht darin, daß sie Informationen vermittelt, die sie selbst nicht durchschaut. Der komplizenhafte Leser erkennt hingegen in den verschlüsselten Passagen konkrete Anspielungen auf die Diktatur und kann an der Figur vorbei seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen. Sie sind ein Wink, auch in dem Text, den er gerade liest, nach solchen Verschlüsselungen zu suchen. Doch eigentlich wirken die dargestellten Umgehungsstrategien derart naiv, daß man sich fragt, ob Delibes damit nicht auch die Praxis der spanischen Intellektuellen ironisiert. Repressionen gegen Oppositionelle Die Repressionen des Regimes gegen seine Gegner wurden offiziell verschwiegen. Beredtes Beispiel dafür ist die konsequente Zensur von Anspielungen auf die Ermordung des Dichters Garcia Lorca durch die Falangisten. 621 Carmen nimmt jedoch mehrmals auf die Unterdrückung von Regimegegnern Bezug. So empört sie sich etwa über Marios Solidarität mit den politischen Gefangenen, die nicht explizit erwähnt, aber mit Bezug auf Marios Worte doch ziemlich klar umschrieben werden (S. 192): ... que no eran delincuentes comunes, vaya salida, pues mucho peor todavía, botarate. Al fin y al cabo, cariño, el criminal lo es en un arrebato, se ofusca, a ver, pero lo que es los otros, a ciencia y paciencia ... que son malos por naturaleza y nada más. (... daß sie keine gewöhnlichen Delinquenten waren? - Das ist wohl ein Witz. Umso schlimmer, du Dummkopf. Schließlich handelt der Kriminelle im Affekt, er ist verwirrt, aber die anderen handeln bei vollstem Bewußtsein, ... die sind von Natur aus böse und sonst gar nichts.)
620
Das Wortspiel basiert auf der doppelten Bedeutung von „régimen" im Sinne von „Regime" und „Diät". Mario verharmlost die Diskussion über das „strenge Regime" also mit dem Hinweis, man habe über die „Magendiät" seines Freundes gesprochen.
621
Noch 1966 verboten die Zensoren ein Buch zu diesem Thema (Fernando Vázquez Ocafia: Garcia Lorca), exp. 7976, AGA 17.7344, 1966.
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Delibes verfolgt auch hier eine doppelbödige Strategie: Carmen verurteilt die politischen Gefangenen mit scharfen Worten und argumentiert im Sinne des Regimes damit, daß diese Leute ganz zurecht im Gefängnis säßen. Dabei Uberspitzt sie die Argumentation noch, indem sie die politischen Gefangenen für krimineller hält als die eigentlichen Kriminellen - eine Übertreibung, die wieder auf die Ironisierung ihrer Position hindeutet. Carmen verhält sich in ihrer Rede somit einerseits absolut regimekonform, doch andererseits bestätigt sie durch ihre aggressive Rede indirekt, was das Regime eigentlich verschweigen will: In spanischen Gefängnissen sitzen Menschen wegen ihrer politischen Ideen, nicht wegen Verbrechen wie die „gewöhnlichen Delinquenten". 2.7.2. Ambivalenter memory
monologue
Der innere Monolog impliziert wie die spezielle Variante des memory monologue die indirekte Darstellung der Fakten, 622 denn jede explizite Erklärung oder Exposition der Sachverhalte im Hinblick auf einen Leser würde unglaubwürdig wirken, da die Figur die Hintergründe ihrer Erzählung bereits kennt. Dieses Verfahren wirkt somit als eine Strategie uneigentlichen Sprechens, die hohe Anforderungen an die hermeneutische Kompetenz des Lesers stellt.623 Diese stark assoziative, Informationslücken geradezu voraussetzende Form der Informationsvermittlung eignet sich daher gut zur Tarnung regimekritischer Tabus. Der Leser versteht viele Anspielungen - wenn Uberhaupt - erst im Verlauf der Lektüre durch die Erfahrungsbildung beim Lesen. Das Prinzip des memory monologue soll im Hinblick auf seine Funktionalisierung als Tamstrategie dargestellt werden. Dorrit Cohn bezeichnet den „Erinnerungsmonolög" als „une variante du monologue autonome dans laquelle la conscience ne s'attache à rien d'autre qu'au passé". 624 Dies trifft auf Carmens inneren Monolog zu, da sie sich fast ausschließlich mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Mario befaßt. Als weitere Elemente nennt Cohn: Die gegenwärtige Sprechsituation wird nicht thematisiert - sie rückt zugunsten des Erinnerungsprozesses in den Hintergrund; eine Episode der jüngsten Vergangenheit löst die Erinnerung aus; die Erzählung ist großteils achronologisch. So kann die Auslöserepisode zwar chronologisch erzählt werden, die in diese Episode eingebetteten Erinnerungen folgen jedoch keiner chronologischen Ordnung („Ces souvenirs ... surviennent pêle-mêle, suivant une sorte de collage temporel", S. 281 ). Bei Carmen ist die Auslösersituation Marios plötzlicher Tod, der allerdings in ihrem Monolog kaum zur Sprache 622
Cohn 1981, S. 250. Vgl. auch „Einführung in Cirtco horas con Mario".
623
Auch Cohn weist darauf hin, daß der innere Monolog die EntschlUsselungsarbeit des Lesers herausfordere: „Et tout ce qui dans ses pensées reste sous-entendu ne peut être compris du lecteur que par l'effet d'un processus d'accumulation et de constant rajustement qui finit par combler les lacunes de son information." Ebenda, S. 250f.
624
Ebenda, S. 279.
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kommt. Auch ihre Sprechsituation wird nicht weiter thematisiert, da sie durch das extradiegetische Einleitungskapitel bereits klar abgesteckt ist. Carmens Erinnerungsprozeß erfolgt nach assoziativen, achronologischen Regeln, so daß sich verschiedene Zeitebenen in ihrem Monolog überlagern. Im Qbrigen weist der memory monologue die typischen Merkmale des inneren Monologs auf: das Fehlen einer expliziten Exposition, einen Anfang in medias res, eine mangelnde Erklärung oder Einordnung des Gesagten, eine elliptische Syntax und ein speziell auf den Sprecher abgestimmtes Vokabular.625 So beginnt Carmens Bewußtseinsstrom wie Molly Blooms prototypischer innerer Monolog mitten im Satz als Replik auf Marios Bibelzitat: „y en lo que a ti concierne, cariño, supongo que estarás satisfecho, que motivos no te faltan, que aquí, para inter nos, la vida no te ha tratado tan mal, tú dirás ...". („und was dich betrifft, Liebling, wirst du wohl zufrieden sein, denn Gründe hast du genug, unter uns gesagt. Das Leben hat dich in dieser Beziehung gut behandelt, was meinst du ...", S. 39).626 Der Leser kennt zwar durch die Rahmenhandlung die Situation, in der Carmen monologisiert, doch zahlreiche Anspielungen in ihrer Rede, ihre Lebensumstände und ihre Beziehung zu Mario muß er sich aus Carmens Wortschwall selbst erschließen. Die Darstellung der Erschießung von Marios Bruder José María soll zeigen, wie sich der memory monologue als Tarnstrategie einsetzen läßt(S. 169): Por menos despacharon a otros, al fin y al cabo, y no me vengas con José Maria porque el de tu hermano es un caso de justicia, y mira que a mi qué me va qué me viene, que lo de no ir a la oficina era lo de menos, ya ves tú, por más que tu padre se pusiera tan pesado, que habla testigos de que estuvo en la Plaza de Toros en el mitin de Azaña, y el día de la República anduvo por la Acera gritando como un energúmeno, con una bandera tricolor al hombro... (Andere haben sie schließlich für weniger erledigt. Komm mir jetzt nicht mit José María, denn das mit deinem Bruder ist ein gerechter Fall, und schau, wie man's auch dreht und wendet, das mit dem Nicht-ins-BQro-Gehen war das wenigste, auch wenn dein Vater immer so darauf herumritt. Aber es gab Zeugen, daß er in der Stierkampfarena auf der Veranstaltung Azafias war. Und am Tag der Republik lief er herum und schrie wie ein Geisteskranker, mit einer dreifarbigen Fahne auf der Schulter...)
Wie bei der Darstellung der politischen Gefangenen affirmiert Carmen die Position des Regimes, indem sie die Ermordung von José Maria kaltherzig als rechtmäßig rechtfertigt. Die Erzählung der Erschießung erfolgt, wie ftlr den inneren 625 626
Ebenda, S. 283.
Auch James Joyces Molly Bloom steigt mitten im Satz in ihren Bewußtseinsstrom ein: „Ja weil er sowas doch noch nie gemacht hat bis jetzt daß er sein FrOhstOck ans Bett haben will mit zwei Eiern ...". Ulysses. Frankfurt/M. 1981, S. 940. Auch inhaltliche Parallelen zwischen Carmen und Molly sind vorhanden: Beide resümieren in ihrer kolloquialen, unmittelbaren Sprache über ihre Ehe, ihre sexuellen Wünsche und Ober ihre Benachteiligung als Frau.
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Monolog typisch, in der kolloquialen, volkstümlichen Sprache Carmens, deren unpräzise Wendungen (z.B. „lo de no ir ...", „por más que tu padre se pusiera tan pesado") zur Verschleierung des Sachverhalts beitragen. Die von Cohn erwähnte „elliptische Syntax" läßt sich hier als vom Autor bewußt gesetzte Informationslücke deuten, die das Nichtsagbare - die Repression durch die Franquisten - substituiert. Carmens Bewertung „un caso de justicia" läßt sich erst vor dem politischen Hintergrund verstehen: José María verstieß durch seine Begeisterung für den republikanischen Präsidenten Manuel Azaña (im Text symbolisiert durch die republikanische „bandera tricolor") gegen das „Gesetz gegen Pornographie und Kommunismus". Ein solcher Verstoß wurde in der Frühphase des Regimes unbarmherzig mit der Erschießung des Regimegegners bestraft. Die mangelnde Erklärung des Gesagten läßt sich textintern dadurch rechtfertigen, daß sowohl Carmen als auch Mario, an dem sie sich in ihrer Rede orientiert, über den Fall Bescheid wissen, da sie ihn offenbar häufiger diskutiert hatten („y no me vengas con..."). Besonders typisch für Carmens Monolog ist der „récit répétitif', 627 indem sie teils wiederholend, teils ergänzend, häufig sogar wortgleich auf tabuisierte Themen zu sprechen kommt. Konkret charakterisiert sich ihre Rede durch Ellipsen, also die Auslassung wichtiger Elemente eines Tathergangs, und mit „kompletiven Analepsen", d.h. Rückblenden, die diese früheren Lücken der Erzählung nachträglich füllen. 628 Dieses Verfahren erschwert die Textlektüre aus dem von Cohn genannten Grund: Da sich die Figur nicht an einem Leser orientiert, läßt sie Details aus, die fìlr das Verständnis notwendig wären bzw. insistiert auf völlig irrelevanten Einzelheiten. Sie verstößt daher - im Hinblick auf den Leser - gegen das Relevanzprinzip („Bleib beim Wesentlichen") und das Ausdrucksprinzip („Rede klar und deutlich") von Grices Konversationsmaximen. 629 Solche Regelverstöße gegen die Verständlichkeit lassen sich im Falle von Cinco horas als bewußte Signale des Autors deuten. 630 Laut Rotermund gehört das Verfahren des argumentum ex silentio zu den klassischen Verfahren von Schriftstellern in Diktaturen, um eine verborgene Botschaft zu signalisieren. 631
Marios Leben als Oppositioneller Carmen deutet an, daß sie öfter eine Verhaftung Marios befürchtet habe, „todo por irte de la lengua" („nur, weil du die Zunge nicht im Zaum hältst", S. 192). 627
Vgl. Genette 1994, S. 82f. Im „récit répétitif' wird mehrmals erzählt, was einmal passiert ist. Genette faßt ihn unter die Kategorie „Frequenz", in der die Wiederholungsbeziehungen zwischen Handlung und Erzählung untersucht werden.
628
Ebenda, S. 34.
629
Die vier „Konversationsmaximen" Quantitätsprinzip, Qualitätsprinzip, Relevanzprinzip und Ausdrucksprinzip sind aufgeführt bei Wunderlich (1972: 56).
630
Vgl. „Allgemeiner Teil".
631
Vgl. Rotermund 1994, „Herbert Küsels Dietrich Eckart-Artikel", S. 239-48.
Vil. Die Spätphase (1966-1975)
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Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit wird angesprochen, aber nicht explizit gemacht. Carmen liefert nur einige Anhaltspunkte für Marios prekäre Situation als Oppositioneller (S. 192): ... menudos añitos me has hecho pasar pensando a cada rato que te iban a llevar con esa gentuza, botarate, que bastante pasé ya cuando lo del tren al demonio se le ocurre, toda la noche en vela, lo que se dice ni pegar ojo, todo por irte de la lengua, dichosas palabras, que Antonio dice que estar veinticuatro horas en la Prevención son ya antedecentes. (... einige schlimme Jährchen hast du mir verursacht. Dauernd dachte ich, jeden Moment könnten sie dich mit diesen Leuten [den politischen Gefangenen, d.V.] da mitnehmen, Dummkopf. Was habe ich wegen dem Zug mitgemacht, ein Einfall des Teufels. Die ganze Nacht lag ich wach und hab kein Auge zugemacht. Nur weil du deine Zunge nicht im Zaum hältst. Oh, glückliche Worte! Antonio sagt, daß du mit 24 Stunden in Haft schon vorbestraft bist.)
Die Passage bleibt kryptisch: Von welchem Zug spricht Carmen? War Mario bereits in Haft? Klar wird nur, daß sich Mario - offenbar wegen seiner politischen Aktivitäten - in äußerste Gefahr begeben und Carmen um sich und die Familie zu bangen hatte. Doch Carmen nimmt noch an anderen Stellen auf Marios oppositionelles Leben Bezug. Sie erwähnt bereits vorher ein „Verfahren", das Mario von besagtem Antonio, dem Schuldirektor, angehängt wurde, offenbar aufgrund der Denunziation eines Schülers (S. 153): ... el expediente te lo ganaste a pulso, hijo, y si no te dejaron en la calle fue por verdadero milagro, que aún me duelen las rodillas de rezar, no creas que es mentira, que se me deformaron y todo. Y no me vengas con que Antonio, que Antonio, lo mires por donde lo mires, no podía hacer otra cosa, Mario, que él, mal que te pese, te había llamado al orden anteriormente, no lo negarás, y si un alumno fue a quejarse, cosa que aquí, para ínter nos, no me choca nada, a él no le quedaba otro remedio que dar cuenta a Madrid. (... an dem Verfahren bist du selber schuld, Junge, und daß sie dich nicht gefeuert haben, ist ein wahres Wunder. Mir tun die Knie heute noch weh vor lauter Beten, das ist keine Lüge, richtig verformt haben sie sich. Und komm mir nicht mit Antonio. Antonio konnte, wie du's auch betrachtest, nichts anderes tun, Mario. Denn er hatte dich, ob du willst oder nicht, vorher zur Ordnung gerufen, das kannst du nicht leugnen. Aber wenn sich ein Schüler beklagt, was mich unter uns gesprochen gar nicht wundert, dann bleibt ihm nichts anderes übrig als Madrid darüber zu informieren.)
In Carmens Redeschwall tauchen kontextlos einige zentrale Informationen auf: das Verfahren gegen Mario, die Anzeige des Schuldirektors und die Denunziation seitens des Schülers wegen regimekritischer Äußerungen des Lehrers. Der Leser kann daraus den Tathergang ungefähr rekonstruieren. Was Mario aber wirklich gesagt hat, bleibt zunächst ausgespart, man erfährt es erst in einem Nebensatz im letzten Drittel des Buches. Nachdem Carmen noch einmal Antonio, das Verfahren und ihr ausdauerndes Beten wiederholt hat, nennt sie endlich den Grund für Marios „expediente": „¿Tú crees que un cristiano puede decir a boca llena, en plena clase, que era una lástima que la Iglesia no apoyase la Revolución
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Francesa?" („Glaubst du, daß ein Christ mit vollem Ernst vor der ganzen Klasse behaupten kann, es sei eine Schande, daß die Kirche die Französische Revolution nicht unterstützt habe?", S. 208). Damit referiert Carmen nicht nur eine kirchenkritische Äußerung, die Mario wegen der Zensur wohl nicht in direkter Form hätte äußern können.632 Sie komplettiert auch die Informationen über das Verfahren Marios wegen seiner regimekritischen Äußerung. Damit ergibt sich letztlich durch äußerst dispers vorgetragene Aussagen - ein relativ genaues Bild, welche Folgen eine regimekritische Äußerung in der Diktatur haben kann. Aber die Darstellung des Tathergangs ist so implizit, daß der Zensor ihn entweder nicht erkannte oder sich nicht zum Handeln veranlaßt sah. Mißhandlung durch die Guardia Civil Mario wurde offenbar von einem Polizisten nachts im Park geschlagen, als er dort mit dem Fahrrad fuhr. Ähnlich wie im ersten Beispiel kommt Carmen im „récit répétitif mit Ellipsen und kompletiven Analepsen auf den Vorfall zu sprechen. Zum ersten Mal erwähnt sie den Angriff des Polizisten im Zusammenhang mit ihren Anschuldigungen gegen Don Nicolás, den Chefredakteur von Marios Zeitung El Correo, den Carmen als „rojo" zutiefst verabscheut (S. 80): ... porque don Nicolás es una mala persona y si te entró por el ojo derecho es sencillamente porque te defendió cuando lo del guardia la noche aquella, que aunque te pegase, ya ves tú, que yo no me lo creo, la ley es la ley y si está prohibido atravesar el parque en bicicleta, pues ya se sabe, que lo mires por donde lo mires, el guardia cumplía con su deber y si te hubiera matado ... (... denn Don Nicolás ist ein schlechter Mensch. Und wenn du ihn ins Herz geschlossen hast, dann doch nur, weil er dich verteidigte, als in jener Nacht das mit dem Polizisten passierte. Und selbst wenn er dich schlug - aber ich glaub nicht daran - ist das Gesetz eben das Gesetz. Und wenn es verboten ist, mit dem Fahrrad durch den Park zu fahren, dann erfüllte der Polizist eben wie man weiß seine Pflicht. Das kannst du drehen und wenden, wie du willst. Und selbst wenn er dich getötet hätte...)
Auch hier bezieht sich Carmen auf ein Ereignis, das sowohl ihr als auch ihrem Orientierungspunkt Mario bestens vertraut ist, daher sind alle Erklärungen überflüssig. Der Leser erfährt aus diesem assoziativen Gedankenstrom zunächst nur die Grundinformation. Mario geriet in Konflikt mit der Polizei. Doch die Informationen werden in diesem Fall nicht bloß stark zersplittert vermittelt, sie erscheinen auch widersprüchlich, denn Carmen deutet zwei Versionen an. Die offizielle, von ihr und von der Polizei vertretene Version lautet, Mario sei vom Rad gefallen und habe sich am Pedal verletzt: ,,¿a santo de qué te va a pegar un guardia por atravesar el parque en bicicleta?" („warum soll dich ein Polizist schlagen, nur weil du mit dem Fahrrad durch den Park fährst?", S. 165). Die inoffizielle Version vertreten Mario und Don Nicolás. Letzterer bezeichnet den Übergriff des Polizisten - laut Carmen - als „Machtmißbrauch" und „Attentat
632
Vgl. Zensurkriterien von 1966.
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251
gegen die Menschenwürde" (S. 81). Mario selbst „äußert sich" durch ein Bibelzitat: „Encontráronme los guardias que rondan la ciudad, me golpearon, me hirieron ...". („Mich fanden die Wachen, die in der Stadt die Runde machten, sie schlugen und sie verletzten mich ...", S. 165). Der tatsächliche Tathergang bleibt zwar grundsätzlich ungeklärt, doch nachträglich erwähnt Carmen noch ein relevantes Detail, das darauf hinweist, daß Mario die Wahrheit gesagt hat. Er besorgte sich ein ärztliches Attest, um gegen den Machtmißbrauch Anzeige zu erstatten; es bestätigt, daß die Verletzung von den „Fingerknöcheln einer Hand" herrühre (S. 244). Carmen wertet jedoch alle Fürsprecher Marios ab und macht sie unglaubwürdig: Don Nicolás als „mala persona", den Arzt als „medicucho", Mario selbst als Psychopathen: Seine Anschuldigungen gegen die Polizei erklärt sie durch seine „absurde Phobie" gegen die Staatsmacht (S. 170). 2.7.3. Marios Positionen - indirekt und doch p r ä s e n t Mario ist zwar tot und kann sich nicht mehr äußern, dennoch erfährt der Leser viel Uber seine ideologische Position. Der regimekritische Diskurs wird unter anderem durch die Bibelzitate in Carmens Monolog eingeschmuggelt. 633 Sie stellen nach Genettes Terminologie meta-metadiegetische Erzählungen, also Erzählungen der dritten Ebene dar. Das Zitat anerkannter Autoritäten gilt als klassische Tarnstrategie, 634 um eine regimekritische Botschaft als eine scheinbar das System affirmierende Botschaft auszugeben. Dabei gehörte die Bibel sicherlich zu den am häufigsten zitierten Werken unter den katholisch erzogenen Schriftstellern im Franquismus. Für sich genommen wirken die Bibelzitate in Cinco horas völlig unpolitisch, aber im Kontext mit Marios sozialem Engagement erhalten einige davon regimekritische Implikationen. Dies soll am Beispiel von Marios Pazifismus gezeigt werden, auf den durch ein Zitat aus dem Buch Jesaias (9: 4-5) angespielt wird (S. 91): Han sido echados al fuego y devorados por las llamas los zapatos jactanciosos del guerrero y el manto manchado de sangre. Porque nos ha nacido un hijo que tiene sobre su hombro la soberanía y que se llamará Príncipe de la Paz. (Ja, jeder Soldatenstiefel, der polternd einherstampft, jeder Mantel, im Blut geschleift, wird verbrannt und im Feuer verzehrt! Denn ein Kind wird uns geboren, ein Sohn uns geschenkt, auf dessen Schulter die Herrschaft ruht. Man nennt ihn Friedensfürst.) Auf der oberflächlichen, für den Zensor bestimmten Ebene wird durch den Gebrauch von Bibelzitaten der offizielle Diskurs affirmiert. Auf der zweiten Ebene liegt eine Verschiebung vor, denn der komplizenhafte Leser muß das Zitat von seinem ursprünglich religiösen Kontext auf die Situation unter Franco Ubertra-
633
634
Herkunft und Kontext der Bibelzitate untersucht M. C. Smith in „Los versículos bíblicos y la estructura binaría de Cinco horas con Mario", in: Hispanic Journal 1981/82, Bd. 3, S. 21-40. Vgl. „Allgemeiner Zensurteil".
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gen. Dadurch wird die offizielle Politik indirekt kommentiert, denn der von den Franquisten begonnene Bürgerkrieg sowie die harte „Kreuzzugspolitik" gegen das linke „Anti-Spanien" widersprechen ganz offensichtlich dem Inhalt des Bibelzitats.
2.8. Die frustrierte Ehefrau - Carmens unterdrückte Sexualität Sexualität ist in Carmens Monolog ein Thema, dem die Protagonistin mit einer paradoxen Haltung begegnet: Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Verurteilung ihrer Schwester Julia. Julia ist für Carmen „una sinvergüenza", „eine schamlose Person", die nur Schande in die Familie gebracht habe (S. 184), da sie sich mit dem gutaussehenden italienischen Soldaten Galli Constantino einließ und ein uneheliches Kind zur Welt brachte. Gleichzeitig quält Carmen aber auch die Eifersucht (S. 182): Y el caso es que yo hubiera jurado que a Galli le gustaba yo, pero si Julia le dio pie, el, a ver, no es tonto, sabia adönde iba, conmigo podia haberlo intentado, que me dio una rabia espantosa,... (Und ich hätte geschworen, daß ich Galli gefiel. Aber natürlich, wenn Julia ihm den kleinen Finger reichte, er ist auch nicht dumm. Er wußte schon, wo er leichtes Spiel hatte. Aber mit mir hätte er es wenigstens versuchen können! Ich war stinksauer,...)
Diese ambivalente Haltung charakterisiert ihren ganzen Monolog - Beichte und Anklage zugleich. Carmen selbst bezeichnet ihr Geständnis des vermutlichen Ehebruchs mit Paco als Beichte: „... no me guardo nada, como si me estuviera confesando, palabra, ...". („... ich halte nichts zurück, so als ob ich beichten würde, Ehrenwort...", S. 281). Andererseits macht Carmen aus der Beichte eine Anklage gegen Mario, denn sie gibt ihm letztlich die Schuld dafür, daß es so weit kommen mußte - immerhin betrachtet sie ihn in sexuellen Dingen als Versager („... mi marido es un rutinario, que es la pura verdad, ... ni disfrutar, ..." - „... mein Mann ist ein Routinier, das ist die reine Wahrheit ... ohne Genuß, ...", S. 163). Carmen ist sicher ein eindeutiges Beispiel für die gängige Doppelmoral im Regime. Aber zugleich unterwandert Carmen in ihrer konformen Rede ihre eigenen Prinzipien. Zu Recht weist Alfonso Rey, einer der frühen Interpreten des Romans, daraufhin, daß Cinco horas auch unter anderem Vorzeichen als damals üblich gelesen werden kann: dem der Unterdrückung der Frau durch eine Gesellschaft, die nach Maßgabe der Männer geschaffen sei.635 Die Diskriminierung der Frau im Franquismus beschreibt L. Alonso Tejada ausführlich in seinem Buch über die sexuelle Repression des Regimes. 636 Gemäß der rigiden katholischen Moral ist Sexualität nur innerhalb der Ehe und nur mit dem Ziel der Zeugung erlaubt. Sexualität im Zeichen der Lust galt hingegen - selbst in der Ehe - als Sünde. Dabei bezeichnet Tejada die Funktion der Frau als „Gebär635
Rey 1975, S. 203.
636
Tejada 1977.
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maschine", deren einzige Aufgabe darin bestehe, den männlichen Trieb zu befriedigen. Weibliche Frigidität und erotische Frustration gehörten zur Realität zahlreicher Ehen unter Franco. Die ungleiche Behandlung von Mann und Frau zeigt sich aber auch in der Gesetzgebung, denn der Ehebruch der verheirateten Frau wurde als Delikt gerichtlich verfolgt, während sich viele Ehemänner unter dem Deckmantel der franquistischen Doppelmoral eine Geliebte hielten oder das Bordell aufsuchten. Verhütungsmittel, Scheidung und die Zivilehe waren gesetzlich verboten, die „Gebärfreudigkeit" der Frauen wurde durch „Geburtspreise" prämiert. Und auch die Verhaltensregeln für verheiratete Frauen zielten auf absolute Unterordnung ab, wie ein Beispiel aus einem Ratgeber für junge Bräute von 1967 zeigt: 637 ... Ya lo sabes: cuando estés casada, jamás te enfrentarás con él, ni opondrás a su genio tu genio, y a su intransigencia la tuya. Cuando se enfade, callarás; cuando grite, bajarás la cabeza sin replicar; cuando exija, cederás, a no ser que tu conciencia cristiana te lo impida. En este caso no cederás, pero tampoco te opondrás directamente: esquivarás el golpe, te harás a un lado y dejarás que pase el tiempo. Soportar, ésa es la fórmula ... (... Du weißt ja, wenn du verheiratet bist, darfst du ihm nie widersprechen. Du wirst seinem Willen nicht deinen eigenen entgegenstellen, noch seiner Unnachgiebigkeit die deine. Wenn er wütend wird, schweigst du. Wenn er schreit, senkst du den Kopf ohne zu antworten. Wenn er dich will, dann gibst du nach, außer dein christliches Gewissen hindert dich daran. In diesem Fall gibst du nicht nach, aber du darfst dich auch nicht direkt verweigern: Du weichst dem Schlag aus, drehst dich auf die andere Seite und läßt die Zeit verstreichen. Ertragen - das ist die Formel...)
Vor diesem Hintergrund muß man Carmens Klagen über ihren Ehemann lesen. Ihre Beschreibung der Ehe mit Mario ähnelt in vielem dem von Tejada vermittelten Bild, obwohl Mario als politisch fortschrittlicher Intellektueller sicher nicht dem Klischee vom spanischen Don Juan entspricht. Carmens
Beichte als
Abrechnung
Carmens Monolog kann vor der Folie der christlichen Beichtpraxis gelesen werden, wie sie Michel Foucault in seiner Histoire de la sexualité anschaulich aufzeigt. 638 Er verwendet dafür den Begriff des „aveu", der ganz allgemein „Geständnis" bedeutet und bei Foucault auch auf die Sonderform der „Beichte" übertragen wird. Einerseits drückt sich in der Beichte ein Machtverhältnis aus, in dem sich der Beichtende dem „Beichtvater" ausliefert - der Kontrollinstanz, die die Wahrheit aus dem Beichtenden herausholt, seine Aussage interpretiert und ihm die Absolution erteilt. Dabei muß der Beichtvater nicht tatsächlich anwesend sein, sondern er kann auch virtuell, also bloß in der Vorstellung des Beichtenden
637
E. Enciso Viana: La muchacha en el noviazgo. 9. Aufl. Madrid 1967, S. 95, zitiert nach Tejada 1977, S. 30.
638
Michel Foucault: Histoire de la sexualité: La volonté de savoir. Bd. 1. Paris 1976.
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präsent sein (S. 82f.), wie dies bei Carmen der Fall ist, denn ihr „Beichtvater" Mario ist j a bereits tot. Die Beichte erfolgt laut Foucault nicht freiwillig, selbst wenn ihre Verankerung in bestimmten Machtbeziehungen nicht erkannt wird und es dem Beichtenden so scheint, als strebe die Wahrheit freiwillig, gewissermaßen als Erlösung, nach außen. 639 Carmen bittet Mario dementsprechend in einem absurd-dramatischen Appell um Erlösung von ihrer Schuld: „... el que me perdones es cuestión de vida o muerte, ¿te das cuenta?" („... dein Verzeihen ist filr mich eine Frage von Leben und Tod, ist dir das klar?" S. 281). Die spezifische Machtkonstellation, in der sich die Beichte situiert, nennt Foucault „Macht-dispositiv". Bevorzugtes Objekt der Beichte ist wie auch bei Carmen die Sexualität, insbesondere die Übertretung des sechsten Gebotes. Andererseits produziert der Diskurs über Sexualität sowohl beim Beichtenden, als auch bei der Machtinstanz Lust (S. 61): Le pouvoir qui, ainsi, prend en charge la sexualité, se met en devoir de frôler les corps; il les caresse des yeux; il en intensifie des régions; il électrise des surfaces; il dramatise des moments troubles. ... Ce qui produit un double effet: une impulsion est donnée au pouvoir par son exercice même; ... Mais tant de questions pressantes singularisent, chez celui qui doit répondre, les plaisirs qu'il éprouve; le regard les fixe, l'attention les isole et les anime.
Die Machtinstanz empfindet Lust, während sie ihre Kontrollfunktion ausübt Foucault spricht von einer „Sensualisierung der Macht". Der Beichtende entzündet sich an der Lust, indem er sie in seinem Diskurs thematisiert, während er von seinen Gedanken, Wünschen, wollüstigen Vorstellungen, Versuchungen spricht. Denn „alles muß gesagt werden" in der Beichte, wenngleich unter Zensur der verwendeten Sprache (S. 28). Anders gesagt: Der Beichtende verwandelt seine Lust in einen von der Macht akzeptierten und sogar geforderten Diskurs. 640 In diesem Zusammenhang muß Foucaults Machtbegriff erklärt werden: Macht basiert für ihn nicht auf einer eindeutigen Opposition zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, sie läßt sich auch nicht auf einen einzigen Punkt konzentrieren. Er spricht vielmehr von der „Allgegenwart der Macht" in einem bestimmten System (S. 122). Macht wird ausgeübt in einem vielfältigen Geflecht von Beziehungen, an vielen Punkten zugleich. Dennoch bezieht sich auch Foucault immer
639
Ebenda, S. 80f. Foucault schreibt: „La vérité n'est pas libre par nature, ni l'erreur serve, mais que sa production est tout entière traversée des rapports de pouvoir".
640
Damit rückt Foucault von der herkömmlichen Repressionsthese ab: Die Sexualität wurde seit dem 17. Jahrhundert nicht einfach unterdrückt, sie provozierte und produzierte vielmehr eine unerschöpfliche Anzahl von Diskursen. Hinter dieser Diskursvielfalt stand das Ziel der Macht, über die Sexualität Wissen zu erlangen, sie zu kontrollieren und sich zunutze zu machen (in der Religion, der Wissenschaft, der Pädagogik, der Bevölkerungspolitik etc.).
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wieder auf die Macht, grenzt sie aber von einer bestimmten Institution oder einer bestimmten Struktur ab, indem er die Macht folgendermaßen definiert (S. 122f.): Et 'le' pouvoir dans ce qu'il a de permanent, de répétitif, d'inerte, d'autoreproducteur, n'est que l'effet d'ensemble, qui se dessine à partir de toutes ces mobilités, l'enchaînement qui prend appui sur chacune d'elles et cherche en retour à les fixer... c'est le nom qu'on prête à une situation stratégique complexe dans une société donnée.
Die Macht ist filr Foucault also das Ergebnis der Gesamtheit der Machtbeziehungen in einer Gesellschaft, ihre Verknüpfung und Fixierung. Vor diesem Hintergrund soll die Funktion von Carmens Beichte genauer analysiert werden. Im Zentrum stehen dabei drei Fragen. Erstens: wozu beichtet Carmen ihre sexuellen Wünsche und den Ehebruch mit Paco? Zweitens: was läßt sich der Beichte über das Machtverhältnis zwischen Carmen und Mario entnehmen? Drittens: inwieweit dient die Beichte als getarnter Protest gegen das patriarchalische System? Der Zweck von Carmens Beichte Mehr noch als die legitime, aber unbefriedigende Sexualität mit ihrem Ehemann beschäftigt sie die außereheliche, von ihr offenbar als lustvoller empfundene nonkonforme Sexualität. Hierfür zwei Beispiele: Mehrmals schlägt sie Mario als Handlung ftlr sein nächstes Buch die Geschichte von Maximino Conde vor, eines Mannes, der sich in seine Stieftochter verliebt und sie verführt (S. 107). Indem aber die Verführung nicht in letzter Konsequenz vollzogen wird, bleibt die Lust vor ihren Prinzipien gerechtfertigt und wird sogar mit moralischer Intention verbrämt. Das zweite Beispiel zeigt ein ähnliches Vorgehen: Wiederholt erwähnt Carmen die Anzüglichkeiten ihres Verehrers Eliseo San Juan. Jedesmal, wenn sie mit dem enganliegenden Pullover vorbeikommt, macht er ihr das gleiche „Kompliment": „qué buena estás, qué buena estás; cada día estás más buena" („Wie sexy du bist, wie sexy du bist, jeden Tag bist du's noch mehr", S. 120). Wieder reagiert sie zwiespältig: Einerseits wirft sie dem Bekannten seine sexuelle „Obsession" vor und kritisiert sein Verhalten normgemäß als „una cosa mala" („schlechte Sache"). Andererseits macht sie deutlich, daß sie offenbar Lust dabei empfindet, andere Männer zu erregen, und diese Lust wiederholt sich beim Akt des Sprechens, im Vollzug der Beichte selbst. Die Sinnlichkeit ihrer detaillierten Darstellung ist dafür ein wichtiges Indiz: So betont sie in einem Atemzug ihre eigene Körperlichkeit („si voy con el suéter azul el acabóse" - „wenn ich mit dem blauen Pulli ankomme, dann ist das der Gipfel", S. 120) und Eliseos Männlichkeit - seinen breiten Rücken, seine ausladende Kinnpartie und seine tiefe Stimme. Carmen wendet jedesmal die gleiche Strategie an, um über nonkonforme Sexualität zu sprechen: Sie verurteilt sie zunächst durch die Stereotypen der herrschenden Klischees („una cosa mala", „una sinvergüenza", „una obsesión"); dadurch affirmiert sie pro forma den offiziellen Diskurs. Indirekt gibt sie aber zu verste-
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hen, daß sie von dieser scheinbar abgewerteten Sexualität besonders angezogen wird. Ihre Körpersprache unterstreicht ihre Lust an der Erotik zusätzlich, denn charakteristisch ist für sie eine Handbewegung; immer wieder zieht sie sich den knappen Pullover über ihre üppigen Brüste und betont so ihre sexuellen Reize, deren Wirkungen auf die Männer sie im Verlauf des Monologs gebührend herausstellt. Offenbar erlebt sie - wie bei Foucault dargestellt - im Diskurs der Beichte eine Lust, die sie in Wirklichkeit nie ausleben durfte. Die Rede über Sexualität dient ihr daher als Ersatz. Nur vorgeblich dient Carmens Beichte als katholische Pflichtübung, de facto erfüllt sie andere Funktionen: Denn das Mittel der Beichte erlaubt es Delibes, seine Protagonistin über die - besonders bei einer Frau! - streng zensierte Erotik sprechen zu lassen. Die Beichte fungiert als Umgehungsstrategie, denn sie erfordert ja den detaillierten Rechenschaftsbericht der geheimsten Wünsche. Delibes umgeht geschickt die offizielle Norm im Franquismus, die der Frau überhaupt keine eigenen sexuellen Bedürfnisse zugesteht, geschweige denn, sie offen darüber sprechen läßt, indem er die katholische Norm (über-) erfüllt. Protest gegen das patriarchale System Carmens sexuelle Obsession erscheint als Ausdruck einer jahrelangen Frustration, die zwar vordergründig Ehemann Mario anzulasten ist, aber auf einer zweiten Ebene mit der rigiden Moral des Franquismus korreliert. Denn der politisch fortschrittliche Mario verkörpert in bezug auf Ehe und Sexualität genau die offizielle Norm. Foucault nennt eine traditionelle Konzeption von Sexualität, wie sie Mario vertritt, „Allianz-Prinzip" („la loi de l'alliance", S. 55). Damit ist die heterosexuelle Monogamie der Ehe gemeint, das verheiratete Paar mit seiner regelmäßigen, auf Reproduktion abzielenden Sexualität. Dem stellt Foucault die Ordnung der Lüste, eine nonkonforme, perverse Sexualität gegenüber (S. 52-55). Verstöße gegen das Allianz-Prinzip wie vorehelicher Geschlechtsverkehr, Ehebruch, geistiger oder fleischlich vollzogener Inzest, Vergewaltigung, Sodomie und Homosexualität werden von der Katholischen Kirche als Todsünden verurteilt und dementsprechend auch im Franquismus tabuisiert. Doch Carmen verstößt in Gedanken oder Taten mehrmals gegen das Allianz-Prinzip: Sie wünscht sich insgeheim, sie hätte vor der Ehe ein Verhältnis mit dem leidenschaftlichen Galli Constantino unterhalten. Sie findet Gefallen an der inzestuösen Geschichte Maximino Condes. Schließlich bricht Carmen mit Paco (möglicherweise) sogar aktiv das sechste Gebot. Die sinnliche Carmen und der christliche Asket Mario vertreten zwei unversöhnliche Positionen, die Carlos Jerez Farrän in Anspielung auf den Kampf zwischen Fleischeslust und Fastenzeit im Libro de Buen Amor des Arcipreste de Hita als „Dofla Carnal" und „Don Cuaresma" bezeichnet.641 Jerez Farrän sieht in ihren unvereinbaren Auffassungen zur Sexualität den wahren Grund für die schwierige Ehe des Paars.
641
Jerez Farràn 1990, S. 225-239.
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Die Fragen nach dem Protestpotential von Carmens Monolog und nach dem Machtverhältnis zwischen ihr und Mario müssen im Zusammenhang diskutiert werden. Die Protagonistin spricht mit den Worten des offiziellen Diskurses, denn die Zensur läßt ihr kaum eine andere Wahl. Carmens Aufbegehren gegen die offizielle Ordnung muß sich daher über einen Umweg vollziehen: über ihre Vorwürfe und Anklagen gegen Ehemann und Regimekritiker Mario. Hier werden Foucaults Bemerkungen zum Machtdispositiv der Beichtsituation relevant: Der Beichtende ist der Unterlegene, und der „Beichtvater" erlangt als Zuhörender eine Machtposition über den Bekennenden. Im Fall von Carmens Monolog bedeutet das: Der tote Mario wird von Carmen zu der (Macht-) Instanz gemacht, die ihre Beichte abnimmt. Er entspricht daher in der Beichtsituation repräsentativ für Regime und Kirche - einer offiziellen Kontrollinstanz. In diesem Punkt sprengt Delibes das scheinbar eindeutige MachtgefÜge zwischen Carmen, der Repräsentantin der Sieger, und Mario, dem unterdrückten Regimegegner. Die Oppositionen werden umgekehrt: Die regimetreue Carmen steht mit ihrer Vorstellung von Sexualität außerhalb des herrschenden Diskurses, und der Oppositionelle Mario in seiner Rolle als Ehemann nicht mehr auf der Seite der Unterdrückten, sondern auf Seiten der Machthaber. Das Beichtverhältnis spiegelt die reale Machtbeziehung des Paares zu Lebzeiten Marios genau wider. Im Sinne Foucaults muß man in Cinco horas con Mario von einem komplexeren Machtbegriff ausgehen als ihn die spanischen Intellektuellen der 50er Jahre noch häufig vertraten. Delibes glaubt wie Martin-Santos nicht mehr an eine einfache Opposition zwischen den bösen, übermächtigen Franquisten auf der einen Seite und den guten, unterdrückten Linken auf der anderen Seite, sondern entwickelt am Paradigma der Ehe zwischen Mario und Carmen ein komplizierteres Machtgeflecht, in dem die Beziehungen zwischen Macht und Unterdrückung ambivalenter gesehen werden müssen. Abhängig von der jeweiligen Rolle der Partner kann sich das MachtgefÜge ändern und sogar umkehren: Der politisch unterdrückte Mario wird in der Ehe zum „Unterdrücker", die politische „Siegerin" Carmen zur sexuell Unterdrückten. Daraus erklärt sich Carmens ambivalente Rede Uber Sexualität: Einerseits erwartet sie von Mario als Kontrollinstanz die Erlösung von ihrem Fehltritt mit Paco, wie es ihre franquistischen Prinzipien gebieten, dadurch unterwirft sie sich dem etablierten MachtgefÜge. Andererseits klagt sie Mario an, denn er hat die Entfaltung von Carmens eng an eine nonkonforme Sexualität geknüpfte Identität verhindert. Mario fungiert in diesem Fall als pars pro toto für die offizielle Sexualnorm. Anstatt ihre Kritik direkt gegen die Diktatur zu richten, richtet Carmen sie gegen Mario. Als linker Oppositioneller erweist er sich als ideales Objekt: Nach dem Motto, man schlägt den Sack und meint den Esel, bringt sie ihr Unbehagen an der lustfeindlichen Sexualität des Systems über diesen Umweg zum Ausdruck. Auch dies ist ein Beispiel für Verschiebung. Carmens wütende Angriffe gegen einen Regimekritiker funktionieren als zensursichere Tarnung für die Kritik an den sexual- und frauenfeindlichen Normen eines Regimes, das seine
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Bewohner zu einer Hypokrisie zwingt, wie sie Carmen vorführt. Hier greift die Ironie nicht mehr, die der Autor Carmens Weitanschauung entgegenbrachte - die Figur als Opfer steht nun im Vordergrund.
2.9. Schlußfolgerungen Cinco horas con Mario ist ein Beispiel belegbarer Selbstzensur, denn Delibes hat in Interviews öfter darauf hingewiesen, daß das Buch eigentlich als Dialog zwischen der regimekonformen Carmen und ihrem oppositionellen Mann Mario geplant war. Ihm sei beim Schreiben klar geworden, daß die Zensur den Roman nicht autorisiert hätte, wenn Mario seine Position in vivo vertreten hätte. So ließ er Mario sterben und stellte ihn aus der Sicht einer Franquistin dar. Delibes gelang dadurch das Kunststück eines Romans mit kritischem Potential, der für die Zensur unangreifbar war. Die Konzeption der Protagonistin als naive, aber scheinbar regimekonforme Sprecherin erweist sich als die wichtigste Tarnstrategie des Buches. Die monologisierende Carmen bleibt auf der intradiegetischen Ebene die einzige Sprechinstanz und damit das einzige Orientiemngszentrum im Text, dadurch bietet die Figur eine sichere Rückzugsmöglichkeit für den Autor. Carmen entlarvt sich jedoch selbst als unzuverlässige Sprechinstanz durch Widersprüche zwischen Denken und Handeln, aber auch durch extreme, allzu simple Werturteile. Dies sind Indizien für die Ironisierung ihrer Position - eine Position, die einer Karikatur der offiziellen Rhetorik des Franquismus gleichkommt. Dennoch wirken die Signale nicht so stark, daß sie eine gegenteilige Lektüre verhinderten: die unverdächtige Darstellung einer regimekonformen Frau „aus dem Volke". Die Ironisierung der Figur bezieht sich zudem nur auf Carmens von außen übernommene ideologische Phrasen, während ihre Aussagen über ihr Leben als frustrierte Ehefrau durchaus authentisch erscheinen. Der Leser sieht Carmen also gleichzeitig aus zwei verschiedenen Perspektiven: einerseits als Apologetin des Regimes, andererseits als Opfer der patriarchalischen Gesellschaft des Franquismus. Die Ironie des Textes richtet sich aber nicht nur gegen Carmen, sondern auch gegen Mario, der sich ebenfalls widersprüchlich darstellt. Diese doppelseitige Ironie fungiert als Rückzugsstrategie gegenüber der Zensur, denn nicht nur der offizielle Diskurs wird parodiert, sondern auch der linker Gruppierungen. Die Tarnung gegenüber der Zensur steht dabei aber nicht im Vordergrund; und gewiß soll damit nicht die Kritik am franquistischen Werteschema zurückgenommen werden. Viel wahrscheinlicher ist in Übereinstimmung mit der Gesamtaussage des Textes die Auflösung von Schwarz-weiß-Bildern, die Skepsis gegenüber radikalen Ideologien überhaupt und eine Überwindung des „maniqueismo" zwischen linken und rechten Spaniern. Aufßllligerweise mißachten explizit antifranquistische Lektüren des Textes in der Regel die Opferrolle Carmens - möglicherweise deswegen, weil der Text in dieser Richtung überwiegend von Männern, und zwar von Männern, die wie Mario selbst im Franquismus gelebt haben, interpretiert wurde. Dieser bias mag zumin-
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dest die frühen Interpretationen beeinträchtigt haben. Spätere Ansätze gehen zwar eher auf das Frauenbild bei Delibes ein, übersehen dafür aber häufig die Regimekritik im Text. Die vorliegende Analyse geht davon aus, daß Delibes einen ganz wesentlichen Teil seiner Kritik am repressiven Regime gerade mit Hilfe der Konzeption einer frustrierten Ehefrau formuliert hat. Carmens Monolog läßt sich daher auch als Protest gegen die sexuelle Repression und den Machismus des Systems deuten. Natürlich unter dem Deckmantel der Sprache des Regimes, denn Carmen hat für ihr Unbehagen an der sexuellen Norm keine eigene Sprache zur Verfügung. Zudem dient Delibes der offizielle Sprachduktus als Tarnung für die regimekritische Implikation von Carmens Diskurs. Formal gerät ihr Monolog zur Beichte gegenüber dem toten Mario - mit der bei Foucault beschriebenen Ambivalenz. Die Form der Beichte erlaubt es Carmen, offen Uber erotische Wünsche zu sprechen, die in der direkten Äußerung wohl der moralischen Zensur zum Opfer gefallen wären, insbesondere weil hier eine Frau spricht. Aber die Inszenierung von Carmens Beichte erlaubt auch eine Auflösung eindeutiger Hierarchien: Mario, der mit seinem politischen Diskurs auf der Seite der Unterdrückten steht, vertritt als Ehemann eine konforme Sexualität. Carmen dagegen verstößt mit ihrer Auffassung von Sexualität gegen die Norm. Ihre Angriffe gegen Mario - insbesondere ihre Klagen Uber seine sexuelle Unzulänglichkeit - erhalten vor diesem Hintergrund eine neue regimekritische Implikation. Carmen wird ihr Unbehagen an der repressiven Sexualität des Regimes jedoch nicht bewußt - sie durchschaut den Widerspruch zwischen ihren Prinzipien und ihren erotischen Wünschen nicht, darf ihn nicht durchschauen, da sonst keine Tarnung mehr bestünde. Dies wird dem Leser vor Augen geführt durch ihren Umgang mit dem Ehebruch. Sie tut alles, um diese Grenzüberschreitung zurückzunehmen und sich wieder in die herrschende Norm einzugliedern; der herrschende Diskurs wird - ganz im Sinne ihrer Prinzipien - am Ende affirmiert. Auf den komplizenhaften Leser hingegen wirkt der unauflösliche Widerspruch zwischen ihren Prinzipien und ihren Wünschen als Signal, das zu hinterfragen, was Carmen nicht zugeben darf: den Zusammenhang zwischen ihrer sexuellen Unzufriedenheit und den Normen des Regimes. Zum Abschluß soll die Frage nach den ästhetischen Auswirkungen der Zensur auf den Roman diskutiert werden. Cinco horas con Mario ist einer jener außerordentlichen Fälle, in denen die Zensur - im Sinne von Neuschäfijrs These - die Kreativität des Autors stimuliert hat. Die zensurbedingte Variante scheint sogar eine Verbesserung gegenüber dem ursprünglich geplanten Original gebracht zu haben: Denn anstatt Mario und Carmen im Dialog auftreten zu lassen, fand Delibes zu der sehr viel innovativeren Lösung von Carmens Erinnerungsmonolog. Ihm gelang es, durch Carmens Worte sowohl die Protagonistin, als auch Mario zu charakterisieren. Dabei gab der Autor dem Text eine Mehrdeutigkeit, der ihn nicht nur für die Zensur unantastbar, sondern auch für den Leser komplexer und interessanter macht als es die direkte Darstellung von Mario vermutlich wäre.
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Auch die Tamstrategie der unzuverlässigen Sprecherin führt zu einem glücklichen Ergebnis, denn Carmen redet so lebendig, so witzig und so temperamentvoll, daß der Leser ihre ideologischen Klischees ohne Langeweile ertragen kann. Die reaktionäre Protagonistin entwickelt sich im Verlauf des Textes zu einer eigenständigen Figur, die sehr viel mehr Facetten aufweist als nur die eines Sprachrohrs der offiziellen Ideologie. Den besten Beweis für diese Komplexität bieten die neueren Interpretationen des Romans, die das scheinbar eindeutige Schwarz-weiß-Bild zwischen Carmen und Mario langsam auflösen. Für die Qualität des Romans spricht schließlich, daß sich Cinco horas con Mario auch nach der Diktatur nicht überlebt hat: Noch heute gilt das Buch als Klassiker der modernen spanischen Literatur.
3. Die Reaktionen der Zensur auf andere Romane der Spätphase In der Spätphase des Franquismus widmeten sich etliche Schriftsteller dem Thema „Spanischer Bürgerkrieg", ein Thema, das vorher nur mit großen Abstrichen die Zensur passieren konnte. Viele erhofften sich von dem neuen Pressegesetz im Jahr 1966 die Möglichkeit, das Thema nun endlich aus der Sicht der Besiegten darstellen zu können. Doch solche Werke gerieten auch nach Ginführung des neuen Pressegesetzes noch in Konflikt mit der Zensur. Ein aussagekräftiges Beispiel daftlr ist der Roman Volverás a Región von Juan Benet, 642 der zwar in einer fiktiven Gegend „Región" angesiedelt ist, aber zu deutliche Bezüge zur kastilischen Hochebene aufweist, um von den Zensoren nicht im Hinblick auf die spanischen Verhältnisse gelesen zu werden. Benet stellt die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf ein Dorf der kastilischen Hochebene dar. In diesem Zusammenhang beschreibt er den Versuch einer Revolution linker Eisenbahner und Bauern und die brutale Niederschlagung durch Falange und Guardia Civil. Im Februar 1968 reichte Benet den Roman in der Zensurbehörde ein und bekam einen negativen Bescheid. 643 Da der Verlag im Fall einer Veröffentlichung gegen den Willen der Zensurbehörde die Beschlagnahmung des Buches oder sogar einen Prozeß riskierte, verzichtete er zunächst auf eine Veröffentlichung und unternahm im April 1968 einen erneuten Versuch, das Buch vorzulegen. Das Buch erhielt diesmal eine Genehmigung, allerdings unter der Bedingung, bestimmte Stellen zu streichen. Zu dem Roman liegen zwei Gutachten vor, von denen eines die Autorisierung vorschlägt und das andere ein Verbot des Buches. Beide Zensoren sind sich zwar darin einig, daß der Autor mehr Sympathien für das linke als für das rechte Lager hegt, nicht jedoch darin, wie diese Tendenz zu bewerten sei. Der erste Zensor argumentiert, die „zu beobachtende leicht antimilitaristische Tendenz" beschränke sich auf einige wenige Ausdrücke und stelle insofern kein Delikt gegen das Pressegesetz dar. Daher habe man das Buch zu akzeptieren und könne die normale Verbreitung des Werkes nicht verhindern. 642
Juan Benet: Volverás a Region. Barcelona 1967.
643
Exp. 1099, AGA 18.736, 1968.
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Der zweite Zensor konstatiert in dem Text hingegen konkrete Angriffe auf den Stand des Militärs und sieht daher die legale Grundlage für eine Konfiszierung des Romans gegeben: Tanto el coronel navarro, como el coronel Gamallo y todos los demás militares que se citan, como jefes del alzamiento que aplastó la revolución del proletariado y las fuerzas de la República, son tratados de incapaces, sin prejuicios y muchos de ellos movidos por venganza hacia el que le quitó la mujer o le ganó en el juego. (Sowohl der Oberst aus Navarra, als auch Oberst Gamallo und alle übrigen Militärs, die zitiert werden, wie die Chefs der Erhebung, die der Revolution des Proletariates und den Kräften der Republik ein Ende bereitete, werden als unfähig dargestellt. Und viele von ihnen handeln nur aus Rache gegenüber dem, der ihnen die Frau wegnahm oder im Spiel gegen sie gewann.)
Die Institution des Militärs unterstand noch immer dem Schutz der Zensur, und Benets Roman durfte erst erscheinen, nachdem er von allzu expliziten Anspielungen auf die franquistischen Truppen im Bürgerkrieg gesäubert wurde. Dazu gehörte ein unziemlicher Vergleich der Guardia Civil mit den „gitanos" und die Abqualifizierung der franquistischen Truppen als „un par de divisiones de navarros entusiastas y fanáticos, de vallisoletanos arribistas y de incómodos y pedigüeflos gallegos" („ein paar Divisionen von enthusiastischen, fanatischen Navarresen, einigen aufstiegsorientierten Männern aus Valladolid und unbequemen und unterwürfigen Galiciem"). Auch achtete die Zensur bei Romanen nach wie vor auf den korrekten offiziellen Sprachgebrauch: der Autor mußte den Begriff „pronunciamiento de los militares" („Militärputsch"), was der Beginn des Bürgerkrieges de facto war, durch den offiziellen Begriff „alzamiento nacional" („nationale Erhebung") ersetzen; statt „mando rebelde" („aufständische Befehlshaber") mußte er „mando franquista" schreiben. Inakzeptabel waren für die Zensur auch Anspielungen auf das brutale Vorgehen der franquistischen Truppen: „sofocando con sangre la revolución proletaria" („sie erstickten blutig die proletarische Revolution") oder „la extinción en las cárceles" („die Vernichtung in den Gefängnissen"). Ganz ähnlich verfährt die Zensur 1970 mit Benets Folgeroman Una meditación,6*4 der die Geschichte von Volverás a Región nach dem Sieg der Franquisten fortschreibt. Auch diese Fortsetzung durfte erst veröffentlicht werden, nachdem negative Passagen über die Franco-Truppen gestrichen waren. Diese Streichungen passen durchaus ins Bild von der Zensurbehörde der Spätphase - denn wie die Auswertung der Zensurgutachten ergeben hat, änderte sich die Zensurpraxis bei Angriffen auf die Institutionen und Gruppierungen des Regimes im Prinzip wenig, ja sie verschärfte sich gegen Ende des Regimes sogar noch.
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Juan Benet (1969): Una meditación. Primera reimpresión. Madrid 1990.
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Weit problematischer als Benets Romane stellte sich die Veröffentlichung von Texten Francisco Ayalas dar. Das Regime der Spätphase unternahm zwar den Versuch, spanische Exilschriftsteller wieder an das Land anzunähern und eine gewisse Aussöhnung voranzutreiben, doch diese Bestrebungen gestalteten sich schwierig. So fragte sich Ayala im Vorwort zu seiner Erzählsammlung La cabeza del cordero,645 warum sein Werk im Gegensatz zu Miguel Delibes' Cinco horas con Mario - seiner Meinung nach ein weitaus kritischeres Buch - nicht ohne Streichungen veröffentlicht werden durfte.646 Ein Blick auf die Zensurgutachten offenbart jedoch, daß Ayala nicht nur deshalb Nachteile hinnehmen mußte, weil die Zensoren den langezeit geächteten Exilautoren grundsätzlich mit größerem Mißtrauen begegneten, sondern auch, weil diese Schriftsteller sich häufig zu wenig auf das indirekte Spiel der Sprache, wie es die Zensur erforderte, einließen. Ayalas 1949 verfaßte Erzählsammlung La cabeza del cordero wurde der spanischen Zensur mehrere Male vorgelegt und zum Teil verboten, zum Teil nur mit erheblichen Streichungen autorisiert. 1972 bat der Verlag Seix Barrai darum, den Text ohne Eingriffe für den Export publizieren zu dürfen, was die Zensur nicht erlaubte. Die Behörde gab eine kleine Auflage von 3000 Exemplaren nach Streichung zahlreicher Passagen frei. Ein Jahr später nahm der Verlag einen erneuten Anlauf, das Buch ohne Streichungen in seiner Biblioteca Breve zu veröffentlichen und begründete den Wunsch damit, daß Ayala im Ausland ein Klassiker sei und gerade dieser Text an vielen europäischen und amerikanischen Universitäten eine wichtige Textgrundlage darstelle. Erst 1974 erlaubte der liberale Generaldirektor für Volkskultur, Ricardo de la Cierva, die Veröffentlichung - allerdings nur unter der Bedingung, daß dem Text ein relativierender Prolog des Autors vorangestellt werde. Die Streichungen in La cabeza del cordero zeigen, daß bei der Zensur besonders die Darstellung der Repressionen der Franquisten und ihrer Verbündeten im Spanischen Bürgerkrieg Anstoß erregten wie in folgendem Beispiel: „... y él, Pedro Santolalla, despecho y algo desentendido, sin tanto cuidado ya por atajar sus insensatas chiquilladas, pudo presenciar ahora, atónito, el pillaje, la sarracina." („... und er, Pedro Santolalla, machte sich keine Mühe mehr, seine unsinnigen Kindereien im Zaum zu halten, als er jetzt verzweifelt und etwas verständnislos stumm der Plünderung und den Gewalttaten beiwohnte.") Eine zweite Streichung bezieht sich auf die Ermordung der Kranken in einem Hospital durch die franquistischen Truppen. Auch zu explizite Darstellungen der Massaker an den Verlierern nach Ende des Bürgerkrieges mußten gestrichen werden: „... sacaban a uno de su cama y le llevaban a fusilar contra las tapias del cementerio." („... sie holten einen aus dem Bett und nahmen ihn mit, um ihn an der Friedhofsmauer zu erschießen."). Der zuständige Zensor kommentierte diese seiner Meinung nach völlig inakzeptablen Stellen als „acusaciones imaginadas y 645
Francisco Ayala: La cabeza del cordero. Madrid 1978.
646
Exp. 4722/72, CA 313, 1972.
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por tanto falsas sobre asesinatos del Ejército Nacional" („erfundene und deshalb falsche Anschuldigungen über die Morde der Nationalen Armee"). Ein dritter Zensurfall löste einen politischen Skandal aus, obwohl das Buch nach Meinung der zuständigen Zensoren überhaupt keine klare politische Meinung vertrat. Es handelte sich um Juan Marsés Si te dicen que caí.6*1 Die komplizierten Verhandlungen zu diesem Buch, dessen Titel auf die Falange-Hymne anspielt, spiegeln die Nervosität der Zensurbehörde in der Endphase des Regimes wider. Dabei kam die Zensur in eine besondere Bredouille, weil Marsés Roman einen internationalen Preis, den Premio de la Ciudad de Méjico, gewonnen hatte und dadurch einer breiten Öffentlichkeit bekannt war. Auf der anderen Seite weigerte sich die Zensur aber, den Roman ohne Streichungen zu autorisieren, insbesondere weil er ironische Anspielungen auf die Falange enthielt. Die Falange galt genauso wie das Militär oder die Katholische Kirche bis zum Ende des Regimes als schützenswerte Institution, deren negative Darstellung die Zensur besonders hart sanktionierte. Ein Blick auf die Streichungen zeigt jedoch, daß die vermeintlichen Angriffe im Text tatsächlich relativ harmlos und eher unpolitischer Natur waren. Neben zu expliziten Sexualdarstellungen geht es vor allem um die Verunglimpfung von Falange-Symbolen wie etwa die Beschreibung des Falange-Emblems mit Joch und Pfeilen als „schwarze Spinne", die Bezeichung eines Falangisten als „camarada .imperial'" oder die wenig respektvolle Darstellung des Falange-Gründers José Antonio in Form eines Kinderspiels („... si la mira fijamente mucho rato y luego levanta la vista, verá la cara en el techo, lo dice aqui en las instrucciones ..." - „... wenn Sie es (das Photo) lange fest ansehen und dann den Blick heben, sehen Sie das Gesicht an der Decke, das steht in der Gebrauchsanweisung ..."). Auch über die Massaker der Falangisten im Bürgerkrieg wird im Roman - ganz ähnlich wie bei Cinco horas con Mario - in ironischem Ton berichtet: „Y queremos que un día se diga sin rencor: si la España falangista fusiló a nuestros padres, es que se lo merecían." („Und wir wollen, daß man eines Tages ohne Groll sagt: Wenn das falangistische Spanien unsere Eltern umbrachte, dann deshalb, weil sie es verdienten".) Der Inhalt des Romans steht in keinem Verhältnis zu der überzogenen Reaktion der Zensurbehörde: 1973 reichte der Verlag das Manuskript im Rahmen der „consulta voluntaria" bei der Zensur ein, die eine Veröffentlichung nur unter der Bedingung zahlreicher Streichungen filr möglich hielt. Nachdem der Roman den mexikanischen Literaturpreis gewonnen hatte, bat der Verlag um eine Neubewertung, weil er das Buch nun in der Originalversion dem Publikum zugänglich machen wollte. Gleichzeitig bot der Verlag an, daß sich der Autor in einem Prolog von jeglicher politisch-ideologischer Bedeutung des Romans distanzieren würde. Der Autor Juan Marsé bat in einem Brief den Generaldirektor filr Volkskultur, Ricardo de la Cierva, persönlich um eine Unterredung. Dieser gab dem
647
Juan Marsé (1973): Si te dicen que caí. Barcelona 1990. Zensurgutachten in exp. 11.428, CA 702, 1973.
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Ansinnen nach und gestand dem Verlag im März 1974 die Veröffentlichung zu, vermutlich unter der Bedingung besagten Prologes. Doch der Chef der Zensurbehörde, Antonio Barbadillo, zog im November desselben Jahres die Autorisierung zurück, da er die Verbreitung des Buches „unter den aktuellen Umständen" ñlr „höchst gefährlich" hielt: Worauf spielte Barbadillo in seinem Gutachten an? Die Zensurbehörde stand selbst unter enormem Druck, denn der liberale Informationsminister Pío Cabanillas war im Oktober auf Druck des „Bunkers" entlassen worden, etliche reformorientierte Politiker - unter ihnen Ricardo de la Cierva - waren daraufhin zurückgetreten. Das Land zitterte unter dem rechten Bombenterror. Unter diesen Umständen schlug der Zensurchef sogar übereifrig vor, das Buch gleich vor Gericht zu stellen, falls der Verlag nicht von einer Veröffentlichung Abstand nahm. Ganz offensichtlich sah er in dem Roman ein Politikum, denn einen Tag später, am 15. November 1974, ging ein Brief seines Vorgesetzten Joaqufn Entrambasaguas an die höchste Instanz, den neuen Informationsminister León Herrera. Darin wies Entrambasaguas darauf hin, daß der Fall eine politische Entscheidung erfordere und schlug vor, das Gericht einzuschalten. Angesichts dieser Drohung verzichtete der Verlag darauf, das Buch zu veröffentlichen. Erst nach Francos Tod, im März 1976, startet der Verlag einen erneuten Versuch und legt das Buch dem damaligen Informationsminister Miguel Cruz Hernández vor. Doch auch dieser wagte „angesichts der Vorgeschichte des Romans" nicht, das Buch einfach zu autorisieren und schlug dem Verlag statt dessen vor, erst einmal die Verabschiedung des neuen Strafrechts abzuwarten. Die überzogenen Reaktionen stehen in eklatantem Widerspruch zum tatsächlichen Gehalt des Buches - zumal die Zensoren in ihren Gutachten übereinstimmend darauf hinweisen, daß der Autor keine politischen Absichten verfolge und das Buch reine Fiktion sei. Doch offensichtlich wirkten die ironischen Spötteleien über die Falange in der unruhigen Endphase wie Öl im Feuer. Grabenkämpfe zwischen „aperturistas" und Ultrarechten lähmten alle Öflhungstendenzen. Offenbar hatte die Zensurbehörde Angst, durch eine Veröffentlichung von Si te dicen que caí den Unmut der Falange zu erregen und in die hitzigen Debatten einzugreifen. Die Zensur folgte in diesem Fall nicht mehr rational nachvollziehbaren Kriterien, sondern einer irrationalen Endzeitstimmung.
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VIII. SCHLUSSBEMERKUNG Das Resümee meiner Arbeit möchte ich als Replik auf gängige Vorurteile oder Mythen formulieren, die unter anderem deshalb so langlebig sind, weil die Zensur als verhaßtes, aber allgegenwärtiges Phänomen viele Ressentiments und Emotionen weckt. Aber auch, weil der Kampf gegen die Zensur häufig als heldenhafter Kampf der Guten gegen die Bösen stilisiert wird. Diese einfache Opposition hält einer Überprüfung an der Realität jedoch nicht stand. Unausrottbar erscheint der Mythos vom „dummen Zensor", der dem „listigen Schriftsteller" auf den Leim geht. Insbesondere jene, die unter der Zensur selbst zu leiden hatten, propagieren - vielleicht zur Kompensation ihrer Frustrationen oder aufgrund mangelnder Ginsicht in die feindliche Institution - den Mythos von der „absoluten Willkür der Zensur". Aber die Zensur muß auch als Rechtfertigungsgrund herhalten: Wenn sich eine Zeit als literarisch wenig ergiebig zeigt, werden gerne repressive Zensoren dafür verantwortlich gemacht. Das umgekehrte Argument wird ebenso angeführt: Hat ein Autor trotz Zensur ein gutes Buch geschrieben, so war es die Zensur, die seine Kreativität stimulierte. Der Zensurbehörde wird durch solche Argumente eine „Macht" zugebilligt, die mit der Realität meist wenig zu tun hat. Einer derartigen „Dämonisiemng" sollte man schon deshalb skeptisch gegenüberstehen, weil sie den Blick für die Fakten verstellt. Der Mythos vom dummen Zensor Für die franquistische Zensur gilt, daß die einfachen „Lektoren" zwar keineswegs durch besondere Brillanz glänzten - einige Gutachten sind so simpel geschrieben, daß man das Klischee vom dummen Zensor gerne glauben möchte aber die Zensurentscheidung stellt sich doch etwas komplexer dar. Es gab gebildete Zensoren unter Franco, Intellektuelle oder externe Spezialisten, die gezielt ftlr fachspezifische Bücher eingesetzt wurden. Es gab aber auch den gleichmütigen Beamten, der seinen Beruf als reinen „Job" verstand und sich schon zufriedengab, wenn ein Buch keine allzu auffälligen Angriffe gegen das Regime beinhaltete. Es gab sogar den „komplizenhaften Zensor", der einen bestimmten Autor kannte, protegierte und sich „extra dumm" stellte. Vermutlich gab es auch, wie Torrente im Interview suggeriert, den bestechlichen Zensor, der gegen ein kleines Extrahonorar gerne Uber brisante Stellen hinweglas. In Fällen, in denen der Zensor Regimekritik bewußt passieren ließ, mußte diese allerdings so indirekt formuliert sein, daß der „Treuhändler des Regimes" kein Risiko einging, selbst belangt zu werden, wenn ein linientreuer Regimevertreter das autorisierte Buch in die Hände bekam. Die Autoren berichteten in meinen Interviews sogar von Situationen, in denen Zensor und Autor gemeinsam nach einer akzeptablen Lösung rangen. Denn „wichtig ist nicht, was man sagt, sondern wie man es sagt", so Chefzensor Carlos Robles-Piquer. Die Zensoren hatten in jedem Fall darüber zu wachen, daß die Konvention einer ausreichenden Tarnung erfüllt war und sich die Autoren an die Spielregeln des Regimes hielten.
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Der Mythos von der absoluten Willkür der Zensur Die Zensur erscheint nur jenen absolut willkürlich, die keinen Einblick in die Organisation der Behörde und in ihre Arbeitsweise haben. In Wirklichkeit unterliegt die Zensurentscheidung nicht nur - im Franquismus sogar sehr lückenhaften - schriftlich fixierten Normen, sondern in mindestens genauso großem Maß zahlreichen internen und externen Faktoren, die die Zensurforschung bisher zu wenig berücksichtigt hat. Ich verstehe deshalb die Zensurentscheidung nicht bloß als Strich des Zensors, sondern als komplexen Prozeß, auf den verschiedene Faktoren einwirken wie etwa interne Kompetenzstreitigkeiten verschiedener Machtgruppen, die innen- und außenpolitische Situation des Landes oder das Renommee von Verlag und Autor. All diese Faktoren können eine Entscheidung herbeiftlhren, die auf den ersten Blick gegen die offiziellen Normen verstößt; die sich aber keineswegs willkürlich gestaltet, sondern sich letztlich logisch nachvollziehen läßt. Für die franquistische Zensurpraxis erachte ich die Faktoren Arbeitspensum und Zeitdruck als besonders wichtig, da sie eine genaue Lektüre beträchtlich erschwerten und camouflierte Bücher dadurch begünstigten. All diese Punkte zusammengenommen lassen es als wenig plausibel erscheinen, die Zensur als willkürlich einzustufen.
Der Mythos von der unbeweglich-rigiden Zensur Die franquistische Zensur arbeitete - wie vermutlich auch Zensurbehörden anderer politischer Systeme - keineswegs immer mit den gleichen Kriterien und der gleichen Härte. Die Auswertung der Zensurkriterien hat ergeben, daß die Entscheidungen der Behörde die soziopol¡tische Entwicklung des Regimes unmittelbar widerspiegeln - an den Kriterien läßt sich also die jeweils gültige ideologische Linie des Regimes klar ablesen. Mit Hilfe einer inhaltsanalytischen Auswertung der Gutachten und der zensurbedingten Streichungen ließ sich für drei fundamentale Phasen des Franquismus (die Frühphase von 1939-51, die Phase des Wirtschaftsaufschwungs von 1951-66 und die konfliktive Spätphase von 1966-75) ein relativ genaues Raster der Zensurkriterien erstellen. In der von der Falange mitgeprägten Frühphase wurden neben den Machtgruppen des Regimes insbesondere die faschistischen Achsenmächte geschützt; die äußerst rigide religiöse Zensur forderte die Übereinstimmung von Literatur und katholischem Dogma; der Machtkampf verschiedener ideologischer Gruppierungen im noch ungefestigten Regime manifestierte sich in widersprüchlichen, parteiideologisch erklärbaren Entscheidungen. Ein Kuriosum der frühen Zensur ist das von der Falange eingeführte Kriterium der literarischen Zensur, das sogar den Ausschlag für das Verbot eines Buches geben konnte. Die Zensur unter Informationsminister Gabriel Arias-Salgado zeichnete sich durch ihre Strenge bei moralischen Themen, aber gleichzeitig eine gewisse Lockerung der politischen und religiösen Kriterien aus. Die ideologische Kehrtwendung des Regimes manifestierte sich darin, daß die faschistischen Mächte nicht länger als Tabuthema behandelt wurden (konsequenterweise erschienen
VIII. Schlußbemerkung
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etliche Bücher Uber die nationalsozialistischen Konzentrationslager). Ins Auge fallen erste Autorisierungen von ideologisch abweichenden Büchern, zum Beispiel Uber Fidel Castro. Die katholische Glaubenslehre durfte selbstverständlich weiterhin nicht angegriffen werden, doch die Zensoren forderten nicht mehr wie in der Frühphase eine Übereinstimmung mit dem katholischen Dogma. Die Gutachten von 1966 spiegeln den politischen Wandel der Fraga-Ära wider: bisher verbotene Bücher in katalanischer Sprache wurden nun erlaubt, wenn die Autoren darin nicht für den Separatismus warben. Echte Fortschritte lassen sich in der politischen und der moralischen Zensur erkennen. Die prüde, stark reizwortorientierte Zensur der Arias-Ära wurde zugunsten einer sogenannten „intelligenten Zensur" aufgegeben; das heißt, es wurde nicht mehr jedes unanständige Wort gestrichen. Doch andererseits verbot die Zensur häufig gerade triviale Liebesromane (die zuvor problemlos durch die Zensur kamen) als „illegale Pornographie". Marxistische Werke, sogar die Werke von Marx selbst (zunächst in stark beschränkten Ausgaben) durften nun erscheinen, solange die Autoren keine „illegale Propaganda" betrieben. Die Kontrollstichprobe von 1973 zeigt, daß die Zensur in den letzten Jahren die Schraube noch einmal anzog: Bücher, die unter Fraga erlaubt waren, wurden nun verboten. Die repressive Zensur in politischer, aber - völlig unzeitgemäß - auch wieder in religiöser Hinsicht! - korrespondierte mit brutalen staatlichen Maßnahmen gegen politische Gegner. Der Druck des reaktionären „Bunkers" auf die Zensur führte zu Urteilen, die an die Frühphase des Regimes erinnern. Doch das Rad der Geschichte konnte nicht zurückgedreht werden, denn die vorgelegte Literatur orientierte sich mittlerweile am restlichen Europa, während die Autoren zum Teil Uberhaupt keine Rücksicht mehr auf die Zensur nahmen. Doch die Zensurpraxis wurde nicht nur durch grundsätzliche Kursänderungen des Regimes geprägt. Auch die tagesaktuelle Situation konnte die Urteile härter oder großzügiger ausfallen lassen - die Verleger nützten diese Schwankungen gezielt aus und warteten bei kritischen Werken häufig aufbessere Zeiten. Der Mythos von der Zensur als Kulturblockade Das franquistische Spanien ist das beste Gegenbeispiel gegen diesen Mythos. Zwar hemmte die Zensur der Frühphase die kulturelle Entwicklung des Regimes beträchtlich, denn zentrale theoretische, aber auch literarische Werke, die im übrigen Europa zum Bildungsstandard gehörten, durften in Spanien nicht veröffentlicht, ja nicht einmal vertrieben werden. Das gilt aber mit Einschränkungen: Die interessierten Intellektuellen fanden durch den BUcherschmuggel doch Zugang zu verbotenen Werken (der Reiz des Verbotenen wirkt zu allen Zeiten sogar besonders anziehend!). Und: die Zensur war sicher nicht der ausschlaggebende Grund für das niedrige Bildungsniveau der Frühphase; viel wichtiger erscheint mir der Verlust bedeutender „roter" Intellektueller (vermutlich waren sogar die meisten Intellektuellen nach den engen Kriterien des Regimes „Rote") sowie die dürftige katholisch-dogmatische Ausbildung in Schulen und Universitäten.
268
Gabriele Knetsch
Schließlich gelang es der franquistischen Gesellschaft, sich trotz Zensur zu verändern und zu „europäisieren": sie erlangte ein höheres Bildungsniveau, die Autoren reichten in der Zensur immer wagemutigere Bücher ein; die Verleger förderten solche Literatur (zumindest in der Spätphase) gezielt. Die Zensur erweist sich auch als schlechte Entschuldigung für die mangelnde Qualität von Literatur. Denn zu allen Zeiten entwickeln Schriftsteller ein vielfältiges Arsenal von Umgehungsstrategien, um ihre Gedanken trotz Zensur zu veröffentlichen. Ob das Ergebnis glückt oder mißlingt, ist keine Frage der Zensur, sondern des individuellen Talents. Der Mythos von der kreativitätsfördernden Wirkung der Zensur Der Einfluß der Zensur auf den Schreibprozeß ist unbezweifelbar, wie einerseits meine Autoreninterviews und andererseits die Literaturanalysen dieser Arbeit gezeigt haben. Die Autoren unter Franco wußten, in welchem Land sie lebten und hatten die Tabus derart verinnerlicht, daß sie sich beim Schreibakt bewußt oder unbewußt danach richteten. Die Zensur wirkt also zumindest indirekt auf die Textgenese und hinterläßt ihre Spuren im Text. In dieser Hinsicht erweist sie sich als besonders relevant ftlr die Literaturwissenschaft. Von einer grundsätzlich kreativitätsfördernden Wirkung der Zensur ist jedoch ebensowenig auszugehen wie von einer grundsätzlich kommunikationshemmenden. Denn die Reaktionen der Schriftsteller auf die Zensur sind, wie die Interviews gezeigt haben, so vielfältig wie ihre Schreibstile, ihre Talente und ihre Bereitschaft, Kompromisse mit dem Regime einzugehen. Es gibt Autoren, die ihre Kreativität nicht in den Dienst fremder Normen stellen und nur ihren eigenen literarischen Vorstellungen folgen wollen. Sie vertreten ein Literaturideal, das sich als inkompatibel erweist mit den Zwängen zensurbedingter Umgehungsstrategien. Auch ist die uneigentliche Sprache der Umgehungsstrategien noch kein Qualitätsmerkmal an sich - gute Literatur muß mehr zu bieten haben als den listigen Wortgebrauch gegen den Zensor. Daß die Anwendung von Umgehungsstrategien keineswegs immer zu einem glücklichen Ergebnis führt, haben meine Literaturanalysen ergeben. Ein ästhetisch eindeutig gelungener Fall von Selbstzensur liegt eigentlich nur bei Cinco horas con Mario vor. Bei Javier Marino führte die Rücksicht auf die Zensur zu einer Entstellung des Werkes, und bei Tiempo de silencio erweist sich das Verhältnis zwischen Werk und Zensur als vielschichtiger. Martin-Santos verschlüsselt zwar regimekritische Botschaften durch Verfahren uneigentlicher Rede, doch sie wirken so komplex, daß sie selbst für den komplizenhaften Leser kaum mehr dekodierbar sind. Martin-Santos verfolgte das Ziel, einen literarisch ambitionierten Roman zu schreiben, der aber als politisch motivierter zugleich getarnt werden mußte - in Tiempo de silencio fallen ästhetisch motivierte und zensurbedingte Strategien daher untrennbar zusammen. Ich glaube allerdings nicht, daß Tiempo de silencio nur „dank" der Zensur so komplex, so vielschichtig und so faszinierend geraten ist. Die Überlistung der Zensur war in diesem Fall wohl ein erwünschter und gezielt entwickelter Nebeneffekt einer an ästhetisch äußerst anspruchsvollen Techniken orientierten Kunstleistung.
IX. Anhang
269
IX. ANHANG Der Anhang enthält erstens eine Zeittafel, die die wichtigsten Ereignisse des franquistischen Regimes zwischen 1936 und 1975 zusammenfaßt. Zweitens werden zwei der insgesamt zehn Interviews mit Zeitzeugen abgedruckt: das Gespräch mit dem jüngst verstorbenen Schriftsteller Gonzalo Torrente Ballester, weil er aufgrund seines hohen Alters und seiner früheren Kontakte zur Falange als einziger der Befragten Auskunft Uber die Zensur der 40er Jahre geben konnte, und das Gespräch mit Carlos Robles-Piquer, der unter der Amtszeit von Fraga Iribarne zwischen 1962 und 1969 als Director General de Información (der höchste Verantwortliche für Bücherzensur unterhalb des Ministers) arbeitete. Robles-Piquer spielte fllr die Bücherzensur der 60er Jahre eine herausragende Rolle, da er zu einem Wandel der Zensurpolitik beitrug. Drittens füge ich die Zensurgutachten zu den drei analysierten Romanen Javier Marino (1943) von Gonzalo Torrente Ballester, Tiempo de silencio (1961) von Luis Martín-Santos und Cinco horas con Mario (1966) von Miguel Delibes bei. Die Gutachten der BUcherzensur werden im Ministerio de Educación y Cultura, Archivo General de la Administración in Alcalá de Henares aufbewahrt, wo sie unter der Nummer des „expediente" (der Akte) und der sogenannten AGANummer archiviert werden. 1. Zeittabelle: Überblick über den Franquismus 6 4 8 1936 17./18.7. Militärputsch Francos und der Generäle gegen die Republik, Beginn des spanischen Bürgerkrieges 29.9. 1.10. 1937 19.4.
1938 9.3. 22.4.
648
Franco wird zum „Generalísimo" und Regierungschef ernannt. Bildung einer nationalen Regierung unter Franco Zusammenschluß aller politischen Parteien zur Einheitspartei des Movimiento unter dem Namen Falange Española Tradicionalista y de las JONS Verabschiedung des von der Falange beeinflußten Fuero del Trabajo („Arbeitsgesetz") Pressegesetz von Serrano Sufler
Die Tabelle wurde von der Verfasserin erstellt auf der Basis von Maria Carmen García-Nieto/Javier M. Donézar: La España de Franco (1939-73). Madrid 1975; Juan Pablo Fusi: Franco. Spanien unter der Diktatur (1936-1975). München 1992, und Walther L. Bernecker: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg. 2. Aufl. München 1988.
Gabriele Knetsch
270 5.4.
Aufhebung des katalanischen Autonomiestatus
1939 9.2.
Verabschiedung der Ley de responsabilidades políticas („Gesetz für politische Verantwortung"): Grundlage für die ideologische Säuberung des Beamtenapparates
27.3.
Beitritt Spaniens zum Anti-Komintem-Pakt mit Deutschland, Italien und Japan
4.9.
Neutralitätserklärung Spaniens hinsichtlich des 2. Weltkrieges
1940 1.3.
Verabschiedung der Ley de represión contra la masonería y el comunismo („Gesetz zur Unterdrückung der Freimaurerei und des Kommunismus")
12.6.
Statt „Neutralität" im 2. Weltkrieg: „Nichtkriegsführung"; Annäherung Spaniens an die Achsenmächte
23.10.
Verhandlungen zwischen Hitler und Franco scheitern.
1941 24.6.
Entsendung der División Azul, eines falangistischen Freiwilligen-Bataillons, nach Rußland
1942 August
Bruch des falangistischen Dichters und Propagandachefs Dionisio Ridruejo mit Franco, Verbannung nach Ronda; die ursprüngliche Falange wird langsam entmachtet
1943 3.10.
Rückkehr Spaniens von der „Nichtkriegsführung" im 2. Weltkrieg zum „neutralen" Status
1944 28.1.
Ölembargo der Alliierten, da Franco Hitler-Deutschland weiterhin unterstützt.
16.6.
Anweisung der Delegación Nacional de Prensa an alle Zeitungen, von nun an die Alliierten positiv darzustellen
1945 9.5.
Epistel von Kardenal Pia i Deniel zur Verteidigung des Regimes
17.7.
Verabschiedung des Fuero de los Españoles („Grundgesetz der Spanier")
1946 9.2.
UN-Erklärung gegen Spanien
1.3.
Frankreich schließt seine Grenze zu Spanien.
IX. Anhang 1947 1948 25.8.
271 Neues Gherecht erklärt zivile Eheschließungen und Scheidungen filr ungesetzlich. Treffen zwischen Don Juan und Franco: Erziehung des Prinzen Juan Carlos in Spanien wird beschlossen.
1950 4.11.
Aufhebung des UNO-Boykotts gegen Spanien
1951 März
Rückkehr der amerikanischen und britischen Botschafter
9.3.
Straßenbahnstreik in Barcelona
18.7.
Regierungsumbildung und Neugründung des Ministerio de Información y Turismo unter Gabriel Arias-Salgado
1952 16.5.
Abschaffung der Rationierungsmarken
1953 27.8.
Konkordat zwischen Spanien und dem Vatikan
26.9.
Stutzpunktabkommen mit den USA
1954 25.27.11.
Studentenunruhen
1955 15.12.
Aufnahme Spaniens in die UNO
1956
Studentenunruhen und Arbeiterstreiks; erste „Arbeiterpriester"
1957 25.2.
Eintritt der Technokraten des Opus Dei in die Regierung
1958 24.4.
Verabschiedung der Ley de Convenios Colectivos Sindicales („Gesetz über gewerkschaftliche Kollektivverträge")
17.5.
Verabschiedung der Ley Fundamental de los Principios del Movimiento („Grundgesetz über die Prinzipien der Bewegung")
1959 21.7. 1961 Januar
Einführung eines Stabilisierungsplans zur „neuen wirtschaftlichen Ordnung": Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik Studentenunruhen in Barcelona, Madrid und Bilbao
Gabriele Knetsch
272 1962 7./8.6.
Kongreß der Europäischen Bewegung in München; demonstrative Zusammenkunft verschiedener antifranquistischer Oppositionsgruppen
10.7.
Regierungsumbildung mit Manuel Fraga Iribarne als neuem Minister für Information und Tourismus: neue Zensurpolitik „des Dialoges"
1963 11.4.
Neue Enzyklika „Pacem in Terris": Erneuerung des katholischen Denkens
April
Arbeiter- und Studentenstreiks
20.4.
Hinrichtung des Kommunisten Julián Grimau: Protestwelle in ganz Europa
30.9.
Brief von 102 Intellektuellen über Folter in Spanien
1964 1.4.
Große Siegesfeier des Regimes anläßlich „25 Jahre Frieden"; Studentenunruhen und Arbeiterstreiks
1965 8.1.
Studentenunruhen
19.8.
Disziplinarverfahren gegen unbotmäßige Professoren und Entlassung (Tierno Galván, Aranguren, García Calvo u.a.)
Sept. Dez.
Letzte Sitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils
1966 18.3.
Neues Pressegesetz von Manuel Fraga Iribame (Nueva Ley de Prensa e Imprenta): Abschaffung der Vorzensur, dafür Einrichtung der „consulta voluntaria"
17.11.
Aufgabe der Ley de responsabilidades Bürgerkrieges
30.11.
Konflikte des Regimes mit hohen Kirchenvertretern; der Vatikan verzichtet auf Privilegien aus dem Konkordat.
políticas aus der Zeit des
1967 11.1.
Die Ley Orgánica del Estado („Staatsgrundgesetz") tritt in Kraft: Neufassung geltender Gesetze, Säuberung von totalitärem Beiklang.
21.9.
Carrero Blanco, potentieller Franco-Nachfolger, wird stellvertretender Regierungschef. Studentenunruhen und Kirchenkonflikte im Baskenland
273
IX. Anhang
1968 11.1. August
Schließung eines Teils der Madrider Universität wegen Studentenunruhen Unruhen im Baskenland, Ausnahmezustand Verabschiedung der Enzyklika „Humanae Vitae"
1969 24.1.25.3. 17.7. 22.7. 29.10.
Verhängung des Ausnahmezustands im ganzen Land Matesa-Skandal mit Verwicklung von Opus-De/'-Ministem Prinz Juan Carlos zum Nachfolger von Franco ernannt Regierungsumbildung („Gobierno monocolor"): Dominanz von Opas-De/'-Mitgliedem. Fraga wird als Informationsminister abgesetzt; neuer Regierungschef: Carrero Blanco Arbeiterstreiks, Studentenunruhen, Protest von Priestern
1970 29.6. Dez.
1971 Sept. 1973 20.12. 1974 4.1. 12.2. 29.7. 29.10.
Präferenzabkommen zwischen Spanien und EWG (Assoziation) Prozeß von Burgos gegen Mitglieder der ETA endet mit sechs Todesurteilen; Proteste im In- und Ausland; Ausnahmezustand im Baskenland Schuldbekenntnis der spanischen Kirche wegen der seit 1936 vertretenen Politik Ermordung des Franco-Nachfolgers Carrero Blanco durch die ETA Regierungsumbildung unter Arias Navarro; neuer Informationsminister: Pio Cabanillas „Regierungsprogramm der öflhung" Attentate der Ultrarechten der Fuerza Nueva Gründung der gemeinsamen Oppositionsbewegung. „Demokratische Junta Spaniens" Regierungskrise wegen der liberalen Pressepolitik Pio Cabanillas und Entlassung des Informationsministers
30.11.
Spanische Bischofskonferenz fordert politische Freiheiten
21.12.
Gesetz Uber Zulassung „politischer Assoziationen" als Parteienersatz; echte Parteien immer noch verboten
Gabriele Knetsch
274 1975 25.4.
Verhängung eines dreimonatigen Ausnahmezustands über das Baskenland wegen des ETA-Terrorismus
18.6.
Gründung der oppositionellen „Plattform der Demokratischen Konvergenz"
27.9.
Hinrichtung mehrerer angeblicher Terroristen; antifranquistische Demonstrationen im Ausland
30.10.
Schwere Krankheit Francos, Übernahme der Amtsgeschäfte durch Prinz Juan Carlos
20.11.
Tod Francos
22.11.
Proklamation von Juan Carlos zum König von Spanien
2. Interviews Die Interviews mit Zeitzeugen stellen eine zentrale Quelle für die zensurhistorischen Ausführungen meiner Arbeit dar. Schriftsteller, Verlagsangestellte und der ehemalige Zensor Carlos Robles-Piquer gewährten mir Einblick in die Arbeitsweise der Zensur. Miguel Delibes, Juan Goytisolo, Ana María Matute, Gonzalo Torrente Ballester und Manuel Vázquez Montalbán berichteten über die Bücherzensur aus der Sicht der Autoren. José Carrasco von der Distribuidora Edhasa, Mario de la Cruz von Seix Barrai, damals Plaza y Janés, Jordi Úbeda vom Verlag Abadía de Montserrat und Andreu Teixidor von Destino erzählten über ihre Verhandlungen mit Zensoren. Viele dieser Aussagen flössen in meine Arbeit ein und wären es wert, im Wortlaut abgedruckt zu werden. Doch aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Interviews mit Gonzalo Torrente Ballester und Carlos Robles-Piquer, aus denen ich besonders häufig zitiert habe.
2.1. Interview mit Gonzalo Torrente Ballester vom 8. Februar 1994 in Salamanca T.B. Antes de pasar el manuscrito (Javier Marino) a la censura, lo pasé a una amiga censor que ya ha muerto y cuyo nombre no le digo porque es una persona bastante conocida. Ella me dijo que probablemente los censores lo van a echar atrás: „Conviene que cambies estas y estas cosas." Yo cambié bastante; por el medio introduje personajes y escenas y cambié el final. Pero el final auténtico que tenía la primera versión queda inserto en el texto en aquella cosa en que va pensando el personaje, mientras ella (Magdalena) duerme. Esto es lo que se pasó a la censura y que se publicó. Y se prohibió a los veinte dias de haberlo publicado no por los informes de los censores, sino porque lo leyó el que mandó en todo esto. Era el Sr. Arias-Salgado que entonces no fue ministro, pero después fue ministro. G.K. ¿Porqué lo prohibió?
IX. Anhang
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T.B. Yo tuve una conversación con él, larga. Consistió fundamentalmente en él repetir sus argumentos y yo los míos. Los argumentos eran fundamentalmente que había „imágenes lúbricas". Pero yo tengo la impresión por alguna cosa que dijo que estaba muy molesto, porque apariciesen como buenos cristianos los griegos. Él era muy católico. Fue un catolicismo cerrado, no abierto. Entonces el pretexto fueron las imágenes lúbricas. Él era un hombre honrado, o sea completamente dogmático: „El perjuicio económico, esto se arregla." Lo pagó encargándome un nuevo libro que luego no escribí. Yo le entregaba los textos de una antología y me daba el dinero. G.K. ¿Qué tipo de personaje es Javier Marifio? Desde la perspectiva de hoy parece bastante antipático, pero Ud. escribió que era un jóven normal de aquella época. ¿Es un falangista típico? T.B. No, este no era falangista. Un falangista era más dogmático. Este no era dogmático, era un hombre liberal. G.K. Bueno, lo veo como un personaje muy ambiguo. Pero él dice que es falangista. T.B. Lo dice, pero no es cierto. G.K. Es un falangista que no le iba a gustar mucho a la Falange. T.B. Bueno, no le gustó nada. Yo creo que la novela realmente se prohibió por el personaje. Porque el personaje no era lo bastante dogmático, lo bastante cuadrado, como para ser un paradigma. G.K. Tampoco es muy patriótico. Huye de la guerra. T.B. Él a donde se va realmente es a América. Él va solo, además sin la chica. G.K. ¿El protagonista piensa lo que Ud. pensó en aquel momento? T.B. No, yo no tengo nada que ver con el protagonista. Mire Ud., yo creo que es mucho más complicado mi manera de pensar que la de Javier Marido. La manera de pensar de Javier Mariflo es bastante simplista. Por otra parte, yo he sido siempre católico, y Javier Marifio no era católico. G.K. Dice que sí. T.B. Dice que sí, pero no lo es. Ignora por completo. En todo caso hubiera sido un católico a la española, y yo fui más bien un católico como el Padre Guardini. Este fue mi maestro. No es la manera tradicional hispánica. G.K. Por ejemplo el concepto de honor de Mariño - no lo compartió, supongo. T.B. No, en absoluto. Esto estaba vigente en algunos sectores de la sociedad española de entonces. La sociedad española de entonces era muy compleja. Es difícil que Ud. entienda. G.K. ¿Esta novela también es expresión de dudas entre las ideologías? T.B. Sí, sí, es cierto. G.K. Pero las personas de izquierdas salen mucho más prejuiciadas que las personas de ideologías de derechas. T.B. Bueno, eso fue una de las cosas que hubo que meter en el libro.
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Gabriele Knetsch
G.K. ¿Qué cambió Ud. en la versión original? T.B. Por ejemplo las figuras de los dos rumanos, eso no estaba en el primer texto. En la edición nueva (de 198S) más o menos se suprimieron algunas de las cosas añadidas. G.K. ¿Porqué metió estos rumanos en el libro? T.B. Porque me convenían, claro, para salvar de la censura el libro. En la primera edición ya estaban. G . K . ¿La versión de 198S es más o menos el texto original como Ud. lo recuerda? T.B. No es el texto original. Las cosas que yo recordaba haberle añadido las quité, menos el final. Yo quería restituir el final tal como era. Pero el editor y el director de la casa editorial, que era Pere Gimferrer, dijo que no. G.K. ¿En aquel momento, cuál era su propia postura? T.B. Mi postura era bastante ingenua, quería sacar la novela como fuese. G.K. ¿En Javier Marino desarrolló estratégias literarias contra la censura? T.B. No, todavía no. Esa fue mi primera novela. G.K. Sin embargo, ¿quizás hay elementos que funcionan como estratégias contra la censura? T.B. Sí, sí. G.K. Los informes de los censores eran bastante contradictorios. Uno destacó que había que prohibir el libro porque tiene un final bastante artificial. T.B. Este señor acierta. El libro - cada vez que ha sido reformado y modificado, resulta un libro falso. Ahora lo veo. G . K. ¿Cuál era su postura política cuando escribió Javier Marino? T.B. Yo pertenecía a un partido de izquierdas y yo me marché a Paris para hacer un trabajo en la biblioteca. Salí con una beca de la universidad. Entonces estaba casado y tenía dos hijos. Cuando me marché por la guerra a Galicia, me dijo mi padre que todos mis amigos habían sido fusilados. La primera impresión que tuve en Vigo fue la de una carnavalada, porque mucha gente iba disfrazada con uniformes militares, falangistas, requetés. Pero después, cuando cogí el autobús para ir a Ferrol (pueblo de T. B.), vi gente fusilada en los caminos. Entonces me di cuenta que no era una carnavalada. Cuando vine a Ferrol, me fui a ver a un fraile. Entonces me dijo: „Mañana vete y hazte falangista." G.K. ¿Porqué? T.B. Para salvar al pequeñajo. G.K. ¿Compartió también las ideas de la Falange? T.B. No. G . K . ¿Ninguna? T.B. Algunas sí, otras no. G . K . ¿Cuáles compartía?
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T.B. Bueno, había una parte social bastante importante. Lo que se conoció como ideología franquista no coincidió en absoluto con la ideología falangista. G.K. ¿Y eso se sabía desde el principio o poco a poco? T.B. No, poco a poco, claro. En el aflo 42 me aparté de todo esto, de manera que la escritura de este libro ... Vamos a ver como diría yo esto. Más o menos coincidió. ... Yo mismo tengo dudas. Tengo que fijarme en otras cosas. Es decir en octubre es cuando entregé el manuscrito definitivo. De manera que yo debía haber escrito esto el invierno anterior en Santiago. G.K. Todavía no lo tengo muy claro cuando empezó a cambiar de idea. T.B. Hubo dos crisis. Una durante la Guerra misma en el año 38 y otra posterior que fue en el año 42. Yo pertenecía al grupo de Ridruejo, y en el 42 fue cuando Ridruejo le escribió al General Franco diciendo que se iba. G.K. ¿Esto le afectó también a Ud.? T.B. Esto me afectó y me marché a Ferrol. Ridruejo fiie desterrado a Ronda. Mis amigos (falangistas) se quedaron en Madrid. G.K. ¿Esto implica también una crítica de la misma Falange? T.B. Sí, sí, porque la Falange de entonces fue franquista, bastante franquista. G.K. ¿Las ideas de Javier Mariño sobre la Falange cuáles son - las de la Falange antigua o de la 'franquista'? T.B. Ni lo uno, ni lo otro. Javier Mariño es simplemente un hombre de derechas. G.K. ¿Ud. como autor se estaba burlando de él? T.B. No me acuerdo, pero supongo que no. G.K. ¿Los falangistas eran los intelectuales de aquella época? T.B. Al revés. Los intelectuales se hicieron falangistas. El único grupo liberal era el grupo falangista. No el falangismo oficial, o sea, no los ministros falangistas. Al régimen los intelectuales le daba igual. La literatura no formaba parte de su buena imágen. G.K. ¿Su libro se concibe como una crítica de ideologías en general? Magdalena es una chica seria y simpática, sin embargo es comunista. En su caso, el comunismo no aparece tan negativo. T.B. Es que no es negativo. Había de todo, era una cosa personal. Había personas negativas que eran comunistas y personas negativas que eran falangistas. No tenía que ver con la ideología. G.K. ¿Usted conocía los criterios de la censura? T.B. Sí, sí. Esto se fue sabiendo poco a poco. Porque además en general desde un principio la censura fue encomendada a eclesiásticos. Y los criterios de los eclesiásticos se conocían. Eran mucho más cerrados que los eclesiásticos franceses o alemanes o belgas. Aquí siempre más papista que el Papa. En el año 62 al 63 hubo un cambio importante que fue la llegada de Fraga en el ministerio. Se notó en los criterios. En el caso de Don Juan, el Padre de la Pinta dice que es
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bueno el libro, pero tacha un montón de páginas. Entonces yo le escribía a Fraga - ha sido alumno mío. Entonces salió entero el texto. Desde la Ley de Prensa hay una degradación. El cambio se nota sobre todo en los libros extranjeros. En los años 40 hay el deporte de traer libros de Francia. En los años 50 llevaba bajando este deporte. La apertura es gradual en el sentido de que se va degradando la censura. Y ya al final casi es puro trámite. G.K. ¿Quiénes eran los censores? T.B. Bueno, había alguna persona que por darle un sueldo lo hacía. Esto es una cosa que no entiende. Llegaba un señor que venía escapado del otro lado, esto era durante la Guerra. Entonces a este señor había que darle de comer y se le daba un sueldo nombrándole para cualquier cosa. Lo más común era el cargo de censor. G.K. ¿Y eso se pagaba bien? T.B. No, se pagaba lo suficiente para mal vivir. G.K. ¿Tuvo confidentes en la censura? T.B. Hasta el 42 sí, porque el director del Gabinete de Censura, que era un personaje importante, era amigo mío. Éste sí. No creía en absoluto. Estaba ahí, porque estaba. Era de ninguna dependencia política. Simplemente era un adicto. G.K. ¿Eran intelectuales también? T.B. No. cualquiera, curas más. Falangistas, no. Eran gente sospechosa. Es que la ideología de los que llevaban la Guerra... Claro, Ud. no conoce la historia interior. Había sectores en la parte franquista, para quienes los falangistas eran como comunistas. Porque en su programa primitivo en la parte de negocios, de los bancos, eran bastante radicales. Por ejemplo, defendían la estatificación de la Banca. Y hubo una especie de guerra entre los sindicatos y la parte política franquista. Terminó con la derrota de los sindicatos. Yo compartía las ideas de esta Falange radical. G.K. ¿Qué podía pasar si se presentaban libros hóstiles al régimen? T.B. En los años 40 pudo haber consecuencias políticas y personales, es decir ir a la cárcel o que te peguen un tiro. No creo que haya habido muchos casos, yo creo que nadie se ha atrevido. Sabían perfectamente en qué país vivían y en qué esquina estaban las balas. Había que precaverse de la manera que fuera. No era lo mismo el año 40 que el año 70. G.K. Los personajes de Carlos y Irene corresponden bastante al cliché del anticomunismo de aquella época. T.B. Sí. Carlos es un personaje real. Era un personaje negativo que yo conocí. Este está retratado tal como era. El ambiente en París era completamente distinto de lo que conocía un español. Porque una cosa que nos sorprendió mucho a los españoles es que se besase la gente en público. Nosotros jamás entonces. España vivía una especie de pudor excesivo, que contrastaba con el impudor igualmente excesivo en París.
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G.K. ¿Cómo funcionaba la censura? T.B. Había dos procedimientos. Uno que lo presentase el propio autor y otro que lo presentase el editor. El libro pasaba a unos señores desconocidos, cada uno de los cuales hacía un informe y luego el resultado de estos informes se traducía en una tarjeta que le entregaron al editor. Mis relaciones con la censura fueron muy variadas. El único libro que prohibieron una vez publicado fue Javier Marino. Ifigenia por ejemplo es negativo al régimen completamente y no lo prohibieron, porque ellos iban obsesionados. Había unas normas referente al régimen y referente a los amigos del régimen, Mussolini, Hitler, etc. Esto estaba prohibido. Y fuera de esto no veían nada. Si cualquiera de estos personajes se presentaba disfrazado, como no aparecieron con el nombre propio, lo dejaron. Era gente de poca calidad. G.K. ¿Pero porque eran tontos, o porque no hacía falta tachar, si no se criticaba abiertamente? T.B. Habrá los dos casos: que no se enteran y no quieren enterarse. G.K. ¿Las editoriales tenían relaciones personales con la censura - „enchufes"? T.B. Yo creo que lo que las editoriales tenían era dinero. Le daban dinero a los censores para que dejasen pasar los libros. Esto no está probado naturalmente, pero yo sospecho que sí. G.K. ¿Cómo consiguió Ud. una entrevista con un censor, si eran anónimos? T.B. Yo tuve una entrevista con el Padre de la Pinta. No me recuerdo los trámites, recuerdo el lugar, un convento. Yo no le conocía de antes, pero era primo de un amigo mío, de Antonio Tovar. Una entrevista larga de muchas horas. Y en general cedió bastante poco. Sólo algo que no se podía suprimir, tuve que redactarlo de otra manera. Pero el resto de las tachaduras no se reconstituyeron. Le dije: „Padre, esto no lo puedo suprimir." Entonces me dijo el Padre: „Bueno, entonces redáctelo de otra manera. Lo redacté ahí mismo de otra manera. G.K. ¿Interviene el autor? T.B. Sí. Yo creo que el autor siempre interviene. Por lo menos se entera de lo que se suprime. G.K. ¿De qué depende la política de la censura? T.B. El jefe de censura es elegido por el ministro, que le conoce y sabe cómo piensa. G.K. ¿Cómo se escribe bajo un sistema dictatorial? T.B. Puedo hablar por mi mismo. La Saga/Fuga de J.B. la escribí con absoluta libertad. No pensé para nada en la censura. Pero las anteriores, sí. G.K. ¿Pensó concientemente en utilizar estratégias literarias para evitar la censura? T.B. Sí, claro que sí. Yo creo que todo el mundo tenía presente esto, los que tenían que publicar en la península. Se sabía que se podía decir y que no se podía decir, y se buscaba la manera de decirlo que engañase al censor.
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G.K. ¿La autocensura fondona en el momento de escribir o después de la escritura del texto? T.B. No sé. Creo que la autocensura es un acto inconciente, porque todo el mundo conocía el criterio de la censura. Pero por mucho que se quiera, uno no puede disfrazar lo que uno lleva dentro. Un lector inteligente siempre sabe, cuál es la manera de pensar del autor. G.K. ¿Qué papel tuvo la crítica literaria en los primeros años del franquismo? T.B. En realidad no existía la crítica literaria. Existía el artículo elogioso o el silencio. Muy pocos artículos fueron declaradamente en contra. G.K. Pero Ud. ha sido crítico de teatro. T.B. De teatro, sí. Y la única vez que me impusieron, me rebelé. Intentaron imponerme una crítica, y yo dije que no. Era una mala comedia que estaba escrita por algún pariente de un ministro. Entonces por este ministro vino la órden de tratar bien a la obra. Yo le dije al director del periódico que no, que si la comedia era mala, trataría mal a la obra, porque yo no podía jugarme mi prestigio naturalmente por una cosa de este tipo. Efectivamente, la obra era mala, y hize una mala crítica, y se publicó la crítica. Y no pasó nada. G.K. ¿A Ud. le preguntaron alguna vez, si quería trabajar como censor? T.B. No, no, no. Tenga Ud. en cuenta que era sospechoso todavía. Ya se había terminado la Guerra, la policía seguía mis pasos. Yo tenía dos aspectos. El aspecto oficial, que me había hecho falangista, pero el antiguo subsistía. Lo único que supe al terminar la Guerra es que había un expediente judicial. Respondí a las preguntas que me hizieron y no volvieron a decirme nada. Pero hasta el año 42,43 seguían mis pasos. G.K. ¿Por sus simpatías con los anarquistas antes? T.B. Sí, sí, sí, por algo de eso, sí. 2.2. Interview mit Carlos Robles-Piquer vom 17. Mai 1994 in Madrid G.K. ¿Cómo llegó al puesto del Director General? R.P. Mire Ud., yo soy un diplomático profesional. Yo era en aquel momento secretario de la embajada en Londres. Lo que recuerdo es que tengo una relación de familia con Manuel Fraga, porque estoy casado con una hermana de él, y por consiguiente nos conocíamos muy bien. Él me llamó y me pidió que aceptara trabajar con él como Director General de Información. Me había ocupado siempre de temas hispanoamericanos y culturales. Como Director General de Información empezé en el año 62, cuando Fraga fiie nombrado ministro. Acepté fundamentalmente porque me interesaban temas de política cultural y porque me gustaba trabajar con Fraga, que es mi cuñado y con el cual yo me entendía muy bien. G.K. Fraga significaba un cambio. R.P. Sin duda alguna. El cambio mayor se nota primero en la práctica de cómo se trabaja. Para darle un dato: nosotros eliminamos inmediatamente las
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restricciones por motivo de idioma. Quiero decir que en España en aquel momento no se podían publicar libros en catalán o en idiomas regionales más que los libros antiguos. Nosotros aplicamos inmediatamente unos criterios muy amplios, muy liberales en el sentido de aceptar una publicación en cualquier idioma español. G.K. ¿Cuáles son los nuevos criterios? R.P. El nuevo criterio es éste. Lo cual significa un rápido desarrollo de la literatura, de la profesión literaria, editorial, en general, en lengua catalana, y algo menos, porque tenían menos fuerza, en otras lenguas como el vasco. G.K. Por ejemplo la literatura de izquierdas, ¿cómo es su desarrollo? R.P. Bueno, yo diría que hacemos mucho lo que se llama abrir la mano. Mientras subsiste el régimen de censura previa, abrimos mucho la mano y se publican muchos libros que antes estaban prohibidos. No sé, Lukács, por ejemplo, el pensamiento de Lukács. G.K. ¿A partir de cuándo se publican las obras de Marx? R.P. Yo creo que enseguida empiezan a publicarse primero en ediciones más restringidas, luego ya en ediciones más comunes. Hay alguna editorial, que es una editorial de un amigo mío, por cierto, Juan Grijalbo, y que se especializa mucho. Grijalbo empieza a publicar mucha literatura de izquierdas. Y no sólo él. Por ejemplo aparece una editorial catalana, que tiene mucho que ver con eso, el nombre lo dice, Ediciones 62. Lo que no se publica es la literatura subversiva o terrorista, por ejemplo Cómo matar a un policía, eso no se publica. Pero la literatura de ideas de izqierdas empieza a tener una circulación muy amplia, cosa que molesta a muchos lectores del régimen de Franco, naturalmente. G.K. ¿Influye en este proceso el Segundo Concilio del Vaticano? R.P. Bueno, yo creo que el Concilio influye más en la parte religiosa, no tanto en la política. El Concilio del Vaticano además es posterior. Empieza a haber literatura no estrictamente ortodoxa, desde luego, por ejemplo libros, que no estaban dentro de la doctrina católica, eso es indudable, empiezan a haber libros de origen protestante. En la parte religiosa influye mucho el Concilio, como es natural en un país que tenía la doctrina católica como doctrina de Estado. G.K. ¿Qué va a cambiar la nueva Ley de Prensa? R.P. La nueva Ley de Prensa e Imprenta cambia las reglas de juego. Antes había censura previa. Pero la nueva Ley de Prensa e Imprenta cambia eso, porque el editor es libre de publicar. Puede, si quiere, consultar, y si no quiere no consulta. Si no consulta, el libro puede ser secuestrado y se puede llegar a un juicio y decide el Tribunal. G.K. ¿El Tribunal de Orden Público? R.P. Si era un libro de carácter que incitara a la violencia, al terrorismo, sí, pero si no ... Mire, yo recuerdo el caso de un libro, por ejemplo, uno de los pocos que fue a un tribunal, y no fiie al TOP, si no a un tribunal normal, que era un libro de Elias Díaz. Era un libro en el cual se hacía una defensa de la democracia no or-
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gánica, y había unos ataques bastante fuertes al régimen español por no considerarlo democrático. El libro se publicó, porque la editorial lo quiso publicar. El libro fue al tribunal y ganó la editorial. G . K . ¿Y quién denunció el libro? R.P. Seguramente seríamos nosotros, sería el Gobierno, pero el Gobierno no tenía la facultad de decidir. El Gobierno denuncia el libro y el tribunal decide. Si el tribunal decide que no hay nada que no pueda publicarse, el libro se publica. G.K. ¿Cualquiera podía denunciar un libro? R.P. Yo creo que sí, ya no me acuerdo de la Ley. Pero normalmente no era un ciudadano particular, sino que era el propio Gobierno, que decía: Este es un libro que no quiero que se publique, entiendo por el Gobierno a los servicios encargados de la política del libro. G.K. ¿Quién decide en estos casos graves? Supongo que no serán los „lectores" normales. R.P. Yo me acuerdo del caso de Elias Díaz, probablemente porque yo tomaría la decisión de mandarlo a los tribunales. Me acuerdo de este caso porque fue el primero en que un editor decidió de desafiar el Gobierno: „Yo publico aunque el Gobierno no quiera." Es decir, ya no eran decisiones arbitrarias, sino que estaban sometidas a los tribunales. G.K. ¿Existe un documento en el cual se explica la nueva política del libro? Algo oficial? R.P. No, la nueva política se explica más bien en la propia Ley de Prensa e Imprenta y sus preámbulos, en los discursos con los cuales se defendió. Hasta ese momento lo que nosotros aplicábamos era lo que se llama el sentido común. El país había cambiado. No era igual que los años 40, aplicábamos criterios de apertura mental, de aceptar que en el mundo había pluralismo. El propio ministro tuvo que convencer al resto del Gobierno, que no era fácil, porque tenía unas alas muy anticuadas. Pero la verdad es que en esa materia Fraga tenía autoridad, porque era catedrático de derecho político y tenía peso político en aquel momento, y podía imponer unos criterios políticos distintos. G.K. ¿En contra de Franco? R.P. No, en contra de Franco era difícil, porque Franco tenía mucho poder, pero convenciendo a Franco que el país había cambiado. La sociedad se hacía más rica, más culta, la gente aprendía más, la gente iba más a estudiar. Los ánimos s e tranquilizan, ya no estamos en la situación de odio de la Guerra Civil. G.K. ¿El mismo Franco tomó decisiones en el sector cultural? R.P. Franco dejaba hacer. Franco no entraba mucho. Franco era un hombre curioso en este aspecto. El nombraba un ministro, le daba su confianza, y le dejaba hacer bastante. Yo creo que en los ministros confiaba, y si dejaba de confiar, los quitaba. Fraga duraba siete años. Luego a Franco a lo mejor no le gustaba aquello y lo cambiaba. Pero le otorgó mucha confianza durante los siete artos largos que lo mantuvo.
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G.K. ¿Los otros ministros intervenían en la política cultural? R.P. No, no creo que participaran mucho. Lo que pasa es que ellos recibían también sus informaciones del propio Servicio de Información, de sus propios amigos, de la gente que se escandalizaba, porque veía un libro sobre Marx. Algunas veces llegaban notas de protesta. Yo me defendía y explicaba que el libro estaba bien publicado por tales y cuales razones. Pero tampoco era una cosa muy inquietante. Mientras Fraga gozó de la confianza de Franco, nosotros hicimos una política que no tenía grandes dificultades. Al final hubo algunas dificultades y probablemente por eso Fraga cesó. Yo autorizé un libro de Cela, Don Camilo 36, una novela muy dura sobre la Guerra, y a mucha gente del régimen le molestaba profundamente. Yo la había autorizado sabiendo que era una obra difícil. Entonces hubo mucha crítica en contra de mí, porque entonces se entró en un período de menos apertura. Pero el régimen se tenía que aguantar, porque había sido autorizado validamente. G.K. O denunciar el libro. R.P. Sí, pero la verdad es que yo nunca llevé a los tribunales a ningún editor. Eso es muy importante. Yo denuncié un libro, pero era contra el libro, no contra el editor. El libro hubiera podido ser retirado. Pero nada más. G.K. ¿Y las multas? R.P. No, no, yo creo que la condena consistía en la retirada del libro. Eso era el riesgo verdaderamente. En general, lo que hacían los editores, era no asumir riesgos y consultar. Era un trámite voluntario. Ellos consultaban y nosostros dabamos nuestra opinión. El régimen por ejemplo era muy cuidadoso que no hubiera blasfemias. Si en un libro había expresiones blasfemas, pues les decíamos: „Hombre, esto no, porque en España no se autoriza la blasfemia." G.K. Eso es una contradicción. No se pueden decir en los libros, pero la gente en España dice muchas blasfemias. R.P. Si, pero no es lo mismo oír una blasfemia en la calle que verla escrita. Tampoco estaban autorizadas las escenas pornográficas, ahora se ha liberalizado mucho. Si Ud. hacía una novela pornográfica, seguramente Ud. sería enviado a los tribunales. G.K.¿Hubo dos velocidades distintas para la prensa y para los libros? Miguel Delibes por ejemplo tuvo problemas como periodista, pero no como autor. ¿Los criterios eran distintos? R.P. Yo creo que eran iguales, pero lo que pasa es que no los aplicabamos las mismas personas. Mire, el libro siempre tiene una repercusión menor y evidentemente suele haber mayor tolerancia. Yo procuraba dejar pasar mucho, tal vez mi colega de prensa dejaba pasar menos, no lo sé. Pero la prensa tiene una inmediatidad, es más agresiva, es más peligrosa políticamente, aunque es más efímera. Yo creo que los criterios eran los mismos, pero que el modo de aplicación podía ser diferente. Al político le da más disgustos la prensa.
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G.K. Yo he visto que en el B.O.E. estaban publicados los criterios para el cine y para el teatro, pero para los libros no he encontrado nada oficial. R.P. Yo creo que no hubo nada explicado. Yo tenía mucha relación con los editores porque además era Presidente del Insituto de Libro - ponía en contacto al editor con el poder político y con la administración pública. Y yo practicaba mucho la política del diálogo con el autor y el editor. Cuando había un libro difícil, lo que yo procuraba era hablar. Por ejemplo el caso de Juan Marsé. Juan Marsé es amigo mío, pero tenía muchas dificultades con sus libros. Entonces lo que hacíamos es irnos a comer y hablábamos de su libro. Yo le explicaba las dificultades que yo veía y el me explicaba sus razones literarias. Y siempre llegábamos a un acuerdo: „¿Puedes quitar esta frase, decir esto de otra manera. No hagas este ataque que es ofensivo." Cosas de buen entendimiento para evitar el conflicto. Eso he hecho con mucha gente: irme a comer a una sencilla comida en un restaurante sencillo de Madrid. Yo he tenido docenas de comidas con autores. Cuando había una dificultad, yo les invitaba a comer. G.K. Los autores dicen que los criterios eran muy arbitrarios. R.P. Bueno, yo creo que no eran arbitrarios, porque los criterios políticos al final los tenía que marcar yo, pues yo marcaba siempre los mismos, que era: autorizar todo aquello que no generara un conflicto más perjudicial para el libro que la nopublicación. Es decir, si el libro contenía ataques muy duros al régimen de la época o a los principios del Movimiento ... G.K. ¿También a la Falange, a la Iglesia, al Opus Dei? R.P. No es lo mismo todo aquello. El Opus Dei era una parte de la Iglesia. Yo me acuerdo por ejemplo de una conversación con José Luis Aranguren. Había escrito un opusculo muy duro contra el Opus Dei y no se autorizaba en la época anterior. Yo le dije: „Mire, si quiere publicar esto, yo no tengo ningún inconveniente. El Opus Dei es una institución que no es del Estado español, si quiere defenderse ya se defenderá. Luego hubo quejas ante Franco, porque Franco tuvo personas muy próximas que eran del Opus Dei. Franco se encogió de hombros y dijo: „Son cosas del Opus Dei. ¡Que se defiendan! No era lo mismo atacar al Opus Dei que atacar al ejército o atacar al Movimiento Nacional o incluso a la Falange. Yo procuraba convencer al autor que era mejor llegar a un acuerdo para publicar su libro tal vez eliminando una frase muy dura que no publicarlo. Y que si él lo publicaba yo no tenía más remedio que ir a denunciarlo ante un tribunal. G.K. ¿Los criterios publicados en el B.O.E. para el cine valían también para los libros? R.P. No, yo creo que no. La prueba de que no hicieron falta, es que nunca existieron estas normas escritas. Yo nunca tuve normas escritas de este tipo, ni sentí la necesidad de que las hubiera, hasta las de la Ley de Prensa nada más. Yo me reunía mucho con mis colaboradores y cambiábamos de impresiones. Por ejemplo había un problema muy delicado para nosotros que era la unidad nacional, todo lo que fuera el separatismo. Yo procuraba siempre de diferenciar:
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la defensa de lo catalán nos parecía muy bien, lo que era el separatismo catalán no nos parecía bien. G.K.¿Los colaboradores quiénes eran? R.P. Un libro conflictivo pasaba normalmente por varios „lectores". Había unos que eran más especialistas en historia, en literatura. Pero no siempre coincidían en sus criterios. Pero eran más bien diferencias humanas que estrictamente ideológicas. No van a ser comunistas, ya lo comprenderá, pero puede que uno fuera más católico y otro más falangista. Había historiadores, había críticos literarios, sacerdotes, un militar. Se procuraba tener un abanico variado. Había algunos muy mediocres también, que se reservaban para la literatura que no es literatura, las novelitas de tipo novela rosa. Los libros se distribuían según la especial competencia de cada uno. Si era un tema militar se buscaba a un militar, si era más bien religioso, a un sacerdote, si era más bien literarario a uno que supiera valorar la literatura. Ellos tenían que detectar lo que pudiera ser un motivo de conflicto. Los censores eran más bien servidores del sistema, en general. G.K. ¿Siempre había eclesiásticos en la censura? R.P. Había algún sacerdote en la censura efectivamente, sobre todo cuando se trataba de libros religiosos, libros que tenían que ver con teología, la liturgia o con la historia de la Iglesia. En general los censores eran personas muy agradables, muy leídas. Se buscaban especialistas. Yo me acuerdo de un amigo mío que era un historiador catalán. Los libros difíciles del tema catalán y sobre todo en lengua catalana, se le mandaban a él. Éste era una especie de „lector exterior". Era un escritor y escribía artículos, pero era un hombre de confianza que compartía los principios políticos del momento. Era un catalán muy culto. Sabía diferenciar entre el catalanismo como parte de España y el separatismo. Tenga en cuenta que yo para ellos era muy jóven, era el Director General más joven de España. Ellos llevaban casi todos 5 años, 10 años, 15 años. Eran funcionarios. Yo recuerdo un equipo de 15 o 20, llegarán a 30 con los de fuera. Ellos estaban preocupados, porque claro, las ideas básicas cambiaron mucho. A ellos les costaba un poco de trabajo adaptarse. Además el censor por naturaleza tiende a ser muy cauto para que no le puedan reprochar. Eso tenía un inconveniente para mí, que yo tenía que leer más libros de los debidos. Porque ellos enviaban muchas cosas arriba cuando tenían dudas. G.K. ¿Qué podía pasar si eran negligentes? R.P. Hombre, normalmente no pasaba nada, pero se les llamaba la atención. El problema era más bien que eran demasiado rígidos, porque venían de una época rígida. Yo creo que hubo un cambio muy importante y muy favorable. El país se modernizó, entraron ideas nuevas. Eso se hacía con riesgo, porque había sectores muy inmovilistas en el régimen. A los censores se les explicaba que había criterios distintos. Hablaba con ellos sobre casos prácticos. Los tres únicos principios eran: no atacar a las personas del Estado, no atacar la unidad de España y no atacar la fe católica o en general el sentimiento religioso. Lo demás: ¡Que muévanse con libertad y si tienen dudas, que pregunten!
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G.K. A veces la crítica en un libro pasa, si está muy velada. ¿Es porque no la veían los censores o porque no hacía falta censurarla? R.P. El modo de decir las cosas es a veces tan importante como lo que uno diga. Si Ud. dice las cosas con habilidad es más fácil que no provoquen reacciones. Nosotros teníamos que abrir la mente, pero había que tener cuidado de no suscitar una reacción entre el viejo régimen que imposibilitara el avance. G.K.¿Era fácil para un autor de acudir a Ud.? R.P. En general sí, porque los autores normalmente venían a través de un editor, y yo tenía mucha relación con los editores. El editor a veces venía acompañado por el autor. La nueva política que procuraba de aplicar era la de hablar. Tenga en cuenta que yo soy diplomático profesional. G.K. La nueva Ley de Prensa e Imprenta quita la censura previa. Sin embargo, para cada libro sigue existiendo un informe de los censores. R.P. No, no, eso no es censura. Eso es que el Estado, el Gobierno toma una postura ante un libro, pero no lo prohibe. G.K. ¿Porqué se destituyó a Fraga? R.P. Fraga estaba considerado por muchas personas del régimen como demasiado liberal, particularmente por Carrero Blanco. Al final hubo un documento muy duro contra Fraga y sus colaboradores. Yo creo que procedía del ministro Carrero Blanco. No lo tengo, pero lo leí, un ataque general a la política de Fraga.
3. Zensurdokumente 3.1. Torrente AGA 7161-43
Ballester:
Javier
Mariño
(1943)
-
Nr.
3045/
Es liegen drei Gutachten vor, zwei von den falangistischen Zensoren Leopoldo Panero und José María Peña Mesa, eins von dem Katholiken Andrés de Lucas. Die beiden Falangisten beurteilten das Buch im Mai 1943 positiv: den künstlerischen Wert des Buches fanden sie „gut" bzw. „beachtlich", die politische Richtung absolut linientreu. Peña Mesa resümiert das Buch als „subtile Apologie der patriotischen, moralischen und religiösen Werte" und hat nur den „manchmal kruden Realismus" zu bemängeln. Paneros Gutachten liest sich beinahe wie eine Buchbesprechung und läßt die anfänglich kulturellen Ambitionen der Falange durchblicken: Nach einer kurzen Inhaltsangabe und einer „psychologischen" Analyse des Helden Mariño kommt Panero zu seiner Bewertung im Hinblick auf die Zensurkriterien. Die Intention des Romans sei trotz einiger rauher realistischer Szenen vollkommen anständig. Nichts deutet in diesen Gutachten auf den kritischen Gehalt des Buches hin, und der Verdacht liegt nahe, daß die falangistischen Zensoren Torrente gezielt protegierten.
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Das negative dritte Gutachten wurde erst am 2. März 1944, also bereits nach der Konfiszierung des Buches, verfaßt und stellt eine Rechtfertigung des Verbotes dar. Es beinhaltet jene Argumente, die Torrente in Erinnerung an das Gespräch mit Gabriel Arias-Salgado selbst genannt hat, wie sie detailliert in der Textanalyse dargestellt wurden.
3.2. Luis Martin-Santos: Tiempo de silencio (1961) - Nr. 4244/ AGA 13.446-61 Die Erstauflage von 1961 wurde von zwei Zensoren begutachtet. Nr. 11 erwähnt in seinem Gutachten vom 7. August 1961 Inzest, Abtreibung und sexuelle Anstößigkeit des Romans. Er schlug deshalb ein Verbot vor. Der Behördenleiter bat daraufhin den Priester Francisco Aguirre um ein Zusatzgutachten. Aguirre schrieb seine Anmerkungen am 21. August unter die von Zensor Nr. 11; er ließ den Roman - allerdings mit zahlreichen Streichungen - passieren. Am 16. November autorisierte der Zensurchef Aguirres Streichungen. Im Februar 1964 bat der Verlag Seix Barrai um eine Revision des Urteils. Drei neue Zensoren lasen das Buch. Ein Zensor sprach sich am 21. Februar 1964 fllr die Autorisierung von Tiempo de silencio aus, notierte allerdings Streichungen auf 19 Seiten, die sich vor allem auf sexuell Anstößiges wie die Bordellszenen bezogen. Die von Zensor Nr. 4 am 27. Februar bemängelten Passagen decken sich zum Teil mit den Streichungen des Erstzensors, allerdings fügte er noch weitere hinzu. Da Nr. 4 vor allem die blasphemischen Stellen des Textes herausstellte, könnte es sich um einen Geistlichen handeln; er weist übrigens als einziger auf den literarischen Wert des Buches hin. Ein dritter, nummernloser Zensor trat schließlich am 9. September 1964 für eine Autorisierung ganz ohne Streichungen ein, da das Buch „überall gleichermaßen schmutzig" sei. Dies deutete er regimekonform mit dem Argument, der Autor wolle Ekel gegenüber sexuellen Dingen erregen. Trotzdem konnte sich dieser kühne „Lektor" mit seinem Urteil nicht durchsetzen, denn bis Ende des Franquismus durfte Tiempo de silencio nicht völlig unzensiert erscheinen. Anläßlich von Martin-Santos' Tod schickte die baskische Provinzdelegation des Informations- und Tourismusministeriums an Robles-Piquer einen Bericht über den „verdächtigen" Lebenswandel des Autors - auf Anforderung der Madrider Zensurbehörde. Das politische Engagement des Autors erweckte dort anscheinend Argwohn. Erstaunlicherweise liegen jedoch keine Informationen zu MartinSantos vor, die zu Lebzeiten des Autors eingefordert wurden.
3.3. Miguel Delibes: Cinco Horas con Mario (1966) - Nr. 4897/ AGA 17.481-66 Nur ein Zensor hat das Buch gelesen und am 20. Juli 1966 positiv, ja sogar begeistert bewertet. Cinco horas erregte keinen Verdacht, sonst hätte der Leiter der Zensurbehörde weitere Gutachten in Auftrag gegeben. Der Zensor konzentrierte sich in seiner Beurteilung fast ausschließlich auf Carmen, Mario erwähnte er nur
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in zwei Nebensätzen. Wie bei den Positivbewertungen zu Javier Marino ist auch hier der Fall eines kompiizenhaften Zensors denkbar, denn Mario wird lediglich als „idealistischer Intellektueller", aber nicht als Regimekritiker charakterisiert, während der Zensor Carmen ausschließlich positiv deutet und ihren „gesunden Humor" hervorhebt. Aber wenn der Zensor die kritische Komponente durchschaute, ließ er sich davon nichts anmerken, denn er bestätigte dem Roman ausdrücklich „moralisierende Intention".
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3.1. Zensurdokumente zu Torrente Ballester: Javier MariAo (1943) Nr. 3045/AGA 7161-43
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