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German Pages 158 Year 1977
Schriften zum Strafrecht Band 28
Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis Versuch einer Lügendiagnostik auf aussageexegetischer Grundlage
Von
August Bahrs
Duncker & Humblot · Berlin
AUGUST BAHRS
Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis
Schriften zum Strafrecht Band 28
Die Vulgärlüge in der gerichtlichen Praxis Versuch einer Lügendiagnostik auf aussageexegetischer Grundlage
Von
August Bahrs Rechtsanwalt und Notar a. D.
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
© 1977 Duncker & Humblot, Berlln 41
Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03944 0
Vorwort Die Lüge ist steinalt. Sie gedeiht unter allen Breitengraden. Keine Anzeichen dafür, daß sie ausstirbt. Sie stiftet viel Unheil, sagt man. Gewiß, aber wie ist ihr beizukommen? Mit Kraftakten, Radikalkuren oder menschlicheren Mitteln? Man hat alles versucht. Die Erfolge waren gering. Die Lüge wird bleiben. Wir müssen mit ihr leben, wie mit so manchem andern, woran wir keine reine Freude haben. Wir werden uns weiter mit ihr herumschlagen. Daß man diese menschliche Schwäche, vielen eine liebgewordene Gewohnheit, zart mit Stillschweigen übergeht, hat sie jedoch nicht verdient, sie gehört ans Rampenlicht. Was wir auf den folgenden Blättern über sie zusammengetragen haben, wurde angeregt und entstammt zum guten Teil Erfahrungen aus der Gerichtspraxis. In welchem Lebenskreis uns aber auch immer die Lüge entgegentritt, im Alltag, in Politik und Wirtschaft, in der Erziehung, im geschichtlichen Forschen usf., es ist die gleiche Lüge, ein und dieselbe menschliche Erscheinung. Was am einen Ort über sie, ihr Wesen, ihre Zusammenhänge, ihre Folgen herausgefunden wurde, ist auch am andern verwendbar. Und die Gerichtspraxis bietet eine günstige Gelegenheit zur Beobachtung. Dieser Vorteil wurde hier genutzt. Wir untersuchen ohne Scheu das Bild der Lüge wie das Verhalten des Lügners. Es soll dem Leser zu zweierlei verhelfen, einmal die Lüge, den Lügner zu durchschauen, zum andern den Aufrichtigen vor einer Fehleinschätzung zu bewahren. Eines ist so wichtig wie das andere. Geht unser Urteil über den Aussagenden hier oder da den falschen Weg, welch unheilvolle Folgen möchten sich ergeben. übliche Menschenkenntnis, durch einige Erfahrungen angereichert, finde schon den richtigen Weg, so hat man gemeint. Zu Unrecht, wie :lJahlreich erwiesen. Erhoffte man eine zeitlang, die Technik, unaufhaltsam fortschreitend, werde mit ihren Mitteln allein zahlreiche Tatsachenzweifel lösen und die Bewertung der Aussagen überflüssig machen, so urteilt man heute, durch ärgerliche Beweispannen aufgeschreckt, nüchterner und hat erkannt, daß der Technik, der Naturwissenschaft und ihren Sachverständigen Grenzen gesetzt sind. Ohne Aussagen der Beteiligten ist in der Regel nicht auszukommen, oft bilden sie das Kernstück des Beweises oder sind doch notwendige Stützen der Tatsachenfeststellung. Für die Prüfung einer Aussage auf Lüge oder Aufrichtigkeit bieten wir dem Leser z'ahlreiche diagnostische Fingerzeige, psychologisch ent-
Vorwort
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wickelt und an der Praxis gemessen. Die Würdigung der Aussagen wird dadurch vielfach erleichtert und nicht minder die Verständigung über die Gründe, die Kommunikation, an der es bis dahin oft fehlte. Im Gebrauch der Fingerzeige walte Vorsicht! Es gilt, sie im Einzelfall eifrig zu sammeln und mit Bedacht, d. h. nach allen Seiten prüfend, ihr Gewicht zu bestimmen. Die Psychologie als Hilfsmittel der Tatsachenaufklärung möglichen Lügenfällen gegenüber ringt noch um ihre Anerkennung, nicht zuletzt, weil manche ihrer Vertreter in der Anwendung allzu forsch und sich einseitig an Thesen bindend zu Werke gingen. Jede Wissenschaft geht Irrwege, die Psychologie tut sich besonders schwer. Dennoch glauben wir, sie befindet sich auf dem Marsche. Dem Psychologen eröffnen sich meist mehrere Deutungsmöglichkeiten, das gibt es bei technischen Fragen auch; man muß sie sehen und prüfen, um sich für das Wahrscheinliche zu entscheiden. Der Psychologe sucht die Wahrheit in der Spur der Wahrscheinlichkeit. Freilich der Weg bis zur Gewißheit ist dornenvoll. Ist das Ziel überhaupt erreichbar, fragt der Zweifelsüchtige. Wir bejahen die Frage. Es ist wie mit dem Schießen nach einer Scheibe, viele schießen daneben. Beweist dies, man könne nicht ins Ziel treffen? Keineswegs, die guten Schützen zeugen vom Gegenteil. Wissenschaftliche Skepsis behält ihren Rang, sie unterscheidet sich von der Zweifelsucht. Den Aussagenden einer Exploration durch Sachverständige zu unterwerfen, dazu raten wir im allgemeinen nicht. Der Leser soll durch fleißige übung im Gebrauch unserer Lehre selbständig urteilen lernen. Das Gefundene wurde natürlich gelockert dargestellt; die Gedanken sind weitgehend in der Reihenfolge niedergeschrieben, wie sie dem Schreiber selbst kamen. So bewahren sie ihre Frische und werden, wie wir hoffen, den Leser mit dem buntscheckigen Gegenstand ohne unnötige Mühe alsbald vertraut machen. Der überblick stellt sich am Ende von selbst ein. Hamburg, im Mai 1977
August BahTS
Inhaltsverzeichnis I. Teil
EINTEILUNG DER AUSSAGEN UND GEFÄHRLICHKEITSKALKVL DIE VERFÄNGLICHKElTSREGELN 1. Kap i tel Lügensachverhalt, Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül .........................................
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Meinungs-, Gedanken-, Gefühls- und Tatsachenaussagen - Verneinung, Schweigeform und einläßliche Aussage - Klein- und Großaussage - Erste Antwort zur Verfänglichkeitsregel: Lügengelegenheit und Lügenanfälligkeit - Stoff der Aussage: Heimliches und offenes Geschehen, Kronzeuge und Gegenbeweis, spurenarmes und spurenreiches Geschehen, Gesprächsaussage, sonstige stoffliche Gegensatzpaare - Zweite Antwort zur Verfänglichkeitsregel: Bewußtes und Unbewußtes, Selbstschutztrieb und Listigkeit, Gewohnheit, Belege. I. Tafel .........................................................
18
2. Kap i tel - Abgrenzung der Lüge von andern Aussagemängeln, Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen ....................
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Zur Abgrenzung: Lüge, Lügenabsicht und Bewußtseinsklarheit, Zwitterfälle, Blindes Aussagen, Unfähigkeit des Lügners, die Wahrzu erkennen? Gemischte Aussagen - Meinungsaussage und gegenständliche Aussage: Vom Aussagenden, der sich zur Meinungsaussage drängt, - Beweisthemen, die dazu verführen, Vokabeln der Meinungsaussage, Nachträgliche Sinnverdrehungen - Gedanken- und Gefühlsaussagen: Aus welchen Gründen man über sein inneres Erleben aussagt, Werben für die eigene Glaubwürdigkeit, Das Innenleben als Zuflucht für Verlegene und Erflndungsfreudige. 3. Kap i tel Uneinläßliches Aussagen, Umfang und Stoff der Aussage, charakterliche Paßlichkeit ..............................
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Das uneinläßliche Aussagen: 1) Schweigeformen: Vokabeln, Wissensgrenzen und Wissensgrade, Mißbrauch der Möglichkeiten durch den Lügenden, Wodurch dieser sich verdächtig macht - 2) Verneinung - 3) Ausweichen - Umfang der Aussage - Aussagestoff: Heimliches Geschehen, der Kronzeuge, Flüchtig vergängliches Geschehen, Gesprächsaussage - Zeitlich Zurückliegendes - Verzwicktes - Charakterliche Paßlichkeit. 11. Tafel .......................................................
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Inhaltsverzeichnis
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H. Te i I DIE NÄCHSTEN CHARAKTERLICHEN WURZELN DER LÜGE
4. Kap i tel -
Von den Täuschungstriebfedern ................
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Die nächsten Triebfedern der Lüge und das Lügenmotiv - Listigkeit, Schlauheit, Verschlagenheit, Heuchelei (Verstellung), Falschheit und Lügenhaftigkeit. 5. Kap i tel -
Lüge und Selbstschutztrieb .......................
51
List und Täuschung als Mittel der Selbstbehauptung, Belege Vom Instinkt - Das Verheimlichen und seine Weisen - Nur Macht der Gewohnheit? - Der Fuchsmensch. 6. Kap i tel Beweisanzeichen für die charakterlichen Lügenwurzeln .......................................................
58
Die Erforschung des Erscheinungsbildes der Lüge gewährt die Möglichkeit des Wiedererkennens (Diagnose) - Die Relation als Ausgangspunkt des Beweisdenkens: Kausalität und psychologischer Wirkungszusammenhang - Folgerungen von Wahrscheinlichkeitswegen - Das Selbstzeugnis des Aussagenden und seine mittelbare Selbstschilderung - Lügenbezicht - Charaktereigenschaft, Konstanz, Wiederholungssatz. 7. Kap i tel - Beweisanzeichen für die charakterlichen Lügenwurzeln (Fortsetzung) ...............................................
66
Von durchschnittlicher und vorwaltender Listigkeit - Verteidigungsuntüchtigkeit - Sich Lügen strafen - Beweisquellen außerhalb der Aussage: Akten und Vorstrafen, Täuschungsdelikte, lichtscheue Taten und Listverbrechen. 8. Kap it el -
Verstellung ......................................
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Allgemeine Verstellung und Schriftverstellung: Gesetz der Aufmerksamkeitsrichtung - Schwierigkeitsgrade - Von der Verstellungsbegabung Das Betätigungsfeld der Verstellung Selbstheuchelei - Das Rollenspiel. 9. Kap i tel -
Heuchelei und Scheinheiligkeit ...................
86
Die überbetonung - Das Weinen - Das Beteuern - Die Lockweise - Dramatischer Auftritt - Das Verrutschen der Maske Scheinheiligkeit. IH. Tafel .......................................................
94
Inhaltsverzeichnis Die Phantasie lüge und andere nächste Wurzeln 10. Kap i tel der Lüge.......................................................
9 96
Verschwiegenheit, Klatschsucht, Widerspruchsgeist u. a. - Phantasie und Lüge: Aufschneider, Wichtigtuer, Hochstapler - Die Phantasie als Täuschungsquelle - Pseudologia phantastica und der Hysteriker.
Anhang Vom Ausdruck
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Das Lügen hat keinen speziellen Ausdruck - Gefühl und Empfindung, Gefühle und Triebfedern, Gefühl und Stimmung - Ausdrucksprinzip - Darstellungsdrang und Raumsymbolik - Der unsichere und der dreiste Lügner - Blickarten - Lauern - Physiognomik - Abneigung und Zuneigung.
111. Teil
GESTALT DER LÜGE - DES LÜGNERS STÄRKE UND SCHWÄCHEN 11. Kap i tel - Zergliederung der Lügentätigkeit - Wahlnöte des Lügners . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. .
113
Vier Aufgaben des Lügners - Erdenken und Kundgabe, Ersinnen und Locken - Wahlnöte beschränktes und unbeschränktes Lügen. 12. Kap i tel -
Lügentechnik, Mischungsweisen ..................
117
Gleichnis vom Lügengewebe - Dreierlei Weisen - Mischung von Wahrem und Erdichtetem - Verdrehung - Gefährlichkeit für die Wahrheitsfindung. 13. Kapitel
Namenswahl und Perseverationstendenz
123
14. Kap i tel
Ungewollte Offenbarungen .......................
128
Namenswahl und Selbstbespiegelung - Ruhmredigkeit und Prahlsucht - Ausplaudern aus Gewissensnöten und sonstigen Unlustgefühlen - Geständnis zum Mithäftling - Beteiligung der Perseverationstendenz. 15. Kap i tel -
Die gelungene und die mißglückte Erfindung
Vom Erzählertalent - Beispiel einer mangelhaften Erfindung Allerlei Erfindungsgebrechen.
133
Inhaltsverzeichnis
10
16. Kap i tel -
Letzte Anstrengungen ...........................
Hartnäckigkeit des Lügenden - Unersättlichkeit der Lüge weben und Flicken am Lügengewebe. 17. Kapitel -
139
Fort-
Vom Locken........................... ....... ...
144
Einstellung auf die Eigenart des Untersuchenden - Verführung zu Trugschlüssen - Flucht in die Rechtsfrage - Spiel mit der Unsicherheit - Stoffhäufung und Einnebelung - Ablenkung - Zuvorkommen - Die Strategie der Zermürbung des Gegners.
Schlußwort
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Schrifttum
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I. Te i I
Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül Die Verfänglichkeitsregeln "Dabei stellte er die Ungefährlichkeit in Rechnung und außerdem, daß er auch noch den Preis der Schlauheit beanspruchen konnte, weil er den Gegner durch List übertölpelt hatte." Thukydides1 1. Kapitel
Lügensachverhalt, Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül Vorerst stellt sich die Frage, was versteht man unter der Lüge?
Es lügt, um mit dem Handgreiflichen ru beginnen, wer über Vorgänge
der sinnlichen Erscheinungswelt aussagt, und zwar im bewußten Widerspruch zu dem, was er darüber als seine Wahnehmung im Gedächtnis bewahrt oder genauer, wessen er sich erinnert. Lügen heißt hiernach, geflissentlich die Wahrheit entstellen. Es lügt selbst, wer an seiner Wahrnehmung oder seiner Erinnerung nur zweifelt und diesen Zweifel unterdrückt. Es lügt gleichfalls, wer über seine Gedanken und Gefühle wissentlich falsch aussagt, mögen sie vergangen oder gegenwärtig sein. Auch wer sein Werturteil, seine bloße Meinung verhehlt und Gegensätzliches kundtut, lügt. Es macht ebensowenig einen Unterschied, ob jemand positiv falsch aussagt oder nur etwas verschweigt, ebensowenig welches die Beweggründe dazu sind; denn selbst die wohlmeinende Lüge ist eine Lüge. Bei dieser ersten Umgrenzung des Sachverhalts, trat beiläufig hervor, wie die Aussagen sich jeweils auf einen verschiedenen Gegenstand richten, hier auf äußere Tatsachen, dort auf Ged·anken und Gefühle des Aussagenden und selbst auf seine bloße Meinung. Wir teilen daher die Aussagen nach ihrem Gegenstand ein, in Tatsachen-, Gedanken- oder Gefühls- sowie Meinungsaussagen und entsprechend die Lügen in Tatsachen-, Gedanken-, Gefühls- oder Meinungslügen. An dieser Stelle erhob 1
Der Große Krieg, übers. v. H. Weinstock, Kröner-V. 1938, S.73.
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1.
Kap.: Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül
sich für den Forschenden die Frage, hat solche Einteilung einen Sinn, ließ sie sich nutzbar machen, bestanden zwischen den gefundenen Aussagegattungen und -formen einerseits und dem Faktum der Lüge andrerseits irgendwelche psychologischen Beziehungen. Es tauchte die Frage auf, ob etwa der Lügner durch die eine Aussagegattung oder -form mehr als durch die andre zur Lüge gereizt, zu ihrer Wahl im Einzelfall bestimmt werde. Sie mußte bei näherer Untersuchung bejaht werden, einer Untersuchung, die sich des Hineinversetzens bediente. Der Untersuchende mußte in die Haut des Lügners schlüpfen, und was ergab sich dabei? Bei den Meinungsaussagen ist ein besonderer Anreiz zum Lügen gegeben. Hier glauben selbst Naturen, die sonst wenig zum Lügen angelegt sind, mit ihrer Meinung, einem Werturteil brauchten sie es so genau nicht zu nehmen. Haben nicht Meinungen, Werturteile etwas Schwankendes, Wechselhaftes! Wie bequem verleugnet man sich hier, läßt mal diese, mal jene Meinung hören, redet jedem nach dem Munde! Und dazu wird die Falschmünzerei nicht leicht durchschaut, wer sieht uns ins Herz! Hier trifft, wie schon oberflächliche Betrachtung lehrt, mehreres zusammen, und reizt zur Meinungslüge an, ihre Leichtigkeit, der wechselhafte Charakter der Meinung, eingefleischter Opportunismus usf. Aber eines ist auch dabei und das soll uns hier weiterleiten, die Vorstellung, die Meinungslüge sei für den Aussagenden nicht sonderlich gefährlich, die Entdeckungsgefahr sei gering. Hi:erin ähnlich liegt es bei der Gedanken- und Gefühlsaussage. Was ich bloß gedacht, was ich gefühlt habe und nicht äußerte, das weiß mit Sicherheit nur ich allein; mein Gegenüber, sofern es überhaupt eines gegeben, nahm bestenfalls einen Widerschein wahr, der mehrere Deutungen zuläßt. Anders liegen die Dinge bei der Tatsachenaussage, hier mag die Tatsache von anderen Personen wahrgenommen sein oder sie mag sonst Beweisspuren hinterlassen haben. Da sagt sich der Lügner, diesmal besteht die Gefahr, daß ich bei meiner Lüge ertappt werde. Die Gefährlichkeitsüberlegung, der Gefährlichkeitskalkül des Lügners ist es hiernach, der uns zweckmäßigerweise jene Einteilung vornehmen läßt, in Meinungs-, Gedanken-, Gefühls- und Tatsachenaussagen. Der praktische Fall veranschaulicht es, daher seien ein paar Aussagen aus erledigten Strafverfahren angeführt. Eine Zeugin sagte folgendes aus: "Nachdem ich zur Sache vernommen war und sich die vernehmenden Krim.-Beamten entfernt hatten, fiel mir noch etwas ein, was ich schon lange hätte angeben sollen, jedoch mich davor immer wieder gefürchtet habe. Ich bin immer so unschlüssig und weiß nicht, soll ich es angeben oder nicht. Wenn ich es heute angebe, so wird man sagen, weshalb haben Sie es erst
Gegensatzpaare und Sonderfälle
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heute angegeben, und meinen Angaben keinen Glauben schenken. Aber ich sehe es jetzt ein, daß ich es angeben muß; wenn ich nicht noch weiter in die Sache verwickelt werden will." Da haben wir das Muster einer Gedanken- und Gefühlsaussage, die Aussagende spricht von einem Gedankeneinfall, von der Furcht, die sie beschlich, von ihrer Unschlüssigkeit usf. Waren es Lügen, wie ungefährlich mochten sie mit Recht der Aussagenden erscheinen. In ihr Inneres blickte man nicht. Und nun das Beispiel einer Tatsachenaussage. Ein Zeuge bekundete folgendes: "Ich lief mit meiner Frau auf den Gang und schaltete das Licht ein. Als ich am oberen Ende der Treppe stand, hörte ich, daß sich unten in dem Dienstzimmer etwas zutrug. Ich hörte ca. 4 langgedehnte, röchelnde Rufe ,au' -. Die ersten Rufe waren laut und wurden jedesmal leiser. Sie endeten in einem Röcheln, das längere Zeit anhielt." Da sind äußere Tatsachen aneinandergereiht, einsichtig für Dritte; andere Zeugen könnten gegebenenfalls leicht eine Lüge aufdecken.
Es war die Rede davon, eine Lüge könne sowohl in der Aussage als in der Schweigeform ausgesprochen werden. Hierzu gleichfalls ein Beispiel: Ein des Mordes Verdächtigter, der am Tage nach der Tat unweit des Tatortes mit dem Rade vorbeikam, sagte bei einer Vernehmung folgendes: "Die Leute unterhielten sich über den Mord, wann, wie, von wem und warum der Mord ausgeführt wurde, darüber sprachen die Leute nicht. Ich kam nicht zum Haus hinauf, in dem der Mord ausgeführt wurde. Es stand niemand da, der mir den Zutritt verweigert hätte. Ich hörte von niemand und sah auch nicht, daß der Weg zum Haus abgesperrt wäre. Ich hatte kein Interesse für den Vorfall und ging auch deshalb nicht zu dem Haus." Angenommen, der Aussagende wäre tatsächlich an dem Mord beteiligt gewesen und wollte sein Interesse, das ihn nachher zum Tatort trieb, mit einer Lüge zudecken, so mochte ihm hier die Schweigeform, die Verneinung ungefährlicher erscheinen, als eine einläßliche Lüge. Die Schweigetaktik ist bei Lügnern beliebt. Ihr gegenüber befindet sich der Vernehmende in der Tat in einer ungünstigen Lage. Vielfach bekommt er mit dem Aussagenden überhaupt keinen Kontakt, dieser entzieht der Vernehmung durch einen ersten Satz allen Boden. Er sagt etwa, er sei bei einem Vorfall nicht zugegen gewesen, er kenne die Partei überhaupt nicht und was dergleichen mehr ist - siehe unser Beispiel. Hier ist schwer weiterzufragen. Hätte sich andrerseits der Aussagende auf die Frage des Vernehmenden positiv eingelassen, so erhöhte sich die Gefahr, bei einer Lüge ertappt zu werden, indem die einzelnen Angaben einer genauen Nachprüfung nicht standhalten mochten. Der Gefährlichkeitskalkül läßt also die Schweigeform wählen. Ob daneben andre psychologische Umstände den Aussagenden gleichfalls zu dieser
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1.
Kap.: Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül
Form bestimmen, ist möglich. überhaupt keine Lüge liegt vor, wenn der Befragte die Aussage schlechthin verweigert und lediglich schweigt, gar nichts kundgibt2 • Es wurden so im Verfänglichkeitspunkte zwei Gegensatzpaare gefunden Gedanken-/Gefühlsaussage einerseits, Tatsachenaussage andrerseits, Verneinungs-/Schweigeform einerseits, einläßliche Aussage andrerseits. Als drittes Gegensatzpaar sei genannt die Kleinaussage gegenüber der Großaussage. Je größer, je umfangreicher eine Aussage, um so gefährlicher ist es im allgemeinen dergestalt zu lügen; und umgekehrt, ist die kleine Aussage, die Aussage beschränkten Umfangs, im allgemeinen für den Lügner unverfänglich. Spezialfälle der Gedankenaussage von praktisch nicht geringer Bedeutung sind die Nichterinnerungs-Aussage und die Nichtwissens-Aussage. Wenn ich sage, ich erinnere mich nicht, ich weiß es nicht, so hätte ich damit lügend zugleich (neben der Gedankenaussage) die Verneinung gewählt, so daß in diesen beiden Spezialfällen 2 Verfänglichkeitsgesichtspunkte zusammentreffen, die auf der Seite des Unverfänglichen liegen. Als Sonderfall der Gedankenaussage verdient hervorgehoben zu werden die Einfallsaussage. Sie begegnet uns bereits im obigen Beispiel: Die Zeugin Wiese erklärt, nach dem Fortgang des Kriminalbeamten sei ihr eingefallen, was sie schon lange hätte sagen wollen. Die Einfallsaussage gehört zu den geläufigsten Ausreden des Lügners, mit denen er an seinem Lügennetz fortspinnt oder flickt. Ähnlich die Gedanken- und Gefühlsaussagen, in denen er sich entschuldigt mit Vergeßlichkeit, Aufregung, Zerstreutheit usf. Bevor weitere Gegensatzpaare im Gefährlichkeitspunkte genannt seien, mag es angebracht sein, eine erste Anwort zu versuchen auf dd.e Frage, wieso und weshalb der Gefährlichkeitskalkül verdient, wie wir es anscheinend beabsichtigen, zum Lügenindiz erhoben zu werden. Nachdem wir bereits von der Erfahrung geleitet und durch den Kunstgriff des Hineinversetzens tiefer geführt, unsere feste Meinung von der Bedeutsamkeit des Gefährlichkeitskalküls allenthalben gewonnen hatten, lasen wir bei Exner in seiner Kriminalbiologie (1939) folgenden Satz: "Unter der günstigen Gelegenheit zur Tat hat man zu verstehen, jede Lage, die das Verbrechen leicht, gefahrlos und ergebnisreich aus2 Vgl. dazu die Bemühungen der katholischen Moraltheologie, den Begriff der Lüge zu umgrenzen, insbesondere die Lehre des Thomas von Aquin über die vier modi causalitatis beim Zustandekommen der Lüge, dargestellt bei G. Müller 170 ff. Das eigentliche Wesen der Lüge wird gesehen in der voluntas falsum enuntiandi. Augustinus definierte: falsa vocis signiftcatio.
Gefährlichkeitskalkül und Lügenindiz
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führbar erscheinen läßt." Ein schlichter Satz, der in glücklicher Formulierung mehr sagt, als beim ersten Lesen aufstößt. Gefahrlos ausführbar, so sagt Exner. Da haben wir also wieder unseren Gefährlichkeitspunkt, und die günstige Gelegenheit, sie reizt zur Tat, wen es angeht, den zieht sie an, wie ein Magnet, sie führt mit den Tatentschluß herbei, steuert aber außerdem die Ausführungsweise. Nimmt man den Fall einer Haushälterin, deren Brotgeber, ein reicher Junggeselle, verstirbt, nachdem er sich von seiner Verwandtschaft zurückgezogen hatte, so ist damit Gelegenheit zu einer Bereicherung für die unbegüterte Haushälterin gegeben; sie läßt Sachen des Verstorbenen verschwinden und behauptet keck, dies und das habe ihr der Verstorbene zu Lebzeiten für ihre treuen Dienste gegeben. Es ist für sie, die Betrugs-, die große Lügengelegenheit ihres Lebens. Die Gelegenheit bestimmt ebenso ihren Entschluß, wie die Ausführungsweise, ihre Wahl der Lügengattungen und -formen, mit welchen sie ihr Täuschungsziel anstrebt. Da der Tote nicht mehr sprechen kann, es an anderen Zeugen fehlt, so ist das Lügen für sie ungefährlich. Wie ohne Gefahr kann sie dem Toten dies und jenes Wort in den Mund legen!3 Die günstige Gelegenheit, so sagten wir, übt eine Anziehungskraft aus auf denjenigen, den es angeht. Wer ist das? Auf wen wirkt solche Anziehungskraft und zwar entscheidend? Auf jeden? Nein. Auf viele oder wenige? Auf welche? Nennen wir die Gemeinten einmal die Lügenanfälligen. Es ergibt sich damit die Frage nach der durchschnittlichen Lügenanfälligkeit des Menschen, eine peinliche Frage, die ungeschminkt beantwortet sein will. Vergleichen wir einmal unser häufigstes Vergehen, den Diebstahl mit der Lüge. Unterliegen mehr Menschen der Gelegenheit zum Diebstahl oder der Gelegenheit zur Lüge? Mehr der Gelegenheit zur Lüge, meinen wir, ja wir dürfen sagen, unvergleichlich viel mehr. Wievielen Menschen käme ernstlich ein Diebstahl nie in den Sinn, aber lügen, das täten sie schon. Die Lüge ist gleichsam das Kleingeld, mit dem viele ihre täglichen Verlegenheiten bereinigen, buchstäblich von der Schulbank bis zum Grabe. Für nicht wenige, denken wir nur an Kinder und schutzlose Frauen, ist sie, die Lüge, das Mittel des Selbstschutzes. Sie wird zahlreichen Menschen zur GewohnheW. Was im besonderen die :a Der Strafverteidiger P. Ronge 19 betont gleichfalls, daß die geringere Entdeckbarkeit einer Tat den Entschluß zu ihr erleichtere. "Es wird schon nicht rauskommen, ist in allen Straftaten beinahe der wesentlichste Teil des Entschlusses." 4 Man vergleiche damit, was G. Müller als katholischer Moraltheologe dazu sagte (242 f.): "Dennoch aber steht fest, daß kaum gegen ein Gebot so viel gefehlt wird wie gegen das achte. Wenn auch viel gelogen wird, so will doch bezeichnenderweise niemand gelogen haben, d. h. einer Lüge bezichtigt werden; sie ist eine Art Befleckung, deren man sich schämt; Lügen ist kein Verbrechen, wohl aber ehrenrührig" (N. Hartmann, Ethik 552). Warum lügt man
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1.
Kap.: Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül
forensische Lüge angeht, so schreibt bereits Reichel Ende der 20er Jahre: 5 "Vor Gericht wird eidlich wie uneidlich in geradezu erschrekkendem Maße gelogen. Das forensisch-psychologische Schrifttum ist hierüber einhelliger Meinung." Daher müssen wir leider mit einer ungemein verbreiteten Lügenanfälligkeit rechnen, und damit nicht zuletzt bekommt der Gefährlichkeitskalkül als Lügenindiz sein Gewicht. In der Tafel I sind die genannten Gegensatzpaare zusammengestellt. Nach diesem ersten Begründungsversuch setzen wir die Suche nach Gegensatzpaaren im Verfänglichkeitspunkte fort und finden solche bei näherer Prüfung des Stoffes der jeweiligen Aussage. So begegnet uns der Gegensatz von heimlichem und offenen Geschehen, heimlich etwa der Geschlechtsverkehr, ehewidriges Verhalten, ein Mord oder sonstiges Tatgeschehen an einem einsamen, verlassenen Ort. Dies ist für den Lügner im allgemeinen ein weniger gefährlicher Aussagestoff als das offene Geschehen. Ein ferneres Gegensatzpaar: das flüchtig vergängliche Geschehen, schwache Spuren hinterlassend, steht gegenüber einem Geschehen von Dauer, von Bestand, mit nachhaltigen Spuren. Flüchtig vergänglich ist besonders das gesprochene Wort; die Gesprächsaussage ist daher verhältnismäßig ungefährlich. Hören wir wieder eine Zeugin: "Ich fragte Müller, warum er seit Sonntag nicht mehr gekommen sei. Darauf sagte Müller folgendes: Ja, wären Sie bei mir gewesen am Montagabend, dann hätten Sie etwas gehört. Wie der Schwarz mit mir gestritten hat, wie er mich gepeinigt und gequält hat, wegen dieses blöden Gesäufs. Als ich ihm sagte, was das alles war, hat er sich ein wenig beruhigt. Er wollte mich direkt fressen, er Schwarz, ist ein ganz radikaler Mensch." Der Gesprächsaussage begegnen wir zahlreich in Prozessen. Der Lügner ist nicht zuletzt ein Sünder gerade am Wort, die Lüge ist ein Mißbrauch des Sprachvermögens. Warum sollte der Lügner sich nicht mit besonderer Vorliebe zu Täuschungszwecken der falschen Gesprächsaussage bedienen, wo sich diese aus gesprochenen Worten doch zusammensetzt! Außerdem reizt den Lügner zur GesprächsaUSSage folgendes: Ein also doch? "Daß immer und überall aus selbstsüchtiger Klugheit gelogen worden ist, weist stark auf ein radikales Böses im Menschen hin." (M. Rade, in: RE 20, 785.) Dieses Böse ist letzthin die sich absolut dünkende Ichliebe. Als Einzelgründe kann man weiterhin angeben: Mangel an Mut, kein klares überzeugtsein von der persönlichen Würde und Geradheit, die Ungewandtheit vieler Menschen in den Notlagen des Lebens, Verlust des Persönlichkeitsgefühls, gehemmter Gewissensentscheid, zersetzende Umwelteinflüsse usw. Auch die "Rücksicht auf ein gewisses Gemeingefühl von der praktischen Unausführbarkeit des entgegenstehenden Rigors" (J. B. Hirscher, Die christliche Moral III 280) spielt eine gewisse Rolle. Die Tatsache, daß es hinsichtlich einzelner Naturgesetze eine gewisse Wertblindheit von Seiten der Menschen gibt, kann aber nicht als Entkräftung der naturgesetzlichen Verpflichtungen angesehen werden." 5 H. Reichel im Judicium 2, 350 ff. (1929/30) und in ähnlichem Sinne bereits in seiner Schrift "über forensische Psychologie" (1910).
Bewußtes und Unbewußtes
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Gespräch ist im allgemeinen leicht zusammengeflunkert. Leichte Ausführbarkeit ist nach Exner ein Bestandteil der günstigen Gelegenheit. Ein weiteres Gegensatzpaar liefert die Zeit. Die Aussage über zeitlich Fernliegendes bietet sich als ungefährlicher an denn die über zeitlich naheliegende Ereignisse. "Wer lügen will, soll von fernen Ländern oder alten Zeiten lügen, so kann man ihm nicht nachfragen", sagt das Sprichwort (Grimm). Verzwicktes steht Einfachem gegenüber usf. Soweit sehr schön, aber wieso fragt man sich kritisch, weiß der Lügner von diesen Gegensatzpaaren und berücksichtigt sie demgemäß seine Lügenweise wählend. Die Antwort ist nicht schwer, versetzt man sich rundherum in die Lage des Lügners. Angenommen, es wollte jemand als Aussagender den Vernehmenden täuschen und hätte Aussicht, dieses Ziel zu erreichen entweder durch eine Tatsachenlüge oder eine Gedankenlüge. Für welche Möglichkeit entscheidet er sich? Als zweckdienlich für ihn, natürlich, entscheidet er sich für die weniger gefahrvolle Gedankenlüge. Aber sind die Menschen so überlegsam, kommt es wirklich bei jedem und in jeder Lage, in jeder Stimmung zu der entsprechenden Gefährlichkeitsüberlegung? Dies ist zu verneinen, eine Gefährlichkeitsüberlegung stellt der Lügner oftmals nicht an. Indes, der Lügner berücksichtigt den Gefährlichkeitspunkt keineswegs nur bewußt. Er bedarf nicht notwendig der überlegung, um Kontakt mit der Gelegenheit zu erhalten oder um in der Ausführung den für ihn richtigen, ungefährlichen Lügenweg zu finden. Der LügenanfälIige wittert die Gelegenheit und wählt unbewußt die gefahrlosen Lügenwege. Man spricht von Durchtriebenheit, vom durchtriebenen Lügner, wie denn das Lügen allgemein stark triebhafte Einschläge aufweist. Im Menschen ist der Selbstschutztrieb mächtig. Ihm verdanken wir die Listigkeit. List und Lüge gehören zusammen und Listigkeit ist nichts anderes als die egoistischen Zwecken dienende vorausschauende Berechnung - wir kommen darauf zurück - und die Gefährlichkeitsüberlegung stellt nichts anderes dar, als eine vorausschauende Berechnung Wiewohl also solcher Gefährlichkeitskalkül bewußt angestellt werden kann, notwendig ist dies nicht und noch nicht einmal die Regel; vieles mehr, als gemeinhin angenommen wird, geschieht unbewußt - und ganz besonders auf dem Gebiet des Lügens. Beiläufig einer der Gründe, weshalb menschliches Wissen darüber bislang zurückblieb. Unvermittelt kommen demnach dem Lügner für gewöhnlich die Einfälle, wie er sich bestens wendet und dreht, instinktiv wird das Richtige gefunden. Hieran nicht zweifeln wird, wer sich einmal die Lage des Verfahrenslügners ausmalt; dieser ist mit seinen Interessen irgendwie bei der Sache, das schärft ihm die Sinne, und noch mehr, daß er weiß, daß Lügen vor Gericht hat möglicherweise ärgerliche Folgen in Gestalt von Strafe usf. Man fühlt als Aussagender, daß das eigene Wort, vor dem Richtertisch gesprochen, 2 Bahr
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1. Kap.: Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül
Gewicht hat; derartige Gelegenheit ist selten, für manchen einmalig. Alles dies sind Gründe, um wach zu sein. Zudem kann sich der Aussagende für gewöhnlich auf seine Aussage vorher einstellen. Den Gegenstand, worüber er aussagen soll, erfährt er je nach den Umständen allgemein bis haarklein aus der Ladung, oft stecken es ihm die Parteien besonders. So ist es bei den Zeugen, und kommen die Parteien selbst zur Aussage, so sind sie ohnehin durch Schriftsätze überall bestens im Bilde. Unter solchen Umständen liegt es in der Natur der Sache, daß der Aussagende beim Aussagegegenstand gedanklich verweilt, ganz abgesehen davon, daß der eine sich vorher Rat holt, nicht immer an der saubersten Stelle, der andere gar bereits vor seiner Vernehmung einen regelrechten Plan faßt. So hat man sich denn den Aussagenden, der lügend ein Interesse verfolgt, vorzustellen als einen Menschen, dessen Aufmerksamkeit angespannt ist, der hingelenkt wird auf die Gefahrenpunkte und dem sich deshalb insoweit leicht die Gedanken verknüpfen. Zudem, die böse Erfahrung gibt Lehrgeld. Viele Übung, Gewohnheit glättet die Bahnen: übung macht den Meister, sagt man. Nicht in stirnI. Tafel
Aussageweisen und Gefährlichkeitskalkül Verfänglichkeitsregel
"
Lügen unverfänglich
~----------~~~------------
( Gedankenaussage Gefühlsaussage
uneingeläßliche Aussage
Spezialfätze:
Hauptfälle:
Folgerungen, die sich für die Aussagebewertung im Wahrscheinlichkeitsdenken ergeben:
Klein-Aussage
sinkender Beweiswert
Groß-Aussage
steigender Beweiswert
Verneinung Nichtwissensaussage Schweigeform Nichterinnerungs- Ausweichen aussage Meinungsaussage Einfallsaussage
1
Tatsachenaussage
gegenständliche Aussage ~~
einläßliche Aussage
______~V ~_______J
Lügen verfänglich
Belege aus der Gerichtspraxis
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runzelnder Überlegung, sondern wie im Schlaf meist findet der geübte Lügner den Weg. Als Anspielung hierauf kann gelten, was Goethe im Reineke Fuchs sagt: "Man findet manchen kleinen Mann voll List und Weisheit, die manchem Großen fremd ist." Daß der Listige, daß der Lügner den Gefährlichkeitskalkül anstellt, darüber liegen zahlreiche Einzelbeobachtungen vor. Viele Belege enthält der Meineidskomplex, den Karl Peters untersuchte, und über den er in seiner Schrift, Zeugenlüge und Prozeßausgang (1939), Rechenschaft gab. Aus dem dort Verstreuten sei folgendes hervorgehoben: 1. Die Lügner tischten viele unwahre Gesprächsaussagen auf, 244 f. 2. Es werden Vorgänge erfunden, "bei denen es der Gegenseite an Zeugen zum Nachweise des Nichtstattfindens fehlt", z. B. es wird ohne jeden Anhalt im wirklichen Geschehen ein Verkehrsunfall erdichtet, ebenso abendliche Spaziergänge, wie sie im Scheidungsverfahren belasten sollen; in beiden Fällen werden die Vorgänge außerdem in zurückliegende Zeit gelegt, 243 f. 3. Der Lügner trägt eine "Fülle von schwer und mühsam nachprüfbaren Tatsachen" vor, 242. 4. "Auch die falsche Schilderung des Verkehrsunfalls ist in der Regel ungefährlich", 206. 5. "Die für die Ehescheidung erheblichen Vorgänge spielen sich häufig nur unter wenigen Personen ab, von denen die Partei am Ausgang interessiert ist und daher leicht auf Mißtrauen beim Gericht stößt", 207. 6. Schwer findet man die Wahrheit bei Auslandstaten, 229. 7. "Man wird beachten müssen, daß der Angriff auf die Rechtsprechung in der Regel mit möglichst geringen Mitteln vorgetragen wird. Niemand wird sich unnötig der mit einer falschen Aussage verbundenen Gefahr aussetzen", 238.
Die Brüchigkeit unverfänglicher Aussagen hat sich wiederholt in Fällen erwiesen, die zur Verurteilung Unschuldiger wegen Mordes führten. So wurden Busse und Ziegenmeyer 1854 in einem von Sello 92 ff. aufgezeichneten Fall wegen Raubmordes verurteilt aufgrund folgender Aussage des Hauptbelastungszeugen, des Nachtwächters Wild: Gleich an demselben Abend, als er von dem Mord erfahren, habe er sich gedacht, das haben Busse und Ziegenmeyer getan; bisher habe er aus Furcht geschwiegen, seit er aber Nachtwächter sei, könne er nicht länger an sich halten. (Tags darauf vervollständigte er seine Angaben.) Als er in der auf die Mordtat folgenden Nacht als Nachtwächter die Runde machte, habe er um 12 Uhr Mitternacht unter Ziegenmeyers Kammerfenster gehorcht, dabei habe er ganz deutlich Ziegenmeyer zu seiner Frau sagen hören, nachdem vorher über Geld gesprochen war: er habe das Mädchen totgemacht und Busse die Frau; die Frau habe noch mit den Beinen gestrampelt und einen erbärmlichen Tod gehabt. Eine Aussage von Unverfänglichkeit, es kommt das "gedacht", "gefürchtet", also Gedanken- und Gefühlsaussage, es kommt die Gesprächsaussage, was er erhorcht haben wollte, das Gespräch der Eheleute Zie-
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1. Kap.: Einteilung der Aussagen und Gefährlichkeitskalkül
genmeyer, es kommt das Moment des Heimlichen, Zeugenlosen, um Mitternacht will er es wahrgenommen haben, als die Straßen leergefegt. Der wahre Mörder wurde später gefaßt; Wild hatte alles erfunden, um in den Besitz einer Belohnung zu gelangen. Aus solchen Erfahrungen hat man indessen bis zum heutigen Tage nicht die Folgerungen gezogen, jedenfalls nicht in der Art, wie es nunmehr in den hier entwickelten Verfänglichkeitsregeln auf breiter Linie versucht wird.
2. Kapitel
Abgrenzung der Lüge von anderen Aussagemängeln Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen ZUR ABGRENZUNG DER LüGE VON ANDEREN AUSSAGEMÄNGELN. - Lüge ist geflissentliche Wahrheitsentstellung. Es lügt also, wer mit Absicht die Unwahrheit sagt. Die Absicht ist aber etwas, was im Bewußtsein erlebt wird. Die Bewußtseinsklarheit ist von Mensch zu Mensch und von Fall zu Fall verschieden. Elsenhans-Giese 320 sprechen davon, daß das, was als bewußt geworden bezeichnet werde, "meist mit sehr geringen Graden der Klarheit und Deutlichkeit, oft mit Blitzesschnelle und unter außerordentlicher Abkürzung der einzelnen Vorgänge im Seelenleben sich vollzieht". So erlebt denn der Lügner seine Lügenabsicht für gewöhnlich im Bewußtsein keineswegs hell wie einen klarblauen Wintertag, und es wäre verfehlt, Fälle von der Lüge auszunehmen, in denen die Lügenabsicht nur mit herabgerninderter Bewußtseinsklarheit erlebt wurde. Der Erzähler Gotthe1f1 berichtet von einem Jungen folgendes: "Der Schlingel glaubte nämlich durchaus fest an das, was er im Zorn selbst erlogen." Hier fehlte also die Lügenabsicht im Zeitpunkt der Aussage, der Junge war nach eigener vorhergegangener Lüge in Irrtum verfallen. Und es sind nicht nur Kinder und Frauen, die sich so selbst täuschen. Graßberger weist darauf hin, daß der Mensch, durch seinen Willen steuernd, "in der Lage ist, die Aufmerksamkeit von unerfreulichen Erlebnissen abzulenken". "So kommt es", fährt er fort, "zu Bekundungen in mehr-minder gewollter Unklarheit, bei denen über die unangenehme Situation hinweggeschwommen wird." Hierbei erinnert man sich an das, was uns die Psychiater über Amnesien ("begrenzte Gedächtnislücken") zu berichten wissen. Bleuler 76 sagt darüber: "Bei der Schizophrenie werden eigene und anderer Handlungen alltäglich ,vergessen', wenn die Erinnerung dem Patienten nicht gerade paßt." Man spricht von Verorängungsamnesie3 • Liegt in Fällen solcher Art, sagt 1 J. Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude (Volksausgabe E. Rentsch Verlag, S.94). 2 R. Graßberger, Die Psychologie des Strafverfahrens, 1. Aufl. 1950, S. 147. 3 Nach einem Zeitungsbericht erklärten ärztliche Sachverständige u. a. folgendes: Die Zeugenaussagen über das Verhalten des Angeklagten in der Brandnacht ließen zwar auf eine innere Erregung, aber nicht auf eine totale
22 2. Kap.: Abgrenzung von Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen uns der Betreffende die Unwahrheit, Lüge oder Irrtum vor, hat man sich gefragt. Es empfiehlt sich, die Fälle, eingerechnet den von Gotthelf erwähnten, diagnostisch weder den Lügen- noch den Irrtumsfällen zuzuzählen, indem in ihn~m weder rein der Lügensachverhalt noch der des Irrtums verkörpert ist. Es sind Zwitterfälle. An der einleitenden Stelle erscheint entweder eine Lüge, wie im Falle Gotthelf, oder es ist doch wie in den andren Fällen mitbeteiligt ein Tatbestand - wir meinen, das Verdrängen, das Ablenken - der, wenn nicht derselbe, so doch verwandt ist dem des Verheimlichens, des Unterdrückens der Wahrheit, wie er mit den wichtigen Ermöglichungsgründen gerade der Lüge zusammenhängt. Wenn Graßberger sagt, der Wille steuert die Aufmerksamkeit, so kann man schwerlich umhin, einen Willensentschluß vorauszusetzen und damit eine Antriebskraft in Gestalt von Trieben oder Triebfedern. Im Bereich der Triebe oder der Triebfedern liegen aber, wie später darzulegen, die entscheidenden Wurzeln der Lüge, wohingegen die irrtümlich falsche Aussage, um es kurz zu sagen, dadurch ermöglicht wird, daß der Mensch von Natur körperlich und geistig-seelisch nicht so ausgestattet ist, daß ihm die wahre Aussage, die nach jeder Richtung ungetrübte übermittlung wirklichen Geschehens, gelingt. Mit derartigen Ermöglichungsgründen hat aber offensichtlich das Verhalten des Aussagenden in den Zwitterfällen an der einleitenden Stelle nichts zu tun, sondern es wurzelt in den gleichen seelischen Bereichen wie die Lüge oder doch in verwandten (vgl. 11. Teil). Daher läßt sich für die Zwitterfälle vieles von dem verwerten, was wir hier über die Lüge zusammentragen. Wiewohl es die Zwitterfälle gibt, so ist damit über ihre Häufigkeit nichts gesagt. Sie dürften verhältnismäßig selten sein, sieht man von den klinischen Fällen ab, bei Schizophrenen, Hysterikern und dgl. Wenn bis dahin in Praxis und Theorie mancher dennoch das Außergewöhnliche für etwas Gewöhnliches hielt, so wird solch trügerische Annahme nicht zuletzt verdankt der Verstecktheit des Lügners, seiner Verstellungsgabe und seiner Sucht, sich jeden gelehrten Zweifel zunutze zu machen, um, kommt die Sache heraus, wenigstens als ein unschuldig Irrender dazustehen. Wohlgemerkt, geht es uns hier nur um die richtige psychologische Erkenntnis, so daß ein Seitenblick auf die Folgen unterbleibt, wie sie sich etwa ergeben mögen, urteilt der Strafrichter auf Anklage wegen Aussagedelikts, falscher Anschuldigung u. dergl., in Panik schließen. Bei echter Bewußtseinsstörung hätte auch eine Erinnerungslosigkeit eintreten müssen; sie habe jedoch beim Angeklagten nicht vorgelegen. Er habe nur Dinge aus seiner Erinnerung verbannt, die ihn belasteten. Dabei sei durchaus möglich, daß er im Verlauf der zweieinhalb .Jahre nach dem Tatgeschehen alles, was ihn belastete, so völlig aus seinem Gedächtnis verdrängt habe, daß er heute gar kein Geständnis mehr ablegen könnte, selbst wenn er wollte. Die Psychiatrie nenne diese Erscheinung Verdrängungsamnesie.
Zur Abgrenzung der Lüge von anderen Aussagemängeln
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welchen Fällen, wie man hört, nicht ganz vereinzelt in einer Art Notlösung der Schu1dige bloß wegen irrtümlich falscher Angabe bestraft wird, dort, wo er der Lüge verdächtig ist, aber der letzte Zweifel nicht schwinden will. Echte Lügen liegen vor in den Fällen "blinden Aussagens", ein Ausdruck Seeligs4 und von ihm verwandt für "die Fälle, in denen sich der Aussagende bewußt über die Wahrheit des Ausgesagten keine Rechenschaft gibt, also weder die Diskrepanz zwischen Aussageinhalt und Tatsächlichkeit kennt, noch an den Aussageinhalt ernstlich glaubt". Es redet beispielsweise ein Zeuge, über den Verlauf einer Schlägerei ver~ nommen, einfach ins Blaue hinein, nur von dem Wunsch geleitet, mit seiner Aussage der einen Partei zu helfen, die in die Schlägerei verwickelt war. Er hat die Absicht, die Unwahrheit zu sagen und das ist das Entsch-eidende, nicht ist Lüge gleichzusetzen der "bewußten Unwahrheit". Selbst dort, wo jemand in Lügenabsicht etwas Wahres aussagt, ist psychologisch der Lügensachverhalt verwirklicht 5 • Anders meint es Graßberger: "Lüge ist bewußte Unwahrheit. Wenn auch die Unwahrheit etwas Absolutes ist und es an der Wahrheit nichts zu deuteln und zu drehen gibt, so ergibt sich bei der absoluten Subjektivität der Lüge für sie leider keine so scharfe Trennungslinie. Da wir verschiedene Grade der Bewußtseinsklarheit kennen, ist zwangsläufig die Grenze zwischen Irrtum und Lüge fließend6 ." Hiernach könnte man annehmen, Lüge und Irrtum wohnten, als psychologische Sachverhalte betrachtet, gleichsam Wand an Wand, damit hätte man indessen fehlgegriffen. Etwas der Lügenabsicht Ähnliches gibt es beim Irrtum nicht, die psychologischen Ermöglichungsgründe beider Erscheinungen sind, wie bereits angedeutet, grundverschieden. Dies schließt freilich nicht aus, daß uns der Einblick in das Innere des Menschen oft verwehrt ist und wir mit unserem Wissen nicht über die Feststellung hinauskommen, das 4 Seelig im Handwörterbuch der Kriminologie, herausg. von Elster u. Lingemann II, 141 ff., 1936. 5 Die augustinische Ethik nimmt hier gleichfalls eine Lüge an siehe Hörmann, 50 ff. S So in seiner 1. Aufl. 1950, S. 147. Dafür heißt es in seiner 2. Aufl. 1968, S. 154: "Lüge ist bewußte Unwahrheit. Ihre Vorstufe ist bewußte Unklarheit. Sie deutet sich oft schon durch das in der Antwort eingeschobene Wort ,eigentlich' an, mit dem die Verbindlichkeit der Aussage abgeschwächt wird. Für die grundsätzliche Unaufrichtigkeit des Vernommenen ist die ständige Flucht in eine mehr-minder gewollte Unklarheit oft viel charakteristischer als das Vorbringen eindeutiger Unwahrheiten. Es ist daher kein Zufall, daß wir auf ein oberflächliches Daherreden an der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge häufig bei dem zum überschwang und zur Verdrängung gleich disponierten Hysteriker treffen. Aus eben denselben Gründen ist übertriebene Frömmigkeit nicht selten mit einem Schuß Falschheit vermengt." - Die reinliche Trennung der psychologischen Sachverhalte Lüge und irrtümlich falsche Aussage, wie wir sie für geboten halten, ist hier gleichfalls nicht vollzogen.
24 2. Kap.: Abgrenzung von Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen
Ausgesagte sei eine objektive Unwahrheit. So wird sich mitunter nicht erkennen lassen, ob eine Lügenabsicht bestand oder sich der Aussagende aus Subjektivität irrte, z. B. aus Voreingenommenheit oder aus unbewußt entstellender Absichtlichkeit (Tendenz). Feststellungsschwierigkeiten ergeben sich ferner bei den Aussagen von Hysterikern und phantastischen Pseudologen, weil aus ihrer krankhaften Neigung sowohl Lügen als auch Irrtümer hervorgehen. Ein Dichter1, über einen Mordprozeß berichtend, flocht über einen jugendlichen Zeugen eine längere Bemerkung ein, die darin gipfelt, er habe den Eindruck gehabt, daß der Zeuge "die Wahrheit nicht sieht, daß sie sich ihm nicht zu erkennen gibt, und daß er erfinden, d. h. lügen muß, wenn er zu sprechen gezwungen ist. Wie könnte er sonst sagen, daß er (zum Beispiel) bei einem vor einem halben Jahr verstorbenen Milchhändler Milch gekauft habe? Warum sagt er, daß sein Onkel die Gewohnheit habe, dreimal zu tuten, wenn sein Onkel diese Gewohnheit nicht hat, und wenn alle diese Einzelheiten bedeutungslos sind, und so weiter? Es sind Lügen, die nur Sinn haben, wenn er unfähig ist zu erkennen, was Wahrheit ist, unfähig einen normalen Gebrauch von ihr zu machen7 ". Ist der Zeuge, so wie der Berichter es schildert, am Ende nur ein Irrender? Nein, er hätte ins Blaue hineingelogen. War der Zeuge im übrigen "unfähig zu erkennen, was Wahrheit ist", gab sich ihm die Wahrheit nicht zu erkennen? Auch dies nicht. Freilich lügt der Geweckte anders, als ein Dummkopf. Obwohl hier der Zeuge an Dummheit seinen Teil haben mag, den Lügenentschluß zu fassen, daran hinderte sie ihn nicht, wie andrerseits ein dummer Mensch den entgegengesetzten Entschluß zu fassen vermag. Aber in der Durchführung des Entschlusses erwies sich hier, so wie der Dichter Aussage und Umstände wiedergibt, die Dummheit des Lügners oder denn seine allgemein primitive Art, sein jugendlicher Leichtsinn und sein Mangel an hinreichender Listigkeit. Es hätte nichts Ungewöhnliches, wenn sich ein triebhafter, gewohnheitsmäßiger Lügner in einen Schwall von Lügen hüllte und dabei, von Natur ein Bruder Leichtsinn, grobschlächtig und wahllos kurzbeinige Lügen daruntermischte. An anderer Stelle kennzeichnet der Beobachter den Zeugen dahin: "Tun und Verbergen ist seine Gewohnheit, mehr noch, sein Daseinsrecht. Daraus entsteht eine Fähigkeit zur Lüge, die den Atem benimmt. Er lügt auf eine regelrechte, stetige, endgültige Weise. Er lügt, wie der Körper Blutkörperchen erzeugt."Die Aussage besteht, mag sie sich auch im Rahmen eines bestimmten Beweisthemas halten, für gewöhnlich aus einer Mehrzahl von Angaben, es wird eine Schilderung gegeben. Unterstellt man, der Aussagende wollte den Vernehmenden anlügen, so fragt sich, wird deshalb seine gesamte Schilderung erlogen sein oder darin nicht auch Wahrheit mit 7
J ean Giono.
Meinungsaussage und gegenständliche Aussage
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Unwahrheit gemischt sein können. Tatsächlich liefert der Lügner laufend derartige gemischte Aussagen, wo das Unwahre oft hart neben dem Wahren steht. Teils verfährt er absichtlich so, aus unterschiedlichen Gründen, teils geschieht es unbeabsichtigt. Wie erklärt sich im letzteren Fall, daß jemand ungeachtet seines Lügenentschlusses stellenweise die Wahrheit sagt? Die Lügenabsicht steuert nicht in jeder Phase willentlich die Aussage, sie hat nicht die Kraft, sich über alle Teilakte hinweg, wie sie die einzelnen Angaben der Aussage darstellen, zu behaupten, sie fällt zeitweise aus, m. a. W. der Lügeneifer verhält sich intermittierend, seine Mächtigkeit schwankt im Aussageverlauf. Außerdem tritt in einer vielgliederigen Aussage mehr als in der einzelnen Angabe hervor, wie individuelles Wollen und Können des Aussagenden auseinanderfallen8 • So findet sich in einer Aussage neben dem Gelogenen subjektiv Wahres, womit zugleich gesagt ist, daß gleichfalls irrtümlich falsche Angaben darunter sein können. MEINUNGSAUSSAGE UND GEGENSTÄNDLICHE AUSSAGE. Die Vernehmung zielt in erster Linie darauf ab, vom Aussagenden zu erfahren, was und wie sich etwas begeben hat, wer beteiligt war, welches die Örtlichkeit, von welcher Art und Beschaffenheit die sachliche Umwelt usf., kurz, das Gegenständliche, nicht aber über alles dies seine Meinung zu hören, d. h. welcher Ansicht er darüber ist, wie er es wertend beurteilt. Die Ansicht, das Urteil behält sich der Richter selbst vor, dazu braucht er den Zeugen nicht. Er kennt die Tücken des Urteilens, er weiß, wie selten eigentliche Urteilsfähigkeit ist. Wiewohl er sich daher bemüht, vom Aussagenden eine Gegenstandsaussage und keine Meinungsaussage zu erhalten, er wird das Ziel nicht immer erreichen, aus unterschiedlichen Gründen; so gibt es nicht wenige, um deren Wahrnehmungsgedächtnis, dank dessen man sich der einzelnen Vorgänge anschaulich erinnert, es schlecht bestellt ist oder solche, die ein Erlebnis sofort urteilsmäßig verarbeiten und bei denen infolgedessen das Erlebte durch die Verarbeitung allzu rasch überdeckt wird9 • Den so veranlagten Zeugen fehlt nicht notwendig die Objektivität, sie mögen richtig beobachtet haben und nun richtig, d. h. objektiv, in ihrer Meinungssaussage urteilen. Aber nicht leicht ist es für den Richter, sich von ihrer Objektivität zu überzeugen und mancher Richter ist deshalb geneigt, solche Meinungsaussagen grundsätzlich als für die Tatsachenermittlung unbrauchbar zu verwerfen. Wo dem Richter noch andere Möglichkeiten zu Gebote stehen, um die Tatsachen zu erforschen, mag dies hingehen, in vielen Fällen jedoch reichen die sonstigen Beweismittel nicht aus; wie selten wird beim Beweise aus dem Vollen geschöpft, und 8 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang über die vielgliederige Handlung und ihre Mittelglieder Klages/GW H, 651 fi. 9 Vgl. Klages/GW H, 529.
26 2. Kap.: Abgrenzung von Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen da wird es bedenklich, die Meinungssaussage, mag sie gleich die gegenständliche Aussage nicht ersetzen, kurzerhand von sich zu weisen. Wie gesagt, das Bemühen des Untersuchungsführers, von jedem eine reine Gegenstandsaussage zu erhalten, ist aller Ehren wert, aber er sieht sich vor unüberschreitbaren Grenzen, denn schließlich wird die Aussageform von der Persönlichkeit des Vernommenen mitbestimmt; die Natur schenkte einmal nur einer Minderheit die Gabe, uns das Erlebte unvermischt mit Urteil, frei von eigener Ansicht, bloß beschreibend zu übermitteln. Gut getan wird, was mit Interesse getan wird: will man also eine gute, brauchbare Aussage von einem Zeugen erhalten, so hätte man sich zu fragen, wo für ihn ein Interesse liegen möchte, ausgiebig zu erzählen. Viele haben am reinen Erzählen weniger Freude als vielmehr gelüstet sie nach Meinung,säußerung, sie möchten ihr folgerndes Denken, ihr Kombinationsvermögen und dergleichen am Fall bewähren usf. Neigung trifft bei vielen mit Begabung zusammen. Weshalb sollte der Vernehmende die Neigungen, die Begabungen des Aussagenden nicht für seine Zwecke nutzen, statt ihnen zu wehren und sich damit um ein Beweismittel ärmer zu machen! Denn wie geht es sonst, nimmt man den Zeugen vernehmend fest an die Kandare, zwingt ihn, sich streng an das Gegenständliche zu halten, jedes Urteil zu unterdrücken? Da kommt der Befragte oft überhaupt nicht mehr vom Fleck oder wird gar aufsässig, gerät in störenden Affekt. Wo ein Zeuge, gelinde gezügelt, bei seiner urteilenden Aussageweise verbleibt, da mag man seine Aussa,ge nur getrost so hinnehmen, statt sich vor ihr, wie gelegentlich beobachtet, als angeblich unsachlich, die Ohren zuzuhalten. Es gibt Beweisthemen, durch die der Aussagende in besonderem Maße versucht wird, Meinungen zu äußern. Sei es, daß sie allgemein dazu reizen, wie etwa das Leumundsthema, sei es, daß der Aussagende am Aussagegegenstand persönlich oder sachlich interessiert ist. Zuweilen hilft dabei der Vernehmende durch hinlenkende Fragen nach, um sich für die Aussagewürdigung über das Interesse des Aussagenden klar zu werden. Die besondere Versuchung und die angeborene und sonstwie eingewachsene Aussageweise des Zeugen wird man berücksichtigen müssen, steht man vor der Frage, ob die Meinungsaussage berechnend, um ihrer Unverfänglichkeit wegen, von einem Lügner gewählt sein möchte oder nicht. Die Vokabeln der Meinungsaussage wechseln mit den Umständen des Falles: man halte dafür, man nehme an, man glaube usf. Auch in der negativen Form wird die Ansicht übermittelt. Im Falle Ziethen 10 beisprelsweise äußerte ein Belastungszeuge seine Ansicht dahin, er könne sich nicht denken, daß die Ermordete durch 2 Schläge so furchtbar 10
SeHo 141.
Gedanken- und Gefühlsaussagen
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verletzt sein könnte, er nehme daher an, daß Ziethen ihr noch einige Hiebe mehr versetzt habe. Sollte in diesem Beispiel nicht übrigens spürbar werden der Einfluß der Frageweise des Vernehmenden? Auch mit solchen Möglichkeiten ist zu rechnen. Die Wendung, daß sich der Aussagende dies und das nicht denken könne, macht, bildlich gesagt, eine Tür zu und entbehrt nicht eines lockenden Tones, wie ihn gewandte Lügner lieben. Wenn ein anderer Zeuge, mehr urteilend als sich gegenständlich auslassend, angibt: dem Ehemann seien die seiner Frau vom Hausfreund geschenkten Kleider nicht aufgefallen, so spitzt man gleichfalls die Ohren, weil die Folgerung bereits nach der Lebenserfahrung ein~germaßen gewagt erscheint. Die Grundbedeutung des Wortes "meinen" war übrigens nach Paul nicht, so wie es hier in "Meinungsaussage" verstanden ist, "einer Ansicht sein", sondern "den Sinn auf etwas gerichtet haben"; insbesondere benutzte man die Wendung, "um auszudrücken, was bei einem Ausspruch der Sprechende im Sinne gehabt habe". In solcher Weise wird das Wort vielfach von Aussagenden verwandt. Hat sich jemand beispielsweise wegen einer falschen Aussage zu verantworten und kann er die Äußerung dem Wortlaut nach nicht wohl abstreiten, so erklärt er, um sich dennoch aus der Sache zu ziehen, er habe das Gesagte "anders gemeint". Das flaue "ich meinte nur" hört man zahlreich vom bedrängten Lügner. Es sind dies nachträgliche Sinnverdrehungen, Sinnveränderungen und obschon vom Lügner gern benutzt, nur scheinbar Meinungslügen, man stellt sie am besten zu den anderen Gedankenlügen. GEDANKEN- UND GEFÜHLSAUSSAGEN - Das Feld der Gedanken- und Gefühlsaussagen ist begreiflich weit gespannt, es erstreckt sich über den ganzen Umkreis inneren Erlebens, wird aber wiederum dadurch einschneidend begrenzt, daß es sich nur um das innere Erleben dieses Aussagenden handelt. Man kann fraglos eine Begebenheit schildern, indem man über die äußeren Vorgänge berichtet und sich darüber, was derweil in einem selbst vorging, völlig oder doch in der Hauptsache ausschweigt. Dergestalt werden die meisten vor Gericht aussagen, einmal dank ihrer persönlichen Natur, zum andern, weil der beschreibende (äußere) Bericht von ihnen gefordert wird. Zuweilen nötigt freilich der Stoff der Aussage den Aussagenden, sich über eigene Gedanken und Gefühle auszusprechen oder der Vernehmende veranlaßt ihn dazu. Sieht man indes von solchen Fällen ab, so wäre es etwas Ungewohntes, falls ein Aussagender sich über seine Gedanken und Gefühle in der Aussage verbreitete, mehr davon in seinen Bericht einflösse, als es der Aussagegegenstand zu seiner Erhellung erfordert. Aber findet sich dergleichen in einer Aussage, läge der einzig denkbare Grund dafür in einem Gefährlichkeitskalkül des Aussagenden, wäre man
28 2. Kap.: Abgrenzung von Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen m. a. W. zu der Annahme berechtigt, der Aussagende habe die Gedanken- und Gefühlsaussage eingefügt, um sein Gegenüber auf gefahrlose Weise zu täuschen? Indem man die Frage verneint, mag es genügen, andere Möglichkeiten anzudeuten, die hier denkbar wären: eine Möglichkeit wäre die, daß der Aussagende zu den Personen gehörte, die mit einem besonderen Gedächtnis für ihre inneren Erlebnisse, ihre durchlebten Stimmungen begabt sind; ein anderer Fall, der Aussagende berichtete über seine Gedanken und Gefühle aus Geltungsdrang, dieser veranlaßte ihn, seine Persönlichkeit, sein eigenes Denken und Fühlen, wie es durch die Wahrnehmungen geweckt, hervorzuheben; oder es wäre an solchem Erfolg beteiligt seine Egozentrizität, sein Selbstbeobachtungshang oder Verwandtes. Die wahrheitsgemäße Aussage erkennt man nach Leonhard11 besonders an den "Symptomen des Erlebens", und unter diesen scheint ihm zumal gewichtig das "Symptom der Stimmungsschilderung". Es sei gegeben, sofern jemand über das Tatsächliche hinaus "auch aus freien Stücken hier und da über Empfindungen Auskunft gebe", die er während des Vorgangs gehabt habe. Wenn gleich nicht das gerade Gegenteil davon, so reibt sich dennoch diese Ansicht Leonhards mit unserer Verfänglichkeitslehre. Soweit eine Stimmungsschilderung die Zeichen der Echtheit trägt, pflichten wir Leonhard bei, indem damit der Gefährlichkeitsumstand für diesmal entkräftet wäre. Unsere Verfänglichkeitslehre, die sich dem Wahrscheinlichkeitsdenken verschrieben hat, hebt den Gefährlichkeitsumstand nur hervor, als eine möglicherweise bedeutsame Seite des Sachverhalts. Aber die Echtheit der Stimmungsschilderungen verdient sorgfältig geprüft zu werden, denn erfundene Stimmungsschilderungen sind nicht so selten, wie Leonhard es anzunehmen scheint, wenn er begründend anführt, "wer einen erdichteten Vorgang erzähle, werde sich normalerweise damit begnügen, das rein Tatsächliche zu bekunden" und fortfährt: "Auch Stimmungen zu schildern, darauf kommt er gar nicht." Einmal gibt es nicht wenige Menschen, die sog. Gefühlsmenscheni!, für die sich das Leben zum größten Teil in Gefühlen abspielt, und bei denen sich dies naturgemäß auch in der Wiedergabe des Erlebten spiegelt und daher nicht minder in ihre Erfindungen überall eindringt; aber nicht nur darauf beruht es, daß wir in Gerichtssälen so oft dem heuchlerischen Lügner begegnen, dessen besondere Waffe es gerade ist, in rührseligen, aber durchaus ebenso in anderen Stimmungen zu "machen", worauf wir im folgenden Kapitel zurückkommen. 11 Leonhardt, Weitgehende Verwertung psychologischer Symptome in einem Eheurteil, Judicium II, 344 ff. (1930), sowie in zahlreichen Aufsätzen (s. Undeutsch, HdbdPsych, 11. Bd.). 12 über sie Lersch, 542 ff.
Gedanken- und Gefühlsaussagel'l
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Der Aussagende, der seine Gefühle, sein Herz eröffnet, wie sollte er nicht leicht auf den Vernehmenden überzeugender mit seiner Darstellung wirken, als wenn er sich nüchtern an die äußeren Tatsachen hielte, sich persönlich verschließend. Die äußeren Tatsachen, rein erzählt, sprechen nicht allemal für sich selbst eine überzeugende Sprache, trägt sie nicht jemand vor, der seiner Persönlichkeit nach glaubwürdig erscheint. So erhält die Aussage ihr Gewicht nicht zuletzt durch die Persönlichkeit des Aussagenden. Leiten ihn anständige, sittliche Beweggründe, hat der Aussagende teil an billigenswerten Regungen, und zeigt er schon einmal eine Schwäche, ist sie doch liebenswert oder unschädlich, dann glaubt man ihm wohl. Wer uns sein Herz auskehrt, wie die Zeugin Wiese in ihrer Gefühlsaussage (1. Kap.), als Frau anziehend furchtsam, daneben gewissenhaft wägend vor uns hintritt, wie gewichtig macht er sein Wort! Selbst in mißlichen Lagen prunkt mancher Aussagende mit vielen edlen Motiven. So jene Angeklagte, die nach dem Selbstmord des mitangeklagten Mannes ihr Geständnis widerrief und beteuerte, sie habe früher den Geliebten nicht belasten wollen, damit er mit seiner Schuld nicht allein dastehe. Oder der zartbesaitete Häftling, der zunächst ein mit anderen Häftlingen geführtes Gespräch ableugnet, dann aber, es zugebend, sein früheres Bestreiten damit erklärt, er habe dem verantwortlichen Gefängnisbeamten durch Offenbarung keine Schwierigkeiten bereiten wollen. Oder der Hochnotpeinliche, der von sich sagt er habe sich zunächst als gewissenhafter Zeuge in seiner Aussage zurückgehalten. Freilich gibt es Menschen, die ihr Herz auf der Zunge tragen, indes so dick sind sie nicht gesät, und wer, wie in den Beispielsfällen, seine Menschenliebe hinausposaunt, das feine Ohr hört den teilweise gepreßten Ton, sollte der nicht dem Zweifel begegnen, im Beurteiler den Gedanken an eine Ausrede wachrufen? In der Tat redet sich so mancher Lügner aus mit Gefühls- und ebenso mit Gedankenaussagen oder der verwandten Befindensaussage. Was muß da alles herhalten: immer wieder das eigene Versehen, Versprechen, Verhören, Verschreiben Verrechnen, die Unachtsamkeit, die liebe Vergeßlichkeit, Zerstreutheit, Abgelenktheit Aufgeregtheit, Hirnschäden, Gedächtnislücken, Interesselosigkeit, angeblicher Scherz, Schabernack usf. - Allein die Einfallsausrede (s. 1. Kap.) lohnte eine besondere wissenschaftliche Untersuchungl3 • Um sich gefahrlos auf einen "Einfall" berufen zu können, der dem Aussagenden augenscheinlich spät widerfuhr, schützt man oft Fehler der angedeuteten Art vor: man hätte es beispielsweise bei früherer Vernehmung aufgeregt, zerstreut, wie man war, nicht vorgebracht, inzwischen sei einem das Vergessene auf dem Heimweg oder so eingefallen usw. - Wie weniges sonst wird 13
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Vgl. v. Hentig, Zur Psychologie der Ausrede, Beiheft zu MSchrKr 1926,
30 2. Kap.: Abgrenzung von Meinungs-, Gedanken- und Gefühlsaussagen die Furcht vom Lügner als Ausrede benutzt, was nicht so verwunderlich, ist doch der Lügner ein jemand, der auf der Flucht und dadurch oft in Furcht und Sorgen ist, freilich anders, als er es offenbart, und auch diesmal kommt es wie so manches wirklich Gedachte und Gefühlte verdreht bei ihm heraus. Weil ihm der Vernehmende in sein Gedankenrevier nicht folgen kann, wie der Lügner spürt, so erfindet er hier kecke Sachen. Nach Lust und Laune ruft er Gedanken und Gefühle herbei und verschmäht den romantischen Aufputz nicht. Da "schießt ihm ein Gedanke plötzlich durch den Kopf", oder er "durchzuckt" den Betreffenden gar "wie ein Blitz14