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German Pages [339] Year 2020
Wissenschaft und Lehrerbildung
Band 6
Herausgegeben von Peter Geiss und Roland Ißler
Peter Geiss / Konrad Vössing (Hg.)
Die Völkerwanderung Mythos – Forschung – Vermittlung
Mit 16 Abbildungen
V&R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Vereins Alte Geschichte in Europa / AGE e.V. Rechtlicher Hinweis: Die Herausgeber distanzieren sich von den Inhalten, die auf den in diesem Band zitierten Internetseiten eingestellt sind, und machen sich diese nicht zu eigen. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Rome Via Appia Antica« © Shutterstock / LianeM Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2511-5731 ISBN 978-3-7370-1154-9
Inhalt
Peter Geiss / Konrad Vössing Einleitung: Kalt und heiß – die Völkerwanderung zwischen Historisierung und Aktualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Roland Steinacher Wandernde Barbaren. Antike Geschichtsbilder und neuzeitliche Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Roland Steinacher Die Umgestaltung der römischen Welt zwischen Antike und Mittelalter. Perspektiven der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alexander Demandt Römer und Germanen – Feindliche Nachbarn? . . . . . . . . . . . . . . .
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Lennart Gilhaus Extremfälle der Gesellschaftsorganisation in den nachrömischen regna – Militär, Gewalt und Integration in den Reichen der Franken und Vandalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Konrad Vössing Völkerwanderung überall? Die spätantiken gentes und die Spezifika einer Umbruchszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Klaus Rosen Attila – Europas Unvergesslicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Uwe Baumann »Populäre Inszenierung des Grauens«: Attila und die Hunnen-Einfälle im modernen Geschichts-Comic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
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Inhalt
Thorsten Beigel Der Gesandtschaftsbericht des Priscus von Panium . . . . . . . . . . . . . 231 Carolin Hestler Von »Völkerzügen« zur »indogermanischen Landnahme«. Der Darstellungswandel der ›Völkerwanderung‹ auf historischen Geschichtskarten in Schulbüchern für die Mittelschule zwischen 1919 und 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Tobias Arand »Kampf um Lebensraum und Freiheit« – Die ›Völkerwanderung‹ und ihre Rolle in Moritz Edelmanns nationalsozialistischer Geschichtsschulbuchreihe ›Volkwerden der Deutschen‹ . . . . . . . . . . 273 Peter Geiss Goten und Hunnen der Moderne – Gegenwartsbezogene Thematisierungen der Völkerwanderung im geschichtsdidaktischen Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Peter Geiss Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier für den Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Autorenverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Peter Geiss / Konrad Vössing
Einleitung: Kalt und heiß – die Völkerwanderung zwischen Historisierung und Aktualisierung
Am 31. Oktober 2016 veranstaltete der Verein Alte Geschichte für Europa e.V. (AGE) im Universitätsclub Bonn einen Studientag mit dem Titel Die Völkerwanderung – Mythos und Wirklichkeit. Ein Großteil der Vorträge ist im vorliegenden Band dokumentiert.1 In der Öffentlichkeit hatte es zuvor teilweise hitzig geführte Diskussionen darüber gegeben, ob die Völkerwanderung der Spätantike als ein Menetekel für das gewertet werden darf, was Europa angesichts verstärkter Flucht- und Migrationsbewegungen bevorstehen könnte. Im Hintergrund dieser Debatten stand die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die in der deutschen Gesellschaft zu einer seit der Nachrüstungsdebatte in der Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre nicht mehr gekannten Polarisierung geführt hatte.2 Die Wahrnehmungsmuster reichten angesichts des Elends hunderttausender Bürgerkriegsopfer von Gefühlen tiefer humanitärer Verpflichtung bis hin zu starker Verunsicherung durch Bedrohungsszenarien. Öffentliche Debatten über Fragen der Migration und Integration schienen bisweilen einem simplifizierenden Freund-Feind-Schema zu folgen, das individuelle Positionierungen ohne sofortige Lagerzuordnung kaum noch zuzulassen schien. Der Hinweis auf diese angespannte Situation allein ist nicht ausreichend, um zu erklären, warum ein weit zurückliegender Geschehenszusammenhang wie die Völkerwanderung3 plötzlich wieder zu einem echten, für die Medien tauglichen 1 Dabei handelt es sich um die Beiträge von Alexander Demandt, Peter Geiss, Roland Steinacher und Konrad Vössing. Neu hinzugekommen sind die Aufsätze von Tobias Arand, Uwe Baumann, Thorsten Beigel, Lennart Gilhaus, Carolin Hestler und Klaus Rosen sowie ein weiterer Beitrag von Roland Steinacher zur Forschungsgeschichte. Das Gesamtbild wurde auf diese Weise um wichtige Facetten bereichert, wobei der Forschungsstand im Wesentlichen bis zum Jahr 2018 Berücksichtigung finden konnte. 2 Dazu im Gesamtbild erhellend, wenn auch in den Einzelwertungen nicht immer differenziert: Ackermann 2020. 3 Der Begriff wird hier ungeachtet seiner Defizite als im Deutschen etablierter und nicht unsinniger Epochenterminus verwendet. Seine Problematisierung wurde in der Forschung vielfach geleistet und muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Vgl. dazu die Beiträge von Roland Steinacher und Konrad Vössing im vorliegenden Band.
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Einleitung
›Aufreger‹ werden konnte. Eine weitere Voraussetzung war die Tatsache, dass diese Epoche im kollektiven Gedächtnis zwar auf der faktischen Ebene und im Einzelnen nicht sonderlich präsent, in der allgemeinen Wertung aber eindeutig ist: Nach üblicher Vorstellung führten die Auseinandersetzungen zwischen Römern und germanischen Eindringlingen im fünften nachchristlichen Jahrhundert das Ende des westlichen Imperium Romanum herbei. Dieses Imperium stellt in europäischen Deutungskontexten (und weit darüber hinaus) bis in die Gegenwart hinein das Urbild eines mächtigen, stabilen Reiches dar, dessen Sturz Chaos und Kulturverlust bedingte. Bemühungen der Geschichtswissenschaft um Differenzierungen haben an diesem Bild weniger verändert, als es professionellen Historikerinnen und Historikern lieb sein kann, so sehr sie auch darauf hinweisen mögen, dass es schon vorher schwere Krisen gegeben hatte, dass die Kausalität des Untergangs viele Dimensionen aufwies und dass antike Strukturen nicht nur zerstört, sondern auch transformiert wurden.4 Die emotionale Potenz dieser Epoche blieb trotz aller Differenzierungsbemühungen ungebrochen erhalten. Wer immer seinen Argumenten oder Stellungnahmen zum Thema ›Bedrohung der inneren Ordnung durch unkontrollierten Zustrom von außen‹ besonderes Gehör verschaffen will, rekurriert bis in jüngste Zeit deshalb gern auf die Völkerwanderung. Die Auseinandersetzungen um Alexander Demandts impliziten Vergleich der Aufnahme großer Teile der Goten in das Römische Reich 376 v. Chr. und der Flüchtlingszuwanderung von 2015 sind hier sicherlich das Beispiel, das die meiste Aufmerksamkeit gefunden hat.5 In der öffentlichen Aufregung, ja teilweise Empörung über diesen Vergleich liegt für die Alte Geschichte, aber auch die an der Vermittlung althistorischer Themen interessierte Geschichtsdidaktik Fluch und Segen zugleich. Natürlich ist es für die Geschichtswissenschaft an sich erfreulich, wenn sich eine breitere Öffentlichkeit plötzlich wieder Themen des Faches zuwendet, die lange Zeit als rein akademisch galten und in die Zone der gesellschaftlich irrelevanten »kalten Erinnerung« (Jan Assmann) abgesunken waren.6 Aber das plötzliche Aufwärmen, ja Erhitzen dieser Erinnerung hat auch seinen Preis. Wie von dem Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann festgehalten, wird Geschichte allzu gern als »Steinbruch« benutzt: Man holt sich, was man für einen bestimmten Argumentationszweck braucht, was passt.7 Was nicht passt, wird wie im Steinbruchbetrieb durch Behauen, Schleifen und Polieren passend gemacht. Hier liegt zweifellos eine Gefahr 4 Vgl. zuletzt die monumentale Darstellung von Meier 2019. 5 Diese Debatte wird im vorliegenden Band in den Beiträgen von Peter Geiss, Ronald Steinacher und Konrad Vössing thematisiert. Auslöser war folgender Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Demandt 2016. 6 Assmann 2007, S. 68–70. 7 Bergmann 2002, S. 138.
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für die Genauigkeit und Unvoreingenommenheit des Blicks in die Vergangenheit. Denn auch wenn die an sie gerichteten Fragen immer notwendig aus der Gegenwart kommen und normativ aufgeladen sind, auch wenn kein Historiker wirklich – um mit Ranke zu sprechen – »bloß zeigen« kann, »wie es eigentlich gewesen« ist, bleibt es doch Aufgabe und Pflicht der Geschichtswissenschaft, diese Vergangenheit immer so gut wie eben möglich aus ihren eigenen epochentypischen Zusammenhängen heraus zu erklären.8 Schon Ranke verstand hierunter ein ebenso notwendiges wie unerreichbares Ziel des Faches und war keineswegs so naiv, an die vollständige Rekonstruierbarkeit von Vergangenheit zu glauben.9 Um in der Metaphorik der Steine zu bleiben: Wer aus Geschichte lernen will, muss sich Findlingen zuwenden, mit ihren Ecken, Kanten und Rissen, nicht behauenen Quadern, die sich bequem in die Architektur der jeweils eigenen Weltanschauungsgebäude einfügen lassen.10 Erst dieser genaue Blick auf die Eigenheiten vergangene Phänomene und die ihnen zugrundeliegenden Ursachengefüge ermöglicht es, in gewinnbringender Weise nach Gegenwartsbezügen zu fragen. Diese Bezüge liegen nicht notwendigerweise in der Feststellung von Parallelen und Ähnlichkeiten, sondern auch in der Bewusstmachung von Unterschieden.11 Der Gegenwartsbezug wird dann nicht mehr durch Parallelisierungen oder gar Gleichsetzungen hergestellt; er ergibt sich vielmehr aus der Hervorhebung von wesentlichen Spezifika sowohl der spätantiken Bewegungen bewaffneter gentes als auch der großen Migrationsphänomene der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. Mit anderen Worten: der kontrastive Gegenwartsbezug leistet es, dass sowohl eine gegenwärtige als auch eine vergangene Konstellation einer präziseren Analyse unterzogen und idealerweise in ihren jeweiligen Eigenheiten besser verstanden werden.12 Ein so verstandener Gegenwartsbezug ist in seinem Erkenntnispotenzial der vergleichenden Geschichtswissenschaft verwandt, wie sie Marc Bloch in vorwiegend synchroner Perspektive beschrieben hat.13 8 Zitat nach Ranke 2011 [1824], S. 94. Mit Max Weber ist festzustellen, dass »schon die Auswahl des Stoffes Wertung enthält« (Weber 1988 [1917], S. 499); ähnlich Bergmann 2002, S. 148; zur Unabdingbarkeit des Tatsachenbezugs für die Geschichtswissenschaft: Patzig 1977, S. 322. 9 Vgl. seine skeptischen Äußerungen dazu: Ranke 2011 [1824], S. 95. 10 Aus diesem Grund war für Max Weber die Berücksichtigung gerade der ›unpassenden‹ bzw. in seiner Wortwahl »unbequeme[n] Tatsachen« ein grundlegendes Merkmal von Wissenschaft. Weber 1988 [1917], S. 493; dazu Geiss 2018b, S. 32. 11 Bergmann spricht von der gleichzeitigen Beachtung von »Kohärenz und Differenz«, die seiner Auffassung nach den fachlich angemessenen Gegenwartsbezug ausmacht. Bergmann 2002, S. 142f. 12 Vgl. zum Voranstehenden den Beitrag von Konrad Vössing im vorliegenden Band sowie mit weiterer Literatur Geiss 2019, S. 137. 13 Bloch 1928.
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Einleitung
Die Epoche der Antike ist für derartige Bezüge auch deshalb gut geeignet, weil wegen ihrer spezifischen Rezeptionsgeschichte das jedem historischen Vergleich innewohnende Wechselspiel von ›Bekanntheit‹ und ›Fremdheit‹ hier sehr deutlich gemacht werden kann.14 Die heutige Altertumswissenschaft stützt sich in vielen Fällen auf dieselben Quellen, die jahrhundertelang als Zeugnisse von Nähe, ja von fortwirkender vorbildhafter Normativität gelesen wurden, entdeckt dabei aber (auch) die Fremdheit der antiken Kultur. Diese ›Entfremdung‹ kann durchaus als Chance begriffen werden. Andererseits kann die Geschichte dadurch natürlich nicht ›zurückgedreht‹ werden: die seit Beginn der Neuzeit permanente Integration antiker Elemente in das europäische Selbstverständnis bleibt weiterhin wirksam, trotz der vielfältigen Brüche dieser Tradition. Unter den fremdartigen Kulturen nimmt die Antike somit wohl den uns am nächsten liegenden Platz ein: »Das nächste Fremde«.15 Was die Völkerwanderung angeht, kommt noch hinzu, dass auf diesem Feld die rezipierende Wahrnehmung in Europa von Anfang an zweigeteilt war, je nachdem ob man sich den neuen ›Völkern‹ oder dem wankenden Imperium Romanum nah fühlte.16 Der vorliegende Band will die Ereignis- und Strukturgeschichte der Völkerwanderung im Spannungsfeld zwischen Mythos, Forschung und Vermittlung in den Blick nehmen. Was bedeutet dies? – Der Begriff des Mythos lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass fast jede Zeit sich eigene Erzählungen zu dieser spätantiken Umbruchzeit geschaffen hat – und zwar zunächst einmal ganz unabhängig von Forschung im Sinne moderner Geschichtswissenschaft. Dies haben exemplarisch Mischa Meier und Steffen Patzold für die über Jahrhunderte vielfach als Stoff unterschiedlichster Erzählungen aufgegriffene Einnahme Roms im Jahr 410 n. Chr. verdeutlicht, wenn sie über die Analysekapitel ihres diachronen Buches schreiben: »Immer wieder wird Alarich gegen Rom anrennen. Immer wieder wird Rom fallen – aber der Sinn, den die Zeitgenossen, dann die Historiographen und schließlich professionelle Historiker dem Geschehen zuschreiben, wird sich von Mal zu Mal ändern (und bisweilen sogar das Ereignis selbst).«17 Ähnliches ließe sich über die Völkerwanderung insgesamt sagen: Immer wieder werden Menschen die Geschichte von Goten, Hunnen und anderen ›Barbaren‹ innerhalb und außerhalb des Römischen Reiches neu und anders erzählen – und dabei Mythen hervorbringen, die Jan Assmann zufolge faktisch nicht falsch sein müssen, aber eben dadurch gekennzeichnet sind, dass sie in ihrer jeweiligen Gegenwart bestimmte Funktionen übernehmen.18 Ist die Geschichtswissenschaft selbst Teilhaberin dieser Mythenproduktion? Auch wenn 14 15 16 17 18
Vgl. in didaktischer Perspektive Bernhardt 2013. Hölscher 1994, S. 278. Vgl. die Beiträge von Peter Geiss und Konrad Vössing im vorliegenden Band. Meier / Patzold 2013, S. 11. Vgl. Assmann 2007, S. 76; ferner Koschorke 2012, S. 16.
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sie Teil ihrer Zeit ist, muss sie bemüht sein, hier Distanz zu wahren – oder mehr noch, muss sie Verantwortung dafür übernehmen, dass die »Reflexion auf das Erzählen eine zutiefst lösende Kraft« (Albrecht Koschorke) entfalten kann, indem sie eine potenziell gefährliche Verfestigung oder gar Dogmatisierung von Erzählungen mit starkem Appellcharakter verhindert.19 Schon der Titel des vorliegenden Bandes setzt voraus, dass Forschung ungeachtet ihrer vielfältigen Beeinflussung durch gegenwärtige Erfahrungen der Welt der Mythen gegenübergestellt werden kann und muss.20 Man mag sich darüber streiten, welche Bedeutung und welches Gewicht ein Ereignis wie die Einnahme Roms 410 n. Chr. für die Zeitgenossen hatte, es ist aber dennoch möglich, in wissenschaftlich kontrollierter und nachvollziehbarer Weise die Quellen daraufhin zu befragen, was als damaliges Geschehen plausibel rekonstruiert werden kann, welche Gründe dieses Geschehen hatte und welche Folgen sich daraus ergeben haben. Geschichtswissenschaft und schulischer Geschichtsunterricht sind nicht mit dem Erzählen von Geschichte(n) gleichzusetzen, gehen jedenfalls nicht in einer narrativen Dimension auf, sondern können und müssen gerade die Produktion von Mythen unterschiedlicher Art und Ausrichtung analytischer Kontrolle aussetzen.21 Mythos und Forschung fallen – wenn letztere ihre Aufgabe richtig versteht – nicht in eins, sondern stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Was bedeutet dies für die Vermittlung von Geschichte, die im vorliegenden Band sowohl schulisch als auch außerschulisch in den Blick genommen werden soll? Gerade der Geschichtsunterricht ist aufgrund seiner gesellschaftlichen und politischen Erziehungsfunktionen ganz besonders einer Logik ausgesetzt, die Margret Macmillan mit »uses and abuses of history« bezeichnet hat.22 Staatlich organisiertes historisches Lernen wird in allen Gemeinwesen immer sehr stark an mythisch-funktionalen bzw. narrativ-sinnstiftenden Dimensionen von Geschichte orientiert sein. Solange der Deutungsrahmen ein freiheitlich-demokratischer bleibt, ist dies weder ein Defizit noch gibt es dazu eine Alternative, da die Schule ja nicht nur einen wissenschaftspropädeutischen, sondern auch – und 19 Ebd., S. 24 (Zitat) und S. 25. Nicht mitgetragen wird hier allerdings Koschorkes Bild eines »Stoffwechsels«, in dem es zu einem immer neuen »Auf- und Abbau« einer aus Narrationen errichteten Welt kommt (ebd.), weil dies den für die Geschichtswissenschaft unerlässlichen Bezug auf eine letztlich außerhalb des Erzählens liegenden Realität nicht deutlich genug betont. Vgl. hierzu die sehr erhellende Narrativismuskritik von Gerber 2012, insbes., S. 25. 20 Vgl. zu dieser Forderung nach skeptisch-kritischer Aufklärung durch Geschichtswissenschaft und historisches Lernen übereinstimmend, aber mit jeweils eigenen Akzentsetzungen Nipperdey 1972, S. 582 und Jeismann 2000, S. 81; ähnlich, aber die moralische Dimension kritischer wissenschaftlicher Methode stärker betonend: Audigier 2018, S. 32f. 21 Vgl. hierzu mit umfangreicher Literatur Geiss 2018b, u. a. im Rekurs auf die voranstehend in Anm. 19 und 20 zit. Autoren sowie Hasberg / Körber 2003, S. 185 (Primat des »De-Konstruierens« gegenüber dem »Konstruieren« im Geschichtsunterricht). 22 Macmillan 2010.
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Einleitung
mehr noch – einen ethisch-pädagogischen Auftrag zu erfüllen hat. Erreichbar und gewinnbringend wäre es aber, wenn neben dieser von Jörn Rüsen betonten Ebene der »Sinnbildung über Zeiterfahrung«23 die analytisch-kritische Dimension von Geschichtswissenschaft im Unterricht aufgewertet würde und stärker als Korrektiv neben die gegenwartsorientierte Sinnstiftung treten könnte, als dies bislang der Fall ist.24 Dazu gehören ganz einfache, aber gerade auch für das Zurechtfinden in der Meinungs- und Informationsflut der Gegenwart zentrale Fragen: Was ist der Unterschied zwischen einer Tatsache und einer Interpretation? Woran erkenne ich, dass ich einem Bericht oder einer Deutung eher trauen kann oder eher nicht? Welche Ziele verfolgen Menschen, die über bestimmte Tatsachen in der einen oder anderen Weise berichten? Was betonen sie, was lassen sie weg und warum tun sie dies? Aufgrund der im Vergleich zu späteren Epochen vielfach sehr spärlichen – oder positiv gewendet ›übersichtlichen‹ – Quellenlage bieten Themen der Alten Geschichte ganz besonders die Chance, solche grundlegenden Fragen im Unterricht zu behandeln und so kritische Kompetenzen einzuüben, die junge Bürgerinnen und Bürger der Demokratie gerade in Zeiten der Polarisierung und der schematischen Vereinfachungen dringend benötigen.25 Was bedeutet die Begegnung von Mythos und Forschung für die schulische Geschichtsvermittlung im Themenfeld der Völkerwanderung? – Ganz konkret bedeutet dies, dass Schülerinnen und Schülern tagespolitischen Aktualisierungen von Geschichte nicht einfach ausgeliefert sein sollen.26 Der Geschichtsunterricht kann ihnen vielmehr dabei helfen, Techniken zu entwickeln, durch die sich die Überzeugungskraft dieser Aktualisierungen kritisch hinterfragen lässt, sei es durch präzises logisches Nachdenken, das fragwürdige Prämissen, falsche Generalisierungen oder Widersprüche offenlegt, oder durch die kritische Überprüfung von Informationsgrundlagen. Dies geht über eine rein normativ-bewertende Stellungnahme weit hinaus. Es handelt sich in einem solchen Unterricht nicht mehr nur darum, ob eine Parallelisierung von Völkerwanderung und krisenbedingter Migration in der Gegenwart moralisch gut oder schlecht, politisch korrekt oder unkorrekt ist; in den Vordergrund rückt vielmehr die Frage, 23 Rüsen 1983, S. 51. Rüsen redet keiner arbiträren Sinnstiftung das Wort, sondern bedenkt die Notwendigkeit empirischer und normativer Kontrolle immer mit ebd. S. 82f. (und in späteren Schriften). Kritisch zur Überbetonung der Sinnstiftungsfunktion bei Rüsen und in Teilen der Rüsen-Rezeption: Geiss 2018b. 24 In diesem Sinne bereits Jeismann 2000, S. 81, dazu Geiss 2018b, S. 36. 25 Zur besonderen Betonung der kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Sinnstiftungsmustern vgl. die voranstehend in Anm. 20 und 21 zit. Literatur. 26 In diesem Sinne ist bereits Jeismanns klassisches Konzept von Geschichtsbewusstsein zu verstehen, das in der Verbindung von Analyse, Sachurteil und Werturteil wesentlich auf die die Explizierung und kritische Reflexion der normativen Bedingungen historischer Deutungen abzielt. Vgl. Jeismann 1980, insbes. S. 206f.
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ob und in welcher Hinsicht eine solche Parallelisierung bei gewissenhafter Betrachtung haltbar ist. Damit eröffnet Geschichtsunterricht einen Raum methodisch kontrollierten Argumentierens, das die Reflexe und Schemata einer polarisierten Debattenkultur leichter überwinden kann als ein Überangebot an moralischer Positionierung. Dieser Einübung des sachlichen, seriösen, respektvollen und zugleich kritisch abwägenden Argumentierens kommt für die Festigung freiheitlich-demokratischer Umgangs- und Diskursformen eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu.27 *** Die Aufsätze des vorliegenden Bandes behandeln die Dimensionen Mythos, Forschung und Vermittlung zumeist in stark verzahnender Weise, sodass eine thematische Untergliederung in drei Teile mit entsprechenden Überschriften nicht sinnvoll wäre. Die Ouvertüre bilden zwei Beiträge aus der Feder Roland Steinachers, die sich dem Phänomen ›Völkerwanderung‹ rezeptions- und forschungsgeschichtlich nähern und dabei das Konzept selbst weitgehend dekonstruieren, wie dies für den jüngeren Forschungstrend unter dem Signum »Transformation of the Roman World« charakteristisch ist. Hier wird ein weiter fachlicher Diskussionshorizont aufgespannt, der die Verortung der nachfolgenden Beiträge in den Diskussionskontexten der neueren Forschung erleichtern soll. Auf diesen forschungs- und rezeptionsgeschichtlichen Zugang folgt zunächst ein Wechsel auf die Ebene der antiken Phänomene selbst. Eine von Alexander Demandt verfasste Analyse der Beziehungen zwischen Römern und Germanen ermöglicht die Einordnung der Völkerwanderung in die längere, diachrone Perspektive einer Geschichte römisch-germanischer Beziehungen, die spätestens in der Zeit Caesars beginnt und sich keineswegs auf die Dimension des Konflikts oder gar der Gewalt reduzieren lässt. Dennoch spielte Gewalt, wie der dann anschließende Beitrag von Lennart Gilhaus zeigt, eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis germanischer gentes, die sich als kriegstüchtige und bewaffnete Verbände deutlich gegenüber den zunehmend entmilitarisierten Romanen unterschieden, sei es in römischen Diensten, auf eigene Rechnung oder als Elite eigener germanischer Staatsgebilde. Einen Übergang zu den vorwiegend auf Fragen der geschichtskulturellen Präsenz der Völkerwanderung in späterer Zeit bezogenen Beiträgen bildet der Aufsatz von Konrad Vössing, dessen Ziel es ist es, vor dem Hintergrund einer Reflexion über den Sinn historischer Vergleiche Spezifika sowohl spätantiker als auch gegenwärtiger Migrationsprozesse kontrastierend herauszuarbeiten. Besonderer 27 Vgl. in deutsch-französischer Vergleichsperspektive: Geiss 2018a, S. 167.
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Einleitung
Wert wird dabei auf die Rolle der spätantiken gentes gelegt, die der ›Völkerwanderung‹ ihren Namen gaben. Dass sich jede Zeit ihre jeweils eigenen Bilder von den Protagonisten dieser spätantik-frühmittelalterlichen Übergangszeit geschaffen hat, führt der Beitrag von Klaus Rosen vor Augen, der sich exemplarisch der Wirkung und Wirkungsgeschichte Attilas zuwendet. Mit Attila gerät eine Figur ins Blickfeld, die eine ganz eigene, die Phantasie der Nachwelt bis heute beflügelnde Faszination ausübt. Die geschichtskulturelle Präsenz dieser Figur im Comic beleuchtet Uwe Baumann und kann dabei u. a. zeigen, wie sich in Attila eine erstaunliche Präsenz der Topik des absolut Barbarischen mit Vorstellungen von ungezügelter Sexualität mischt. Da sich hierzu – anders als zu den Attila zugeschriebenen Grausamkeiten – in den antiken Quellen keine Nachrichten finden,28 bleibt festzuhalten, dass Attila gleichsam als idealtypische Verkörperung des Barbarischen in besonderer Weise Projektionen auf sich zog und zieht, die in der antiken Barbarentopik zwar angelegt zu sein scheinen, ihre eigentliche Wurzel aber in der Vorstellungswelt neuzeitlicher Betrachter haben.29 Attila fasziniert, und Comics bieten interessante Möglichkeiten, geschichtskulturelle Ausdrucksformen dieser Faszination im Unterricht analytisch in den Blick zu nehmen. Aber bieten Attila und die Hunnen auch Chancen für das interkulturelle Lernen? Dieser Frage geht Thorsten Beigel am Beispiel des Gesandtschaftsberichts des Priskos (oder lateinisch Priscus) nach. Der Rhetoriklehrer Priskos berichtet darin von einer diplomatischen Mission im Auftrag des oströmischen Kaisers, die ihn an den Hof Attilas, also gewissermaßen in die ›Höhle des Löwen‹ führt.30 Thorsten Beigel kann zeigen, dass der (ost-)römische Blick auf die Lebensweise der hunnischen ›Barbaren‹ in diesem Fall nicht – wie sonst oft in der antiken Literatur – ein herablassender ist, sondern ein abwägendvergleichender. Hierin liegt großes Reflexionspotenzial für einen Geschichtsunterricht, der sich analytisch mit kulturellen Selbst- und Fremdbildern befassen möchte. Einen nächsten Schritt bildet sodann die Auseinandersetzung mit Völkerwanderungsbildern und -narrationen, die schulischer Geschichtsunterricht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vermitteln suchte. So analysiert Carolin Hestler die Entwicklung der kartographischen Darstellung der Völkerwanderung in Schulbüchern der Weimarer Zeit und der nationalsozialistischen Diktatur. Der 28 Bezeichnenderweise hoben Attilas Kritiker bei den Umständen seines Tod unmittelbar nach der – in heutiger, menschenrechtlicher Perspektive wegen des jungen Alters der Braut und des polygamen Kontextes natürlich schockierenden – Eheschließung mit Idilko (vgl. den Beitrag von Klaus Rosen) nicht die Hochzeitsnacht hervor, sondern seine Trunkenheit: Jordanes, Getica 49,254 (ed. Mommsen 1872, S. 123). 29 Zur Barbarentopik: vgl. Losemann 1997. 30 Zu Priscus und dem Hintergrund der Gesandtschaft vgl. den Beitrag von Thorsten Beigel im vorliegenden Band.
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maximal ideologische Zugriff auf das Thema kennzeichnet nationalsozialistische Schulbücher, die im Beitrag von Tobias Arand am Beispiel der von Moritz Edelmann herausgegebenen Schulbuchreihe Volkwerdung der Deutschen beleuchtet werden. Wenn es eines Beispiels für die Gefahren bedarf, zu denen ideologisch motivierte und damit immer per se wissenschaftsferne Aktualisierungen historischer Stoffe führen können, so wird dies hier sichtbar, denn die rassistischbiologistische Ausdeutung der Völkerwanderung inszenierte sich in den 1930er Jahren natürlich auch als ›Gegenwartsbezug‹. Auch der Beitrag von Peter Geiss widmet sich dem Problemfeld der Aktualisierungen – nun jedoch zum einen mit dem zeitlichen Fokus auf dem Ersten Weltkrieg, als vornehmlich die Propaganda der Entente die Barbarentopik aufgriff und gegen das deutsche Kaiserreich richtete; zum anderen werden in diesem Beitrag Darstellungen der Völkerwanderung in neueren Schulbüchern analysiert, die dem nordrhein-westfälischen Lehrplan entsprechend die Vorstellung vom Fremden und Barbarischen »dekonstruieren«,31 dabei aber z. T. auch die Realität von Gewalterfahrungen zu stark relativieren, weil Westgoten, Hunnen und Vandalen aus pädagogischen Gründen nicht mehr als die ›Bösen‹ erscheinen dürfen, als die sie seit vielen Jahrhunderten und zuletzt besonders massiv in der Propaganda des Ersten Weltkrieges herhalten mussten. Auch die Korrektur von Geschichtsbildern bedarf, so angemessen die hinter ihr stehenden ethischen und pädagogischen Motive sein mögen, in fachlicher Perspektive der kritischen Beobachtung. Davon ausgehend bietet ein Quellendossier zur Einnahme Roms durch Alarichs Westgoten im Jahr 410 n. Chr. Vorschläge für eine schulische Behandlung des Themas, die Gewalt – in diesem Fall von den Stadtrömerinnen und Stadtrömern erlittene – nicht verdrängt, ohne einer dramatisierenden Barbarentopik verpflichtet zu sein.32
Dank Für Mitarbeit am vorliegenden Band haben wir neben den hier natürlich an erster Stelle zu nennenden Autorinnen und Autoren zahlreichen Mitwirkenden zu danken: Theresa Michels, Erik Pelzer, Merlin Schiffers und Janna Schulz haben sich am Korrekturlesen und an der formalen Vereinheitlichung der Aufsätze beteiligt, Janna Schulz und Theresa Michels haben überdies gemeinsam zu großen Teilen die Beschaffung der Bildrechte übernommen. Für die wie gewohnt professionelle und routinierte Unterstützung der Drucklegung danken wir dem 31 Vgl. zum Lehrplan die genaueren Angaben im Beitrag von Peter Geiss. 32 Inwieweit dieses Dossier ergänzt oder modifiziert werden sollte, bleibt natürlich weiterer fachwissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Kritik anheimgestellt.
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Einleitung
Verlag, namentlich Janin Schelper und Oliver Kätsch, für abschließendes Korrekturlesen Roland Ißler. Nicht zuletzt gilt unser herzlicher Dank dem Verein Alte Geschichte für Europa e.V., der das Erscheinen des vorliegenden Buches durch eine großzügige Finanzierung ermöglicht hat. Bonn, im Oktober 2020
Die Herausgeber
Literaturverzeichnis Ackermann, Ulrike, Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle, Darmstadt 2020. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift. Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007. Audigier, François, Esprit critique et enseignement de l’histoire: quelles pratiques pour quelles fins, in: Marc-André Éthier, David Lefrançois, François Audigier (Hg.), Pensée critique, enseignement de l’histoire et de la citoyenneté, Paris 2018, S. 30–52, zit. nach URL: https://fr.calameo.com/read/00001585616790c5ab3ed [29. 01. 2020]. Bergmann, Klaus, Geschichte als Steinbruch. Anmerkungen zum Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 138–150. Bernhardt, Markus, Das ferne und das nahe Rom – Das römische Kaiserreich zwischen Geschichte und Erinnerung, in: Ders. / Björn Onken (Hg.): Wege nach Rom. Das römische Kaiserreich zwischen Geschichte, Erinnerung und Unterricht, Schwalbach/ Ts. 2013, S. 13–34. Bloch, Marc, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Ders., L’ histoire, la guerre, la Résistance, hg. von Annette Becker, Paris 2006, S. 347–392. Demandt, Alexander, Das Ende der alten Ordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 01. 2016, S. 6, hier zit. nach URL: https://www.faz-biblionet.de [28. 08. 2017]. Geiss, Peter, Nützliche Nachfragen aus Frankreich. Urteilsbezogene Arbeitsaufträge für den Geschichtsunterricht im deutsch-französischen Dialog, in: Rainer Bendick / Ulrich Bongertmann / Marc Charbonnier / Franck Collard / Martin Stupperich / Hubert Tison (Hg. / Ed.), Deutschland und Frankreich – Geschichtsunterricht für Europa. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche im europäischen Kontext. France-Allemagne. L’enseignement de l’histoire pour l’Europe. Les rencontres franco-allemandes sur les manuels scolaires dans le contexte européen, Frankfurt am Main 2018 (Geschichte für heute in Wissenschaft und Unterricht), S. 154–170 [Geiss 2018a]. Geiss, Peter, Objektivität als Zumutung. Überlegungen zu einer postnarrativistischen Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 27–41 [Geiss 2018b]. Geiss, Peter, War da was? – Historische Bildung im Output-Zeitalter, in: Stephan Stomporowski / Anke Redecker / Rainer Kaenders (Hg.), Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff ?! FS Volker Ladenthin, Göttingen 2019 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 3), S. 133–149.
Kalt und heiß – die Völkerwanderung zwischen Historisierung und Aktualisierung
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Roland Steinacher
Wandernde Barbaren. Antike Geschichtsbilder und neuzeitliche Wissenschaft1
1
Der Untergang des Römerreichs und die Wanderungen der Völker in aktuellen Debatten
Das aufgeladene Bild einer das römische Reich hinwegfegenden Völkerwanderung, einer Invasion von fremden Barbaren, ist den meisten Menschen vertraut. So sehr die Forschung in den letzten Jahrzehnten auch differenziert haben mag, diese Erzählung ist unverrückbar. Antike Narrative bedrohlich anbrandender »Völkermassen« wurden und werden im Rahmen der populären Version einer »Völkerwanderung« erstaunlich unreflektiert übernommen und weitergeführt. Das haben nicht zuletzt mehrere jüngst erschienene Beiträge in namhaften deutschsprachigen Blättern gezeigt. So meinte Alexander Demandt, emeritierter Ordinarius für Alte Geschichte an der FU Berlin, zu Beginn des Jahres 2016, das Römerreich sei fremdenfreundlich gewesen, man habe Einwanderung akzeptiert, ja gefördert, und sei letztlich daran gescheitert. Fremde Barbaren sollen in Massen eingedrungen sein, die römische Hochkultur zerstört und einen tiefen Kulturbruch verursacht haben. Die bewaffneten, unzivilisierten Horden aus dem Norden übernahmen die Macht und das dunkle Mittelalter hob an. Das »kul-
1 Diesem Text liegen ein Aufsatz und zwei Vorträge zugrunde: Steinacher 2009; »Wandernde Barbaren. Antike Geschichtsbilder und neuzeitliche Wissenschaft« auf der Tagung »Völkerwanderung: Mythos und Wirklichkeit« an der Universität Bonn am 31. 10. 2016; »Umgestaltung und Integration oder Untergang und Eroberung? Sichtweisen und Probleme des Übergangs von der Antike zum Mittelalter« auf der Tagung »Archa¨ologie, Geschichte und Biowissenschaften Interdisziplina¨ re Perspektiven / Archéologie, histoire et sciences biologiques. Perspectives interdisciplinaires« am 19.–21. 11. 2015 am Institut fu¨ r Archa¨ologische Wissenschaften, Fru¨ hgeschichtliche Archa¨ologie und Archa¨ologie des Mittelalters in Freiburg i. B., Diese Textfassung konnte im Rahmen meiner Tätigkeit als Nachwuchsgruppenleiter in der DFG Kolleg-Forschergruppe »Migration und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter« an der Universität Tübingen erstellt werden. Mischa Meier, Steffen Patzold und Sebastian Schmidt-Hofner danke ich für ihre Gastfreundschaft, Jakob Ecker (Innsbruck) für Hinweise und Korrekturen.
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Roland Steinacher
turtragende Bürgertum« sei beseitigt worden. Ähnliches – so wird damit unverhohlen impliziert – drohe nun Deutschland und Europa.2 Einige Monate zuvor hatte Alexander Demandt der Welt ein Interview gegeben. In diesem zitierte Demandt den Philosophen Oswald Arnold Gottfried Spengler (1880–1836) folgendermaßen: »Schon Oswald Spengler hat 1931 erklärt, das große Problem der Zukunft werde nicht der Ost-West-, sondern der Nord-Süd-Konflikt sein. Er sprach von der ›farbigen Weltrevolution‹ oder auch von der ›farbigen Front‹. Spengler glaubte, man müsse mit der Bedrohung durch die armen Völker auch militärisch rechnen. Das war ein Irrtum. Heute sehen wir: Die Tatsache, dass die Flüchtlinge unbewaffnet kommen, macht das Ganze viel schwieriger.«3
1.1
Eine Renaissance des Werks von Oswald Spengler
Oswald Spengler hatte in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes (1918–1922) eine fortschrittsorientierte Geschichtsschreibung kritisiert und dagegen eine Zyklentheorie vorgeschlagen. Kulturen entstehen immer wieder von Neuem, haben eine Blütezeit und gehen dann nach einem Jahrtausend unter. Spenglers Weltsicht hatte autoritäre und antidemokratische Züge. Die europäische Kultur sei dem Untergang nahe, die kräftigen Völker des Südens und die Bolschewiken des Ostens würden ihr den Todesstoß bringen. Man lebe im Zeitalter der »Vernichtungskriege«. Seine Kulturmorphologie operierte mit biologistischen Metaphern, sah Kulturen als organische Gebilde, die eben leben und sterben, Geburt, Reife, Blüte und Verwesung zeigen.4 Spengler war bis in die 1950er Jahre äußerst populär. Er beeinflusste Arnold J. Toynbee, Egon Friedell und Gottfried Benn wie auch die anthropologische und ethnologische Forschung (Leo Frobenius aber auch den jungen Claude Lévi-Strauss). In den letzten Jahren wird Spengler wiederentdeckt.5 Theodor W. Adorno meinte deutlich ironisierend, »die Spenglersche Begriffswahl springe mit Kulturen um wie mit bunten Steinen. (…) Am Ende geht die Rechnung auf. Alles ist eingeordnet, und liquidiert.«6
2 Demandt 2016a; Ders. 2016b; vgl. nun Steinacher 2017a. 3 Demandt 2015. 4 »Morphologie« ist eine Prägung Goethes und wurde zunächst in Botanik und Biologie als wissenschaftlicher Begriff genutzt. 5 Spengler 1918, 1922; Fink / Rollinger 2018; Demandt / Farrenkopf 1994; zu den Quellen Spenglers vgl. Zumbini 1999, S. 151–170; Farrenkopf 2001. Vergleiche zwischen dem Ende der Römischen Republik und dem Europa unserer Tage zieht – Spengler anwendend und bestätigend – Engels 2014. Vgl. dazu Morley / Steinacher 2017. 6 Adorno 1950, S. 121.
Wandernde Barbaren. Antike Geschichtsbilder und neuzeitliche Wissenschaft
1.2
21
Zwei Monographien zum »Untergang des römischen Reichs« 2005
Schon vor einem Jahrzehnt konnte man in einer breiteren Öffentlichkeit Ansätze einer solchen Debatte wahrnehmen. Nach dem Erscheinen der beiden Monographien zum »Untergang des römischen Reichs« von Bryan Ward-Perkins und Peter Heather 2005, wurden diese viel diskutiert. Die beiden britischen Historiker erhoben Einwände gegen die Ideen von »Transformation« und »Integration« der barbarischen gentes und versuchten wieder einen schärferen kulturellen, ökonomischen und zivilisatorischen Bruch zwischen Spätantike und frühem Mittelalter zu postulieren. Rom soll, wenn eine etwas überspitzte Formulierung erlaubt ist, in der scheinbar neuen Sicht der beiden britischen Historiker doch untergegangen sein, ermordet und zerstört von kulturlosen Wilden aus dem Norden bzw. den Steppen Asiens.7 Die Hintergründe solcher Debatten lassen sich bis ins späte Mittelalter verfolgen und dienen seither in regelmäßigen Abständen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Texten als Ausgangsbasis. Das öffentliche Interesse ist dabei groß, bei gleichzeitig starker Diskrepanz zwischen der Kenntnis der Quellen und schnellen Urteilen, die auf komplexe historische Zusammenhänge mit bemerkenswerter Unachtsamkeit angewandt werden. Ich zitiere hier bewusst aus einer Internetrezension von Bryan Ward-Perkin’s Buch aus dem Jahre 2007, einer Rezension eines deutschen Wutbürgers wohl. Vorgeworfen wird dem weitgehend in den 1990er Jahren unter britischer, französischer, spanischer, deutscher, italienischer und österreichischer Beteiligung durchgeführten European Science Foundation Projekt Transformation of the Roman World und seinen Proponenten, »sie hätten es in den letzten Jahrzehnten zu einer Mode gemacht, den Untergang der römischen Zivilisation zu einem freundlichen ›Übergang‹ zu stilisieren und das enorme Zivilisationsgefälle zwischen Antike und Mittelalter kleinzureden.« Des Weiteren ist die Rede von einem neuen »Geschichtsbild« politisch korrekter Gutmenschen, nach dem die Germanen nicht etwa brutale Eroberer und Plünderer gewesen seien, die ins Römische Reich einbrachen, sondern friedlich »Eingewanderte« und später »Integrierte«. Verträge, mit denen die Römer die gewaltsame »Landnahme« bisweilen legalisierten (und die von den Germanen regelmäßig gebrochen wurden), seien nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel gewesen; und Rom habe sie auch keineswegs unter dem Druck militärischer Niederlagen geschlossen (um sich gegenüber den brandschatzenden Horden wenigstens Atempausen zu verschaffen), sondern im Zuge einer wohlüberlegten und vorausschauenden Integrationspolitik (die gleichsam nur versehentlich zum Ende des Reiches geführt habe). Der dramatische Verfall der Baukunst im frühen Mittelalter deute ledig7 Heather 2005, dt. 2009; Ward-Perkins 2005, dt. 2007. Vgl. die Rezensionen: Hartmann 2007a; Ders. 2007b; O’Donnell 2005.
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Roland Steinacher
lich auf veränderten architektonischen Geschmack hin, das Ende der Geldwirtschaft sei bloß eine gewisse Umstrukturierung gewesen, das antike Geistesleben, Kunst und Philosophie, sei nur christianisiert worden. Das sich einende Europa benötige so etwas wie einen historischen Mythos, und den liefere eher das nachrömische christliche Abendland (speziell das Frankenreich) als das Imperium Romanum, zu dem weite Teile des heutigen EU-Gebietes gar nicht gehörten, wohl aber Nordafrika und der Nahe Osten. Eine »postmoderne« Forschungsgemeinschaft interessiere sich mehr für religions- und kulturgeschichtliche Fragen als die »harte« Politik-, Wirtschafts- oder gar Militärgeschichte. Eine kulturrelativistische Political Correctness sei hier am Werk, die prinzipiell von der Gleichwertigkeit aller Kulturen ausgehe, das Wort »Zivilisation« auf keinen Fall im wertenden Sinne verwenden wolle – also wenn überhaupt, dann nur im Plural und auf keinen Fall als Gegensatz zur Barbarei.8 Bemerkenswert ist dabei, dass es positive und negative Aufladungen der germanischen Wanderer gab: in der jüngsten Vergangenheit dominiert offensichtlich die negative, wobei natürlich – ein Widerspruch – die Germanen als die eigenen Vorfahren gesehen werden.
1.3
Parallelen zwischen der Spätantike und unseren Tagen?
Hält dieser Befund, so vertraut er vielen Lesern erscheinen mag, den Erkenntnissen der neueren Forschung stand? Werden hier wirklich unumstrittene Fakten referiert? Ist es tatsächlich möglich, Parallelen zwischen der Spätantike und unseren Tagen zu ziehen? Heute denkt man bei der Integration von Fremden auf römischem Reichsboden meist ausschließlich an die Spätantike oder das frühe Mittelalter bzw. an die so genannte Völkerwanderungszeit vom 4. bis 6. Jahrhundert. Vier Dinge werden dabei jedoch leicht übersehen: Erstens waren alle Bewohner der von Rom im Laufe der Jahrhunderte gewonnenen Gebiete, die zu Provinzen wurden, aus der Sicht der Eroberer zunächst einmal auch Barbaren. Es gab innerhalb der römischen Grenzen immer Bevölkerungsgruppen, die wie Menschen in Barbarenländern lebten; viele von ihnen dienten bereits seit der Zeitenwende im römischen Heer. Zweitens wissen wir alleine aus der textlichen Überlieferung von mindestens vierzig organisierten Ansiedlungen barbarischer Gruppen zwischen der Regierungszeit des Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.) und jener des Theodosius (bis 395). Neben »äußeren« gab es also auch »innere« Barbaren im Römerreich. Drittens handelte es sich zu keiner Zeit um eine Masseneinwanderung. Bewegt haben sich bewaffnete Kriegerverbände, manche 8 […] 2007 (»Gelesen: Bryan Ward-Perkins, Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation«, Verfasser nur mit dem Vornamen »Manfred« genannt).
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in der Größe kampfstarker Armeen, und fast alle waren von den Römern selbst aktiv ins Land geholt worden. Viertens schließlich wurden und werden antike Erzählelemente von bedrohlich anbrandenden Völkermassen im Rahmen der populären Version der »Völkerwanderung« erstaunlich unreflektiert übernommen und weitergeführt.
2
Was oder wer sind Barbaren? Antike Bilder und Stereotypen
Gemäß der griechisch-römischen ethnographischen und geographischen Tradition gab es verschiedene Typen von Barbaren und Fremden. Im Norden, so hieß es, lebten die zwar mutigen, aber wilden Kelten und (seit Caesar) Germanen. Diese Völker hatten keine Städte, waren jedoch sesshaft und betrieben Landwirtschaft. Aus dem kalten Norden kamen in der Vorstellung der klassischen Ethnographie unüberschaubar viele Völker, denn die Kälte, so glaubte man zu wissen, sei gesund und fördere die Fortpflanzung.9 Im Süden kannten Griechen und Römer Afrikaner und Äthiopier. Im Nordosten wanderten, so schon bei Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr., die nomadisierenden Skythen durch die Steppen. Sie waren gefürchtete Reiter und Bogenschützen. Im Osten standen die Perser als große Feinde Roms. Diese sind in den erhaltenen Quellen gerne als grausam und despotisch gezeichnet, jedoch kam ihrem mächtigen, zivilisierten Reich in den Augen der Römer eine Sonderrolle zu. Schließlich gab es noch »wilde« und »ausschweifende« Araber in den Wüsten jenseits der Ostgrenze. Hinzu kam eine Art Klimalehre, die bereits Herodot bekannt gewesen war.10 Der Militärschriftsteller Publius Flavius Vegetius Renatus schrieb im ausgehenden 4. Jahrhundert in seiner Epitoma rei militaris ein Kapitel über die Rekrutierung von Soldaten. Vor dem Hintergrund einer zu seiner Lebenszeit schon mehr als ein Jahrtausend alten ethnographischen Literatur empfahl Vegetius die Rekrutierung von Menschen aus dem Norden. Diese Nordvölker, so die Epitome, seien zwar nicht allzu klug, jedoch verfügen sie über einen Überschuss an Blut und seien daher ausgesprochen mutig und für den Kampf geeignet. Denn wer genug Blut besitze, der habe auch weniger Angst, dieses zu vergießen.11 Im römischen historischen Bewusstsein und dementsprechend in der Literatur wurden bestimmte Barbaren aus dem Norden als besonders bedrohlich gezeichnet: die Cimbri, Kimbern. Im späten zweiten vorchristlichen Jahrhundert hatten diese – und darauf wurde stets Bezug genommen – den römischen Truppen mehrere empfindliche Niederlagen beigebracht, bis sie 102 v. Chr. von 9 Woolf 2011, S. 44–51; Hartog 1980. 10 Woolf 2011, S. 44–51; Halsall 2007, S. 45–57; Ders. 2005. 11 Vegetius 1, 2. Vgl. Steinacher 2010, S. 164–165.
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Roland Steinacher
Marius in der Schlacht von Aquae Sextiae (Aix-en-Provence) vernichtend geschlagen wurden. Poseidonios von Apamea am Orontes in Syrien (etwa 135–51 v. Chr.) sah die Kimbern als besonders wilden Keltenstamm. Im Zusammenhang mit der Schilderung des Kimbernkrieges erwähnte Poseidonios ›Germanen‹, die zum Frühstück gliedweise gebratene Fleischstücke essen und dazu Milch und ungemischten Wein trinken. In »prototypischer Weise repräsentierten die Kimbern die Bedrohung der römischen Kulturwelt durch die Barbaren vom Nordrand der Oikumene.«12 Diese Wilden seien – so die Bilder der antiken Schriftsteller – jederzeit kampfbereit und wütend, ja todesverachtend, nach Raub und Brandschatzung aus, sie opfern ihren Göttern auch Menschen und greifen immer in großen Massen an. Außerdem seien die Kimbern Nomaden. Nomaden wiederum genossen den Ruf, besonders abgehärtet zu sein. Sie standen weit weniger in Gefahr, als Stadtbewohner oder Sesshafte zu verweichlichen, waren tapferer und kriegstüchtiger. Der lateinische Germanenbegriff ist eine Bildung Caesars mit einem gewissen Bezug zu Poseidonios. Caesar griff auf die Bezeichnung und den Topos zurück, nur machte er gleich eine ethnographische Großkategorie daraus. Der Feldherr versuchte nämlich, seine Eroberungspolitik damit zu rechtfertigen, dass die Barbaren östlich des Rheins viel kriegerischer und wilder seien als jene im eroberten Gallien, deshalb sei der Rhein eine natürliche und klare Grenze. Auf diesem römischen Germanenbegriff – und der Spannung zwischen Schauder und Bewunderung für die kriegstüchtigen aber grausamen Barbaren – baute dann später etwa Tacitus auf, der mit den Kimbernkriegen eine römisch-germanische Erbfeindschaft beginnen lassen konnte.13 Caesars Germanenbegriff hatte Folgen. Eine war, dass es Jahrzehnte nach ihm, in augusteischer Zeit, Teil der staatlichen Propaganda war, eine Gesandtschaft der Cimbri zu erfinden, die an den Hof des göttlichen Augustus gekommen sei und um Verzeihung für die von ihren Vorfahren vor Jahrhunderten verübten Gräueltaten gebeten habe. Dadurch wurde dem Regime des neuen Princeps indirekt die Fähigkeit zugesprochen, sogar vergangene römische Niederlagen gleichsam aufheben zu können. Hintergrund dieser Topoi von den wilden Nordbarbaren, die eben auch auf die Germanen übertragen wurden, ist unter anderem eine aristotelische Vorstellung. Das Grundmodell entspricht dabei ganz jenem aus Vegetius: Die Völker des Südens seien gewandter, die des Nordens wegen ihres
12 Grünewald 2000, S. 499; Steinacher 2011, S. 195. 13 Vgl. Tacitus, Germania 37,2; Grünewald 2000, S. 499; Beck / Capelle / Kroeschell / Maier / Müller / Roth / Seebold / Steuer / Timpe 1998, S. 189–191, Literatur: S. 243–245; Timpe 1994, S. 28.
Wandernde Barbaren. Antike Geschichtsbilder und neuzeitliche Wissenschaft
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Überschusses an Blut wilder und besser im Kampf.14 »Caesar hatte also […] mit Schwert und Feder einen Germanien- und Germanenbegriff geschaffen, der in den folgenden Jahrhunderten nie ganz in Vergessenheit geriet.«15 Hier sei festgehalten, dass der Germanenbegriff seit dem 3. Jahrhundert nur noch selten in den Quellen erschien und eben erst wieder in der frühen Neuzeit die Bedeutung einer ethnischen Großgruppe erlangte, die unsere Zeit ihm zumisst. Sprachen antike Autoren nach dem 3. Jahrhundert von Germanen, meinten sie meist Franken oder Alemannen am Rhein. Man zeigte seine Kenntnis Caesars, wusste mit dem Begriff aber nichts weiter anzufangen.16
3
Alte und neue Bilder zu Wanderungen und Barbaren
Als der Philosoph und Politiker Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) von Kaiser Claudius nach Korsika verbannt worden war, schrieb er seiner Mutter einen Brief, den er später bearbeitete und publizierte. Der Wandel im eigenen Leben und in jenem der Völker beschäftigte ihn. Wanderungen und Migrationen – so Seneca – bedingten zu allen Zeiten die Entstehung von Staaten und Völkern. »Du wirst sehen, dass ganze Stämme und Völker ihren Wohnsitz verlassen haben« – und es daher in der Vergangenheit zahlreiche Völkerwanderungen gab und auch in Zukunft geben wird. Weitere Belege aus der Geschichte folgen.17 Seneca geht auf die Kimbern und Teutonen und ihren Zug durch Gallien und nach Spanien ein. Er bietet einen regelrechten Katalog von Gründen für das Verlassen der Heimat, der frappant an die in der rezenten Literatur aufgelisteten erinnert. Genannt werden Bevölkerungswachstum und daraus resultierender Nahrungsmangel, Naturkatastrophen, Krankheiten und Erschöpfung des Bodens, der ja im Barbarenland nie üppig war. Aber auch die wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen dem mitteleuropäischen Barbaricum und der Mittelmeerwelt nennt Seneca als Motiv für die Menschen aus dem Norden, in das römische Reich zu kommen. Gentes, fremde Völker, sind niemals stabil und gleichbleibend, sondern unterliegen einem ständigen Wandel. Völkernamen ändern sich ständig, Wanderungen führen zu einer großen Dynamik. Der Verbannungsort Korsika wird schließlich als Beispiel genannt. Auf der Insel seien nach einer ungreifbaren Vorzeit hintereinander Griechen, Lugurier, Spanier und zuletzt 14 Vgl. Steinacher 2010, S. 164–165; Demandt 2007, S. 313; Dobesch 1995, S. 59–71; Timpe 1994, S. 23–60. Die Gesandtschaft der Kimbern an den Hof des Augustus: Res Gestae Divi Augusti 26; vgl. Wolfram 2018, S. 28–29. 15 Jarnut 2004, S. 108. 16 Pohl 2004a; Ders. 2004b. 17 Seneca, Trostschrift an Helvia 7,10, Übersetzung: Rosen 2009, S. 22; »videbis gentes populosque universos mutasse sedem.«
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Römer erschienen. Man finde »kaum ein Land, das die Ureinwohner, indigenae, auch jetzt noch besiedeln. Alles ist durcheinandergewürfelt und aufgepfropft.«18 Diese alten Vorstellungen erschienen bereits Seneca selbstverständlich und unhinterfragbar, und in der Antike sah man es genauso. In Historiographie und Ethnographie war die Frage nach einer Urbevölkerung und einer Einwanderung bzw. einer gemischten Bevölkerung ein häufig diskutierter Punkt. Tacitus zeichnete die Bewohner Germaniens dagegen als unvermischt und mit den Ureinwohnern identisch. Seit Caesar und Poseidonios hatte man den Bewohnern der Gebiete rechts des Rheins besondere Eigenschaften zugeschrieben, und lange nahm die Forschung diese Barbarentopik für bare Münze, ohne die Einbettung in die antiken Vorstellungen genügend zu bedenken. Tacitus schrieb: »Ich selbst schließe mich der Meinung derjenigen an, die glauben, Germaniens Völkerschaften, Germaniae populi, seien nicht durch Heiraten mit anderen Völkern, nationes, zum Schlechten hin beeinflusst und seien deshalb ein eigener, reiner und nur sich selbst ähnlicher Menschenschlag, gens, geworden.«19
Das zeige sich dann an der körperlichen Erscheinung und der Zähigkeit der Bewohner. Es handelt sich um ein seit Herodot bekanntes Motiv. Alte und besonders natürliche Völker sind etwa Skythen und Ägypter. Die Barbaren im Norden sind aggressiv und kampfeslustig, kaum aufzuhalten, wenn sie wütend werden. Und auch wenn Tacitus im speziellen Fall der Germania mit ihrer Motivation, den Römern einen Spiegel vorzuhalten, auch positive Worte finden mag, Hintergrund dieser Klassifizierung ist ein Bild fremder und wilder Menschen, die eben nach anderen Regeln leben, als man es in der Kulturwelt gewohnt ist. Am Beginn des zweiten Kapitels ist Tacitus dahingehend klar: Die Germanen seien deshalb Ureinwohner, indigenae, weil Wanderung und Wechsel des Wohnsitzes in der Vorzeit durch den Schiffsverkehr auf dem Mittelmeer möglich waren. Da das auf der anderen Seite liegende Weltenmeer, der Oceanus, aber selten angefahren wurde, kam es kaum zu Einwanderungen nach Germanien aus den für Tacitus zivilisierten Gebieten, ab orbe nostro.20 In den Barbarenländern des Nordens gebe es eine Überbevölkerung. Im kalten Norden sei das Klima für den Menschen besonders gesund und die Geburtenrate daher ungewöhnlich hoch. Somit sollen aus dem Norden unzählige Menschen kommen. Die barbarischen Horden wurden bedrohlich gezeichnet – die ver-
18 Seneca, Trostschrift an Helvia 7,10, Übersetzung: Rosen 2009, S. 26; »Vix denique invenies ullam terram quam etiam nunc indigenae colant; permixta omnia et insiticia sunt.« 19 Tacitus, Germania, 4,1, Übersetzung von Alfons Städele. 20 Tacitus, Germania, 2,1: »Ipsos Germanos indigenas crediderim minimemque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos, quia nec terra olim, sed classibus advehebantur, qui mutare sedes quaerebant, et immensus ultra, utque sic dixerim, adversus Oceanus raris ab orbe nostro navibus aditur.« Vgl. Lund 1990; Rosen 2009, S. 26–27.
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wendeten Metaphern entsprechend eindringlich: Wellen, Fluten oder Lava. Ammianus Marcellinus schrieb im 4. Jahrhundert von innumerae gentium multitudines, unzähligen Volksscharen, die die römischen Provinzen überfluteten als die Goten im Jahr 376 in Thrakien eintrafen und es der römischen Militärverwaltung nicht gelang, diese Menschen zu ernähren und zu kontrollieren. Ammianus selbst nennt seine Inspirationsquelle: Herodot, den Vater der Geschichtsschreibung. Dieser griechische Autor hatte von den Persern und ihrem großen Heer berichtet, die im fünften vorchristlichen Jahrhundert Griechenland angegriffen hatten.21 Die Probleme mit den Goten auf dem Balkan ordnete Ammianus in sein literarisches Wissen ein und meinte selbst, die Welt außerhalb der Reichsgrenzen sei von unzählbaren Menschenmassen bevölkert, die alle nur darauf warteten, die Römer anzugreifen. In diesen Jahren berichtete auch Synesius von Cyrene seinem Kaiser Arcadius (regierte 395–408), es gebe gar keine neuen Barbarenvölker nördlich des Schwarzen Meeres. Die Fremden würden nur ständig neue Namen erfinden, um die Römer zu narren. Die Autoren nannten weit übertriebene Zahlen, um den Topos des übervölkerten Barbarenlands zu untermauern.22
4
Wie fremd waren die Fremden, die über die Reichsgrenzen kamen?
Rom beeinflusste spätestens seit den Eroberungen Caesars im 1. Jahrhundert v. Chr. die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen noch hunderte von Kilometern jenseits seiner Grenzen. Das Imperium Romanum übte eine enorme Anziehungskraft auf einfacher gegliederte Gesellschaften aus. Ägypten und Nordafrika, Sizilien und Sardinien, lieferten reichlich Getreide, sodass im Reich kein Mangel an Nahrung herrschte. Sich von Rom anwerben zu lassen, sicherte verbündeten Kriegerverbänden die Versorgung der eigenen Leute. Abkommen mit fremden Anführern wurden geschlossen, Soldaten angeworben und Verbände auch gegeneinander gehetzt. Mancher Grenzoffizier betätigte sich als Sklavenhändler. Prestigegüter aus römischer Produktion waren für die barbarischen Eliten wichtig, mochten etliche auch von Raubzügen stammen. In den Gebieten nördlich und östlich der Reichsgrenzen entstanden Kriegereliten, die 21 Ammianus Marcellinus 31,4,7–8. Vgl. Rohrbacher 2002, S. 14–35. Herodot 7, 59–60, S. 678 schildert die Zählung des persischen Heeres. 10.000 Mann seien in einen Kreis geordert worden, um den dann eine Mauer errichtet wurde. Mit diesem Maß wurde nun das ganze Heer gezählt, und es seien 1.700.000 Mann gewesen, die Xerxes befehligen konnte. Es folgt 7,61–80 eine Liste der Kontingente, geordnet nach Völkern aus allen Erdteilen. 22 Synesius von Cyrene 16; Orosius 7, 32,1; vgl. Wolfram 2009, S. 23 und Ammianus Marcellinus 77; Göckenjan 1995, S. 1999.
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sich gern auch in den Dienst des Imperiums stellten, um andere Barbaren von dessen Grenzen fernzuhalten. Schnell wuchsen in diesen Gesellschaften soziale Unterschiede und innere Konflikte, alte Strukturen zerbrachen, neue Gruppen formierten sich. Grenzregionen waren auch Orte der Akkulturation, die nötig war, um im Imperium eine Rolle spielen zu können. Ein intensiver Austausch der antiken mittelmeerischen Hochkulturen, vermittelt durch Rom, mit ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften im so genannten Barbaricum fand statt. Durch Föderatenverträge, die Anwerbung von Soldaten und den Handel mit Gewerbe- und Luxusgütern versuchte man von römischer Seite auf friedlichem Weg eine Form von Hegemonie zu erreichen, die militärisch mit den augusteischen Offensiven nicht herzustellen gewesen war. Das Imperium stellte einen stabilen wirtschaftlichen und politischen Raum dar, dessen Außenwirkung lange stark genug war, um das seit Cäsar und Tacitus als Germania bezeichnete mitteleuropäische Barbaricum einzubeziehen. Ein solches System hatte sich jahrhundertelang mehr oder weniger bewährt. Die Folgen waren weitreichend für die europäische Geschichte. Die zunehmenden Möglichkeiten, in römischem Dienst oder im Kampf gegen die Römer Prestige zu gewinnen, führten zu einem starken Sog auf barbarische Gesellschaften. Wie die Grabfunde nahelegen, war der Erwerb von Prestigegütern aus römischer Produktion oder nach römischem Vorbild für die barbarischen Eliten erstrebenswert. Um diese Zusammenhänge zu untersuchen, darf man nicht nur die barbarische und die römische Gesellschaft für sich betrachten, sondern muss sie auch als gemeinsames System analysieren, letztlich ein Modell von Zentrum und Peripherie anwenden.23
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Barbaren innerhalb der römischen Reichsgrenzen
Und innerhalb der Grenzen? Die unterworfenen Völker erhielten zunächst eigene Verwaltungsbezirke um einen Vorort (civitas). In diesen Städten arbeitete eine eigene, weitgehend autonome Gemeindeverwaltung, die unter anderem für die niedere Gerichtsbarkeit und lokale Baumaßnahmen zuständig war. Das Umland gehörte verwaltungstechnisch und rechtlich zur Stadt – ganz nach griechischem Vorbild. So war das Römerreich ein riesiges Netzwerk von civitates geworden. Die meisten Menschen lebten jedoch weiterhin auf dem Land, das sie zu bestellen hatten. Die meisten Einwohner des Reichs besaßen nicht das volle römische Bürgerrecht, waren zwar persönlich frei, aber juristisch nur beschränkt handlungsfähig. Erst ein Erlass Kaiser Caracallas (211–217) von 212, die Constitutio 23 Pohl 2005, S. 1–38; Steinacher 2017b, S. 23–30.
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Antoniniana, machte fast alle freien Provinzbewohner zu Vollbürgern.24 Ob es nun innerhalb der Reichsgrenzen ein starkes lokales, regionales oder ethnisches Bewusstsein gab, ist für die verschiedenen Teile des Reichs wohl ganz unterschiedlich zu beurteilen. Man darf mit einem Unterschied zwischen Stadt und Land, abgelegeneren und zentraleren Gebieten rechnen.25 Auffallend ist, dass in der Spätantike ethnische Bezeichnungen aus der Zeit vor der römischen Eroberung nicht selten erneut erscheinen. Wurden diese kontinuierlich benutzt oder nicht, waren diese Menschen mehrsprachig oder latinisiert?26 Ein großer Teil der Bevölkerung lebte weiter unter vorrömischen, »barbarischen« Bedingungen. Zudem war die römische Gesellschaft stark hierarchisiert. Viele Menschen lebten außerhalb der Städte ohne irgendwelche Rechte oder waren Unfreie. Der scheinbar so schnelle und dramatische Fall der römischen Ordnung lässt sich so besser begreifen. Guy Halsall hat betont, dass zu dieser Zeit der Rhein als Grenzfluss bereits an Bedeutung verloren hatte. Nordgallien war zu einem Zentralraum auch für die außerrömischen Gebiete bis nach Jütland geworden. In der zeitgenössischen Komödie Querolus riet man denn dem Protagonisten, er solle doch an die Loire gehen, wenn es ihm nicht mehr gefalle nach römischen Gesetzen zu leben. Offenbar galt diese nun als Trennlinie zum Barbaricum.27 Zuletzt ist zu betonen, dass wir mit wenigen Ausnahmen nur die Stimmen der Eliten aus unseren Quellen hören, und diese Männer hatten viel zu verlieren.
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Tiefgreifende Veränderungen in der Spätantike
Auch wenn die Forschung mittlerweile die Vorstellung von einer allgemeinen »Reichskrise« relativiert hat, war das lange 3. Jahrhundert (193–337) für die Gesellschaften inner- und außerhalb der Grenzen ein bewegtes Zeitalter.28 Grundlegende Änderungen vollzogen sich, nicht zuletzt in den Köpfen der Menschen, und vor allem die kaiserliche Herrschaft destabilisierte sich immens. So war alleine schon durch die Gründung einer zweiten Hauptstadt (Konstantinopel) Rom nicht mehr das allgegenwärtige und alleinige Zentrum des Reichs. Der Rombegriff im Sinne von Größe und Bedeutung des Imperiums wurde immer abstrakter.29 Auf eine schier endlose Kette von Bürgerkriegen, die zu einer Vernachlässigung der Grenzverteidigung führten, reagierte man schließlich mit der Einführung eines Mehrkaisertums. Die Herrscher residierten fortan in ver24 25 26 27 28 29
Buraselis 2007. Mitthof 2012. Steinacher 2014, untersucht die Beispiele der Breonen und Venosten. Querolus 1,2; vgl. dazu Halsall 2007, S. 232; Demandt 2007, S. 370; Drinkwater 1992, S. 209, 215. Strobel 1993; Witschel 1998. Pohl 2014.
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schiedenen Städten. Wichtige Entscheidungen wurden oft in den militärischen Garnisonen an den Grenzen getroffen. Eine entscheidende Veränderung aber war, dass sich durch die Verknüpfung von Staat, Christentum und Kirche, wie sie im späten 4. Jahrhundert abgeschlossen sein sollte, und die verstärkte Betonung des dynastischen Prinzips die Grundlagen des politischen Systems und der dahinter liegenden Ideologie veränderten bzw. erweiterten. Zuletzt sei betont, dass die Vorstellung eines Kulturbruchs zu hinterfragen ist. Oft kann man lesen, die alten römischen Eliten hätten nach dem Einfall der Barbaren die Kontrolle über Kunst und Kultur an die Kirche verloren. In den düsteren Mönchszellen sei dann nur ein Bruchteil der antiken Literatur tradiert worden. Alexander Demandt macht dafür den Barbareneinfall verantwortlich, dieser habe sozusagen der Kirche das Feld freigeräumt. »Jetzt in der Not gewann die Sorge um das Seelenheil Vorrang. Die Kirche ersetzte den Staat, die Klöster bewahrten die Reste des Bildungsgutes. Die Städte, in denen die Grundbesitzer wohnten, verarmten. Das kulturtragende Bürgertum verschwand – die Germanen interessierten sich mehr für Waffen als für Bücher –, das Bildungswesen blieb ihnen als Fremden fremd.«30
Dazu ist zu sagen, dass zentrale Entwicklungen der lateinischen Schriftlichkeit seit dem 4. Jahrhundert einsetzten, man bereits früh viele Bücher nicht mehr abschrieb oder nur in Auszügen überlieferte. Weder Barbaren noch Kleriker haben zensuriert, die Gelehrsamkeit hatte sich verändert. Eine Bibliothek des 4. unterschied sich kaum von einer des 8. Jahrhunderts. Gleichzeitig kannte ein gelehrter Mönch auch seine Klassiker und überlieferte uns nicht nur die biblischen Bücher und die Kirchenväter, sondern auch Vergil, Ovid, Plinius und Horaz.
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Die Desintegration des Römischen Reichs lässt sich auch ohne Invasionen erklären
Im 3. Jahrhundert entstanden partikulare Herrschaftsbereiche, vor allem das »Gallische Sonderreich« zwischen 260 und 274, grob auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs, Spaniens und Englands. Dieses »Sonderreich« war wie das große Imperium aufgebaut. Es hatte Konsuln und einen Senat, Münzen und eine Armee. Wie konnte es entstehen? Die Rheinarmee hatte geputscht und einen eigenen Kaiser erhoben. Dieser begnügte sich mit den westlichen Provinzen des
30 Demandt 2016a.
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Reichs. Es zeigte sich, dass ein solches System gar nicht so schlecht funktionierte, und viele Angehörige der lokalen Eliten trugen das neue Gebilde mit.31 Die Soldaten musste man zwar zufrieden stellen, aber dafür konzentrierten sich diese auf die Abwehr innerer und äußerer Feinde und garantierten sowohl die eigene Bezahlung, als auch den Wohlstand der reichen Provinzbewohner. All das verweist auf die Entwicklungen des 5. und 6. Jahrhunderts, als in Italien, Spanien, Gallien und Afrika eigene Herrschaftsräume entstanden, gestützt auf das Militär und die neuen Eliten der Goten, Franken, Burgunder und Vandalen. 395 wurde die Herrschaft im Reich ein weiteres Mal geteilt. Nach einer zwischenzeitlichen Beruhigung brachen nun im Westen bald wieder Machtkämpfe aus, die erneut zu heftigen Bürgerkriegen eskalierten. Diese beanspruchten die ganze Aufmerksamkeit der weströmischen Regierung. Der tiefgehende Strukturwandel erfasste daher nun auch die Peripherie. Einerseits funktionierte die zentrale Verteilung von Geldern und Gütern an barbarische Verbündete nur noch eingeschränkt. Das Reich war mit sich selbst beschäftigt. Andererseits versuchten manche Nachbarn die Schwächen des Zentrums zu nutzen und plünderten römisches Gebiet. Was genau außerhalb der Reichsgrenzen vor sich ging, können wir meist nur erahnen, denn die Quellen schweigen über diese Gebiete. Feststellen lässt sich, dass an Stelle der großen Zahl kleiner Verbände, die sich in den ethnographischen Werken eines Plinius oder Tacitus für die ersten beiden Jahrhunderte finden, im Barbaricum mehrere Großverbände erschienen. Seit dem 3. Jahrhundert bildeten sich am Rhein Franken und Alemannen, hinter ihnen, sozusagen in einer zweiten Linie, Sachsen, Burgunder und später Thüringer. An der unteren und mittleren Donau sammelten sich Goten und Vandalen. Bemerkenswert dabei ist die Formierung der neuen Großgruppen im Verhältnis zu den römischen Provinzen: Gegenüber ›Niedergermanien‹, der Germania inferior (vgl. noch die heutigen ›Niederlande‹) entwickelten sich die Franken, die dagegen Alemannen rechtsrheinisch bei Obergermanien. Dakien, Mösien und die pannonischen Provinzen waren die Bezugspunkte für Goten und Vandalen.32 Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Entwicklung mit römischen Bedürfnissen zu tun hatte. Einfach gesagt wollte ein römischer General im Vorfeld der Reichsgrenzen Ansprechpartner und Verbündete mit einer ausreichenden Kampfkraft, die ihm bei der Sicherung der Grenze gegen Plünderer halfen. Für die Barbaren wiederum war es äußerst attraktiv, mit den Römern zusammenzuarbeiten.33 Schnell konnten aus Verbündeten und Söldnern aber Feinde werden: Alle Soldaten, egal welcher Herkunft, neigen dazu, sich im Zweifelsfall zu 31 Luther 2008; König 1981; vgl. zur Sezession von Palmyra Hartmann 2001. 32 Wolfram 2018, S. 78–85; Pohl 2005, S. 23–29, S. 165–175. 33 Dick 2008.
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nehmen, was sie begehren. Als nach 375 die Hunnen an den römischen Grenzen erschienen brach das ohnehin schon fragile System zusammen. Goten, Vandalen und andere Verbände drangen ins Reich und nahmen dort ihren Platz ein, nicht mehr unter römischem Kommando, sondern auf eigene Rechnung.34
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Eine starke Militarisierung der römischen Gesellschaft im 4. und 5. Jahrhundert
Jüngst hat der Konstanzer Althistoriker Henning Börm in einer kurzen Geschichte Westroms von Honorius (regierte 395–423) bis Justinian (527–565) den Zerfall der westlichen Reichshälfte mit jenem des Alexanderreichs in den Diadochenkriegen verglichen: Römische Bürgerkriege und nicht enden wollende Machtkämpfe unter Beteiligung reichsfremder Soldateska hätten zur Zergliederung der westlichen Provinzen in Nachfolgereiche geführt, nicht die Wanderung von Völkern war der erste Grund, wie man es lange gesehen hat. Die wandernden Gruppen – oder eben häufiger: militärische Verbände – bewegten sich aufgrund der schnellen Dynamik im Römischen Reich, ihre Wanderungen waren die Folge, nicht die Ursache des Zerfalls des westlichen Imperiums in einander bekämpfende politische Einheiten. Die reichsfremden Krieger eroberten nicht etwa das Römische Reich, sondern kämpften in römischen Bürgerkriegen.35 Dies hatte auch finanzielle Gründe: Ein römischer Rekrut kostete seinen Dienstherrn im 5. Jahrhundert sechs Mal so viel wie ein barbarischer Föderat. Gleichzeitig militarisierte sich die römische Gesellschaft. Eine Armee von Barbaren war für einen reichen Mann durchaus finanzierbar, und viele der mächtigen Generäle, die das weströmische Kaisertum schleichend entmachteten, operierten mit ihrer eigenen Hausarmee – »Barbaren« wie Ricimer genauso wie »Römer« wie der berühmte Aëtius. Jeder, der im Imperium Romanum seine Ansprüche durchsetzen wollte, musste ab einem bestimmten Zeitpunkt auf preisgünstige barbarische Krieger zurückgreifen. Diese wiederum waren sich der machtpolitischen Gelegenheiten, die sich für sie durch diese Konstellation ergaben, durchaus bewusst. Menschen barbarischer Herkunft und entsprechender Rechtsstellung waren spezialisierte Dienstleister, die die Gelegenheit der Auflösung der römischen staatlichen Strukturen nutzten. Als die Bürgerkriege kein Ende nahmen und die Macht der Zentralregierung immer mehr schwand, machten sie sich schließlich selbständig, operierten ohne 34 Wolfram 2009, S. 125–144; Heather 2015; Ders. 1995; pointierte Kritik an der dominierenden Rolle der Hunnen bei diesen Ereignissen: Halsall 1999. 35 Börm 2018.
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römische Titel und Aufträge, und unter günstigen Umständen gelang es ihnen, das Machtvakuum zu füllen und eigene regna zu errichten, die sie nun nach ihren Bedürfnissen gestalten konnten. Dabei ging es ihnen keineswegs um eine Zerstörung der antiken Strukturen, im Gegenteil. Denn die neuen militärischen Eliten strebten die Kontrolle des römischen Steuersystems und den Besitz landwirtschaftlicher Güter an. Diese Übernahme funktionierender römischer Provinzen und Städte ermöglichte erst eine langfristige Versorgung der barbarischen Soldaten, die sich an die Stelle des verschwundenen weströmischen Heeres setzten. Dabei verschwamm in der Spätantike die Grenze zwischen Barbaren und Römern, insbesondere im militärischen Bereich: Da sich nun die meisten Soldaten um ein wildes, barbarisches Aussehen bemühten, dürfte es zunehmend schwer gefallen sein, reguläre Truppen von »föderierten«, also durch einen Vertrag als Dienstleister an Rom gebundenen reichsfremden Kriegern zu unterscheiden. Und weil letztere während ihrer oft langjährigen Einsätze einen wachsenden Zusammenhalt und eine gemeinsame Identität entwickelten, erschienen sie den römischen Zivilisten, die unsere Quellen verfassten, als gentes oder nationes mit einer gemeinsamen Herkunft. Das Adjektiv »barbarisch« erfuhr im spätantiken Latein eine bezeichnende Bedeutungsverschiebung. Meinte barbarus zunächst »fremd«, »unrömisch« oder »ungesittet« meinte es bald auch »tapfer« oder »wacker« wie noch im heutigen Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen (brave, bravo). Während des Dreißigjährigen Kriegs drang eine solche Bedeutung auch ins Deutsche, und erst später verengte sich das Wort auf die heute geläufige Bezeichnung von »gehorsam, redlich, folgsam«. Barbarisch und soldatisch waren in der Spätantike in Wahrheit nicht voneinander zu trennen.36
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Der Erklärungshorizont von Wanderungen und die allbekannten Pfeile auf historischen Karten
Was bedeutet Völkerwanderung? Ein historisches Phänomen der Migration, eine Epoche zwischen dem letzten Viertel des 4. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. oder gar der gesamte Zeitraum des Übergangs zwischen Spätantike und frühem Mittelalter? Im heutigen Spanischen, Italienischen und Französischen spricht 36 Steinacher 2016, S. 17; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Sp. 339: »brav, probus, egregius, strenuus, gut, tapfer, besser geschrieben braf, ein jetzt allgemein gangbares, uns aber erst im 17 jh. aus der fremde zugebrachtes wort. es ist das it. sp. bravo, franz. brave, das im laufe des dreiszigjährigen kriegs zunächst durch die soldatensprache eingang gefunden zu haben scheint.«.
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man von »barbarischen Invasionen« (invasiones bárbaras, invasioni barbariche/ grandes invasions – invasions barbares), eine dezidiert negative Konnotation liegt zu Grunde. Im Englischen finden mehrere Begriffe Verwendung: Migration period ebenso wie Barbarian invasions oder jüngst Barbarian migrations. Diese Terminologie geht insgesamt auf lateinische Begriffe zurück. Man übernahm in Spanien, Italien und Frankreich eine römische Sicht der Dinge.37 Jüngere wissenschaftliche Darstellungen decken meist den Zeitraum zwischen dem Erscheinen der Hunnen an den Grenzen der pannonischen Provinzen 375 bzw. dem Überwechseln gotischer Verbände auf Reichsboden und der Schlacht von Adrianopel 378 sowie der Ankunft der Langobarden in Italien im Jahr 568 ab.38 Manche Arbeiten beziehen die römische Welt stärker ein, alle bieten eine Geschichte der Alemannen, Angeln und Sachsen, Burgunden, Franken, Ost- und Westgoten, Vandalen und Langobarden.39 Wie man es nun bewerten mag, barbarische Verbände hatten bis zum 6. Jahrhundert den Großteil des ehemaligen römischen Westens in eine neue politische Organisation überführt. Für diese barbarischen Militäreliten wie Goten oder Langobarden entstanden in der Spätantike und im frühen Mittelalter dann auch positiv konnotierte Herkunftsgeschichten aus Skandinavien oder den Sümpfen der Mäotis. Gute, erfolgreiche Kämpfer mussten aus dem Norden kommen oder von den alten Skythen abstammen. Gleichzeitig waren diese Völker nun auch gewandert, wie das ja – man denke an Senecas Ausführungen – der häufigere Fall für die Bevölkerung der Kulturregionen war. Als am Hof des Gotenkönigs Theoderich des Großen bzw. in Konstantinopel Mitte des 6. Jahrhunderts eine Gotengeschichte verfasst wurde, griffen Cassiodor und Jordanes auf die aus der antiken Literatur gut bekannten Geten als legitimierende Vorgänger der skythischen Goten zurück. Die Geten waren aus der griechischen und römischen Literatur jedem gebildeten Leser vertraut und auf dem Balkan vom 5. Jahrhundert vor bis ins 1. Jahrhundert nach Christus von einiger Bedeutung. Tatsächlich stehen diese in keinerlei Beziehung zu den Goten, außer einer für literarische Konstruktionen gut geeigneten Namensähnlichkeit, die es erlaubte, die gotische Geschichte um Jahrhunderte zu verlängern und ins antike Bildungssystem einzubauen. Jordanes nannte dann Mitte des 6. Jahrhunderts Skandinavien eine officina gentium aut 37 In den meisten anderen europäischen Sprachen orientiert man sich wiederum am deutschen »Völkerwanderung« – so im Polnischen und Russischen (Wielka we˛drówka ludów, Belikoje prjejesjeljenije narodov – die große Wanderung der Völker), im Rumänischen (Migrat,ia popoarelor) und den skandinavischen Sprachen (Dänisch/Schwedisch: Folkevandringstiden/ Folkvandringstiden). Vgl. Steinacher 2017, S. 68–69; Halsall 2005, S. 33–35; Wood 2013, S. 1– 19, S. 154–160; Rosen 2009, S. 28–30. 38 Springer 2006, S. 510–512; Heather 2005, S. 145–190; Goffart 2006, S. 17. 39 Halsall 2005 mit Bibliographie S. 527–584; Pohl 2005, Literatur S. 225–254 und S. 260–261.
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certe velut vagina nationum, eine »Völkerwerkstatt oder Gebärerin von Stämmen«.40 Paulus Diaconus verortete beinahe 200 Jahre später den Ursprung der Langobarden ebenfalls in dieser Völkerwerkstatt. Auch weiß er zu berichten, dass dort unzählige Völker ihren Wohnsitz haben sollen.41 Der Norden war in der antiken Literatur eine mythische Region der Herkunft und der Ursprünge geworden und blieb dies auch während des Mittelalters. Ein barbarisches Volk konnte so mittels einer historischen Konstruktion Teil der antiken Mittelmeerkultur werden. Was berichtet Jordanes nun? 1490 vor unseres Herrn Geburt erreichten die Goten mit drei Schiffen von Skandinavien kommend die Weichselmündung. Das war in den Tagen in denen Mose in der Wüste das jüdische Volk führte und noch vor dem Troianischen Krieg, der am Beginn der römischen Geschichte stand. Dort mussten sie zunächst gegen Rugier und Vandalen kämpfen. Nach dem Sieg blieben die Goten fünf Könige lang in Gothiscandza, bis sie nach Südrussland weiterziehen konnten. Diese Wanderungsgeschichten sind Literatur und sollten nicht für bare Münze genommen werden. Die Gründe, warum eine Wanderung am Beginn einer konstruierten gotischen Geschichte steht, sind mannigfaltig und haben mehr mit antiker Bildung zu tun, als mit Geschichte.42 Die Wanderungen begannen für die moderne Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert aber noch viel früher: Oft war der Beginn der germanischen Geschichte mit der Wanderung von der Urheimat der Indogermanen nach Skandinavien angesetzt. Von da an war germanische Geschichte eine stetige Südausbreitung. In den letzten 150 Jahren hat sich der chronologische Rahmen germanischer Geschichte massiv verengt: Ging man noch im späten 19. Jahrhundert von einem Beginn der germanischen Geschichte in der Jungsteinzeit aus, war es wenige Jahrzehnte später die Bronzezeit. Dann zog man sich auf die eisenzeitliche Jastorf-Kultur zurück.43 Um 1920 entwickelte Gustaf Kossinna 1858–1931 seine »siedlungsarchäologische Methode« zur Suche nach frühgeschichtlichen germanischen Ethnien. Die Gleichsetzung von archäologischer Kultur und Ethnie spukt jedoch bis heute in den Köpfen.44 Historische Karten zur »Völkerwanderung« suggerieren mit ihren ganz Europa durchquerenden Linien und Pfeilen eindeutige Marschrouten, Herkunftsund Zielgebiete sowie stabile wandernde Gruppen. Dahinter verbirgt sich bei näherem Hinsehen aber weder ein überzeugendes analytisches Konzept, noch reichen die vorliegenden Quellen für eine solche Rekonstruktion aus. Die zu40 41 42 43 44
Iordanes 25, Übersetzung: Wolfram 2009, S. 14. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 1,1; vgl. Pohl 2004a, S. 174. Kulikowski 2007, S. 43–70. Steuer 2004. Brather 2004; Ders. 2001.
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meist eingezeichneten skandinavischen Ursprünge etwa der Goten beruhen auf spätantiker Geschichtskonstruktion und Barbarentopik (Kälte und Bevölkerungswachstum); sie sind als belastbare historische Information zu streichen. Die »Wanderungen«, die »der Goten« auf dem Balkan, in Italien, Gallien und Spanien und die »der Vandalen« bis nach Afrika und dann von dort aus gegen Italien und die Inseln des westlichen Mittelmeers, waren militärische Operationen barbarischer Armeen, manchmal im Dienst der weströmischen Regierung, manchmal gegen diese, oft als Parteien römischer Bürgerkriege, dann wieder auf eigene Rechnung. Wäre diese Darstellung nicht so aufgeladen, man könnte sie großteils als Geschichte der Kriege des 4. bis 6. Jarhunderts gutheißen. Ursprungserzählungen von wandernden Germanenvölkern waren und sind gleichzeitig einfache und narrativ reizvolle Modelle, um ohne große Schwierigkeiten historischen Wandel zu erklären.
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Die Umgestaltung der römischen Welt zwischen Antike und Mittelalter. Perspektiven der Forschung1
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Die Epochengrenze zwischen Antike und Mittelalter
Epochengrenzen wurden und werden immer wieder diskutiert und relativiert. Die Frage nach dem Ende des Römischen Reiches und seinem Nachleben hat stets Interesse und Emotionen auf sich gezogen, haben doch die heutigen Länder West- und Südosteuropas mit jenen Nordafrikas und des Nahen Ostens sowie mit der Türkei eine gemeinsame römische Geschichte. Und so meinen viele moderne europäische Länder und Nationen in den Strukturen des entstehenden mittelalterlichen Europas den Beginn der eigenen Geschichte suchen zu können. Auch die Bewegungen ›barbarischer‹ Völker und die Entstehung der sogenannten Nachfolgereiche der Franken, Goten, Vandalen, Langobarden, Burgunder und Anderer auf dem ehemaligen Gebiet des Römischen Reiches stoßen auf breites Forschungsinteresse in Geschichtswissenschaft und Archäologie. Die Frage nach Ende und Zerfall oder der Umgestaltung der römischen Welt liegt dabei zwischen den traditionellen Fachgrenzen der Alten und Mittelalterlichen Geschichte und geht noch über das seit den 1970er Jahren in der angelsächsischen Forschung entwickelte Konzept einer »langen« Spätantike hinaus. Auch die vertraute Kategorie der »Völkerwanderung« reicht nicht aus, um die Dimensionen der Epoche zwischen Antike und Mittelalter klar zu umreißen. In den letzten Jahrzehnten standen die Umgestaltung der römischen Welt zwischen Antike und Mittelalter, die Spätantike, die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter, im Fokus intensiver Forschungen, die zu einer kaum mehr überschaubaren Fülle an Publikationen aus althistorischer, archäologischer, religionsgeschichtlicher, orientalistischer und philologischer Perspektive führten. Im
1 Diese Textfassung konnte im Rahmen meiner Tätigkeit als Nachwuchsgruppenleiter in der DFG Kolleg-Forschergruppe »Migration und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter« an der Universität Tübingen erstellt werden. Mischa Meier, Steffen Patzold und Sebastian Schmidt-Hofner danke ich für ihre Gastfreundschaft, Jakob Ecker (Innsbruck) für Hinweise und Korrekturen.
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vorliegenden Forschungsbericht kann daher nur eine Auswahl vorgestellt werden. Beginnen möchte ich mit der Frage, ob denn die Beschäftigung mit den Jahrhunderten zwischen Diokletian und Karl dem Großen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich zu einem eigenen Forschungsfeld geworden ist.2 Zunächst stellt sich das Problem der Eingrenzung. Es ist zwar intellektuell anregend, sich mit den großen Linien und Zusammenhängen zu befassen, doch kommt ein einzelner Kopf schnell an die Grenzen des Leistbaren, gälte es doch ganz verschiedene Disziplinen zu erfassen und zu besprechen. Kolleginnen und Kollegen aus den Philologien, der Papyrologie, der Diplomatik, der Theologie, der Kirchengeschichte und den Archäologien mögen einem Historiker somit die zwingende Auswahl nachsehen. Zahlreiche, oft sehr hilfreiche und ausgezeichnete Arbeiten zu historiographischen, literarischen, diplomatischen, epigraphischen und papyrologischen Quellen des zu besprechenden Zeitraums können aus Platzgründen hier nicht oder nur am Rande berücksichtigt werden.3 Die Spätantike und das frühe Mittelalter waren seit der frühen Neuzeit Projektionsflächen für Meistererzählungen und Werturteile. Starke historische Narrative beeinflussen die Sichtweisen und Debatten über die fraglichen Jahrhunderte bis heute. Das Jahr 476 mit der Absetzung des römischen Kaisers Romulus Augustulus in Italien durch den Heerführer Odoaker sah man lange als Ende der Alten und Beginn der Mittelalterlichen Geschichte.4 Seit der Renaissance ist die Geschichtswissenschaft in die drei uns vertrauten Kategorien der
2 Friedrich Prinz (1928–2003) entwarf ganz eigene Ideen, vgl. Prinz 2000. Die Zeitspanne zwischen dem großen Konstantin und dem ebenso genannten Karl deckt auch der Sammelband Meier (Hg.) 2007 ab. 3 Nur wenige Beispiele von so vielen, die zu nennen wären: Bruno Bleckmann und Markus Stein geben die Reihe »Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike« heraus, die auch deutsche Übersetzungen und neue Editionen bietet; die Arbeiten von Flavia de Rubeis (Venedig) zur frühmittelalterlichen Epigraphik Italiens, jene zu den Urkunden in St. Gallen (Erhart / Heidecker / Zeller (Hg.) 2009, mit einem Überblick auch zur italienischen Forschung) und jene zu den Papyri Ägyptens, hier besonders zu Verwaltung und Militär bis in die arabische Zeit (vgl. Bagnall 2009 und die Arbeiten Bernhard Palmes); Bücher zu Ennodius und den Variae Cassiodors (vgl. die neue Edition, Kommentierung und Übersetzung in 6 Bänden Giardina / Cecconi / Tantillo 2014), Arbeiten zur Hagiographie, zur Diplomatik sowie zur Historiographie und Chronistikforschung (z. B. Brodka 2009; Burgess / Kulikowski (Hg.) 2013). Brown / Costambeys / Innes / Kosto (Hg.) 2013 enthält einen Überblick über Quellen und Forschungsliteratur zu urkundlichem Geschäftsschriftgut zwischen Spätantike und Frühmittelalter im lateinischen Westen (mit Afrika) und Ausblicke nach Byzanz. Wichtig ist die Relativierung des Gegensatzes von kirchlicher und Laienschriftlichkeit. Als Alternative bietet das Nachwort die Begriffe »institutionell« und »nichtinstitutionell« an. Schließlich sei für die Fortschritte in der Papyrologie auf die »Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik« (ZPE), das »Archiv für Papyrusforschung« und die »Tyche« verwiesen. 4 Vgl. Pohl 2011; Börm 2008.
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Alten, Mittleren und Neuen Geschichte geteilt.5 Humanisten in den deutschen Ländern wie Beatus Rhenanus oder Jakob Wimpheling stilisierten die Eroberer des dekadenten Römerreiches – nicht selten aus einem antikatholischen, protestantischen Reflex – zu Vollziehern einer historischen Notwendigkeit und wollten die völkerwanderungszeitlichen Gruppen zu direkten Vorfahren der neuzeitlichen Deutschen machen. Nachdem 1470 die Germania des Tacitus in Venedig im Druck erschienen war, kam es nördlich der Alpen und östlich des Rheins zu einer breiten Identifikation mit den gentes des 5. und 6. Jahrhunderts. Konrad Peutinger gab 1515 die Getica des Jordanes/Cassiodor zum ersten Mal heraus, und im gleichen Band wurde auch die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus abgedruckt. Zusammen mit der Germania des Tacitus bildeten diese Texte den Ausgangspunkt der Konstruktion einer »germanischen« Vergangenheit.6 Im Gegensatz zu den positiven Interpretationen der Völkerwanderung rechts des Rheins positionierten sich italienische und französische Humanisten gegen die kulturzerstörenden Eindringlinge aus dem Norden. Eine Folge solcher Debatten ist, dass im heutigen Italienischen und Französischen die »Völkerwanderung« als »barbarische Invasion« (invasione barbarica/grandes invasions) bezeichnet wird, also dezidiert negativ konnotiert ist. In Frankreich diskutierte man außerdem seit dem frühen 18. Jahrhundert, ob die Wurzeln der eigenen Gesellschaft nun in der aristokratisch-monarchischen Erbschaft der Franken oder der Grundlage der römischen Zivilisation zu suchen seien.7 In Großbritannien entwickelten sich verschiedene, miteinander konkurrierende Bewertungsmodelle. Manche Forscher betonten die autochthonen, keltischen Traditionen auf der Insel, andere die Bedeutung der Sachsen und Angeln und eine dritte Gruppe wollte in Kontinuitäten des Römischen eine besondere britannische Prägung erkennen. 1776 bis 1789 veröffentlichte Edward Gibbon (1737–1794) die sechs Bände seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire, ein Werk im Umfang von etwa 3200 Druckseiten, das die Geschichte des Römischen einschließlich des Byzantinischen Reichs von der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 schildert. Rom erlag den barbarischen Invasionen, denn die Römer, so Gibbon, hätten im Laufe der Geschichte Schritt für Schritt ihre bürgerlichen Tugenden verloren. Sie waren schwach und dekadent geworden und beauftragten auswärtige Söldner mit der Verteidigung des Reichs. Sie vernachlässigten ihre militärischen und staatsbürgerlichen Pflichten. Die barbarischen Söldner konnten übernehmen. 5 Wolfram 2018, S. 260 spricht vom »Nicht-Ende des römische Reiches«. 6 Muhlack 1991; Goffart 2005a. 7 de Boulainvilliers 1732; Dubos 1734; Vgl. dazu Nicolet 2003; Wood 2008.
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Das sich durchsetzende Christentum trägt letztlich die Schuld an dieser Entwicklung, verhieß der neue Glauben doch ein Glück im Jenseits und führte dazu, dass man nicht mehr kämpfen und sich bemühen wollte. Die christliche Menschenliebe zerstörte gleichermaßen den Kampfgeist. Das Mittelalter war aus Gibbons Sicht eine unheilvolle, dunkle und böse Zeit, in der die Kultur beinahe unter den Knüppeln der Priester zugrunde gegangen wäre. Gibbon war mehr als deutlich anti-katholisch und sah seine Zeit als die strahlende Rettung der Aufklärung vor dem Dunkel der Kirche. Berühmt sind seine Fußnoten, die nicht nur eine profunde Quellenkritik belegen, sondern auch äußerst humorvoll, spitz und voller Gedanken und Vergleiche der eigenen Zeit mit den besprochenen Schilderungen sind. Das Werk ist literarisch höchst ansprechend und wird bis heute im anglo-amerikanischen Raum häufig gelesen, ein echter Klassiker.8 In den letzten Jahrzehnten gab es nun Vorschläge, ähnlich wie in der Neueren und Neuesten Geschichte, Epochengrenzen zu diskutieren und zu relativieren. Manche Forscher sehen heute die Spätantike weiterhin als die letzte Phase der römischen Geschichte, die grob gesagt mit dem (weströmischen) Kaisertum endete, andere plädieren für eine Kontinuität spätantiker Strukturen bis in das 8. Jahrhundert oder gar darüber hinaus. Die Christianisierung Europas von der römischen Kaiserzeit bis zum Beginn des hohen Mittelalters kann solchen Ansätzen folgend als eigene Epoche betrachtet werden. Nun stellt sich jedoch auch noch die Frage, welchen Stellenwert man der byzantinischen/oströmischen, sasanidischen und islamischen Geschichte beimessen will. Dieses Problem verbindet sich mit dem zu wählenden geographischen Blickwinkel: Soll der Historiker aus der Perspektive Europas bzw. des ›Abendlands‹ oder aus einer gesamtrömischen Perspektive unter Einschluss des Ostens und Nordafrikas auf das Quellenmaterial zugehen?9 Für die folgenden Ausführungen habe ich eine dieser Entscheidungen bereits zu treffen gehabt. Geographisch konzentriere ich mich im Folgenden auf den lateinischen Westen.
8 Vgl. Pocock 1999–2011; Sammelband zur Rezeption im deutschen Sprachraum: Berghahn / Kinzel 2015; Nippel 2006. 9 Meier 2012 mit einem Schwerpunkt bei den Brüchen und Kontinuitäten der byzantinischen Geschichte.
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The Transformation of the Roman World / Die Umgestaltung der Römischen Welt
Zwischen 1993 und 1998 arbeiteten über hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 20 Ländern unter der Leitung des Griechen Evangelos Chrysos (geboren 1938), des Spaniers Javier Arce (geboren 1949) und des Briten Ian N. Wood (geboren 1950) am Projekt der European Science Foundation The Transformation of the Roman World (TRW). Es war das erklärte Ziel dieser Plattform – ausgehend von den Disziplinen Geschichte und Alte Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie und Numismatik – den Übergang vom spätrömischen ins karolingische Europa unter stetigem Vergleich mit Byzanz zu untersuchen. Die Ergebnisse liegen in mittlerweile 14 Bänden vor.10 Der Begriff »Transformation«, Umgestaltung, wurde damals sehr bewusst gewählt, wollte man doch das Paradigma von einem »Decline and Fall«, einem Niedergang und Untergang der antiken Welt, das spätestens seit Edward Gibbon die beinahe alleinige Deutungshoheit hatte, in seiner Einseitigkeit in Frage stellen und Quellenkritik möglichst ohne Werturteile vornehmen.11 Soziale, politische, ökonomische, materielle und kulturelle Prozesse der Veränderung sollten in ihrer langen Dauer mit ganz unterschiedlichen Akzenten und Schwerpunktsetzungen untersucht werden. Problematisiert wurde ebenso die scheinbar so deutliche Dichotomie zwischen Römern und ›Barbaren‹. Viele der beteiligten Wissenschaftler entwickelten Erklärungsmodelle, denen ein Konzept von Zentrum und Peripherie zugrunde lag und die die starke Prägung ›barbarischer‹ Gesellschaften durch Rom betonten.12 Ähnlich in Frage stellte man die Meistererzählung von tiefen ökonomischen Brüchen, deren bekanntester Vertreter wohl Henri Pirenne (1862– 1935) war. Zu betonen ist allerdings, dass Pirenne erst mit der islamischen Expansion eine Zäsur sehen wollte, zuvor konstatierte er eine starke Kontinuität der römischen Kultur zwischen Antike und frühem Mittelalter.13 Zuletzt wurden vielfältige Quellen zu kulturellen und religiösen Fragen untersucht und ausge-
10 Vgl. Wood 2006. Eine Übersicht der erschienenen 14 Bände: (abgerufen 12. 02. 2019) Die fünf thematischen Gruppen, nach denen das Gesamtprojekt organisiert war, sind: Imperium, Regna et Gentes, Settlement in Town and Countryside, Production, Distribution and Demand, The Transformation of Beliefs and Culture, Power and Society. 11 Vgl. Demandt / Götz / Reimitz / Steuer / Beck 2001. 12 Vgl. etwa den Band Goetz / Jarnut / Pohl 2003. 13 Auch der heute recht wenig bekannte österreichische Historiker Alfons Dopsch (1868–1953) entwarf in seiner Studie ein deklariertes Kontinuitätsmodell, vgl. Dopsch 1918/1920.
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wertet. Das Werk und Gedankengut Peter Browns (geboren 1935) spielte hier eine bedeutende Rolle.14 Ein reiches Bild spätantiker und frühmittelalterlicher gesellschaftlicher Praktiken konnte aus der Interpretation von Texten, Ritualen, Bildern und Bauwerken gewonnen werden. Spätantike und Frühmittelalter erfuhren in der Folge ein weitaus größeres Interesse an vielen akademischen Standorten Europas und den USA.15 Insgesamt war es nie das Ziel des Projekts, eine klare oder einheitliche These zu entwickeln. Interessanterweise wird aber genau das innerhalb und außerhalb der Wissenschaft immer wieder behauptet.16 Den Stand der diesbezüglichen Debatten in der deutschsprachigen Forschung markiert der von Theo Kölzer und Rudolf Schieffer 2009 herausgegebene Sammelband des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte Von der Spätantike zum Frühmittelalter.17 Wie auch immer nun einzelne Forscherpersönlichkeiten zu diesen Ansätzen stehen mögen, eine Veränderung der Perspektiven hat stattgefunden. Die Verschiebung der Fachgrenzen zeigt sich an der Abdeckung des Zeitraums bis in das beginnende 7. Jahrhundert im 14. Band der Cambridge Ancient History und am Beginn der New Cambridge Medieval History mit dem Jahr 500.18 Neu erschienen ist 2018 das Oxford Dictionary of Late Antiquity (ODLA) in zwei Bänden. Dieses Lexikon hatte sich zum Ziel gesetzt die »lange Spätantike« von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts und dem Höhepunkt der arabischen Expansion abzudecken. Mitbehandelt werden das Sasanidenreich und der Nahe Osten bis in den südarabischen Raum und nach Zentralasien.19 Ebenso wurden Zeitschriften gegründet, die Beiträge über das gesamte erste Jahrtausend aufnehmen oder eine »lange« Spätantike in den Fokus stellen. 14 Vgl. Das nach Lemmata geordnete Nachschlagewerk mit ausführlichen Einführungen: Bowersock / Brown / Grabar (Hg.) 1999. Vgl. zur Christianisierung Europas Wood 2001. 15 Ein Beispiel für die Aufnahme der Fragestellung in den USA ist die Tagungsreihe »Shifting Frontiers«. Vgl. jüngst den Band Brakke / Deliyannis / Watts (Hg.) 2012. 16 Vgl. Wood 2006, S. 133. 17 Kölzer / Schieffer (Hg.) 2009. Tagungsbericht: Burkhardt 2007. Eine umfangreiche Gesamtdarstellung zur Völkerwanderung, die den Forschungsstand umfassend abbildet, bietet Meier 2019. 18 Der erste Band der Neubearbeitung der »New Cambridge Medieval History« (NCMH), den Paul Fouracre herausgegeben hat, erschien 2005. Die Darstellung beginnt im Jahre 500 (The New Cambridge Medieval History, Bd. 1: c. 500 – c. 700, Cambridge 2005). Die Bände 13 und 14 der Cambridge Ancient History (CAH) erschienen 1997 und 2000. Sie widmen sich der Zeit zwischen 337 und 600 n. Chr. Die Darstellung endet mit dem Tod des Maurikios im Jahre 602 und nicht mehr wie in der ersten Auflage mit Konstantin dem Großen: Cameron / WardPerkins / Whitby (Hg.) 2000. Auch erschienen sind: Robinson (Hg.) 2010; Shepard (Hg.) 2008. 19 Vgl. nun allerdings mit berechtigten kritischen Einwänden Brendel 2019. Das dreibändige und erstmals 1991 erschienene Oxford Dictionary of Byzantium (ODB) bleibt ein Standardnachschlagewerk der Byzantinistik, das den Forschungsstand allerdings kaum mehr abbildet.
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Meist verfolgen diese Zeitschriften einen interdisziplinären Ansatz und versammeln Beiträge aus verschiedenen altertumswissenschaftlichen und mediävistischen Bereichen. Sie decken den Zeitraum von der späten klassischen bis zur karolingischen Epoche (ca. 250–800 n. Chr.) im westeuropäischen, oströmischen bzw. byzantinischen, sasanidischen und frühislamischen Raum ab. Zu nennen sind hier die seit 1993 bzw. 1992 erscheinenden Zeitschriften Antiquité tardive (AnTard) und Early Medieval Europe (EME), Millennium. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des 1. Jahrtausends n. Chr. (seit 2004) und das amerikanische Journal of Late Antiquity (JLA), das seit 2008 erscheint. Neu hinzugekommen ist nun das Journal Studies in Late Antiquity der University of California Press. Ernst Steins (1891–1945) Überblicksdarstellung Geschichte des spätrömischen Reiches und der zweite posthum in französischer Sprache erschienene Band Histoire du Bas-Empire mögen nicht mehr dem Forschungsstand entsprechen, doch ist die aus den Quellen gearbeitete Erzählung von erstaunlicher Qualität. Das Buch wird in der deutschsprachigen Forschung – im Gegensatz zu den USA und Großbritannien – wenig benutzt.20 Das heutige deutschsprachige Überblickswerk zur Epoche ist Alexander Demandts (geboren 1937) Die Spätantike, 2007 in einer erweiterten Neuauflage erschienen. Immer noch ist dieses Handbuch hilfreich, auch wenn viele Neuerscheinungen und Fortschritte in der Fragestellung nicht aufgenommen wurden, weder für die Spätantike noch für die Nachfolgereiche des Westens.21 Demandt hat eine klare Definition der Spätantike: Sie reicht von Diokletian bis zum Tod Justinians. Stefan Esders (geboren 1963), Lehrstuhlnachfolger Demandts an der Freien Universität Berlin, hat in einer Besprechung zu diesem Handbuch festgestellt, dass es Demandt und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelungen ist, ein kompaktes Werk vorzulegen, gerade weil die Darstellung für den Osten mit Justinians Tod 565 und für den Westen mit dem Erscheinen der Langobarden in Italien 568 endet. Gleichwohl sei es nun aber nötig, ein vergleichbares Handbuch für die folgenden Jahrhunderte der Umgestaltung der römischen Welt zu erarbeiten, und man darf annehmen, ein solches Projekt würde die Quellen und die Literatur bis in das 8. oder sogar das 11. Jahrhundert umfassen.22
20 Stein 1928; Ders. 1949. Zu erwähnen ist auch die Überblicksdarstellung: Seeck 1895–1920. 21 Demandt 2007. Vgl. die kritischen Bemerkungen von Whitby 2008. 22 Vgl. die Besprechung von Stefan Esders zu Demandts »Spätantike«: Esders 2008.
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Die britische Tradition der Spätantikeforschung
Wesentliche Anregungen zur heutigen Forschung kamen aus Großbritannien. Bis weit in die 1980er Jahre war zunächst eine chronologisch klar begrenzte Alte Geschichte üblich. Am Department of Classics befasste sich ein Historiker kaum jemals mit Epochen nach der Herrschaft Kaiser Trajans, dann übernahm bereits die Mediävistik, die an der Faculty of Modern History angesiedelt war. »Was heute Spätantike heißt, war damals Niemandsland, in das sich nur wenige Einzelgänger hineinwagten, die sich nicht um Lehrpläne und Disziplingrenzen scherten.«23 Arnold Hugh Martin Jones (geboren 1904) verfasste während der frühen 1960er Jahre in Cambridge seine bis heute verwendete dreibändige Darstellung der Sozial-, Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte des Later Roman Empire (LRE), blieb aber weitgehend isoliert.24 Arnaldo Momigliano lehrte am University College London und befasste sich auch mit der Ideengeschichte der Spätantike. Einer seiner Schüler dort war Peter Brown.25 Drei weitere Persönlichkeiten haben maßgeblich zu den Entwicklungen in der Spätantikeforschung beigetragen. Die britischen Forscher Averil Cameron (Althistorikerin und Byzantinistin) und John F. Matthews, beide 1940 geboren, sind hier zunächst zu nennen. Die 2012 erschienene und erweiterte zweite Auflage von Camerons The Mediterranean world in late antiquity 395–700 ist in der chronologischen Betrachtung im Vergleich zur ersten Fassung um ein Jahrhundert nach vorne geschoben. Das Buch fasst die wesentlichen aktuellen Forschungsdiskussionen zusammen. Auch Averil Cameron deckt einen Zeitraum zwischen Theodosius und dem beginnenden 8. Jahrhundert ab. Im Zentrum steht das oströmische Reich, der Westen und der Herrschaftsraum der Sasaniden werden nur aus dieser Perspektive behandelt. Cameron ist es wichtig, vereinfachende und wertende Urteile sowie einseitige Betrachtungen zu vermeiden.26 John F. Matthews gehört zu den wichtigsten und profiliertesten Kennern der Spätantike. Er ist ganz und gar römischer Historiker und zieht klare Trennlinien zwischen Antike und Mittelalter. Sein Interesse konzentriert sich auf Ammianus Marcel-
23 Vgl. hier und im Folgenden den Überblick zur angloamerikanischen Forschung (mit einem Schwerpunkt auf Brown, Matthews und Liebeschuetz): Wiemer 2013, Zitat und vgl. S. 115. 24 Jones 1964. Vgl. dazu Gwynn (Hg.) 2008. 25 Brown 1988. 26 Cameron 2012. Vgl. dazu die Rezension Wiemer 2012. Wiemer hält fest, dass seiner Ansicht nach Camerons Buch »bis auf weiteres die überzeugendste Darstellung der Spätantike aus der Perspektive derjenigen, die diese Epoche bis ins 7. Jahrhundert oder noch darüber ausdehnen möchten« bleibe. Vgl. auch den Sammelband Amirav / Romeny (Hg.) 2007. Cameron 2012 (S. 6) kritisiert die Schule Peter Browns, wenn sie meint: »›Late antiquity‹ is in danger of having become an exotic territory, populated by wild monks and excitable virgins and dominated by the clash of religions, mentalities, and lifestyles.«.
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linus oder Symmachus, die spätantiken kaiserlichen Rechtscodices und das papyrologische Material.27 Als weiterer maßgeblicher Forscher zur Spätantike ist Wolf Liebeschuetz (geboren 1927) zu nennen. 1938 floh Liebeschuetz mit seiner Familie aus Hamburg nach England. Er hat in einer Breite wie kein anderer zu Aspekten der spätantiken Stadt, der ›Barbaren‹ und der Rolle des Christentums in den fraglichen Zeiträumen gearbeitet. Auch beachtete er stets archäologische Befunde neben literarischen und historiographischen Quellen, nicht ohne die wichtigen Forschungstraditionen in allen europäischen Wissenschaftssprachen gründlich zu rezipieren. Liebeschuetz war Teil der The Transformation of the Roman World -Gruppe und verfasste mehrere wichtige Beiträge zu deren Bänden. Im Gegensatz zu Peter Brown und anderen betont Liebeschuetz jedoch die großen Unterschiede zwischen Westen und Osten. Er scheute sich nicht den Begriff »Niedergang« zu verwenden und sprach auch nie von Transformation. Besondere Aufmerksamkeit widmete Liebeschuetz den Städten als in seinen Augen ganz wesentliche Grundlage der verschwindenden antiken Kultur und Gesellschaft. So ist denn auch eine 2006 erschienene Sammlung von Aufsätzen Liebeschuetzs mit dem differenzierenden Titel Decline and Change in Late Antiquity: Religion, Barbarians and their Historiography erschienen.28
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Die Durchsetzung des Christentums
Das Christentum hat für die Veränderung der antiken Gesellschaften grundlegende Bedeutung in intellektueller, spiritueller und organisatorischer Hinsicht und muss parallel zu den sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen berücksichtigt werden. Die Rolle der Städte ging zurück, jene der Klöster wurde immer bedeutender. Die Eliten orientierten sich zunehmend an christlichen Werten und Bildungsidealen. »Das war der vielleicht ehrgeizigste Versuch der bisherigen Menschheitsgeschichte, die Welt grundlegend und in allen Lebensbereichen zu verändern, und er stützte sich auf eine Vielfalt differenzierter intellektueller und materieller Bemühungen. Viele der Texte, aber auch der Artefakte, die uns aus dem Frühmittelalter erhalten sind, verdankten sich diesem Bestreben,« 27 Vgl. die Aufsatzsammlung Matthews 2010 und die Festschrift zum 70. Geburtstag: McGill / Sogno / Watts (Hg.) 2010. Vgl. Zu Matthews auch Wiemer, 2013, S. 122–126. 28 Liebeschuetz 1990; Ders. 2001; Ders. 2006. Vgl. auch den Sammelband zum 80. Geburtstag: Drinkwater / Salway (Hg.) 2007. Bezüglich der viel diskutierten Ethnizität der ›Barbaren‹ betonte Liebeschuetz, dass die Selbstdefinition eines Individuums sich nicht so schnell ändere. 2011 erschien ein neues Buch, in dem Ambrosius und Johannes Chrysostomus vergleichend betrachtet werden: Liebeschuetz 2011a.
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wie Walter Pohl betont hat.29 Das Werk Peter Browns lässt sich kaum zusammenfassend beurteilen oder darstellen. Brown hat durch die Analyse zunächst religiöser Strukturen bzw. der Rolle des Christentums im lateinischen Westen und dem griechischen Osten wesentliche neue Fragestellungen aufgeworfen.30 Zunächst legte er 1967 eine vielbeachtete und innovative Biographie des Augustinus von Hippo, einem der vier bedeutenden lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike, vor.31 Aus der Frage nach der Rolle »heiliger Männer« und des Christentums in der Spätantike entwickelte er schließlich eine Neubewertung der Epoche. Die Asketen Syriens, so Browns These, haben in einer Zeit des Umbruchs und der Veränderung des gesellschaftlichen Systems eine neue Form von Autorität über und Verantwortung für die Bevölkerung übernommen, sie seien regelrecht zu Patronen geworden. Christliche Vorstellungen von Heiligkeit konnten somit auch eine Form sozialer Stabilität bieten.32 Peter Brown entwarf mit seinem Buch The World of Late Antiquity: AD 150– 750 ein Modell der Umgestaltung der römischen Welt, einer Transformation der Antike zum christlichen Europa des Mittelalters gegen die dominierende Sichtweise von Bruch und Niedergang. Seine Darstellung beginnt im kaiserzeitlichen Rom und endet im Baghdad der Ummayadenkalifen. Von Anfang an stellte Brown den Anspruch, geographisch Byzanz und die frühe islamische Welt, Westund Nordeuropa, den Mittelmeerraum wie den Nahen Osten und chronologisch die Jahrhunderte von 200 bis 1000 n. Chr. als eine Einheit zu sehen. Das betrifft im deutschsprachigen Raum die Fächer Alte und Mittelalterliche Geschichte, Byzantinistik, Islam- und Orientwissenschaft, Kirchengeschichte und Judaistik.33 Ausführlich und teilweise aufbauend auf dem Denken Michel Foucaults hat sich Brown mit Fragen der Geschlechteridentität, der Sichtweisen von Sexualität und Ansichten zum Körper im entstehenden Christentum befasst.34 Die Bedeutung seines Werks ist wohl kaum zu überschätzen. Große Entwürfe ziehen allerdings auch Kritik an, und so hat Hans-Ulrich Wiemer zusammenfassend festgestellt:
29 Pohl 2011, S. 57, Anm. 84. 30 Vgl. Rousseau / Papoutsakis (Hg.) 2009 mit einem breiten Überblick zum umrissenen Forschungsfeld; Eich / Faber (Hg.) 2012; Brown / Testa (Hg.) 2011. 31 Brown 1967, dt. 2000. 32 Ders. 1971; Ders. 1995. 33 Brown 1971/1989; Für einen guten Einstieg in das Denken Browns siehe: Ders. 1996. Auf Deutsch liegt eine erweiterte 3. Auflage 2013 vor (erste Auflage: Die Entstehung des christlichen Europa, Frankfurt am Main 1996). Vgl. dort das bemerkenswerte »Preface to the Tenth Anniversary Revised Edition«, S. XI–XLVII. 34 Ders. 2012; Ders. 2015.
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»Die geringe Berücksichtigung materieller Lebensverhältnisse und staatlicher Strukturen dürfte neben dem Mangel an Bestimmtheit in Raum und Zeit einer der Hauptgründe dafür sein, weshalb sich die von Brown propagierte Vorstellung, Late Antiquity umfasse die Geschichte Europas und des Vorderen Orients zwischen etwa 200 und 800, auch in der angloamerikanischen Wissenschaft bis heute nicht durchgesetzt hat.«35
In den letzten Jahren rückte tatsächlich auch die politische und militärische Geschichte wieder verstärkt ins Blickfeld, und so meinte Hartmut Leppin 2009, dass »die harte Politikanalyse nach der Konjunktur kulturalistischer Ansätze in der Spätantikeforschung wieder im Kommen« sei.36
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Wirtschaft und Gesellschaft
Julia M. H. Smiths Buch Europe After Rome: A New Cultural History 500–1000 zeigt nun wieder Gegenteiliges. Smith, Professorin für mittelalterliche Geschichte in Glasgow, erhebt ebenso den Anspruch, mit ihrer Analyse ein halbes Jahrtausend zu umfassen. Die schriftliche und mündliche Kultur, Fragen der Bevölkerungsverteilung, des Klimas, der Migrationen und Siedlungen, aber auch von Krankheit und Tod und der Wahrnehmungen der Menschen, verwandtschaftliche Beziehungen und deren Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie Geschlechterrollen- und normierungen stehen im Zentrum der Analyse. Smith zeichnet eine stark hierarchisierte Gesellschaft, die vom Sklaven zum Freien und vom Bauern zum Herrn strukturiert erscheint. Die zentrale Rolle des Christentums tritt klar hervor. Die Stadt Rom bleibt im frühen Mittelalter als Erinnerungsort und Zentrum der Sakralität bedeutend.37 Smith richtet den Blick auch auf die in der Forschung oftmals vernachlässigte Rolle der Frauen im nachrömischen Europa, nicht zuletzt in der Pflege und Weitergabe kultureller Techniken und Traditionen. Sie arbeitet dabei mit großer Sensibilität für oft versteckte Aussagen in den Quellen. Ihrer Arbeit liegen Rechtstexte und Rechnungsbücher, Briefe von und an Könige und Päpste ebenso wie archäologisches Material und Überlegungen zur Ikonographie von Kunstwerken zugrunde. Wichtig ist ihr, das unterschiedliche Empfinden der Menschen
35 Wiemer 2013, S. 121. Ein vom Kunsthistoriker Hendrik Dey und der Archäologin Elizabeth Fentress herausgegebener Sammelband beleuchtet die Entwicklung des spätantiken Mönchtums bis ins frühe Mittelalter und bietet auch manchen Ausblick in die islamische Welt Dey / Fentress (Hg.) 2011. 36 Leppin 2009, S. 239. 37 Vgl. den Sammelband Bolgia / McKitterick / Osborne (Hg.) 2011.
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verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, ohne Gemeinsamkeiten und überregionale Trends zu übersehen.38 Die britisch-amerikanische Althistorikerin Kate Cooper hat mit ihrem am Buchmarkt erfolgreichen Band of Angels von 2013 die Rolle der Frau im frühen Christentum beleuchtet. Thekla, Perpetua und die Kaiserin Pulcheria sind nur einige Beispiele der Persönlichkeiten, die im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stehen. 2007 erschien The Fall of the Roman household. Der Titel ist eine bewusste Anspielung auf Edward Gibbon. Cooper analysiert die Rolle der Ehe und des Haushalts zwischen Antike und christlicher Gesellschaft. Religiöse Überzeugungen und sozialgeschichtliche Faktoren sind vergleichend dargestellt.39 Die Diskussion um die beiden Interpretationsansätze, den einer Transformation der spätantiken römischen Welt zwischen Britannien und Mesopotamien oder den des Niedergangs und Untergangs Roms, der sich auf die Entwicklung in Europa konzentriert, sowie alle Grautöne dazwischen, erwies sich in den Forschungsdebatten der letzten Jahrzehnte als überaus fruchtbringend. Zwei wirtschaftshistorische Werke sind nun in diesem Zusammenhang vorzustellen. Michael McCormick setzte sich in seinen Origins of the European economy ebenfalls zunächst mit Pirenne auseinander. Henri Pirenne hatte in seiner 1937 posthum erschienen Untersuchung Mahomet et Charlemagne die Phase der arabischen Eroberung Syriens (636), Nordafrikas (640–698) und Spaniens (711) als eigentliches Ende der Antike postuliert. Das Mittelmeer habe im 7. Jahrhundert wegen des sich ausbreitenden Islams seine Brückenfunktion verloren. Erst das karolingische Europa habe einen Verfall der Stadtkultur, einen tiefgreifenden ökonomischen Wandel hin zur Subsistenzwirtschaft und einen Einbruch der Handelsbeziehungen erlebt.40 Ausgangspunkt von McCormicks Untersuchungen war nun die Situation des spätantiken Imperiums. McCormick beschrieb einen Transformationsprozess in den verschiedenen Regionen des Reiches zwischen ca. 250 und 650, bedingt durch die allmähliche Auflösung des staatlichen Wirtschaftssystems. Im Westen beschrieb er in diesem Zeitraum einen Bevölkerungsschwund, auch als Folge großer Seuchen, einen Rückgang der Metallverarbeitung, der Keramikproduktion und des Handels. Abgeschwächt betraf dies
38 Smith 2005. Leslie Brubaker und Julia M. Smith haben 2004 gemeinsam einen Sammelband zu Fragen der Geschlechterrollen in Historiographie, Literatur und Archäologie zwischen 300 und 900 herausgebracht. Der Band deckt nicht nur das frühe byzantinische und abbasidische Reich, sondern auch den lateinischen Westen ab: Brubaker / Smith (Hg.) 2004. 39 Cooper 2013; Dies. 2007. 40 Pirenne 1937. Erstmals veröffentlichte Pirenne den Kern der These in: Ders. 1922; vgl. dazu Carl August Lückerath 2003; Pirenne 1987.
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auch – mit einem Tiefpunkt um die Mitte des 7. Jahrhunderts – den Osten des Reiches.41 Grob gesagt entwickelten sich nun unterschiedliche und kleinere Wirtschaftsund Herrschaftsräume. Nach einem vorläufigen Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in spätrömischer Zeit sei es jedoch bereits im 8. Jahrhundert – und nicht erst im Hochmittelalter – zu einem bemerkenswerten Aufschwung gekommen. Das fränkische Westeuropa stand dabei in enger Verbindung mit Byzanz und der islamischen Welt, hinzu trat verstärkt das nördliche Europa mit neuen Handelswegen und Möglichkeiten. Im späten 8. Jahrhundert begann sich Venedig als Zentrum des Warenverkehrs zu etablieren. Keineswegs, so die grundlegende Aussage McCormicks, habe die arabische Expansion den Mittelmeerraum gespalten und Europa isoliert, ganz im Gegenteil nahmen Austausch und Kommunikation zu.42 Chris Wickham (geboren 1950), Professor für Mittelalterliche Geschichte in Oxford, hat 2005 mit seinem Framing the early Middle Ages ein Buch vorgelegt, das für lange Zeit ein Standardwerk bleiben dürfte. Wickham versuchte eine ehrgeizige Zusammenschau und behandelte das gesamte Gebiet des Römischen Reichs und seiner Peripherie (Irland, Skandinavien und die Germania nördlich und östlich der Grenzen an Rhein und Donau) für den Zeitraum von 400 bis 800, also von Theodosius I. bis Karl dem Großen. Das mehrfach ausgezeichnete Buch wurde und wird im deutschen Sprachraum allerdings viel zu wenig rezipiert.43 Die Abschnitte States, Aristocratic Power-structures, Peasantries und Networks gliedern die Darstellung und sind ihrerseits in Unterkapitel mit geographischer und chronologischer Spezifizierung geteilt. Mit verschiedenen methodischen Ansätzen (klassischer Quellenkritik, Wirtschaftsgeschichte, Archäologie) und einer großen Breite von Quellen und Forschungsliteratur – entsprechend ergibt sich der Umfang von annähernd 1.000 Seiten – entwirft Wickham ein Bild des 41 Zu ähnlichen Resultaten kommt Brandes 2003. Mischa Meier hat 2003 ein voluminöses Werk zu mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen auf Basis der Katastrophen und ihrer Bewältigung in der Regierungszeit Justinians vorgelegt: Meier 2003. 42 McCormick 2001/2002, S. 798: »Pirenne argued that without Muhammad, there would have been no Charlemagne. Although we must now situate the moments and stages of economic decline from antiquity elsewhere in time, space, and causality, yet there remains fundamental truth in his overall insight, that the rise – and economic consolidation – of Islam changed the nature of an emerging European economy. But it did so not so much by applying the coup de grace to a moribund late Roman exchange system in the 600s. A century later it offered the wealth and markets which would fire the first rise of western Europe, a rise whose rhythms we can detect in the movements of diplomats, pilgrims, warriors, merchants, and, I think, slaves, as a new Europe and its satellite societies exported its own human wealth in exchange for the wealth of goods and species of the House of Islam. So in a paradoxical and profound sense, perhaps Pirenne was right, even when he was wrong: without Muhammad, there would have been no Charlemagne.«. 43 Wickham 2005.
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werdenden Europas. Wichtig ist ihm dabei die Spannung zwischen überregionalen und kleinräumigen Strukturen, um ein Bild der Epoche zu erhalten. Eine seiner Grundthesen ist die Entwicklung von »peasant-mode economies« zu mittelalterlichen »feudal-mode economies«. Das römische Steuersystem verschwand, und die landbesitzende Aristokratie sowie die Kirche trugen nun die westlichen Gesellschaften, ganz im Gegensatz zu Byzanz und der arabischen Welt, wo Wirtschaft und Gesellschaft weiterhin auf einem Fiskalsystem basierten. Wirtschaftsgeschichte und Archäologie sind selbstverständlicher Teil der Analyse. Wickham kann – unter ständigem Rückbezug auf McCormick und archäologische Ergebnisse – überzeugend zeigen, dass der frühmittelalterliche Austausch von Gütern auf dem Mittelmeer viel umfangreicher als oft angenommen war.44 Die Vielfältigkeit und Breite seiner Arbeit zeigt zugleich exemplarisch, was ein Historiker heute zu leisten hat.45 Die Ergebnisse der intensiven Debatten, die McCormick und Wickham ausgelöst haben, lassen sich bei allen gegensätzlichen Standpunkten wie folgt zusammenfassen: Gerade Studien zur Spätantike und zum frühen Mittelalter tendieren zu einer Beschränkung auf bestimmte Räume. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas war ein langfristiger, regional unterschiedlicher und komplexer Prozess, so schnell auch die politischen Strukturen sich änderten. Generell ging die Bevölkerung zurück, die Städte verloren an Bedeutung, Handel und Produktion fielen auf ein einfacheres Niveau zurück. Gleichzeitig war eine eingeschränktere Elitenkultur in vielen Gegenden für die Landbevölkerung eine gewisse Erleichterung, denn die Produzenten hatten weniger für Arbeitsteilung, Luxuskonsum, Staatsapparat und Bauprogramme abzugeben, die soziale Dynamik nahm zu. Die militärischen und politischen Einschnitte spielten natürlich eine große Rolle, reichen aber nicht aus, um die folgenschweren Prozesse in der Entwicklung zum europäischen Mittelalter alleine zu erklären.46
44 Den diesbezüglichen Forschungsstand (unter Einbeziehung der Nord- und Ostsee) markiert der Sammelband Gelichi / Hodges (Hg.) 2012. 45 Erwähnt sei auch Wickham 2009: Das Buch behandelt den Westen und den Osten – das merowingische, karolingische und ottonische Europa wie Byzanz und die arabische Welt – vergleichend bis in das beginnende 11. Jahrhundert. 46 Wickham 2005, S. 831, Anm. 18: »Social change is overwhelmingly the result of internal factors, not external influences.« Vgl. zur enormen Verbreiterung der nötigen Quellenbasis und zur Debatte wie Kritik um und an Wickhams Vorschlägen: Shaw 2008; Giardina / Gelichi / Cammarosano / Delogu / Wickham 2006; Haldon 2008.
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Das Reich und seine Barbaren – Spätantike und »Völkerwanderung«
Barbarian Migrations and the Roman West von Guy Halsall (geboren 1964), Professor für Geschichte des Mittelalters in York, zeichnet sich durch eine große Klarheit in Sprache, Argumentation und Gedankenführung sowie einen bemerkenswert umfangreichen kritischen Apparat aus, der es im Grunde schon zum Handbuch macht. Es liegt damit ein künftig unbedingt zu berücksichtigendes Standardwerk für das Verständnis der so genannten Völkerwanderung und der Desintegration des römischen Westens zwischen 376 und 568 – der Ankunft der Langobarden in Italien – vor. Auch Halsall bezieht archäologische Ergebnisse stetig in seine Analyse ein. Auf den Punkt bringt es die Kapitelüberschrift A world renegotiated: Western Europe, 376–550. Die Übernahme der Macht in Gallien, Spanien, Afrika und Italien durch ›barbarische‹ Militäreliten sei – so Halsall – eine beinahe logische Konsequenz einer jahrhundertelangen Symbiose zwischen ›Barbaren‹ und Römern gewesen.47 Dass Peter Heathers drei Bücher zur Völkerwanderungszeit, die zwischen 2006 und 2013 erschienen sind, auf dem englisch- wie deutschsprachigen Buchmarkt vergleichsweise erfolgreich waren, verwundert nicht. Der 1960 geborene Professor für mittelalterliche Geschichte am King’s College in London ist ein brillanter Erzähler und weiß die Leserschaft zu fesseln. Sein Fall of the Roman Empire von 2005 beginnt die Reihe.48 Seit Otto Seecks und Ernst Steins Gesamterzählungen zur Spätantike aus den 1920er Jahren hat sich kein Autor mehr an eine Gesamtdarstellung gewagt. The Fall of the Roman Empire ist eine mehr als deutliche Anspielung auf Edward Gibbon. Im Gegensatz zu Ernst Stein blickt Heather bei seiner Darstellung von der Schlacht von Adrianopel bis zur Absetzung des Romulus Augustulus 476 jedoch nicht nach Osten, und so kommen die Ereignisse in Konstantinopel, Syrien und Ägypten oder die Geschichte der Sasaniden nur am Rande vor. Er konzentriert sich auf den Untergang Westroms, die Goten, Vandalen und Hunnen, sowie auf die politische und militärische Geschichte. Heather hält äußere Angriffe auf das Imperium, das in der Spätantike die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht habe, für die Hauptursache der Entwicklungen. Für ihn spielen die Hunnen eine entscheidende Rolle bei der Auslösung einer recht traditionell verstandenen Völkerwanderung. In gewisser Weise ist Heathers Geschichte ein Kontrapunkt zu Wickham: Heather ist nämlich ein klassischer und begabter Erzähler, der sich aber beinahe ausschließlich auf die schriftliche Überlieferung stützt und wenig von Theorien und Methodenreflexion hält. Die
47 Halsall 2007. 48 Heather 2006.
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Archäologie, die Wirtschafts- und Geistesgeschichte oder die Analyse der Mentalitäten und Institutionen spielen bestenfalls eine Nebenrolle.49 Bryan Ward-Perkins (Trinity College, Oxford) betonte in einem kurzen und prägnanten Büchlein die Brüche nach dem Ende der römischen Herrschaft im Westen. Auch dieses Werk erreichte hohe Verkaufszahlen. Material- und kenntnisreich und unter Einbeziehung der Archäologie möchte Ward-Perkins in teils polemischer Manier eine seiner Ansicht nach politisch korrekte Forschungsrichtung – er nennt diese »new Late Antiquity« und meint sowohl Peter Browns Ansätze als auch jene der »Transformation of the Roman World« – überwinden. Alle Ansätze, die eine Umgestaltung der römischen Welt gegenüber klaren Brüchen zwischen Mittelalter und Antike betonen, seien letztlich nur dazu gedacht, Harmonie in der heutigen europäischen Union historisch zu legitimieren. Ein solcher Standpunkt beruht wiederum stark auf britischen Sichtweisen. Ausgehend vom materiellen Befund konstatiert Bryan Ward-Perkins, dass die Spätantike eben nicht nur von Transformationen, sondern in erster Linie von Verfall geprägt gewesen sei; er benennt auch die Ursachen: Die Barbaren hätten Rom zerstört, ihre Invasionen hätten das fragile Geflecht der römischen Wirtschaft zerrissen, die antike Zivilisation sei in der Folge zusammengebrochen und sei rettungslos verloren gewesen. Im Angriff und in der Freude an polemischer Zuspitzung geht mitunter aber die nötige differenzierte Zugangsweise verloren. Vergleiche mit Peter Heathers Thesen sind möglich, doch ist letzterer weitaus eleganter in seinen Argumenten. Insgesamt kann Ward-Perkins den Leser nicht davon überzeugen, in der Sicht der Jahrhunderte zwischen Antike und Mittelalter Bruch deutlich vor Kontinuität zu stellen.50 Eine wichtige Einführung in die schwer von der Spätantike und dem frühen Mittelalter zu trennende sogenannte Völkerwanderung hat Walter Pohl nun
49 Vgl. zur Kritik an Heathers »Fall of the Roman Empire« die Rezension von Hartmann 2007a. Die beiden folgenden Bände: Heather 2009; Ders. 2013. 50 Ward-Perkins 2006. Vgl. die Rezension von Hartmann 2007b. Der US-amerikanische Altphilologe James Joseph O’Donnell hat dann im Jahr 2008 auch eine eloquente Entgegnung geschrieben, die die tendenziell monokausalen Erklärungen des Niedergangs im Westen durch die reichszerstörenden ›Barbaren‹ kritisiert. So gilt insgesamt: Die lange beendet scheinende Diskussion um den Untergang Roms beginnt sich wieder zu differenzieren und zu beleben: O’Donnell 2008. Zu nennen sind hier auch die populären Bücher des italienischen Mittelalterprofessors an der Universität Piemonte Orientale (Vercelli) Alessandro Barbero. Er pendelt in seinem Buch über die Schlacht von Adrianopel und ihre Folgen zwischen einer differenzierten Sichtweise und weitreichenden – oft wenig überlegten – Schlussfolgerungen: Barbero 2005. Vergleiche historischer Epochen sind dann problematisch, wenn man dazu neigt, zu schnell Projektionen vorzunehmen. Das zeigt die zweite Arbeit Barberos, der die vorindustrielle Welt zu Rate zieht, um Lösungen für die Immigration in das heutige Europa anzubieten. Barbero 2012.
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bereits in zweiter Auflage vorgelegt.51 Herwig Wolframs Buch zum Verhältnis der Barbaren zum Römerreich erschien 2018 ebenso in einer neu bearbeiteten und erweiterten Fassung.52 Magali Coumert und Bruno Dumézil publizierten in der bekannten Reihe Que sais-je? einen Überblick auf dem Stand der Forschung über die sogenannten Nachfolgereiche und die Völkerwanderungszeit. Nicht mehr der in Frankreich übliche Begriff der invasions barbares erscheint im Titel, das Buch heißt vielmehr Les royaumes barbares en Occident.53 Ein ähnliches Büchlein stammt von Stefano Gasparri und Cristina La Rocca: Tempi barbarici ist ein kurzer Überblick vom 6. bis zum 11. Jahrhundert, nicht ohne auch in den Osten zu blicken.54 Hubert Fehr und Philipp von Rummel erweiterten schließlich die Fragestellung durch eine Überblicksdarstellung zur Völkerwanderungszeit in Europa, die auch – und das ist der Vorteil des Werks – das archäologische Material berücksichtigt und nun verschiedene beteiligte Disziplinen zu Wort kommen lässt.55 Schließlich hat Verena Epp, Professorin für Mittelalterliche Geschichte in Marburg, 2004 einen Überblick zur Völkerwanderungszeit geschrieben.56 Hartmut Leppin gehört zu den führenden Spätantikeexperten deutscher Zunge und hat in mehreren Büchern die weltliche und kirchliche Historiographie wie die Kaiser Theodosius und Justinian behandelt.57 Rene Pfeilschifter verfasste einen Überblick zur spätantiken politischen und kirchlichen Ereignisgeschichte, wie auch der Epigraphiker und römische Historiker Ingemar König für den Zeitraum zwischen 337 und 476.58 Der Konstanzer Althistoriker Henning Börm hat den Zerfall der westlichen Reichshälfte mit jenem des Alexanderreichs in den Diadochenkriegen verglichen.59 Der führende Frühmittelalterexperte Ian N. Wood (Leeds, geboren 1950) hat ein Buch über Geschichtsbilder und Auffassungen zum frühen Mittelalter, die »modern origins of the early Middle Ages«, wie er es nennt, geschrieben. Seit der Zeit der Renaissance projizierten europäische Intellektuelle negativ und positiv konnotierte Ursprünge in die betreffenden Jahrhunderte. Ein Beispiel ist etwa der Baron de Montesquieu (1689–1755), dessen Konzepte einer besonderen germanischen Freiheit – vermittelt durch den Begründer der Historischen Rechtsschule Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) – ein langes Nachleben in der 51 Pohl 2005; Innes 2007 ist ebenfalls einführend und bietet eine reiche Literaturschau, jedoch konzentriert sich die Darstellung der Quellen auf englische Übersetzungen. 52 Wolfram 2018. 53 Coumert 2010. 54 Gasparri / La Rocca 2013. Vgl. auch das Studienbuch Borri 2010. 55 Fehr / von Rummel 2011. 56 Postel 2004. 57 Leppin 2000; Ders. 2003; Ders. 2010; Ders. 2011; Ders. 2018. 58 Pfeilschifter 2017; König 2007. 59 Börm 2018.
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deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hatten. Wood historisiert – und das war lange überfällig – nun die gelehrte Beschäftigung mit Spätantike und Frühmittelalter in der europäischen Geistesgeschichte.60 Seit der frühen Neuzeit standen geschichtsmächtige Gruppen im Zentrum historischer Meistererzählungen. Vor allem die Umgestaltung der römischen Welt zwischen Antike und Mittelalter erklärte man durch die Wanderungen von Völkern, mit Dekadenzmodellen und konstruierten nationalen Charakteren.61 Meist wurde eine klare ethnische, kulturelle oder gar rassische Abgrenzung betont, etwa scharf zwischen den postulierten Großgruppen der Romanen, Germanen und Slawen unterschieden. Insgesamt überschätzte die ältere Forschung die Bedeutung ethnischer Identität in historischen Gesellschaften.62 Seit den 1970er Jahren entwickelte sich schrittweise eine differenziertere Zugangsweise. Heute hat sich weitgehend die Einsicht durchgesetzt, die ethnische Identität einer Gemeinschaft zunächst als soziales Phänomen zu definieren.63 Ethnizität ist lediglich ein mögliches Organisationsprinzip, das eine Gesellschaft bewusst wählt und aufrechterhält. Sie ist weder universell, noch eine anthropologische Konstante, sondern beruht auf ganz bestimmten Strategien, angewandt von menschlichen Gruppen in bestimmten kulturellen und historischen Kontexten. Ethnizität bestimmt und gestaltet dabei die soziale Welt. Erich Gruen und Jonathan Hall haben das an der Antike gezeigt, Walter Pohl an der frühmittelalterlichen Welt.64 Franken, Goten, Langobarden und Vandalen setzten ethnische Identität gezielt als politischen Mechanismus ein, als sie ins römische Reich kamen. Die Geschichtswissenschaft und Archäologie haben zusehends Probleme mit dem Überbegriff »Germanen«. Präziser ist es, die einzelnen militärisch und politisch agierenden Verbänden zu unterscheiden. Franken und Vandalen verband keinerlei gemeinsame Agenda, nur ihre Muttersprachen ähnelten sich.65 Jüngst wird nun auch der nur in der deutschsprachigen Wissenschaft so prononciert verwendete Romanenbegriff in Frage gestellt. Ebenso ist der Sinngehalt einer römischen und rhomaischen (byzantinischen) Identität und ihr Nachwirken im
60 Wood 2013. Pohl / Reimitz (Hg.) 2009 verfolgt einen ähnlichen Ansatz und zeigt, wie schriftliche und archäologische Quellen aus dem frühen Mittelalter in West- und Osteuropa zur Legitimation von Nation und Staat eingesetzt wurden. 61 Steinacher 2017a. 62 Ders. 2017b. 63 Vgl. zu diesen Entwicklungen und dem schwierigen und nicht mehr verwendeten Begriff der »Ethnogenese« Anton / Becher / Pohl / Wolfram / Wood 2003; Steinacher 2018. 64 Hall 1997; Gruen 2011; Pohl 2013. 65 Beck / Geuenich / Steuer / Hakelberg 2004. Dick 2008. Dick zeichnet die frühe Entwicklung des Königtums nach und streicht mit einer Perspektive bis in das 8. Jahrhundert die Prägung der ›barbarischen‹ Gesellschaften durch das Imperium heraus.
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frühen Mittelalter zu klären.66 Was bedeutete es tatsächlich, »Römer« zu sein? Der italienische Historiker Andrea Giardina (geboren 1949) hat seine diesbezüglichen Überlegungen zum römischen Italien 2004 in einer zweiten Auflage herausgebracht. L’Italia romana: storie di un’identità incompiuta wird offenkundig nur wegen einer fehlenden Übersetzung so wenig wahrgenommen.67 Untrennbar mit den Goten und der Getica des Jordanes sind grundsätzliche Fragen nach der Bewertung, dem Quellenwert und der Interpretation der Ursprungserzählungen, der origines gentium, die einmal »Volks- oder Stammesgeschichten« genannt wurden, verbunden. Oft handelt es sich bei diesen Berichten vom Herkommen der Goten, Langobarden, Sachsen oder Briten um Bestandteile umfangreicherer Werke (Gregor von Tours, Paulus Diaconus oder die Res gestae Saxonicae des Widukind von Corvey), die wichtige Quellen für das Selbstverständnis politischer Gemeinschaften in der nachrömischen und karolingischen Welt sind. Weiterhin werden intensive Diskussionen über mündliche bzw. schriftliche Überlieferung, die Erzählmotive und die Beziehung zur antiken Literatur bzw. die generelle Topik geführt. Kann man tatsächlich vor- und nichtrömische Traditionen in den Texten isolieren oder handelt es sich um bloße literarische Konstruktionen? Darf man von einer Gattung sprechen oder ist jeder Text einzeln zu analysieren?68 Die Problematisierung durch Walter A. Goffart (geboren 1934) bleibt grundlegend.69 Unterschiedliche Sichtweisen des Verhältnisses zwischen Römern und ›Barbaren‹ sind steter Quell wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach wie vor ist es schwierig, die Forschungen zum spät- und nachrömischen Westen nach Regionen und nicht nach Völkern zu gliedern. War Spanien nur ein Land der Goten? Diesen Eindruck könnte man bekommen, blickt man auf die Zahl der entsprechenden Arbeiten. Andererseits waren die nachrömischen Königreiche, so sehr sie auf römischen Voraussetzungen ruhten, nicht nach Regionen benannt, sondern führten ethnische Bezeichnungen. Die historische Entwicklung verlief in den römischen Provinzen nach keinem Schema, und das gleiche wird für die Ansiedlung der Fremden gegolten haben. Ob es hier Landzuweisungen oder Zuteilungen aus dem weiter bestehenden römischen Steuersystem am Soldaten gegeben hat, bleibt heftig umstritten.70 66 Hägermann / Haubrichs / Jarnut (Hg.) 2004; Pohl / Haubrichs / Hartl (Hg.) 2017; Fehr 2010. 67 Giardina 2004; Pohl / Heydemann (Hg.) 2013a; Dies. (Hg.) 2013b. 68 Anton / Becher / Pohl / Wolfram / Wood 2003; Plassmann 2006; Christensen 2002; Croke 2005; Liebeschuetz 2011b. Coumert 2007: Coumert stellt den Typus der origo gentis als eigene Gattung in Frage und kann die Verankerung der betreffenden Texte (Jordanes, Paulus Diaconus, Gregors von Tours) in der antiken ethnographischen und geographischen Literatur aufzeigen. Reimitz 2015. 69 Goffart 2005b; Ders. 2006. 70 Bei allen Unterschieden in den betroffenen Regionen wurde die Ansiedlung der Fremden – und dies erkannt zu haben, ist das bleibende Verdienst Walter A. Goffarts (Ders. 2006, S. 119–
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Am Rhein entwickelten sich ab dem Ende des 3. Jahrhunderts die neuen Verbände der Franken und Alamannen,71 Burgunder und Thüringer. Im Osten und nördlich der unteren Donau wie des Schwarzen Meeres entstanden verschiedene gotische Gruppen, an der mittleren Donau vandalische. Bemerkenswert dabei ist die Formierung dieser neuen großen Völker im Verhältnis zu den römischen Provinzen. Die Vandalen erhoben ihre Ansprüche als Eroberer und konnten ein Jahrhundert lang die afrikanischen Provinzen regieren.72 Dagegen wurden die Burgunder 443 in der Sapaudia und die Westgoten 418 in Südfrankreich als Besiegte angesiedelt, nachdem sie 416 vor dem römischen Feldherrn kapituliert und zwei Jahre in römischen Diensten gekämpft hatten.73 Als die Ostgoten in Italien erschienen, erhielten sie 488/493 als Beauftragte des Ostkaisers ihre Versorgung.74 Jene Goten, die im ersten Drittel des 5. Jahrhunderts in römischem Auftrag gegen Vandalen, Alanen und Sueben vorgingen, konnten in Südgallien und Spanien eine Herrschaft etablieren, die erst 711 der arabischen Expansion unterliegen sollte.75 Die Erfolgsgeschichte der Franken gipfelte in einem neubegründeten westlichen Kaisertum. Die Forschungsliteratur zu Gallien und der merowingischen und karolingischen Geschichte ist kaum zu übersehen.76
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Archäologien
Unbedingt zu beachten sind die Diskussionen, die in den Archäologien über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer ethnischen Interpretation des spätrömischen, völkerwanderungszeitlichen und merowingischen Materials geführt werden. Gerade für die deutschsprachige Forschung bestehen hier die Möglichkeit
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186; Ders. 1980) – grundsätzlich durch das römische Steueraufkommen finanziert. Enteignungen von Landgütern haben sicher stattgefunden, alleine schon der Besitz der besiegten Gegner wird von Militärs nach entsprechenden Kämpfen eingezogen worden sein. Die zur Versorgung der Armee bestehenden römischen Verteilungsmechanismen haben in unterschiedlicher Form fortbestanden, in Italien anders als etwa in Afrika. Vgl. zum Stand der Debatten Porena / Rivière (Hg.) 2012; Díaz / Viso (Hg.) 2011. Bleckmann 2002; Drinkwater 2007; Geuenich 2005; Ders. 1998. Castritius 2007; Merrills / Miles 2010; Modéran 2014; Vössing 2014; Steinacher 2016. Kaiser 2004. Heil 2011. Zuerst ist hier die bereits 1979 erstmals erschienene Gotengeschichte Herwig Wolframs (geboren 1934) zu nennen: Wolfram 2009. Wolframs bleibende Leistung ist es, die gotische Geschichte in die römische zurück zu ordnen. Die Literatur ist auch hier kaum zu übersehen. Erwähnt sei die neue Theoderichbiographie Wiemer, 2018; Kulikowski 2007; Teillet 2011. Arce 2011; Kulikowski 2004; Panzram 2002; Kampers 2008; Koch 2012; Wood 2012. Esders / Hen / Lucas / Rotman (Hg.) 2019; Meier / Patzold (Hg.) 2014; Hen 2007 zeichnet die neuen Herren Galliens, Italiens und Afrikas als ›barbarische‹ Soldaten und Teil der Elite des sich in neue politische Glieder spaltenden Westreichs.
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und die Verpflichtung, die eigenen Traditionen und Ansätze zwischen Geschichtswissenschaft und Archäologien zu reflektieren. Häufig ist die Übernahme veralteter historischer Meistererzählungen hinderlich bei der Deutung und Einordnung archäologischen Materials. Im Jahr 2008 zeigte zuerst der Palazzo Grassi in Venedig und wenig später die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn die Ausstellung Rome and the Barbarians. The Birth of a New World bzw. Rom und die Barbaren: Europa zur Zeit der Völkerwanderung. Der immense Aufwand zeigt das große öffentliche Interesse am Thema. Die Kataloge sind in verschiedenen Sprachen erschienen. Die École française de Rome hatte die wissenschaftliche Leitung inne. Das präsentierte Material ist eine archäologische Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Zeitraum, die Abbildungen sind von hoher Qualität. Dies gilt auch für die Aufsätze, die allesamt von führenden Experten verfasst wurden.77 Der Freiburger Ordinarius für frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters, Sebastian Brather (geboren 1964), hat mit seiner Habilitationsschrift von 2004 Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie einen Schulenstreit ausgelöst. In diesem Zusammenhang hat der Münchner Emeritus Volker Bierbrauer (geboren 1940) mehrfach entgegnet. Kernpunkt der Auseinandersetzungen ist die Frage, ob archäologische Fundkomplexe – und hier vor allem Grabinventare, Fibeln und weitere Bestandteile der Kleidung – nun bestimmten, klar definierbaren ethnischen Gruppen zugewiesen werden können oder nicht. Vielfach berühren die einschlägigen Diskussionen Grundfragen einer Auseinandersetzung mit den Quellen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen stehen vorläufig recht scharf abgegrenzt gegeneinander.78 Philipp von Rummel steht mit seiner Dissertation Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert mitten in diesen Debatten. War die Kleidung der in den Quellen häufig als ›Barbaren‹ angesprochenen Personen nun eine Manifestation der Zugehörigkeit zum spätrömischen Militär oder doch eine zu einer distinkten ethnischen Gruppe? Von Rummel beantwortet die Frage damit, dass er etwa die Grabausstattung
77 Aillagon / Roberto / Rivière (Hg.) 2008; Frings / Willinghöfer (Hg.) 2008. Simon Esmonde Cleary, Professor für römische Archäologie an der Universität Birmingham, publizierte ein Überblickswerk, das explizit den Anspruch erhebt, eine Gesamtschau zur Archäologie des Westens von der Zeit der Soldatenkaiser bis in das Jahr 500 zu geben. Esmonde Cleary beschränkt sich jedoch – was aus dem Titel nicht hervorgeht – auf das Gebiet der gallischen Präfektur zwischen Gibraltar und dem Rhein, also auf Spanien, Gallien und Britannien: Esmonde Cleary 2013. Neil Christies Arbeit zur Archäologie Italiens zwischen 300 und 800 schließt eine Lücke: Christie 2006. Nun fehlt noch ein entsprechender Überblick zu Nordafrika. 78 Brather 2004; vgl. dagegen Bierbrauer 2004; vgl. auch jüngst Curta 2013, der Brather kritisiert.
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Childerichs als internationale militärische Mode analysiert, die im Reich wie an seiner Peripherie von einer neuen Militärelite getragen wurde.79 Die insgesamt umfangreichen Forschungen zur spätantiken und frühmittelalterlichen Archäologie können hier nicht besprochen werden. Kurz erwähnt sei nur die Diskussion um die Entwicklung der spätantiken Städte.80
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Ausblick: Westen und Osten, Perspektiven zukünftiger Forschung
Viele der besprochenen Überblickswerke zeigen Wege für die zukünftige Forschung auf: Zum einen wird es nötig sein, viel stärker als bisher die Ergebnisse der Archäologien zu berücksichtigen. Dafür sind Wickhams Arbeiten und Ergebnisse das beste Beispiel. Nur unter Berücksichtigung auch kleinräumiger Grabungen kann ein differenzierteres Bild von der Entwicklung der Gesellschaften nach dem Ende der römischen Herrschaft im Westen erarbeitet werden. Die regelmäßige Kommunikation zwischen Geschichtswissenschaft und Archäologien sowie das kritische Überprüfen und Diskutieren der eigenen Ergebnisse sollten selbstverständlicher Teil der Arbeit sein. Zum anderen sind neue Erkenntnisse dann zu erwarten, wenn man oströmisch-byzantinische und arabische Geschichte vergleichend zum lateinischen Westen betrachtet.81 Ähnliches gilt für das sasanidische Persien.82 Globalgeschichtliche Ansätze werden insgesamt zunehmend verfolgt, die Verflechtungen zwischen Ost und West Rahmen einer »langen Spätantike« lägen hier nahe. Der Wiener Byzantinist Johannes Preiser-Kapellerhat dies versucht.83 In der Islamwissenschaft ist das Konzept einer »langen Spätantike« weit weniger umstritten.84 Spätantike arabische Vasallenkonföderationen, etwa jene der wenig bekannten 79 Von Rummel 2007. Im Jahr 2010 erschien zu dieser Problematik der ethnischen Interpretation der Sammelband Pohl / Mehofer (Hg.) 2010. Auch der Sammelband Brather (Hg.) 2008 mit den Ergebnissen einer 2005 in Freiburg veranstalteten Tagung zu »Gräbern, Siedlungen und Identitäten« dieser Jahrhunderte widmet sich dieser Thematik. 80 Rogers 2011; Krause / Witschel (Hg.) 2006; Christie / Augenti (Hg.) 2012; Christie (Hg.) 2004. 81 Der Sammelband Goltz / Leppin / Schlange-Schöningen (Hg.) 2009 enthält Beiträge zu byzantinischen und lateinischen, spätantiken und frühmittelalterlichen Quellen und eröffnet dadurch vergleichende Perspektiven. Esders / Foks / Hen (Hg.) 2019; König 2015. 82 Wichtiges Referenzwerke sind die Encyclopaedia Iranica (vgl. auch die Online-Version: ) und die Zeitschriften »Electrum« und »Bulletin of the Asia Institute«; jüngere Arbeiten: Pourshariati 2009; Daryaee 2008; Ders. 2009. Vgl. auch MosigWalburg 2009; Shayegan 2011; Börm 2007; Canepa 2009. Vgl. auch den Sammelband Börm / Wiesehöfer (Hg.) 2010. 83 Preiser-Kapeller 2018; vgl. Esders 2019. 84 Bauer 2018. Ärgerlich an diesem inspirierenden Essay ist jedoch die grobe und undifferenzierte Behandlung des europäischen Frühmittelalters.
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Ghassaniden, Lakhmiden und Kinda, die in engen Beziehungen zu Rom und zu den Sasaniden standen, rücken ins Blickfeld. Gibt es Parallelen mit anderen Grenzzonen der beiden Imperien? In solchen Vergleichen läge ein enormes Forschungspotenzial.85 Der Zeitraum zwischen 300 und 900 zeichnet sich durch eine zunehmende politische und religiöse Fragmentierung und die Herausbildung neuer Zentren aus. Neben das Lateinische und Griechische traten die Schriftsprachen Syrisch, Armenisch, Georgisch, Koptisch und Arabisch und die sich herausbildenden slawischen, germanischen und romanischen Sprachen mit jeweils eigenen literarischen Traditionen. Die enorme Vielfalt und Breite der Fragen und Probleme kennzeichnen diese Epoche der Ursprünge, werfen aber auch große Probleme bei der wissenschaftlichen Herangehensweise auf. Zukünftige Forschungsarbeit wird kaum von Einzelpersonen zu leisten sein. Die Zusammenarbeit von Kolleginnen und Kollegen mit verschiedenem Ausbildungshintergrund wäre daher bei der Umsetzung unbedingt erforderlich.86 Was lässt sich abschließend festhalten? Die intensiven Forschungen zur Spätantike haben nicht nur zu einem besseren Verständnis der politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen auf dem Gebiet des Römischen und sasanidischen Reiches und zu zahlreichen neuen Detailerkenntnissen geführt, sie haben auch grundlegende Konzepte problematisiert: Die lebhafte Diskussion um die Transformation der römischen Welt bzw. ihren Niedergang und Verfall im Westen stellt die traditionellen Epochengrenzen und die Erklärungsmuster für den ›Untergang Roms‹ in Frage. Auch sind das traditionelle Verständnis wandernder Völker und das Konzept der Ethnizität sowie die Möglichkeit einer ethnischen Interpretation archäologischen Materials Gegenstand einer vielgestaltigen Debatte. Die Veränderungen auf dem Territorium des Römischen Reiches zwischen Diokletian und Karl dem Großen nun als Umgestaltung der römischen Welt zu begreifen und die traditionelle klare Abgrenzung zwischen Antike und Mittelalter aufzugeben, hat allerdings eine Reihe von Konsequenzen: Dieser Ansatz ist nur durchführbar, wenn man über die Fachgrenzen der Geschichtswissenschaft, der Archäologien und Philologien hinweg zusammenarbeitet und wenn man bereit ist, althergebrachte historische Konzepte in Frage zu stellen. Und er ist nur vertretbar, wenn – zumindest in der gedanklichen Konzeption – der gesamte antike Mittelmeerraum, die östlichen Nachbarn und seine frühmittelalterliche lateinisch-westliche, byzantinische und arabische Umgestaltung in vergleichender Perspektive behandelt werden. Die chronologische 85 Fisher 2011. Die im Aufbau befindliche Reihe »Völker, Reiche und Dynastien in der Alten Welt« des Verlags Kohlhammer Stuttgart, herausgegeben von Henning Börm, Udo Hartmann, Sitta von Reden, Robert Rollinger und Timo Stickler wird in diese Richtung arbeiten. 86 Cotton / Hoyland / Price / Wasserstein (Hg.) 2009; Pohl / Gantner / Payne (Hg.) 2012; Cameron (Hg.) 2013; Drews 2009.
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Dimension der Fragestellung zieht sich letztlich bis in das beginnende hohe Mittelalter in West und Ost.
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Alexander Demandt
Römer und Germanen – Feindliche Nachbarn?1
Im 33. Kapitel seiner unschätzbaren Germania erwähnt Tacitus die Katastrophe der Brukterer. Dieser Stamm, der an der oberen Ems wohnte, hatte 9 n. Chr. an der Schlacht im Teutoburger Wald teilgenommen und sich dann 69 n. Chr. in führender Position am Bataver-Aufstand des Julius Civilis beteiligt. Die Seherin Veleda, eine Frau jenes Stammes, rief damals auf zum Kampf gegen Rom. Diese Erfolge hatten das Ansehen der Brukterer gehoben, aber auch den Neid der Nachbarn geweckt. Sie schlossen sich zusammen und fielen über die Brukterer her. 60 000 Germanen, heißt es, seien gefallen.2
1
Urgentibus imperii fatis
Es steht außer Frage, daß Tacitus die Zahl der Toten übertreibt, auch wurde der Stamm nicht, wie er behauptet, völlig vernichtet. Umso bemerkenswerter ist der Kommentar. Die Gunst der Götter, so Tacitus, habe damit den Römern ein erbauliches Schauspiel, eine Augenweide gewährt, indem sich die Feinde Roms gegenseitig aufrieben. Daran schließt der Historiker einen gebetsähnlichen Wunsch: »Maneat, quaeso, duretque gentibus, si non amor nostri, at certe odium sui, quando urgentibus imperii fatis nihil iam praestare fortuna maius potest quam hostium discordiam« – »Möge diesen Völkern, so bete ich, wenn sie uns schon nicht lieben, der Haß auf ihresgleichen erhalten bleiben, da ja »urgentibus imperii fatis« das Schicksal uns nichts Größeres gewähren kann als Zwietracht unter unseren Feinden.« – »Urgentibus imperii fatis« – »Wenn uns das Schicksal in Bedrängnis bringt.«3 1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung des folgenden Aufsatzes: Alexander Demandt, Römer und Germanen. Versuch einer Bilanz, in: Helmuth Schneider (Hg.), Rom und die Germanen, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 271–287. Der Abdruck geschieht mit freundlicher Genehmigung des Böhlau Verlags. 2 Tacitus, Germania 33. 3 Tacitus, Germania 33,2.
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Tacitus sprach aus Erfahrung: Seit zweihundert Jahren, das heißt seit dem Kimbernkrieg, werden die Germanen von den Römern besiegt, »tam diu Germania vincitur«, ohne dass die Gefahr aus dem Norden gebannt worden wäre. Und sie war auch nicht zu bannen. Eine Erklärung dafür suchte Tacitus in der urwüchsigen, naturnahen Lebensweise jener Völker, in ihrer körperlichen Abhärtung, ihrem kriegerischen Sinn, ihrem Kinderreichtum und ihrer Lernbereitschaft, kurz in jenen Eigenschaften, die den überzivilisierten römischen Großstadtmenschen abhandengekommen waren und die das Gegenbild abgaben für die Zeitkritik an der römischen Dekadenz im »corruptissimum saeculum«.4 Tacitus verglich die beiden Gegner Roms im Osten und im Norden und erkannte, dass die Könige der Parther den Römern weniger bedrohlich waren als die Freiheit der Germanen. Den im Unterschied zu den befriedeten Mittelmeervölkern auffälligen Kriegsgeist bestätigen mehrere antike Autoren, darunter Caesar, Seneca, Mela, Pausanias, Julian und Tacitus selbst an weiteren Stellen.5 Dasselbe gilt für ihren durch die Jahrhunderte auffälligen Kinderreichtum. Von ihm sprechen Caesar, Josephus, Ammian und Jordanes. Isidor von Sevilla nennt die Germanen »ferocis animi« und »semper indomiti« und leitet ihren Namen von ihrem Menschenreichtum (»germinare«) ab.6 Völker von hoher Fruchtbarkeit sind schwer zu bezwingen. Militärische und zivilisatorische Überlegenheit kommt auf Dauer dagegen nicht an.
2
Abschreckung
Das Germanenproblem ist nicht von Tacitus zuerst erkannt worden. Bereits Caesar hat es gesehen und mit den beiden Mitteln zu lösen versucht, die für die römische Germanenpolitik bis in den Ausgang der Spätantike unverändert bestimmend geblieben sind. Das eine Mittel war kriegerisch: Abwehr, Abschreckung, Abschottung der Grenzen. Das andere Mittel war friedlich: Aufnahme ins Reich, Anwerbung für den Wehrdienst, Öffnung der Grenzen. Welches Mittel das geeignetere war, welches von beiden, durchgehend angewandt, ein friedliches, gedeihliches Zusammenleben auf Dauer bewirkt hätte, darüber waren sich die antiken Zeitgenossen ebenso wenig einig wie die modernen Historiker. Es fragt sich eben, ob in der Politik eher Konsequenz oder eher Flexibilität zum Ziele 4 Tacitus, Historien 2,37,2. 5 Caesar, Bellum Gallicum 1,1,4; 4,1,3; 6,21,3; Seneca, De ira 1,2,3; Ders., Naturales quaestiones 6,7,1; Mela 3,3,26ff.; Pausanias 8,43,6; Julian, Misopogon (359 B); Tacitus, Historien 4,16; Ders., Annalen 13,54. 6 Caesar, Bellum Gallicum 4,1; Josephus, Bellum Judaicum 2,16,4; Ammianus Marcellinus 27,10,5; 28,5,9; Jordanes, Getica 4,25; Isidor, Etymologiae 9,2,97; 14,4,4.
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führt, und wo die Grenze der Zumutbarkeit liegt, wenn es um den Wehrdienst der Bürger oder um die Aufnahme von Fremden geht. Integrieren sich diese, bereichert dies den Staat. Bilden sich Subkulturen, entsteht Sprengstoff. Die Abschreckungsmaßnahmen begannen mit Caesars zweimaligem Rheinübergang. Es folgten die groß angelegten Versuche unter Augustus, die Elbgrenze zu erreichen. Der 9 n. Chr. aufgegebene Versuch einer Stadtgründung in Waldgirmes an der mittleren Lahn bestätigt das Projekt des Kaisers.7 So wie die Gallier, glaubte man auch die Germanen romanisieren und zivilisieren zu können. Das aber scheiterte, keineswegs nur wegen der Heldentat des Arminius im saltus Teutoburgensis. Germanien besaß keine durchgehenden Wasserwege von West nach Ost, die den Verkehr und die Versorgung der Legionen ermöglicht hätten. Auf der Lippe kam man bis Anreppen, auf der Lahn bis Waldgirmes, auf dem Main bis Marktbreit. Das war zu wenig. Germanien besaß auch keine oppida wie Bibracte, Gergovia und Alesia, mit deren Erstürmung und Besetzung feste Punkte der Herrschaft gegeben wären. Die Zerstörung von Mattium8 blieb ein kurzer Erfolg; das caput gentis war vermutlich nicht mehr als ein heiliger Hain und ist darum archäologisch nicht identifizierbar. Germanien besaß schließlich auch keine erkennbaren Metallvorkommen oder andere Bodenqualitäten.9 All dieses bewog Augustus, das kostspielige Annexionsprojekt aufzugeben, die Legionen hinter den Rhein zurückzuziehen. Die Rachefeldzüge des Germanicus unter Tiberius gingen ins Leere. Sie haben die Gegenschläge der Chatten nicht verhindert. Erst der Bau des Limes stiftete eine längere Ruhepause an der westgermanischen Grenze. Es brodelte dann wieder an der mittleren Donau. Unter Marc Aurel fielen die Markomannen und Quaden in Italien ein, die Kämpfe zogen sich mit kurzer Unterbrechung über vierzehn Jahre hin. Wie die Reliefs der Marcus-Säule in Rom zeigen, bekämpfte Marc Aurel wiederum Germanen mit Germanen. Aber der Krieg endete unentschieden. Die Grenze blieb die Donau. Im dritten Jahrhundert änderte sich die politische Großwetterlage. Damals bildeten sich in den Stammesverbänden der Alamannen, Franken und Sachsen neuartige große Kampfgemeinschaften im Westen, die Gallien, Norditalien und Spanien plünderten, während im Osten Goten und Heruler die Donauländer und Kleinasien heimsuchten. Durch den engen Kontakt mit den Römern hatten die Germanen ihre Taktik und ihre Bewaffnung modernisiert: Kämpften die Cherusker wenigstens teilweise noch mit feuergehärteten Holzspießen,10 so trugen 7 8 9 10
Becker / Rasbach 2003. Tacitus, Annalen 1,56. Das wurde schon in der Antike gesehen: Tacitus, Germania 5,2. Tacitus, Annalen 2,14,3.
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die Nordmänner nun Spatha und Sax, vielfach aus römischer Produktion, übernahmen sie die lange verpönten Fernwaffen, entwickelten Nadelspitzpfeile gegen Kettenhemden, panzerbrechende Streitäxte gegen Schild und Helm, so dass sie nun den Römern auch in offener Feldschlacht begegnen konnten. Die seit Augustus an die Germanen gezahlten Stillhaltegelder, die römische »Entwicklungshilfe« erlaubte es, den Militärsektor zu modernisieren. Damit waren neue Versuche erforderlich, das Germanenproblem auf militärischem Wege zu lösen. Nach zahlreichen empfindlichen Niederlagen der Römer gelang dies erst unter Diocletian und Constantin, allerdings wieder nur vorübergehend. Die Kämpfe fanden zumeist auf römischem Boden statt, wenn auch Kaiser wie Julian, Valentinian und zuletzt Gratian immer wieder einmal jenseits des Rheins Vergeltung übten. Seit der Katastrophe von Adrianopel 378 waren die Germanen aus dem Reich nicht mehr zu verdrängen.
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Ansiedlung
Neben den militärischen Abwehrmaßnahmen haben die Kaiser von Anfang an auch eine friedliche Germanenpolitik betrieben. Bereits Caesar hat germanische Reiter angeworben. Augustus und die julisch-claudischen Kaiser hielten sich eine germanische Leibwache, die großenteils aus Batavern rekrutierten corpore custodes, die dann Galba nach dem Tode Neros in die Heimat am Niederrhein entließ.11 Caracalla wiederum benutzte seine germanische Garde, seine leones, als Gegengewicht gegen die Prätorianer. Die Bereitschaft germanischer Krieger, für Rom zu kämpfen, spricht schon aus der Biographie des Arminius. Sein Bruder Flavus diente noch unter Germanicus. Das von Tacitus mitgeteilte Streitgespräch der Brüder über die Weser hinweg zeigt Motive auf, die hinter einem prorömischen Verhalten von Germanen standen: es ist die Bewunderung für die Größe des Reiches und die Milde des Kaisers, der nicht einmal Thusnelda und ihren Sohn als Kriegsgefangene behandle, stand doch selbst Segestes, der Schwiegervater des Arminius, auf römischer Seite.12 Wo es irgend anging, haben die Römer mit den germanischen Fürsten Frieden geschlossen. Abgesehen von der Einberufung germanischer Krieger haben die Römer den Bevölkerungsdruck auf die römische Grenze auch dadurch zu mildern versucht, dass sie Germanen in erheblicher Zahl ins Reich aufgenommen haben, seitdem schon Agrippa im Auftrag des Augustus den gesamten Stamm der Ubier auf die 11 Sueton, Augustus 49; Ders., Nero 34; Ders., Galba 12; Dio 56,23; Mommsen 1952, S. 808f. 12 Tacitus, Annalen 2,9f.
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linke Rheinseite im Umland von Köln mit Grund und Boden versorgte.13 Wir hören von der Aufnahme vertriebener Sweben und Sugambrer und von 40 000 Umsiedlern durch Tiberius am Rhein noch unter Augustus.14 Solche Transaktionen erfolgten auch strafweise, um die Germanen als Deditizier unter Kontrolle zu bekommen. War dies bedenklich, dann verweigerte Rom die Ansiedlung. So hatten die Amsivarier mit ihrem Wunsch nach einem römischen Ödlandstreifen am Niederrhein unter Nero keinen Erfolg, doch wurden damals nach inschriftlichem Zeugnis angeblich mehr als 100 000 Anwohner der Donau samt ihren Fürsten, Frauen und Kindern in Moesien angesiedelt.15 Da Inschriftfunde zufällig sind, verbirgt sich hinter jedem von ihnen eine Dunkelziffer gleichartiger Zeugnisse. Somit dürfte die Zahl der Umsiedlungsaktionen deutlich höher liegen, als uns erkennbar ist. Marc Aurel belohnte die Donaubarbaren je nach ihrer Haltung zu Rom mit Subsidien und Land, mit Steuerfreiheit und Bürgerrecht.16 Als die um Ravenna angesiedelten Marcomannen Unruhe stifteten, schickte der menschenfreundliche Kaiser sie wieder zurück über die Donau.17 Im 3. Jahrhundert beginnt die Landnahme der Alamannen im Decumatland und der Franken in der Provinz Belgica. Trotzdem ging die Politik der Ansiedlung und Anwerbung weiter. Valerian zog mit gotischen Hilfstruppen gegen die Perser zu Felde; Gallienus ehrte den Herulerfürsten Naulobatus mit den Konsularinsignien und erhob die Markomannenprinzessin Pipa zur Nebenfrau.18 Rom war allzeit fremdenfreundlich. Claudius Gothicus nahm wehrpflichtige Goten auf; Probus verpflanzte Vandalen nach Britannien und Bastarnen nach Thrakien,19 hatte aber mit den am Schwarzen Meer angesiedelten fränkischen Gefangenen kein Glück. Diese unverschämten Germanen kaperten nämlich Schiffe der Donauflotte, entkamen auf hohe See, durchquerten die Meerengen, plünderten Samos und den Piräus, setzten Syrakus und Karthago in Schrecken, segelten durch die Straße von Gibraltar und den Golf von Biskaya und erreichten wohlbehalten und frohgemut die Heimat.20 Unter Diocletian wurden wiederum Franken über den Rhein geholt, Carpen und andere Völker von jenseits der Donau eingebürgert;21 Constantin siedelte 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Strabon 4,3,4; Sueton, Augustus 21. Dio 54,36,6; Sueton, Tiberius 19. Tacitus, Annalen 13,55f.; Dessau, Inscriptiones Latinae Selectae, Bd. 1, Nr. 986. Historia Augusta, Marcus 24,3. Dio 71,11; 19; Historia Augusta, Marcus 22,2. Synkellos 717; Aurelius Victor 33,6. Historia Augusta, Claudius 9; Zosimos 1,68,3; 71,1. Zosimos 1,71,2. Panegyrici Latini 6,5,3; 8,21,1; Lactanz, De mortibus persecutorum 38,6f.; Ammianus Marcellinus 28,1,5.
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Sarmaten in Thrakien an und Valentinian Alamannen in der Po-Ebene.22 Rom gewann durch diese Politik Söldner, Siedler und Steuerzahler. Während der Differenzen unter den Söhnen Constantins begann die zweite Welle eigenmächtiger Landnahme von Germanen im Reich. Als Julian 355 das Regiment in Gallien antrat, hatten sich im Elsass bereits Alamannen festgesetzt, die er 357 bei Straßburg zur Unterwerfung zwang. Ebenso waren salische Franken in der Belgica sesshaft geworden. Auch sie wurden besiegt, jedoch in ihren neuen Wohngebieten belassen. Sie mussten die Oberhoheit des Kaisers anerkennen, vermutlich in Form von Rekrutenstellung, lebten indessen auf Reichsboden nach eigenem Recht unter eigenen Fürsten. Nach gleichem Muster vollzog sich dann die folgenreiche Ansiedlung der Westgoten 382 an der unteren Donau. Die Germanen hatten 378 bei Adrianopel Kaiser Valens besiegt und das oströmische Heer nahezu vernichtet, mussten somit geduldet werden und lebten fortan als Föderaten auf Reichsboden, unabhängig von der Provinzialverwaltung. Die seitdem unkontrollierbare Flussgrenze wurde zum Einfallstor weiterer germanischer und hunnischer Scharen. Die Rheingrenze war ebenso brüchig. Sie hielt bis zum Jahresbeginn 407, als Vandalen, Alanen, Sweben und mitziehende Pannonier in Gallien einfielen,23 sich im Reich festsetzten und nicht mehr zu bezwingen waren. Die veränderte Machtlage hatte fatale Konsequenzen für die Einbürgerungspolitik. Die zu Abertausenden im Reich lebenden zumeist unfreien Germanen machten gemeinsame Sache mit den Landsleuten von draußen. In hellen Scharen liefen die Bergleute auf dem Balkan, die Sklaven von Rom und die Landarbeiter in Spanien zu den Goten, zu ihren Befreiern, über und halfen beim Plündern.24 Die Kaiser arrangierten sich mit den Germanen in Form von Bündnissen. Rom zahlte Subsidien, die Germanen stellten Rekruten. Die Goten im Reich kämpften im Dienste Roms, aber im eigenen Interesse, im Wechsel für oder gegen den Kaiser. So entschied Alarich 394 zwar die Schlacht am Frigidus für Theodosius, aber im Jahre 410 eroberte er Rom. 418 wurde das foedus mit den Westgoten erneuert, und 451 besiegten sie im Bunde mit Aëtius, dem »letzten Römer«, Attila und die Hunnen auf den Katalaunischen Feldern. Auch der Osten blieb auf germanische Söldner angewiesen. Marcian übernahm Goten, Rugier und Skiren, aber ebenso Alanen, Sarmaten und Hunnen in die entblößten Donauprovinzen. Die Römer konnten sohin weder mit den Germanen noch ohne sie auskommen. Die römische Germanenpolitik war in beiden Varianten gescheitert: weder die Abwehr noch die Ansiedlung konnte das Problem lösen.
22 Ammianus Marcellinus 28,5,15. 23 Zosimos 6,3,1; Orosius 7,40,3. 24 Ammianus Marcellinus 31,6,6; Zosimos 5,42; Salvianus, De gubernatione Dei 5,21.
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Aurum tironicum
Jeder Misserfolg wirft die Schuldfrage auf. Dabei setzen wir voraus, dass vermeidbare Fehler begangen wurden, und das ist in unserem Falle fraglich. Denn wir messen den Erfolg an einer Absicht, die keineswegs immer klar ist. Fraglos wollten die Römer ihr Imperium erhalten, was misslang; aber zugleich wollten sie auch die erreichte Wohlfahrt genießen, ohne den lästigen Wehrdienst leisten zu müssen. Das gelang, aber nur eine Weile. Schon seit augusteischer Zeit gibt es Anzeichen für einen Widerwillen gegen den Wehrdienst, zunächst in der Oberschicht.25 Die Rekrutierungsgebiete verlagerten sich in die wirtschaftlich zurückgebliebenen Provinzen, namentlich die Donauländer. Die alten Kulturländer Ägypten, Griechenland und Italien stellten längst keinen militärischen Nachwuchs mehr. Wahrscheinlich schon seit severischer Zeit gab es im Reich die Möglichkeit, die Wehrpflicht durch Geld abzulösen. Die Zahlung dieses Rekrutengoldes, des aurum tironicum oder temo, wurde den munera sordida, den niederen, den schmutzigen Diensten zugerechnet. Im Jahre 319 befreite Constantin alle Hofund Staatsbediensteten von dieser verhassten Pflicht. Im Jahre 346 wurden zusätzlich die Bürger von Konstantinopel vom Wehrdienst entlastet, so wie dies zuvor bereits für Rom verfügt worden sein muss.26 Befreit waren zudem die Kleriker und Mönche, die im Osten zu Tausenden die Klöster füllten. Als angesichts der Gotengefahr Kaiser Valens dort rekrutieren wollte, gab es einen Aufschrei.27 Die Höhe der Ablösungsprämie schwankte. Ab 410 mussten 30 Goldstücke für jeden nicht gestellten Wehrpflichtigen gezahlt werden, das wurde 444 bestätigt.28 Schon 397 wurde aus dem Recht zur Geldablösung eine Pflicht.29 Der Kaiser war mehr am Gold als an reichsangehörigen Kriegern interessiert. Zwei Gründe standen dahinter: zum einen waren die Germanen, die man von der Rekrutensteuer bezahlte, bessere Soldaten als die Provinzialen, die mit Vorliebe desertierten; und zum anderen blieb ein Teil der Steuer beim Fiskus und seinen Angestellten kleben. Diese arbeitsteilige Regelung sagte allen Beteiligten zu: Die Grundbesitzer behielten ihre Landarbeiter und damit ihren Wohlstand, den Römern blieb das Waffenwerk erspart. Die Germanen, jene laeta bello gens30, kämpften lieber als zu schuften, vergossen lieber Blut als Schweiß und hatten ihren sicheren Sold. Die Kaiser nahmen mehr Steuern ein als sie Löhne auszahlen mussten, sie verdienten an diesem Geschäft und genossen das Wohlwollen ihrer 25 26 27 28 29 30
Tacitus, Annalen 4,4. Codex Theodosianus 6,35,3; 11,16,6; 16,14f.; 16,19. Hieronymus, Chronik zu 375. Codex Theodosianus 7,13,10; Novella Valentiniani 6,3,1. Codex Theodosianus 7,13,7; 13;13f. Tacitus, Historien 4,16,1.
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Untertanen. Das schien eine vorzügliche Interessenpolitik. Allen war gedient, allerdings nur vorübergehend. Zu Recht bemerkte Machiavelli: »Denn Gold genügt nicht, um gute Soldaten zu schaffen, aber gute Soldaten genügen gar wohl, um Gold herbeizuschaffen.«31 Kluge Zeitgenossen ahnten das. Der Militärexperte Vegetius kritisiert die Wehruntauglichkeit der Römer.32 Mehrfach kommt Ammianus Marcellinus auf die Kehrseite dieser Politik zu sprechen. Er kritisiert die Freude von Constantius II. darüber, mit der Ansiedlung von Sarmaten zugleich Krieger gewonnen zu haben, da die römischen Provinzialen lieber Gold gäben, als selbst zu dienen, was dem Römischen Reich schließlich schwer geschadet habe. Vermutlich hatte er dabei schon die Übernahme der Westgoten 376 im Auge, denn bei dieser Gelegenheit wiederholte er seine Ablehnung jener Praxis, die Valens und sein Hof des Gewinnes halber betrieben.33 Der zweite Kritiker der militärischen Situation neben Ammian war Synesios von Kyrene. In seiner Rede über das Herrscheramt forderte er den jungen Kaiser Arcadius auf, seinen behaglichen Palast zu verlassen und an der Spitze des Heeres gegen die Goten zu ziehen. Es sei unerträglich, wie diese über die römische Toga spotteten, unter der man das Schwert nicht ziehen könne. Mit dieser Mahnung zum Patriotismus fand Synesios jedoch keinen Anklang, die Söhne und Nachfolger des Theodosius überließen die Kriegsführung ihren Heermeistern und den Föderaten.34 Als dritter erhob der Presbyter Salvianus von Massilia seine warnende Stimme. In seiner Schrift von 440 De gubernatione Dei hielt er den Zeitgenossen das Bild der republikanischen Zeit vor Augen: damals lebten die Bürger einfach, aber der Staat war stark; heute sonnten sie sich im Wohlstand, aber der Staat sei schwach. Die Lage der Barbaren, schreibt er, ist besser als die unsere, weil bei uns Laster und Vergnügungssucht regieren, bei jenen aber die alten Sitten herrschen. Wir zerstreuen und zerstreiten uns, aber die Germanen halten zusammen. Früher bezogen wir Tribute von den Barbaren, heute zahlen wir an sie. Gott fördert die tugendhaften Barbaren und straft die verderbten Römer, die nur noch an Theaterspiele und Wagenrennen denken. Mit uns geht es bergab, die res publica Romana ist am Ende. Rom stirbt und lacht, »moritur et ridet«.35
31 32 33 34 35
Machiavelli, Discorsi II,10, S. 194. Vegetius 1,28. Ammianus Marcellinus 19,11,7; 31,4,4. Eunap, Fragment 55 Blockley. Salvianus, De gubernatione Dei 1,11; 3,2; 3,44; 4,21; 6,8f.; 7,49; 7,6.
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Vom Heermeister zum Herrscher
Betrachten wir nun die Folgen der Germanenpolitik, die zwischen Abwehr und Anwerbung pendelte. Deutlich ist ein Machtverlust der kaiserlichen Zentralgewalt, entsprechend dem Machtgewinn der germanischen Kämpfer im römischen Solde. Deren Aufstieg bahnte sich bereits unter Constantin an. Er selbst war 306 im Heer seines Vaters durch den Alamannenkönig Crocus, den Offizier einer Auxiliareinheit, zum Kaiser ausgerufen wurden;36 und die Elitetruppen, mit denen er 312 die Entscheidungsschlacht gegen Maxentius gewann, bestanden großenteils aus germanischen Kriegern, wie Zosimos bezeugt.37 Der Sieg verdankte sich wohl weniger dem Christogramm auf den Schilden als den Hörnern auf den Helmen der Cornuti. Die bisher nur als Hilfstruppen verwendeten Söldner hatten sich zum Kernbestand der römischen Wehrmacht entwickelt. So konnte es nicht ausbleiben, dass Germanen in militärische Führungspositionen aufstiegen. Gallienus hatte die Senatoren als Salon-Offiziere vom Heeresdienst ausgeschlossen38, um Aufsteigern aus allen Schichten die höhere Offizierslaufbahn zu eröffnen und damit das Heer zu professionalisieren. Diese Chance nutzten zunehmend germanische Söldner. Seit Diocletian finden wir Germanen im Generalsrang. Constantin sodann musste sich von Julian vorwerfen lassen, als erster Barbaren zum Konsulat erhoben zu haben39, vermutlich handelt es sich um Ursus, der 338 Konsul wurde. Folgenreicher aber war die von Constantin eingerichtete Stellung von Heermeistern, die den Oberbefehl über das Fußvolk und die Reiterei führten. Bereits unter den Söhnen Constantins sind mehrere Germanen in diesem höchsten militärischen Amt nachweisbar, Ammian bezeugt deren Einfluß am Hofe von Constantius II.40 Unter Julian und Valentinian mehren sich die germanischen Heermeister. Nach Valentinians Tod 375 erscheint einer der ihren, Flavius Merobaudes, zum ersten Mal in der Rolle eines Kaisermachers.41 Erst machten die Kaiser die Heermeister, nun machen die Heermeister die Kaiser. Die übermächtige Position dieser Germanen zeigte sich, als Valentinian II. seinen fränkischen Heermeister Arbogast vergeblich abzusetzen suchte und sich 392 daraufhin erhängte. Die Kaiser Arcadius und Honorius, die Söhne von Theodosius, waren mit Töchtern germanischer Heermeister verheiratet. In der Führungsschicht ent36 37 38 39 40 41
Epitome de Caesaribus 41,3. Zosimos 2,15,1; Speidel 2004, S. 48. Eutrop 9,1; Aurelius Victor 33,34; 37,5. Ammianus Marcellinus 21,10,8. Ammianus Marcellinus 14,10,8; 15,5,11. Ammianus Marcellinus 30,10,2ff.
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stand durch Verschwägerung und Erbgang eine römisch-germanische Militäraristokratie, die bestimmend wurde für die Geschichte des Reiches im 5. Jahrhundert, ja für das Frühmittelalter überhaupt. Der Name des Vandalen Stilicho stehe für ein halbes Dutzend ähnlicher »Reichsverweser«. Der mächtigste unter ihnen war der Swebe Flavius Rikimer aus königlichem Geschlecht von Vaters wie von Mutters Seite, römischer Heermeister und Patricius, Gatte der Kaisertochter Alypia und Onkel des Burgunderkönigs Gundobad. Gegen ihn hatten die letzten Kaiser keine Chance. Er hat sie nach Belieben ein- und abgesetzt. Den Senat, den Hort des Römertums, haben die germanischen Machthaber mit Achtung behandelt, doch fanden sie wenig Gegenliebe. Gegen Stilichos Geldforderungen stemmten sich die Senatoren; nach dem Sturz des Vandalen 408 töteten sie auch Frau und Sohn. Das Ende Stilichos in Ravenna und die Ausschreitungen im Osten gegen die römischen Generale Gainas und Fravitta, gegen Aspar und seine Sippe waren sicherlich durch antigermanische Ressentiments bestimmt, bezeugen aber keine grundsätzliche Germanenfeindschaft. Vielmehr entspringen sie Spannungen zwischen verschiedenen militärischen Gruppen, denen ebenso Römer wie Aëtius, Sabinianus und Illus zum Opfer fallen konnten. Eine Feindschaft gegen Barbaren konnte man sich nicht mehr leisten. Auch der Osten kam ja längst ohne Germanen nicht mehr aus, sie genossen noch unter Justinian das singuläre Privileg der Glaubensfreiheit. Noch viel weniger kann man von einer verbreiteten Römerfeindschaft auf germanischer Seite sprechen. Ansätze dazu gab es, aber sie drangen nicht durch. Das lehrt der Streit zwischen beiden gotischen Heerführern Eriulf und Fravitta unter Theodosius.42 Fravitta war bekennender Heide und hatte mit allerhöchstem Einverständnis eine vornehme Römerin geheiratet. An der Tafel des Kaisers gab es Zwist, als Eriulf erklärte, der Treueschwur sei nicht bindend. Vom Wein erhitzt, verließen die beiden den Raum, und draußen erstach Fravitta seinen illoyalen Landsmann. Immer wieder kam es zum Versuch einer Synthese. Das bekannteste Zeugnis von germanischer Seite ist das Wort des Schwagers Alarichs, des Gotenkönigs Athavulf, der 414 die Kaisertochter Galla Placidia heiratete und seinen Sohn von ihr »Theodosius« nannte. Athavulf erklärte, ursprünglich habe er aus dem Imperium Romanum ein Imperium Gothorum machen und den römischen Namen der Vergessenheit anheimgeben wollen. Er selbst habe für die Gothia das werden wollen, was Augustus einst für die Romania gewesen war. Dann aber habe er erkannt, dass die Goten sich Gesetzen nicht fügten, ohne die doch kein Staat zu regieren sei. Darum habe er, Athavulf, beschlossen, sich für die Erneuerung und Erweiterung des Römischen Reiches einzusetzen.43 Ganz in diesem romfreund42 Eunap, Fragment 60 Blockley; Zosimos 6,56. 43 Orosius 7,43.
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lichen Sinne regierten später Odovacar als Patricius und rex Italiae44 und Theoderich der Große als Patricius und rex Gothorum im Namen des Kaisers über Italien.45 Selbst Chlodwig sah sich noch als Hüter des römischen Erbes.46 Die doppelte Legitimation nach römischem Recht und germanischem Brauch war eine Neuerung. Nach strengem Staatsrecht konnte es auf römischem Boden keinen König geben. »Wir haben keinen König denn den Kaiser« riefen die Juden vor Pilatus, und er wertete den Königstitel Jesu rex iudaeorum als Hochverrat. Den Königstitel reservierten die Römer für Klientelfürsten außerhalb des Reiches, wo römisches Recht nicht galt, denken wir an Herodes den Großen, an Juba von Mauretanien oder die Könige von Armenien. In der Spätantike lockerte sich diese Auffassung. Der Militärtribun Crocus, der Constantin zum Kaiser ausrief, wird in unserer Quelle ganz unbefangen als rex Alamannorum bezeichnet. Mehrere der späteren römischen magistri militum barbarischer Herkunft, so Mallobaudes, Bacurius und Gundobad, wurden als rex, regalis oder regulus akzeptiert. Die Befehlsgewalt des Kaisers schwankte mit dem Kräfteverhältnis, das sich bei den Goten seit Alarich entschieden zugunsten der Germanen verschoben hatte. Der Rang eines magister militum oder patricius war schließlich nur noch ein Titel für faktisch unabhängige Heerführer, die seit etwa 400 ihre eigene militärische Gefolgschaft, ihre Bukzellarier besaßen. Die Burgunderkönige des 5. Jahrhunderts konnten sich als kaiserliche milites präsentieren, ohne etwas von ihrer Souveränität einzubüßen. Der römische Titel wurde indes stets vom Kaiser verliehen, der damit als Oberherr wenigstens honoris causa anerkannt wurde. Bezeichnend für die politische Situation in der Spätantike ist, dass sich imperial-römische und gentil-germanische Herrschaftselemente mischen. Das zeigt sich im Zeremoniell und in der Nomenklatur. Julian Apostata wurde bei seiner Kaiserkür 360 in Paris von seinen Kriegern auf den Schild gehoben. Diese germanische Sitte bedeutete die Erhöhung zum Heerführer, ob dieser nun dux, rex oder Augustus, ob er Herzog, König oder Kaiser war. Für die Germanen machte das keinen Unterschied. Auch Prokop sah ihn nicht, als er berichtete, dass die Goten in Ravenna 540 dem Belisar die Herrschaft über den Wesen, die basileia te¯s hesperias als basileus Italio¯to¯n antrugen.47 Denn Belisar antwortete, solange der basileus Justinian lebe, wolle er kein basileus sein. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ist nur aus einer Funktionsgleichheit zu erklären, wie denn auch der Vandalenkönig Gelimer den Kaiser Justinian von basileus zu basileus begrüßte.48 44 45 46 47 48
Malchus, Fragment 10 Blockley. Anonymus Valesianus 61; Ennodius, Panegyricus 7; 9; 11. Gregorius Turensis, Historiae 2,31. Prokop, Bellum Gothicum 2,29,18 und 26. Prokop, Bellum Vandalicum 1,9,20.
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In den lateinischen Quellen wird rex sowohl für den Kaiser als auch für unabhängige Statthalter gebraucht; die Franken titulierten die letzten faktisch selbständigen Heermeister in Gallien Aegidius und Syagrius als reges Romanorum.49 Hatten die Germanenfürsten früher auf römische Würden Wert gelegt, so erscheinen nun römische Offiziere mit germanischen Rangtiteln. Der gleitende Übergang zwischen gentil-germanischer und imperial-römischer Herrschaftsgrundlage, diese staatsrechtliche Grauzone entspricht der Tatsache, dass Römer und Germanen einander nicht als Feinde betrachteten. Es gab kein Feindbild. Als Geiserich 429 mit seinen Vandalen nach Afrika übersetzte, folgte er einem Hilferuf des römischen comes Africae Bonifatius. Hätte der Kaiser den Vandalenkönig, sowie den Gotenkönig Alarich, zum Heermeister ernannt, wäre Geiserich mit einem Federstrich als Römer legitimiert gewesen. Für die afrikanischen Getreidespeicher, die er aufbrechen ließ, hätte er die Schlüssel erhalten. Die wachsende Bedeutung der Germanen im römischen Heer ließ es erwarten, dass irgendwann auch das Kaisertum auf sie übergehen würde. Ob der Usurpator Proculus Franke war, ist ungewiss, doch Magnentius galt als Germane, ebenso Silvanus, der fränkische Heermeister, der sich allerdings 355 nur wenige Wochen in Köln als Kaiser behauptete. Auch Johannes Primicerius konnte sich 429 nicht halten. Die Aspar angebotene Kaiserwürde lehnte dieser ab, um keine Gewohnheit zu stiften50 – was immer das heißt. Mehrere germanische Heermeister haben, so scheint es, versucht, ihre Söhne als Kaiserkandidaten aufzubauen. Das Odium des Barbarentums war nur langsam abzulegen. Stilicho verlobte seinen römisch erzogenen Sohn Eucherius mit der Kaisertochter Galla Placida; Patricius, der Sohn Aspars erhielt den Caesarentitel und 470 die Kaisertochter zur Frau. Odovacar erhob seinen Sohn Thela zum Caesar. Keiner brachte es jedoch zum Kaiser – und dabei blieb es. Stattdessen zeigt sich, wie zunehmend imperiale Elemente in das germanische Königtum übernommen wurden. Bei den Westgoten ist es die Krone, die von den Persern zu den Byzantinern gelangt war; bei den Ostgoten und den Franken ist es der Purpur; bei den Merowingern finden sich vereinzelt schon der AugustusTitel, die Goldprägung und die Anrede für den König dominus noster. Dazu kam das palatium, der Hofstaat, das Kanzleiwesen und die Gesetzgebung. Die Karolinger trugen den ihnen vom Papst eigenmächtig verliehenen Titel eines patricius Romanorum, so dass die Kaiserkrönung Karls des Großen nicht ganz unvermittelt erfolgte. Die Stützung des Papsttums durch Karl und seine Nachfolger bot freilich keine Grundlage für eine solide Synthese zwischen Römern und Germanen, das Verhältnis war und blieb gespannt und gespalten.
49 Gregorius Turensis, Historiae 2,12 und 27. 50 Monumenta Germaniae Historica, Auctores Antiquissimi 12, S. 425.
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Synthese
Das Imperium Romanum war ein Vielvölkerstaat. Aberdutzende von Stämmen wurden assimiliert und integriert. Dauerprobleme gab es nur mit den Juden und den Germanen. Mit den Juden wurde man fertig, mit den Germanen nicht. Sie waren zu zahlreich. Und doch bestand keine Erbfeindschaft. Das Verhältnis zwischen den Römern und Germanen ist von Anfang an geprägt durch gegenseitigen Respekt. Angesichts der unterschiedlichen Zivilisationsstufe äußert sich dieser Respekt aber in jeweils anderer Form. Die Römer achteten die naturwüchsigen, unverdorbenen Sitten der Germanen, das Urteil von Tacitus und 300 Jahre später von Salvianus stimmt wesentlich überein. Auch die Freiheitsliebe der Germanen fand Anerkennung, wenn sie auch chaotische Züge zeigte, so in der Selbstkritik bei Athavulf. Stets bewunderte Rom die robuste Wehrkraft der Nordleute, freilich oft auch ein Grund zur Furcht. Aber man konnte diese Kerle mit den langen Beinen gebrauchen, siedelte sie an und nahm sie in Dienst, sie waren vielleicht doch zivilisierbar. Umgekehrt faszinierte die Germanen Roms kultureller Glanz, der Reichtum in den Provinzen und die Größe des Imperiums. Sie dienten den Kaisern ohne Bedenken auch gegen ihre eigenen Landsleute. Trotz ihrer schließlich offenkundigen Überlegenheit im Felde verstanden sich die Germanen als Schüler der Römer, übernahmen zahllose zivilisatorische Errungenschaften, wählten das Latein als Schriftsprache und nicht das Gotisch der Wulfila-Bibel, wohl aber das Christentum. Nur an das Leben in Städten konnten sie sich nicht so recht gewöhnen.51 Die eigentlich optimale Ergänzung hätte zu einer für beide Völker fruchtbaren und friedlichen Synthese führen können. Das ist auf der politischen Ebene misslungen. Stattdessen ist die Geschichte ihrer Beziehung eine einzige Folge von Versuchen, eine solche Symbiose zu schaffen. Sie missriet. Die Germanenreiche auf dem Boden des Imperiums sind zugrunde gegangen. Gehalten hat sich nur das Frankenreich in Gallien, das aber die römische Tradition nur in erheblich verkürzter Form fortführen konnte. Dieses Resultat stimmt trübsinnig; doch beruht das auf der Erwartung, dass es in der Politik Dauerlösungen geben könne oder gar müsse. Dagegen spricht die historische Erfahrung. Die Pax Romana hat zwar den Frieden unter den Völkern im Reich über Jahrhunderte gewährleistet. Im Verlaufe des Mittelalters aber verdünnte sich die imperiale Idee, die europäischen Nationen befreiten sich von der Einbindung, wurden selbstbewusst und selbständig. Der römisch-deutsche
51 Tacitus, Historien 4,64: Ders., Germania 16; Julian, Brief an die Athener (278 D); Ammianus Marcellinus 16,2,12.
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Reichsgedanke trat zurück hinter das Ideal des Nationalstaates, sogar in Deutschland. Das Deutsche Reich war kein »Reich«, es hieß nur so. In der Neuzeit wurde die imperiale Idee zur Folie für die nationale Selbstverwirklichung. Ebenso wie Arminius bei uns seit dem 16. Jahrhundert, seit Luther, als Befreier gefeiert wurde, haben andere europäische Nationen die Widerstandskämpfer gegen das Imperium als Gründungsheroen geehrt: die Franzosen ihren Vercingetorix, die Belgier ihren Ambiorix, die Engländer ihre Boudicca, die Portugiesen ihren Viriathus, die Tunesier ihren Jugurtha, die Rumänen ihren Decebalus und die Israelis die Männer von Masada. Das neuzeitliche Konzept des Nationalstaates entstand im Gegensatz zur römischen Reichsidee, äußerte sich freilich seit 1914 in katastrophalen Völkerkriegen, so dass wieder der Wunsch nach einer Weltfriedensordnung durchdrang und 1948 zur Gründung der Vereinten Nationen führte. Der Wunsch nach Frieden beruht auf dem Selbstgenuss reicher Völker. Bei armen Völkern kollidiert er mit dem Wunsch nach Wohlstand. Reiche Völker sagen: Friede ist besser als Krieg. Arme Völker sagen: Sieg ist besser als Friede. Treffend bemerkte Vegetius: Es gibt keinen sorgenfreien Besitz von Reichtum, wird er nicht durch Waffen geschützt: »neque enim divitiarum secura possessio est, nisi armorum defensione servetur.«52 Der Schutz ist misslungen. Das Imperium samt seiner hohen Zivilisation ging unter, aber aus der missglückten Politik erwuchs die römisch inspirierte Kultur des Mittelalters.
Literatur Becker, Armin / Rasbach, Gabriele (mit Beiträgen von Susanne Biegert u. a.), Die spätaugusteische Stadtgründung in Lahnau-Waldgrimes. Archäologische, architektonische und naturwissenschaftliche Untersuchungen, in: Germania 81 (2003), S. 147–199. Demandt, Alexander, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1984 (erweiterte und aktualisierte Neuauflage 2014). Demandt, Alexander, Die Germanen im Römischen Reich, in: Ders. (Hg.), Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zu Gegenwart, München 1995, S. 68–80. Demandt, Alexander: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian, 2. Aufl., München 2007. Demandt, Alexander, Römer und Germanen. Versuch einer Bilanz, in: Helmuth Schneider (Hg.), Rom und die Germanen, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 271–287. Dessau, Hermann (ed.), Inscriptiones Latinae selectae, 3 Bde., Berlin 1892–1916. Ferrill, Arther, The fall of the Roman Empire. The Military Explanation, London 1986. Goltz, Andreas, Das Bild der barbarischen ›Kaisermacher‹ in der Kirchengeschichtsschreibung des 5. Jahrhunderts, in: Mediterraneo antico V (2002), S. 547–572. 52 Vegetius 3,3,4.
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Heinze, Richard, Urgentibus imperii fatis (1928), in: Ders. / Erich Burck, Vom Geist des Römertums, Darmstadt 1969, S. 440–454. Johne, Klaus-Peter, Die Römer an der Elbe. Das Stromgebiet im geographischen Weltbild und im politischen Bewusstsein der griechisch-römischen Antike, Berlin 2006. Kaiser, Reinhold, Das römische Erbe und das Merowingerreich, München, Oldenburg 1993. Machiavelli, Niccolo, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn, Stuttgart 1966. Mommsen, Theodor. Römisches Staatsrecht, 2. Bd., 2. Teil, 4. Aufl., Tübingen 1952 (Sonderausgabe der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft). Rugullis, Sven, Die Barbaren in den spätrömischen Gesetzen. Eine Untersuchung des Terminus »barbarus« (Europäische Hochschulschriften Reihe 3, 513), Frankfurt a.M. 1992. Schmidt, Ludwig, Die Westgermanen, München 1938/1940. Schmidt Ludwig, Die Ostgermanen, München 1941. Schmidt, Ludwig, Die Geschichte der Wandalen, München 1942. Speidel, Michael, Ancient Germanic warrios. Warrior styles from Trajan’s column to Icelandic sagas, London 2004.
Lennart Gilhaus
Extremfälle der Gesellschaftsorganisation in den nachrömischen regna – Militär, Gewalt und Integration in den Reichen der Franken und Vandalen
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Einleitung
Im fünften Jahrhundert befand sich das weströmische Reich in Auflösung und auf seinem Boden errichteten verschiedene Kriegergruppen eigene Königreiche. Allerdings stießen diese Verbände waffentragender Männer und ihre Begleiter auf ganz verschiedene Voraussetzungen in den unterschiedlichen Teilen des Reichs. Die rheinischen und nordgallischen Provinzen waren bereits seit dem dritten Jahrhundert n. Chr. immer wieder Einfällen barbarischer Gruppen wie der Franken ausgesetzt. Gleichzeitig wurden fränkische Verbände aber auch ein immer wichtigerer Bestandteil der römischen Grenzverteidigung, bis sie im Laufe des fünften Jahrhunderts nach und nach selbst die Herrschaft in der Region übernahmen. Die Vandalen, die im frühen fünften Jahrhundert innerhalb von weniger als 25 Jahren von der Rheingrenze über die Straße von Gibraltar gelangt waren, trafen in Nordafrika hingegen auf eine Provinzbevölkerung, die von größeren Unruhen, wie sie die Präsenz germanischer Verbände im Norden nach sich gezogen hatte, verschont geblieben war. Franken und Vandalen hatten also ganz unterschiedliche Erfahrungen mit der römischen Administration und den Provinzialen gemacht und auch die verschiedenen Regionen des Reichs selbst hatten sich seit dem späten dritten Jahrhundert aufgrund der äußeren Bedrohungslage ganz unterschiedlich entwickelt. Das Verhältnis zu den Romanen war aber ein entscheidender Faktor für das Funktionieren der regna, da die Kriegergemeinschaften der Franken und Vandalen eine kleine Minderheit in ihren Reichen bildeten.1 Zentrales Identifikationsmerkmal der fränkischen, vandalischen und anderer Krieger war zweifelsohne ihre persönliche Gewaltbereitschaft, auf der ja auch ihre 1 Einen detaillierten Überblick zu den Entwicklungen im Westen des Reichs bietet Goffart 2006 und Halsall 2007; eine kompakte Einführung zur Geschichte der »Völkerwanderung« liefert Pohl 2005.
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erfolgreiche Inbesitznahme von Teilen des Römischen Reiches beruhte. Die Gewaltfähigkeit der gentes wirkte also nicht nur zerstörerisch, auf ihr beruhte auch der Zusammenhalt des Herrschaftsverbands.2 Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, dass es vor allem diese militärische Komponente gewesen ist, die auch das Zusammenleben zwischen den Kriegerverbänden und der ansässigen Bevölkerung bestimmte und damit die Entwicklung der sozialen Ordnung in den regna beeinflusste. Die Königreiche der Franken und der Vandalen sind dabei als Extrembeispiele anzusehen, anhand derer man besonders deutlich die verschiedenen Möglichkeiten der Gesellschaftsorganisation in den nachrömischen regna ausgelotet werden können. Während die vandalische Herrschaft nämlich bis zu ihrem Ende auf einer Trennung zwischen der vandalischen Kriegerelite und einer entwaffneten romanischen Bevölkerung basierte, kam es unter den Merowingern schnell zu einer Fusion der verschiedenen Gruppen und jeder männliche Einwohner Galliens konnte auch Teil der Kriegergemeinschaft sein. Es soll gezeigt werden, dass es vor allem die bereits oben erwähnten, jeweils spezifischen Rahmenbedingungen waren, auf die gentes trafen und innerhalb derer sie sich bewegten, die zu den unterschiedlichen Ausformungen der regna führten. Daher werden in den folgenden Abschnitten zu den Franken und Vandalen zunächst jeweiligen regionalen Entwicklungen und anschließend die Rolle von Gewalt, Militär und Krieg für die Strukturen der beiden regna und für das Zusammenleben mit den Romanen behandelt werden.
2
Das regnum der Franken auf den Grundlagen der gallischen Provinzialgesellschaft
Seit dem dritten Jahrhundert gelang es Kriegergruppen immer wieder, den Rhein zu überqueren und plündernd durch Nordgallien zu ziehen. Durch die Reorganisation der Grenzverteidigung unter Diokletian und Konstantin stabilisierte sich die Lage zunächst, doch blieb die Situation in Gallien prekär. Mit dem Rheinübergang der Vandalen und anderen Gruppen zu Beginn des fünften Jahrhunderts brach die Grenzsicherung am Rhein aber zusammen und konnte in der folgenden Zeit nicht dauerhaft wiederhergestellt werden. Römische Heere agierten zwar weiterhin in Gallien, neben sie traten aber auch verschiedene andere Gruppen, die mehr und mehr an Einfluss gewannen. Nach der unent2 Zu solchen »Gewaltgemeinschaften«, deren Zusammenhalt auf der Gewaltfähigkeit ihrer Mitglieder beruhte, vgl. die Beiträge und insbesondere die Einleitungen in Speitkamp 2013 und Ders. 2017; zur Erforschung physischer Gewalt in der altertumswissenschaftlichen Forschung vgl. Gilhaus 2017b.
Extremfälle der Gesellschaftsorganisation in den nachrömischen regna
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schiedenen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (451), spätestens aber nach dem Tod des gallischen Heermeisters Aegidius (463/464), hatte die römische Zentralgewalt die Kontrolle über die Region gänzlich verloren.3 Diese Entwicklungen blieben nicht ohne Rückwirkung auf die Provinzialbevölkerung. Im Gallien nördlich der Loire hatte sich seit dem dritten Jahrhundert eine besondere Bedrohungslage entwickelt, auf man sich einstellen musste. Abgesehen von den wichtigen imperialen Zentren wie Trier gaben die Eliten mehr und mehr ihre Villen auf dem Land auf.4 Die Städte erhielten Mauerringe, die aber nur geringe Teile der eigentlichen Siedlungsfläche einschlossen. Die Zentren der civitates entwickelten sich so zu regelrechten Festungsstädten.5 Um die Grenzen zu sichern, benötigte das vergrößerte Heer der Spätantike zudem immer mehr Versorgungsmittel und Rekruten, die im Wesentlichen aus den Grenzregionen selbst bezogen wurden. Die Ökonomie der nordgallischen civitates wurde daher immer mehr auf die Bedürfnisse der Armee ausgerichtet.6 So wurden fabricae zur Herstellung von militärischen Bedarfsgütern eingerichtet und militärische Einheiten auch im ganzen nordgallischen Raum stationiert. Neben den germanischen Gruppen entlang des Rheins bildeten die gallischen Provinzbewohner das bevorzugte Rekrutierungsreservoir des römischen Heeres: »Fürs Kriegshandwerk ist jedes Alter [sc. bei der Bevölkerung Galliens] wie geschaffen. Greis und Jüngling ziehen gleich tapferen Sinnes in den Kampf, da ihre Glieder in Kälte und dauernder Arbeit gestählt sind und sie vielem, was sonst Furcht erweckt, kühn entgegenzutreten vermögen. Es zittert auch kein Gallier je – wie in Italien – vor dem Kriegsdienst und haut sich deshalb den Daumen ab.«7.
Traut man dieser Bemerkung des römischen Historikers Ammianus Marcellinus, versuchten die gallischen Provinzialen nicht, sich dem Militärdienst zu entziehen, vielmehr sollen sie im Gegensatz zu den Bewohnern Italiens sogar stolz auf ihre Wehrfähigkeit gewesen sein.8 Kriegsdienst und bürgerliche Identität waren in Gallien also offenbar eng miteinander verbunden. So werden mittlerweile auch 3 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Römern und germanischen Gruppen am Rhein und den Entwicklungen im Gallischen Raum vgl. Halsall 2008, S. 81–86, 118–131, 220–262, 300–319, 346–356; zum gallischen Heer vgl. Hoffmann 1973; zu den sich verändernden strukturellen Bedingungen vgl. auch Jussen 2014. 4 Vgl. Esmonde Cleary 2013, S. 271–282. 5 Vgl. ebd., S. 62–76; zur unterschiedlichen Entwicklung in den verschiedenen Regionen Galliens auch Loseby 2006 sowie Witschel 2013. 6 Vgl. Esmonde Cleary 2013, S. 318–325 zur politischen Ökonomie im Westen des Reichs. 7 Ammianus Marcellinus 15,12,3, oben zit. dt. Übers. Veh, lat. Text: »Ad militandum omnis aetas aptissima et pari pectoris robore senex ad procinctum ducitur et adultus gelu duratis artubus et labore adsiduo multa contempturus et formidanda. Nec eorum aliquando quisquam ut in Italia munus Martium pertimescens pollicem sibi praecidit.«. 8 Zur Rekrutierungspraxis und der damit verbundenen Militarisierung der Gesellschaft vgl. Esders 2014, S. 341–344.
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die seit dem vierten Jahrhundert zahlreicher werdenden Beigaben führenden Gräber mit Waffen in Gallien als Bestattungen der militarisierten Grenzgesellschaft der nordgallischen Provinzen angesehen.9 Als die römische Ordnung im fünften Jahrhundert nach und nach auseinanderbrach, löste sich auch die Heeresorganisation auf und die bewaffnete Bevölkerung sowie die verbliebenen militärischen Einheiten waren auf sich allein gestellt. Der postimperiale Raum entwickelte sich schnell zu einem »Gewaltmarkt«, das heißt zu einem gewaltoffenen Raum, den keine Zentralgewalt mehr kontrollierte und auf dem Franken, Alanen, aber auch Persönlichkeiten wie der Römer Syagrius vor allem um materiellen Profit kämpften.10 Syagrius hatte wohl die Truppen seines Vaters Aegidius übernommen, agierte aber vollkommen unabhängig vom Reich.11 Auch dem bretonischen Anführer Riothamus gelang es Truppen an sich zu binden, zudem zogen offenbar auch kleinere Söldnertruppen auf der Suche nach Beute im Land umher.12 Die Städte erwiesen sich als wehrhafte Ziele und die verschiedenen mobilen »warlords« hatten Probleme, sie einzunehmen oder auszuplündern.13 Unter diesen Bedingungen lockerten sich die Bindungen der lokalen Bevölkerungen zum Römischen Reich, da vom römischen Heer keine Hilfe mehr zu erwarten war und das Land oft schutzlos war. Weil sich der Westteil des Reichs in Auflösung befand, wurden Loyalitäten unbeständig und vom militärischen und wirtschaftlichen Erfolg der »warlords« abhängig. Krieg bildete also die Existenzgrundlage für die Gewaltunternehmer und ihre Anhänger: Bei Erfolg sorgte er für Lebensunterhalt und Auskommen, konnte Reichtümer bringen und hielt so die Kriegergruppen zusammen. Bei Misserfolg konnte man sich aber ebenso gut einem anderen Anführer anschließen. Die Franken waren keine Außenstehenden oder Fremden, als es Chlodwig (reg. ca. 482–511) innerhalb von drei Jahrzehnten gelang, alle Widerstände auszuschalten, große Teile Galliens unter seiner Herrschaft zu vereinigen und er sich damit vom »warlord« zum Herrscher eines sich weit erstreckenden Reichs entwickelte.14 Fränkische Krieger waren bereits Ende des dritten Jahrhunderts in der Betuwe angesiedelt worden und wurden zur Grenzverteidigung eingesetzt. Mit dem zunehmenden Zusammenbruch des römischen Heeres am Rhein übernahmen fränkische Gruppen nach und nach die Kontrolle über die Gebiete 9 Zur Interpretation der Waffengräber vgl. Esmonde Cleary 2013, S. 55–60 und zur Militarisierung der nordgallischen Gesellschaft ebd., S. 42–96 sowie Esders 2014; Sarti 2016a, S. 43– 56. 10 Zu Gallien als Gewaltmarkt vgl. Gilhaus 2017a; zum Konzept des Gewaltmarkts Elwert 1997 und Ders. 1999. 11 Zu Syagrius und der Annahme eines Syagrius-Reichs vgl. MacGeorge 2002, S. 111–136. 12 Iordanes de origine actibusquw Getarum 237; Gregor von Tours, Historiae 2,18; dazu auch Sidonius Apollinaris epist. III,9; zu Person des Riothamus vgl. auch Halsall 2008, S. 276–277. 13 Zu den weiteren Gruppen vgl. Gilhaus 2017a. 14 Vgl. Jussen 2014.
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der linksrheinischen Provinzen und wurden unabhängig vom Reich. Nichtsdestoweniger waren die Franken niemals politisch geeint; vielmehr sind um die Mitte des fünften Jahrhunderts in Nordwestgallien mehrere fränkische Kriegergruppen anzutreffen, die miteinander und mit anderen Gruppen konkurrierten.15 Dabei scheinen sich die Herrschaftsgebiete immer wieder verschoben zu haben und die einzelnen fränkischen Gruppierungen mobil geblieben zu sein.16 Gewaltsame Auseinandersetzungen unter Franken und zwischen Franken und den Provinzialen waren also vermutlich an der Tagesordnung und prägten die Verhältnisse in der Region. Nichtsdestoweniger gaben in einem nur schwer nachvollziehbaren Prozess die Bevölkerungsgruppen auf beiden Seiten des Rheins in der folgenden Zeit nach und nach ihre älteren Identitäten auf und verstanden sich auch als Franken.17 Mit Chlodwigs katholischer Taufe fielen dann auch der religiöse Unterschied zwischen den fränkischen Kriegerverbänden, den Residuen der römischen Armee und der militarisierten Provinzbevölkerung und ihren Eliten weg. Einer Fusion der verschiedenen Gruppen standen daher nur wenige Hindernisse im Wege, wie auch eine Episode bei Prokop deutlich zeigt: »Die Arborycher standen damals im römischen Heeresdienst. Dieses Volk nun wollten die Germanen, da es ihnen benachbart war und seine alte Verfassung geändert hatte, sich unterwerfen; nach anfänglichen Raubzügen eröffneten sie schließlich mit ihrem ganzen Aufgebot den Krieg. Die Arborycher indessen, welche sich gegenüber den Römern als tüchtig und wohlgesinnt gezeigt hatten, bewährten sich in diesem Krieg als tapfere Männer, und da die Germanen sie nicht bezwingen konnten, trugen diese ihnen schließlich Bündnis und Blutsbrüderschaft an. Die Arborycher gingen gerne darauf ein – beide Völker waren ja Christen –, und so gelangten sie durch Vereinigung zu großer Macht. Es standen noch weitere römische Soldaten zum Schutz in den äußersten Teilen Galliens. Da diese weder eine Möglichkeit hatten, nach Rom zurückzukommen, noch sich den Feinden, die Arianer waren, anschließen wollten, ergaben sie sich samt Feldzeichen und dem Lande, das sie seit alters für die Römer bewachten, den Arborychern und Franken. An ihre Nachkommen aber überlieferten sie alle von den Vätern ererbten Sitten, und diese halten auch jetzt noch in Ehrfurcht daran fest. Bis zum heutigen Tag werden sie noch nach den männlichen Stammrollen geführt, nach denen sie einst auszogen, und rücken so mit eigenen Feldzeichen in den Kampf. Sie haben auch immer noch die ererbten Gesetze. Ebenso halten sie an der römischen Tracht in allen Einzelheiten fest, auch was die Fußbekleidung anlangt.«18 15 Zur Beseitigung der anderen fränkischen Herrscher durch Chlodwig vgl. Becher 2011, S. 251– 258. 16 Vgl. Gilhaus 2017a, S. 209–213. 17 Zur Frühgeschichte der Franken vgl. zusammenfassend Nonn 2010 und Becher 2011, S. 23– 143. 18 Prokop Bellum Gothicum 1,12,13–19, oben zit. dt. Übers. Veh 1966, griech Text: »ἐτύγχανον δὲ Ἀρβόρυχοι τότε Ῥωμαίων στρατιῶται γεγενημένοι. οὓς δὴ Γερμανοὶ κατηκόους σφίσιν ἐθέλοντες, ἅτε ὁμόρους ὄντας καὶ πολιτείαν ἣν πάλαι εἶχον μεταβαλόντας, ποιήσασθαι, ἐληίζοντό τε καὶ
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Die Arborycher sind nach allgemeiner Auffassung der Forschung als Armorikaner, also als die Reste des römischen Heeres und der Bevölkerung des nordgallischen tractus Armoricanus anzusehen.19 Offenbar konkurrierten die hier als Germanen bezeichneten Franken, die Armorikaner und weitere (post-)römische Gruppen zunächst miteinander, schlossen sich aber zum gegenseitigen Vorteil zusammen. Nach Prokop sei aus Armorikanern und Franken sogar ein einziges Volk entstanden, es seien also Ehen zwischen beiden Gruppen geschlossen worden. Ähnlich gingen Chlodwig und die Könige nach ihm offenbar auch in anderen Fällen vor, so hatte Chlodwig auch die Streitkräfte des Syagrius übernommen.20 Mit der Ausschaltung von Konkurrenten konnten die Franken ihre militärische Macht immer weiter ausbauen und schließlich bildete ganz Gallien ihre Rekrutierungsbasis, was wesentlich zum Erfolg des Merowingerreichs beitrug. So wundert es auch nicht, dass in der Zeit des Bischofs und Geschichtsschreibers Gregor von Tours sich zwischen »Romanen« und »Franken« keine grundsätzlichen Unterschiede mehr erkennen lassen. Ein Franke zu sein, hatte im späteren Merowingerreich in erster Linie Königsnähe bedeutet.21 Männliche Identität aller Einwohner Galliens basierte vor allem darauf, ein Krieger zu sein, was sich nun auch verstärkt im gesellschaftlichen Alltag zeigte.22 Die Kriegereliten traten meist bewaffnet auf.23 Feigheit galt daher auch als besonders schlimme Beleidigung und Hinterlist als akzeptiertes Handlungsprinzip,24 insbesondere Chlodwigs grausame Listen zur Ausschaltung der anderen fränkischen Herrscher werden von Gregor, immerhin einem katholischen Bischof ro-
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πανδημεὶ πολεμησείοντες ἐπ’ αὐτοὺς ᾔεσαν. Ἀρβόρυχοι δὲ ἀρετήν τε καὶ εὔνοιαν ἐς Ῥωμαίους ἐνδεικνύμενοι ἄνδρες ἀγαθοὶ ἐν τῷδε τῷ πολέμῳ ἐγένοντο, καὶ ἐπεὶ βιάζεσθαι αὐτοὺς Γερμανοὶ οὐχ οἷοί τε ἦσαν, ἑταιρίζεσθαί τε ἠξίουν καὶ ἀλλήλοις κηδεσταὶ γίνεσθαι. ἃ δὴ Ἀρβόρυχοι οὔτι ἀκούσιοι ἐνεδέχοντο: Χριστιανοὶ γὰρ ἀμφότεροι ὄντες ἐτύγχανον, οὕτω τε ἐς ἔνα λεὼν ξυνελθόντες δυνάμεως ἐπὶ μέγα ἐχώρησαν. Καὶ στρατιῶται δὲ Ῥωμαίων ἕτεροι ἐς Γάλλων τὰς ἐσχατιὰς φυλακῆς ἕνεκα ἐτετάχατο. οἳ δὴ οὔτε ἐς Ῥώμην ὅπως ἐπανήξουσιν ἔχοντες οὐ μὴν οὔτε προσχωρεῖν Ἀρειανοῖς οὖσι τοῖς πολεμίοις βουλόμενοι, σφᾶς τε αὐτοὺς ξὺν τοῖς σημείοις καὶ χώραν ἣν πάλαι Ῥωμαίοις ἐφύλασσον Ἀρβορύχοις τε καὶ Γερμανοῖς ἔδοσαν, ἔς τε ἀπογόνους τοὺς σφετέρους ξύμπαντα παραπέμψαντες διεσώσαντο τὰ πάτρια ἤθη, ἃ δὴ σεβόμενοι καὶ ἐς ἐμὲ τηρεῖν ἀξιοῦσιν. ἔκ τε γὰρ τῶν καταλόγων ἐς τόδε τοῦ χρόνου δηλοῦνται ἐς οὓς τὸ παλαιὸν τασσόμενοι ἐστρατεύοντο, καὶ σημεῖα τὰ σφέτερα ἐπαγόμενοι οὕτω δὴ ἐς μάχην καθίστανται, νόμοις τε τοῖς πατρίοις ἐς ἀεὶ χρῶνται. καὶ σχῆμα τῶν Ῥωμαίων ἔν τε τοῖς ἄλλοις ἅπασι κἀν τοῖς ὑποδήμασι διασώζουσιν.« Zur Interpretation der Episode vgl. Esders 2014, S. 344–352. Zumindest spricht Gregor von Tours, Historiae 2,27 davon, dass Chlodwig dessen Reich übernahm (regnoque eius acceptum); zu Chlodwigs Heer vgl. Bachrach 1997, S. 689–703. Vgl. Goetz 2002. Zur Wechselwirkung zwischen Krieg, Militär und Gesellschaft im Frankenreich vgl. grundlegend Sarti, 2013b, S. 309–332; Dies. 2013a. Vgl. Dies. 2013b, S. 232–249; zur Kriegerelite auch Dies., 2016b. Zu Feigheit als besonders schwerer Beleidigung vgl. Pactus Legis Salicae 30; dazu Halsall 2003, S. 11; zu Hinterlist als Handlungsprinzip vgl. Scheibelreiter 1999, S. 194–208.
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manischer Abstammung, ausdrücklich gelobt.25 Ständige Wachsamkeit und Wehrfähigkeit waren für Gregor von Tours zentrale männliche Tugenden. Rache und Selbsthilfe wurden als Ehrenpflicht angesehen und man reagierten auf Ehrbeleidigungen schnell mit Gewalt.26 Dass Streitigkeiten leicht eskalieren konnten, zeigen die zahlreichen Hinweise auf interpersonale Gewalt bei Gregor von Tours deutlich.27 Besonders eindrücklich ist ein Fall aus den späten 580er Jahren, der sich in Paris ereignete und von Gregor geschildert wird. Einer Frau wurde eine uneheliche Verbindung von ihrem Mann und dessen Verwandten vorgeworfen. Der Vater der Frau und Kläger vereinbarten daraufhin eine Verhandlung des Falls bei der Kirche des heiligen Dionysius. Dabei kam es zu Eklat: »[D]er Vater legte seine Hände auf den Altar und schwor, daß seine Tochter ohne Schuld sei. Die anderen dagegen von der Partei des Mannes schrien, er habe einen Meineid geschworen. So wechselten sie erst Worte, dann zogen sie die Schwerter, stürzten aufeinander los, und metzelten einander gerade vor dem Altar nieder. Sie waren aber von hoher Geburt und hervorragender Stellung beim König Chilperich. Viele wurden mit dem Schwerte verwundet, die heilige Kirche mit Blut bespritzt, die Türen von Speeren und Schwertern durchbohrt, ja bis zum Grabe drangen die greulichen Geschosse. Nur mit Mühe wurde Friede geschaffen, der Ort aber blieb für den Gottesdienst geschlossen, bis alles zur Kenntnis des Königs käme.«28
Die Beteiligten wurden daraufhin zunächst nicht in die Gnade des Königs aufgenommen und der Stadt verwiesen, aber wieder zur Kommunion zugelassen, nachdem sie Buße für ihre Taten geleistet hatten. Die angeklagte Frau beging anschließend Selbstmord. Die Episode zeigt zwar, dass man durchaus Mechanismen der gewaltlosen Konfliktregelung kannte und König und Kirche als übergeordnete Autorität anerkannt waren, man aber nach dem Wegfall der römischen Zentralgewalt auch sehr schnell bereit war, die eigene Position mit
25 Vgl. zum Lob auf Chlodwig Gregor von Tours, Historiae 5, Prol; zur Ermordung der fränkischen Könige Gregor Tours, Historiae 2, 40–42. 26 Zu Rache, Ehre und Gewalttätigkeit im merowingischen Gallien vgl. Halsall 1999 sowie Liebeschuetz 2006; für das europäische Frühmittelalter insgesamt vgl. die grundlegenden Überlegungen von Halsall 1998. 27 Die Belege für Gewalthandlungen bei Gregor von Tours sind gesammelt bei Newbold 1994; zur Entwicklung neuer Konfliktregelungsmechanismen vgl. die Beiträge in Davies / Fouracre 1986. 28 Gregor von Tours, Historiae 5,32, oben zit. dt. Übers. Buchner 1955–1956, lat. Text: »Elevatisque pater manibus super altarium, iuravitque, filiam non esse culpabilem. E contrario vero periurasse eum, alii a parte viri pronuntiant. His ergo altercantibus, evaginatis gladiis in se invicem proruunt atque ante ipsum altarium se trucidantur. Erant enim maiores natu et primi apud Chilpericum regem. Saucianturque multi gladiis, respergitur sancta humano cruore basilica, ostia iaculis fodiuntur et ensibus, atque usque ad ipsum sepulcrum tela iniqua desaeviunt. Quod dum vix mitigatur, locus officium perdidit, donec ista omnia ad regis notitiam pervenirent.«
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Waffengewalt durchzusetzen. Rechtliche Verfahren blieben also insgesamt schwach ausgeprägt. Auf den Grundlagen der spätantiken militarisierten Grenzgesellschaft, die soldatische Existenz und Treue zum Römischen Reich miteinander verbunden hatte, hatte sich in Gallien also eine neue, auf Fusion verschiedener Gruppen basierende Ordnung etabliert, die vor allem von einem kriegerischen Ethos aufrechterhalten wurde. Weil die Autorität der merowingischen Könige und der Eliten vor allem auf militärischem Erfolg und Durchsetzung durch persönliche Gewaltfähigkeit beruhte, blieben Loyalitäten im Gallien des sechsten Jahrhunderts aber schwach ausgeprägt, sodass innere wie äußere Konflikte schnell zu Gewalt führten.
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Die Eroberungsgesellschaft der Vandalen in Nordafrika
Auf gänzlich andere Voraussetzungen als die Franken trafen die Vandalen in Nordafrika.29 Zwar wurden auch die nordafrikanischen Gebiete seit dem dritten Jahrhundert immer stärker von Einfällen bedroht, diese Angriffe maurischer Gruppen betrafen aber vor allem Randgebiete. So scheinen die Römer im vierten Jahrhundert die Kontrolle über Teile der mauretanischen Provinzen verloren zu haben und auch Tripolitanien wurde seit dem vierten Jahrhundert verstärkt von Überfällen heimgesucht.30 In beiden Regionen gelang es der römischen Armee allerdings, die Küstenstädte zu schützen. Wie in anderen Regionen des Reichs wurde das nordafrikanische Heer unter Diokletian und Konstantin umstrukturiert und verstärkt, an der grundlegenden Disposition der Truppen änderte sich aber nichts.31 So lag der Hauptschwerpunkt der römischen Grenzverteidigung bereits seit dem späten ersten Jahrhundert auf dem Gebiet um den Aurès und das änderte sich auch in der Spätantike nicht. Die Rekruten für das Grenzheer wurden nun vor allem in diesem Gebiet selbst rekrutiert und vermutlich entwickelte sich auch hier eine militarisierte Grenzgesellschaft, was sich aber aufgrund einer dürftigen Quellenlage nicht sicher erschließen lässt.32 In den Zentralgebieten des römischen Nordafrikas zwischen Cirta und der tunesischen Sahelküste waren hingegen nur wenige Truppen stationiert und auch 29 Zur Entwicklung in der Kaiserzeit vgl. Briand-Ponsart / Hugoniot 2006 und Le Bohec 2005; zu verschiedenen Einzelaspekten s. auch die folgenden Anm. hier. 30 Vgl. Yves Modéran 2003, S. 251–310 (Zu den Konflikten mit den Mauren in Tripolitanien) und S. 313–540 (zu den Konflikten im Umfeld den anderen Regionen); zum Verlust der Kontrolle über Teile der mauretanischen Provinzen vgl. Villaverde Vega 2001, S. 61–63, 265– 285. 31 Zur Heeresorganisation im spätantiken Nordafrika vgl. Le Bohec 2007. 32 Vgl. ebd., S. 439.
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eine unmittelbare Bedrohung durch maurische Übergriffe existierte nicht. Die afrikanische Landwirtschaft produzierte große Überschüsse, durch die nicht nur das Heer, sondern insbesondere die Stadt Rom versorgt wurde.33 Urbane Schrumpfung lässt sich im vierten Jahrhundert nur in den Städten der Grenzregionen feststellen, wo auch Mauerringe die verkleinerten Stadtareale umfassten. Im Gebiet der Zeugitana erhielten nur wenige Städte Mauern, die wie im Fall von Karthago aber offenbar kaum defensiven Nutzen hatten.34 Die städtischen Eliten pflegten vor allem den traditionellen Baubestand wie Thermen und Theater. Seit dem späten vierten Jahrhundert lässt sich lediglich eine langsam einsetzende Verschiebung des städtischen Zentrums weg vom Forum hin zu den neu entstehenden Kirchen feststellen.35 Auch unterhielten die Eliten neben großen städtischen domus weiterhin ihre ländlichen Villen.36 Zwar wurde in der Spätantike der soziale Abstand zwischen Elite und einfachen Bürgern durch äußere Kennzeichen wesentlich stärker betont als zuvor, Einsatz für die zivile städtische (und christliche) Gemeinschaft wurden aber weiterhin von der Elite erwartet.37 Auch wenn die Städte der nordafrikanischen Zentralregionen nur wenigen Bedrohungen von außen ausgesetzt waren und das städtische Leben florierte, kam es im vierten Jahrhundert aber immer wieder zu Ausbrüchen endemischer Gewalt infolge der Auseinandersetzungen zwischen Donatisten und Katholiken. Gewalt wurde dabei vor allem von mehr oder weniger organisierten Banden ausgeübt, die häufig als circumcelliones bezeichnet wurden. Eingesetzt wurden dabei von beiden Seiten wie von den römischen Ordnungshütern meist hölzerne Keulen und Knüppel. Die Gewalt diente vor allem dazu, die Grenzen der eigenen religiösen Gemeinschaft zu markieren und zu verteidigen, weshalb sie auch nur selten in tödlichen Exzessen eskalierte.38 Anders als in Gallien war Gewaltfähigkeit kein zentraler Bestandteil bürgerlicher Identität, diese wurde in Nordafrika noch immer von zivilen Werten bestimmt. Nichtsdestoweniger hatte sich durch die Konflikte mit den Donatisten eine starke und wehrhafte katholische Kirche in Nordafrika entwickelt, die ihren Zusammenhalt zu verteidigen wusste.
33 Zusammenfassend zum Wirtschaftsleben im spätantiken Nordafrika vgl. Briand-Ponsart / Hugoniot 2006, S. 205–218. 34 Vgl. die Fallstudien von Sears 2007 und darin die zusammenfassenden Beobachtungen S. 117–128. 35 Zur Entwicklung des nordafrikanischen Städtewesens in der Spätantike vgl. Leone 2007 und Dies. 2013. 36 Zur römischen Villenkultur vgl. Rind 2009. 37 Zur Entwicklung des Repräsentationsverhalten der städtischen Eliten in Nordafrika im dritten Jahrhundert vgl. Gilhaus 2014; zur städitschen Kultur im spätantiken Nordafrika vgl. Lepelley 1979–1981 und zusammenfassend Ders. 1992. 38 Vgl. Shaw 2011, S. 587–720.
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In diese im Wesentlichen im Frieden lebende Region fiel der vandalische Heereszug ein, nachdem sie im Winter 406/407 den Rhein überquert, einige Jahre Gallien durchzogen und sich mehr ein Jahrzehnt in Spanien aufgehalten hatten.39 Dem Verband hatte seine Zusammensetzung seit dem Rheinübergang sicher mehrfach verändert. Geiserich (reg. 428–477) führte etwa 15.000–20.000 Krieger und ihre Familien nach Afrika, die sich in einer feindlichen Umwelt des Römischen Reichs behauptet hatten. Wann und wie die Vandalen christianisiert wurden, ist allerdings nicht sicher zu klären, spätestens in Spanien bekannte sich die vandalische Oberschicht aber zum arianischen Christentum.40 Die Macht des vandalischen Königs beruhte auf der Stärke dieser gewaltigen Kriegergemeinschaft und die Vandalen trafen als Invasoren auf eine gänzlich anders strukturierte Gesellschaft. In diesem Umfeld war es für Geiserich überlebensnotwendig, sich der Loyalität seiner Krieger zu versichern und ihre Kampfkraft zu erhalten; denn obwohl mehrfach Verträge mit den regierenden Kaisern geschlossen wurden, blieb die Gefahr einer römischen Invasion stets bestehen.41 Um das Auskommen der Vandalen zu sichern und sie zur freien Verfügung zu haben, versorgte der König sie mit Landgütern im Umfeld von Karthago.42 Seine Krieger schickte er seit 455 immer wieder auf Plünderungszüge gegen die Küsten des westlichen und zentralen Mittelmeeres und installierte ein System von Stützpunkten auf Sizilien, Sardinien und Korsika. Diese Überfälle, insbesondere der Angriff auf Rom im Jahr 455, brachten den Vandalen Reichtümer und Prestigegüter.43 Gegenüber den Anrainern des Mittelmeeres verschafften sich die Vandalen den Ruf, unberechenbar und gefährlich zu sein, was vom byzantinischen Historiker Prokop überlieferte Episode über Geiserich verdeutlicht: »Und einmal, als er im Hafen von Karthago sein Schiff bestiegen hatte und die Segel schon gespannt wurden, soll ihn der Steuermann gefragt haben, gegen wen es denn diesmal gehe. ›Natürlich gegen diejenigen, denen die Gottheit zürnt!‹ war seine Antwort. So richteten sich seine Angriffe ohne Grund gegen den Nächstbesten.«44
39 Zur Migration der Vandalen vgl. Berndt 2007, S. 85–141. 40 Zur Annahme des »arianischen« Christentums vgl. zusammenfassend ebd. S. 215–216 und Vössing 2014, S. 31–33; die Anzahl der vandalischen Krieger wird allgemein von der Angabe bei Victor von Vita 1,2 abgeleitet, dass Geiserich mit 80.000 Personen nach Afrika übersetzte. 41 Zu den Verträgen und ihrer Brüchigkeit vgl. Berndt 2007, S. 188–202. 42 Zur Diskussion um die sortes Vandalorum vgl. Modéran 2014, S. 155–179 und Steinacher 2016, S. 151–166. 43 Zu den Plünderungsfahrten vgl. Castritius 2007, S. 110–122 und Modéran 2014, S. 183–199. 44 Prokop Bellum Vandalicum 1,5,24–25, oben zit. dt. Übers. Veh 1971, griech. Text: »καί ποτε αὐτὸν ἐς τὴν ναῦν ἐσβάντα ἐν τῷ Καρχηδόνος λιμένι, ἀνατεινομένων ἤδη τῶν ἱστίων, φασὶν ἐρέσθαι τὸν κυβερνήτην ἐπὶ τίνας ποτὲ ἀνθρώπων ᾿ιέναι κελεύοι. καὶ τὸν ἀποκρινάμενον φάναι, δηλονότι ἐφ’ οὓς ὁ θεὸς ὤργισται. οὕτως ἐξ οὐδεμιᾶς αι᾿τίας ἐφ’ οὓς ἂν τύχοι ἐσέβαλλε.«
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Dass der König aber nicht unangefochten an der Spitze des Verbands stand und auf Erfolge angewiesen war, zeigte sich bereits 442, also drei Jahre nach der Einnahme von Karthago, als Geiserich eine Verschwörung gegen ihn niederschlagen musste.45 Die nordafrikanische Bevölkerung ließ sich aber nicht von Kriegern allein beherrschen und daher war der vandalische Staat auf die Kooperation zumindest mit Teilen der römischen Elite angewiesen. So griffen die Könige offenbar nicht in die munizipale Selbstverwaltung ein, ließen die Römer weiterhin nach römischem Recht leben, übernahmen römische Amtsbezeichnungen und besetzten Hofämter mit Römern.46 Der Bereich des Heeres blieb aber allein Mitgliedern der vandalischen gens und ihren maurischen Verbündeten vorbehalten.47 Die Vandalen und die Mitglieder der Hofverwaltung unterschieden sich auch in ihrem Erscheinungsbild zumindest teilweise vom Rest der beherrschten Bevölkerung.48 Sicher ein Privileg der Mitglieder der herrschenden gens war es aber, Waffen zu tragen. So unterhielt ein vandalischer Tausendschaftsführer sogar einen eigenen Waffenschmied.49 Der katholische Bischof Victor von Vita schreibt zudem eindrücklich über einen Vorfall zu Ostern, in dem es für einen vandalischen Priester offenbar kein Problem gewesen ist, schnell eine Gruppe von Bewaffneten um sich zu sammeln, um gegen katholische Romanen vorzugehen: »Wie nun unsere Leute (d. h. die Katholiken) in einem Ort namens Regia wegen des Osterfeiertages die ihnen verschlossene Kirche öffneten, erfuhren es die Arianer. Sofort versammelte einer ihrer Priester namens Anduit eine Schar Bewaffneter um sich und brannte darauf, die schuldlose Masse zu überfallen. Sie drangen mit gezogenem Schwert ein und hoben ihre Waffen; andere kletterten sogar auf die Dächer und schossen 45 Vgl. Prosper chron. 1348 (s. a. 442); dazu Steinacher 2016, S. 146–148. 46 Vgl. zum Städtewesen in vandalischer Zeit aus archäologischer Perspektive Bockmann 2013; zur Verwaltung vgl. Berndt 2007, S. 245–253; Merrills / Miles 2010, S. 77–82 und Vössing 2014, S. 84–90. 47 Nur wenig ist allerdings über die Struktur des vandalischen Heerwesen bekannt; dazu Castritius 2007, S. 137–139. 48 Dass sich die Mitglieder des vandalischen Hofes durch eine distinktive Kleidung auszeichneten, belegt Victor von Vita 2,8–9. Wie sehr und wodurch genau sich die Mitglieder der Vandalen aber tatsächlich in ihrem optischen Erscheinungsbild von der römischen Provinzbevölkerung und insbesondere den römischen Eliten unterschieden, ist insbesondere in der archäologischen Forschung stark umstritten. von Rummel 2007, bes. S. 183–191 spricht sich dafür aus, dass die Kleidung dem allgemeinen militärischen Erscheinungsbild spätantiker Eliten entsprach (ähnlich auch Merrills / Miles 2010, S. 102–106); grundlegende Kritik daran äußert Eger 2012, S. 254–342, der für eine fremde Herkunft von Kleidungszubehör in vandalischer Zeit argumentiert hat. Einigkeit besteht aber dahingehend, dass sich die Vandalen als Krieger darstellten. So wurde selbst ein vandalischer Junge, der mit fünf Jahren verstorben war, auf einem Grabmosaik in Theveste mit soldatischer Ausrüstung und Bewaffnung darstellen (Abbildung bei von Rummel 2007, S. 190); vgl. aus historischer Perspektive auch Vössing 2014, S. 104–107 und Liebeschuetz 2015. 49 Vgl. Victor von Vita 1,30.
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Pfeilsalven durch die Fenster. Ein Lektor war gerade dabei, am Ambo stehend das Alleluja zu singen, während die Gemeinde zuhörte und singend antwortete, da traf ihn ein Pfeil in die Kehle, das Buch fiel aus seinen Händen, dann fiel auch er tot zu Boden. Ja, auch sehr viele andere wurden, wie bezeugt ist, mitten in der Einfassung des Altares durch Pfeile und Speere getötet; und diejenigen, die nicht durch das Schwert umkamen, wurden später auf Befehl des Königs hart bestraft und fast alle [so] zu Tode gebracht, zumal die Älteren.«50
Traut man den verschiedenen Zeugnissen Victors von Vita zeigten die arianischen Kleriker zudem den gleichen militärischen Habitus wie die anderen Vandalen und liefen zumindest in der Zeit Hunerichs (reg. 477–484) sogar selbst mit Waffen umher.51 Trotz aller Verbindungen und Kooperationen mit der romanischen Elite beruhte das Vandalenreich auf dem grundlegenden Kontrast zwischen der arianischen Kriegerelite der Vandalen, deren Identität zweifelsohne auch eng mit dem Bekenntnis zur arianischen Lehre eng verbunden war,52 und der romanisch-katholischen Bevölkerungsmehrheit. Die Abgrenzung der Vandalen als Elite gefährlicher Krieger ging offenbar sogar soweit, dass die Vandalen sich selbst als Barbaren identifizierten, eine Bezeichnung, die jeder Römer ablehnen musste.53 Die vandalischen Kleriker und Krieger waren stets darauf bedacht, dass die unbewaffnete, zivile Bevölkerung sie fürchtete und als überlegen anerkannte. Auf wie viel Akzeptanz die Herrschaft der Vandalen bei der katholischen Mehrheitsbevölkerung stieß, deren innerer Zusammenhalt und religiöse Identität ja durch den Donatistenstreit gefestigt worden war, ist auf Grundlage der Quellen nur schwer zu klären. Einige Annäherungen der Vandalen an die Vorstellungswelt der Römer scheint es aber gegeben zu haben. So kultivierten zumindest einige Vandalen mit der Zeit den verfeinerten, luxuriösen Lebensstil römischer Aristokraten, der dem Ideal als »barbarischer« Krieger zumindest teilweise widersprach.54 50 Victor von Vita 1,41–42, oben zit. dt. Übers. Vössing 2011, lat. Text: »Quodam tempore paschalis sollemnitas agebatur; et dum in quodam loco, quae Regia uocitatur, ob diem paschalis honoris nostri sibimet clausam ecclesiam reserarent, conpererunt Arriani. Statim quidam presbyter eorum, Anduit nomine, congregata secum armatorum manu ad expugnandam turbam accenditur innocentum. Introeunt euaginatis spatis, arma corripiunt; alii quoque tecta conscendunt et per fenestras ecclesiae sagittas spargunt. Et tunc forte audiente et canente populo dei lector unus pulpito sistens alleluiaticum melos canebat; quo tempore sagitta in gutture iaculatus cadente de manibus codice mortuus post cecidit ipse. (42) Nam et alii quam plurimi sagittis et iaculis in medio crepidinis altaris probantur occisi; nam qui gladiis tunc interempti non sunt, postea poenis adtriti regio iussu omnes paene necati sunt, praesertim maturioris aetatis.« 51 Vgl. Victor von Vita 3,42. 52 Vgl. auch Victor von Vita 1,19. 53 Vgl. dazu Vössing 2008, S. 195–203; daneben auch Vössing, 2014, S. 145–150. 54 Die Ausmaße der Abgrenzungspolitik und der allmählichen Angleichung an den Lebensstil römischer Aristokraten ist umstritten; für eine weitgehende Assimilation haben sich insbe-
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Die Aufrechterhaltung der Kampfkraft der Vandalen blieb überlebensnotwendig für die Nachfolger Geiserichs, zumal man sowohl im Mittelmeerraum als auch in Nordafrika immer häufiger Rückschläge hinnehmen musste.55 Weil dabei viele Krieger umkamen, verloren die Vandalen weiter an Schlagkraft, sodass ihnen nach und nach die Kontrolle über die Mauren entglitt. Als Hilderich (reg. 523–530) sich Byzanz zuwendete und damit möglicherweise auch die bisherige Trennungspolitik aufgeben wollte, erregte dies den Widerstand der vandalischen Oberschicht, die diesen grundsätzlichen Politikwechsel nicht hinnehmen wollte, sodass es zum Putsch gegen Hilderich kam.56 Ansätze zur Öffnung gegenüber der römischen Bevölkerungsmehrheit wurden gegen Ende des Vandalenreichs offenbar gesehen und ausgelotet. Zu groß war aber das Interesse der arianischen Kriegerelite, den Gegensatz zu bewahren, auf dem ihre Macht und Privilegien trotz aller faktischen kulturellen Angleichungen basierten. Bis zum Ende blieb das Vandalenreich eine Eroberungsgesellschaft.57
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Möglichkeiten der Gesellschaftsorganisation in den nachrömischen regna
Die Gesellschaften der Vandalen und Franken stellen zweifelsohne Extremfälle der Gesellschaftsorganisation in nachrömischer Zeit vor. Beide waren zwar von Kriegereliten getragen, während aber das Vandalenreich auf dem Kontrast zwischen den Invasoren und der Zivilbevölkerung aufgebaut war, umfasste die Kriegergesellschaft der Merowingerzeit potentiell alle männlichen Einwohner Galliens. Diese Integrationsleistung war durch die Militarisierung der gallorömischen Gesellschaft und das langsame Schwinden römischer Kontrolle über die Region ermöglicht worden, sodass gallorömische und fränkische Gesellschaftsorganisation nicht als Gegensatz erschienen. Die Franken waren vielmehr Teil der Grenzgesellschaft und ihre Könige setzten sich ganz allmählich gegen andere »warlords« durch. Die Vandalen traten hingegen als fremde Invasoren auf und waren in Nordafrika mit einer gänzlich anders strukturierten Gesellschaft konfrontiert. Weil die Herrschaft der Vandalen vor allem auf ihrer Gewaltfähigkeit gründete, konnten und wollten die vandalischen Könige keine grundsätzliche Angleichung zwischen der herrschenden Kriegerelite und der römischen Prosondere Merrills / Miles 2010, S. 83–108 und Steinacher 2016, S. 132–137 ausgesprochen; für eine Aufrechterhaltung des Gegensatzes zwischen Vandalen und Römern hat Vössing 2014, S. 96–108 argumentiert; ähnlich auch Castritius 2010. 55 Zum Verhältnis mit den maurischen Stämmen vgl. Vössing 2014, S. 108–110. 56 Zur Hilderichs Politikwechsel vgl. Ebd. S. 127–130 und zu Gelimers Putsch Ders. 2016. 57 Vgl. auch die grundsätzlich ähnliche Einschätzung von Spielvogel 2005.
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Lennart Gilhaus
vinzbevölkerung erlauben. Das Vandalenreich blieb eine auf dem Gegensatz zwischen Eroberern und Eroberten basierende Gesellschaft. Zwischen diesen Polen sind die anderen regna der Völkerwanderungszeit einzuordnen. Auch die Ostrogoten betrieben eine Politik gesellschaftlicher Trennung und setzten die gotischen Krieger als immer verfügbares Heer ein.58 Im spanischen Reich der Visigoten kam es erst unter Leovigild (reg. 569–586) und Rekkared I. (reg. 586–601) und gegen erheblichen Widerstand zu einer Auflösung der Gegensätze zwischen den Bevölkerungsteilen.59 Hingegen ist trotz einer desolaten Quellenlage zu vermuten, dass im spätantiken Britannien ähnliche Bedingungen wie in Gallien entstanden, da sich die angelsächsische Landnahme über einen längeren Zeitraum vollzog und die Romano-Bretonen sich zunächst als sehr wehrhaft erwiesen.60 Die Verhältnisse in den verschiedenen Regionen und regna erfordern auf jeden Fall eine genauere Betrachtung. Kriegerische Wertvorstellungen prägten aber die Eliten all dieser Gesellschaften.
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Extremfälle der Gesellschaftsorganisation in den nachrömischen regna
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Konrad Vössing
Völkerwanderung überall? Die spätantiken gentes und die Spezifika einer Umbruchszeit
Im deutschen Sprachraum ist ›Völkerwanderung‹ eine auch emotional besetzte Epochenbezeichnung, die immer wieder zu historischen Vergleichen mit aktuellen Phänomenen herausfordert, zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Europa ab 2015. Im Folgenden soll zum einen die Problematik dieses Vergleichs gezeigt werden (1), der seine Brisanz vor allem aus dem Bild der Völkerwanderung als zerstörerisches Ende einer Ordnung bezieht (1.1). Er kann sich auf den ersten Blick auf Ähnlichkeiten stützen, die sich bei näherem Zusehen aber auflösen (1.2), was vor allem im fehlenden Äquivalent der spätantiken ›Hauptdarsteller‹ besteht, der sogenannten gentes. Im zweiten Teil werden diese ›Völker‹ und ihre – in vielerlei Hinsicht bestimmende – Bedeutung für die Umbruchszeit im späten 4. und 5. Jahrhundert betrachtet (2). In diesem Zusammenhang ist die militärische Situation des römischen Reiches wichtig, das zunehmend von ›barbarischen‹ Kämpfern abhängig wurde (2.1). Es entstanden neue Formen auch sozialer Abhängigkeiten (auf beiden Seiten), aber auch ein neues Selbstbewusstsein der ›Gebrauchten‹ (2.2). Die neue Rolle führte dann bei diesen Gruppen, die vor der Notwendigkeit standen, ein gewisses Maß an Eigenständigkeit zu bewahren, auch zu Strukturveränderungen (2.3–4). Vor diesem Hintergrund wird anschließend die Frage angegangen, welche Chancen und Risiken im Begriff der ›Völkerwanderung‹ liegen (3). Ein gegliederter Literaturüberblick (4) soll zum Weiterlesen animieren.
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Vergleiche und Vergleichen: Antike und moderne ›Völkerwanderungen‹
Jede Aussage über historische Phänomene lebt vom Vergleich. Wir können ganz prinzipiell gar nicht anders über vergangene Welten reden als in Vergleichen, auch wenn wir jedes ›wie damals – so heute‹ und auch jede Gegenüberstellung der Phänomene unterlassen. Schon unsere Sprache, die ganz auf dem Analogie-
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Konrad Vössing
Prinzip aufgebaut ist, zwingt uns dazu. Erst recht unser Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont, den wir niemals ausblenden können und der folglich auch unseren Blick in die Vergangenheit beeinflusst. Auch unser Erinnerungsvermögen – ob konkret oder auf die ›Geschichte‹ übertragen – kommt prinzipiell nicht ohne »Ähnlichkeiten« und damit nicht ohne implizite Vergleiche aus. »Alles, was existiert, erinnert an etwas anderes: Dinge an andere Dinge, Handlungen an andere Handlungen, Farben an andere Farben, Gestalten an andere Gestalten, Gedanken an andere Gedanken.«1 Zwar ist es gewissermaßen einfacher, sich mit den gegensätzlichen Polen der Differenz und der Identität zu begnügen, diese setzen aber das Konzept der Ähnlichkeit bereits voraus. Während jedoch Identität und Differenz (scheinbar!) für sich stehen, ist Ähnlichkeit ganz offensichtlich nur in einem jeweils anzugebenden Kontext eine sinnvolle Kategorie. »Es sind Hinsichten, die Ähnlichkeit begründen«.2 Da die Zahl dieser Hinsichten potenziell fast unbegrenzt ist, gilt dies auch für die Ähnlichkeiten. Wer von Ähnlichkeiten historischer Phänomene sprechen will, braucht folglich unbedingt eine Vorstellung von dem, was für sie wesentlich und zentral ist und was nicht, um gewissermaßen eine ›Hierarchie der Hinsichten‹ entwickeln zu können. Dies kann uns allerdings nicht daran hindern, auch auf unwesentliche Ähnlichkeiten einen Vergleich zu gründen. Gerade historische Vergleiche, die weniger in der Fachwissenschaft als in der breiteren Öffentlichkeit beliebt sind (wobei in aller Regel die Gegenwart den Bezugspunkt darstellt), sind allerdings genau aus diesem Grund oft umstritten: Wenn die ›Hinsicht‹ des Vergleichs unklar ist oder scheint, bleibt die gesamte Aussage vage und weit ausdeutbar. Davon unabhängig gibt es immer ein Mehr an mitverstandener oder gar mitzuverstehender Behauptung, weil auch dann, wenn ein spezieller Aspekt gemeint ist, die vergangene Sphäre, auf die der Vergleich insgesamt zielt, immer auch als ganze evoziert wird. Je stärker und eindeutiger diese heute als ganze gewertet wird, desto schneller wird der Vergleich missverstanden. Der erste Teil dieses Beitrags verfolgt, wie dargestellt, das Ziel, die aktuell beliebten Vergleiche zwischen der Völkerwanderungszeit und den aktuellen Flüchtlingsbewegungen historisch zu dimensionieren. Diese Vergleiche zielen meist, dem ersten Anschein zum Trotz, im Konkreten gar nicht auf die antike Epoche insgesamt, sondern nur auf einen bestimmten Ereigniszusammenhang an ihrem Anfang. Dieser ist also genauer in den Blick zu nehmen.
1 Spaemann 2011, S. 50. 2 Ebd., S. 54.
Die spätantiken gentes und die Spezifika einer Umbruchszeit
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›Völkerwanderung‹ und Ende der Ordnung
Seit der der sogenannten Migrations- und Flüchtlingskrise von 2015 ist der Vergleich dieses Phänomens mit der antiken ›Völkerwanderung‹ beliebt und zugleich umstritten. Die Gründe für die Konjunktur dieses historischen Bezugs sind dabei unterschiedlich. Verbreitet ist eine Motivation, die man als politisch-strategisch bezeichnen kann: Ziel ist nicht ein tieferes Verständnis der antiken Völkerwanderung, sondern eine bestimmte Klassifizierung der verglichenen modernen Phänomene, und dies eben mithilfe einer bereits feststehenden Wertung und (›epochalen‹) Bedeutung des historischen Phänomens. Hieraus sollen sich dann möglichst unüberhörbare Warnungen und Handlungsempfehlungen ergeben.3 Der häufige Bezug auf die ›Völkerwanderung‹ in den Medien im Jahr 2015 (»ein Begriff macht Karriere«) ist so zu erklären.4 Voraussetzung ist dabei, dass das historische Vergleichsobjekt, die antike Völkerwanderung, einen hohen, fast automatisch sich ergebenden emotionalen Wert hat: es muss ein ziemlich eindeutiges Bild damit verbunden sein, damit diese Ableitung funktioniert. Was die Völkerwanderung angeht, ergibt sich die Wertung aus einem Schreckbild, das auf der kulturellen und auf der politischen Ebene funktioniert: die Fremdheit und Wildheit der ›Völker‹, die eine Hochkultur zerstörten und deren Eindringen als der entscheidende Anstoß gilt, der das Imperium Romanum im Westen untergehen ließ. Am Ende war eine lange gültige Ordnung zusammengebrochen. Und Untergang, Kulturbruch, ›The Fall of the Roman Empire‹ – das hat nun wirklich starken Appellcharakter in Europa, wo wir uns seit 70 Jahren an geordnete Verhältnisse gewöhnt haben. Hinzukommt das Moment der Selbstanklage beziehungsweise der Selbstermahnung: War es nicht die Dekadenz (von der Kinderlosigkeit bis zur Wehrunwilligkeit) der Römer, die ihren Untergang herbeigeführt hat? Vielleicht erwartet man jetzt eine scharfe Rüge des Geschichtswissenschaftlers für diese Art von Vergleichen, für die fehlende argumentative Absicherung, das 3 Ein typisches Beispiel ist hier der Titel des politikwissenschaftlichen Buches von Hans-Peter Schwarz, Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheit, München 2017. Als einzige Hinsicht des in Presse und Publizistik beliebten Vergleichs wird die jeweils unerhörte und einschneidende Wirkung, die »säkulare Herausforderung« genannt, wobei der Autor in Kauf nimmt, eine abgeschlossene, jahrhundertelange Epoche mit einem aktuellen Ereigniskomplex von wenigen Jahren zu parallelisieren, dessen weitere Entwicklung, wie eingeräumt wird, noch gar nicht überblickt werden kann. Der Begriff ›neue Völkerwanderung‹ dient hier also im Wesentlichen dazu, die Aufmerksamkeit zu steigern (S. 38f.). 4 Bollmann 2015 (ein Beitrag, der allerdings diese Konjunktur mithilfe einer differenzierten Darstellung der antiken Periode durchaus kritisch betrachtet); siehe auch Büscher 2015; oft wird der Begriff aber ohne echte historische Bezüge benutzt, z. B. Weimer 2015; Asserate 2016.
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Konrad Vössing
Manipulationspotential, populistische Gefahren usw. Aber das ist hier nicht intendiert. Nicht dass diese Gefahren inexistent oder gering zu achten wären. Aber daraus ist nicht abzuleiten, dass solche vergleichenden Räsonnements prinzipiell abzulehnen wären. Natürlich sollte klar sein: der emotionale Anteil ist dabei deutlich höher als der argumentative. Aber bei diesem Themenkomplex wollen sich die meisten Wortmeldungen, und zwar auf allen Seiten, durch Appelle Gehör verschaffen, die mehr behaupten als begründen. Hinzuweisen ist hier etwa auch auf Versuche, den ›Mythos Völkerwanderung‹ positiv umzudeuten zum Ursprung Europas.5 Über die Qualität der dazugehörigen Gegenwartsanalyse sagen solche freihändigen historischen Rückblicke prinzipiell nichts aus. Offenbar wird mit der Umwandlung von Geschichte zum Argument ein Vorsprung an Rationalität mehr beansprucht als begründet, weil nämlich etwas von den ›Lehren‹ der Geschichte in das aktuell und konkret Behauptete hineingetragen werden soll. Dieses argumentative Prae lebt von der Validität der implizit oder gar explizit behaupteten parallelen Gesetzmäßigkeit der historischen Abläufe, mit der es aus geschichtswissenschaftlicher Sicht schon deshalb nicht weit her ist, weil die verschiedenen Fälle nicht von ihrem Kontext zu trennen sind. Aber diese Formen des generalisierenden Vergleichs sind dennoch per se weder illegitim noch gar verwerflich (die Geschichtswissenschaft lebt ja auch teilweise von ihnen beziehungsweise ihrer Zurückweisung), allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die Beteiligten des illustrativen Charakters der historischen Szenerie bewusst bleiben. Dann spricht nichts gegen Versuch, ein als im konkreten Sinn ›epochal‹ verstandenes,6 also einen tiefen Einschnitt im Kontinuum markierendes, gegenwärtiges Phänomen auch mittels historischer Farben in dieser Bedeutung herauszustellen, um es dann einordnen und auch handlungsleitend bewerten zu können. Diese Bewertung sollte aber im Wesentlichen autark sein. Tragfähige historische Argumente lassen sich dabei allenfalls dann entwickeln, wenn sowohl die ›Ähnlichkeiten‹ als auch die ›Hinsichten‹ des Vergleichs genau identifiziert werden können. Professionelle Historiker werden allerdings auch in diesem Fall den Eindruck haben, dass dabei die Pluralität der ›Lehren‹, die historisches Lernen seriös vermitteln kann, unterschätzt und die Eindeutigkeit überschätzt wird, mit der sich die Gegenstände der Gegenüberstellung definieren lassen. Was genau soll 5 Dies kritisiert Borgolte 2014, S. 446f. In seinem Interview in der Berliner Zeitung vom 6. 11. 2015 formuliert er dann allerdings selbst in einer Weise aktualisierend (»Das Römische Reich brach nicht an den Migranten zusammen, sondern umgekehrt: Es war zusammengebrochen und darum unfähig geworden, die Migranten zu integrieren«), die der impliziten Handlungsaufforderung ›Integriert die Migranten‹ ein unbegründetes historisches Gewicht gibt. 6 Mit altgriechisch epochê ist in der Antike das Aufhören, Innehalten, Unterbrechen gemeint. Auf die Geschichte und ihre großen, jeweils anders charakterisierten Abschnitte wurde ›Epoche‹ erst in der Neuzeit bezogen, siehe Riedel 1972.
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verglichen werden? Tatsächlich stehen wir hier auch vor dem (weiter unten diskutierten) Problem, dass es heute durchaus umstritten ist, ob es eine Epoche der Völkerwanderung überhaupt gegeben hat. Dessen ungeachtet wird bei den aktuellen Vergleichen oft davon ausgegangen, dass es diese historische ›Wanderung‹ war, die letztlich die antike Ordnung und das Römische Reich (im Westen jedenfalls) zerstörte. Unabhängig von der Plausibilität dieser Interpretation ist festzuhalten, dass sie zum einen keineswegs konkurrenzlos ist und zum anderen ihre gegenwärtige Prominenz nicht historischen Überlegungen zur Umbruchszeit des 5. Jahrhunderts verdankt,7 sondern der Brisanz der aktuellen Entwicklung. Es ist ja kein Zufall, dass noch in den 80er Jahren antike ökologische oder auch ökonomische Krisen ernsthaft und weit verbreitet als Gründe für den Untergang des Imperium Romanum genannt wurden, was heute kaum mehr ernsthaft behauptet wird.8 Von den Germanen redete damals (fast) niemand mehr. Das war wiederum 100 Jahre früher noch ganz anders gewesen, als man in Deutschland glaubte, in den antiken Germanen die eigenen Vorfahren zu erkennen, oder sie in Frankreich für die Verkörperung der schon immer von rechts des Rheins drohenden Gefahr für die Zivilisation hielt.9 Mit dem Ende dieser ›nationalen‹ Interpretationen verschwand zunächst auch das Interesse an der Völkerwanderung. Das hat sich jetzt wieder geändert, und das liegt eben vor allem an unseren aktuellen Wahrnehmungen und Befürchtungen.10 Die Metapher der Spiegelfunktion von Geschichte ist ja vertrackt: In einem Spiegel erkennt man sich selber, bestenfalls. Hierzu passt, dass im aktuellen Nordamerika moderne Migrationsphänomene kaum einmal als ›Völkerwanderungen‹ bezeichnet werden, während dies im Europa des 20. Jahrhundert schon mehrfach geschehen ist, und dies wohlbemerkt bei ganz unterschiedlichen Typen von Migrationen.11 Bei genauem Zusehen zeigt sich auch, dass bei den entsprechenden Vergleichen, wenn es nicht nur um das Evozieren einer dunklen, barbarischen Untergangszeit geht,12 nicht die antike Epoche als ganze angepeilt wird, sondern nur ihr Beginn und ihr Ende. Letzteres natürlich deshalb, weil es – zugleich das Ende des weströmischen Reiches – den entscheidenden Impuls liefert, unsere Aufmerk7 8 9 10
Vgl. die Hinweise zur Sekundärliteratur am Ende dieses Aufsatzes (4.7). Vgl. Demandt 2014, S. 274–352; vgl. aber jetzt wieder Harper 2020. Vgl. Valance 2013. Siehe auch den Beitrag von Peter Geiss in diesem Band, Abschnitt 3. Dies gilt nicht für die Geschichtswissenschaft im engeren Sinn, deren Interesse an der Völkerwanderung und der Transformation der antiken Welt deutlich vorher anstieg. Die Gründe liegen wohl in einer innerdisziplinären Dialektik, die hier nicht von Interesse ist. 11 Vgl. die Zusammenstellungen von Haywood 2008, dt. 2009 und King 2010. 12 Mehr oder weniger explizit wird dabei auch über antike und moderne Grenzsicherungen nachgedacht. Der römische Limes (vgl. Schallmayer 2011) war allerdings nicht gegen die Völkerwanderungen der Spätantike gerichtet und in der Zeit um 400 n. Chr. schon weitgehend funktionslos geworden.
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samkeit zu erregen: Da die heutigen Europäer dabei die Rolle der Römer bekommen, wird damit ein Menetekel an die Wand geschrieben, dessen konkreter Gehalt allerdings (in welcher Form droht uns der Untergang?) kaum zu bestimmen ist und deshalb auch offen bleibt. Der Anfang dagegen lässt sich erzählen. Alexander Demandt hat dies im Januar 2016 in einem wirkungsvollen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung getan, wobei er sich scheinbar ganz auf das damalige Geschehen im Jahr 376 beschränkte, als Kaiser Valens kriegsflüchtigen Goten den Grenzübertritt gestattete.13 Doch die Details sind so ausgewählt, dass die intendierten Parallelen ins Auge springen. Ihre Brisanz erhalten diese durch die Folgen, die sich – jedenfalls im Rückblick – zu ergeben scheinen: Kurzfristig geriet der Kaiser in kriegerische Auseinandersetzungen mit den Aufgenommenen, die zu einer schweren Niederlage und zu seinem Tod in der Schlacht von Adrianopel (378) führten; mittelfristig musste man die ins Land gekommenen Goten und ihre Familien im Reich akzeptieren; langfristig mündeten die Züge dieser ›Barbaren‹ (die vom Balkan nach Griechenland und Italien, später sogar nach Frankreich und bis nach Spanien führten) in die Zeit der sogenannten Völkerwanderung und damit ins ›Endspiel‹ der römischen Macht im Westen.
1.2
Die Kriegsflüchtlinge von 376 n. Chr. (an der Donau) und heute
Betrachten wir also die Ereignisse ab 375 n. Chr., als die römische Donaugrenze tatsächlich von (gotischen) Kriegsflüchtlingen, die Auseinandersetzungen mit vordringenden hunnischen Gruppen auswichen, fast überrannt wurde, unter dem Blickwinkel der Flüchtlingskrise von 2015. Kaiser Valens, damals im syrischen Antiochia, wo ihn gotische Gesandte erreicht hatten, hatte sich 376 nach längeren Beratungen dafür entschieden, die Grenze für sie zu öffnen.14
13 Demandt 2016; kritisch reagierte darauf etwa Thünemann 2016; vgl. auch Steinacher 2017. Die Zeitschrift Die Politische Meinung der Konrad Adenauer-Stiftung hatte bei Alexander Demandt den zitierten Artikel zwar mit Blick auf die Flüchtlingskrise bestellt, wollte ihn aber nach den Kölner Silvesterereignissen 2015/ 2016 nicht mehr publizieren; die Redaktion fürchtete eine missbräuchliche Verwendung, mit der einfache Parallelitäten konstruierbar seien. Der Wirkung und Verbreitung des Artikels hat dies keinerlei Abbruch getan. 14 Der Grenzübertritt erfolgte wohl beim römischen Donauhafen und Militärstützpunkt Durostorum, heute das bulgarische Silistra, direkt an der Grenze zu Rumänien.
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1.2.1 Ähnlichkeiten … Zur Ähnlichkeit einer Ausgangslage kommen dabei ( jedenfalls scheinbar) ähnliche Umstände hinzu. Die Ausgangslage ist das wirtschaftliche und soziopolitische Gefälle zwischen dem Imperium Romanum (unserem Europa) und den Gebieten, in denen die Flucht- und Migrationsbewegungen beginnen. Dieses Gefälle war sehr unterschiedlich geartet, aber es war (und ist) doch so groß, dass es die Richtung der Wanderung klar und gleichbleibend bestimmt(e): eine einseitige Angelegenheit. Auch den antiken ›Migranten‹ blieb dann übrigens oft eine gewisse Ernüchterung über die Zustände im ›gelobten Land‹ nicht erspart. Mit dieser Grundkonstellation sind nun drei isolierbare Begleiterscheinungen verbunden, die offenbar stark zum Vergleichen anregen: 1. Krieg als auslösender Faktor einer Massenmigration Entwurzelter, 2. das Schwanken bei den Aufnehmenden zwischen Mitleid (beziehungsweise moralischer Verpflichtung), Verteidigung und Berechnung, 3. das teilweise explosive Aufeinandertreffen von Überforderung und Versagen bei den Aufnehmenden (namentlich der Administration) einerseits und von Verletzlichkeit und Frustration bei den Neuankömmlingen. 1. Krieg als auslösender Faktor einer Massenmigration Entwurzelter: Man flieht vor kriegerischer Zerstörung, vor Hunger und anderen Bedrohungen, fürchtet teilweise um sein Leben – das gilt zwar nicht allgemein, damals wie heute nicht, ist aber ein prominentes Initial. Als die ›Goten-Trecks‹ 376 n. Chr. am nördlichen Ufer der Donau ankamen, mussten sie monatelang warten, bis ihnen Valens, der Kaiser des Ostens, Aufnahme gewährte. Man lagerte mit allem beweglichen Hab und Gut, mit Frauen und Kindern und suchte verzweifelt Möglichkeiten des Übergangs. Der zeitgenössische Historiker Ammianus Marcellinus, unsere wichtigste Quelle, beschreibt in seiner zeitnah verfassten »Römischen Geschichte« die Situation eindrücklich.15 Nicht von ungefähr ist es gerade seine lebendige Darstellung, die immer wieder – auch in Schulbüchern – zitiert wird.16 Wir werden 15 Der Grieche Ammianus Marcellinus (gest. am Ende des 4. Jahrhunderts) beschloss seine ›Römische Geschichte‹ (auf Latein verfasst – auch um an römische Historiographen wie Tacitus anzuknüpfen) für den Osten des Reiches mit Valens’ Tod und der Schlacht von Adrianopel (378 n. Chr.). Die Forschung hat herausgearbeitet, wie der gebildete Autor bei allem Anspruch auf Wahrhaftigkeit seine Darstellung in für antike Geschichtsschreiber typischer Weise inhaltlich und literarisch gestaltet, um von der eigenen Sichtweise zu überzeugen und seinen Lesern moralische Beispiele zu geben. Vgl. Matthews 1989; den Boeft u. a. (Hg.) 1992; Barnes 1998; Drijvers (Hg.) 1999; Wittchow 2001; Kelly 2008; Brodka 2009; Ross 2016. 16 Für Unterrichtswerke siehe zuletzt Buntz 2014, S. 41–43. Vgl. auch das im Beitrag von Peter Geiss in diesem Band zitierte Schulbuchbeispiel.
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allerdings sehen, dass die Anschaulichkeit seiner Schilderung nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass er nicht nur Tatsachen, sondern auch Deutungen vermittelt. »Eine Masse unbekannter Barbarenstämme, durch plötzliche Gewalt aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben, zieht mit Frauen und Kindern in einzelnen Gruppen am Donauufer planlos umher. Ganz am Anfang nahmen unsere Leute die Sache nicht ernst. Allmählich konnte man aber den Ereignissen größeren Glauben schenken, und die Ankunft von Gesandten aus dem Barbarenland bestärkte ihn noch. Flehentlich und unter Beschwörungen baten sie, die landflüchtige Volksmenge diesseits des Stroms aufzunehmen.« »multitudinem barbaram abditarum nationum vi subita sedibus pulsam circa flumen Histrum vagari cum caritatibus suis disseminantes. quae res aspernanter a nostris inter initia ipsa accepta est hanc ob causam, quod illis tractibus non nisi peracta aut sopita audiri procul agentibus consueverant bella. verum pubescente iam fide gestorum, cui robur adventus gentilium addiderat legatorum, precibus et obtestatione petentium citra flumen suscipi plebem extorrem.«17
2. Das Schwanken bei den Aufnehmenden zwischen Mitleid (bzw. moralischer Verpflichtung), Verteidigung und Berechnung: Die römische Verwaltung versuchte durchaus, die Goten geordnet und in menschenwürdiger Art und Weise über die Donau zu bringen; auch Alte und Kranke wurden transportiert.18 Der Zustrom wurde (und wird) von manchen Beobachtern gleichzeitig auch, in bestimmten Hinsichten, als Chance gesehen. Bei den Römern kam offenbar schnell die Frage auf, ob man aus der Katastrophe der Flüchtlinge nicht auch Vorteile für den Staat und dessen strukturelle Schwäche bei bestimmten Berufen, in diesem Fall bei Soldaten, ziehen könnte. »Die Sache gab mehr zur Freude Anlass als zur Furcht. Die geübten Schmeichler hoben das Glück des Kaisers in den Himmel: Aus weit entfernten Ländern schaffe da Fortuna so viele Rekruten herbei und biete sie dem Kaiser gegen alle Erwartung an, so dass er seine eigenen mit den fremden Männern vereinigen und ein unbesiegbares Heer schaffen könne. Statt der Notwendigkeit, das Heer zu ergänzen – jährlich von den Provinzen zu bezahlen – komme da auf den Staatschatz ein großer Haufen Gold zu.« »negotium laetitiae fuit potius quam timori, eruditis adulatoribus in maius fortunam principis extollentibus, quod ex ultimis terris tot tirocinia trahens ei nec opinanti offerret ut conlatis in unum suis et alienigenis viribus invictum haberet exercitum, et pro militari supplemento, quod provinciatim annuum pendebatur, thesauris accederet auri cumulus magnus.«19
17 Ammianus Marcellinus 31,4,2–4; Übers. Konrad Vössing. 18 Vgl. Ammianus Marcellinus 31,4,5. 19 Ammianus Marcellinus 31,4,4; Übers. Konrad Vössing.
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Dass diese Argumentation wirklich bestimmend war, lässt sich, wie gleich deutlich werden wird, bezweifeln, nicht aber, dass sie eine Rolle spielte (wie das auch heute mit Blick auf demographische Probleme Europas der Fall ist). Mit ihr verbunden war (und ist) aber jedenfalls auch ein Gefühl der Unsicherheit, ja der Bedrohung durch die Neuankömmlinge; Kaiser Valens reagierte darauf, wie wir sehen werden, in einer für das damalige römische Reich typischen Art und Weise. 3. Das teilweise explosive Aufeinandertreffen von Überforderung und Versagen bei den Aufnehmenden (namentlich der Administration) einerseits und von Verletzlichkeit und Frustration bei den Neuankömmlingen: Die Heftigkeit des Ansturms der Flüchtlinge führt(e) teilweise zu chaotischen Zuständen, zu Überforderungen und zum Versagen der Administration; nicht einmal die Zählung gelang den leitenden römischen Beamten.20 Die Bedürftigkeit der Neuankömmlinge, bei denen auch Kinder und Frauen waren, weck(t)en außerdem den Wunsch, sich an ihnen zu bereichern, sie auszubeuten oder gar zu missbrauchen (was heute vor allem bei den sogenannten Menschenschmugglern geschieht). Selbst offizielle römische Stellen sollen die Hungernden nur dann mit minderwertiger Nahrung versorgt haben, wenn sie ihre Kinder als Sklaven verkauften.21 Diese Art von Geschäften begleitet ungeordnete Migrationen zu allen Zeiten, und man wird sie kaum als spezifisch römisch ansehen können,22 obwohl in dieser Kultur die Ware ›Mensch‹ offener gehandelt wurde als heute. Verschärft wurde und wird die Abhängigkeit der Flüchtlinge durch ihre ›Fremdheit‹. Ihre Reaktion war insgesamt abhängig von ihren Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen. Damit aber sind wir bei den nur scheinbaren Ähnlichkeiten …
1.2.2 Ähnlichkeiten … die sich auflösen Schauen wir uns also die auf den ersten Blick frappierenden Parallelen etwas genauer an. Die erste ist, bei Licht betrachtet, eine Banalität. Gewaltsame Konflikte waren schon immer und sind bis heute ein Hauptgrund für Migrationsbewegungen, und die Flüchtlinge folgen verständlicherweise immer dem ›bes-
20 Vgl. Ammianus Marcellinus 31,4,6. Die rhetorische Betonung der unzählbaren Masse der Goten in diesem ganzen 4. Kapitel sollte allerdings nicht übersehen lassen, dass die Zahl zwar nicht genau erfasst werden konnte, die Größenordnung sich aber durchaus ins römische Grenzregime einpassen ließ (s. o.). ›Überflutend‹ wirkte nicht die Zahl (zu den Größen spätantiker gentes s. u. Abschnitt 2.3), sondern die mangelnde Ordnung und Kontrolle. 21 Ammianus Marcellinus 31,5,1: »pro singulis [canibus] dederunt mancipiis, inter quae et filii ducti sunt optimatum. – Sie gaben einen Hund [als Nahrung] für einen Versklavten, und unter diesen wurden sogar Söhne von Adligen fortgeführt.« 22 Vgl. Zeuske 2018, S. 9 mit der realistischen Einschätzung, dass heute mehr Menschen in sklavenähnlicher Abhängigkeit leben als jemals zuvor.
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seren Leben‹. Eine spezifische Ähnlichkeit ergibt sich daraus nicht.23 Von der dritten wurde bereits gesagt, dass auch die Geschäfte mit fremder Not – je größer diese, desto größer auch der Zynismus – keine besondere Vergleichbarkeit darstellen. Diese (un)menschliche Logik zeigt sich auch in ganz anderen Zusammenhängen. Was (2.) die Rolle einer gewissen moralischen Verpflichtung der Aufnehmenden angeht,24 lohnt es, die vermeintlichen Parallelen genauer zu prüfen. Dabei steht außer Frage, dass es für die allgemein als universal gültig akzeptierten Menschenrechte keine antike Entsprechung gab.25 Dem ersten Anschein zum Trotz sind auch Ammianus’ Schilderungen der elenden Verhältnisse, in denen die gotischen Migranten leben mussten, kein Appell an menschliches Mitleid.26 Aber vielleicht gab es damals von anderer Seite formulierte Imperative, die auf der Idee egalitärer Humanität fußten? Tatsächlich hätten wir dann eine wichtige Entsprechung, wenn im Kronrat des römischen Kaisers Valens ethische Forderungen von allgemeiner Geltung formuliert wurden. War es das im 4. Jahrhundert im damaligen Kaiserhaus schon fest verwurzelte Christentum, das sich mit universalistischen Ansprüchen vernehmen ließ?27 Hierfür gibt es keinen glaubwürdigen Beleg. Das heißt jedoch nicht, dass das religiöse Bekenntnis der ankommenden Goten irrelevant war, es hatte damit aber eine eigene, (nur) die Situation im spätantiken Imperium Romanum kennzeichnende Bewandtnis. Zur Erklärung muss etwas weiter aufgeholt werden. Um die damalige Lage an der Donau zu verstehen, müssen wir wissen, dass die Aufnahme reichsfremder (»barbarischer«) Stammesgruppen schon seit langer Zeit üblich war;28 es war ein gewissermaßen eingespieltes Verfahren, das mit einem eigenen Begriff (receptio) bezeichnet wurde und von dem sich die Römer eine Erneuerung ihrer Wehrkraft versprachen (ihre systematische Schwächung wird unten in Abschnitt 2.1 behandelt). Den Ankömmlingen wurde Siedlungsland zugewiesen, und im Gegenzug mussten sie in römische Militärdienste treten. Drei besondere Aspekte waren generell (und auch in unserem speziellen Fall) 23 Einen Überblick über die historischen Migrationen bietet Segal 1993 (von der Urgeschichte bis ins späte 20. Jahrhundert); Bade u. a. (Hg.) 2008; auch die Synthesen von Haywood und King (Haywood 2008, dt. 2009; King 2010), behandeln die Migrationen von der Urgeschichte bis zum 2. Weltkrieg. Vertreibungen und Deportationen sind hier allerdings durchweg inbegriffen. 24 Für die Gegenwart vgl. hier, noch vor der aktuellen Krise, die Sammlung von Artikeln aus der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ von Schwelien 2004. 25 Dies gilt unbeschadet der antiken Traditionen (vor allem stoische Philosophie und frühchristliche Ethik), auf denen sie aufbauen, vgl. Girardet 2005. 26 Das elende Leben der gotischen Migranten wird von Ammianus nicht – anders als unser erster Eindruck es nahelegt – mitleidig geschildert, sondern um sie als unfähig, sich selbst zu erhalten, herabzusetzen, vgl. Ratti 2007; siehe auch unten Anm. 30. 27 So Demandt 2016: »aus christlicher Nächstenliebe«. 28 Zur ›Barbarität‹ dieser Gruppen siehe unten Abschnitt 2.2.
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von Bedeutung: Der ganze Prozess verlief unter strenger (militärisch abgesicherter) römischer Kontrolle, die Aufgenommenen akzeptierten das ihnen Zugewiesene und verzichteten darauf, eigene Politik zu machen, und schließlich: sie waren bereit, nun unter römischem Kommando gegen andere (auch stammesverwandte) Gruppen, denen Rom den Zugang verweigerte, militärisch vorzugehen. In diesen drei Hinsichten nun sprengten die Ereignisse nach 375 den Rahmen der üblichen Praxis. Die Vereinbarungen des Kaisers mit den gotischen Gruppen (Terwingen, »Waldleute«29 unter der Führung des Alaviv, später dann des Fritigern) und die darauf folgenden Ereignisse zeugen davon, dass die drei genannten Grundbedingungen einer (aus römischer Sicht) gelungenen Integration von Anfang an nicht gegeben waren. Roms militärische Kontrolle in den Donauprovinzen war offenbar zu schwach (Valens hatte hier Truppen für eine bevorstehende Auseinandersetzung mit den Persern abgezogen), weshalb man einerseits ungewöhnliche Kompromisse hatte schließen müssen (s. u.) und andererseits zu einer Kontrollmöglichkeit gegriffen hatte, die das Vertrauen der Goten unterminierte: ihre Ernährung wurde nicht sichergestellt, sondern sollte an ihr Wohlverhalten gebunden bleiben. Es war also römische Schwäche, nicht gewinnsüchtiges Kalkül, woran die Übereinkunft von Anfang an krankte. Dass man die Goten überhaupt aufgenommen hatte, lag, anders als Ammianus Marcellinus es darstellt, nicht an erhofften Vorteilen,30 sondern ganz wesentlich daran, dass man wenig Möglichkeiten sah, sie erfolgreich abzuweisen, beziehungsweise sich von ihrer Aufnahme eine militärische Sicherung gegenüber anderen, als deutlich gefährlicher eingeschätzten Gruppen erhoffte, die an der Donau schon bereit standen. Nur deshalb akzeptierte Valens wohl, dass die Neuankömmlinge sich direkt südlich der Donau, in Thrakien, ansiedelten. Die Religion der Flüchtlinge spielte in diesem Zusammenhang eine Rolle, und zwar als möglicher taktischer Vorteil: dass nämlich der Kaiser, wenn schon zu ihrer Aufnahme geradezu gezwungen, dann solche Gruppen auswählen wollte, die geeigneter für ein Bündnis schienen als andere. Tatsächlich waren die gotischen Gruppen unter Alaviv und Fritigern nicht nur christianisiert, sie standen auch Valens’ christologischer Konfession nahe. Das östliche Kaisertum folgte 29 Im Römischen Reich wurden sie bald zu ›Wisi-Goten‹ (›Glanz-Goten‹; der Begriff war zuvor nur auf die Elite angewandt worden), was dann schon in der Antike (Jordanes, Getica 14,82) zu ›Westgoten‹ um- bzw. fehlgedeutet wurde. 30 Der Historiker verfasste seine Darstellung nach der Katastrophe des Kaisers, und es ging ihm vor allem um eine Warnung vor den gotischen Einwanderern, die zu verdrängen oder gar zu vernichten seien; Nachgiebigkeit und Indienstnahme seien dagegen tödlich (siehe vor allem 31,16,8). Die Zwangslage des (gescheiterten) Kaisers und die des Imperium Romanum insgesamt zu analysieren, ist nicht sein Interesse. Letztere basierte auf sehr langfristigen Entwicklungen (siehe unten 2.1), und es ist fraglich, inwieweit er sie als Besonderheit überhaupt wahrnahm.
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damals ja nicht der Lehre des Konzils von Nizäa (325 n. Chr.) von der »Wesensgleichheit« von Vater und Sohn in der Trinität, sondern seit längerem einem sogenannten homöischen Bekenntnis, das das Verhältnis von ›Vater, Sohn und Geist‹ hierarchisch verstand.31 Oströmische Missionare hatten diese Lehre zu den Terwingen gebracht. Diese waren allerdings nur teilweise zum Christentum konvertiert, und es hatte deswegen bei ihnen heftige Konflikte und Christenverfolgungen gegeben.32 Die kaiserliche Politik hoffte nun, sich diese Bruchlinien nutzbar machen zu können. Deswegen war die Konfession der Goten, die Zugang zum Römischen Reich verlangt und erhalten hatten, für diese Entscheidung auch von Bedeutung gewesen, nicht jedoch, weil ein der christlichen Lehre eigener Universalismus damals schon handlungsleitend war. Man erhoffte sich vielmehr von dieser Verbindung, sicher nicht ohne Zutun der auf diese Weise privilegierten Goten, eine stabilere Allianz mit ihnen gegen andere, ebenfalls südwärts drängende, nichtchristliche Goten, nämlich gegen andere Terwingengruppen und gegen (weiter östlich siedelnde) Greutungen.33 Als durch den römisch-gotischen Krieg ab 377/ 378 n. Chr. all diese Hoffnungen brutal vernichtet waren,34 als Valens bei Adrianopel gefallen (s. u.) und Kaiser Theodosius (378–395) auch kirchenpolitisch einen neuen, wieder an Nizäa orientierten Kurs eingeschlagen hatte, bot die konfessionelle Verbindung des gescheiterten Kaisers mit seinen für ihn tödlichen gotischen Verhandlungspartnern Stoff für allerlei Konstruktionen im Sinne der neuen nizänischen Orthodoxie (die im Westen des Reiches immer herrschende Lehre geblieben war).35 In der Realität hatte das Christentum der Goten jedoch eine Bedeutung gehabt, die, sehr weit entfernt von der heutigen Situation, nur vor dem Hintergrund ihrer erhofften Qualität als Kämpfer für Rom verstanden werden kann. Zwar spielte in den öffentlichen Lobsprüchen römischer Redner der Zeit die Herrschertugend der philanthropia eine große Rolle, was ›Liebe zu den Menschen‹ bedeuten könnte. Aber die wörtliche Übersetzung ist irreführend.36 Es geht bei dieser Tugend nicht um die Steigerung der Bürgerwelt-Ideale ins allgemein Menschliche, sondern umgekehrt: die traditionelle ›Milde und Wohltätigkeit gegenüber der Bürgerschaft‹ wird zwar begrifflich ausgeweitet, bleibt fak31 Zu den entsprechenden, von Kaiser Constantius II (337–361 n. Chr.) dominierten Konzilien von Rimini, Seleukeia (359 n. Chr.) und Konstantinopel (360) siehe Pietri 1996, S. 386–395. 32 Vgl. Wolfram 2009a, S. 77–84. 33 Diese ›Strandleute‹ (= an der Schwarzmeerküste Siedelnde) wurden auch Osthrogoten/Ostgoten genannt. 34 Die christlichen Goten hatten den Übertritt anderer gotischer Gruppen nicht nur nicht verhindert, sondern sogar begünstigt (Ammianus Marcellinus 31,4,12; 31,5,3) und dann sogar einen regelrechten Krieg gegen das Reich begonnen. 35 Z. B. Theodoret, Historia Ecclesiastica 4,37. 36 Vgl. die Hinweise zur Sekundärliteratur am Ende dieses Aufsatzes (4.4).
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tisch aber auf das Wohl der Untertanen des Kaisers beschränkt, denen seine Freigebigkeit und Gerechtigkeit zugutekommen soll. Der Rhetor und Philosoph Themistios, dessen Panegyrik ohnehin davon geprägt war, nachträglich die kaiserlichen Aktionen als wohlbedacht zu rechtfertigen, selbst wenn sie de facto nacktem Zwang gehorchten, preist in seiner 15. Staatsrede vom Januar 381 die philanthropia des Kaisers Theodosius, die darin bestanden habe, die seit 377 feindlichen Goten zu bezwingen und in das römische Heer einzureihen; »menschenfreundlich« ist daran nicht die Aufnahme bedürftiger Menschen (unabhängig von ihrer Herkunft), sondern ihre zu erwartende ›Romanisierung‹ (der Redner spricht eher von Zähmung), die sie überhaupt erst zum Gegenstand kaiserlicher Fürsorge macht.37 Diese Überhöhung einer traditionellen römischen Machtpolitik zur philanthropia (das lateinische Pendant ist humanitas)38 hat keinen christlichen, sondern einen philosophischen Hintergrund. Themistios wendet hier ein platonisierendes Konzept von Herrschaft, zu der die philanthropia als Leitbild gehörte und das er in der Vergangenheit mehrfach je nach historischer Situation modifiziert hatte, auch auf die aktuelle Situation an. Dies geschah nachträglich, nachdem Kaiser Theodosius sich dazu gezwungen gesehen hatte, die über die Donau gekommenen Goten, die seinen Vorgänger getötet, ein großes römisches Heer besiegt und Teile der Provinzen südlich der Donau geplündert hatten, durch Verträge ruhigzustellen, auch in der Hoffnung, ihre militärische Kraft doch noch nutzen zu können.39 Die letzten Zeilen haben gezeigt, wie weit wir uns mittlerweile – historisch gesehen nur wenige Jahre nach der Ausgangssituation von 375 – von einer Ähnlichkeit der Phänomene im 4. und im 21. Jahrhundert entfernt haben. Sowohl die generelle römische Politik gegenüber um Aufnahme bittenden ›Barbarengruppen‹ als auch die Besonderheit der krisenhaften Situation von 376 n. Chr. waren Charakteristika der Zeit, die der heutigen Lage ganz unähnlich sind. Ein Vergleich ist nur möglich, wenn diese Ausgangssituation gewissermaßen angehalten und ihr Kontext ausgeblendet wird, wenn wir sie wie ein Standbild einer Filmsequenz behandeln: die ausländischen Flüchtlinge im Donauraum, der Kaiserhof, die Befehlszentrale, die überforderte Administration und kriminelle Ausbeuter in den Jahren 375 bis Sommer 377 n. Chr. Nehmen wir aber den Ausbruch der Kämpfe und die Schlacht von Adrianopel dazu, lassen wir also den 37 Vgl. Themistios, Rede 15,9 (191 a); »Zähmung«: Rede 10,14–16 (138 d–140 a; 369/370 n. Chr.); Rede 16,18 (211 ab; siehe unten Anm. 39). 38 Vgl. Honig 1960, S. 70–81. 39 Themistios’ 16. Staatsrede (383 n. Chr.) feiert in Anwesenheit des Kaisers das Abkommen mit den Goten als einen ›Philanthropia-Sieg‹ ohne Gefährdung römischer Soldaten; das Schicksal der Goten interessiert dabei ausschließlich im dem Maß, wie es Vorteile für das Reich bringt, siehe bes. 16,18 (211 a). Vgl. auch Daly 1975; Rapp 2009, S. 80–82; Schramm 2013, S. 211–228; 346–397.
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Film nur ein wenig länger laufen, bleibt an Vergleichbarem kaum mehr etwas übrig. Die für das Imperium Romanum katastrophale Schlacht von Adrianopel (heute Edirne im europäischen Teil der Türkei) am 9. August 378 endete mit einer vernichtenden Niederlage der römischen Truppen gegen die terwingischen Goten Fritigerns und mit dem Tod des Ostkaisers Valens.40 Ein voll entwickeltes römisches Heer war von ›barbarischen‹ Kämpfern besiegt worden; diese waren zwar schlechter ausgerüstet und ausgebildet, am Ende aber eben doch siegreich gewesen. Sobald man nun diesen unerwarteten Ausgang zu erklären beginnt (nicht den Sieg,41 sondern dass es überhaupt zu einer solchen Schlacht hatte kommen können), ist man bereits tief in den sehr spezifischen Ausprägungen eines spätantiken Konfliktes und weit entfernt von unseren heutigen Migrationsproblemen. Die Goten waren eben nicht individuell oder in kleinen, unbewaffneten und voneinander unabhängigen Gemeinschaften gekommen, sondern in intakten, zentral geführten Großgruppen und mit ihren Waffen. Die Römer sprachen bei solchen Verbänden von gentes. Ihnen – als den neuen Akteuren der ›Völker‹wanderungszeit – wollen wir uns jetzt zuwenden.
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Die spätantiken gentes und Charakteristika der Zeit der Wanderungen im vierten und fünften Jahrhundert
Es sind vier Themen, die in diesem Zusammenhang behandelt werden sollen: – die militärische Situation des Reiches, dessen Heer zunehmend von ›barbarischen‹ Kämpfern abhängig wurde (1), – neue Formen der Abhängigkeit, die sich daraus entwickeln, ebenso wie ein neues Selbstbewusstsein der ›Gebrauchten‹ (2), – der daraus sich ergebende strukturbildende Druck auf die ›barbarischen‹ gentes, die auf die militärische Bedürftigkeit und die Ansprüche des Imperium Romanum positiv, aber zugleich auch defensiv reagierten (3), – die Notwendigkeit für die sich neu strukturierenden gentes, ein gewisses Maß an Eigenständigkeit zu bewahren (4).
40 Vgl. die Hinweise zur Sekundärliteratur am Ende dieses Aufsatzes (4.3). 41 Dieses Resultat war kontingent, die übliche Mischung aus Inkompetenz, übertriebenem Ehrgeiz und Pech, die schon viele Schlachten hat verloren gehen lassen, die man eigentlich niemals hätte verlieren dürfen.
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Die militärische Situation des Reiches und der Aufstieg der gentes
Rom wurde im 4. Jahrhundert nicht mehr nur von römischen Bürgern verteidigt. Das war nichts Neues; nichtrömische Hilfstruppen unterstützten die Legionen schon seit Jahrhunderten.42 Neu war aber das Ausmaß, in dem das spätantike Heer auf sie angewiesen war. Diese Rekrutierungsschwäche hatte weniger mit einer Degeneration des Verteidigungswillens (und der berüchtigten Dekadenz des spätrömischen Reiches) zu tun als vielmehr mit spezifischen Veränderungen der Staatsgewalt und des Militärwesens.43 Im Wesentlichen sind es zwei komplementäre Entwicklungen, die zu beobachten sind. Sie konvergierten im Ergebnis: Die Bürgerarmee der Hohen Kaiserzeit war verschwunden, zum Heer der Spätantike gehörte, wen immer der Kaiser in Sold genommen hatte. Seit Augustus gehörte die Sorge für die Soldaten zum Kerngeschäft der römischen Kaiser, ihre Herrschaft war nicht zuletzt auf diese Alleinzuständigkeit und auf den militärischen Oberbefehl gegründet. Aber zum Eintritt in die Legionen waren lange Zeit ausschließlich Besitzer des römischen Bürgerrechts zugelassen, und der Dienst bei den Hilfstruppen stand zwar auch Nichtrömern offen, zielte aber darauf ab, dieses wertvolle Privileg, die civitas Romana, zu erwerben. Im 3. Jahrhundert änderte sich dies, wie wir noch sehen werden. Die Struktur des römischen Heeres wurde dadurch tiefgreifend umgestaltet. Das weströmische Heer in seiner traditionellen Form ist, so lässt sich nicht ohne Grund behaupten, deutlich vor ›seinem‹ Reich und vor ›seinem‹ Herrscher verschwunden, schon in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts (das Kaisertum des Westens existierte bis 476). Rom hatte, wie gesagt, schon immer auch fremde Kämpfer für sich eingespannt. Wir wissen nicht, wie hoch zu welchem Zeitpunkt die Zahl von reichsfremden Soldaten in den regulären Einheiten war. Fest steht aber, dass dieser Anteil immer mehr gestiegen ist und dass schließlich, im frühen 5. Jahrhundert, zwischen 25 % und 50 % der römischen Soldaten eigentlich ›Barbaren‹ waren.44 Aber nicht dieser Prozentsatz war das Kernproblem der Armee, sondern die zunehmende Bedeutung von kompletten nichtregulären (und kaum romanisierten) Einheiten für die römische Verteidigung, Einheiten, die – weil es immerhin eine Art Verteidigungsbündnis (ein foedus) mit Rom gab, – in den Quellen oft als foederati bezeichnet werden.45 Gemeinsam war den – sonst durchaus unterschiedlich gearteten – Foederaten-Truppen, dass sie sich römischer Kontrolle mehr oder weniger entledigt hatten, namentlich wenn es, wie in den allermeisten Fällen, Angehörige einer 42 43 44 45
Siehe auch Alexander Demandts Beitrag in diesem Band. Vgl. auch Geiss 2017. Vgl. die Hinweise zur Sekundärliteratur am Ende dieses Aufsatzes (4.5). Zur Diskussion über die Zahlen siehe Liebeschuetz 1993 / 2006. Vgl. Stickler 2007.
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zuvor schon strukturierten Gemeinschaft waren, die sich als Kämpfer für Rom verpflichtet hatten. Sie agierten dann oft genug allein auf Befehl ihrer eigenen Anführer (die auch für sie mit den römischen Autoritäten verhandelt hatten), und auf ihrem Gebiet beziehungsweise in ihren Einheiten galt ihre eigene Tradition und ihr eigenes Recht. Sie führten sich auf eine gemeinsame Geschichte und ethnische Gemeinsamkeiten zurück. Die Quellen nennen eine solche Einheit gens, wobei die Übersetzung schwierig ist: ›Stämme‹ oder ›Völker‹ könnten an seit langem fest gefügte und einheitlich charakterisierte Menschengruppen denken lassen, das Spezifikum der gentes war aber die Verbindung von Traditionen und neuen Strukturen.46 In diesen Verbänden blieben jedenfalls gewisse ethnische Merkmale erhalten, weshalb man schon damals nicht von römischen, sondern etwa von gotischen oder hunnischen Einheiten sprach, da sie nach Art der Goten oder Hunnen geführt wurden.47 Sie operierten auf einer sehr unsicheren Vertragsbasis, die sich schnell ändern konnte. Dies auch deshalb, weil in ihrem Verhältnis zu Rom ein eher persönliches Vertragsverständnis überwog. Der Tod des Generals oder des Kaisers, der mit ihnen das foedus abgeschlossen hatte, beendete auch das Vertragsverhältnis und erforderte gegebenenfalls erneute Verhandlungen. In dem Augenblick nun, in dem diese Foederaten-Truppen wichtiger geworden waren als reguläre Einheiten des Heeres, könnte man davon sprechen, dass das frühere römische Heer wenn nicht untergegangen war, so doch seine ursprüngliche zentrale Bedeutung verloren hatte. Denn jetzt wurde es immer schwerer, bei Bedarf den römischen Interessen zuwiderhandelnde Foederaten mit römischen Truppen in die Schranken zu weisen, und genau dies ist die Situation in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Hier ist zwar nach lokalen Unterschieden zu differenzieren,48 aber generell galt: In dieser Zeit konnte das Reich im Westen gegen größere (etwa revoltierende) Foederaten-Armeen nur noch mithilfe anderer Foederaten-Truppen vorgehen. Allerdings führte die langsame Art dieser Veränderung dazu, dass die römischen Generäle, Heermeister (magistri militum) genannt und oft selbst ›barbarischer‹ Herkunft, auf die sich die spätantiken Kaiser seit dem 4. Jahrhundert stützten, mit der Zeit sehr viel Erfahrung gewinnen konnten, wie FoederatenTruppen trotz des Fehlens starker regulärer Einheiten immer wieder einzubinden waren.49 Dies gelang ihnen, indem sie zum einen die Lebensmittelversorgung 46 Siehe unten Abschnitt 2.4. 47 Auch dann, wenn wir Mischungen verschiedener gentes feststellen können, war meistens doch die eine oder andere vorherrschend. 48 Vgl. den Beitrag von Lennart Gilhaus in diesem Band. 49 Trotz ihrer oft fremden Herkunft agierten die Heermeister in aller Regel als Vertreter der römischen Macht und nicht im Interesse ihrer ursprünglichen gens. Prekär war aber das Verhältnis zur Zentrale. Im Westen konnten Heermeister am Ende sogar die Kaiser domi-
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instrumentalisierten (s. u.) und zum anderen verschiedene Foederaten gegeneinander ausspielten. Es gab eine ungefähr 50jährige Übergangszeit, in der es zwar keine in der früheren Art funktionsfähige und dominante römische Armee mehr gab, dennoch aber eine immer wieder stabilisierte militärische Kontrolle durch Rom. Goten, Franken, Hunnen, Burgunder – all diese gentilen Kämpfer standen zeitweilig in römischen Diensten und ebenso zeitweilig auch gegeneinander. Die einzige gens, die nur sehr kurz den Foederatenstatus hatte (und diesen auch eigentlich gegen den Willen Ravennas erkämpft und dann aus dieser Perspektive auch übel missbraucht hat), waren die Vandalen.50 Das Eigentümliche dieser weströmischen Politik der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts fassen wir also nur, wenn wir beides sehen, zum einen den Nieder- und dann faktisch Untergang der regulären römischen Armee (wohlbemerkt ohne die eine, endgültig desaströse Schlacht, einfach durch fortdauernden Bedeutungsverlust), zum anderen die zeitweiligen Erfolge des Reiches, auch ohne überlegene eigene Truppen effektive Kontrolle auszuüben. 410 n. Chr. nahm Alarich mit seinen Westgoten zwar Rom ein, aber dies war für die Römer vor allem ein Prestigeverlust; das römische Machtzentrum war das uneinnehmbare Ravenna, und anschließend wurde die römische Ordnung in Italien wieder restauriert.51 Nicht nur hier, sondern auch in Gallien und teilweise auch in Spanien haben die zwei bedeutendsten römischen Generäle ihrer Generation, Constantius (bis 421) und Aetius (bis 455), durchaus mit Erfolg agiert – aber mit vergleichsweise geringen römischen Streitkräften.52 Voraussetzung dieser Restaurationspolitik war immer: Die Foederaten, oft als vollständige gens unterwegs, also mit Frauen und Kindern, waren landfremd, und das bedeutete: völlig auf die Versorgung durch römisches Getreide angewiesen. Dies war ihre Achillesferse, und genau hier setzten die römischen Kommandeure auch regelmäßig an. Nur die römische Administration war in der Lage, größere Mengen an Getreide zu sammeln und organisiert über weite Strecken zu transportieren. Um diese Überlegenheit beziehungsweise Abhängigkeit zu perpetuieren, musste natürlich genau das verhindert werden, was das eigentliche Ziel der gentilen Foederaten war: ein dauerhafter Sitz für sie und sicheres Land, auf dem und von dem man ohne Zutun der römischen Zentrale leben konnte. War dies einmal gelungen, wie das (in Africa und Südgallien) für die Vandalen ohne römische Zustimmung und für die Westgoten mit römischer Zustimmung der nieren (wenn auch nicht ersetzen), im Osten gelang es diesen, sich zu behaupten, zu diesem Unterschied vgl. zuletzt Poguntke 2016. 50 Vgl. Vössing 2014, S. 46f. 51 Vgl. Meier / Patzold 2010; Lipps 2013 sowie das Quellendossier von Peter Geiss im vorliegenden Band. 52 Bleckmann 2004; Stickler 2002.
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Fall war, dann wurde es zunehmend schwer bis unmöglich, ihnen gegenüber römische Wünsche oder Befehle durchzusetzen.
2.2
Neue Formen der Abhängigkeit und ein neues Selbstbewusstsein
Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Was war der Grund dafür, dass sich das Verhältnis zwischen römischer Armee und Foederaten-Truppen so verschoben hatte? Ein demographisches Problem war es nicht, denn nichts deutet darauf hin, dass die römische Bevölkerung stark zurückgegangen war. Es war eher ein Prozess der Demilitarisierung, nicht übrigens, wie von Kulturkritikern gerne angenommen wird, weil die Römer einfach keine Lust mehr hatten, sich zu verteidigen, und diese Aufgabe lieber den Barbaren überließen, sondern weil sich die Struktur der römischen Gesellschaft und auch die ökonomische Situation der Landbevölkerung verändert hatte. Die früher wichtige Grenze zwischen Bürgern und Nichtbürgern innerhalb des Reichs bestand schon lange nicht mehr. Seit 212 n. Chr. (seit einer berühmten kaiserlichen Verordnung, der Constitutio Antoniniana des Caracalla) gab es nur noch Reichsbewohner, freie und unfreie; erstere hatten nun alle das Bürgerrecht.53 Unabhängiger machte sie das allerdings nicht. Dieses Recht hatten sie sich nicht erkämpft, es war ihnen vom Kaiser verliehen worden, und viel spricht dafür, dass er damit vor allem die Zahl der Steuerzahler erhöhen wollte. Die Lebensbedingungen der Landbevölkerung wurden nicht durch diese rechtliche Veränderung, sondern durch eine im 4. Jahrhundert greifbare sozio-ökonomische Entwicklung verändert: landwirtschaftliche Arbeitskräfte wurden knapp und entsprechend wertvoll. Wir fassen dieses Phänomen in einer Vielzahl von Zeugnissen, die einen regelrechten Kampf der Landbesitzer um Arbeiter oder Pächter überliefern.54 Hierzu passen die vielfältigen und aufs Ganze gesehen erfolgreichen Versuche, diese Kräfte mit juristischen Mitteln ortsfest zu machen und an Mobilität zu hindern. Sie und ihre Nachkommen sollten als Pächter (coloni) an die Scholle gebunden bleiben. Ob daraus zu irgendeiner Zeit ein einheitlich strukturiertes Rechtsinstitut, der sogenannt Kolonat, wurde – was in der neueren Forschung durchaus umstritten ist –,55 braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Dies gilt auch für die Frage, ob die Knappheit an ländlichen Arbeitskräften ein Zeichen für wirtschaftlichen Niedergang war (wie früher allgemein angenommen wurde) oder nicht gerade 53 Vgl. Buraselis 2007; Pferdehirt / Scholz (Hg.) 2012; Ando (Hg.) 2016. 54 Vgl. Whittaker/ Garnsey 1998; Ward-Perkins 2000, S. 315–45; 346–391; Banaj 2004; Grey 2012; siehe auch die folgende Anmerkung. 55 Zum spätantiken Kolonat vgl. Johne 1993; Grey 2007; Schipp 2009; vgl. auch Schmidt-Hofner 2017; Lenski 2017.
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umgekehrt, da wir keine Anzeichen einer demographischen Krise haben, auf eine dynamische Intensivierung deutet, jedenfalls in einigen Regionen. Relevant ist für uns hier das Ergebnis: In dieser Situation konnte es sich die staatliche Zentrale, verkörpert im Kaiser, bei der Suche nach Soldaten in den ländlichen Regionen – also dort, woher die Soldaten Roms hätten kommen können (aus den Großstädten stammten sie schon in der hohen Kaiserzeit nicht mehr) – kaum mehr leisten, unmittelbar auf diese begehrten Arbeiter zuzugreifen, wenn sie nicht die lebensnotwendige Unterstützung (und das Steueraufkommen) der grundbesitzenden Oberschicht gefährden wollte. Stattdessen ging man in juristischer und in ideologischer Hinsicht auf die Interessen der Grundbesitzer ein. Die Angehörigen der Elite konnten sich als domini (Herren) oder honestiores (›die Geehrten‹) bezeichnen und gegenüber den von ihnen Abhängigen (passenderweise oft ›die Niedrigen‹: humiliores genannt) direkte Herrschaftsrechte beanspruchen. Auch wenn wir offenlassen müssen, wie sich diese soziale Differenzierung, die die Grenze zwischen Bürgern und Nichtbürgern ersetzte, konkret auswirkte und ob die Landbevölkerung von ihrer Begehrtheit auch Nutzen hatte,56 der Zentrale waren jedenfalls, was die Rekrutierung des Heeres angeht, frühere Handlungsoptionen verlorengegangen. Die Grundbesitzer konnten selbst in Zeiten militärischer Bedrohung (etwa durch Zahlungen) verhindern, ihre Landarbeiter zum Militär ziehen lassen zu müssen. Mit dem Geld warb die Zentrale dann auswärtige Kämpfer an. Diese Lösung wurde offenbar auch aus dieser Perspektive oft als günstig angesehen. Diese Haltung war nicht so selbstzerstörerisch, wie sie es uns auf den ersten Blick erscheint. Die provinzialen Eliten konnten sehr wohl den Eindruck gewinnen, dass die römische Zentrale, auch ohne den Grundbesitzern ihre Bauern ›wegzunehmen‹, die Verteidigung schon irgendwie würde sichern können (nur dass dieses ›Irgendwie‹ auf die Dauer das Ende des Reiches mit herbeiführte, das sah man eben nicht, und das war auch keine Entwicklung ›auf Sicht‹). Der Kaiser konnte sich ja tatsächlich Soldaten bei den ›Barbaren‹ besorgen. Man hat nicht den Eindruck, dass dies als gefährliches Problem erkannt wurde. Davon unabhängig hatte die römische Zentrale aber auch kaum mehr Machtmittel, um die Grundbesitzer unter Druck zu setzen. Diese bildeten insofern das Rückgrat der Staatlichkeit, als sie die Steuern einzogen und in die Zentrale brachten: Steuern, das hieß Getreide beziehungsweise Geld, von dem die Zentrale lebte und das sie dringend brauchte, nicht zuletzt um damit – da römische Soldaten eben Mangelware waren – fremde (etwa germanische oder hunnische) Kämpfer anzuheuern.
56 Konnte sie die rechtswidrige, aber schwer zu verhindernde Abwanderung androhen? Unsere wenigen Quellen lassen hier viel Interpretationsspielraum, vgl. z. B. Grey 2007b.
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Man könnte also durchaus von einer Art Teufelskreis sprechen: je stärker das Imperium und der Kaiser abhängig wurden von Foederaten-Truppen, desto stärker waren sie auch auf die Administrationsleistungen der Grundbesitzer angewiesen und desto schwächer wurden die Möglichkeiten, diese überhaupt zur Stellung regulärer Rekruten für die römische Armee zwingen zu können (unabhängig davon, ob dies opportun erschien). Zu bedenken ist ja, dass die römischen Grenzen an Rhein und Donau seit dem späteren 3. Jahrhundert immer wieder durch Plünderer aus dem ›Barbaricum‹ durchbrochen wurden, was dazu führte, dass dort Felder aufgegeben und weniger Steuer gezahlt wurden. Da es aber für den Staat auch finanziell günstiger war, sich die für größere Feldzüge nötigen Soldaten außerhalb des Reiches zu besorgen,57 dürfte sich der Zentrale die ›Foederaten-Lösung‹ regelrecht aufgedrängt haben. Das schleichende Ende des Militärmonopols des römischen Staates nahm man dabei allseits in Kauf. Diese Substitution hat lange durchaus funktioniert, ist dann am Ende aber in die falsche Richtung gekippt. Mehr und mehr selbständig agierend hatten die gentes schließlich den Umweg der Steuern des Reiches – über die Zentrale und dann erst zu ihnen – abgekürzt: Sie sind in Gallien, Africa, Spanien und zuletzt Italien direkt ›an die Quelle‹ gegangen. Namentlich der Verlust Africas an die Vandalen (spätestens 455, als Geiserich Rom erobert und dem Westreich offen den Kampf angesagt hatte) war für das Römische Reich kaum mehr zu kompensieren. Der Wegfall dieser Erträge war nicht nur ein wirtschaftliches Problem, auch die militärisch-politische Handlungsfähigkeit ging verloren. Und natürlich hatte diese Entwicklung auch Einfluss auf die Beziehung des Militärs zu den Provinzen. Diese waren, wie gesagt, immer weniger seine, des Heeres, Personalbasis; die Truppen lebten nur noch von den Provinzen, kamen aber von außerhalb, und am Ende war die römische Landbevölkerung regelrecht demilitarisiert. Eine solche Entfremdung ließ sich dann, selbst wenn man es versucht hätte, kaum mehr wieder rückgängig machen. Da es hier Jahrzehnte oder gar Generationen lang keine aktiven militärischen Erfahrungen mehr gegeben hatte, wurde die Landbevölkerung tatsächlich weitgehend ›zivil‹. Dies führte dann im Ergebnis etwa dazu, dass die Romano-Afrikaner im späteren 4. und 5. Jahrhundert nicht mehr oder kaum mehr in der Lage waren, sich zu wehren, wenn sie durch maurische Stämme aus dem Süden in größerem Umfang bedrängt wurden; hierfür war man mittlerweile regelrecht angewiesen auf andere Kämpfer. Wenn wir jetzt noch einmal die Sichtweise der Foederaten einnehmen, dann sehen wir, wie stark deren Interessen die eben beschriebene Entwicklung weiter 57 So wurde laut Ammianus Marcellinus (31,4,4) schon 376 n. Chr. am Hof des Valens argumentiert, siehe oben. Zur Möglichkeit, die Stellung römischer Rekruten durch Geldzahlungen zu ersetzen, vgl. Liebeschütz 2006, S. 273f. zu Codex Theodosianus 11,18,1.
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vorantrieben, denn für die Foederaten, seien sie nun innerhalb des Imperium oder noch außerhalb und hoffend, dort hineinzukommen, war der Verkauf ihrer Kampfkraft an Rom die einzige Möglichkeit, das Ziel ihrer Wünsche zu erreichen, sei dieses nun (für die Foederaten im Inneren) eine feste Ansiedlung auf Reichsgebiet, die ihnen die Versorgung ermöglichte, sei es die Erlaubnis zum Eintritt in das Imperium, gebunden an das Versprechen, Militärdienst zu leisten. Wenn wir ferner bedenken, dass germanische Stämme schon seit Caesars Zeiten für Rom im Kampf standen, dass es in der Spätantike sogar für römische Soldaten erklärtermaßen das höchste Lob war, ähnliche Qualitäten wie ein »barbarischer« Kämpfer zu haben,58 dann wird zum einen klar, warum es einem römischen General alles andere als fernliegend erscheinen musste, sich diese Soldaten vertraglich zu sichern, zum einen um mit ihnen seine Ziele durchzusetzen, zum anderen um zu verhindern, dass man gegen sie kämpfen musste. Klar wird aber auch, warum unsere Perspektive, die mit dem Wort ›Barbaren‹ ausschließlich die negative Konnotation verbindet, einseitig ist. Sie beruht durchaus auf römischen Quellen, die diese Optik transportierten.59 Aber diese Sicht war nur eine partielle (obgleich die in den literarischen Quellen dominante). Wenn eine zivile Landbevölkerung einer römischen Provinz, in der Rechtlosigkeit und Chaos herrscht, beobachtete, wie eine (vom Imperium beauftragte) ›barbarische‹ Foederaten-Truppe einzog, die mit den Plünderern aufräumte, dürfte sie von barbari ganz anders gesprochen haben als der Redner in der großen Stadt, der ihre Kulturlosigkeit beklagte. Manche werden mit dem Wort bewundernd oder gar dankbar militärische Stärke und Tapferkeit konnotiert haben. Denn diese ›Barbaren‹ waren zwar keine Altruisten, und sie taten nichts umsonst, aber wen die Landbewohner bezahlen mussten, wird ihnen kaum wichtig gewesen sein, wenn diese Leistungen nur berechenbar blieben und wenn sie etwas Wichtigeres dafür bekamen: Sicherheit.60 Dass ›Barbaren‹ zweifellos auch oft als Zerstörer der römischen Ordnung auftraten und wahrgenommen wurden und dass es diese Erfahrungen von Gewalt waren, die den späteren Wortgebrauch fast ausschließlich negativ prägten, sollte das für die Zeitgenossen doppelte Bild nicht übersehen lassen; auch das römische ›Militär‹, im Habitus den ›Barbaren‹ zum Teil durchaus ähnlich, konnte von der Landbevölkerung 58 Dies zeigen z. B. Gedichte des gallischen Aristokraten (und späteren Bischofs) Sidonius Apollinaris aus dem 5. Jahrhundert: Sidonius Apollinaris, Gedicht 5,238–54. 518–32; 7, 235– 240. 59 Zu den negativen Konnotationen des antiken Barbarenbegriffs siehe den Beitrag von Peter Geiss in diesem Band. Sie sind immer noch wirkmächtig, obwohl der heutige Gebrauch im wissenschaftlichen Bereich (mit Bezug auf die antiken ›Barbaren‹) versucht, von ihnen abzusehen und den Begriffsinhalt auf die faktische Fremdheit im Reich zu beschränken. 60 Dieses Szenario war möglich, aber selten, da die Macht der römischen Zentrale dahinschmolz, während es gerade Plünderungen waren, die den neuen Herren stabile Gefolgschaften sichern sollten; vgl. zuletzt Jäger 2017.
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ebenso als Schutz wie als Bedrohung wahrgenommen werden.61 Auch wenn wir die Perspektive der Landbevölkerungen kaum kennen: für die Politik Roms gab es jedenfalls ›böse‹ und ›gute‹ Barbaren ( je nachdem, ob sie sich in die Herrschaft einfügen ließen oder nicht), und mit dem bloßen Terminus barbarus war keineswegs eine in allen Kontexten eindeutige Bewertung der so Bezeichneten verbunden. Das hatte sicher auch Rückwirkungen auf deren Selbstbild; wir sind hier allerdings schlecht informiert. Jedenfalls gab es bei ihnen auch die Selbstbezeichnung ›Barbar‹,62 und sie beruhte natürlich auf einer anderen ›Barbaren‹Eigenart, als sie üblicherweise der eben erwähnte Redner evozierte, nämlich auf ihrer kaum zu bändigenden kriegerischen Kraft.63 Indirekt hatten die Römer diese schon dadurch anerkannt, dass sie für ihre eigenen Kriegshelden nichts Größeres behaupten konnten als einen Triumph über Barbaren.64 Deren militärische Qualität stand aber auch mit der Tatsache vor Augen, dass in den Schlachten des 5. Jahrhunderts mehrheitlich nicht-römische (also: barbarische) Soldaten kämpften, in römischen Diensten ebenso wie auf der entgegengesetzten Seite.
2.3
Strukturbildender Druck auf die ›barbarischen‹ gentes
Es war oben vom geradezu strukturbildenden Druck die Rede, den die neue Rolle der barbarischen Kämpfer auf ihre Gemeinschaften ausübte. Was ist damit gemeint? Eine zweifache Entwicklung lässt sich ausmachen: eine aus Sicht der Römer mit ihren Wünschen kongruente und eine widerständige Bewegung. Konform war eine Art Militarisierung der Lebenswelt der ›Barbaren‹. Sie hat – wie der Kriegsdienst im römischen Heer – sicher schon im 2. und 3. Jahrhundert begonnen: man entsprach gewissermaßen den Wünschen und Verdienstmöglichkeiten des wohlhabenden und mächtigen Imperium Romanum. Wie weit 61 Augustinus schildert in den frühen 420er Jahre die Angst der numidischen Landbevölkerung, wenn von bewaffneten (sicher auch berittenen) Menschenfänger-Trupps auf sie Jagd gemacht wird (Ziel ist der illegale Verkauf in die Sklaverei), die »in furchterregender – barbarischer oder militärischer – Tracht« (habitu terribili vel militari vel barbaro) auftreten: Augustinus, Epistulae 10*,2. Hier ist mit vel…. vel keine grundsätzliche Alternative, sondern eine Variation gemeint. Eine generell ›barbarische‹ Tracht, wie sie für Reitersoldaten typisch war, ist also vom eher spezifischen habitus einer bestimmten gens (siehe unten Anmerkung 74), zu dem dann auch die weibliche Tracht gehörte, zu trennen. 62 Vössing 2014, S. 146f. 63 Dauge 1981, S. 437 summiert alle literarischen Qualifikationen der Barbaren: in ca. 70 % ist entweder von ihrer feritas, ihrer ferocia oder ihrem furor belli die Rede. 64 Zur römischen Ikonographie der Barbaren und der Barbarensiege siehe Schneider 1985– 2001; Heitz 2009; weitere Literatur bei von Rummel 2007, S. 197.
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dies einem ohnehin vorherrschenden kriegerischen Zug der germanischen Eliten entgegenkam, können wir hier dahingestellt sein lassen. Sicher scheint mir, dass die Fixierung auf die militärische Dienstleistung sie tief geprägt hat. Häufig liest man, dass es den gentes, als sie am Ende des 4. Jahrhundert in der Lage waren, Forderungen zu stellen, um römisches Acker- und Siedlungsland ging. Das ist nur die halbe Wahrheit: mit dem Land wollte man auch die dort arbeitenden Bauern, abhängige Kolonen (s. o.), erwerben, die nicht etwa verschwinden, sondern nur den Herrn wechseln sollten, dem sie ihre Erträge ablieferten. Dass der gotische oder vandalische Krieger nur gekämpft hatte, um nach dem Sieg das Schwert gegen den Pflug zu tauschen, ist eine romantische Einbildung. Dies galt auch für seine gentilen Knechte.65 Insgesamt war diese Militarisierung jedenfalls – solange Rom die Kontrolle behielt – durchaus im Interesse des ›Arbeitgebers‹. Ganz anders geartet war eine zweite Bewegung, die Bildung von heute sogenannten Großstämmen. Im Lateinischen und Griechischen unterschied man nicht systematisch zwischen großen und kleinen Stämmen, meist gentes oder auch nationes (griechisch ethnê) genannt. All unsere Quellen gehen von dem uralten, im Selbstverständnis der griechisch-römischen Stadt verankerten Unterschied zwischen einerseits dem Staatsvolk (populus, griechisch dêmos) und andererseits Stämmen (gentes) aus. Erstere definierten die Zugehörigkeit durch ihre Qualität als Bürger und durch das Bürgerrecht, letztere im Kern durch die Abstammung, was sich auch in der sprachlichen Herkunft dieser Bezeichnungen spiegelt. Vieles spricht dafür, dass man auf römischer Seite gar nicht realisierte, wie hoch der eigene Anteil an der Herausbildung (heute) sogenannter Großstämme war, dass man also keinen Anlass hatte, sie als etwas Besonderes zu sehen, zumal sie ja nicht ex nihilo geschaffen wurden, sondern sich aus bestehenden gentilen Formationen entwickelten (s. u.). Die römischen Generäle brauchten zwar die barbarischen Kämpfer, aber sie hätten sie am liebsten einzeln gehabt, sodass sie leicht zu disziplinieren wären. Eine Zeit lang war das ja auch mehr oder weniger möglich gewesen. Aber eine einzige (allerdings katastrophale) Schlacht hatte 378 ausgereicht, um dem römischen Kaiser Theodosius deutlich zu machen, dass er die eingedrungenen Goten und andere Barbaren nur dann in irgendeiner Form wieder ›einfangen‹ und einbinden konnte, wenn er akzeptierte, dass sie und ihre Familien zusammenblieben, dass sie ihre internen Strukturen selbst bestimmen oder behalten konnten, und dass er nur noch mit ihren Chefs und bald nur noch mit einem Chef, der sich dann nicht selten König (rex) nennen ließ, verhandelte und Abmachungen schloss.
65 Zu dieser Differenzierung siehe Vössing 2014, S. 79–84.
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Für die Barbaren war das römische Zugeständnis relativer Autonomie eine zentrale Bedingung. Sie mussten allerdings lernen, dass Rom darunter oft etwas anderes verstand als sie und dass dieses Verständnis flexibel war: je nachdem, wie stark sie benötigt wurden. Es stellte sich dabei bald heraus, dass eine gewisse kritische Masse, eine Mindestgröße der gens gewissermaßen, nötig war, um gegenüber dem eigenen Arbeitgeber, also dem Kaiser und seinen Generälen, gesichert zu sein. Denn das Imperium hatte unter Theodosius zwar dem Aufkommen dieser neuen Art von Verbündeten zustimmen müssen, eine dauerhafte Bestandsgarantie für ihre Strukturen sah man darin aber keineswegs. Wenn man römischerseits meinte, die Verträge seien gebrochen worden und wenn man Ersatz zur Hand hatte (etwa andere Foederaten – eine germanische Solidarität war hier niemals zu spüren, ganz im Gegenteil), dann hatte man keinerlei Hemmung, diese gentes gewaltsam wieder aufzulösen. Aber gegenüber Heeren von mehreren Tausend gentilen Kämpfern war das keine leichte Sache. Selbst große römische Verbände konnten solche Massen nicht überflügeln (das verhinderten schon die dann unkontrollierbaren logistischen Probleme), sodass eine Entscheidungsschlacht, deren Ergebnis immer bis zu einem gewissen Grad zufällig war, bedeutet hätte, das römische Heer aufs Spiel zu setzen. Dieses Risiko schien in aller Regel zu groß. Wenn man also nicht gentile Heere gegeneinander in Stellung bringen konnte (was tatsächlich einige Male gelungen ist), waren sie ab dieser Größenordnung weitgehend sicher und blieben zudem fähig zu Eroberungen. Die Hauptschwierigkeit war auch hier, wie bereits gesagt, die Versorgung; denn 10.000–20.000 Krieger mussten ernährt werden, wenn Frauen und Kinder dabei waren, multiplizierte sich diese Zahl.66 Hier lag, wie gesagt, die eigentliche Schwäche der gentilen Eroberungszüge, eine Schwäche, die römische Generäle mehrfach ausnutzen konnten. Jedenfalls war es für die gentes von lebenswichtiger Bedeutung, zusammen zu bleiben, nicht irgendwie, sondern in diesen Großformationen, gerade auch nach der Ankunft und – im Idealfall – nach der Ansiedlung auf Reichsgebiet, während für die Römer genau das Gegenteil davon von großer, am Ende sogar von vitaler Bedeutung gewesen wäre. Hier ist der Irrealis angemessen, denn keiner dieser Großstämme, weder die Visi- oder später Westgoten noch die Vandalen, weder die Sueben noch die Ostgoten oder die Burgunder haben sich in dieser Zeit jemals gewissermaßen schleichend aufgelöst, sind also nicht in die sie umgebende, um 66 Mehr als 10.000 Soldaten zu bewegen und zu ernähren, war in der spätantiken Kriegsführung unüblich und überhaupt nur in Ausnahmefällen möglich (vgl. Halsall 2003, S. 119–133). Wenn eine ganze gens unterwegs war, konnten etwas höhere (aber immer kleinere) fünfstellige Zahlen erreicht werden. Dabei teilte man sich meistens auf. Wieviel Frauen, Kinder, Alte und Sklaven den Kriegern folgten, ist nirgends genau bezeugt. Immerhin bietet Victor von Vita (1,1) eine glaubwürdige Größenordnung für die Gesamtzahl aller nach Africa gekommenen Vandalen: 80.000; siehe Vössing 2014, S. 39.
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ein Vielfaches größere römische Bevölkerung des Imperium (die ›Romanen‹, wie man schon damals sagte) in größerem Umfang diffundiert. Es gab während der Wanderungszeit einige wenige militärische Zusammenbrüche, denen dann die Auflösung des ganzen Stammes oder Teilstammes folgte, so etwa im Spanien des zweiten Jahrzehnts des 5. Jahrhunderts, als in rascher Folge ein Teilstamm der Alanen und einer der Vandalen, nämlich die sogenannten Silingen, vollständig besiegt wurden und faktisch verschwanden (Gegner waren übrigens nicht Römer, sondern Westgoten gewesen).67 Aber eine Auflösung auf dem langsamen, organischen, gewissermaßen natürlichen Weg gab es nicht, auch nicht in hundert Jahren. Über diese Eigenart hat sich die Forschung, so scheint es, zu wenig gewundert. Zur Begründung dieses Phänomens reicht es nicht aus, darauf zu verweisen, dass es im Interesse der gentes lag, eine solche Diffusion zu vermeiden. Die Frage bleibt ja bestehen, wie ihnen dies gelang.
2.4
Die Eigenständigkeit der gentes
Hier kommt eine Streitfrage ins Spiel, bei der es um die ethnische Identität der gentes geht. Auch dieses Thema ist – ebenso wie die militärisch-politische Seite der gentilen Verfassung – eines, das uns hineinführt in die Betrachtung spezifischer Konturen der mit der ›Völkerwanderung‹ verbundenen Umbruchszeit des späteren 4 und 5. Jahrhunderts. Identität ist natürlich kein sehr präziser Begriff,68 und die Sache selbst ist ebenfalls etwas vage: Was machte den Ostgoten zum Ostgoten, den Vandalen zum Vandalen usw.? Die Frage ist vieldebattiert, und es sollen hier nur einige Aspekte angesprochen werden. Es gibt grundsätzliche Extrempositionen: die eine (heute kaum mehr vertretene) geht von einer gleichsam natürlichen Identität aus, von uralten und vielfältigen gemeinsamen Prägungen, die – wie auch immer – die Wanderungszeit überdauert haben, resistent geblieben sind gegenüber allen Einflüssen von außen und die die Stammesgrenzen scharf gehalten haben. Auf der anderen Seite steht eine grundlegende Skepsis gegenüber jeglicher kulturellen Tradition, die etwas für diese oder jene gens Typisches bedeutet hätte. Es hätte sich dann allenfalls um späte und strategische Selbststilisierungen gehandelt, fabriziert, um unterscheidbar zu bleiben. Unklar bliebe dann allerdings, wer in der Lage war, diese Identitäten aufzubauen und wie eine solche (eigentlich durchsichtige) Funktionalisierung so lange allgemein anerkannt bleiben und die 67 Vgl. ebd., S. 25. 68 Er unterscheidet weder zwischen persönlicher (individueller) und kollektiver noch zwischen psychischer und sozialer Identität; vgl. auch Geary 2018.
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Grenzen – nicht nur gegenüber dem Imperium, sondern auch zwischen den gentes untereinander – ohne diesbezügliche Konflikte bestimmen konnte. Tatsächlich muss man weder zum erstgenannten – wenig überzeugenden – Interpretament des dauerhaften ›Volkscharakters‹ zurückkehren noch von genialen – weil überaus erfolgreichen, jedoch unerkannt gebliebenen – ›identityshapers‹ ausgehen, um die Stabilität der gentilen Großgruppen zu erklären. Es dürfte eine ja auch in anderen Zusammenhängen zu beobachtende Reaktion eines sehr wohl vorhandenen strategischen Interesses auf vorgegebene und vorhandene Möglichkeiten gegeben haben, also nicht nur das Interesse, sich abzugrenzen, sondern auch das – nicht etwa erst zu schaffende, sondern bereitliegende – Material dafür. Dieses Material waren vorhandene Gemeinsamkeiten innerhalb der Großgruppen. Schon den Zeitgenossen war dabei deutlich, dass diese keineswegs uralt gewesen und in irgendwelche grauen Vorzeiten zurückgereicht haben müssen. Ich zitiere den byzantinischen Historiker Prokop, der in einem mehrbändigen Werk die zeitgenössischen ›Germanenkriege‹ Kaisers Justinians (gegen Vandalen und Goten) beschrieb: »Während Honorius als Kaiser über den Westen herrschte, nahmen die Barbaren sein Land in Besitz. Welche Barbaren dies waren und wie sie dabei vorgingen, werde ich jetzt berichten (1). Früher gab es viele andere gotische Stämme [ethnê] und es gibt hier auch heute noch, die größten und bedeutendsten sind die Goten [gemeint sind die Ostgoten, K.V.], Vandalen, Westgoten und Gepiden … [es geht um die alternative Bezeichnung ›Geten‹, K.V.] (2). Zwar führen sie alle, wie gesagt, verschiedene Namen, unterscheiden sich aber sonst überhaupt nicht voneinander (3): sie haben eine weiße Hautfarbe und blonde Haare, sind außerdem hochgewachsen und von stattlichem Aussehen und bedienen sich der gleichen Gesetze und derselben Art der Gottesverehrung. Sämtliche gehören nämlich dem arianischen Glauben an (4), sprechen auch nur eine Sprache, das sogenannte Gotische, und bildeten, wie mir scheint, in alter Zeit zusammen ein einziges Volk, das sich erst später nach den Namen der einzelnen Führer getrennt hat (5).«69
In Prokops Systematik ethnischer Identität fehlt eigentlich auch aus heutiger Sicht, wenn man mögliche Gemeinsamkeiten innerhalb von gentes sucht, nichts Wesentliches. Problematisch ist allerdings die Aussage, dass es auf all diesen 69 Prokop, Vandalenkriege 1,2,1–5: (1) Ὁνωρίου δὲ τὴν πρὸς ἡλίου δυσμαῖς ἔχοντος βασιλείαν βάρβαροι τὴν ἐκείνου κατέλαβον χώραν·οἵτινες δὲ καὶ ὅτῳ τρόπῳ, λελέξεται. (2) Γοτθικὰ ἔθνη πολλὰ μὲν καὶ ἄλλα πρότερόν τε ἦν καὶ τανῦν ἔστι, τὰ δὲ δὴ πάντων μέγιστά τε καὶ ἀξιολογώτατα Γότθοι τέ ει᾿σι καὶ Βανδίλοι καὶ Οὐισίγοτθοι καὶ Γήπαιδες. πάλαι μέντοι Σαυρομάται καὶ Μελάγχλαινοι ὠνομά ζοντο· ει᾿σὶ δὲ οἳ καὶ Γετικὰ ἔθνη ταῦτ’ ἐκάλουν. (3) οὗτοι ἅπαντες ὀνόμασι μὲν ἀλλήλων διαφέρουσιν, ὥσπερ εἴρηται, ἄλλῳ δὲ τῶν πάντων οὐδενὶ διαλλάσ σουσι. (4) λευκοί τε γὰρ ἅπαντες τὰ σώματά ει᾿σι καὶ τὰς κόμας ξανθοὶ, εὐμήκεις τε καὶ ἀγαθοὶ τὰς ὄψεις, καὶ νόμοις μὲν τοῖς αὐτοῖς χρῶνται, ὁμοίως δὲ τὰ ἐς τὸν θεὸν αὐτοῖς ἤσκηται. (5) τῆς γὰρ Ἀρείου δόξης ει᾿σὶν ἅπαντες, φωνή τε αὐτοῖς ἐστι μία, Γοτθικὴ λεγομένη· καί μοι δοκοῦν ἐξ ἑνὸς μὲν εἶναι ἅπαντες τὸ παλαιὸν ἔθνους, ὀνόμασι δὲ ὕστερον τῶν ἑκάστοις ἡγησαμένων διακεκρίσθαι. Übersetzung nach: Veh, 1971.
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Feldern gar keine Unterschiede zwischen den genannten Stämmen gab. Man fragt sich ja, auf welcher Basis der Autor dieses Urteil fällte. Er kannte zwar Vandalen und Goten, ihr Aussehen, ihre Eliten, ihr sozio-politisches Erscheinungsbild, und er wusste, dass sie ›Arianer‹ waren (s. o.) und dass sie sich untereinander ohne Dolmetscher verständigen konnten. Weder hatte er aber genauen Einblick in ihre Institutionen und Regeln des Zusammenlebens noch in die sprachlichen Unterschiede. Allzu genau nimmt Prokop es hier also nicht, aber das war in einem derartigen kleinen Exkurs, wie wir ihn hier vor uns haben, auch nicht üblich. Ganz den tradierten Vorstellungen von Ethnogenese verpflichtet ist auch seine Erklärung für die Ähnlichkeit: ein gemeinsamer Ursprung, von dem sie sich nur auf Grund unterschiedlicher Schicksale entfernt hätten. Wenn wir diese historische Erklärung der ›ostgermanischen‹ Gemeinsamkeiten (die heute durch wesentlich kompliziertere Modelle ersetzt ist) 70 einmal subtrahieren, bleibt doch ein durchaus beachtliches Resultat: Ganz unstrittig für den Autor ist ja die Trennung der vier genannten Stämme, und dies obwohl für ihn ebenso unstrittig ist, dass die genannten Kriterien für ihre Unterscheidung nicht ausreichen. Keinesfalls nur implizit, sondern bewusst und mit einem eigenen Begriff liefert er einen neuen Schlüssel der Unterscheidung, wenn auch etwas verkürzt formuliert (»nach den Namen der einzelnen Führer«); denn aus den unterschiedlichen Anführern ergeben sich ja unterschiedliche Kriegszüge, unterschiedliche Wege im Imperium, unterschiedliche Situationen, kurz gesagt: unterschiedlich erzählte Vergangenheiten oder allgemeiner: eine jeweils eigene Geschichte und damit eine der stärksten Grundlagen für kollektive Identitäten. Prokop liefert also eine ganze Reihe möglicher Unterscheidungsmerkmale: Aussehen, Institutionen, Religion und Sprache, macht aber zugleich deutlich, dass Ähnlichkeiten in dieser Hinsicht keineswegs bedeuteten, dass die Träger eine gemeinsame gens bildeten. Entscheidend war vielmehr die gemeinsame Geschichte. Sie war das ›Material‹, von dem oben die Rede war, aus dem man ›Zusammengehörigkeit‹ entwickeln konnte. Dazu musste diese natürlich ihrerseits in gewisser Weise ›materialisiert‹ sein. Dies aber war ein Prozess, der zwar in gewissem Ausmaß steuer-, jedoch den Akteuren nicht in toto verfügbar war. Dieser Prozess war, wie die Geschichte des Stammes, niemals vollständig abgeschlossen, aber er hatte doch dann ein stabiles Ergebnis erreicht, wenn der König und die Elite sich auf sie erfolgreich berufen konnten, etwa wenn es um die
70 Vgl. die Hinweise zur Sekundärliteratur am Ende dieses Aufsatzes (4.6). Ausgangspunkt ist immer noch die bahnbrechende Studie von Reinhard Wenskus (Wenskus 1977). Die moderne Umbenennung der ›Stammesbildung‹ zu ›Ethnogenese‹ transportiert dieselbe Problematik: jede Genese muss konzeptionell von ihrem Endstadium her gedacht werden, das im Fall der antiken gentes aber gar nicht definierbar ist.
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Nachfolgefrage ging.71 Materialisiert war er im Königsschatz, dessen besondere Bedeutung für die gentile Identität in den Quellen betont wird. Denn die gentes standen ja untereinander nur selten in freundschaftlichen Bündnisverhältnissen. Üblich war, wie bereits gesagt, die Konkurrenz bis hin zum Verdrängungswettkampf. Gerade dann, wenn es um Sein oder Nichtsein ging, wurde die Bedeutung des Königsschatzes sichtbar, den man unbedingt verteidigen oder retten wollte: ein Fahnen-Äquivalent, mit materieller Wertbasis.72 Auch in diesen Königsschätzen werden viele erst spät, erst im römischen Reich angesammelten Schätze thesauriert worden sein, aber eben auch beispielsweise alte Waffen oder Herrschaftsabzeichen – in dieser Mischung ein sprechendes Sinnbild der ererbten und gleichzeitig sich entwickelnden sowie konstruierten Identität. Die Konzentration auf den König bewirkte, dass die Zugehörigkeit zu einer gens durchaus nicht äußerlich fixiert sein musste. Schon die Zeitgenossen beobachteten ja, dass gentes durchaus die Fähigkeit hatten, nicht nur Individuen anderer Herkunft, sondern – wenn auch sehr selten – sogar andere gentile Großgruppen insgesamt in ihren Verband aufzunehmen. Prokop ist für die Vandalen wiederum unser Hauptzeuge. »Nun soll aber, wenigstens in der ersten Zeit, die Zahl der Vandalen und Alanen höchstens 50.000 Mann betragen haben. (19) Später freilich wurden ihrer sowohl durch eigenen Nachwuchs als auch dadurch, dass sie andere Barbaren aufnahmen […] sehr viel mehr. (20) Die Namen der Alanen und der anderen Barbaren gingen alle in dem der Vandalen auf, mit Ausnahme der Mauren. (21) Damals gewann Geiserich die Mauren für sich und unternahm mit ihnen …«73
Prokop benutzt für die Aufnahme anderer Barbaren in die gens das Verb hetairizesthai (19), wodurch klar wird, dass die Entscheidung ausschließlich bei den Vandalen, also bei der aufnehmenden gens, lag. Es ging also nicht um eine Vermischung zweier oder mehrerer Einheiten zu einem neuen Gebilde, sondern um die Aufnahme bzw. das Aufgehen einer Minderheit. Aber worauf mussten die Neuzugänge sich dabei verpflichten? Nach Lage der Dinge konnte das formell eigentlich nur der jeweilige König sein, von dem wir ja wissen, welche besondere Stellung ihm gerade durch seine militärische Rolle zugewachsen war. Aber seine Person reichte sicher nicht aus, um eine gens zusammenzuhalten und zu ver71 Vgl. Vössing 2014, S. 91–93. 72 Siehe hierzu Vössing 2018, S. 47 mit Anm. 176. 73 Prokop, Vandalenkriege 1,5,19–22: (19) καίτοι οὐ μᾶλλον ἢ ἐς μυριάδας πέντε τὸ τῶν Βανδίλων τε καὶ Ἀλανῶν πλῆθος ἔν γε τῷ πρὶν χρόνῳ ἐλέγετο εἶναι. (20) ἔπειτα μέντοι τῇ τε κατὰ σφᾶς παιδοποιίᾳ καὶ ἄλλους βαρβάρους ἑταιρισάμενοι ἐς μεγάλην τινὰ πολυανθρωπίαν ἐχώρησαν. (21) τὰ δὲ τῶν Ἀλανῶν καὶ τῶν ἄλλων βαρβάρων ὀνόματα, πλὴν Μαυρουσίων, ἐς τὸ τῶν Βανδίλων ἅπαντα ἀπεκρίθη. (22) τότε δὲ Γιζέριχος Μαυρουσίους προσποιη σάμενος, (Übersetzung wie Anm. 69); zu Prokops Darstellung der Ethnizität der germanischen gentes und besonders der Vandalen vgl. zuletzt Vössing 2019, S. 78–85.
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größern. Denn das würde ja bedeuten, dass der Ausfall dieser persönlichen Qualität zur Auflösung hätte führen müssen. Das Gegenteil ist aber der Fall: Auffallend ist ja, dass die gentes auch unter schwerem Druck (selbst bis zum bitteren Ende) zusammenblieben. Es scheint also, dass die Person des Anführers für mehr stand als für seine Qualitäten, nämlich – um nicht die allzu unbestimmte Vokabel ›Identität‹ zu benutzen – für die gemeinsame Vergangenheit. Dies kann hier natürlich nicht weiter ausgeführt werden; genannt wurden bereits die wichtigen Elemente Thronfolge und Königsschatz, stellvertretend für zwei verschiedene Ebenen dieser Tradition. Diese hatte durchaus noch andere Elemente, etwa die Tracht. Sie ist ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken von Tradition und Entwicklung. Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass man im bereits über 50 Jahre alten (also im römischen Africa installierten) Vandalenreich eine spezifisch vandalische Tracht kannte.74 Das heißt nun nicht, dass die Vandalen sich noch auf die Art und Weise kleideten, wie sie es einhundert Jahre früher, als man an der Theiß oder sonst wo gesiedelt hatte, getan hatten, nicht einmal, dass man noch genau wusste, wie die damalige Tracht aussah. Aber es muss genügend vandalischen ›Marker‹ gegeben haben, die diese Identität – auch gegenüber Ostgoten, Sueben usw. – glaubhaft und wirksam machten, wo immer sie herkamen und wann auch immer sie sich herausgebildet hatten. Sicher gab es auch alte mündliche Überlieferung zum Ursprung der gens, ihren Stammvätern, ihren großen Siegen etc. – auch wenn das allermeiste davon verloren ist. Man sprach ja auch immer noch die eigenen germanischen Sprachen, namentlich in der Liturgie, aber auch in der Alltagskommunikation,75 was natürlich nicht heißt, dass man nicht auch Latein lernte; schon der Kontakt mit den romanischen Bewohnern der gentilen Königreiche erforderte diese Verständigung, die jedoch nicht mit der literarischen Kommunikation der alten Oberschicht gleichgesetzt werden darf. Die nichtlateinische Sprache stellte durchaus ein Mittel dar, eine gewisse Unabhängigkeit von dieser Elite zu demonstrieren, sie war aber, wie auch die Zeitgenossen vermerkten (s. o.), kein Distinktivum der gentes untereinander, ebenso wenig wie das christliche Bekenntnis. Mit dieser etwas eingehenderen Behandlung gentiler ›Identitäten‹ sollte nicht nur ein wichtiges Charakteristikum des späten 4. und 5. Jahrhunderts dargestellt werden. Es ging auch um die Vorbereitung unseres letzten Schrittes, der Frage nach einer Epoche ›Völkerwanderung‹. Ist (oder bleibt) es sinnvoll, die Umbruchsepoche des 4. und 5. Jahrhunderts nach ihnen zu benennen? Ein Urteil über den Begriff wäre bereits gesprochen, wenn die (möglichen) Subjekte, eben 74 Vgl. Victor von Vita 2,8 (habitus illius gentis); vgl. Übers. Vössing 2011, S. 168f., Anm. 127– 129 und Liebeschuetz 2012. 75 Vgl. Victor von Vita 2,55; vgl. dazu Übers. Vössing 2011, S. 220; Haubrichs 2012.
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die gentes als solche, sich als reine Konstrukte römischer und späterer Beobachter erweisen würden. Danach sieht es jedoch nicht aus.
3
›Völkerwanderungszeit‹ und migrationes gentium
In Abschnitt 2 ist gezeigt worden, dass die gentes in der hier betrachteten Umbruchszeit nicht nur als selbstbewusste politisch-militärische Akteure von großer Bedeutung waren, sie stellen in dieser Form – strukturiert in einer besonderen Mischung aus eigenständiger Tradition und flexibler Adaption – zudem ein Novum in der römischen Geschichte dar. Auch die germanischen Ubier und Sugambrer waren, um Beispiele schon aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. anzuführen, als Stämme in das Römische Reich eingewandert, aber sie waren schließlich, wie viele andere Einwanderer, in kultureller und politischer Hinsicht völlig integriert (»romanisiert«) worden.76 Das Besondere – und aus römischer Sicht Gefährliche – an den spätantiken gentes war dagegen ihre neue militärische Rolle in Verbindung mit der andauernden Distanz zur römischen Herrschaft und mit der Bewahrung ihrer Eigenständigkeit. Es ist also nicht unsinnig, diese gentes in die Benennung einer Zeit zu integrieren, in der das westliche Imperium Romanum endete, weil dies in direktem Zusammenhang mit ihrem Auftreten und ihren Aktionen stand. Aber ist damit auch die Hervorhebung gerade ihrer Wanderung und insgesamt die Rede von einer ganzen Völkerwanderungs-Epoche legitimiert? Der Begriff hat eine lange Geschichte.77 Als Wolfgang Laz(ius) 1557 sein Werk De aliquot gentium migrationibus … in Basel herausbrachte,78 hatte er gar keine Epochenbezeichnung prägen wollen; sein Ziel war es, mit der durch Tacitus’ Germania gefestigten Vorstellung aufzuräumen, germanische gentes seien immer gewissermaßen ortsfest. Der gelehrte Mediziner und Kartograph hatte durch den Plural migrationes die falsche Vorstellung vermieden, es habe eine einzige, zusammenhängende Wanderungsbewegung gegeben, und sein Humanistenlatein konnte den antiken Quellenbegriff gentes direkt aufnehmen, der ohne lange Erklärung nicht adäquat übersetzbar ist. Ins Deutsche gewendet, als ›Völkerwanderung‹ (im späten 18. Jahrhundert zuerst nachweisbar), bekam der zweite Teil des zusammengesetzten Begriffs das Schwergewicht; er schien und scheint ein einziges wuchtiges Ereignis zu umschreiben – und das hat es nie
76 Zur Romanisierung vgl. z. B. Krausse 2005, 56–62; zur Debatte zum Begriff siehe Le Roux 2004. 77 Siehe den Beitrag von Roland Steinacher in diesem Band. 78 Lazius 1557.
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gegeben.79 Erst durch diese Singularisierung und indem die Pluralität der gentes und ihrer Geschichten in den Hintergrund rückt, gewinnt ›die Völkerwanderung‹ ihre aktuelle Relevanz als (das antike ›Urbild‹ verzerrende) Folie moderner Krisenwahrnehmung. Aber reicht das aus, um diesen traditionellen Epochenbegriff gänzlich zu verabschieden? Von einer Zeit der Völkerwanderungen zu sprechen, ist weniger wegen der heiklen Übersetzung von gentes durch ›Völker‹ diskutabel (sie zwingt zum Nachdenken über die immer problematische Übertragung moderner soziopolitischer Typenbegriffe)80 und erst recht nicht wegen der Hervorhebung gerade dieser Akteure; denn sie haben das wesentlich Neue gebracht. Das Problem liegt vor allem in der Prominenz der Wanderungen (der Plural ist unbedingt vorzuziehen). Zum einen weil damit das Gewaltsame der Züge heruntergespielt wird, was, wie schon erwähnt, an der Verwurzelung des Terminus in der deutschsprachigen Welt der Neuzeit liegt, wo man sich lange den germanischen gentes nahe glaubte. Spiegelbildlich findet sich in Europa auch die entgegensetzte (nicht minder einseitige) Perspektive: Man sprach und spricht von barbarian invasions, invasions barbares oder invasioni barbariche, was die Akteure, von ihrer Fremdheit abgesehen, ausblendet. Diese Gegensätzlichkeit (oder Komplementarität) der Versuche, sich mit der einen oder anderen Seite tendenziell zu identifizieren – hier mit den Besitzenden und den Verteidigern gegen Invasionen (noch dazu ›barbarische‹), dort mit landsuchenden Außenseitern –, ist kaum aufzulösen. Sie ist selbst integraler und bleibender Teil der europäischen Geschichte, wenn man denn mit Rémi Brague kommunizierende Vergangenheitsbezüge als Teil der kulturellen Gemeinsamkeit Europas ansieht.81 Ihre Konkurrenz steht dem gar nicht im Weg. Die begriffliche Hervorhebung der Wanderungen (ursprünglich, wie gesagt, nicht als Epochenbezeichnung gedacht) hat noch eine andere Schwierigkeit: Es wurde ja nicht permanent ›gewandert‹. Einer Reihe von gentes gelang es, auf ehemals in der Verfügungsgewalt Roms liegenden Gebieten eigene Herrschaften (regna) zu errichten, sogenannte Nachfolgestaaten, die oft über Jahrzehnte und
79 Zudem sind die frühen Wanderungsbewegungen, etwa der Goten von Skandinavien bis an die Donau, für das man sich nur auf Jordanes’ ›Gotengeschichte‹ (eine oft zweifelhafte Quelle) stützen kann, durchaus umstritten, siehe etwa Kulikowski 2007, dt. 2009, S. 49–61. Unstrittig ist, dass die Migrationsbewegungen etwa der Westgoten, Vandalen und Ostgoten ins Reich chronologisch und sachlich unterschieden werden müssen. 80 Dass die antiken gentes »keine Völker im modernen Sinn« waren, ist immer wieder betont worden (siehe etwa Buntz 2014, S. 37; Meier 2019, S. 100–102). Allerdings kann ›Volk‹ sehr unterschiedlich strukturierte Gruppen von Menschen bezeichnen, siehe Gschnitzer u. a. 1992, S. 141–431. 81 Brague 1992, dt. 2012, S. 99–132; zu Europas Verwiesenheit auf ›Renaissancen‹, d. h. auf die verändernde Rezeption seiner antiken Traditionen.
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nicht selten über Generationen hinweg stabil blieben.82 Genaugenommen waren es diese dauerhaften Installierungen der ›Wanderer‹, die das Gesicht und den Charakter unserer Umbruchszeit prägten: der Sueben (411–585 n. Chr. in Spanien), Westgoten (418–507 in Südgallien, ca. 530 bis 711 in Spanien), Vandalen (429–534 in Nordafrika), Burgunder (443–532 in Savoyen), Ostgoten (493–553 in Italien) und zuletzt der Langobarden (568–774 in Italien), wobei die Franken, die sich bei ihrer Expansion nicht weit von ihrem ursprünglichen rechtsrheinischen Siedlungsgebiet entfernten, eine Sonderrolle hatten. Die Bedeutung gerade ihrer Herrschaft für die frühmittelalterliche Geschichte macht klar, dass ›Wanderungen‹ nicht das eine Charakteristikum darstellen, das die gesamte Epoche verständlich macht, auch wenn sich zeigen lässt, dass das fränkische Vordringen in Gallien mit den dort vorangegangenen ›Wanderungen‹ eng verbunden war. Ein Einwand gegen deren Hervorhebung im Epochennamen ist auch, dass West- und Ostreich sehr unterschiedlich von ihnen betroffen waren. Das ändert aber nichts daran, dass auch die Politik Konstantinopels (man denke nur an Justinians Kriege gegen die gentilen Königreiche im Westen) durch dieses Geschehen geprägt war. Überhaupt gehören Diskussionen über die Passgenauigkeit von Epochenbegriffen – jedem Historiker vertraut und manchmal verhasst – geradezu notwendig zu diesen ja grundsätzlich ex post und in perspektivischer Begrenzung formulierten Etiketten. Damit verbunden ist immer auch die Frage der zeitlichen Abgrenzung. Die Epoche begann, wie dargestellt, im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts mit dem Eindringen vor hunnischem Druck weichender gotischer Stammesgruppen über die Donau ins Römische Reich, aber wann endete sie? Gut 130 Jahre später, 507 n. Chr., wurden ›dieselben‹ Westgoten aus Toulouse und ihrem südgallischem Reich (dem regnum Tolosanum) von Chlodwigs Franken nach Spanien verdrängt,83 wo sie etwas später das spanische Westgotenreich von Toledo (das regnum Toledanum) gründen konnten, das bis ins 8. Jahrhundert hinein Bestand hatte. War das immer noch die Epoche der Völkerwanderung, trotz dieser (und zahlreicher anderer) Reichsbildungen und obwohl sich doch seit Valens’ Ende so viel und für das Herrschaftssystem des westlichen Imperium, das schon seit mindestens einer Generation (seit 476, als auch in Italien ein germanischer rex herrschte) an sein Ende gekommen war, eigentlich alles verändert hatte? Stattdessen müsste man für den Westen von einer Zeit der germanischen Nachfolgereiche sprechen, die den Wanderungen folgte, aber dieses Folgen ist in unterschiedlichen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten zu beobachten. Migration und Installation der gentes waren miteinander verschränkt. Diese haben erst durch diese Verbindung historische Bedeutung für das Imperium bekom82 Zum zugrundeliegenden ›römischen Königtum der Franken‹ vgl. Wolfram 2009b. 83 Vgl. Mathisen / Shanzer 2012.
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men und blieben, das lässt sich ebenfalls zugunsten der Wanderung anführen, in hohem Maß auch nach der Ansiedlung mobil, wie die Geschichte eigentlich aller postimperialen regna zeigt. Im Begriff der ›Völkerwanderungen‹ liegt also sehr wohl ein sinnvoller Verweis auf die Ursprünge, Akteure, Triebkräfte und Spezifika dieser neuen Herrschaftsformen: eben auf die spätantiken gentes. Über begriffliche Alternativen wurde schon viel nachgedacht – ohne Erfolg.84 Oft führt das zu weitläufigen Aufzählungen und Umschreibungen. Dass es um die Zeit der mit Migrationen, Invasionen, neuen Staatenbildungen und Konflikten einhergehenden Transformation und des teilweisen Untergangs der antiken Welt geht, ist richtig, aber ohne jede Prägnanz. Einen Begriff zu verwenden, der historisch gewachsen ist und in sich selbst die erkennbaren Spuren vergangener Deutungen trägt, kann ebenso sinnvoll sein, wie sich durch die ›Zeit der Völkerwanderungen‹ zu Vergleichen mit aktuellen Migrationen anregen zu lassen, auch wenn oder gerade weil die historische Differenz, je genauer wir hinschauen, desto größer wird.
4
Hinweise auf Sekundärliteratur
4.1
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142 4.2
Konrad Vössing
Die gotischen Flüchtlinge ab 375 n. Chr.
Wolfram, Herwig, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, München 1979, 5. Aufl., 2009. Krautschick, Stephan, Hunnensturm und Germanenflut. 375 – Der Beginn der Völkerwanderung? in: Byzantinische Zeitschrift 92, 1999, 10–67. Ratti, Stéphane, La traversée du Danube par les Goths: La subversion d’un modèle héroïque (Ammien Marcellin 31.4), in: J. den Boeft u. a. (Hg.), Ammianus after Julian. The Reign of Valentinian and Valens in Book 26–31 of the Res Gestae, Leiden / Boston 2007, S. 181– 200. Kulikowski, Michael, Die Goten vor Rom (engl. Orig. 2007, übers. von Bettina von Stockfleth), Stuttgart 2009.
4.3
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Die spätantiken gentes und die Spezifika einer Umbruchszeit
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4.5
Das spätantike Militärwesen und die neue Abhängigkeit der Landbevölkerung in den Provinzen
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Die spätantiken gentes und die Spezifika einer Umbruchszeit
4.7
145
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Klaus Rosen
Attila – Europas Unvergesslicher
»Ein Mann, dazu geboren, die Völker der Welt zu erschüttern, der aller Welt Furcht einflößte und irgendwie alles durch den grausigen Ruf, der von ihm ausging, in Schrecken versetzte.«1 Fast genau 100 Jahre nach Attilas Tod zeichnete der gotische Historiker Jordanes dieses Bild des Hunnenkönigs. Es scheint, als habe der Name »Attila« beim rückblickenden Geschichtsschreiber noch immer dasselbe Entsetzen wie bei dessen Zeitgenossen ausgelöst, die weltweit vor ihm gezittert hatten. Attilas hunnische Stammesgenossen waren anderer Meinung. Als ihr König im Jahr 453 überraschend starb, richteten sie ihm nach ihrer Sitte ein feierliches Begräbnis aus und sangen zu seinen Ehren: »Einzigartiger der Hunnen, König Attila, Spross seines Vaters Mundzuc, Herr der tapfersten Stämme, Der mit nie zuvor gehörter Macht Alleinherrscher skythischer und germanischer Reiche war, Der Roms beide Imperien durch die Eroberung seiner Städte in Schrecken versetzte Und der, statt alles Übrige als Beute zu unterwerfen, sich durch Bitten erweichen ließ, einen jährlichen Tribut in Empfang zu nehmen. Nachdem er das alles durch des Glückes Lauf vollbracht hat, Starb er nicht an einer Wunde von Feindeshand, Nicht durch die Hinterlist seiner Angehörigen, Sondern ohne dass sein Volk Verluste erlitt, Schmerzlos unter fröhlichen Umständen. Wer will das für das Ende halten, Für das er keine Rache zu üben gedenkt?«2 1 Jordanes, Getica 35,182, MGH, AA 5,1, S. 105. Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. Die Abkürzungen der Monumenta Germaniae Historica (MGH) werden im Quellenverzeichnis (S. 177) aufgelöst. 2 Jordanes, Getica 49,257, MGH, AA 5,1, S. 124. Zur Überlieferung und zur Frage des Originals Scardigli 1973, S. 90.
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Antike und Mittelalter
Zwischen dem hunnischen Panegyrikus und Jordanes’ düsterem Porträt schwankte das Urteil über Attila durch die Jahrhunderte, und es schwankt noch heute bis in die Tagespolitik hinein. Es lag nahe, dass sich nach dem plötzlichen Tod Attilas, der gerade einen Feldzug gegen das oströmische Reich unternehmen wollte, schnell das Gerücht verbreitete, der König müsse ermordet worden sein, obwohl nach dem Trauerlied der Hunnen kein Zweifel an der Todesursache, einem Blutsturz, bestand. In Konstantinopel fiel der Verdacht auf Ildico, die jüngste germanische Braut. Sie habe ihren Gatten in der Hochzeitsnacht mit einem Messer erstochen. So Marcellinus Comes, der aber auch weiß, dass »gewisse Leute« die Version vom Blutsturz erzählten. Als »Zerstörer der Region Europa« nannte er Attila in dem Zusammenhang: Europae orbator provinciae.3 Wie lebendig die Erinnerung an Attilas Tod blieb, verriet der Mönch Eugippius. Seine Vita des heiligen Severinus eröffnete er 60 Jahre nach dem Tod des Hunnenkönigs mit der Datumszeile: »Zu der Zeit, als der Hunnenkönig Attila starb« (»tempore, quo Attila, rex Hunnorum, defunctus est«). Damals kam Severinus aus dem Osten nach Ufernoricum und Pannonien. Eugippius schrieb in Italien, und um seinen Lesern das Jahr 453 zu bestimmen, schienen ihm weder die Regierungsjahre des weströmischen Kaisers Valentinian III. noch die des oströmischen Kaisers Marcian geeignet zu sein. Kein spektakuläreres Ereignis gab es zu ihrer Zeit als der Tod Attilas. Die Angabe gewinnt noch an Gewicht, falls Eugippius wusste, dass Severiuns wohl erst zwölf Jahre nach Attilas Tod nach Noricum kam.4 Die Angaben tempus meint dann nicht nur, wie üblich, den Zeitpunkt, sondern sie ist eine Epochenbezeichnung: Attila hat einem Zeitalter den Namen gegeben. Dass Attila ein Jahr vor seinem Tod Oberitalien verheert hatte, blieb ebenfalls im kollektiven Gedächtnis haften. Daher datierte der Anonymus, der kurze Zeit nach Eugippius den zweiten Teil der Excerpta Valesiana verfasste, ein für das Ende der römischen Kaisergeschichte wichtiges Ereignis auf das Jahr »in dem Attila nach Italien kam«: Damals begann Orestes, der später seinen Sohn Romulus Augustulus zum letzten römischen Kaiser erhob, seine Tätigkeit als Attilas Sekretär.5 Auch sehr viel später diente Attila als chronologischer Fixpunkt. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts datierte ein unbekannter Dichter der Carmina Mutinensia die Ausbildung des Bischofs Leudoin von Modena in die Zeit Attilas.6 Noch eine 3 Marcellinus Comes, Chronicon, MGH, AA 11, S. 86. Der Historiker hat u. a. die Consularia Constantinopolitana benutzt. 4 Lotter 1976, S. 210f. 5 Excerpta Valesiana 8,38, S. 11. 6 Carmina Mutinensia, MGH, Poetae 3, S. 706.
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Kölner Bischofsliste, die sämtliche Bischöfe bis in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts nach römischen Kaisern und später nach deutschen Königen und Kaisern ordnet, macht bei Evergius, dem vierten Bischof, eine Ausnahme: Er amtierte »zur Zeit der Verfolgung unter Attila«. Die Ursulalegende dürfte dafür mit ein Anlass gewesen sein.7 Ein Katalysator für das Fortleben Attilas wurde die christliche Religion. Attilas Zeitgenosse Prosper Tiro deutete in seiner mit dem Jahr 454 endenden Chronik an, die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 sei unentschieden ausgegangen (»neutris cedentibus«) und erst der Rückzug der Hunnen in ihre Heimat sei als Eingeständnis ihrer Niederlage gewertet worden.8 Aber schon bald nach der Schlacht verbreitete sich die Auffassung, der römische Feldherr Aetius habe den Kampf nur mit Gottes Hilfe bestanden, und weil er sich zuvor »dem Herrn Petrus, dem Apostel, anbefohlen habe«. So lautete ein Additamentum zu Prosper. Es ist der erste Hinweis auf ein übernatürliches Eingreifen, das noch häufig wiederholt wurde.9 Auch der spanische Bischof Hydatius, der seine »Fortsetzung der Chronik des Hieronymus« bis zum Jahr 468 führte, war überzeugt, die Hunnen seien mit »göttlicher Hilfe« geschlagen worden.10 Der römische Senator Cassiodor, der im Jahr 510 im Auftrag des Ostgotenkönigs Theoderich seine »Chronik« verfasste, hielt sich allerdings noch zurück: Für ihn war Attila durch die Tapferkeit der Goten überwunden worden.11 Ähnlich scheint er in seiner verlorenen Gotengeschichte geurteilt zu haben. Denn in den Getica seines Benutzers Jordanes vermuteten Goten und Römer nach der Schlacht, Attila, der sich in seiner Wagenburg verschanzt hatte, »werde den Kriegsschauplatz nicht eher verlassen, als bis er von einer großen Niederlage getroffen sei«.12 Doch die religiöse Einbindung der Attilageschichte brachte bald eine Fülle von Legenden hervor. In Gallien kreisten sie um die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, in Italien um den Zug der Hunnen im Jahr darauf. Sie kristallisierten sich um die historische Rolle, die einzelne Bischöfe als politische und religiöse Führer ihrer Städte gespielt hatten. Berühmt war das Schicksal der Stadt Orléans, vor der die hunnische Invasion zum Stehen gekommen war. Kurze Zeit später erwähnte der Bischof Sidonius Apollinaris, der einen »Attilakrieg« schreiben wollte, die Rettung der Stadt sei einer »himmlischen Prophezeiung« zu verdanken gewesen, die der Stadtbischof Annianus erhalten habe.13 Gregor von Tours, ein Bewunderer des Sidonius, berichtete im zweiten Buch seiner »Historien« 7 8 9 10 11 12 13
MGH, SS 13, S. 286. Zur Ursulalegende vgl. Anm. 31. Prosper Tiro, MGH, AA 9, S. 481f., 1364. Prosper Tiro, MGH, AA 9, S. 490, 18. Hydatius, Continuatio Chronicorum Hieronymianorum, MGH, AA 11, S. 26,150. Cassiodorus Senator, Chronica ad a. DXIX, MGH, AA 11, S. 157, 1253. Jordanes, 40,212, MGH, AA 5, S. 112. Sidonius Apollinaris, Epistulae 8,15, MGH, AA 8, S. 147.
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dazu ausführlich von Anninanus’ Taten, »die bei uns getreulich überliefert werden«:14 Der Bischof bat die verängstigten Einwohner, inständig zu Gott zu beten, der ihnen Hilfe schicken werde. Mehrmals wiederholte er seine Bitte, je näher die Feinde kamen und bereits Rammböcke an die Stadtmauer legten. Im letzten Augenblick erschien Aetius und der verbündeten Gotenkönig Theodor mit ihren Truppen und entsetzten die Stadt. Nur nebenbei nannte Gregor den Grund für Annianus’ Zuversicht. Er war schon vorher mit Aetius, der sich in Arles aufhielt, in Verbindung getreten, weil er den Angriff der Hunnen befürchtet hatte. Auf eine mündliche Erzählung berief sich Gregor für ein Wunder in Metz: Die Hunnen brannten die Stadt nieder und massakrierten die gesamte Bevölkerung. Nur die Kapelle des Protomärtyrers Stephanus blieb verschont. Ein frommer Mann hatte nämlich in einer Vision gesehen, wie der Heilige mit Petrus und Paulus über die Rettung seines Heiligtums verhandelte. Die Ermordung der Bewohner vermochte er jedoch nicht zu verhindern, weil Gott bereits ihren Untergang wegen ihrer Bosheit beschlossen hatte.15 Gregor folgte einer beliebten Erklärung, sooft eine Katastrophe trotz aller Gebete eingetreten war. Von einer persönlichen Begegnung einzelner Bischöfe mit Attila wusste Gregor noch nichts. Bischof Aravatius von Tongeren wich ihr geradezu aus.16 Auf das Gerücht vom Einfall der Hunnen hin ging er nach Rom, um die Hilfe des Petrus zu erbitten, erhielt aber nach langem Fasten vom Apostelfürsten die Auskunft, Gottes Ratschluss sei es, dass Gallien verwüstet werde. Er selbst solle für sein Grab sorgen, damit er die Leiden seiner Heimat nicht mitansehen müsse. Nach der Rückkehr widersetzte sich Aravatius den Tränen seiner Diözesanen und ging nach Maastricht, wo er wenig später starb.17 Andere Legenden schmückten jedoch das Zusammentreffen berühmter Bischöfe mit dem Hunnenkönig dramatisch aus. So auch eine Vita des Bischofs Annianus von Orléans, der, ein Hirte seiner Schafe, mit einigen Gefährten in Attilas Lager ging. Der Hunne spottete, er werde ihn zu Hause zum Aufseher über seinen Schafstall machen. Zurückgekehrt erflehte Annianus von Gott ein mehrtägiges Unwetter, das die Hunnen hinderte, die Belagerung fortzusetzen. Dann drängte er in einer Vision einen der Offiziere des Aetius, er möge seinen Feldherrn zum sofortigen Marsch auf Orléans bewegen. Das war die Rettung für die Stadt. Ein anonymer Bischof, den die Hunnen gefangen hatten und der dem Bittsteller Annianus zurief, Gebete hätten bisher keinem Amtsbruder genutzt, fiel zur Strafe sogleich tot um.18 14 15 16 17 18
Gregor von Tours, Historiae 2,7, S. 74–76. Ebd. 2,6, S. 74. Zur möglichen Identität mit Bischof Servatius vgl. S. 155. Gregor von Tours, Historiae 2,5, S. 72–74. Vita Anniani 4–10, MGH, SRM 3, S. 110–117.
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Anders erging es Bischof Lupus von Troyes, der ebenfalls in Gefangenschaft geriet. Seine Stadt hatte keine Mauern, und so verließ er sich erst recht auf das Gebet, »den bekannten Schutz«. Der »wilde und grausame Attila« war von seiner Frömmigkeit so beeindruckt, dass er Lupus’ Glauben annahm, ihn als Garanten für seine und seines Heeres Sicherheit mitführte und versprach, ihn zu entlassen, sobald er wieder am Rhein angekommen sei. Vor Lupus’ Heimkehr bat er ihn noch inständig mit Hilfe seines Dolmetschers Hunigasius, der Bischof möge für ihn beten.19 Weiter konnte man sich von der historischen Wirklichkeit nicht entfernen. Umstritten ist, ob die Vita des Lupus bald nach dessen Tod 479 verfasst wurde und ob der Autor der Annianusvita diesen als Konkurrenten des Bischofs von Troyes betrachtete und das Bild des bekehrten Attila verwerfen wollte.20 Als Paulus Diaconus um das Jahr 785 am Hof Karls des Großen sein Buch »Über die Metzer Bischöfe« verfasste, nannte er an dreizehnter Stelle Bischof Auctor, der zur Zeit des Hunneneinfalls in Metz amtierte. Er schob dann Gregors Erzählung über den Bischof von Tongeren ein, den er nicht Aravatius, sondern Servatius nannte. Auch für die Rettung der Stephanuskirche hatte er eine andere Version: Sie verwandelte sich vor den Augen der plündernden Hunnen in einen Felsblock, so dass die Marodeure enttäuscht abzogen.21 Attila bot den Bischöfen die Gelegenheit, Wunder zu wirken und so zu Heiligen zu werden. Denn neben der Askese waren seit dem 6. Jahrhundert Wunder der Ausweis der Heiligkeit.Das oft fiktive Todesdatum der neuen Heiligen wurde zum jährlichen Festtag, an dem im Memento der Messe ihrer gedacht wurde und die Gläubigen anschließend an ihre Gräber pilgerten. Der Sermo in natali gab dem Priester Gelegenheit, ausführlich vom Leben des Tagesheiligen und von seinen Taten gegen die Hunnen zu berichten. Der Tag wurde in die Festkalender aufgenommen, von denen manche zu sogenannten historischen Martyrologien erweitert wurden. Im Martyrologium des Florus von Lyon aus dem 9. Jahrhundert erschien Servatius am 13. Mai mit einer letztlich auf Gregor von Tours zurückgehenden Kurzfassung über die Zeit, »in der die Hunnen Germanien verwüsteten«.22 Florus ergänzte den historischen Rückblick um Servatius’ Grab in Maastricht: Rings fiel im Winter der Schnee, und nur die Grabstätte selbst blieb verschont, bis die Bürger der Stadt ihrem Heiligen eine Basilika errichteten. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts dichtete Heinrich von Veldeke nach lateinischen Vorlagen eine Lebensbeschreibung des Sente Servas im Mittelhochdeutsch seiner Maastrichter Heimat. Der Servatiuskult erreichte damals seinen Höhepunkt, und das Gedicht in 6.000 eingängigen Reimpaaren wurde 19 20 21 22
Vita Lupi, MGH, SRM 7, S. 293f. Berschin 1986, S. 260; 303. Liber de Episcopis Mettensibus, MGH, SS 2, S. 262f. Quentin, Les martyrologes historiques du moyen âge, S. 318.
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wohl Pilgern vorgelesen. Sie erfuhren so, wie Hunnen Servatius auf seiner Rückreise von Rom gefangen nahmen und ihn nach einem Lichtwunder baten, er möge ihnen seinen christlichen Glauben erläutern. Attila (»Etzele de rike«) ließ sich nach seiner Darstellung des wahren Gottes sogar taufen (1797–2016).23 Mit den Wundern, die Bischöfe nach den späteren Legenden im Jahr 451 bei den Hunnen vollbrachten, verband sich noch ein weiterer Gesichtspunkt, die Heidenmisson. Schon Bischof Martin von Tours hatte zwei bis drei Generationen vor dem Hunneneinfall dank seiner Wunder so manches gallische Dorf bekehrt.24 Die Vita, die sein Verehrer Sulpicius Severus verfasste, wurde zum Muster späterer Heiligenlegenden. Die Bischöfe Aravatius und Annianus bewiesen, dass sich die christliche Religion sogar bei den Barbaren aus dem Osten durchsetzte, und Lupus erreichte den Gipfel aller Missionstätigkeit, als er Attila bekehrte. Das Missionswerk einzelner Bischöfe, Kleriker und Mönche wurde von den frühen Karolingern und dann erst recht von Karl dem Großen gefördert. Der Westgote Theodulf, den Karl gegen Ende des 8. Jahrhunderts zum Bischof von Orléans erhob, pries seinen Gönner und dessen Sorge um die Ausbreitung des christlichen Glaubens unter den Heiden und insbesondere unter den Awaren, die er Hunnen nannte: »Die Heiden, die du mit auffordernder Rechten zu Christus rufst, kommen und sind bereit, Christus zu dienen. Dahinter folgt der Hunne mit geflochtenem Haar, und er, der vorher wild war, ist demütig im Glauben.«25 Während die älteren Reichsannalen wie Karl selbst die historisierende Bezeichnung Hunnen für die Awaren vermieden, folgte Theodulf dem Sprachgebrauch der jüngeren Reichsannalen, ebenso Einhard in seiner Karlsbiographie. Nur bei Karls erstem Awarenkrieg 791 deutete der Biograph den Wechsel zwischen den beiden Ethnika an: Karl zog »gegen die Awaren bzw. gegen die Hunnen«26 In den Reichsannalen zum Jahr 791 bestrafte Karl die Awaren für die Verbrechen, die sie »gegen die heilige Kirche und das christliche Volk begangen hatten«. Der Poeta Saxo, der gegen Ende des 9. Jahrhunderts in epischen Hexametern die Taten Karls verherrlichte, ersetzte in dem Gedicht zum Jahr 791 die Awaren durch die Hunnen und ging dementsprechend weiter zurück: Karls Grund für seinen Straffeldzug waren die Übeltaten, die die Hunnen zu ihrer Blütezeit unter Attila den Franken angetan hatten und deren sich »die Alten zu erinnern pflegen«. Ruhe vor den Hunnen bekamen die Franken erst, als eine wagemutige Frau den betrunkenen Attila nachts tötete und so ihren Vater rächte. Die ungenannte Ildico war also eine Fränkin. Der Dichter verzichtete auch nicht auf die bekannte christliche Deutung menschlichen Leidens: Mit der Hunnenzeit 23 24 25 26
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züchtigte Gott »seine lieben christlichen Franken in gütiger Weise«. Dabei half ihm also Attilas Mörderin. Dank ihrer Tat wurde »der häufige Sieger über viele Völker in den Tartarus gestoßen«.27 Die Geschichte Attilas wucherte weiter. Als der frischgeweihte Bischof Vedastes die Diözese Atrebatum mit dem Hauptort Arras übernahm und an seinem neuen Bischofssitz nur Ruinen vorfand, war daran Attila schuld, der einmal mehr als Werkzeug Gottes die Bewohner für ihre Sünden strafte.28 Allerdings waren die Hunnen nie bis in den Norden der Belgica secunda und an die Kanalküste gekommen. Der Kanoniker Flodoard von Reims beschrieb in seiner »Geschichte der Kirche von Reims« das grausame Martyrium des Stadtbischofs Nicasius und seiner Schwester Eutropia, erwähnte aber weder Attila noch die Hunnen.29 Im 10. Jahrhundert füllte der Benediktiner Sigebert von Gembloux in seiner »Chronik« die Lücke und korrigierte eine Überlieferung, die behauptet hatte, die Geschwister hätten unter den Vandalen den Tod erlitten. Der Bischof sei zusammen mit seiner Schwester von den Hunnen gemartert worden, so stellte Siegebert noch vor den Bischöfen Auctor von Metz und Servatius von Tongeren fest.30 Sigebert fügte seiner Chronik zum Jahr 453 auch einen Abriss der Ursulalegende ein. Von einer Passio Ursulae übernahm er die 11.000 Jungfrauen, die in Köln mit der englischen Königstocher Ursula den Hunnen in die Hände fielen und das Martyrium erlitten. Ihr »Krieg war berühmter als alle Kriege«, und durch ihr Blut und ihr Begräbnis machten sie Köln noch bekannter.31 Nach Paris kamen die Hunnen genau so wenig wie nach Atrebatum und nach Köln, obwohl dort ausgerechnet eine Frau, Genovefa, zur berühmtesten Gegnerin Attilas wurde und die Pariser sie später sogar zur Stadtpatronin erhoben. Als sich die Nachricht von Attilas Vormarsch verbreitete, beschlossen die Bürger der Stadt, ihr Hab und Gut an einen sicheren Ort zu bringen. Gerade der sei nicht sicher, widersprach Genovefa und rief die Pariser Frauen zusammen, um durch mehrtägiges gemeinsames Fasten und Beten Attila abzuwehren. Erbost wollten deren Männer die falsche Prophetin steinigen oder ertränken. Doch gerade noch rechtzeitig traf ein Archidiakon aus Auxerre ein und rettete sie mit der Versicherung, der berühmte Bischof Germanus aus seiner Heimatstadt habe verkündet, Genovefa »sei von Gott schon vom Mutterleib an auserwählt worden«.32 Oft wurde diese Geschichte als eine weitere erfundene Wundererzählung zum Jahr 451 angesehen. Aber im rechtzeitigen Erscheinen des Archidiakons liegt ein 27 28 29 30 31
Poeta Saxo, MGH, Poetae 4,1, S. 31. Vita Vedastis, MGH, SRM 3, S. 409f.; 421. Flodoardi Historia Remensis ecclesiae I, MGH, SS 13, S. 417–420. Sigebert: Gemblacensis Monachi Chronica, MGH, SS 6, S. 309. Ebd., S. 310. Wie aus 11 Jungfrauen 11.000 wurden, verfolgten Levison 1927 (S. 1–164) und Schmitz 1999, (S. 53–58). 32 Vita Genovefae virginis Parisiensis 12f., MGH, SRM 3, S. 219f.
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historischer Kern: Er brachte aus dem südlich der Katalaunischen Felder gelegenen Auxerre die Nachricht von Attilas Niederlage mit, die Genovefa rettete.33 Der Verfasser der sogenannten Fredegar-Chronik, der wahrscheinlich im 7. Jahrhundert schrieb, kannte Gregor von Tours, überging jedoch dessen Wundergeschichten und erzählte lieber ein Stück Diplomatiegeschichte, das nicht weniger phantasievoll war: Als Aetius vom Einfall der Hunnen in Gallien erfuhr, sandte er Annianus, den Bischof von Orléans, zum Westgotenkönig Theoderich und versprach ihm halb Gallien für seine Hilfe. Dann kamen seine Gesandten zu Attila und versprachen ihm dasselbe. Daraufhin verschonten die Hunnen die Städte Germaniens und Galliens und marschierten eilends auf Orléans zu. In der Nähe der Stadt kam es zur Schlacht zwischen Goten und Hunnen. Die einen verloren 200.000 Mann, die andern 150.000 Mann, während Orléans durch Annianus’ Gebete gerettet wurde. Dem in der Schlacht gefallenen Theoderich folgte sein Sohn Thorismund, und es kam zu einer weiteren Schlacht von drei Tagen in der Ebene von Maurica. Danach wiederholte Aetius sein Doppelspiel. Dieses Mal begann er mit Attila und warnte ihn vor einer heranrückenden Übermacht der Goten. Der König belohnte ihn mit 10.000 Solidi und zog sich nach Pannonien zurück. Noch in derselben Nacht ging Aetius auch zu Thorismund, um ihm zu sagen, ein gewaltiges hunnisches Entsatzheer sei im Anmarsch, und er möge sich schleunigst absetzen, worauf er ebenfalls 10.000 Solidi erhielt. Mit seiner Schläue befreite der Römer Gallien von den Goten und von den Hunnen. Diesen folgte er bis Thüringen nach und befahl seinen Soldaten, nachts jeweils zehn Feuer in gehörigem Abstand anzuzünden, um ein zahlreiches Heer vorzutäuschen.34 Die anonyme »Universalchronik« von 741 übernahm diese Version.35 Unter den Karolingern, die gegen die Sarazenen im Südwesten und die Awaren im Osten vorgingen, gab der Chronist dem gewitzten Strategen Aetius den Vorzug vor den frommen Bischöfen, die die Hunnen mit Wundern bekämpft hatten. Unter Karl dem Großen schrieb Paulinus von Aquileiea ein Gedicht »Über die Zerstörung Aquileias, das niemals mehr aufgebaut werden sollte«. Auf seinem Zug nach Italien 452 hatte Attila die sich hartnäckig verteidigende Stadt nach mehrmonatiger Belagerung dem Erdboden gleichgemacht. Der Dichter beschimpfte den Hunnen als gottlosen, brutalen, zähnefletschenden Löwen und tröstete sich zum Schluss, dass jener nun für seine Verbrechen büßen müsse und im Höllenfeuer von Ungeziefer gepeinigt werde.36 33 34 35 36
Heinzelmann 1986, S. 90. Fredegarii et aliorum chronica, MGH, SRM 2, S. 73f. (Kap. 53). Chronicon universale – 741, MGH, SS 13, S. 7. Paulinus von Aquileia, Carmen 10, Versus de destructione Aquilegiae (sic) numquam restaurandae, Strophen 6 und 20, MGH, Poetae 1, S. 142–144. Paulinus’ Urheberschaft des Gedichts ist allerdings umstritten.
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Der Dichter des lateinischen Waltharilieds, dessen Heimat im Bodenseeraum des 10. Jahrhunderts lag, schrieb seinem Attila neue Züge zu. Seine zeitliche Nähe zum geschichtlichen Wissen der Karolingerzeit, wo am Hof Karls des Großen Jordanes’ Getica gelesen wurden, sorgte dafür, dass er zunächst einzelne Züge des historischen Hunnenkönigs bewahrte: Eingangs ist Attila nicht der große Eroberer, sondern der kluge Staatsmann, der mit den Königen des Westens lieber Verträge schließt als Schlachten zu schlagen. Er betont, dass die Hunnen den Frieden lieben und nur notgedrungen gegen Rebellen zu den Waffen greifen.37 Attila scheint sich die Römer in Vergils Aeneis (6,851–853) zum Vorbild genommen zu haben. Ein wohlwollender Betrachter mochte tatsächlich Attilas Reichspolitik so beschreiben und sich dafür auf das Totenlied der Hunnen berufen.38 Die Sage setzt ein, sobald Attila den Königssohn Waltharius und seine Verlobte Hildegund mit nach Pannonien nimmt. Als Geiseln für die Vertragstreue ihrer Väter leben sie in seinem Palast, wo er ihnen »große Fürsorge« erweist und sie wie seine eigenen Kinder aufzieht.39 Obwohl Attila von seinen Beratern gewarnt wird, kann Waltharius, der zum stärksten Krieger unter den Hunnen herangewachsen ist, seine Fluchtpläne vor dem gutgläubigen König verbergen.40 Es gelingt ihm, mit Hildegund zu entkommen, und Attila bleibt in hilflosem Zorn zurück. Mit noch so hohen Belohnungen vermag er keinen seiner Mannen zu bewegen, die Flüchtenden zu verfolgen.41 Es war vor allem dieser Attila, von dem sich etwa 200 Jahre später der Dichter des mittelhochdeutschen Nibelungenlieds bei seinem Bild des Hunnenkönigs Etzel anregen ließ.42 Unter den zahlreichen Hilfstruppen, die Attila zu seinem Westfeldzug 451 gegen Gallien aufgeboten hatte, befanden sich auch Burgunder, die rechts des Rheins siedelten.43 Sie waren zu unbedeutend, als dass ihre Rolle die historische Überlieferung bestimmt hätte. Aber sie brachten die Erinnerung an Attila mit, als sie sich nach dem Zerfall seines Reiches ihren Stammesgenossen in der Sapaudia südlich des Genfer Sees anschlossen. Dort hatte Aetius 443 die Reste derjenigen Burgunder angesiedelt, deren Königreich um Worms 437 einem hunnischen Aufgebot zum Opfer gefallen war. Attila selbst hatte mit ihrer Niederlage nichts zu tun. Von der Sapaudia aus entstand ein neues Burgunderreich im südöstlichen Gallien, das 534 unter die Oberhoheit der Merowinger geriet. Als eines der tria regna Francorum bewahrte es zunächst ein rechtliches und kulturelles Eigenle-
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Waltharius, MGH, Poetae 6,1, S. 27, VV. 68–71. Rosen 2016b, S. 195. Waltharius, MGH, Poetae 6,1, S. 28, VV. 96–98. Ebd., S. 30f., VV. 162–169. Ebd., S. 39–41, VV. 358–418. Vgl. S. 160f. Sidonius Apollinaris, Carmina 7,322, MGH, AA 8, S. 211.
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ben. Der burgundische Adel mit seinen »sorgfältigen Herkunftsdistinktionen«44 war der Träger der geschichtlichen Überlieferung, die sich zu poetischen Sagen verformte. In ihr klang die Niederlage von 437 nach, verbunden mit dem Brudermörder und brutalen Eroberer Attila und seinem überraschenden Tod in der Hochzeitsnacht mit der Germanin Ildiko. Mitbestimmend könnte der Merowingerkönig Chlodomer gewesen sein, der 532 den Burgunderkönig Sigismund in die Hände bekam und ihn mit seiner Frau und seinen Kindern ermorden ließ.45 Im Karolingerreich wanderte die Sage nach Norden. Sie drang in Skandinavien ein, nachdem Karl der Große im letzten Sachsenkrieg 792–799 Nordelbien und das östliche Friesland gewonnen und 809–813 mit den dänischen Herrschern Friedensverträge geschlossen hatte. Haithabu nahe der dänisch-karolingischen Grenze mag eine Vermittlerrolle gespielt haben, wo Kaufleute aus Norden und Süden sich trafen und nicht nur Waren tauschten. Im 9. Jahrhundert schlug sich die Sage im älteren Athlilied der Edda, der Atlakvida, nieder:46 Der habgierige Athli, der Gudrun, die Schwester der Burgunderkönige, geheiratet hat, möchte deren Goldschatz haben und lädt sie an den Hunnenhof ein. Nachdem sie dort sein Opfer geworden sind, rächt Gudrun ihre Brüder. Sie schlachtet die gemeinsamen Söhne, setzt sie in einer thyestischen Mahlzeit dem betrunkenen Gatten vor und ermordet ihn. Anschließend steckt sie seinen Palast in Brand. Im jüngeren Athlilied der Edda, der Atlakmál aus dem 12. Jahrhundert, kämpft Gudrun am Hunnenhof an der Seite ihrer Brüder. Als diese gefallen sind, kommt es zu einer hasserfüllten Auseinandersetzung mit Athli, der so viel schwächer ist als ihr verstorbener erster Mann Sigurd. Auch dieser Athli wird ihr unterliegen. Er kann nur noch um ein ehrenvolles Begräbnis bitten, das sie ihm verspricht.47 Im sogenannten Hunnenschlachtlied der isländischen Herwarar Saga kommt Attila nicht vor. Nach einer neueren Deutung liegen der Saga die Kämpfe zugrunde, die die Westgoten unter Athanarich um 380 gegen eine hunnisch-ostgotische Koalition am Rand der östlichen und südlichen Karpaten geführt haben.48 In der Atlakmál warf Gudrun zum Schluss Athli vor, er habe bei einem Rechtsstreit im Thing seinem Gegner nie Widerstand geleistet, sondern habe ihm stets nachgegeben (Strophe 99). Gudrun sprach den milden Herrscher an, der im Waltharilied seinen Geiseln ein fürsorglicher Pflegevater war. In dem um 1200 entstandenen Nibelungenlied fand dieser Attila, nun mittelhochdeutsch Etzel 44 45 46 47 48
Werner 1999, Sp. 1064. Ewig 1988, S. 34. The Poetic Edda 1, Dronke (Hg.) 1969, S. 1–74. Ebd., S. 75–157. Reifegerste 1989, S. 192–194.
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genannt, seine Fortsetzung. Sein Hof wurde Zufluchtsstätte für vertriebene Helden wie Dietrich von Bern und dessen Gefolgsleute Hildebrand und Rüdiger von Bechelaren. Etzel war ein zuvorkommender, um Frieden bemühter Gastgeber, der seine Gäste vor hunnischen Beleidigungen schützte. Ihm ging das wilde Kriegertum ab, das sich vor allem in Hagen verkörperte und diesen dem historischen Hunnenbild näherte. Dem Christentum gegenüber war Etzel tolerant. Als Rüdiger der Burgunderprinzessin Kriemhild dessen Eheantrag überbrachte und die Christin zögerte, stellte ihr der Brautwerber in Aussicht, sie könne möglicherweise den hunnischen Heiden dazu bewegen, sich taufen zu lassen. Nie werde sie bei ihm Heimweh bekommen, da er zahlreiche christliche Recken beheimate (20,1262).49 Auch eine riesige Kirche gab es an seinem Hof, und mit seinen burgundischen Gästen besuchte er eine Messe, obwohl der Gesang von Christen und Heiden nicht übereinstimmte (31,1850; 1868). Hilflos musste er danach mit ansehen, wie seine Leute in der Saalschlacht von den Burgundern niedergemacht wurden (33,2000–2001; 35,2080). Ein zwischenzeitliches Friedensangebot der Burgunder lehnte er ab und prophezeite, keiner werde mit dem Leben davonkommen (36,2089; 2095). Ihn selbst, der schließlich eingreifen wollte, hielt Kriemhild vom Kampf und sicheren Tod zurück. Flehentlich bat er Rüdiger, gegen den überlegenen Hagen anzutreten, und versprach ihm als Lohn, er werde seine Herrschaft mit ihm teilen (37,2152; 2158). Entsetzt verfolgte er zum Schluss, wie seine rachsüchtige Frau Hagen den Kopf abschlug, und er brach in Tränen aus, als der erboste Hildebrand »der Königin mit dem Schwert einen schweren Schlag versetzte« und »die edle Frau in Stücke hieb« (39,2373; 2377). Schon vorher hatte der Dichter festgestellt, Etzel sei nach den vielen toten Hunnen, seinem Söhnchen unter ihnen, nie mehr froh geworden (36,2086). Mit dem König weinte Dietrich von Bern, der erst den Burgunderkönig Gunter, dann Hagen überwunden und sich vergeblich für dessen Leben verbürgt hatte (39,2373–2377). Der mittelalterliche Sagenkreis um Dietrich von Bern bewahrte eine Spur von Attilas Einfall in Italien im Jahr 452. Zugleich verbarg sich hinter dem Berner der Ostgotenkönig Theoderich, der 493 die Herrschaft über Italien gewann. Solche chronologische Unbekümmertheit war ein gängiges Merkmal der Sage. Im Gedicht »Über die Rabenschlacht«, das ein unbekannter Dichter etwa eineinhalb Jahrhunderte nach dem Nibelungenlied verfasste, zog Dietrich mit einem hunnischen Aufgebot, das ihm Etzel zur Verfügung gestellt hatte, über die Alpen, um seine verlorene Herrschaft zurückzugewinnen. Etzels zwei Söhne von seiner ersten Gemahlin Helche, die mit ihm zogen, verloren ihr Leben. Trotzdem durfte Dietrich an den Hunnenhof zurückkehren, wo ihn das verwaiste Königspaar
49 Die einzelnen Aventuiren und ihre Verse werden zitiert nach: Das Nibelungenlied I–II, ed. Brackert.
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wieder aufnahm, nachdem Rüdiger die beiden überzeugt hatte, dass der Berner am Tod ihrer Söhne unschuldig war.50 Auch der historische Attila siegte zunächst in Italien, vermochte aber Kaiser Valentinian III. das Land nicht zu entreißen und kehrte nach Pannonien zurück. Seinen taktischen Rückzug konnte man wie in Gallien als Niederlage ansehen, und wie dort knüpften sich in Italien viele Legenden daran. Schon Prosper Tiro, der älteste Historiker, der Attilas Italienzug zusammenfasste, überhöhte die Rolle, die Papst Leo I. für den Rückzug gespielt hatte: Der Hunnenkönig habe sich über das Erscheinen des höchsten Priesters so gefreut, dass er beschloss, seinen Feldzug abzubrechen. Tiro war der Sekretär des Papstes, und Leo hatte ihm gewiss persönlich verraten, dass er die Reise zu Attila im Vertrauen auf Gott unternommen habe.51 Der spätere Chronist Hydatius nannte die zwei tatsächlichen Gründe, die Attila zum Rückzug veranlassten: Versorgungsschwierigkeiten und die Pest; gemeint war wohl die Malaria im heißen August, die auch später so manche Invasionsarmee dezimierte. Die Versorgungsschwierigkeiten waren die Folge einer Hungersnot, die das Land schon längere Zeit heimsuchte. Der fromme Chronist war überzeugt, göttliches Eingreifen sei für beide Schwierigkeiten verantwortlich gewesen.52 Der Verfasser des Liber pontificalis wusste in seiner Biographie Leos lediglich, der Papst sei »propter nomen Romanum« zu Attila gegangen.53 In einer mittelalterlichen Legende verbrachte Leo vor seiner Abreise in der Apostelkirche drei Tage und Nächte im Gebet, wohlwissend, wie gefährlich sein Unternehmen war.54 Paulus Diaconus kannte in seiner »Römischen Geschichte« einen dritten Grund, warum Attila sein ursprüngliches Ziel, die Eroberung Roms, aufgab: Ihn ängstigte das Beispiel des Westgotenkönigs Alarich, der 410 Rom eingenommen hatte, aber kurz darauf in Süditalien starb. Noch während Attila an dessen Schicksal dachte, sei der Papst bei ihm eingetroffen. Und nun malte Paulus die Freude des Hunnenkönigs, von der Prosper Tiro gesprochen hatte, aus und eröffnete ein Thema, das in der Literatur und Kunst eine lange Spur hinterließ. Erstaunt erkannte Attila in der Erscheinung des »allerheiligsten Mannes« Gottes Willen und »er vermochte dem Priester Christi nichts anderes zu eröffnen, als was dieser selbst vorweg gewünscht hatte«. Nach Leos Abreise wurde der Hunne von seinen Leuten gefragt, warum er dem Römer alles Verlangte zugestanden habe. Attila rechtfertigte sich, seine Ehrerbietung habe nicht Leos Person gegolten, sondern er habe neben ihm einen anderen Mann in priesterlichem Gewand
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Rabenschlacht, ed. Lienert. Prosper Tiro, MGH, AA 9, S. 482, 1367. Hydatius, Continuatio Chronicorum Hieronymianorum, MGH, AA 11, S. 26f., 154. Liber pontificalis, ed. Duchesne, S. 239. Mombritius, Sanctuarium, S. 102.
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gesehen, der ihm mit gezücktem Schwert den Tod angedroht habe, falls er nicht sämtliche Wünsche des Papstes erfülle.55 Wörtlich übernahmen Paulus’ Version die »Römische Geschichte« des Landolfus Sagax im späten 10. Jahrhundert, die Chroniken des Frutolf und des Sigebert von Gembloux im späten 11. Jahrhundert sowie die Chronik des Romuald von Salerno im 12. Jahrhundert.56 Im 13. Jahrhundert erweiterte Jacobus de Voragine in der weit verbreiteten Legenda aurea die Begegnung zwischen Leo und Attila: Sobald der Hunnenkönig den Papst sah, stieg er vom Pferd, warf sich ihm zu Füßen und bat, er möge verlangen, was er wolle.57 Es war das Jahrhundert, in dem das Papsttum auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Der Mann mit dem gezückten Schwert neben dem Papst, den auch Jacobus erwähnte, verkörperte die politische Seite der päpstlichen Machtfülle. Raffael ging in seinem Gemälde, das er 1511–1514 in der Stanza di Eliodoro des Vatikans schuf, nicht mehr so weit: Attila in der Bildmitte bleibt auf seinem Rappen sitzen, während Leo von links auf einem Schimmel auf ihn zureitet. Er trägt die Tiara und hebt segnend die Rechte. Statt des Mannes neben dem Papst schweben über ihm Petrus und Paulus, beide mit einem Schwert in der Hand. Leos I. Namensvetter Leo X. aus dem Hause Medici hat das Bild in Auftrag gegeben. Otto von Freising kannte in seiner »Chronik« nur die Bedenken, die die Erinnerung an Alarich bei Attila ausgelöste hatte. Er vermerkte eine andere langfristige kirchenpolitische Folge: Einwohner Aquileias waren rechtzeitig in die Lagune geflohen, wo später Venedig entstand. Sie hatten die Reliquien ihres ersten Bischofs Hermagoras mitgenommen und damit die Patriarchenwürde. Daher rührte noch zu Ottos Zeit der Streit um den Vorrang zwischen Grado und Aquileia, das in Wirklichkeit 452 noch gar nicht das Patriarchat besaß. Eine weitere Folge hatte die lange Belagerung Aquileias: Der Berg, auf dem die Stadt Udine liegt, wurde nicht, wie bisher überliefert, von Julius Caesar aufgeschüttet, sondern als Belagerungsdamm von Attilas Truppen, wie die Einwohner dem Besucher Otto versichert hatten.58 In Mailand war nach einer Anekdote, welche ein als ›Suda‹ bekanntes byzantinisches Lexikon überliefert,59 nicht der Papstverehrer Attila, sondern der überhebliche Hunnenkönig aufgetreten. Als er in der Stadt ein Gemälde er55 Paulus Diaconus, Historia Romana 14,12, MGH, AA 2, S. 204f. 56 Landolfus, Historia Romana 2, ed. Crivelluci, S. 7f.; Frutolf: Ekkehardi Chronicon Universale, MGH, SS 6, S. 126; Sigebert (vgl. Anm. 30): MGH SS 6, S. 310; Romuald: Garufi (Hg) 1935, S. 101. 57 Jacobus de Voragine: Maggioni / Stella 2007 (ed.), Bd. 1, S. 556, Nr. 83. 58 Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus 4,27, MGH, SS rer. Germ 45, S. 219. 59 Vgl. zur Suda: Tosi 2006.
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Abb. 1: Raffael (Raffaello Sanzio), Die Begegnung Papst Leos I. mit Attila, 1514, in der Stanza di Eliodoro, Palazzi Pontifici, Vatikan; ikonographische Angaben nach: https://www.wga.hu/art/r/ raphael/4stanze/2eliodor/4meetin.jpg [07. 02. 2020], für die Abb. © SCALA Group S.p.A.
blickte, das römische Kaiser auf goldenen Thronen und vor ihnen kniende Skythen zeigte, befahl er, dass Bild zu übermalen. Attila selbst wollte auf dem Thron sitzen, während die Kaiser Säcke auf den Schultern trugen und ihm Gold vor die Füße streuten.60 Der Erfinder der Anekdote wusste offensichtlich, dass Leo und seine beiden kaiserlichen Mitgesandten Attilas Rückzug mit einer hohen Summe vergoldet hatten. Die Stadtgeschichten vieler Städte Oberitaliens vermerkten, dass sie es einst mit Attila zu tun bekommen hatten. Bei manchen Wundererzählungen ist man versucht zu sagen, er habe ihnen die Ehre gegeben. Sein Name bekam neuen Klang, als die Ungarn, die neuen Hunnen, vom Jahr 898 an mehrmals in Italien einfielen. Die Erinnerung an Attila lag ebenfalls nahe, sooft sächsische, salische und staufische Herrscher über die Alpen ins Regnum Italiae zogen und widerständige Kommunen ihre Freiheit gegen sie verteidigten. Der Magister Boncompagno brachte in seinem »Buch über die Belagerung Anconas im Jahr 1173« die unhistorische Angabe, Attila habe die von Kaiser Trajan errichteten Hafenmauern zerstört. Der Belagerer war Erzbischof Christian von Mainz, Kaiser Barbarossas Reichslegat in Italien.61 Wie in Gallien war man in Italien stolz auf
60 Adler (Hg.) 1933, Bd. 3, S. 161 (Nr. 21223); 346 (Nr. 405). 61 Liber de obsidione Ancone (a. 1173), Rerum Italicarum Scriptores VI, parte III, ed. Zimolo, S. 9f.
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Bischöfe, die als Stadtpatrone Attila mutig entgegengetreten waren, und wie im Nachbarland nahm man es mit der Chronologie nicht immer genau. Eine Vita des Geminianus von Modena aus dem 10. Jahrhundert war voll von Wundern, die der Bischof vollbracht hatte und die an seinem vielbesuchten Grab noch zunahmen. Zu Lebzeiten muss folglich seine Wunderkraft Modena vor den Hunnen gerettet haben, obwohl er 452 schon ein halbes Jahrhundert tot war: Während das feindliche Heer sich näherte, spazierte Geminianus auf der Stadtmauer, und Attila rief zu ihm hinauf, wer er sei. Ein Diener Gottes, in dessen Hand alles liege, lautete die Antwort. Darauf der Hunnenkönig, er sei Attila, die Geißel Gottes (flagellum Dei), und alle Diener, die den Befehlen ihres Herrn nicht gehorchten, würden verdientermaßen gegeißelt (flagellantur). Der Bischof entgegnete, einer Geißel Gottes widersetze er sich nicht, und ließ die Stadttore öffnen. Attila und die Hunnen betraten Modena, tasteten sich wie Blinde vorwärts, ohne etwas zu zerstören, und zogen verwirrt ab.62 Geminianus schützte die Stadt ein weiteres Mal 891 gegen die Ungarn, die deren Mauerring nicht zu brechen vermochten. Ungewollt trugen sie und Attila zur wachsenden Verehrung des Heiligen bei. Dank seiner Vita wurde flagellum Dei geradezu ein Titel des Hunnen, der kürzeste Ausdruck für den auch in der Vita wiederholten Gedanken, Gott habe Attila geschickt, um das christliche Volk für seine Sünden büßen zu lassen. Der Wortwitz im Dialog zwischen Geminianus und Attila und dessen theologischer Gehalt waren so ansprechend, dass man ihre altercatio auch Lupus von Troyes, dem berühmtesten gallischen Attilagegner, in den Mund legte. Die Legenda aurea schob sie in eine Vita von Lupus’ theologischem Weggefährten Germanus von Auxerre ein. Ebenfalls ein Einschub war der Disput in einer lateinischen Servatiusvita und bei deren Benutzer Heinrich von Veldeke.63 Isidor von Sevilla scheint um 620 das knappe flagellum Dei noch nicht gekannt zu haben. In seiner Gotengeschichte nannte er die Hunnen insgesamt eine »Zuchtrute des Gotteszorns« (virga furoris Dei). Als Beleg für ihre Barbarei diente ihm ihre Sitte, den Hunger im Krieg dadurch zu stillen, dass sie einem Pferd die Schlagader aufschlitzten und sein Blut tranken.64 Aber nicht nur Attila war eine Gottesstrafe. Er selbst wurde auch von Gott bestraft. Otto von Freising, Frutolf folgend, ergänzte zu seinem Tod durch einen Blutsturz: »Ich glaube, das geschah nach einem gerechten Gottesurteil, dass
62 Mombritius, Sanctuarium, S. 601. 63 Jacobus de Voragine: Maggioni / Stella 2007 (ed.), Bd. 2, S. 691, Nr 103; Heinrich von Veldeke, Sente Servas – Sanctus Servatius, ed. Frings / Schieb, S. 102. 64 Isidoris Iunioris Episcopi Hispalensis Historia Gothorum, Wandalorum Sueborum, MGH, AA 11, S. 278f.
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nämlich derjenige, der stets nach Menschenblut gedürstet hatte, auch an seinem eigenen Blut erstickte und zugrunde ging.«65 Nach Bischof Lupus bekehrte sein Amtsbruder Johannes von Ravenna Attila ein weiteres Mal zum Christentum. Agnellus, ein Priester aus dem Adel der Stadt erzählte dazu in seiner Kirchengeschichte aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts eine weitschweifige Anekdote: Als sich die Hunnen Ravenna näherten, fürchtete Johannes nach ihren vielen Mordtaten das Schlimmste für seine Gläubigen. Eine Nacht lang flehte er zu Gott in Gebeten, die Agnellus ausführlich zitierte. Am nächsten Morgen zogen der Bischof und alle seinen Kleriker in ihren liturgischen Gewändern und Psalmen singend zu Attila hinaus. Der hatte einen solchen Aufzug noch nie gesehen, und ebenfalls königlich gewandet empfing er Johannes auf seinem Thron. Man klärte ihn über den Mann auf. Dieser sei sogar bereit, sein Leben für seine Begleiter, seine geistigen Söhne, zu opfern, ehemalige Heiden, die er für seinen Gott gewonnen habe. Attila geriet darüber in solche Bewunderung, dass er dem Bischof versprach, Ravenna zu verschonen. Er hielt sein Versprechen. Am nächsten Tag betrat er die Stadt, und als er sie verließ, schmückten die Bürger ihm zu Ehren alle Plätze.66 In Ravenna wie in Modena konnte man in späteren Jahrhunderten der Phantasie freien Lauf lassen, weil die Hunnen 452 nie über den Po hinausgekommen waren und die südlichen Städte keinen Schaden erlitten hatten. Ob Attila nördlich des Flusses Altinum oder Padua zerstört habe, fragte sich Paulus Diaconus in der »Römischen Geschichte«.67 Eine sichere Überlieferung scheint es nicht gegeben zu haben. Vielleicht deswegen durfte sich Michele Savonarola in seinem »Lob auf Padua« eine Burleske erlauben: Der sagenhafte König Dardanus besiegte Attila in den Euganischen Bergen, verfolgte ihn bis Rimini und erschlug ihn dort mit dem Schachbrett.68 Dante deutete im 13. Gesang des Inferno an, Attila habe Florenz eingeäschert. Man hat angenommen, er habe den Hunnen mit dem Ostgotenkönig Totila verwechselt, der Florenz zerstört haben soll. Doch im 14. Jahrhundert waren auch Boccaccio und der Historiker Ricordano Malispini der Meinung, Attila habe Florenz zerstört. Ihnen widersprach im 15. Jahrhundert Leonardo Bruni Aretino im ersten Buch seiner »Geschichte des florentinischen Volkes«. In einem Abriss über Attila betonte er, er habe eindeutig herausgefunden, dass der Hunne nie Etrurien betreten habe, weil er nicht über den Mincio, einen Nebenfluss des Po, hinausgekommen sei. Zu Leos Gesandtschaft bemerkte er, der Papst habe sie für das allgemeine Wohl unternommen. Dabei konnte er, der Teilnehmer am Konzil 65 Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus 4,28, MGH, SS rer. Germ 45, S. 220. 66 Agnellus, Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis 37, MGH, SRL 1, S. 299–302. 67 Paulus Diaconus, Historia Romana 13,11, MGH, AA 2, S. 204. 68 Burckhardt 1962, S. 101.
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von Konstanz, sich nicht den Kommentar verkneifen: »Denn noch hatte sich nicht diese unerträgliche Überheblichkeit in das Papsttum eingeschlichen, wie wir sie jetzt erleben, sondern sie (die Päpste) führten in Demut und Heiligkeit den Vorsitz.«69
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Neuzeit
Machiavelli fasste im ersten Buch seiner »Florentinischen Geschichte« Attilas Geschichte flüchtig zusammen: Nachdem der Hunne die oberitalischen Städte zerstört hatte, wandte er sich nach Rom, wo ihn die Bitten des Papstes und die Achtung vor ihm von der Plünderung der Stadt abhielten. Leos Namen nannte Machiavelli nicht. Wichtiger als das päpstliche Rom war für den Florentiner, der sein Werk 1520–1525 schrieb, eine langfristige Folge, die Attilas Wüten für die italienische Geschichte hatte: Einwohner von Aquileia, Padua und anderen Städten der Venetia waren vor dem Hunnen in die Lagunen geflohen, wo Venedig gegründet wurde: »Von der Not gezwungen verließen sie die lieblichsten und fruchtbarsten Stätten und hausten in unfruchtbaren und hässlichen, die jeglicher Annehmlichkeit entbehrten. Und weil zahlreiche Menschen in einem Gebiet zusammengepfercht waren, machten sie jene Stätten in kürzester Zeit nicht nur wohnlich, sondern reizend, schufen unter sich Gesetze und Ordnungen, und bei so vielen Trümmern in Italien erfreuten sie sich ihrer Sicherheit.«70 Für Machiavelli lieferten die Flüchtlinge e silentio den Beweis, dass diejenigen griechischen Philosophen Recht hatten, die erklärten, Kultur und staatliche Ordnung seien aus Not und Bedürftigkeit entstanden. Menschen schlossen sich zu ihrer Sicherheit in Städten zusammen, gaben sich Gesetze für ein friedliches Miteinander und trugen durch ihre unterschiedlichen Fähigkeiten zum gemeinsamen Wohl und zur Blüte ihrer Heimat bei.71 Machiavellis Attila, der ungewollt zum Förderer einer ehemals unwirtlichen Gegend wurde, hatte nichts zu tun mit dem Bild des Hunnenkönigs, das zur Zeit des Florentiners auf Medaillen erschien.72 Das Bild mischte verschiedene Vorstellungen: den antiken Pan, den Waldgott Faunus, den Faunus ficarius, den der Prophet Jeremia in der Vulgata im verwüsteten Babylon zusammen mit Drachen hausen lässt (50,39), sowie die mittelalterliche Physiognomie des Teufels, wie sie der Mönch Rodulfus Glaber in seinen »Historien« schilderte: Eines Morgens sah er am Fußende seines Bettes den Teufel in Gestalt 69 70 71 72
Bruni Aretino, Historiarum Florentini populi libri XII, ed. Santini / Di Pierro, S. 24. Machiavelli, Istorie Fiorentine 1,29, ed. Martelli, S. 635; 652. Platon, Protagoras 322 b–c. Huszár 1947, S. 5–40; Tafeln 1–6. Für eine Kopie des Aufsatzes danke ich Frau Prof. Dr. Maria R.-Alföldi, Frankfurt / M.
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»eines erschreckend anzusehenden Männchens […]. Er war […] von mittlerer Statur, hatte einen dünnen Hals ein eingefallenes Gesicht, kohlschwarze Augen, eine runzlige, niedere Stirn, plattgedrückte Nüstern, einen aufgeworfenen Mund mit schwellenden Lippen, ein fliehendes, schmales Kinn, einen Ziegenbart, zottige, spitze Ohren, abstehende, wirre Haare, Hundezähne, einen spitz zulaufenden Hinterkopf, eine gewölbte Brust, einen höckerigen Buckel, hin- und her wedelnde Hinterbacken und schmutzige Kleider, während er sich angestrengt mit ganzem Körper vorbeugte.«73
Ein beliebtes Motiv auf der Rückseite der Attila-Medaillen war die Stadt Aquileia, die unter allen Städten, die von den Hunnen heimgesucht worden waren, die bekannteste blieb.74 Nach einer Attila-Medaille schuf Giovanni Antonio Amadeo das Rundrelief des Hunnenkönigs an der Fassade der Certosa von Pavia, die nach Jacob Burckhardt »außer aller Analogie steht […], weltberühmt durch ihren überreichen Schmuck und abgesehen von demselben vielleicht die bestgedachte des 15. Jahrhunderts«.75 Amadeo arbeitete an der Fassade 1490–1498. Für die Umschrift des Reliefs entschied sich der Künstler nicht für das auf Medaillen häufige Attila rex, sondern für das dort weniger verbreitete Attila flagellum Dei. Traf er seine Wahl, weil Italien unter einer neuen Gottesgeißel litt? Im Jahr 1494 war Karl VIII. von Frankreich in das Land eingefallen. Im 15. Jahrhundert sah man am Hof des ungarischen Königs Matthias Corvinus nicht mehr den teuflischen Attila, sondern die größte Gestalt im Stammbaum der Ungarn. Schon im 11. und 12. Jahrhundert hatten ungarische Historiker Geschlechtsregister von Attilas Vorfahren aufgestellt, die im Alten Testament mit Noahs Sohn Japhet oder mit dem berühmten Jäger Nimrod einsetzten.76 Sie beriefen sich auf die Bibel, um die Verleumdung zu widerlegen, Hexen, die Haliurunnae, seien die Vorfahren der Hunnen gewesen. Das hatte noch ihr Zeitgenosse Gottfried von Viterbo dem Jordanes nachgesprochen.77 Nach einer im griechischen und lateinischen Herrscherlob beliebten Formulierung nannte János von Thúróczy Matthias Corvinus »den zweiten Attila«. Wie der Attila des Jahres 452 angeblich Papst Leo entgegengekommen war, so half der neue Attila dem Heiligen Stuhl gegen die Türken.78 Die neuzeitliche Geschichtsschreibung über Attila und die Hunnen wurde befruchtet, nachdem der Humanist Konrad Peutinger 1515 in Augsburg den Erstdruck der Getica des Jordanes herausbrachte und in den nächsten Jahr73 74 75 76
Rodulfus Glaber, Historiae 5,2, ed. France / Bulst, S. 218. Vgl. die Übersicht bei Huszár 1947, S. 36–39. Burckhardt 1970, S. 105. Gesta Hungarorum, ed. Szentpéry, S. 35; Simon de Keza, Gesta Hungarorum 4, ed. Szentpéry, S. 144f.; Veszprémy / Schaer, S. 10f. 77 Jordanes, Getica 24, 121f., MGH, AA 5,1, S. 89; Gottfried von Viterbo, Pantheon, Particula 22,11, MGH, SS 22, S. 183. 78 Vayer 1967, S. 192; 194.
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zehnten weitere Drucke in europäischen Offizinen folgten. Im Jahr 1603 veröffentlichte David Hoeschel ebenfalls in Augsburg eine Ausgabe der Excerpta de legationibus des Konstantinos Porphyrogennetos. Sie enthielt den ausführlichen Bericht des Priscus (griech. Priskos) von Panion über seine Reise zu Attila und das Leben an seinem Hof.79 Zedlers Universallexikon enthielt im zweiten Band von 1732 einen Abriss über Attila, der aus verschiedenen Darstellungen zusammengeschrieben war und Geschichte und Legende mischte: Die Hunnen zerstörten Straßburg, und den Titel »Geißel Gottes« übernahm Attila voll Freude von einem Einsiedler, der ihn so in Gallien angeredet hatte. Nach der Niederlage gegen Aetius zog er ins thüringische Eisenach, wo im großen Kriegsrat der Italienzug beschlossen wurde. Papst Leo musste sich in einem Lexikon, das in zwei lutherischen Hochburgen erschien, mit einer kargen Notiz begnügen; auch sei die Erzählung von Ursula und den 11.000 Märtyrerinnen in Köln von Gelehrten längst verworfen worden. Zusammenfassend bemühte sich der Artikel jedoch um ein ausgewogenes Bild des Hunnenkönigs.80 Dagegen frönte der Hallenser Jurist Friedrich Christian Jonathan Fischer in Band 1 des »Deutschen Museums«, der 1780 in Leipzig erschien, dem damals verbreiteten »anti-römischen Affekt« (Carl Schmitt). Einleitend lobte er Attila, der »gleich anderen Helden der ersten Größe« bemüht war, dem Aberglauben Schranken zu setzen und der Priesterschaft die dem Volk geraubten Schätze zu entwinden. Aber dadurch erfuhr er auch die schreckliche Wirkung, die jede Verfolgung dieser Menschenklasse nach sich zieht. Wütend beschrieb Fischer diese Wirkung: »Der gemeine Haufen der Mönche wusste eine Menge hässlicher Verleumdungen gegen ihn auszustreuen und sein Andenken beim Volk auf mancherlei Art zu lästern.« Boshafter Weise habe jener auch alle Denkmäler vernichtet, die Attilas edlen Charakter in der Nachwelt vor aller Verunglimpfung hätte sichern können. Nie hatten antike und mittelalterliche Quellen Attila mit der Frage zusammengebracht, ob und wie viel er zum Niedergang des Römischen Reichs beigetragen hat. Sein Rückzug aus Gallien und Italien und sein plötzlicher Tod gaben auch keinen Anlass, der Frage nachzugehen. Der erste, der die Frage entschieden stellte, war Montesquieu in seinen »Betrachtungen über die Gründe für die Größe der Römer und für ihren Niedergang«, die er 1734 veröffentlichte. Dementsprechend überschrieb er sein 19. Kapitel: »Größe Attilas. Ursache für die Niederlassung der Barbaren. Gründe, warum das Westreich als erstes niedergeworfen wurde.«81 Rom war dadurch groß geworden, dass es die Mächte, die sein Misstrauen erregten, auseinanderdividierte. Bei Attila klappte diese Politik nicht 79 Rosen 2016b, S. 255; 298, Anm. 36. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Thorsten Beigel im vorliegenden Band. 80 Zedler 1732, Sp. 2080–2082. 81 Montesquieu 1734 / 1954, S. 106–112.
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länger, so dass er sich die Völker nördlich der Donau bis zum Rhein unterwerfen konnte. Mehr wollte er nicht; es genügte ihm, Rom dauernd in Schrecken zu versetzen. Der Niedergang des Westens erfolgte erst nach Attilas Tod. Seine Söhne konnten die unterworfenen Völker nicht länger beherrschen. Andererseits war Rom inzwischen so schwach geworden, dass selbst das kleinste Volk den Römern zu schaden vermochte. Erst die Nachgeschichte des Attilareiches zeigte also, was sein Gründer geleistet hatte. Dieser Meinung war auch Montesquieus bedeutender Fortsetzer Edward Gibbon. Doch von der historischen Größe, die der Franzose Attila zugebilligt hatte, machte er Abstriche, als er im zweiten, 1783 erschienenen Band seines Geschichtswerks den Hunnen die Kapitel 34 und 35 widmete. Nachruhm wollte er nicht zum Maßstab einer historischen Persönlichkeit machen, die vor allem von der Schwäche des Gegners profitierte. Hätte Kaiser Theodosius II. das Geld, das er aus seinen Untertanen herauspresste, nicht für seinen Luxus verprasst, sondern mit ihm eine schlagkräftige Armee aufgebaut und tapfer gegen die Hunnen gekämpft, »so hätten die Barbaren aufgehört, auf der Majestät des Reiches herumzutrampeln«82. Rom und Attila – das war in den Augen von Ludwig Theobul Kosegarten der Kampf der »gesitteten Welt mit der Ungesitteten«. Seinen Höhepunkt erreichte er auf den Katalaunischen Feldern. Dort stritt der Held Aetius »für die Erhaltung alles Guten und Schönen, was aus dem Alterthum auf die Neue Welt ist herabgeerbet worden. Ging diese Schlacht verloren, so war der Okzident tartarisch, das Christenthum ging unter; die Künste und Wissenschaften erloschen; Europa verwilderte; das Menschengeschlecht ward um Jahrtausende zurück geworfen«.
Der Propst auf Rügen, der später Geschichtsprofessor in Greifswald wurde, zog ein bisher vernachlässigtes Fazit über den Attila nicht nur des Jahres 451, in dem er nach Pannonien zurückging: »um nichts reicher oder geehrter geworden durch seinen ungeheuren Zug; es wäre denn, dass er das Verarmen von hundert Nazionen sich zum Gewinst, das Abwürgen einer Million Menschen sich zu Ehre gezählt hätte.« Kosegarten schrieb dieses bittere Schlusswort im Jahr 1801.83 Man glaubt, den Zeitgenossen Napoleons zu hören, der an die blutigen Kämpfe dachte, die der brutale Korse seit 1793 geführt hatte. Für Papst Pius VI. war er der neue Attila, nachdem er 1796 den Oberbefehl über die französischen Truppen in Italien erhalten und das Aufgebot des Kirchenstaates am Senio zwischen Imola und Faenza geschlagen hatte. Mit dem Direktorium in Paris war Napoleon sich einig, dass Rom besetzt und das Papsttum entmachtet werden müsse. Die Äußerung des Papstes war ihm zugetragen worden. Als er daher in 82 Gibbon 1781 / 1994, S. 310. 83 Kosegarten 1801, S. 191–209.
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Faenza vor eine Versammlung von Klerikern trat, fauchte er den Erzabt der Kamaldulenser an: »Sagt dem Papst, dass Bonaparte kein Attila ist; doch sollte er ein Attila sein, sagt ihm, er solle daran denken, dass er der Nachfolger Leos ist.« Papst Leo I. war zu Attila gegangen und hatte mit ihm verhandelt, während sich Pius VI. Napoleons Forderungen heftig widersetzte.84 Der Schweizer Historiker Johannes von Müller, der 1804 in preußische Dienste getreten war, veröffentlichte 1806 in Berlin anonym eine Broschüre über Attila. In diesem Jahr hatte Napoleon den Rheinbund begründet, bevor er im Oktober Preußen bei Jena und Auerstedt seine schwerste Niederlage zufügte. Danach war von Müllers Einleitung der durchsichtige Aufruf an die Deutschen, aus der Geschichte Attilas zu lernen: Denn »der Geist des abentheuerlichen Mannes und der Zeitgenossen thörichte Uneinigkeit, Feigheit und Schwäche, wodurch es ihm gelungen, so furchtbar zu seyn, mögen nimmer zu viel betrachtet werden«.85 Auch am gescheiterten Napoleon blieb der Schimpfname Attila hängen. In Frankreich höhnte sein publizistischer Gegner Benjamin Constant 1813 nach der Katastrophe in Russland und der Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig: »Der Mann des Schicksals, der Attila unserer Zeit, er, vor dem die Erde verstummte, verstand nicht zu sterben.«86 Allerdings gehörte Constant wie Johannes von Müller zu den »Wendehälsen«, die nach einer Begegnung mit Napoleon die Seiten wechselten. Auf St. Helena bekannte der abgesetzte Kaiser gegenüber seinem Kammerherrn Comte de las Cases nicht ohne Stolz, man habe ihn »den modernen Attila, den Robespierre zu Pferde genannt«.87 Unausgesprochen beeinflusste Napoleon in der Folgezeit manche Aussage über Attila. 1818 verfasste der Staatsrechtler und Historiker Karl von Rotteck den Artikel Attila für die Enzyklopädie von Ersch und Gruber. Kritisch ging er mit verschiedenen antiken und modernen Fabeln über den Hunnen ins Gericht. In der Schlusswürdigung wetterte der Radikalliberale, und er schien dabei zugleich über den Korsen und seine Verehrer den Stab zu brechen: Attila war ein großer Mann lediglich »nach dem Urteil beschränkter Schriftsteller, welche, dem Pöbel gleich, das F u r c h t b a r e für groß halten […], nach der Ansicht der Schwärmer zumal, welche über den poetischen Reiz eines Charakters der moralischen Würdigung vergessen [….]. Nur im Zerstören – was auch blinde Naturkraft kann – war Attila groß, und nur des Zerstörens freute er sich«.88
84 85 86 87 88
Filippone 1967, S. 32. von Müller 1806, S. 3. Constant 1942, S. XVI. Kircheisen (Hg.) 1913, S. 187. Ersch / Gruber (Hg.) 1818, S. 259–262.
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Bei dem »poetischen Reiz«, den Attilas Charakter ausübte, dachte von Rotteck an die Dichter, die den Hunnenkönig auf die Bühne brachten. Der berühmteste war Pierre Corneille, dessen Attila nach der Uraufführung 1667 in Paris im selben Jahr noch mehrmals gespielt wurde. In einem Vorwort der Originalfassung erklärte der Dichter, sein Attila sei mehr ein Mann des Kopfes als der Hand. Auf die dramatische Überlieferung, er sei in der Hochzeitsnacht von Ildiko (»Ildione«) ermordet worden, verzichtete er zugunsten der zuverlässigeren Version, er sei an einem Blutsturz erstickt, der bei ihm in einen längeren Todeskampf mündete. Seine Braut machte Corneille zu einer Schwester des fränkischen Königs Merowech (»Méroüee«), um das aufsteigende Frankreich dem niedergehenden Römischen Reich entgegen zu setzen.89 1808 erschien Zacharias Werners Tragödie Attila, die 1809 in Wien Premiere hatte. Sie war ein »romantisches Erlösungsstück und Gnadendrama«.90 Sein Schluss zeigt das überdeutlich: In Anwesenheit von Papst Leo wird Attila von seiner Verlobten, der burgundischen Prinzessin Hildegunde, erschlagen. Zuvor hat ihm der Papst seine Sünden vergeben, und Attila jubelt: »Und fall ich – o so wird aus meinem Staube Ein herrlich Volk von Helden sich erheben; Das alte Rom sinkt seiner Schuld zum Raube, Ein neues wird durch mich hernieder schweben; Und freudig wird des Höchsten kühner Glaube In Rittertum, Gesang und Sehnsucht leben.«91
Goethe unterdrückte eine harsche Rezension, weil sie dem Stück nicht gerecht werde. Er selbst meinte, Werner mache von seinem Talent »unerlaubten Mißbrauch«.92 Begeistert war dagegen die Napoleongegnerin Madame De Staël.93 Werner regte das Libretto von Giuseppe Verdis Oper Attila an, die 1846 uraufgeführt wurde. Auch hier bildet die Ermordung des Hunnen das dramatische Finale. An ihm wollte nicht nur der römische Feldherr Ezio und Foresto, ein Ritter aus Aquileia, Rache üben, sondern auch dessen Geliebte Odabella, die Tochter des Herzogs von Aquileia. Sie sollte am folgenden Tag Attila heiraten. Doch bevor Foresto ihn durchbohren konnte, kam ihm Odabella zuvor. Anschließend singt das Trio zusammen mit dem Chor: »Alle sind gerächt, Gott, Völker, Könige.« Es ist nicht die einzige Stelle der Oper, wo der Risorgimento spürbar wird.
89 90 91 92 93
Corneille 1987, S. 639–703. Koziełek 1967, S. 216. Werner 1808, S. 245. Goethe, Brief an H. C. Eichstädt, Briefe Bd. 3, S. 102, Nr. 895. Madame De Staël 1958, Bd. 3, S. 141–150.
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Der deutschnationale Rechtsprofessor Felix Dahn, der in viel gelesenen Erzählungen das Germanentum verherrlichte, verfasste für seine dreizehnbändige Sammlung Kleine Romane aus der Völkerwanderungszeit (1882–1901) auch einen Attila. Wie der Untertitel besagte, lag sein Schwergewicht auf dem Todesjahr 453. Die Gepidin Ildicho erdrosselte den betrunkenen Attila mit ihren langen blonden Haaren. Gerettet wurde sie durch den plötzlichen Einfall gepidischer Stammeskrieger und die Liebe des Attilasohns Ellak. Das überlieferte Totenlied auf Attila dichtete Dahn pathetisch weiter: »Schon ist deine große Seel Eingefahren in die Seele eines großen Helden, Der an deiner Statt die Hunnen Führen wird, o Sohn des Mundzuck […].«94
Jacob Burckhardt nahm Abstand von den alten und neuen Attilalegenden und schränkte selbst die zuverlässige antike Überlieferung ein. Er rechnete den Hunnenkönig zu den »großen Zernichtern des Lebens«, die uns ein Rätsel bleiben, da sie nicht genug Zeit zum Vollbringen hatten. Ausgehend von Attilas plötzlichem Tod überlegte der Historiker: Er hätte vielleicht Kräfte vernichtet, »welche unter Umständen auch sehr schädlich für die Menschheit hätten werden können«.95 Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 waren die Invasoren von jenseits des Rheins für geschichtsbewusste Franzosen die Hunnen, die nach 451 ein weiteres Mal über Gallien herfielen. In Bismarck sahen sie den neuen Attila, der noch schlimmer hauste als der alte. Die Klage kam dem preußischen Ministerpräsidenten zu Ohren, und ironisch schrieb er seiner Frau: »Die Leute müssen mich für einen Bluthund halten, die alten Weiber, wenn sie meinen Namen hören, fallen auf die Knie und bitten mich um ihr Leben. Attila war ein Lamm gegen mich.«96 Nach dem napoleonischen Zeitalter waren Attila und die Hunnen erneut zu politischen Kampfbegriffen geworden. Der französische Dichter Victor de Laprade fragte sich 1873 traurig: »Wie Blumen pflücken und ein Fest feiern auf einem Boden, den die Füße der Barbaren zertrampelt haben?« Die Verse schlossen an den angeblichen Ausspruch Attilas an, wo sein Pferd hintrete, wachse kein Gras mehr. Der Dichter blickte anschließend zurück: Die Horden Attilas haben in das verhöhnte Frankreich den Schrecken gebracht und die Krieger der alten Zeiten
94 Dahn 1888, S.419. 95 Burckhardt, Historische Fragmente, hg. Dürr / Bischoff (Hg.), S. 40. 96 Otto von Bismarck, Werke, Bd. 4,2, hg. von Scheler 1968, S. 513, Brief Nr. 272 vom 16. August 1870.
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wachgerufen. Er schließt mit einem Aufruf an seine Landsleute, Barbaren wie sie zu werden und den Hass bis aufs Äußerste zu pflegen.97 In Frankreich und darüber hinaus wurde Kaiser Wilhelm II. der nächste deutsche Attila. Die ›Auszeichnung‹ verdient hatte er sich vor allem durch seine berüchtigte Hunnenrede, mit der er am 27. Juli 1900 in Bremerhaven Soldaten verabschiedete, die zum Kampf gegen den Boxeraufstand aufbrachen.98 Für viele Deutsche war der Attila Wilhelm eine Majestätsbeleidigung. Das Manifest der 93, in dem sich Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs »An die Kulturwelt« wandten, empörte sich gleich im ersten Artikel, dass der Kaiser, »den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen«, jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe verspottet worden sei. Kurz zuvor war »Attila« der Pfeil, den Schriftsteller in einer öffentlich ausgetragenen Fehde aufeinander schossen. Nach dem deutschen Überfall auf Belgien und der Bombardierung Leuvens und seiner berühmten Bibliothek richtete der Franzose Romain Rolland an Gerhart Hauptmann die erbitterte Frage: »Seid ihr die Enkel Goethes oder Attilas?« Worauf Hauptmann sich zu der Antwort verstieg: »Lieber sollten die Deutschen sich Söhne Attilas nennen lassen, als auf ihren Grabstein die Inschrift < Söhne Goethes > gesetzt bekommen.« Der Heidelberger Privatdozent Friedrich Gundolf sprang Hauptmann bei: »Attila hat mehr mit Kultur zu tun als alle Shaw, Maeterlinck, d’Annunzio und dergleichen zusammen.« Dem verqueren Nationalstolz auf der einen Seite stand die Propaganda auf der anderen Seite gegenüber, die von den Deutschen nur noch als den Hunnen sprach. Die Londoner Times vom 2. September 1914 veröffentlichte das Gedicht The Hun is at the Gate von Rudyard Kipling. In den Vereinigten Staaten entfesselten Zeitungen, Bücher und Filme einen Sturm der Entrüstung gegen die Hunnen, nachdem ein deutsches U-Boot am 7. Mail 1915 den britischen Passagierdampfer Lusitania versenkt hatte und 1198 Menschen ertranken, unter ihnen 128 US-Bürger. Die Zustimmung, man müsse sich dem Kampf der freien Welt gegen die Hunnen anschließen, wuchs immer mehr. Unmittelbar vor Kriegsende, am 10. November 1918, einem Sonntag, verkündete die Schlagzeile der verbreiteten Wochenzeitung News of the World: »Hunnische Kapitulation gewiß«. Auch nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Deutschen das bösartige Ethnikon nicht los. Hitler wetterte darüber im Völkischen Beobachter vom 8. Mai 1921. Doch er selbst nannte im Zweiten Weltkrieg nach dem Frankreichfeldzug seine Anweisung, die noch frei gebliebene Südhälfte des Landes zu besetzen, »geheime Kommandosache Unternehmen Attila«. Entsprechend hieß es zur
97 Girardet 1983, S. 54–56. 98 Die Belege hier und im Folgenden bei Rosen 2016b, S. 8f.; 264.
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Ausführung: »Sollte örtlich Widerstand auftreten, ist er rücksichtslos zu brechen.«99 Nachdem Hitler die Sowjetunion überfallen hatte, wurden Stalin zum Attila und die Russen zu Hunnen. Hitler, der den Rückgriff in die Geschichte liebte, sprach in seinen Reden öfter davon, ein neuerlicher Hunnensturm unter Attila – der Leser des Nibelungenliedes zog den Namen Etzel vor – bedrohe Deutschland und Europa, und sein Propagandaminister Joseph Goebbels griff den Vergleich eilfertig auf.100 Doch war nicht Hitler der wahre Attila des 20. Jahrhunderts? Der Oxforder Historiker Allan Bullock, der 1952 die erste große wissenschaftliche Hitlerbiographie veröffentlichte, sah in seiner Schlussbetrachtung unter allen historischen Bösewichtern allein in Attila eine vergleichbare Erscheinung: »Es ist diese Leere, dieses Fehlen irgendeiner Rechtfertigung der durch ihn verursachten Leiden, was Hitler – von seinem monströsen und unbeherrschten Willen abgesehen – zu einer so abstoßenden und so armseligen Gestalt macht. Hitler wird seinen Platz in der Geschichte haben; aber neben dem Hunnen Attila, dem barbarischen König, der nicht den Beinamen ›der Große‹, sondern ›die Gottesgeißel‹ erhielt.«101
Der Spiegel setzte in der Ausgabe vom 19. 11. 1952 über die Besprechung der englischen Ausgabe die Überschrift: »Hitler: Platz neben Attila«. Den Vergleich Hitlers mit Attila, deren beider »Vermächtnis nur Zerstörung« war, übernahm Ian Kershaw, der jüngste britische Historiker, der eine noch umfangreichere Hitlerbiographie verfasste.102 Jörg Friedrich verwob in seinem Buch Der Brand die Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg mit historischen Rückblicken auf Attila und die Hunnen, die in Köln die heilige Ursula und 11.000 Jungfrauen abgeschlachtet und an Etzels Hof in Ungarn den Burgundern den Untergang bereitet hatten.103 Auch für friedlichere politische Auseinandersetzungen war Attila immer noch zu gebrauchen. In England hing 1979 Clement Freud, Abgeordneter der Labour Party, der Vorsitzenden der Konservativen Margaret Thatcher ein spöttisches »Attila the Hen« an, und jedermann dachte natürlich bei Henne sofort an Hunne. Schlug bei dem 1924 in Berlin geborenen Enkel von Sigmund Freud der Berliner Witz durch?104 Gar nicht witzig gemeint war »Attila«, wenn der Name als Synonym für eine verfehlte Kulturpolitik in Dienst genommen wurde, die ein Angriff auf Europas 99 100 101 102 103 104
Hubatsch (Hg.) 1965, S. 79–81. Vgl. Rosen 2016b, S. 11–13; 265. Bullock 1964, S. 848f. Kershaw 2000, S. 9. Friedrich 2002, S. 257f. Josef Joffe zitiert dazu in »Die Zeit« vom 9. April 2013, einen Tag nach dem Tod von Margret Thatcher, den Londoner »The Economist«.
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geistige Werte zu sein schien. Im Jahr 2009 veröffentlichte der italienische Schriftsteller und Latinist Luca Canali ein Buch mit dem Titel »Attila aufhalten. Die klassische Tradition als Gegenmittel gegen das Vordringen der Barbarei«.105 In den fünf Essays des Buches, die Themen zur römischen Literatur und Geschichte behandeln, kommt Attila nicht mehr vor. Wofür der Hunne in den Augen des Verfassers stand, besagte er zur Genüge mit seinem plakativen Titel. Am 9. Mai 2015 veröffentlichte der französische Schriftsteller Jean d’Ormesson im Pariser Le Figaro einen »Offenen Brief an den Präsidenten der Republik und an die Attilas des Bildungswesen«.106 Der Briefschreiber protestierte entsetzt gegen die Reform der gymnasialen Bildung, die die damalige Kultusministerin beabsichtigte. Die Dame war für ihn »eine Art lächelnder Attila, hinter dem die Wiesen der historischen Erinnerung nie mehr aufblühen werden«. D’Ormesson konnte sich sicher sein, dass gebildete Franzosen die Anspielung auf das oben erwähnte Attilawort verstanden: Wo sein Pferd hintrete, wachse kein Gras mehr. Im Rheinland sorgte Attila seit 1958 für heitere Unterhaltung. In diesem Jahr gründete ein Bewunderer, der sich nach seinem Vorbild nannte, in Köln die »I. Kölner Hunnenhorde«. Ihr folgten bald weitere Horden in Köln und über Köln hinaus. Bei Karnevalsumzügen und in sommerlichen Hunnenlagern präsentieren sich die modernen Hunnen in Phantasiekostümen Jahr für Jahr der Öffentlichkeit.107 Der Anstoß dazu kam durch den Film Attila der Hunnenkönig mit Jack Palance. Der Titel schien dem deutschen Verleiher attraktiver zu sein als das nichtssagende amerikanische Original von 1954: Sign oft the Pagan. Mehr Besucher lockte 1955 der italienisch-französische Film Attila, die Geißel Gottes in die Kinos, in dem Anthony Quinn und Sophia Loren die Hauptrollen spielten. Attilas Filmkarriere begann allerdings bereits 1922/24 als Etzel in Fritz Langs zweiteiligem Epos Die Nibelungen. Im deutschen Volksmund lebendig geblieben ist auch eine vage Vorstellung, dass die Hunnen Rabauken waren. Wie sonst lässt sich erklären, dass sich Fußball-Hooligans, die wohl nie ein Buch über die Völkerwanderung gelesen haben, voll Stolz Hunnen nennen? Attila inspirierte nicht nur die Filmemacher, sondern auch die Ratgeberliteratur. 1987 brachte Wess Roberts, amerikanischer Bestellerautor mit einem Doktor in Psychologie, ein Buch mit dem Titel Leadership Secrets of Attila the Hun auf den Markt, nachdem er vorher Victory Secrets of Attila the Hun publiziert hatte. Als große Leistung galt ihm Attilas Integration vorher unverbundener Hunnenhorden zu einer hunnischen Nation. Das Urteil der Leser war sehr gemischt. Neben Zustimmung und Interesse stand die Ablehnung, aus der Herr105 Canali 2009. 106 D’Ormesson 2015. 107 Hartmann / Schmitz 1991.
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schaft eines brutalen Barbarenkönigs des 5. Jahrhunderts Lehren für heutige Manager oder gar für Eltern und Erzieher ableiten zu wollen.108 Politischer Ernst bedeutet Attila heute vor allem in Ungarn. Es gibt dort eine »heilige hunnische Kirche«, deren Mitglieder sich für Hunnen halten und in Attila den »großen Schamanen« sehen. Für sie ist Jesus sogar ein »Halbhunne«.109 Der rechtskonservative Gábor Vona sieht in den Hunnen ein Turkvolk. Folglich sind ihm die Bewohner der heutigen Türkei Brüder, unter denen man solche Verwandtschaft gerne hört. Nicht wenige Ungarn und Türken verehren Attila als ihren bedeutendsten Vorfahren und geben seinen Namen ihren Kindern. Vona wirbt für ein euro-asiatisches Staatsmodell und ruft in Wahlversammlungen seinen Anhängern zu: »Vergesst nicht, ihr seid die Söhne Attilas!«110 Solche nationale Geschichtspolitik in einem Mitgliedsland der Europäischen Union trägt nicht gerade zu deren Einheit bei. Doch sie ist das jüngste Beispiel dafür, dass Attila mehr als jede andere antike Persönlichkeit in Europa unvergessen ist und dass sich sein Name daher auch weiterhin in verschiedener Weise verwenden lässt.
Quellen- und Literaturverzeichnis Abkürzungen zu den Monumenta Germaniae Historica (MGH): MGH, AA: MGH, SRL: MGH, SRM: MGH, SS: MGH, SS rer. Germ.: MGH, Poetae:
Monumenta Germaniae Historica, Auctores antiquissimi. Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum. Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum. Monumenta Germaniae Historica, Scriptores (in Folio). Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi. Monumenta Germaniae Historica, Antiquitates, Poetae Latini medii aevi.
Die Systematik ist unter folgendem Link mit Zugang zu den jeweiligen Volltexten der Editionen online einsehbar: https://www.dmgh.de/ [26. 08. 2020].
108 Roberts 1987 / 1990; Ders. 1993. Einen Überblick über die Reaktionen von Watson 1994, 211– 216. 109 Rosen 2016b, S. 14. 110 Kálnoky 2014.
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»Populäre Inszenierung des Grauens«: Attila und die Hunnen-Einfälle im modernen Geschichts-Comic
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Prolog
In seiner im Jahre 551 n. Chr. vollendeten Gotengeschichte (De origine actibusque Getarum) stellte der Historiker Jordanes, ein romanisierter Gote, Attila einleitend mit einem prägnanten Charakterporträt vor: »Dieser Attila war der Sohn Mundzuks, dessen Brüder Oktar und Roas vor Attila die Herrschaft bei den Hunnen gehabt haben sollen, wenn auch nicht über alle die, welche er beherrschte. Nach ihrem Tod folgte er mit seinem Bruder Bleda in der Herrschaft über die Hunnen nach und, um vorher zu der Unternehmung, die er beabsichtigte, stark genug zu sein, suchte er Verstärkung seiner Macht durch Brudermord und eilte zum Entscheidungskampf für alle über die Leichen der Seinigen. Aber er fand, wenn er auch durch diese abscheuliche Tat an Macht zunahm, doch durch die Wage [sic!] der Gerechtigkeit einen schmählichen Ausgang für seine Grausamkeit. […] Er war ein Mann, dazu geschaffen, die Welt zu erschüttern, der Schrecken aller Länder, der auf eine unerklärliche Weise alles in Furcht setzte durch den schrecklichen Ruf, der über ihn verbreitet war. Stolz schritt er einher und ließ nach allen Seiten die Augen schweifen, damit die Macht, die der hochmütige Mensch innehatte, auch in seiner Körperbewegung sich zeigte. Er war ein Liebhaber der Kriege, aber persönlich zurückhaltend; seine Stärke lag in seiner klugen Umsicht. Gegen Bittende war er nicht hart, und gnädig gegen die, welche sich ihm einmal unterworfen hatten. Er war klein von Gestalt, breitschultrig, dickköpfig, hatte kleine Augen, spärliches Barthaar mit Grau untermischt, eine platte Nase, dunkle Hautfarbe, und trug die Kennzeichen seines Ursprungs. Wenngleich er schon von Natur eine große Siegeszuversicht hegte, so erhöhte doch der Fund des Schwertes des Mars noch sein Selbstvertrauen; […] kühn, wie er war, meinte er, er sei zum Herrn der Welt bestimmt, und die Übermacht im Kriege sei ihm mit dem Schwerte des Mars verliehen.«1
Dieses Charakterporträt Attilas wie auch viele weitere Informationen über die Geschichte der Hunnen in der Gotengeschichte des Jordanes (bzw. Jordanis) gründen zu großen Teilen in den Schriften des griechischen Rhetors und His1 Jordanis 1985, XXXV (S. 91–92); vgl. auch Homeyer 1951, bes. S. 42–43; ferner Gillett 2009.
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torikers Priscus, der Attila auf einer Gesandtschaftsreise (449 n. Chr.) persönlich kennen gelernt hatte, die aber bedauerlicherweise insgesamt nur fragmentarisch erhalten sind.2 Auf diese wohl durchaus zuverlässigen Quellen stützte Jordanes knapp ein Jahrhundert nach den Ereignissen seine eigene Darstellung Attilas, seiner Persönlichkeit und seiner Taten, wobei er insbesondere Attilas Tod (durch Blutsturz in der Hochzeitsnacht) zum Anlass nahm, abschließend nochmals die Zwiespältigkeit in der Bewertung seines Lebens und seiner Taten zu explizieren: »Hierbei ereignete es sich merkwürdigerweise, daß die Gottheit im Traum zu Marcian, dem Fürsten des Morgenlandes, dem bange war wegen eines so furchtbaren Feindes, herantrat und ihm in derselben Nacht [sc. von Attilas Tod] den zerbrochenen Bogen Attilas zeigte, da ja jenes Volk sich auf diese Waffe viel zu gut tat. Dies behauptet der Geschichtsschreiber Priskus mit zuverlässigem Zeugnis erhärten zu können. So furchtbar erschien Attila den großen Reichen, dass sie seinen Tod wie ein Geschenk von oben den Herrschern des Himmels anrechneten. Wie sein Leichnam von seinem Volk geehrt wurde, davon wollen wir nur weniges aus vielem hervorheben. Mitten auf dem Felde unter seidenen Zelten wurden seine sterblichen Reste aufgebahrt. Dann führten sie ein wunderbares feierliches Schauspiel auf. Die besten Reiter aus dem ganzen Hunnenvolk ritten um den Platz herum, wo er lag, wie bei Zirkusspielen, und verherrlichten seine Taten in Leichengesängen auf folgende Weise: ›Attila, der Hehre, Beherrscher der Hunnen, Mundzuks Erzeugter, König kampfmutiger Völker, der wie kein andrer vor ihm Scythiens und Germaniens Reiche mit unerhörter Macht allein regierte, der beiden Römerreiche Schrecken, der Städteeroberer; um nicht das übrige der Plünderung anheimfallen zu lassen, ließ er sich erbitten, jährlichen Tribut anzunehmen. Da er alles dieses mit Glück vollbracht hatte, fand er nicht durch eine Wunde der Feinde, nicht durch den Trug der Seinigen, mitten im freudigsten Glück, im Glanz seines Volkes, sonder Schmerzempfindung den Tod. Wer sollte also das für des Lebens Ende halten, wo niemand an Rache denken kann?‹ Nachdem sie ihn mit solchen Klageliedern betrauert, feierten sie ihm auf seinem Grabhügel eine strava, wie sie es nennen, mit unermeßlichem Trinkgelage, und indem sie Gegensätze miteinander verbanden, vermischten sie die Todesklage mit Äußerungen der Freude. Dann übergaben sie in der Stille der Nacht den Leichnam der Erde. Seinen ersten Sarg hatten sie aus Gold, den zweiten aus Silber, den dritten aus Eisen gefertigt; damit zeigten sie, daß alles dieses dem mächtigen König zukomme: das Eisen, weil er die Völker bezwang, Gold und Silber, weil er die Zierden beider Reiche erhalten habe; dazu legten sie durch Feindes Tod erbeutete Waffen, kostbaren Pferdeschmuck, strahlend von Edelsteinen aller Art, und mancherlei Ehrenzeichen, mit denen der Glanz des Hofes geziert wird. Und damit menschliche Neugier von so vielen großen Reichtümern ferngehalten werde, töteten sie – ein schrecklicher Lohn! – die mit der Arbeit Beauftragten nach vollbrachtem Werk, und die Totengräber, wie den Begrabenen überraschte ein plötzlicher Tod.«3 2 Vgl. eine Auswahl der Fragmente (aus den Excerpta de legationibus des Konstantinos Porphyrogennetos) in Byzantinische Diplomaten und östliche Barbaren (1955), bes. S. 15–82; vgl. auch Blockley 2003; Brodka 2008 sowie den Beitrag von Thorsten Beigel im vorliegenden Band. 3 Jordanis 1985, XLIX (S. 123–125); vgl. auch Homeyer 1951, bes. S. 176–184; vgl. auch die moderne Analyse bei Rosen 2016, bes. S. 226–232.
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Verehrung und Bewunderung wie – sehr viel häufiger – abergläubische Furcht, Abscheu und Grauen haben die politisch-historische Bewertung Attilas, seiner Persönlichkeit und seines Wirkens bereits bei seinen Zeitgenossen und frühen Historikern, neben archäologischen Befunden unseren zentralen Quellen,4 wesentlich mitgeprägt. Schnell wurde die Gestalt des so enigmatischen Hunnenkönigs über die Historiographie hinaus auch zum Gegenstand der Literatur, der Sage: »In drei Sagenkreisen sind die Schicksale altgermanischer Helden mit dem Hunnenkönig verknüpft: im Waltharilied, im althochdeutschen Hildebrandlied, in den mittelhochdeutschen Dietrichsliedern und im Nibelungenlied.«5 In – dem Mittelalter durchaus – analoger Weise sind die Zeit der Völkerwanderung, die unruhigen Jahrzehnte um die Mitte des 5. Jahrhunderts, die Kämpfe zwischen Germanen und Hunnen und zwischen Goten und Römern, der zur »Geißel Gottes«, zum Schrecken der Welt stilisierte unergründliche Hunnenkönig Attila, sein Charakter und sein zumeist grausam-brutales Wirken, auch in der Gegenwart nicht nur Gegenstände der Geschichtswissenschaft.6 Sie sind darüber hinaus, als die schöpferische Phantasie immer wieder neu beflügelnde Stoffe, zu Teilen der Literatur- und Populärkultur geworden, wie insbesondere historische Romane,7 Filme,8 Computerspiele9 und Comics dokumentieren. Historische 4 Vgl. insgesamt bes. Homeyer 1951 und zuletzt Rosen 2016. 5 Homeyer 1951, S. 180; vgl. einige Details ebd. S. 180–183, insbes. die Schlusswürdigung S. 183: »Seltsamerweise hat in den uns erhaltenen germanischen Sagen das von den Ostrogoten geschaffene Bild Etzels als des weisen und gütigen Herrschers gesiegt über den grausamen und raubgierigen Attila, wie er in der Vorstellung der westlichen und nördlichen Völker weiterlebte.« Vgl. auch Bäuml 1993 und Löfstedt 1993; vgl. zum konkret politisch-propagandistischen Gebrauch Attilas und der Hunnen im 20. Jahrhundert die Beispiele bei Rosen 2016, insbes. S. 9–15. 6 Vgl. z. B. Bachrach 1994; Barnish 1992; Bäuml / Birnbaum 1993; Birnbaum 1993; Blason Scarel 1994; Böhme 1994; Bóna 1991; Chrysos 1978; Clover 1973; Croke 1981; Demandt 1970; Ders. 1984; Ders. 2007; Doerfer 1973; Elton 1992; Fündling 2006; Gießauf 2006; Gordon 1960; von Haehling 1978; Haussig 2000; Heather 1995; Ders. 2006; Ders. 2009; Hohlfelder 1984; Howarth 1994; Kelly 2008; Kim 2013; King 1987; Lindner 1981; Maas 2015; Maenchen-Helfen 1978; Man 2005; McBain 1983; Mitchell 2007; Pohl 2000; Pohl 2005, bes. S. 100–125; Pritsak 1956; Ders. 1982; Reynolds / Lopez 1946; Rosen 2016; Schäfer 1998; Schmauder 2009; Sinor 1993; Stickler 2002; Ders. 2007; Vössing 2014; Ders. 2018; Ward 1993; Ward-Perkins 2005; Wirth 1999; Wolfram 1993; Ders. 2018. 7 Vgl. statt vieler nur die jüngsten und exzellent recherchierten Attila-Romane von Napier 2005, 2007, 2008 und Gibbins 2015. 8 Vgl. z. B. bereits den 53-minütigen Stummfilm Attila (Italien, 1918: Regie: Febo Mari), dann: Attila, The Hun: Sign of the Pagan (USA, 1954: Regie: Douglas Sirk), Attila, il flagello di Dio (Italien / Frankreich, 1954: Regie: Pietro Francisci), Attila (USA, 2001: Regie: Dick Lowry) und Attila – Master of an Empire (USA, 2014: Regie: Emmanuel Itier). 9 Vgl. bes. Total War: Attila 2015; dies ist der neunte Teil (IX) der Computerstrategiespielserie Total War des britischen Entwicklerstudios Creative Assembly; es knüpfte an Teil II: Total War: Rome an und erschien am 17. Februar 2015 (vgl. insgesamt die überzeugende Detailanalysen von Rollinger 2016).
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Romane wie auch Monumentalfilme werden gelegentlich (und dann zumeist in Ausschnitten) in den Geschichtsunterricht integriert, Computerspiele eher zögerlich; der didaktische Einsatz von Comics im Unterricht kann dagegen auf eine angesichts der erst späten Akzeptanz des Genres Comic erstaunlich lange Tradition zurückblicken.10 Gemeinsam ist den frühen Studien etwa seit Mitte der 1970er Jahre, dass sie nahezu ausschließlich die stofflichen und didaktischen Aspekte fokussierten und die genrespezifischen Aspekte des erzählerisch-ästhetischen Zusammenwirkens von Bild und Text weitgehend marginalisierten. Die internationale Comicforschung der letzten Jahrzehnte11 wie auch insbesondere die Forschungen zur Etablierung einer umfassenden, multimedial konzeptualisierten Medienkompetenz (etwa im Deutsch- oder Fremdsprachen-, zuvörderst im Englischunterricht)12 führten insgesamt zu einer präziseren Terminologie und klareren historischen und theoretischen Distinktionen der genrespezifischen Erzählstrategien,13 und konnten darüber hinaus exemplarisch zeigen, wie multimodale und multiliterale Kompetenzen mit Comics gelehrt und gefördert werden.14 Bevor im Folgenden einige literarisch-visuelle Repräsentationen Attilas und der Hunnen im modernen Geschichts-Comic15 exemplarisch vorgestellt und analysiert werden, ist ein knapper, einleitender, primär terminologisch-definitorisch fokussierter Abschnitt unverzichtbar.
10 Vgl. bes. Burgdorf 1976; Dohm 1999; Gundermann 2007; Dies. 2014; Mounajed 2009; Ders. 2010; Munier 2000; Näpel 2010; Ders. 2011; Riesenberg 1974; Wolfinger 1999. 11 Vgl. z. B. Adams 2008; Ahrens 2017; Baetens / Frey 2015; Blank 2014; Booker 2010; Cary 2004; Chute 2008; Cohn 2013; Ditschke / Kroucheva / Stein 2009; Dolle-Weinkauff 2014; Ders. 2017; Eisner 2008; Fletcher-Spear / Jenson-Benjamin / Copeland 2005; Gravett 2005; Groot 2009; Grünewald 2010; Ders. 2013; Ders. 2014; Harbeck 2017; Hescher 2012; Ders. 2016; Ders. 2018; Jones 2011; McCloud 1993; Ders. 2000; Ders. 2006; Ders. 2014; McTaggart 2008; Packard 2014; Ders. 2017; Riches 2009; Seidl 2007; Weiner 2003 und Wolk 2007. 12 Vgl. z. B. Cary 2004; Cohn 2013; Harbeck 2017; Hescher 2012; Pointner 2013; Ribbens 2009; Rüschhoff 2013; Schwender / Grahl 2016; Seidl 2007; Thiele 2015 und den Schwerpunkt »Teaching Multimodality and Multiliteracy« in: Anglistik. International Journal of English Studies 29,1 (2018), S. 5–143 (vgl. auch Anm. 13). 13 Vgl. Dolle-Weinkauff 2017; Groensteen 2011; Ders. 2014; Krichel 2006; McCloud 2006; McTaggart 2008; Pandel 1994; Ders. 1999; Schüwer 2008 und Zimmermann 2017. 14 Vgl. Bland 2018; Deetjen 2018; Dohm 1999; Hescher 2012; Ders. 2018; Ludwig 2018; MaruoSchröder 2018 und Sheyahshe 2008. 15 Vgl. insgesamt Dolle-Weinkauff 2014; Ders. 2017; Gundermann 2014; Dies. 2017; KesperBiermann / Severin-Barboutie 2014; Mounajed 2009; Ders. 2010; Munier 2000.
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Terminologie: Cartoon – Comic(s) – Graphic Novel – Geschichts-Comic
Ungeachtet der nicht ganz geklärten Etymologie des Begriffs ist Cartoon in der Moderne vergleichsweise konsensual zu definieren als ein(e) zweidimensionale(s), nicht- oder semirealistische(s) Bild, Illustration oder Zeichnung, das / die in seiner / ihrer jeweiligen Funktion auf Satire, Karikatur und / oder Humor zielt.16 Bei dem Begriff Comic(s) ist eine Definition nicht ganz so einfach. Ein weiter Comicbegriff, der insbesondere durch Scott McCloud (1993; 2000) geprägt und verbreitet wurde, »fasst alle intentional gestalteten starren Bildsequenzen als ›Comics‹ auf und schließt ausdrücklich auch ägyptische Fresken als Comics avant la lettre mit ein. Der Minimalfall eines Comics besteht dabei aus zwei verschiedenen Panels«.17 Wiewohl es natürlich in der Natur philologischer Forschung liegt, Genres und Gattungen mit langen Ahnenreihen auszustatten und ihre Entstehung möglichst weit zurückzudatieren, wird man festhalten dürfen, dass es seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen weitgehenden Konsens im Verständnis des Begriffs Comic gibt: Comic ist die Bezeichnung für eine »grundsätzlich auf Reproduzierbarkeit angelegte Ausprägung des ›Prinzips Bildgeschichte‹ […], die mithilfe von Sequenzen starrer Bilder zeitliche Abläufe vermittelt, dabei überwiegend von der ›engen Bildfolge‹ Gebrauch macht und verbale Sprache, so sie verwendet wird, formal ins Bild integriert [als Textblöcke, Sprechblasen, oder Ähnliches]«.18 Heutzutage lassen sich alle Formen der Veröffentlichung, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, Hefte, Softcover- und Hardcover-Alben und »umfangreiche ›Graphic Novels‹«19 unter dem Label Comic(s) zusammenfassen. Wenn eine Graphic Novel zugleich ein Comic oder ein Comic-Book ist, welchen Vorteil bietet dann die neue Bezeichnung? Der Terminus Graphic Novel ist erstmals in den 1960er Jahren belegt und seit Will Eisners Contract with God (1978), Art Spiegelmans Maus (1986), Frank Millers Batman: The Dark Knight Returns (1986) und Alan Moores und Dave Gibbons’ Watchmen (1986–1987) wird er zu einer überaus populären, wenngleich nicht allgemein akzeptierten Bezeichnung.20 Gemeinsam ist den vier genannten Beispielen, dass sie allesamt in den literarischen Feuilletons wiederholt und eingehend gewürdigt wurden; dass Art Spiegelman für Maus den renommierten Pulitzer Prize (1992) erhielt, wird dann zur letzten Bestätigung, dass der Terminus Graphic Novel primär ein 16 Vgl. bes. Packard 2009. 17 Schüwer 2008, S. 7; vgl. ebenso McCloud 1993; Ders. 2000. 18 Schüwer 2008, S. 10; vgl. insgesamt die ausgewogene Diskussion bei Ebd., S. 6–12. Vgl. auch Blank 2014, S. 35. 19 Schüwer 2008, S. 9. 20 Vgl. Weiner 2003; Wolk 2007; vgl. auch Hausmanninger 2013 und Blank 2014.
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›Gütesiegel‹ ist bzw. von den Verlagen als solches eingesetzt wird, die Literarizität des Comics zu reklamieren und ihn damit zu nobilitieren. Eine solche, erfolgreiche Marketingstrategie reagierte damit auf die speziell in Deutschland und England verbreiteten Reserven,21 die das literarische Feuilleton und beispielsweise auch die literaturwissenschaftliche Forschung dem Comic entgegengebracht hatten, eine Situation, die sich beispielsweise von der in Frankreich fundamental unterschied. In Frankreich galt und gilt die bande dessinée explizit als le neuvième art, die Klassifizierung verdeutlicht »the high respect which the genre has in French publishing, with albums usually issued in hard cover and full colour, and distributed by the most reputable book shops. […] In the French imagination, therefore, bandes dessinées can participate in the realm of high culture«.22 Aus dem feuilletonistischen und insbesondere von den Verlagen getragenen Diskurs lassen sich mit Juliane Blank vier definitorische Behauptungen herauspräparieren, die immer wieder als Kriterien genannt werden, die Graphic Novel vom »normalen« Comic abzugrenzen und sie damit aufzuwerten: 1. Graphic Novels erzählen eine abgeschlossene Geschichte, 2. Graphic Novels richten sich eher an Erwachsene, 3. Graphic Novels unterliegen keinen thematischen oder strukturellen Einschränkungen, und 4. Graphic Novels sind komplexer und anspruchsvoller als andere Comics.23 Wie problematisch der Begriff Graphic Novel damit insgesamt auch sein mag, eine Graphic Novel bleibt per definitionem ein Comic, eine visuell-verbale Hybridform, deren charakteristische und gattungskonstituierende Erzählweise sich im (zumeist dialogischen) Zusammenspiel von Bild und Text ergibt.24 Dies mag für unsere Zwecke genügen, obwohl es durchaus gewinnbringend sein könnte, den Begriff Graphic Novel losgelöst von Marketingaspekten inhaltlich nach den Begriffsbestandteilen differenziert zu konzeptualisieren, als ein vielleicht innovatives Comicgenre, das Verfahren literarischen Erzählens (und literarischer Produktionsmethoden) mit den Traditionen des visuellen Erzählens in der bildenden Kunst zusammenzuführen sucht.25
21 Vgl. Ebd., S. 18, Ditschke 2009 und Hausmanninger 2013. 22 Fitzsimmons / Reynaud 2014, S. 187; vgl. zum Comic in Frankreich auch Middendorf 2012; vgl. insgesamt zur internationalen Comic-Forschung: Heer / Worcester 2004; Ders. 2009 und Wolk 2007. 23 Vgl. Blank 2014, bes. S. 21–23. 24 Vgl. differenziert und grundlegend Baetens / Frey 2015. 25 Vgl. Blank 2014, S. 25–39 und Baetens / Frey 2015, bes. S. 162–216. Die vom Titel her unmittelbar einschlägige Monographie von Press 2018 marginalisiert bzw. ignoriert (speziell ab Press 2018, S.79–129) die bisherigen Ergebnisse zur Erzähltheorie und zum Erzählen des Comics (exemplarisch Schüwer 2008, eine Studie, die Press nicht einmal zu kennen scheint), so dass ihre Ergebnisse nur von eingeschränktem Wert sind.
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Ein Geschichts-Comic lässt sich vergleichsweise einfach – und in gewisser Analogie zum historischen Roman26 – als Comic mit insgesamt dominant eingesetzten Realitätsreferenzen, dominanter Vergangenheitsorientierung und linear-chronologischer Anordnung des Geschehens definieren.27 Selbstverständlich kann und wird auch der Geschichts-Comic wie der historische Roman von den fiktionalen Privilegien bei der Selektion und literarisch-bildlichen Vermittlung von Geschichte Gebrauch machen,28 solange im Detail wie insgesamt die graduelle Dominanz der Realitätsreferenzen gewahrt bleibt. Aufgrund dieser definitorischen Überlegungen wird Pezzins und De Vitas Attila der Hunnenkönig (2014) im Folgenden nicht weiter berücksichtigt, da nahezu die einzigen Realitätsreferenzen dieser für Walt Disney typischen Zeitreise-Story, in der Kater Karlo mit der Zeitmaschine der Entenhausener Ethnologie-Professoren Marlin und Zapotek in die Zeit Attilas zurückreist und zu Attilas Lehrmeister im Erobern und Plündern wird, Letzteres, weil er die versteckten gewaltigen Reichtümer nach der Rückkehr in die Gegenwart heben und zu Geld machen will, der Titel der Geschichte und einige Figuren- und Ortsnamen29 sind. Von einer auch nur graduellen Dominanz der Realitätsreferenzen kann keine Rede sein, zumal Attila und seine über Porträtgemälde in die Erzählung einbezogenen Vorfahren auch noch allesamt der hinlänglich bekannten Physiognomie Kater Karlos nachempfunden sind.30 Die definitorische Präzisierung des Begriffs ›Geschichts-Comic‹ und insbesondere das zentrale gattungskonstituierende Kriterium der Dominanz von Realitätsreferenzen führt in der Summe zu einer relativ kleinen Anzahl von
26 Vgl. dazu grundlegend, inklusive einer überzeugenden Typologie des modernen historischen Romans Nünning 1995, bes. S. 42–349; vgl. auch speziell die Typologie S. 259–291; vgl. insgesamt auch Althaus 1999, die mögliche strukturelle Parallelen des Antiken-Comics zur Historienmalerei analysiert. 27 Vgl. insgesamt auch, obwohl die strukturellen Parallelen zum historischen Roman und dessen Abgrenzung(en) von den Diskursen der Historiographie (vgl. Nünning 1995, bes. S. 129–205) noch nicht konsequent gewürdigt wurden: Adams 2008; Ahrens 2017; DolleWeinkauff 2014, 2017; Gundermann 2014, 2017; Kesper-Biermann / Severin-Barboutie 2014; Korte / Paletschek 2009; Lefèvre 2013; Mounajed 2009; Ders. 2010; Munier 2000; Pandel 1994; Ders. 1999; vgl. allgemein auch Handro / Schönemann 2011 und die Modellstudien Brodersen 2001; Carlà 2014; Fündling 2016; Lochmann 1999; Royen / van der Vegt 1998 und Toorenaar 2012. 28 Vgl. zum historischen Roman die Überlegungen von Nünning 1995, bes. S. 173–199. 29 Vgl. z. B. Pezzin / De Vita 2014, S. 66, eine Szene, in der Micky Maus in überaus bedrohlicher Lage als Gefangener der Hunnen, sich an ein zentrales – jetzt unmittelbar die Rettung bringendes – Ereignis der Geschichte erinnert (S. 66/4–5): »Aber ja! Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern ist sogar historisch verbürgt! Dort wurde Attila von einem römischen Heer unter dem Oberbefehl von Feldherr Aëtius geschlagen, und das war genau im Jahr 451. Aber sehen wir lieber zu, dass wir hier freikommen!« 30 Vgl. bes. Pezzin / De Vita 2014, S. 54/3–65/1, vgl. die Porträts der Vorfahren S. 55/4–5.
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›Geschichts-Comics‹,31 die im Folgenden typologisch differenziert, unter Einschluss der in der Moderne und Postmoderne nicht untypischen generischen Hybridisierungen (Fantasy / Science Fiction & Geschichts-Comic) analysiert werden sollen.
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Attila im modernen historisch-didaktischen Geschichts-Comic
Von Dezember 1953 bis Oktober 1958 erschien die Comic-Großbandserie (Großbandserie im Unterschied zu dem populären Piccolo-Format der 1950er Jahre) Abenteuer der Weltgeschichte, zunächst im Regentenverlag (Frankfurt/ Main), ab Heft Nr. 7 im Walter Lehning Verlag (Hannover). Die ersten 20 Ausgaben (Nr. 1–20) waren zweifarbig, schwarz und rot (und selbstverständlich weiß), die weiteren Hefte dann nur noch einfarbig schwarz-weiß, ab Heft Nr. 33 war im Unterschied zur anfänglichen Praxis der von Heft zu Heft wechselnden Illustratoren nur noch ein Zeichner für die Illustrationen verantwortlich, Charlie Bood (1922–2001).32 Als Heft Nr. 44 der Reihe erschien 1955 – die Angaben im Impressum des Heftes sind leider nicht genauer – Attila. König der Hunnen. Werkzeug des Teufels. Eingeleitet wird das Heft durch einen zweiseitigen anonymen Essay »Auf der Wacht. Römische Legionäre an Rhein und Donau« (S. 3– 4), der mit seinem letzten Absatz zum eigentlichen Schwerpunkt überleitet: »Vergessen ist heute die Gefahr, die damals dem römischen Reiche und damit auch allen darin zusammengeschlossenen Völkern von Attilas Horden drohte. Es ist aber nicht mehr als recht und billig, der Tapferkeit und des Todesmutes römischer Legionen zu gedenken, die sich damals Schulter an Schulter mit Germanen den Hunnen entgegenwarfen und sie auf den catalaunischen Feldern besiegten. Auch hier standen sie auf der Wacht.«33
Ein (im doppelten Wortsinn) einseitiger, ebenfalls anonymer Essay (S. 5) konkretisiert dann weiter: »Attila, König der Hunnen. Werkzeug des Teufels« und stilisiert / stigmatisiert die Hunnen gleich anfangs zu Entsetzen und Abscheu erregenden Ausgeburten der Hölle, die kaum etwas mit den übrigen Menschen gemeinsam haben: »In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr., um 375/76, folgt der erste große Vorstoß über die Donau. Auf die Bewohner der nun zum damaligen römischen Reich 31 Dass Goltz 2014, bes. S. 133–134, zu einem anderen Ergebnis kommt und dem Hunnenkönig Attila im Comic eine »große[.] Beliebtheit« bescheinigt, eine »Fülle von Beispielen« auswertet, gründet in seinem prinzipiell und ausschließlich stoffgeschichtlichen Erkenntnisinteresse. 32 Die detailliertesten Informationen bietet der sehr gut recherchierte Internet-Blog von Lorenz 2015, die anhand der nur überaus spärlichen Angaben in den Heften selbst überprüft wurden. 33 Attila, König der Hunnen 1955, S. 4.
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gehörenden Provinzen Dakien und Mösien wirkt das Erscheinen der Hunnen völlig überraschend. Seit Jahrhunderten kämpfen römische Truppen im hohen Norden, am Rhein, in Britannien, in Spanien, im Niltal und in Kleinasien gegen fremde Völker. In ihren Heeren stehen zahlreiche Soldaten aus den unterworfenen Barbarenvölkern. An ihr Aussehen, an ihre Hautfarbe, ihre Trachten und Gebräuche hat man sich gewöhnt. Aber das erste Auftreten der Hunnen löst lähmendes Entsetzen aus. Niemand hatte bisher auch nur einen einzigen Angehörigen dieses wilden Stammes gesehen. Niemand verstand ihre Sprache. Vor diesen Horden gibt es nur Eins [sic!]: Die Flucht!«34
So eingeleitet folgen dann auf den S. 6–31 als Comic (ohne Sprechblasen, dafür mit teils recht üppig dimensionierten Textblöcken versehen, die Illustrationen sind eher flüchtig, insgesamt nicht sonderlich beeindruckend)35 einzelne Episoden der Geschichte Attilas und der Hunnen, wobei diese konsequent als das personifizierte Andere, als Angst, Schrecken und Zerstörung verbreitende Plünderer und Mordbrenner konzeptualisiert werden: »Wo diese Horden vorüberziehen, bleiben nur rauchende Dachsparren, verkohlte Trümmer und entstellte Leichen zurück. Weder Weib noch Kind des Feindes werden geschont.«36 Dessen ungeachtet ist die Auswahl der einzelnen Episoden recht gut gelungen; mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Hunnen und Goten, der kollektiven Flucht der Goten über die Donau (S. 9,2–13,2), dem von Kaiser Valens gestatteten Übertritt der Goten auf römisches Reichsgebiet (S. 12,1–13,1), wird zumindest eine vage Kontextualisierung in die traditionelle frühe Geschichte der Völkerwanderung vorgenommen. Die übrigen Episoden, der als Gottesurteil gedeutete Tod König Ruas (S. 14,1–15,2), die Erlebnisse der Gesandtschaft des Maximinus in Attilas Lager und bei einer Audienz mit dem Hunnenkönig selbst (S. 15,4–22,2), die Eroberungszüge Attilas zwei Jahre später, bis an den Rhein und nach Gallien (S. 22,3–25,2), die große Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (S. 25,3–28,3), letzte Feldzüge, plötzlicher Tod und Begräbnis Attilas (S. 29,5– 31,1) markieren wichtige Stationen der Geschichte Attilas und plausibilisieren comicintern die detaillierte Schlusswürdigung: »In der Nacht wird der Leichnam in einen goldenen, silbernen und schließlich eisernen Sarg gebettet und mitten in der Theißebene beigesetzt. Waffen getöteter Feinde und Attilas Roßschmuck kommen als Beigabe in das Grab, von dem jede Spur verwischt wird. So lebt der Geist des Hunnenkönigs in der endlosen Steppe, in dem Reich der Pferde und Reiter weiter. Nach Attilas Tod versuchen seine Söhne, das Erbe des Vaters zu retten. Jedoch spüren bald die vielen bisher von den Hunnen unterdrückten Völker den Atem der Freiheit und lösen sich nach und nach aus der Gemeinschaft mit einem Volke, dem der Ruf un34 Attila, König der Hunnen 1955, S. 5. 35 Vgl. Lorenz (wie in Anm. 32, S. 8): »Die Zeichnungen Boods selbst sind mir etwas zu flüchtig, er kann es deutlich besser.« 36 Attila, König der Hunnen 1955, S. 9,1.
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vorstellbarer Grausamkeit vorausgeht. Der erste Versuch der Hunnen, über die Steppe hinaus vorzudringen, endet mit ihrer Niederlage in der Schlacht auf den Catalaunischen Feldern und dem Zusammenbruch ihres Reiches. Damit geht ein großes Abenteuer der Weltgeschichte zu Ende, an dessen Spitze Attila, die Geißel Gottes, das Werkzeug des Teufels stand.«37
Mit dem Rekurs auf den Reihentitel Abenteuer der Weltgeschichte schließt sich der insgesamt abgeschrittene Bogen. Selbst wenn man den Untertitel der Serie (Die interessante Jugendzeitschrift) ernst nimmt und das adressierte Publikum und dessen antizipierten Erwartungshorizont gebührend berücksichtigt, kann man kaum anders als die historische (Re-)Konstruktion der Figur Attilas, der Hunnen-Einfälle wie deren politisch-mentalitätsgeschichtliche Bedeutung für die Völkerwanderungszeit insgesamt als signifikant unterkomplex zu bewerten. Dies gründet ganz wesentlich in dem nicht aufgelösten, nicht intendierten, aber gleichwohl durchgängig diagnostizierbaren Spannungsverhältnis zwischen wiederholt reklamierten Ansprüchen (»[…] wir halten uns nur an die geschichtlichen Tatsachen«)38 und der textlich-illustrativen Realität des Comics, wie im Folgenden anhand nur einiger weniger Beispiele verdeutlicht werden soll. Zunächst einmal stammen viele Details des Textes wie der Illustrationen, vom Aussehen der Hunnen, über die Behauptungen, dass sie keine gekochten Speisen zu sich nehmen, sondern sich von Wurzeln, Kräutern und halbrohem Fleisch ernähren, das sie zwischen ihren Schenkeln und dem Rücken ihrer Pferde anwärmen (vgl. S. 6,2), dass sie auf ihren Pferden schlafen (vgl. S. 7,2), dass ihre Pfeile mit scharfen Knochenspitzen versehen sind (vgl. S. 7,3), dass sie gerne in Keilformation und in höchstem Tempo angreifen (vgl. S. 7,4), bis zur Beschreibung ihrer Kampftechniken mit Krummschwert und Lederschlingen (vgl. S. 8,1– 3) aus antiker Überlieferung.39 Ebenfalls antiker Überlieferung verdanken sich die Beschreibungsdetails des Todes von Rua und dessen explizite Wertung als Gottesurteil (vgl. S. 14,1–15,2)40 wie auch die meisten Informationen über die Gesandtschaft des Maximinus zu Attila (vgl. S. 15,4 – [22,2]), bis hin zur präzisen Auflistung der Geschenke für Attilas Frau Kerka, drei silberne Becher, rotes Leder, indischer Pfeffer und allerlei Naschwerk (vgl. S. [17,1]), oder die Erwähnung der schlichten, schmucklosen Kleidung, in der Attila die Gesandtschaft
37 Attila, König der Hunnen 1955, S. 31,1. 38 Attila, König der Hunnen 1955, S. 13,2 (direkte Leseranrede der auktorialen Erzählinstanz). Vgl. ähnlich selbstbewusst das – vermutlich durchaus zutreffende – Urteil der auktorialen Erzählinstanz (S. 30,1): »Wir müssen die Behauptung, Ildico habe Attila ermordet, in das Reich der Sage verweisen.« 39 Vgl. Ammianus Marcellinus XXX,2,1–12. 40 Vgl. Theodoret, Hist. Eccl. V,39.
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empfängt (vgl. S. 19,1).41 Es ist zu vermuten, wenn auch natürlich nicht eindeutig zu belegen, dass diese im Comic von Knoop / Bood präzise und anschaulich geschilderten Einzelheiten nicht auf eigene weitausgreifende Quellenstudien zurückzuführen sind. Das 1951 erschienene Buch von H. Homeyer42 präsentiert eine exzellente Auswahl der antiken Quellen zu Attila in deutscher Übersetzung, darüber hinaus in exakt der gleichen Reihenfolge und im sprachlich gleichen Duktus wie im Comic. Die punktuelle Übernahme authentischer Details der antiken Überlieferung in den Comic darf man also konstatieren, gleichzeitig sind aber auch geradezu groteske Verzerrungen in der historischen (Re-)Konstruktion und Bewertung Attilas und der übrigen handelnden Figuren zu registrieren. So wird im Comic nicht mit einem Wort erwähnt, dass es spätestens seit 395 n. Chr. de facto zwei römische Reiche gibt, das Westreich und das Ostreich,43 die sich zwar gelegentlich noch militärisch unterstützen, andererseits aber speziell mit Blick auf die Hunnen primär ihre eigenen Interessen verfolgen. Die historische Gesandtschaft des Maximinus zu Attila erfolgte im Auftrag des oströmischen Kaisers Theodosius II. (408–450 n. Chr.), brach von Konstantinopel aus auf und traf bei den Hunnen, im Lager Attilas, u. a. auch Gesandte des Westreichs (des Kaisers Valentinian III.),44 so dass die Darstellung des Comics, dessen auktoriale Erzählinstanz wiederholt beansprucht, ausschließlich geschichtliche Tatsachen zu berichten (vgl. S. 13,2), sich als zutiefst verwirrend entlarvt und den reklamierten Anspruch ad absurdum führt (S. 15,4): »In Rom macht man sich immer größere Sorgen wegen der Gefahren, die von den Hunnen drohen. Vielleicht wird es nicht mehr lange dauern, bis die wilden Scharen in Italien selbst einfallen. So beschließt Kaiser Theodosius, eine Gesandtschaft zu Attila zu schicken und ihn zu bitten, doch von den dauernden Grenzüberfällen Abstand zu nehmen.« Ein letztes Detail, ebenfalls aus dem Kontext der Gesandtschaft, mag genügen: Obwohl angesichts der Gesamtproportionen des Comics das Zusammentreffen des Gesandten Maximinus mit Attila breiten Raum einnimmt (vgl. S. [17,3] – 21,4), findet sich nicht ein Wort über konkrete Tributverhandlungen45 oder Verhandlungen über die Forderung Attilas, ihm als Voraussetzung für die Friedenswahrung alle hunnischen Überläufer und Flüchtlinge auszuliefern, stattdessen eine machiavellistisch zynische Antwort Attilas auf den zaghaften Appell des Maximinus an eine menschliche Ordnung, die die stereotype Cha41 Vgl. Byzantinische Diplomaten und östliche Barbaren 1955, bes. S. 26–57; vgl. hierzu zuletzt auch Wolfram 2018, bes. S. 228–233. 42 Vgl. Homeyer 1951, bes. S. 7–125. 43 Vgl. z. B. Demandt 2007, bes. S. 137–169; vgl. auch die Schlusswürdigung ebd., S. 169. 44 Vgl. Byzantinische Diplomaten und östliche Barbaren 1955, S. 39. 45 Dass diese über das übermittelte Angebot des Theodosius hinaus (vgl. S. 20,2) dennoch eine Rolle gespielt haben müssen, verdeutlicht der wenig später dann doch unterzeichnete Vertrag (S. [22,1–2]).
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rakterisierung des Hunnenkönigs als brutaler Gewaltherrscher, als »Geißel Gottes« konsequent fortsetzt und der hier nichts mehr hinzufügen ist (S. 21,2): »Was ist schon Ordnung? […] Es gibt nur Starke und Schwache, Sieger und Unterlegene. Euer Reich besteht nur so lange, wie Eure Macht besteht, und alles vergeht, sobald Eure Heere geschlagen, Eure Festungen genommen und Eure Schätze erbeutet sind. Was Bestand hat, ist einzig die Macht!« Als Band Nr. 11 der insgesamt primär auf Adaptationen historischer Romane spezialisierten Reihe Classicomics des Gong Verlags (Nürnberg) erschien 1978 die deutsche Fassung des französischen Comics Attila, Clovis (Paris: Société des Periodiques Larousse 1976) unter dem irreführenden Titel Attilas Horden von König Chlodwig zerschmettert.46 Der Comic selbst (mit Sprechblasen, zum Teil recht großen Textblöcken und prägnanten farbigen Illustrationen) ist dabei insgesamt deutlich gehaltvoller als es der irritierende Titel vermuten lassen würde.47 Ein anonymer, programmatischer Essay »Der Orkan der Hunnen« expliziert gleich anfangs die Perspektive und die Schwerpunkte der Darstellung: »Diesem merkwürdigen und manchmal schwierigen Zusammenleben an der Grenze setzte der Barbarensturm vom 31. Dezember 406 ein jähes Ende. An jenem Tag nahten aus dem Gebiet der mittleren Donau die Scharen der Alanen, Vandalen und Sueben, denen sich die Franken, die Westgoten, die Alemannen und die Burgunder angeschlossen hatten. Sie wandten sich zum Rhein, überschritten ihn widerstandslos und besetzten weite Gebiete Galliens: Die Franken ließen sich im Norden, die Westgoten im Süden, die Burgunder an den Ufern der Saône und der Rhône nieder. Das Westreich […] stand kurz vor seinem Untergang. Doch die politischen Wirren des Reiches und die bloße Lust am Plündern reichen nicht aus, um den großen Barbarensturm zu erklären: Die Erschütterung, die sich zu jener Zeit unter diesen Völkerscharen breitgemacht hatte, ist in erster Linie der Bedrohung durch die Hunnenhorden im Osten zuzuschreiben. Ihre Beweglichkeit und militärische Ausstattung war für die anderen Barbarenstämme alarmierend. Im Jahre 451 machten sich die Krieger des Hunnenkönigs Attila nach Westen auf, überschritten den Rhein, nahmen Metz ein, bedrohten Troyes und Paris, das von der heiligen Genoveva verteidigt wurde, und belagerten Orleans. In der Nähe von Troyes, auf den Katalaunischen Feldern, wurde die ›Gottesgeißel‹ Attila besiegt: Unter Aetius, dem Oberbefehlshaber der römischen Heere, kämpften Hilfstruppen der Franken, Westgoten und Burgunder an der Seite der kaiserlichen Legionen.«48 46 Vgl. Attilas Horden 1978, S. [2], Impressum. 47 Die Covergestaltung mit ihren unterschiedlichen Schriftgrößen und -farben könnte noch als Hinweis auf zwei unterschiedliche Erzählungen (in Analogie zu Band Nr. 13 der Reihe: Karl der Große. Mit Kreuz und Schwert / Die Wikinger. Sturm auf Paris [1978]) gedeutet werden, die Titelseite freilich nicht, obwohl eine auktoriale Erzählinstanz (Attilas Horden 1978, S. 25,2–3) aus olympischer Perspektive auf das Ende des weströmischen Kaiserreichs vorausweist und die historische Bedeutung der nun beginnenden zweiten Erzählsequenz des Bandes (über Chlodwig I.) erläutert. 48 Attilas Horden 1978, S. [2].
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Der gesamte Comic Attilas Horden folgt diesem knapp und pauschaliert entworfenen Programm und setzt dieses anhand exemplarischer Einzelszenen, deren Illustrationen jeweils durch Texterläuterungen detailliert kontextualisiert werden,49 konsequent um. Die Einfälle der Hunnen werden durchaus konventionell als Auslöser, später als Teil der großen Wanderungsbewegungen einzelner Stämme und Stammesverbände in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts aus primär gallo-römischer Perspektive konzeptualisiert. Der zentrale machtpolitische, kriegerische Konflikt zwischen Attila und dem weströmischen Reich wird konzentriert auf den persönlichen Antagonismus zwischen Attila und Aetius.50 In Parallelmontagen, immer wieder auch mit Zeitsprüngen, wird der Aufstieg des Aetius zum Patrizier (vgl. S. 13,1), zum magister militum (vgl. S. 14,1), zum erfolgreichen militärischen Oberbefehlshaber in seinen entscheidenden Etappen geschildert, und zugleich der Aufstieg Attilas zum unumschränkten Herrscher der Hunnen (vgl. S. 14,4–15,3). Etliche Details der Darstellung sind gut recherchiert und gründen zumeist in antiker Überlieferung. Die wertenden Kommentare der auktorialen Erzählinstanz explizieren dabei gelegentlich einen distanzierten Skeptizismus, wie die bekannte Geschichte über das Schwert Attilas51 verdeutlichen mag (S. 15,1–3): »Zufällig entdeckt ein Kuhhirte ein Schwert, dessen Klinge drohend aus dem Gras hervorsticht. Er läuft mit dem Fund zu Attila, der das Schwert als Zeichen der Götter wertet. Ob er das wirklich geglaubt oder nur als Vorwand für seine Expansionsgelüste benutzt hat, bleibt offen. […] Es ist das Jahr 434. Die Geburtsstunde einer Legende, die aus Attila den mächtigsten aller Barbarenkönige machen wird. Die Steppenvölker jubeln ihm zu und sind bereit zum Kampf.«
Der große Einfall der Hunnen von 451 wird als Naturkatastrophe, als Sturm, der alle bisherigen Invasionen Galliens in den Schatten stellt, konzeptualisiert und in wenigen eindringlichen Zeichnungen präsentiert, die den durchaus stereotypen, knappen Text52 angemessen illustrieren, vielleicht am überzeugendsten in einem 49 Vgl. dazu etwa Attilas Horden 1978, S. 7,4: »Nördlich und östlich des Reiches brodelt es immer noch. Neue Invasionen stehen bevor. Am letzten Tag des Jahres 406 kommt es zu einer neuen gewaltigen Völkerbewegung. In den beiden Teilen des Reiches ist man bemüht, die Flut der Barbaren jeweils auf die andere Hälfte abzulenken. Der Orient geht aus diesem gefährlichen Spiel als Sieger hervor. Der Okzident wird von der Lawine der Invasoren begraben.« 50 Vgl. bes. Attilas Horden 1978, S. 4,3 und S. 14,3. Vgl. zu Aetius Demandt 2007, bes. S. 152–157 und Stickler 2002, bes. S. 15–83 (politischer Aufstieg), S. 85–154 (Aetius und die Hunnen) und S. 155–253 (Aetius und die Reichspolitik). 51 Vgl. Jordanis 1985, S. 92. 52 Vgl. Attilas Horden 1978, S. 19,1: »Die tosende Hunnenflut breitet sich über das ganze Land aus. Die Horden Attilas zerstören alles, was ihnen in den Weg kommt. Es ist eine Zeit des Schreckens, eine Zeit des Grauens, eine Zeit des Entsetzens. Sie töten Menschen und Vieh. Plündern Städte und Dörfer und machen sie zu Asche. Die ehedem so trutzigen römischen Festungen stürzen zusammen wie Kartenhäuser.«
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Panorama-Panel, das emblematisch verdeutlicht, welche grausige Ernte Gevatter Tod bei der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern eingefahren hat (S. 23,4):
Abb. 1: Histoire de France en bandes dessinées, 2. Attila, Clovis, Zeichnungen von Raymond Poïvet und Julio Ribera / Texte von Roger Lécureux und Christian Godard, Paris: Société des Périodiques Larousse 1976, Teil 1: La ruée des Huns (»Der Hunnensturm«), S. 71,4 (© Société des Périodiques Larousse / Raymond Poïvet / Julio Ribera Lécureux / Christian Godard). Übersetzung: »An diesem 21. Juni 451 war der barbarische Invasor endlich auf den Katalaunischen Feldern zurückgewichen! Gallien würde nun wieder zu Atem kommen…« [In der ansonsten durchgängig zitierten deutschen Ausgabe (Attilas Horden 1978) ist es S. 23,4].
Die Konzeption wie auch die Farbgebung der Illustration mit ihren Sand-, Grünund Grautönen rücken den verschleierten Totenschädel und die Sensenklinge, das typische Attribut des personifizierten Todes so sehr in den – nicht nur optischen – Vordergrund, dass ›Gevatter Tod‹ zur allegorischen Synekdoche der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern wird, bei der der einzelne Tote angesichts des allgemeinen und ubiquitären Grauens nahezu bedeutungslos wird. Die im Text – im Gegensatz, und in Ergänzung zur Illustration – vorsichtig formulierte Hoffnung auf eine Stabilisierung der Verhältnisse in Gallien (S. 23,4: »Ganz Gallien atmet erleichtert auf und beginnt, sein Gleichgewicht, das die Invasoren so empfindlich gestört haben, wieder herzustellen«) ist nicht das letzte Wort: Die Geschichte zwischen Attila und Aetius ist noch nicht zu Ende. Eine der nächsten Illustrationen zeigt dann die bekannte Szene von Attilas Tod nach dem Hochzeitsbankett zu Jahresbeginn 453 (vgl. S. 24,3)53 und es folgt – im Comic unmittelbar, in der Chronologie des historischen Geschehens gut 18 Monate später – eines der berühmtesten und folgenreichsten Attentate der Weltgeschichte: Der auf die Erfolge seines Generals Aetius eifersüchtige »närrische und
53 Vgl. die abschließende historische Wertung im Kommentar der allwissenden auktorialen Erzählinstanz (1978, S. 24,4): »Das Hunnenreich wird unter Attilas Söhnen, die aus seinen zahlreichen Ehen und Verbindungen stammen, aufgeteilt. […] Infolge von Streitigkeiten zwischen Attilas Erben bricht das Reich auseinander.«
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charakterlose« (S. 24,6) Kaiser Valentinian III.54 lässt Aetius des Hochverrats anklagen und ermorden, was wenig später zu einer Verschwörung und zur Ermordung des Kaisers führt (S. 25,1).55 Wenn man vielleicht auch nicht allen historischen Wertungen in den Kommentaren der auktorialen Erzählinstanz vorbehaltlos beipflichten möchte, oder auch wenn man die starke kompositionelle Konzentration auf den persönlichen und politischen Antagonismus Attila – Aetius als perspektivisch zu engführend empfindet, es ist den Textern Roger Lécureux und Christian Godard in Zusammenarbeit mit den Illustratoren Raymond Poïvet und Julia Ribera in jedem Falle gelungen, eine knappe, eindringliche, klar perspektivierte Geschichte Attilas und der Hunnen-Einfälle vorzulegen, die diese überzeugend als wichtige Faktoren und zugleich Katalysatoren innerhalb der allgemeinen Probleme der frühen Völkerwanderungszeit der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts konzeptualisiert.
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Attila und die Hunnen als Episode im modernen epischen Geschichts-Comic
Seit dem 13. Februar 1937 erscheint bis heute in den Comic-Beilagen hunderter nordamerikanischer Sonntagszeitungen Hal Fosters Prince Valiant, mittlerweile gezeichnet von Thomas Yeates (seit dem 1. April 2012) und auch nur noch im half-page Format ( jedoch weiter konsequent im Foster-Design ohne Sprechblasen und stattdessen mit Textblöcken). Die deutsche Übersetzung der Saga, Prinz Eisenherz, ist in Albenform (Bonn: Bocola, 2006ff., bisher 42 Bde. [1937– 2018]) gegenwärtig kommerziell erfolgreicher als entsprechende amerikanische Alben (Seattle: Fantagraphics, 2009ff., bisher 20 Bde. [1937–1976]); die sehr zeitaufwändige, sorgfältige digitale Rekolorierung, um den optischen Eindruck der originalen full-page der Sonntagsseiten auch modernen Lesern zu vermitteln, der Bocola-Edition konstituiert die Basis für weitere Editionen in Übersetzung (bisher: Niederländisch, Französisch, Italienisch und Spanisch). 54 Vgl. auch die bisherigen ›Auftritte‹ des effeminierten Kaisers (Attilas Horden 1978, S. 13,1; 14,1; 16,5). Dass die historische Ermordung des Aetius sowohl in ihrer Planung, ihrem Ablauf, der insgesamt daran Beteiligten wie auch in den persönlichen und machtpolitischen Motiven sehr viel komplexer war (als die Darstellung im Comic) verdeutlicht Stickler 2002, bes. S. 70– 83. 55 Vgl. den historisch wertenden Kommentar der auktorialen Erzählinstanz (Attilas Horden 1978, S. 25,1–2): »Nach dem Tode Valentinians III. folgt ein unbedeutender Kaiser dem anderen. In rascher Folge werden sie proklamiert, und von den immer mächtiger werdenden Barbarenkönigen wieder abgesetzt. Die Autorität der römischen Kaiser ist gebrochen. Innerhalb des Reiches können sich die barbarischen Königtümer immer stärker etablieren. Die Ostgoten sind unumstrittene Herrscher Italiens, die Westgoten beherrschen die Iberische Halbinsel, die Franken regieren große Teile Galliens. Es ist die Zeit der Barbaren.«
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Die Saga insgesamt erzählt die abenteuerliche Geschichte des jungen Wikingerprinzen Eisenherz, der sich im Britannien des Königs Artus durch seinen untadeligen Charakter, persönlichen Mut und Tapferkeit die Rittersporen verdient, zum Freund und Vertrauten Ritter Gawains, aufgrund seines flinken Verstandes zunehmend auch zum bevorzugten Ritter und Vertrauten des Königs selbst und zum berühmten Ritter der Tafelrunde wird. Prinz Eisenherz zeichnet sich freilich nicht nur durch ritterliche Tugend, überragendes historisches Wissen, Klugheit und Wissbegierde, Kampfkraft und persönlichen Mut aus, sondern er wird in der Saga durch seine Frau Aleta, Königin der Nebelinseln, die ihm im Laufe der Zeit fünf Kinder schenkt, gleichsam ›geerdet‹; die epischen Sequenzen der ritterlichen quests werden immer wieder durch private ›Szenen einer Ehe‹ aufgelockert.56 Auf seine Saga hatte sich Hal Foster (1892–1982) gründlich vorbereitet, indem er Kostüme, Waffen, Rüstungen, Lebensbedingungen und die historischen Kontexte sorgfältig recherchiert hatte, bevor er sich an die – immer wieder durch penible Anatomiestudien ergänzte – Ausarbeitung setzte. Bewusst hatte er den ursprünglichen Plan, seine Geschichte in die Zeit der Kreuzzüge zu verlegen, fallengelassen, eröffnete ihm doch die Welt des 5. und 6. Jahrhunderts aufgrund der nur spärlichen Überlieferung sehr viel größere Freiheiten. Fosters frühmittelalterliches Europa, das Prinz Eisenherz auf seinen quests von Thule bis Nordafrika, von Britannien bis in die Steppen Russlands wiederholt durchquert, ist ein wilder Kontinent, voller abenteuer-, beute- und neue Siedlungsgebiete suchender Barbarenstämme, hinterhältiger Raubritter, urweltlicher Ungeheuer, Drachen, Hexen, Zwerge und Riesen.57 Das Mittelalter ist dabei ein ebenso synkretistisch-eklektisches wie im Detail präzise ausgearbeitetes Fantasiemittelalter, in dem die Ritter des Artus-Hofes (2. Hälfte des 5. Jahrhunderts) normannische Rüstungen des 11. bis 13. Jahrhunderts tragen und einfachste Wikinger-Kielschiffe, schlanke Segler, Galeeren, Koggen und genuesische Karaken gleichzeitig das Mittelmeer befahren. Diese eklektische Präsentation des Mittelalters gründet in bewussten Entscheidungen des Verfassers: »If I drew [King Arthur] as my research has shown, nobody’d believe it. I cannot draw Arthur with a black beard, dressed in bearskins and a few odds and ends of armor that the Romans left when they went out of Britain, because that is not the image people have.«58 Ebenso bewusst entschied sich Hal Foster, der Vita seines prinzlichen Protagonisten eine anfangs klare relative Chronologie zu geben, die anhand historischer Ereignisse, auf die referiert wird, in den Grundzügen auch einigermaßen 56 Vgl. insgesamt Kane 2001, 2010; Klußmeier 1987; Mittler 2008 und insbesondere die jeweiligen Vorworte in den modernen Fantagraphics- und Bocola-Editionen, wobei der Verf. selbst bisher insgesamt 19 der Bocola-Vorworte verantwortet. 57 Vgl. Knorr 1992, bes. S. 90. 58 Hal Foster, zit. nach Kane 2001, S. 76.
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sicher datierbar ist.59 Konzentrieren wir uns auf die für unsere Belange wichtigsten Details, die Abenteuer und quests der frühen Jahre, insbesondere die detailliert geschilderten Kämpfe gegen die Hunnen.60 Nachdem er zum Ritter geschlagen wurde und seinem Vater Aguar bei der Zurückgewinnung des Throns von Thule entscheidend geholfen hat, begibt sich Prinz Eisenherz als idealtypischer knight errant auf Abenteuerreise in das Herz Europas. Nach den denkwürdigen Erfahrungen in der Höhle der Zeit (S. 114,7–117,4) sucht er vor einem aufziehenden Sturm Schutz in einer auffällig vage lokalisierten Schenke.61 Dort erzählt ein einsamer Wanderer von erstaunlichen Neuigkeiten (S. 118,2–5): »Rom ist Attila in die Hände gefallen, und der ganze Süden Europas steht in Flammen, weil die Hunnen plündern und morden. Doch Andelkrag steht noch immer! Über Rauch und Flammen erheben sich die Türme Andelkrags, der unbezwingbaren Feste! […] In der Festung Andelkrag schart Fürst Camoran der Stolze all jene um sich, die Schönheit, Musik, Poesie und edle Taten lieben. Man hat ihn oft angegriffen, doch wenn seine lachenden Krieger auf den Zinnen erscheinen, haben sie auch schon gesiegt … Überall singt man ein Loblied auf Camorans Taten … und nun steht nur noch Andelkrag über den Rauchschwaden, die über Europa hinziehen.«
Prinz Eisenherz ist sofort fasziniert, seine aventiure hat jetzt ein Ziel. Wochenlang reitet der Prinz nach Südosten, rauchende Ruinen und zerstörte Dörfer zeigen, dass Hunnen in der Nähe sind (vgl. S. 119,1–3); erfolgreiche Kämpfe mit einem Trupp herumstreifender Hunnen (vgl. S. 119,4–5), ein einsamer Bergpfad, weitere Neuigkeiten von einem ortskundigen Flüchtling,62 dann ist Eisenherz endlich am Ziel: »die vielgerühmte Trutzburg Camorans, […] die schon seit Monaten dem Ansturm von Attilas Horden trotzt.«63 Mit List gelingt es dem Prinzen, sich durch den Belagerungsring der Hunnen zur Burg durchzuschlagen (vgl. S. 120,2– 121,5) und fortan seinen Beitrag bei der Verteidigung Andelkrags zu leisten (vgl. S. 122,1–124,6), wobei die täglichen Kämpfe gegen die »wie die Teufel« (S. 122,4) angreifenden Hunnen immer mehr Opfer kosten, was den Kampfesmut und die
59 Vgl. die Details bei Kane 2010, S. 73–74. 60 Die relative Chronologie der Biographie des Prinzen ist speziell für die Jahre 449 bis 455 nicht ganz konsistent und widerspruchsfrei mit der historischen Chronologie zu harmonisieren (vgl. Kane 2010, S. 73). 61 Vgl. bes. Prinz Eisenherz 2006, S. 118,1: »Nach dem merkwürdigen Erlebnis in der Höhle ist es für Eisenherz eine willkommene Abwechslung, vor dem Sturm geschützt in einer Schenke den Erzählungen von fernen Ländern zu lauschen.« 62 Vgl. Prinz Eisenherz 2006, S. 119,7: »Von einem Flüchtling erfährt er [sc. Prinz Eisenherz], dass Kaiser Valentinian für Rom einen schändlichen Frieden erkaufte, indem er seine Schwester dem brutalen Attila zur Frau gab.« 63 Prinz Eisenherz 2006, S. 120,1. Bezeichnenderweise wählt Hal Foster für die in den Ecken der Seite platzierten ›Briefmarken‹ oben und unten rechts jeweils ein Miniaturporträt (n. l.) von Attila und seiner römischen Braut; Motive für die ›Briefmarken‹ der nächsten Seite (S. 121) sind vier Einzelporträts hunnischer Krieger.
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fröhliche Zuversicht der Verteidiger jedoch nicht schmälert.64 Der Text erwähnt beschönigend (»In den Pausen zwischen den Angriffen werden Wettbewerbe auf Kosten der Hunnen abgehalten« [S. 124,1]) ein grausiges, unritterliches Spiel der Belagerten, ein Wettschießen auf die Belagerer, wobei die Treffer penibel auf einem score-board verzeichnet werden (vgl. S. 124,1), das verdeutlicht, wie entmenschlicht (Zielscheiben), teuflisch, wild und grausam-brutal die Hunnen konzeptualisiert werden.65 Als letzte Repräsentanten einer idealisierten Gegenwelt zu diesen ungezähmten, wilden, primär als Horde, als gestikulierende Menge, als Barbaren stilisierten Hunnen inszeniert der Comic die Verteidiger Andelkrags, wie insbesondere die Rede Herzog Camorans beim letzten Bankett der Verteidiger – die Vorräte sind aufgebraucht – zeigt (S. 124,6): »Die Barbaren herrschen von Küste zu Küste. Wir sind die letzten der kämpfenden Sänger. Wir trugen Sorge dafür, dass es sich auf der Welt zu leben lohnt. Doch nun sind unsere Vorräte erschöpft. Deshalb werden wir morgen tun, was getan werden muss.« Am nächsten Morgen machen sich die Verteidiger für einen Ausfall durch einen verborgenen Gang bereit, nachdem sie zuvor die Burg in Brand gesetzt haben; die edlen Frauen der Verteidiger wählen den Freitod in den Flammen des Turmes (vgl. S. 125,3), was Herzog Camoran Prinz Eisenherz mit starrer Miene und leerem Blick erklärt (S. 125,6–7): »›Die Damen zogen es vor, nicht in die Hände der Meute dort draußen zu fallen.‹ Durch die Schießscharte blickt Eisenherz in die Gesichter der wilden Hunnen und versteht.«66 Nach heroischem Kampf sterben alle Verteidiger Andelkrags, von der schieren Menge der Hunnen zu Boden gerissen (S. 125,8–126,8). Nur einer erhebt sich nach stundenlangem verzweifeltem Kampf, primär von der Erschöpfung zu Boden gezwungen: Prinz Eisenherz. Er registriert, dass der Feind in die Dunkelheit verschwunden ist, hört aus dem »Feindeslager Jammern und Klagen. ›Attila ist tot. Attila ist tot.‹ Die Hunnen ziehen über den Pass nach Ungarn ab (wo die Macht der Hunnen durch Streit unter ihren Anführern zerbricht).«67 Nachdem Eisenherz den in ein purpurnes Banner gehüllten Leichnam des Herzogs den Flammen der brennenden Burg übergeben hat (»Ganz Andelkrag soll Eure letzte Ruhestatt sein« [S. 127,6]), zieht er weiter nach Süden, entschlossen, den Kampf gegen die Hunnen fortzusetzen. 64 Vgl. auch Prinz Eisenherz 2006, S. 123,1. 65 Vgl. insgesamt auch Förster 2011, bes. S. 43–44. 66 In einer späteren Erzählsequenz, die zeigt, wie Prinz Eisenherz Arf, dem Geschichtsschreiber Thules, die wichtigsten Details über die Geschichte der Burg Andelkrag berichtet (vgl. Prinz Eisenherz 2009, S. 812,5–815,6), greift Foster dieses Einzelbild S. 125,7 nochmals auf (vgl. S. 815,2), um die in den Gesichtern, besser: den Fratzen der vor den Mauern Andelkrags tobenden Hunnen ablesbare wilde, ungezähmte Gier, ihre unmenschliche, exotisch-dämonische Fremdheit zu explizieren. 67 Vgl. Prinz Eisenherz 2006, S. 127,1–2.
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Abb. 2: Harold Rudolph Foster, Prinz Eisenherz, Hal Foster Gesamtausgabe, Bonn: Bocola 2006, S. 125, Abbildung 7 (© King Features Syndicate, Inc./Distr. Bulls).
Mit von einem Hunnentrupp erbeuteten Vorräten ist er bald in der Lage, vor den Hunnenscharen geflohene Bauern, Jäger und ehemalige Soldaten um sich zu scharen, um als Hunnenjäger die Hunnen zu bekämpfen und ihre Nachschubwege empfindlich zu stören. Mit List, kluger Planung, Tapferkeit und genauem Wissen über die Stärken und Schwächen der Hunnen im Kampf erringt der Prinz Erfolg um Erfolg (vgl. S. 130,4–138,6), was einerseits den Hunnenführer im fernen Pannonien zutiefst empört (S. 138,9: »›Der Hunne muss gefürchtet und respektiert werden!‹, schreit der große Khan und ruft ein großes Heer zusammen«), und andererseits dem Prinzen weiteren Zuzug für sein Heer der Hunnenjäger sichert: 500 berittene Krieger schickt der »listige« Valentinian, der König von Spanien schickt 1.000 kampferprobte Westgoten, besonders willkommen sind die von König Artus entsandten Gawain und Tristan (vgl. S. 139,5– 8). Die nächste Auseinandersetzung mit dem gewaltigen Hunnenheer Karnaks des Grausamen sieht ebenfalls Prinz Eisenherz siegreich, nachdem er zunächst nahezu im Alleingang die Stadt Pandaris von Hunnen gesäubert hat,68 womit es den Hunnen unmöglich gemacht wurde, den von Eisenherz’ Hunnenjägern ge68 Vgl. bes. Prinz Eisenherz 2006, S. 141,3–151,7.
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haltenen Pass zu umgehen. Eine verwegene List des Prinzen sichert dann schließlich endgültig den Sieg über Karnaks Heer; Eisenherz weiß, dass damit die Macht der Hunnen gebrochen ist.
Abb. 3: Harold Rudolph Foster, Prinz Eisenherz, Hal Foster Gesamtausgabe, Bonn: Bocola 2006, S. 160, Abbildung 5 (© King Features Syndicate, Inc./Distr. Bulls).
Dieses allein schon vom gewählten Format her die gesamte Seite (S. 160)69 dominierende Porträt Kalla Khans verdeutlicht in seiner Gesamtkomposition – mit 69 Die ›Briefmarke‹ der rechten unteren Ecke der Seite 160 zeigt als ironischer und zugleich
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der linken Hand zerknüllt er zornbebend den Brief des Prinzen, die rechte Hand ›ruht‹ auf dem nicht ganz geschlossenen ›Geschenkkästchen‹, das den abgeschlagenen Kopf seines Generals Karnak des Grausamen enthält (und vor den Blicken verbirgt) – die Wertung des Textes; Körperhaltung wie Gesichtsausdruck explizieren die hilflose Wut, den Zorn des Khans und die Erkenntnis, dass sein General eine für die weitere Geschichte der Hunnen höchst bedeutsame Niederlage erlitten hat. Das überdimensionierte Schwert, das zwar die Diagonale der Illustration repräsentiert und dominiert, wird am Gürtel dieses grollenden, nur noch finster blickenden Heerführers zunehmend funktionslos. Der nach dem grandiosen Sieg über die Hunnen von etlichen Fürsten und Königen an Eisenherz herangetragenen Bitte, ihre Heere in einem Kriegszug gegen die Hunnen nach Pannonien anzuführen (vgl. S. 164,7–165,2), verweigert sich der junge Prinz mit überzeugenden historischen Argumenten (S. 165,4–5): »Doch ich sage Euch, dass ein Angriffskrieg nur die Grundlage für künftige Kriege ist. Hier auf dem Tisch liegt das Buch der Weltgeschichte. Nirgendwo finde ich da eine durch Gewalt erzwungene Eroberung, die von Dauer war. Alexander und Caesar eroberten zu ihrer Zeit die Welt. Doch wo sind ihre Reiche jetzt? Wie steht es um Babylon, Persien, Karthago? Eroberer ernten nur eine Frucht: Abgrundtiefe Feindseligkeit. Nein, edle Herren, ich habe mein Schwert einzig und allein der Sache von Gerechtigkeit und Freiheit verschworen!«
Die ritterliche quest der Hunnenjagd ist für Prinz Eisenherz mit dem glorreichen Sieg über Karnaks Heer beendet. Rückblickend darf man konstatieren, dass in den Kämpfen mit den blutrünstigen, barbarischen Hunnen diese – wie in den bisher analysierten Comics auch – als entmenschlicht, explizit als teuflisch präsentiert werden. Die in der Prinz Eisenherz-Saga präsentierten kriegerischen Auseinandersetzungen mit ihnen, den brutalen, beutegierigen Plünderern und Mordbrennern, sind dabei weitgehend fiktional, während das konkrete, große historische Geschehen primär über knappe Erklärungen der auktorialen Erzählinstanz der Saga gleichsam als Hintergrund präsent gehalten wird.70 Die sachlogischen historischen Zusammenhänge zwischen den Hunnen-Einfällen, den Beute- und Eroberungszügen germanischer Stammesverbände und den daraus resultierenden chaoti-
comichistorisch relevanter Kontrapunkt zu Kalla Khan einen in der Zukunft Europas überaus erfolgreichen Eroberer (William the Conqueror): den Normannen Wilhelm den Eroberer, mit dem direkten Verweis auf die Schlacht bei Hastings (1066). Die Überfahrt und der Sieg Wilhelms wurden auf dem vor 1082 in Südengland entstandenen, ca. 70 m langen Teppich von Bayeux dargestellt und gefeiert, einem der großartigsten Denkmäler europäischer Geschichte, zugleich aber für Hal Foster eines der frühesten und zugleich das bedeutendste Beispiel für eine geradezu archetypische Comic-Erzählung. 70 Vgl. zur Erzählkonzeption der Saga, speziell in diesen frühen Jahren: Baumann 2012, S. 36–41.
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schen Instabilitäten werden zwar nicht en détail expliziert, aber immer wieder durch punktuelle, exemplarische Szenen akzentuiert. Auf seiner Reise mit den Freunden Gawain und Tristan gen Süden trifft der Prinz wiederholt auf kleinere, versprengte Hunnentrupps,71 die zu umgehen oder zu zerstreuen sind (vgl. S. 179,9–180,7). Sie begegnen auf ihrem Weg nach Rom Aetius, schließen mit ihm Freundschaft und setzen ihren Weg gemeinsam auf der Flaminischen Straße fort (vgl. S. 187,6–8). Die knappe textliche Präsentation des Aetius unter der beeindruckenden Porträtzeichnung durch die Erzählinstanz fasst dessen historische Bedeutung prägnant zusammen und schließt mit einer düsteren Vorausdeutung (S. 187,5): »Aetius, der letzte der großen römischen Generäle, der Held der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, wo dem Hunnen Attila Einhalt geboten wurde. Sorgenfalten zeichnen sein müdes Gesicht, denn er weiß, dass das Imperium trotz seiner heldenhaften Siege zerfällt. Er kehrt nun nach Rom zurück, wo ihn unverdientes Unheil erwartet.«
Prinz Eisenherz und seine Freunde werden bald darauf Zeugen des Mordes an Aetius (vgl. S. 191,3–4), selber als die Attentäter verhaftet und viele Wochen später von Kaiser Valentinian verhört, just als die alten Anhänger des Aetius dessen Ermordung an Valentinian rächen (vgl. S. 193,3–6). Prinz Eisenherz, Gawain und Tristan ergreifen die Gelegenheit zur Flucht, die ihnen, nachdem sie sich den Weg freigekämpft und vor den Toren Roms getrennt haben, jeweils auch gelingt. Im Folgenden werden immer wieder die chaotischen Zustände im Zentrum Europas erwähnt und illustriert: die Eroberung und Brandschatzung Roms durch die Wandalen (vgl. S. 468,6–471,3),72 die blinde Zerstörungswut eines kleinen Trupps von Goten, die in Rom zwei schlanke Marmorsäulen mit eingemeißelten Bildern vor einer alten Palastruine aus Spaß zum Einsturz bringen (vgl. S. 1297,3–4) oder der Angriff eines gotischen Kampftrupps auf eine einsame Abtei in den Bergen, der nur durch eine grandiose, überaus listige Inszenierung, die die Goten in heillose Panik versetzt, abgewehrt werden kann (vgl. S. 1308,6–
71 Die Beseitigung eines hunnischen Wachpostens erinnert dabei an die Schießwettkämpfe der Verteidiger von Andelkrag (Prinz Eisenherz 2006, S. 179,6–7): »Es scheint ratsam, den Wächter geräuschlos mit einem Pfeil zu beseitigen. Das führt zu der Streitfrage, wer wohl der beste Pfeilschütze sei! Es werden Wetten abgeschlossen und sorgfältig Pfeile ausgewählt. Auf ein Signal hin schwirren drei Pfeile los.« 72 Vgl. bes. Prinz Eisenherz 2008, S. 467,3–4: »Da sich Invasion und Hochzeiten selten vertragen, reitet Eisenherz zu einem Treffen mit Genserich nach Tunis. Genserich, der seine Nordmänner vom Baltikum durch Frankreich und Spanien nach Nordafrika geführt hat, erhebt sich, um den neuen Herrscher Saramands [sc. Eisenherz] zu begrüßen. Er hat gehört, dass Eisenherz ganz allein gedroht hatte, die Stadt zu erobern, und es getan hat!« Vgl. insgesamt zu den Vandalen Vössing 2014; Ders. 2018.
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1312,2). Neben einzelnen, regional operierenden Räuberbanden, afrikanischen Korsaren, die das Mittelmeer unsicher machen, marodierenden Barbarenstämmen, die selbst in einsamen Alpentälern nach Eroberung und Beute suchen (vgl. S. 730,5–738,8) sind es insbesondere die beständig wiederholten – und von Artus und seinen Rittern zunächst noch abgewehrten – Versuche der Sachsen, in Britannien endgültig Fuß zu fassen,73 mit denen die Saga immer wieder die prinzipiell instabilen politischen Verhältnisse infolge der Völkerwanderung akzentuiert.
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Attila und die Hunnen-Einfälle im modernen Fantasy- / Geschichts-Comic
Zwischen 1999 und 2004 erschien im Verlag Kult Editionen die ursprünglich französische, sechs Bände umfassende Serie Attila, Mon Amour (Editions Glénat) als Hardcover-Edition. Die durchgängig farbigen Illustrationen, mit Sprechblasen und gelegentlichen Textblöcken versehen, stammen von Franck Bonnet, die Texte von Jean-Yves Mitton, der sich als Szenarist, Illustrator und Texter als Spezialist für historische Sujets etabliert hat. Auf sechs Bände verteilt erzählt der Comic Attila, Mon Amour die Geschichte Attilas und der Hunnen-Einfälle vom September 449 n. Chr. (I, S. 3,1) bis zum Tode Attilas im Jahre 553 n. Chr. (VI, S. 44,3–45,7) in faszinierenden, detailreichen Illustrationen, die – im Zusammenspiel mit den Erzähltexten einer auktorialen Erzählinstanz und den jeweiligen Figurenreden in den Sprechblasen – eindrucksvolle Momentaufnahmen der Protagonisten, ihrer Emotionen und Motivationen, in jeweils präzise präsentierten exemplarischen Handlungsepisoden bieten. Beides, die zentralen Protagonisten wie auch die wichtigsten Handlungssequenzen, vom Übergang über die Donau bis zur entscheidenden Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, gründen größtenteils in historischer Überlieferung und explizieren – ungeachtet der üblichen fiktionalen Freiheiten der Erzählung – etwa in der chronologischen Abfolge74 – eine klar diagnostizierbare Dominanz von Realitätsreferenzen (Geschichts-Comic). Diese Dominanz von Realitätsreferenzen wird insgesamt eingeschränkt durch eine Vielzahl von Hunnen- und Barbarenklischees, wobei Erstere in geradezu anachronistischer Opulenz in Referenzen auf die mongoli-
73 Vgl. bes. Prinz Eisenherz 2006ff., S. 95,7–103,5; 291,2–311,1; 484,7–500,2; 842,8–851,5; 871,4– 879,5; 1116,1–1128,8; 1219,3–1222,4; 1393,1–1435,4 und 1685,3–1702,7. 74 Ein bemerkenswertes Beispiel für ein Abweichen von der historischen Chronologie ist die Ermordung von Attilas Bruder Bleda (im Comic Bledda [sic!], III, S. 47,6–48,6) und seiner Frau, die nach April 450 (vgl. III, S. 25,1) erfolgt, und zugleich als Strafgericht über den romfreundlichen Bledda inszeniert wird.
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schen Khane (u. a. Dschingis Khan) des 13. Jahrhunderts gründen.75 Der Attila des Comics ist ein impulsiver, selbstherrlicher Anführer von Steppenkriegern, dem es ein großes Vergnügen bereitet, die Gesandten Konstantinopels und Roms gleichermaßen zu demütigen (I, S. 8,5–12,7) wie gegeneinander auszuspielen, der sich der überreichen Geschenke beider Mächte erfreut, »dessen Lebensinhalt [ jedoch ansonsten] im Saufen, Kopulieren, Unterjochen, Zerstören, Plündern, Morden, Schänden und Pfählen zu bestehen scheint.«76 Attilas ›barbarische Natur‹ gibt ihm seine Handlungspräferenzen (Beute, Tribute durch eine Politik der Abschreckung) vor, von einer grundlegenden politischen Strategie, von einer mittel- oder langfristigen Planung von territorialen Eroberungen oder Expansionsbestrebungen kann keine Rede sein. Stattdessen lebt er seine derben erotischen Vergnügungen mit seinen Frauen aus, gibt sich mehrfach Sex-, Alkoholund Gewaltexzessen hin.77 Den Umschwung bewirkt – und damit gewinnt die Fantasy-Komponente strukturell zentrale Bedeutung – ein Geschenk der oströmischen Gesandtschaft: Lupa,78 auf den ersten Blick ein chimärenhaftes Mischwesen aus attraktiver, erotisch verlockender jungen Frau und Wölfin, auf den zweiten Blick eine junge Römerin mit einem bemerkenswert tragischen, kaum glaubhaften Schicksal, das in einer Vielzahl von jeweils kurzen flash-backs Detail für Detail enthüllt wird. Im Hunnenlager erregen Lupa und ihr Wächter, der fette Türke Guddur,79 Aufsehen. Der Schamane Yinn möchte beide sofort töten lassen, zum einen, weil er argwöhnt, Lupa sei eine von Aetius geschickte Spionin (vgl. I, S. 38,7–9), zum anderen aufgrund einer alten Prophezeiung (I, 40,4–5): »Eine Chimäre, geboren von einer Wölfin! Eine Spionin! Und eine Hexe dazu! Du musst sie pfählen! Ich las es im Himmel des Tao-te-ching, mein König … Eine Wölfin wird Dir den Tod bringen! Hör doch nur ihr abscheuliches Kläffen!«80 75 Beispiele für die sprichwörtliche, unmenschliche Grausamkeit der Hunnen, Darstellungen von hingerichteten, oft gepfählten Feinden, von abgeschlagenen Köpfen, von zerstückelten Körpern sind so zahlreich, dass einige wenige Beispiele genügen: I, S. 7,4; II, S. 5,1; II, S. 19,4; II, S. 20,6–21,1; III, S. 6,5; III, S. 47,8–48,6; IV, S. 18,2–5; IV, S. 45,3–47,5; V, S. 15,4; V, S. 17,4–5; VI, S. 25,4–6; VI, S. 26,1. Vgl. ebenfalls Goltz 2014, bes. S. 126. 76 Ebd. Das Zitat lässt bereits erkennen, dass große Teile dieses Comics wirkmächtige BarbarenStereotypen explizieren und speziell für Unterrichtseinheiten zur Völkerwanderung und Attila daher insgesamt wohl nicht die erste Wahl konstituieren würden. 77 Ebd. 78 Vgl. die Auskünfte, die Oktavius Palatius, römischer Tribun und Gesandter, dem chinesischen Schamanen der Hunnen gibt (Attila, Mon Amour I, S. 29,1–3). 79 Die Römer (vgl. Attila, Mon Amour I, S. 5,4) und die Hunnen (vgl. Attila, Mon Amour I, S. 30,1; S. 38,5; 40,6) sind sich – unabhängig voneinander – bemerkenswerterweise in ihrer Verachtung und Beschimpfung Guddurs einig. 80 Vgl. auch das nächtliche Zwiegespräch zwischen Attila und Yinn, in dem der Schamane als politischer Ratgeber versucht, Attila von weiteren Eroberungszügen abzuhalten (Attila, Mon Amour I, S. 23, 2–5): »Nimm die Geschenke von Byzanz an, Grosskhan … und lass den langen
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Attila hingegen lässt sich von der animalischen Behändigkeit Lupas, die es ihr ermöglicht, seinen Henker zu verspotten und ihn damit zu amüsieren (vgl. Attila, Mon Amour I, S. 30,5–40,6) beeindrucken. In konsequenter Fortsetzung seiner Barbarenstilisierung sieht er in ihr zunächst nur ein ungezähmtes exotisches Weibchen, Objekt seiner wilden Libido (I, S. 40,7–8). Doch noch während er sich ihrer brutal bemächtigt, ändert sich das Verhältnis zwischen Lupa und Attila grundlegend: Sie, die bisher zwar auf die lateinischen Anweisungen ihres Wächters mit bemerkenswertem Geschick reagierte,81 ansonsten aber nur heulte und knurrte, redet Attila mit menschlicher Stimme erstmals direkt an (I, S. 48,3): »Lass Guddur frei, Attila, … und ich zeige Dir, wie Du Herr der Welt werden kannst.« Attila ist überrascht, erstaunt, lässt von ihr ab; die rätselhafte Lupa ist plötzlich nicht mehr nur Objekt seines ungezügelten, barbarischen Verlangens, sie verspricht ihm unbeschränkte politische Macht. Im Laufe der weiteren Handlung – insbesondere mit den flash-backs, die die zentralen Stationen ihres bisherigen Lebens illustrieren –, wird schnell klar warum: Es ist nicht nur der Wunsch, ihren Wächter Guddur vor dem tödlichen Hass des Schamanen zu schützen, sondern eine tief empfundene, alle mitmenschlichen Bindungen verzehrende Rachelust beherrscht Lupa und motiviert sie, Attilas gewaltige kriegerische Energien gegen Rom zu lenken. Noch vor den ersten flash-backs wird deutlich, dass Lupa über ungewöhnliche Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt: Sie analysiert und kommentiert sehr kompetent die Züge einer Schachpartie zwischen Yinn und Attila, sie zeigt Attila eine Siegoption (die dieser in seiner Ungeduld jedoch verschenkt; vgl. II, S. 6,5– 8,3), sie erläutert Attila die wichtigsten geographischen und geopolitischen Details der Gebiete jenseits der Donau und sie zieht die strategisch notwendigen Konsequenzen aus der nur schwachen römischen Sicherung der Donaubrücken (vgl. II, S. 10,5–12,7). Unter Rückgriff auf die allegorische Dimension des Schachspiels wird Lupa immer wieder zur politischen ›Beraterin‹, zum kenntnisreichen strategischen Kopf der Kriegstaktik Attilas (II, S. 13,1): »Das war ein guter Beginn, Grosskhan … das römische Reich ist nichts weiter als ein großes Schachbrett, Deiner Eroberungslust preisgegeben. Überstürze nichts … Galaxia ist nur ein Turm, den Du auf dem Weg zum Schachmatt von Kaiser Cäsar Valentinianus mitnimmst!« Der kluge Kriegsplan Lupas ist es, der den ersten großen Sieg, die völlige Vernichtung eines römischen Kastells und die Einnahme einer intakten Brücke über die Donau erringt (vgl. II, S. 16,3–21,1). Feldzug hier an der Donaumündung enden! Das Land ist weit genug, das Gras ist fett, und die zukünftigen Beziehungen zu Konstantinopel versprechen nur Gutes … Ich habe auch in den Zeichen gelesen, dass das Christenreich bedeutend vielschichtiger und gefährlicher ist als die Königtümer der Steppe … In der Nacht Deiner Geburt heulte ein Wolf, Attila … Du kennst die Bedeutung dieses Vorzeichens …« 81 Vgl. Attila, Mon Amour I, S. 34,7; S. 36,1; S. 36,9 und S. 39,7.
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Ohne die vielen kleinen und großen Erfolge en détail aufzulisten, die sich der brutalen Kampfkraft der Hunnen, gepaart mit der überraschenden Schnelligkeit ihrer Aktionen und begünstigt durch den listigen Einsatz einzelner Agenten verdanken, etwa Guddurs (vgl. II, S. 40,5–47,2) gegen Campus Severinus (Die Eisernen Pforten), wird man festhalten können, dass Attila von Sieg zu Sieg eilt, solange er den klugen Ratschlägen Lupas folgt.82 Und mit den Siegen wächst die Furcht, das Grauen vor Attila, wie stellvertretend der mit Rom verbündete Ardaric, König der Ostgoten, noch während des letzten, vernichtenden Angriffs auf Campus Severinus verdeutlicht (II, S. 46,3–5):83 »Gegen den Teufel kann man sich nicht verbünden, Plancus! […] Dieser Barbar hat die Reiche Asiens und des Pontus niedergemacht! Er ist der Teufel in Person! Ja, Attila! Der Teufel, der Rom schlagen wird, taucht in ebendiesem Moment im Morgennebel aus der Hölle empor! Und um der Legende Genüge zu tun, erscheint er in seiner Goldrüstung und brüllt seiner Armee den Befehl zum Angriff zu!«
Mit den kriegerischen Erfolgen, die sich wesentlich den strategisch klugen Ratschlägen Lupas verdanken, die wiederum in überragenden geopolitischen Kenntnissen gründen, ändert sich auch die Wahrnehmung, die Stellung Lupas im Hunnenlager: Attila weiß, was er ihr zu verdanken hat,84 das hasserfüllte Misstrauen des Schamanen Yinn weicht widerwilliger Akzeptanz, andere Frauen Attilas reagieren mit Eifersucht, insbesondere Attilas einstige Favoritin Urane, die den fast erfolgreichen Giftmordversuch an Lupa mit ihrem Kopf bezahlen muss (vgl. II, S. 35,7–9).85
82 Ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Indiz dafür liefert die entscheidende Sequenz des Endspiels in der Schachpartie um Aquileia, in der – entgegen aller Planungen – Attila dem Wunsch des Aetius folgt und seinerseits Lupa gegen den Besitz Aquileias setzt, und damit Lupa, die mit ihren Ratschlägen seine Schachstrategie lenkt, so verärgert, dass sie ihren Platz zu seinen Füßen verlässt und ihn die Partie alleine beenden – und verlieren – lässt (vgl. IV, S. 3,1–8,7). Den verabredeten Preis für diese Niederlage zahlt Attila freilich nicht: Er liefert Aetius an Stelle Lupas eine dicke, nackte, blonde Barbarin aus (vgl. IV, S. 16,6–17,4), als deutliches Zeichen der Warnung. 83 Vgl. insbesondere, wie die figurale Aussage des Ardaric (des »Teufels in Person«) von der auktorialen Erzählinstanz übernommen, weitergeführt, konkretisiert (»… taucht in ebendiesem Moment im Morgennebel aus der Hölle empor!«) und zum Gründungsmoment der Legende Attilas stilisiert wird. 84 Vgl. u. a. III, S. 15,1–17,6, wobei die nahezu durchgängige Verknüpfung von politisch-strategischer Beratung, Schachspiel und hemmungsloser Sexualität (vgl. III, S. 15,2–4) bemerkenswert ist. 85 Vgl. besonders Yinns Bericht, den er gestisch damit akzentuiert, dass er auf den in einer Trinkschale liegenden, abgeschlagenen Kopf Uranes deutet (II, S. 35,7–9): »Ich liebe, was mein Khan liebt … und ich hasse, was mein Khan hasst! Doch mein Khan kennt meine Wachsamkeit und meinen Gerechtigkeitssinn … ich habe die Giftmischerin entdeckt. Sie handelte aus Neid! Frauen sind wie Efeu, der sich in Dir verwurzelt, Dich umschlingt und erstickt, wenn Du ihn nicht abschneidest … Hihihi …«
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Innerhalb des Comics werden die detaillierten geopolitischen Kenntnisse und die herausragenden, u. a. auch psychologische Aspekte (Terror und Furcht als Waffen) ins Kalkül ziehenden strategischen Fähigkeiten Lupas mit ihrer – primär in flash-backs und kurzen Erzählsequenzen rekapitulierten – bisherigen tragischen Lebensgeschichte plausibilisiert.86 In Wirklichkeit ist sie die Tochter des römischen Kaisers Valentinian III., Gallia Placidia [sic!], die wegen ihres Bekenntnisses zum Christentum von ihrem (damals noch) göttergläubigen Vater verstoßen, als abschreckendes Beispiel gekreuzigt und nur durch das beherzte Eingreifen einer zufällig an den Kreuzen vorbeikommenden Gauklertruppe gerettet wurde. Wider Erwarten überlebte sie und wurde nach hartem Training mit der Schaustellertruppe, insbesondere Guddur, zu einer Circus-Attraktion. Als solche hat sie der oströmische Kaiser gekauft und Attila geschenkt. Wie schon bei der ›Entzauberung‹ des enigmatischen Hunnenkönigs, den der Comic auf typisch barbarische Interessen, nämlich Rauben, Morden, Plündern, Pfählen und Kopulieren, reduziert und seine überaus erfolgreiche Kriegstaktik primär Lupa zuschreibt, so bleibt auch die gesamte, vorgeblich mit Authentizitätssignalen angereicherte Biographie Lupas im Genre der Fantasy, wenn nicht passagenweise sogar im Bereich des Kontrafaktischen. Ihr eigentlicher Name verdankt sich der historisch einflussreichen Mutter Valentinians III., Galla Placidia, und ihre Rolle im Comic entspricht zumindest in einigen Details der der historischen Honoria.87 Eine kämpferische Göttergläubigkeit Valentinians III. gehört eindeutig in den Bereich des Kontrafaktischen, wiewohl der historische Kontext der Mitte des 5. Jahrhunderts eine Göttergläubigkeit in Rom in Einzelfällen nicht prinzipiell ausschloss, wie etwa das Beispiel des göttergläubigen Litorius,88 der in den späten 430er Jahren als magister equitum per Gallias gegen die Westgoten kämpfte, oder auch die Diskussionen um die Religionszugehörigkeit des Aetius zeigen, wobei dessen ›katholisches‹ Christentum wohl nicht ernsthaft bestritten werden kann.89 Im Falle Valentinians III. jedoch ist die Quellenlage eindeutig, er war Christ, vielleicht sogar ein tiefgläubiger, frommer Christ, was er im Comic in den letzten Erzählsequenzen auch ist, wenn er sich als reuiger Sünder (in Ravenna 451 n. Chr.) inszeniert, sich selbst geißelt und eine Dornenkrone trägt (vgl. V, S. 3,1–4,3). So einfallsreich und interessant, teils mit 86 Vgl. insbes. Attila, Mon Amour II, S. 36,6–38,7; III, S. 14,5–15,7; III, S. 20,1–21,7; III, S. 29,6– 42,3; III, S. 42,3–45,5; IV, S. 48; VI, S. 19,10–22,10; VI, S. 24,1–4; VI, S. 35,2–6; vgl. insbes. zur Geschichte des Lebens mit der Gauklertruppe Attila, Mon Amour I, S. 38,6; IV, S. 25,1–33,3; IV, S. 33,4–35,10; IV, S. 40,6–43,7; IV, S. 48; V, S. 19,4–32,4. 87 Vgl. insgesamt zu Galla Placidia und Honoria Stickler 2002, bes. S. 26–31; 34–38; 126–133; 309–312 und passim; Rosen 2016, bes. S. 100–103; 196–198; 202–205; 218; 224–225; 256 und passim. 88 Vgl. von Haehling 1978, S. 481. 89 Vgl. Belege und Diskussion bei Ebd., S. 477 f; Stickler 2002, S. 321–323.
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kontrafaktischen Details angereichert, die ›wirkliche‹ Lebensgeschichte Lupas ihre für eine junge Frau ungewöhnlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erklären beansprucht, oder mit dem brutalen und niederträchtigen Verhalten ihres Vaters wie auch ihres Geliebten und zukünftigen Ehemannes Aetius ihren jedes Maß übersteigenden, glühenden Rachedurst begründet, es bleiben Fantasy-Elemente, die in ihren erzähllogischen Konsequenzen nicht in jedem Detail nachvollziehbar sind: »Die einstmals kultivierte, christlich erzogene junge Frau verwandelt sich hierfür [sc. ihre Rache] zu einem animalischen Wesen, verbündet sich mit dem rohen, unbarmherzigen Hunnenkönig, lässt sich sexuell erniedrigen, physisch und psychisch quälen und empfindet sogar noch Gefühle für Attila, statt ihn nur als abstoßendes Werkzeug ihrer Rache zu benutzen, so dass sie, obwohl längst fallengelassen, bis zum bitteren Ende an ihm festhält.«90
Das Ende der Eroberungszüge Attilas, die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, die neuerlichen Züge nach Gallien und Italien, der Rückzug nach Pannonien, eine letzte Schachpartie und der Tod des Hunnenherrschers stehen im Zentrum der letzten beiden Bände, wobei die eigenen Akzente, die der Comic setzt, etwa der Verrat Ellacs, des ältesten Sohn Attilas (vgl. VI, S. 4,4–5,6), die genaue Chronologie der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (vgl. V, S. 45,1 – VI, S. 10,6),91 oder die Notiz, dass Ildico Attila vergiftet hat (vgl. VI, S. 44,9– 45,7), zu den nicht unüblichen Privilegien in der Adaptation historischer Quellen gehören. Mit seinen letzten Panels schließlich feiert der Comic nochmals Lupa, die eigentliche Protagonistin der Reihe; zugleich expliziert der Comic damit zum wiederholten Male seinen Hybrid-Charakter zwischen Fantasy- und Geschichtscomic (VI, S. 48,5–6): »In den dunklen Wäldern von Ungarn bis Transsylvanien gibt es viele Sagen … Eine erzählt von einer schönen reichen Prinzessin, die sich über den Eisernen Pforten ein Schloss bauen ließ … Sie lebte unter einem Baldachin aus Gold, Seide und Elfenbein vom fernen Altai … Eine andere Sage berichtet, dass in Vollmondnächten über der grünen Donau ein herzzerreißendes Heulen erklingt … Die alten Bauern der Karpaten schwören, dass es Lupa ist, die da heult … die Wolfsfrau, die Attila liebte und vor der Rom zitterte!«
So reizvoll und lohnend es wäre, die Entwicklung der Beziehung Lupas zu Attila, in ihrem beständigen Kreisen um Schachspiel, Weinexzesse, Kriegstaktik, Ärger 90 Goltz 2014, S. 128; vgl. auch die folgende prononcierte Wertung ebd.: »Zumindest bei Rezipienten, die für die Probleme Chauvinismus und Sexismus einigermaßen sensibilisiert sind, dürfte diese Darstellung das Lesevergnügen empfindlich trüben.« 91 Vgl. zu den Schwierigkeiten anhand der spärlichen Quellen den Verlauf der historischen Schlacht in ihrem Ablauf zu (re-)konstruieren insbesondere Stickler 2002, S. 140–145 und Rosen 2016, S. 201–225.
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über Attilas politisch-strategische Blindheit und hemmungslose Sexualität en détail zu analysieren,92 strukturell ergäbe sich nichts Neues: Lupa, die Wolfsfrau, ist das planende, klug berechnende, psychologisch listige Gehirn hinter der Kriegsstrategie des Hunnenkönigs und Ziel all dieser Planungen, die sich der brutalen Kampfkraft der Hunnen und ihrer Verbündeten bedient, dabei tausendfachen Tod, Mord, Plünderung, verwüstete Städte, vergiftete Flüsse und Bäche, verbrannte Ernten und Dörfer in Kauf nimmt, ist Rache, grausige, alles vernichtende Rache, Strafe für Rom und seine Repräsentanten, insbesondere Kaiser Valentinian und Aetius.93 In der erzählerischen wie illustrativen Repräsentation der Begegnungen von römischen Gesandtschaften mit dem Hunnenherrscher, der langen Reihe grandioser kriegerischer Erfolge Attilas und schließlich seiner bittersten Niederlage dokumentiert sich in unendlich vielen Details eine graduelle Dominanz von Realitätsreferenzen, wohingegen Lupa sowohl mit ihrer fiktiven Biographie als auch mit ihrem Handeln dem FantasyGenre zuzurechnen ist. Dass jedenfalls die Beutezüge der Hunnen, die letztlich vergeblichen Versuche, jenseits der Donau – wenn auch nur kurzzeitig – stabile Herrschaftsstrukturen zu etablieren, jeweils Zusammenstöße, Bündnisse, Auseinandersetzungen mit anderen, zumeist germanischen und slawischen Stämmen provozierten, bis hin zur großen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, bei der auf beiden Seiten jeweils Truppenkontingente vieler unterschiedlicher Stammesverbände kämpften, sie somit Teil der allgemeinen chaotischen Geschichte der Völkerwanderungszeit sind, hält die Darstellung des Comics mit ihren überzeugenden Realitätsreferenzen beständig präsent.94
92 Sehr gute Beispiele bieten Attila, Mon Amour V, S. 10,4–11,5, wo es Lupa mit ihrer sexuellerotischen Verführungskraft gelingt, Attila zum Angriff auf Paris zu motivieren, und insbesondere VI, S. 12,5–14,8. 93 Ganz gegen Ende der Erzählung (vgl. Attila, Mon Amour VI, S. 33,2) verweist Lupa noch auf ein weiteres Motiv: »Und dann wird Deine Schachpartie zum Dominospiel! Mediolanum, Brixia, Verona, Ticinum, Placentia, Parma … alle diese Städte fallen! Am Rande des Schachmatt wird Rom verhandeln … und ich werde Deine Kaiserin, denn das war meine Bestimmung!« Bei den tatsächlichen Verhandlungen mit Rom und seinem Unterhändler, Papst Leo, versucht Lupa konsequent ihre Vorstellungen (Abdankung und Hinrichtung Valentinians, Begnadigung ihrer Mutter Valeria, Ernennung Attilas zum Kaiser) zu verwirklichen, kann sich aber letztlich gegen den kränkelnden und kriegsmüden Attila nicht durchsetzen, zumal der kaiserliche Unterhändler den ungeheuerlichen Tribut von 50.000.000 Goldsesterzen für den Friedensschluss überbringt (vgl. bes. Attila, Mon Amour VI, S. 34,1– 38,8). 94 Vgl. besonders eindringlich Attila, Mon Amour III, S. 25,1–31,4; IV, S. 44,1–48,2; V, S. 38,6 – VI, S. 16,8.
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Attila und die Hunnenkriege im modernen Science-Fiction- / Geschichts-Comic
Aus einer Idee ihres Ehemanns, Denis Bajrams, »eine Science-Fiction-Adaption der Legende vom Hunnenkönig Attila,«95 entwickelte Valérie Mangin, unterstützt von dem serbischen Zeichner Aleksa Gajic bei den Illustrationen und der Kolorierung, eine sechs Bände umfassende Comic-Reihe Le Fléau des Dieux, Die Geissel der Götter. Die Titel der einzelnen Bände (I: Morituri Te Salutant; II: Dies Irae; III: Urbi Et Orbi; IV: Vae Victis; V: Dei Ex Machina und VI: Exit) wie auch der Gesamttitel der Reihe, insbesondere mit seinem Plural (»des Dieux« / »der Götter«) verdeutlichen und verfremden zugleich, was die Leser und Betrachter zu erwarten haben. In einem späteren Essay berichtet Valérie Mangin detailliert über die Entstehungsgeschichte und die wichtigsten Strukturüberlegungen zu ihrem Projekt: »[…] Aetius war zu Aetia geworden, die mutmaßliche Freundschaft der nunmehr römischen Patrizierin zum Hunnenkönig zur Liebe, die Hunnen zu einer Emanation des römischen galaktischen Imperium[s] selbst – oder eher zu dessen am meisten exaltierten und des Niedergangs bewussten Elementen. Meine Geschichte zeigt die großen Etappen des Krieges, der das 5. Jahrhundert mit Blut befleckte, wie die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, andererseits entfernt sie sich jedoch an manchen Stellen recht weit davon. Die Verschiebung hin zur Science-Fiction erlaubte mir, die Aspekte beiseitezulassen, die mich an der Geschichte weniger interessierten, wie zum Beispiel die besonderen Beziehungen der Christen zu den Eindringlingen, und mich auf diejenigen zu konzentrieren, die mich inspirierten. […] Außerdem hatte ich ein gewisses Vergnügen daran, bestimmte Elemente zu verstärken oder zu verfremden, die mir die vielversprechendsten zu sein schienen. Die Stadt Rom wurde zu einem riesigen Planeten, in den sieben Planetoiden integriert sind. Die Pferde der Hunnen wurden zu Weltraummonstern verwandelt, die sich an jeden Ort im Universum teleportieren können … Natürlich gehorchen diese Variationen den Codes der ›Space Opera‹. Aber sie sind auch eine Möglichkeit für mich, [..] Probleme zu lösen […]: Wie kann man sich sicher sein, dass der Leser versteht, dass es sich um eine fiktive Darstellung auf historischer Grundlage handelt, nicht um eine Bebilderung der Geschichtsschreibung? Der Übergang zur Science-Fiction genügt, um alle Zweifel auf einmal zu beseitigen. Aber selbst wenn ich mich ein gutes Stück von der Realität der Spätantike entfernte, versuchte ich, dem Geist der historischen Elemente treu zu bleiben: Rom bleibt immer noch die majestätischste Stadt des Reiches, und die Hunnen sind noch immer die beweglichsten und am schwersten zu verfolgenden Krieger.«96
Literatur- und geschichtstheoretische Vorüberlegungen wie auch ein gründliches und zugleich eklektisches Quellenstudium97 der Verfasserin sowie die heraus95 Die Geissel der Götter VI, nicht paginierte Zusatzseiten: »Die Entstehung der Serie.« 96 Mangin 2014, S. 109. 97 Vgl. ebd., S. 109–111.
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ragende graphische Umsetzung98 durch Aleksa Gajic verschmelzen zu einer überaus qualitätvollen und immer wieder insgesamt wie im Detail Reflexionen anregenden Comic-Serie. Typologisch ist sie ein Hybrid aus Science-Fiction und Geschichts-Comic, Letzteres weil – ungeachtet der Verlegung der Handlung um Attila in eine ca. 10.000 Jahre entfernte Zukunft, wo sich das seit Jahrtausenden herrschende galaktische römische Imperium ›Orbis‹ mit der Bedrohung durch die archaische, aber dennoch hoch technisierte Außenseitergesellschaft der Hunnen auseinanderzusetzen hat99 – eine zumindest graduelle Dominanz von Realitätsreferenzen zu konstatieren ist. Dies gilt gleichermaßen für die Darstellung der Hunnen (Rua/Ruga, Oktar, Ebars/Oebarsius und Attila) wie für die Römer (Galla Placidia, Valentinian III., Aetius und Avitus). Das Analoge gilt für eine Vielzahl von Referenzen auf die wichtigsten Stationen der Auseinandersetzung. Selbst zentrale, typische Charakteristika der Zeit, innere Zwietracht, familiäre Zwistigkeiten zwischen Galla Placidia und ihrem Sohn Valentinian III., Hofintrigen in Rom, die Machtkämpfe, die Mobilität und die Schnelligkeit der hunnischen Kampfverbände (durch Teleportation) werden immer wieder erwähnt und überzeugend in die überaus komplexe, teils unerwartete Wendungen nehmende Handlung integriert. Ohne die insgesamt hoch komplexe und zugleich spannende Handlung hier en détail nachzeichnen zu können, darf festgehalten werden, dass der Attila des Comics zunächst weitgehend dem schon hinlänglich bekannten Bild des Hunnenkönigs korrespondiert: Er ist ein brutaler, befehlsgewohnter, strategisch versierter Kriegsherr. In doppelter Weise jedoch wird dieses konventionelle oder traditionelle Bild Attilas modifiziert und zum Teil auch dekonstruiert: Zum einen sind die Hunnen (und damit auch Attila) des Comics durch Mangel an Erziehung verrohte Römer, was die Rezipienten – wie schon Andreas Goltz herausstellte100 – dazu führen kann (und sollte), über Identitätskonstruktion, ethnische und kulturelle Vorurteile nachzudenken und sich insbesondere der Frage zu stellen, wie dünn der Firnis der Zivilisation insgesamt möglicherweise ist. Zum anderen trägt die große Marsstatue im römischen Marstempel, wie Valentinian III. und Flavia zu ihrem Entsetzen bei der Enthüllung der Statue feststellen müssen, eindeutig die Gesichtszüge Attilas (III, S. [48],2–4): »Dieses Gesicht … Die Statue des Mars ist Attila! Das ist Attila! Attila!«
98 Vgl. wie engagiert und detailliert um eine möglichst angemessene Darstellung, etwa auf den jeweils ausgewählten Titelseiten, zwischen Verfasserin und Illustrator ›gerungen‹ wurde, Die Geissel der Götter VI, unpaginierte Zusatzseiten (»Die Entstehung von Band 1« und »Die Titelbilder«); vgl. dort auch letztlich nicht realisierte Entwürfe und Varianten. 99 Vgl. auch Goltz 2014, bes. S. 128. 100 Vgl. Goltz 2014, bes. S. 132.
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Die zweifellos interessanteste und innovativste Figur des Comics ist die fiktive Tochter des Aetius, Flavia Aetia, die nach der Auslieferung an die Hunnen eine grausig-blutige Opferzeremonie überlebt101 und deshalb wie auch wegen ihrer physiognomischen Ähnlichkeit »als Inkarnation der hunnischen Chaos-Göttin Kerka – eine Anspielung auf Attilas Hauptgattin Kreka / Erekan – gilt, in die hunnische Oberschicht aufgenommen«102 und fortan gewissenhaft auf ihre Rolle als hunnische Göttin Kerka vorbereitet wird. Mit Attila zunächst machtpolitisch, dann auch in Liebe verbunden, übernimmt schließlich Flavia, nach Orbis zurückgekehrt, in der Rüstung ihres toten Vaters inkognito die Führung der römischen Legionen gegen Attila,103 von dem sie sich zurecht hintergangen fühlt. Erste Erfolge und das Charisma ihrer Persönlichkeit sichern Flavia das Vertrauen des jungen Kaisers und seiner Mutter, und dennoch bleibt ein letzter Rest von Irritation, auf den Galla Placida verweist; sie verfügt über das exklusive Geheimwissen, das ihr die geheime Bibliothek unter dem großen Marstempel eröffnet (vgl. insbes. III, S. 30,5–31,6). Ein schmales Bändchen, geschrieben vor mehr als 10.000 Jahren von einem gewissen Jordanis, erzählt eine der konkreten Situation der Gegenwart absolut analoge Geschichte (IV, S. 5,3), »dass Attila, der König der Hunnen der Antike, das römische Reich von damals angegriffen hat. Und dass der Patrizier Flavius Aetius ihn zwar besiegt, aber letztlich verschont hat.« Und Galla Placida weiß auch insgesamt um die historische Bedeutung dieses uralten römischen Imperiums (III, S. 30,1–3): »Dieses erste römische Imperium diente dem unseren als Vorbild, wie zuvor auch für die Reiche Karls des Großen und Napoleons. […] Es gab viele verschiedene Zivilisationen vor Orbis. Die Planeten ähnelten einander nicht so wie heute […] Das Imperium ist das Ergebnis der leidenschaftlichen, ja krankhaften Faszination seiner Gründer für
101 Darauf, auf die zwölf an die Hunnen überstellten Geiseln, bezieht sich im Übrigen der Titel des ersten Bandes: Morituri Te Salutant, wiewohl er vielleicht anderes erwarten lässt. Die Grußformel (»morituri te salutant«) ist in der antiken Literatur nur ein einziges Mal bezeugt (und gerade nicht im Kontext eines Gladiatoren-Kampfes, vgl. Sueton, Leben des Claudius 21), sie findet dennoch in der Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wiederholt als Stereotyp beim Einzug von Gladiatoren / Kämpfern in die Arena Verwendung, von der französischen Historienmalerei über Asterix als Gladiator bis zum Monumentalfilm Gladiator 2000. 102 Goltz 2014, S. 131. 103 Flavia ist somit einerseits die Tochter des Aetius, inkognito in Helm und Rüstung ihres verstorbenen Vaters die Anführerin des römischen Widerstands gegen die Hunnen, und andererseits die Inkarnation der hunnischen Göttin Kerka, und Flavia ist unsterblich; vgl. insgesamt und allgemein auch Goltz 2014, S. 131: »Die Geißel der Götter stellt aufgrund der Vielschichtigkeit der Handlung und der Einführung einer erfreulich differenzierten, starken weiblichen Heldin, die nicht auf die Rolle als Lustobjekt, Verführerin, Gebärerin oder treue Begleiterin eines Mannes reduziert wird, zweifellos eine Bereicherung des Genres dar.«
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eine längst tote Vergangenheit – und nicht etwa die einzig mögliche Organisationsform der Menschheit.«
Abb. 4: Valérie Mangin / Aleksa Gajic, Die Geißel der Götter (Le Fléau des Dieux), Bd. 4: Vae Victis, Augsburg: Finix Comics 2010, S. 5,1–3, (© MC Productions / Mangin / Gajic / Finix Comics (2010)).
In der Abgeschiedenheit der exklusiv der kaiserlichen Familie zugänglichen Bibliothek verleiht die Kaiserin im Gespräch mit Flavia ihrer Sorge Ausdruck, die frühere Geschichte könnte sich wiederholen; sie nimmt Flavia das Versprechen ab, Attila nach Möglichkeit zu vernichten (vgl. IV, S. 5,7–8). Die konkreten Befürchtungen Galla Placidas (›Wiederkehr des Gleichen‹) wie auch etliche im Folgenden integrierte und durch eine andere Schrifttype besonders markierte Zitate aus der Gotengeschichte des Jordanis (vgl. IV, S. 7,5–20,1) verweisen explizit wie implizit auf die geschichtsphilosophisch einflussreiche metaphorische Konzeptualisierung der Geschichte als Kreisbewegung.104 In Ergänzung und damit komplementär zu diesem zyklischen Geschichtsverständnis verweisen insbesondere die Titel der Bände V (Dei Ex Machina) und VI (Exit) unmissverständlich auf die Welt des Theaters, auf die ebenfalls seit der Antike geschichtstheoretisch und –philosophisch höchst einflussreiche Theatermetapher, die das Theater als Gleichnis für den Kosmos, als Welttheater konzeptualisiert und damit zugleich für die menschlichen Akteure / Zuschauer die prinzipielle Frage nach Freiheit und Notwendigkeit menschlichen Handelns auf der Bühne der Welt stellt.105 Diese wirkmächtige Konzeption konstituiert den geschichtsphilosophischen Rahmen für die nicht völlig überraschende106 Ent104 Vgl. dazu allgemein Demandt 1978, bes. S. 236–270. 105 Vgl. Ebd., bes. S. 332–425; vgl. ebenfalls Cassirer 1977, bes. S. 77–129. 106 Dass sowohl Flavia Aetia (Kerka) als auch Attila (Mars) göttergleich und unsterblich sind, war bereits hinreichend oft verdeutlicht worden, gewinnt aber erst im Kontext der Enthüllung der ›Meta-Handlung‹ an comicinterner Plausibilität und Bedeutung.
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hüllung der hinter der Auseinandersetzung zwischen Rom und den Hunnen liegenden ›Metahandlung‹, die ihrerseits in eine verwirrende Vielzahl philosophischer, geschichtstheoretischer, religiös-ethischer und naturwissenschaftlicher Diskurse hineinführt. Ausgangspunkt dieser ›Meta-Handlung‹ ist eine ca. 300 Jahre zurückliegende Erkenntnis der Kaiser (III, S. 15,3–5): »Mit der Vollendung Roms und Ravennas wurde den Kaisern bewusst, dass Orbis seinen Zenit erreicht hatte, und dass sie die Geschichte aufhalten mussten, wenn sie nicht seinen Verfall miterleben wollten. […] Am Tage der Einweihung des großen Marstempels wurde jede Art von Wissenschaft, jede Innovation verboten. Wer todbringende Veränderungen plante, wurde verbannt oder hingerichtet. So blieb unser Orbis, wie es war … immer auf dem Höhepunkt seiner Macht.«
Der Verfolgung konnten sich zehn herausragende, geniale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unter Führung Saturns entziehen, die ihre größten und bedeutendsten Entdeckungen und Erfindungen zusammenführten und vervollkommneten (»energetische Schutzschilder, Quantenverschiebung, Teleportation, Beherrschung von Energieflüssen, Unsterblichkeit, medizinische und genetische Manipulation«107), und sich mit der Raumbasis »Olympus« einen Rückzugsort schufen. Dort planten sie mit Hilfe des von ihnen erschaffenen ›Gottes‹ Mars (Attila) und seiner Hunnen Orbis zu zerstören und aus dem Chaos mittels »der ebenfalls kreierten ›Göttin‹ Venus (Flavia Aetia) als Prinzip der Ordnung und Kultur für einen Neubeginn der zivilisatorischen Evolution zu sorgen.«108 Flavia Aetia und Attila weigern sich, die ihnen auferlegten manipulierten Götterrollen zu spielen, versöhnen in Orbis Römer und Hunnen und lehnen sich dann gegen Saturn auf. In Folge der detailliert geschilderten unversöhnlichen Auseinandersetzung stürzen Saturn und die übrigen ›Olympier‹ in ein schwarzes Loch, das nur zwölf ›Götter‹ wieder verlassen: In ein ›Paralleluniversum‹ der Vergangenheit, in dem gerade der Trojanische Krieg wütet. Nun sind auch Flavia Aetia und Attila bereit, ihre Rolle als olympische Götter zu spielen, zur großen Freude Attilas, wie er mit einem teuflischen Grinsen abschließend expliziert (VI, S. [48,6–7]): »Ich werde diesen kleinen Kriegern dort unten sofort zeigen, wozu ein Kriegsgott in der Lage ist! Und wenn es auch nur für das Vergnügen ist, Dir dabei zuzusehen, wie Du mich daran hindern willst, liebste kleine Schwester! Der Kreis schließt sich … wir werden zu den wahren Göttern der Antike! … Und mit Göttern wie uns werden die Menschen einiges zu erzählen haben!«
Inmitten der verwirrenden Vielfalt geschichtsphilosophischer Konzeptionen, fortschrittsfeindlicher, kulturpessimistischer Vorurteile und Ängste wie auch 107 Goltz 2014, S. 131. 108 Ebd. Vgl. insbes. auch Die Geißel der Götter V, S. 3,1–22,7.
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den deprimierend grausig-brutalen ›Realitäten‹ existentieller kriegerischer Auseinandersetzung hat zwar der teuflisch grinsende Attila (als Mars) das letzte Wort im Comic, dennoch wohnt auch der Vernichtung, der endgültigen Zerstörung von Orbis (vgl. VI, S. 42,1 – [44,1]) die Hoffnung auf neue Anfänge inne, wie der ehemalige Präfekt und Kaiser Avitus betont (VI, S. [44,3–6]): »Als sie noch der Patrizier Aetius war, erzählte mir die Göttin Venus, sie habe ein friedliches Mittel gegen die Stagnation unserer Gesellschaft gefunden. Sie hatte Recht. Wenn die Planeten ihren Platz beständig wechseln, wird niemand mehr jemals wissen, wo genau in der Galaxie er sich befindet. Orbis wird auseinanderfallen. Die Planeten werden ihre politische und kulturelle Unabhängigkeit wiedererlangen … Die Einheitlichkeit führte unsere Zivilisation an den Abgrund, die Vielfältigkeit wird der Menschheit wieder neues Leben schenken. Kerka, die Göttin des Chaos hat schließlich gewonnen. Kein Gott oder Diktator wird je wieder der gesamten Galaxie seinen Willen aufzwingen können.«
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Epilog
Wie die bisherigen, teils exemplarisch knappen Untersuchungen verdeutlicht haben sollten, bieten die analysierten Comics vielfältige und durchgängig anregende Möglichkeiten, sie im Zusammenspiel mit ausgewählten Quellentexten der antiken Historiographie zu analysieren, natürlich nicht als Illustration der historischen Realität, auf die sie beanspruchen zu referieren. Die Auswahl der für solche didaktischen Zwecke einzusetzenden Comics, oder auch Einzelpanels ist durch die jeweiligen Erkenntnisinteressen bestimmt. So kann beispielsweise für die besondere Akzentuierung ethnischer oder sozialer Stereotype, oder allgemeiner: ›concepts of otherness‹ auch die Einbeziehung der hier bewusst ausgeschlossenen Comics mit Attila-Referenzen (aber ohne Dominanz von Realitätsreferenzen) durchaus sinnvoll sein, weil gerade diese sich häufig primär auf Stereotype konzentrieren.109 Wie die bisherigen Analysen ebenfalls verdeutlicht haben sollten, sind typologisch-generische Variationen innerhalb des Comics ebenso an der Tagesordnung wie gravierende qualitative Unterschiede in der Text- und Bildgestaltung (vgl. etwa die Unterschiede von Attila, König der Hunnen über Attilas Horden bis zu den herausragenden Illustrationen in Prinz Eisenherz). Für unsere konkrete Fragestellung nach der jeweiligen Repräsentation Attilas und der Hunnen-Einfälle im Kontext der Völkerwanderung (im Geschichts-Comic) sind diese typologisch-generischen Variationen bis hin zu den Hybridisierungen ungleich wichtiger, da sie Modus und Fokus der Darstellung, die Auswahl der Hand109 Vgl. Goltz 2014, passim; vgl. allgemein auch Näpel 2010; Ders. 2011.
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lungssequenzen, den Erzählrhythmus wie die Sympathielenkung wesentlich mitbestimmen (vgl. bes. Attila, Mon Amour und Die Geißel der Götter). Eine sorgfältige Analyse – unter Berücksichtigung der generisch-typologischen Variation – von Erzählstruktur und Fokalisierung ausgewählter Comics110 lieferte interessante Ergebnisse, die wiederum mit den Ergebnissen einer in analoger Weise analysierten Auswahl traditioneller historiographischer Quellen der Antike (vgl. etwa Ammianus Marcellinus, Priskos, die Gallische Chronik von 452 oder Jordanes)111 im Transfer verglichen werden könnten (und sollten), weil historiographische Texte zunächst einmal auch Erzähltexte sind und dem GeschichtsComic durchaus analoge Strukturelemente (im Wesentlichen: Erzählinstanz(en), Fokalisierung(en), (fingierte) Reden, (fingierte) Mündlichkeit, Vorausdeutungen) aufweisen.112 Selbst die geschichts- und literaturtheoretisch hochinteressanten Fragenkomplexe von erzählerischer Sinnstiftung und markierter oder auch unmarkierter Intertextualität, bis hin zur expliziten Akzentuierung von Fiktionalität113 könnten (und sollten) im kritischen Vergleich von Comic und klassischantiker historiographischer Quelle untersucht werden. Mit dem Science-Fiction / Geschichts-Comic Die Geißel der Götter schließlich eröffnet sich – speziell in den letzten beiden Bänden, damit zugleich jedoch auch in der Gesamtkomposition – ein verwirrend vielfältiger Anregungskosmos von Referenzen auf unterschiedlichste philosophische, geschichtstheoretische, religiös-ethische und naturwissenschaftliche Diskurse, die weit über die ursprünglich formulierten Erkenntnisinteressen und Einzeldisziplinen hinausgehen und die darüber hinaus auch noch ästhetisch-künstlerisch herausragend umgesetzt sind. Diesen Anregungen extensiv zu folgen, würde an Grenzen der Zeitökonomie stoßen und sich von der ursprünglichen Fragestellung nach der Repräsentation von Attila und den Hunnen-Einfällen im Geschichts-Comic zunehmend entfernen.
110 Vgl. nochmals Schüwer 2008, passim. 111 Die kommentierte Anthologie von Homeyer 1951 konstituiert z. B. eine sehr gute QuellenAuswahl. 112 Vgl. allgemein Nünning 1995, bes. S. 129–205; vgl. auch Pirker / Rüdiger 2010 und Rüsen 1982. 113 Vgl. dazu jüngst die exzellente Analyse des antiken Fiktionalitätsdiskurses von Feddern 2018, die selbstverständlich auch die geschichtstheoretischen Aspekte einschließt; vgl. ebenfalls Pirker / Rüdiger 2010.
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2. Harold Rudolph Foster, Prinz Eisenherz, Hal Foster Gesamtausgabe, Bonn: Bocola, S. 125, Abb. 7: © King Features Syndicate, Inc./Distr. Bulls / Bocola, Bonn (2006). 3. Harold Rudolph Foster, Prinz Eisenherz, Hal Foster Gesamtausgabe, Bonn: Bocola, S. 160, Abb. 5: © King Features Syndicate, Inc./Distr. Bulls / Bocola, Bonn (2006). 4. Valérie Mangin / Aleksa Gajic, Die Geißel der Götter (Le Fléau des Dieux), Bd. 4: Vae Victis, Augsburg: Finix Comics 2010, S. 5,1–3: © MC Productions / Mangin / Gajic / Finix Comics (2010).
Thorsten Beigel
Der Gesandtschaftsbericht des Priscus von Panium
Unter den Gruppierungen der Völkerwanderungszeit, mit denen sich das spätantike Imperium Romanum auseinanderzusetzen hatte, genießen die Hunnen sicherlich einen besonders zweifelhaften Nachruhm, der in der Gestalt Attilas noch dazu eine besonders eindrückliche und wirkmächtige Personifikation erfuhr. An ihrem Ruf haben die Hunnen selbst tatkräftig mitgewirkt, doch waren es letztlich vor allem ihre griechischen und römischen Zeitgenossen des 4. und 5. Jahrhunderts n. Chr., die mit ihren eindringlichen Schilderungen das Hunnenbild für die Nachwelt prägten – allen voran etwa der Hunnenexkurs des Ammianus Marcellinus1 oder die apokalyptischen Deutungen christlicher Autoren.2 Inmitten einer also eher betrüblichen Quellenlage nimmt der Gesandtschaftsbericht des Priscus von Panium eine Sonderstellung ein, haben wir mit ihm doch eine recht ausgewogene Schilderung Attilas und seiner Entourage, die gerade durch die Unmittelbarkeit der Begegnung des Autors mit den Hunnen einen ganz eigenen Reiz erhält.3 Für die Frage des interkulturellen Lernens hat die Quelle darüber hinaus gleich einen doppelten Wert: als unser bestes und ausführlichstes Zeugnis über Attila samt seinem Hof bietet sie eine vergleichsweise unverstellte römische Sicht auf die Hunnen; zugleich lässt sich der Bericht auch selbst als ein Beispiel von den Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation lesen. Gleichwohl muss eingangs vor allzu hohen Erwartungen gewarnt werden, denn sowohl der historische Hintergrund als auch die Quelle selbst stellen an etwaige didaktische Aufbereitungen recht hohe Ansprüche. Ansprüche, die im schulischen Alltag vielleicht
1 Ammianus Marcellinus 31,2,1–11. 2 Für eine instruktive tour d’horizon siehe Rosen 2016, S. 16–24. Daneben zu Attila und den Hunnen in jüngerer Zeit: Wirth 1999; Stickler 2007; Kelly 2008; Kim 2013 und Maas (Hg.) 2015. In den breiteren Zusammenhang der Zeit ordnet die Hunnen ein: Heather 2011. 3 Rosen 2016, S. 150: »Priscus’ Bericht über die Gesandtschaftsreise im Jahr 449 ist das ausführlichste und unmittelbarste Zeugnis über die Persönlichkeit Attilas, das Leben an seinem Hof und die Verhältnisse bei den Hunnen in ihrer neuen pannonischen Heimat.«.
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Thorsten Beigel
nur bedingt erfüllt werden können. Wie und inwiefern sie dennoch fruchtbar gemacht werden könnte, soll Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sein.
1
Der Gesandtschaftsbericht des Priscus
Der Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. im thrakischen Panium geborene Priscus gelangte als Rhetoriklehrer nach Konstantinopel, wo er in Hofkreise Eingang fand und im Gefolge hoher Beamter vielleicht auch politisch-administrativ tätig war.4 Seine mehrbändige byzantinische Geschichte über die Zeit von circa 433– 474 n. Chr.5 ist nur noch fragmentarisch erhalten,6 was umso bedauerlicher ist, als Priscus über einige Ereignisse aus eigener unmittelbarer Anschauung schreiben konnte. Vor diesem Hintergrund kann es als Glücksfall der Überlieferung gelten, dass sein Bericht über die byzantinische Gesandtschaft an Attila im Jahre 449 n. Chr., an der er persönlich teilnahm, in die Exzerptensammlung über römische Gesandtschaften aufgenommen wurde, die im 10. Jahrhundert Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos in Auftrag gab. Angesichts des Umfangs der Quelle sei hier zunächst der äußere Ablauf der Geschehnisse skizziert.7 Nach Abschluss des Friedensvertrages von 448 n. Chr. schickt Attila eine Reihe von Gesandtschaften an den byzantinischen Hof, hauptsächlich, um seinen Forderungen nach Auslieferung hunnischer Überläufer Nachdruck zu verleihen – ein beständiger Zankapfel zwischen beiden Parteien. Ein weiteres Motiv sei aber auch gewesen, seine Emissäre in den Genuss der zu diesem Anlass üblichen reichen Geschenke kommen zu lassen.8 Als einer von Attilas Vertrauten namens Edekon im Jahre 449 n. Chr. in einer solchen Mission an den Hof gelangt und abermals die Auslieferung aller Überläufer sowie die Respektierung der vertraglich vereinbarten Pufferzone von fünf Tagesreisen südlich der Donau einfordert, sucht ihn der kaiserliche Eunuch und hohe Beamte Chrysaphios für einen Mordanschlag auf Attila zu gewinnen. Edekon willigt – ob tatsächlich oder nur zum Schein, bleibt unklar – gegen das Versprechen einer hohen Belohnung ein. Von byzantinischer Seite wird der Dolmetscher Vigilas als Agent beauftragt, Edekon auf seiner Rückreise zu Attila zu begleiten.9 4 Zu Priscus: Baldwin 1980, S. 18–61 und Blockley 1981/83, S. 48–70 und 113–123. 5 Vgl. Baldwin 1980, S. 27f. 6 Die jüngste kritische Ausgabe erstellte Carolla 2008. Text, Übersetzung und Kommentar bietet Blockley 1981/83; eine deutsche Übersetzung stammt von Doblhofer 1955. Der bequemeren Handhabung halber zitiere ich nach Carolla, Blockley und Doblhofer. Wörtliche Zitate folgen der Übersetzung von Doblhofer. 7 Den Gesandtschaftsbericht behandeln ausführlicher: Kelly 2008, S. 117–167; Rosen 2016, S. 148–184; Thompson 1948, S. 95–124 sowie Schmitt 2007, S. 192–203. 8 Priscus, Frg. 6 in Carolla; Frg. 10 in Blockley; Frg. 6M (S. 22f.) in Doblhofer. 9 Priscus, Frg. 7 in Carolla; Frg. 11.1 in Blockley; Frg. 7M (S. 23–26) in Doblhofer.
Der Gesandtschaftsbericht des Priscus von Panium
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Zur Verschleierung der eigentlichen Mission und der Rolle des Vigilas wird der vornehme Maximinos10 als nominelles Haupt der byzantinischen Gegengesandtschaft bestimmt. Ohne in die Anschlagspläne eingeweiht zu sein, soll er Attila einen Brief von Kaiser Theodosius II. übergeben, in dem dieser die Entsendung des vornehmen Hunnen Onegesios als Vermittler in den strittigen Fragen wünscht. Priscus wird von Maximinos gebeten, ihn auf dieser ehrenvollen Mission zu begleiten und so macht sich die Gesandtschaft gemeinsam mit Edekon und seinem Begleiter Orestes, einem Römer, der an Attilas Hof die Rolle eines Sekretärs einnahm,11 nach Pannonien auf. Während die Gesandtschaft in dem von den Hunnen zerstörten Serdica / Sofia tafelt, kommt es bei Tisch zu einem Eklat, als beide Seiten ihre Herrscher rühmen und Vigilas mit Verweis auf den göttlichen Status des Kaisers die Hunnen verstimmt. Auch eine gewisse Rivalität zwischen Edekon und Orestes, die sich an den ihnen überreichten Geschenken entzündet, wird angedeutet. Der weitere Weg führt durch das von den Hunnen zerstörte Naissus / Nisˇ, in dessen Umgebung sie auch vom dortigen Befehlshaber einige der auszuliefernden Überläufer übernehmen. Jenseits der Donau angekommen werden sie schließlich zu Attilas Zeltlager eingeladen, wo sie jedoch ein unfreundlicher Empfang erwartet: eine hochrangige hunnische Delegation befragt die Gesandtschaft zunächst nach ihren Absichten, erklärt die von ihnen zu überbringenden Botschaften für ungenügend und fordert sie zur Abreise auf. Den konsternierten Gesandten konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar sein, dass Edekon Attila offenbar von den Anschlagsplänen in Kenntnis gesetzt hatte, und auch Vigilas schwante noch nicht, dass seine Mission aufgedeckt war.12 Um für den enttäuschten Maximinos doch noch eine Audienz bei Attila zu erreichen, wendet sie Priscus an Skottas, den Bruder des Onegesios, der verspricht, seinen Einfluss bei Attila geltend zu machen. In der Tat werden die Gesandten vom Herrscher empfangen, der sie jedoch abermals ungnädig auf noch auszuliefernde Überläufer hinweist und Byzanz bei weiteren Verzögerungen mit Krieg droht. Vigilas, den die Hunnen offenbar in eine Falle locken wollen, wird nach Konstantinopel geschickt, wo er auf Edekons Anweisung das für Bestechung nötige Gold beschaffen soll. Die restliche Delegation wartet auf Geheiß Attilas die Rückkehr des abwesenden Onegesios ab.13 Im weiteren Verlauf reist die Delegation mit Attila Richtung Norden, wo sie unter anderem einer Hochzeit Attilas mit der Tochter eines hunnischen Adligen beiwohnen, in einem hunnischen Dorf gastfreundlich aufgenommen werden und 10 11 12 13
Zu Maximinos vgl. Martindale 1980, Bd. 2, Maximinus Nr. 11, S. 743. Zu Orestes: Kelly 2008, S. 296f. und Conant 2015, S. 156f. Priscus, Frg. 8.1–32 in Carolla; Frg. 11.2.1–131 in Blockley; Frg. 8M (S. 27–31) in Doblhofer. Priscus, Frg. 8.36–62 in Carolla; Frg. 11.2.144–263 in Blockley; Frg. 8M (S. 32–37) in Doblhofer.
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eine weströmische Gesandtschaft treffen, die Attilas Zorn wegen der Korruption eines Beamten besänftigen soll. Schließlich erreichen sie ein großes Dorf, in dem Attila und weitere Adlige, unter anderem Onegesios, offenkundig feste Residenzen unterhielten. Onegesios hatte sich gar durch einen römischen Gefangenen ein Badehaus errichtet.14 Während Priscus darauf wartet, bei Onegesios vorgelassen zu werden, trifft er auf einen hunnisch gekleideten Mann, der ihn unerwartet auf Griechisch anspricht. Es stellt sich heraus, dass der Unbekannte ein ehemaliger byzantinischer Kriegsgefangener ist, der aufgrund seiner Verdienste freigelassen worden war und sich im Anschluss bei den Hunnen eine neue Existenz aufgebaut hatte. Priscus nutzt in seinem Werk die Schilderung dieser Begegnung zu einer längeren Einlage, in der der Unbekannte die Vorzüge des Hunnenreiches gegenüber dem dekadenten byzantinischen Reich rühmt, woraufhin Priscus mit einer moralisierenden Gegenrede antwortet.15 Der weitere Verlauf des Berichtes ist von diplomatischen Unterredungen und Gastmählern geprägt. Maximinos bekommt zunächst die Gelegenheit, den Hauptpunkt seiner Mission anzugehen, indem er Onegesios unter Aushändigung reicher Geschenke bittet, als Unterhändler nach Konstantinopel zu reisen. Onegesios nimmt die Geschenke zwar an, macht aber deutlich, dass er in einer solchen Mission keinen Sinn sähe, da die hunnischen Forderungen unverändert und deutlich gemacht seien.16 Priscus, der sich frei in dem Dorf bewegen kann, macht derweil Kreka, einer der Frauen Attilas seine Aufwartung17 und unterhält sich außerdem mit Mitgliedern der weströmischen Delegation.18 Man tauscht sich bei dieser Gelegenheit über den Charakter Attilas sowie seine weiteren mutmaßlichen Pläne aus. Die Weströmer fürchten hunnische Expansionspläne nach Persien, mit denen die Hunnen im Erfolgsfalle das römische Imperium in die Zange nehmen könnten. Maximinos wird unterdessen mit den Forderung Attilas konfrontiert, dass höherrangigere Gesandte – die Patrizier Nomos oder Anatolius – zu ihm geschickt werden sollten, so der Kaiser die Streitfragen nicht kriegerisch lösen möchte. Daneben werden die Gesandten zweimal von Attila und einmal von seiner Frau Kreka festlich bewirtet. Priscus nutzt diese Gele-
14 Priscus, Frg. 8.63–90 in Carolla; Frg. 11.2.264–395 in Blockley; Frg. 8M (S. 37–42) in Doblhofer. 15 Priscus, Frg. 8.94–114 in Carolla; Frg. 11.2.407–510 in Blockley; Frg. 8M (S. 42–46) in Doblhofer. Siehe unten S. 244–246. 16 Priscus, Frg. 8.115–127 in Carolla; Frg. 11.2.511–547 in Blockley; Frg. 8M (S. 46–47) in Doblhofer. 17 Priscus, Frg. 8.128–132 in Carolla; Frg. 11.2.547–566 in Blockley; Frg. 8M, (S. 48) in Doblhofer. Siehe unten S. 240f. 18 Priscus, Frg. 8.135–146 in Carolla; Frg. 11.2.575–636 und 12.1 in Blockley; Frg. 8M (S. 49–51) in Doblhofer.
Der Gesandtschaftsbericht des Priscus von Panium
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genheit zu einer detaillierten Schilderung einer solchen Tafel.19 Nach weiteren Verhandlungen über die Freilassung hochrangiger römischer Gefangener und einer versprochenen Vermählung einer vornehmen Byzantinerin mit Konstantius, einem der Sekretäre Attilas, wird die Gesandtschaft schließlich beschenkt und nach Konstantinopel entlassen. Auf dem Rückweg treffen die Emissäre auf Vigilas, der – noch immer in Unkenntnis des Doppelspiels Edekons – mit einhundert Pfund Gold zur Vorbereitung des geplanten Attentates aus Konstantinopel Richtung Norden reist.20 Der eigentliche Gesandtschaftsbericht findet damit zwar sein Ende, doch überliefert Priscus auch den weiteren Verlauf der Geschichte.21 Bei Attila angekommen, wird Vigilas von diesem mit dem aufgedeckten Komplott konfrontiert. Als sein ihn begleitender Sohn mit dem Tode bedroht wird, gesteht Vigilas denn auch die Anschlagspläne. Sein Sohn wird zur Beschaffung von fünfzig Pfund Gold als Lösegeld nach Konstantinopel geschickt, überdies fordert eine hochrangige hunnische Gesandtschaft von Theodosius die Auslieferung des Drahtziehers Chrysaphios und die versprochene Ehefrau für Konstantius. Mit der Zahlung des Lösegeldes für Vigilas und der Entsendung der Patrizier Nomos und Anatolius als Gesandte, die mit viel Gold und Versprechungen Attila zu besänftigen vermögen, findet die Affäre schließlich ihr einvernehmliches Ende.
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Aspekte der byzantinisch-hunnischen Beziehungen im Spiegel des Gesandtschaftsberichtes
Priscus’ Schilderungen seiner Erlebnisse bilden in mehrfacher Hinsicht die zentrale literarische Quelle zur Geschichte der Hunnen unter Attila. Zum einen zeichnet sich der Bericht durch eine wohltuende Unvoreingenommenheit und Unmittelbarkeit aus, zum anderen bietet er eine Fülle verschiedener direkter Schilderungen, wie etwa der diplomatischen Praktiken oder des Gastmahles. Aber auch zwischen den Zeilen bietet die Schilderung eine Fülle aufschlussreicher Beobachtungen. Betrachten wir zunächst das politische Verhältnis, das zwischen beiden Mächten herrschte. Formal bestand seit 448 n. Chr. ein Friedensvertrag, der unter Vermittlung des Anatolius abgeschlossen worden war und der neben der Zahlung von jährlich 2100 Pfund Gold die Auslieferung hunnischer Überläufer vorsah 19 Das Gastmahl bei Attila: Priscus, Frg. 8.151–173 in Carolla; Frg. 13.1–3 in Blockley; Frg. 8M (S. 52–55) in Doblhofer. 20 Priscus, Frg. 8.174–196 in Carolla; Frg. 14 in Blockley; Frg. 8M (S. 55–59) in Doblhofer. 21 Priscus, Frg. 8.1 und 12–14 in Carolla; Frg. 15 in Blockley; Frg. 8M (S. 59f.) und 12M (S. 60–62) in Doblhofer.
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sowie die Einrichtung einer Pufferzone von fünf Tagesreisen südlich der Donau.22 An der Frage der Überläufer hatte sich Attilas Unmut entzündet, was zur Gesandtschaft des Edekon und des Orestes geführt hatte, die wiederum die Mission des Maximinus auslöste. Der Grund für Attilas Interesse an den Überläufern war vermutlich, dass es sich bei diesen offenbar um hochrangige Gefolgsleute handelte, die von Attila als Verräter, von Konstantinopel als wichtige Informanten gesehen werden konnten. Über das bevorstehende Schicksal der Ausgelieferten konnte dabei kein Zweifel herrschen – sie wurden von den Hunnen öffentlich gekreuzigt.23 Das bedeutsamste Druckmittel der Hunnen war sicherlich die Androhung erneuter kriegerischer Maßnahmen. Die Abwehr hunnischer Einfälle war für Konstantinopel vor allem eines: kostspielig. Sei es der benötigte Einsatz von Militär zur Abwehr, seien es die Schäden, welche die Hunnen anrichteten, beides kostete den Kaiser bares Geld. In dieser Hinsicht waren die Tribute vielleicht die günstigere Alternative.24 Das Ausmaß der Verwüstungen beschreibt Priscus eindrucksvoll und wohl kaum übertrieben. Ein Teil der betroffenen Gegend war in dem Friedensvertrag als Pufferzone festgelegt worden, welche die Römer nicht mehr landwirtschaftlich nutzen durften (was sie nach Attilas Beschwerde jedoch weiterhin taten). Offenkundig sollte dieser Bereich den Hunnen die Kontrolle ihres Vorfeldes erleichtern. Weitere Eroberungen jenseits der pannonischen Tiefebene über die Donau hinaus plante Attila wohl nicht, auch wenn der weströmische Gesandte Romulus davor warnte. Den Hunnen war – im Gegensatz etwa zu den Goten – nicht an einer weitergehenden Landnahme gelegen. Es dürfte wohl auch fraglich gewesen sein, ob ein solcher Personenverband überhaupt zu einer dauerhaften Herrschaft über urbanisierte Gebiete fähig gewesen wäre.25 Für die Hunnen war das römische Reich vor allem eine Quelle des Profites – eine Quelle, die es am Leben zu erhalten galt.26 22 Vgl. dazu Priscus, Frg. 5 in Carolla; Frg. 3.9 in Blockley; Frg. 6M (S. 19–22) in Doblhofer sowie Kelly 2008, S. 107 und die Übersicht über die Subsidienzahlungen des Römischen Reiches bei Lee 2007, Tabelle 4.2., S. 121. 23 Siehe dazu Altheim 1975, S. 289f. 24 Vgl. dazu auch Kelly 2015, S. 205f. sowie Lee 2007, S. 119–122. Allerdings führte derlei Scheckbuchdiplomatie auch zu Kritik am Herrscher: Vgl. Elton 2015, S. 128f. 25 Pohl 2015, S. 259: »Unlike many of the steppe empires bordering the Sasanian Iran or China, Attila obviously did not aspire to conquering imperial territories and to appropriating its infrastructure, its cities, fortresses, mints, or tax systems. When his raids had depopulated a broad strip of Roman land south of the Danube, he even requested that it should not be resettled.«. 26 Vgl. Sarris 2015, S. 58. Sarris beschreibt das Verhältnis der Hunnen zum Römischen Reich als »essentially parasitic«: »However devastating the military consequences of Hunnic aggression, therefore, Hunnic demands were ultimately depended upon the smooth operation of the Roman fiscal economy. Like any hungry parasite, the Huns required a healthy host.« Ebd.; ähnlich auch Kelly 2015, S. 195 »…it [i. e. the Hun Empire, Th.B.] was a parasitic state: the Hun
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Der Profit bestand einmal aus der Beute der Raubzüge, vor allem aber aus den regulären Tributen sowie den gelegentlichen Sonderzahlungen.27 Letztere flossen etwa zur Besänftigung Attilas wegen des Mordkomplottes, aber auch Maximinus bediente sich materieller Mittel, um den sich abzeichnenden Konflikt zwischen Orestes und Edekon beizulegen. Für die unmittelbare Führungsschicht der Hunnen war nach Priscus auch die Entsendung in diplomatischer Mission lukrativ.28 Die Fähigkeit, solche Profite zu realisieren und sie an seine Männer zu verteilen, war ein wesentlicher Herrschaftsfaktor eines Anführers wie Attila. Wechselseitige Geschenke spielen im diplomatischen Verkehr eine besondere, beständig wiederkehrende Rolle, was interessante Einblicke in die diplomatischen Gepflogenheiten vermittelt. Der Austausch der Gaben geht natürlich über die reine Dimension der Höflichkeit hinaus. Wie man schon am substanziellen Wert erkennen kann, waren sie ein Kostenfaktor für den Hof und hatten durchaus Relevanz für die Begünstigten. Vor allem aber waren sie ein Zeichen der wechselseitigen Anerkennung beziehungsweise Bestätigung des Status. Für den Kaiser war die Fähigkeit, reiche Geschenke machen zu können, Ausdruck seiner Würde und herausragenden Stellung. Attila andererseits konnte durch ihren Erhalt seinen Männern demonstrieren, dass er nach wie vor in der Lage war, die schon erwähnten Profite zu generieren.29 Profite, die in Form von Geschenken der hunnischen Führungsschicht zugutekamen, wobei auch hier zur materiellen Komponente auch noch die ideelle der Anerkennung hinzutrat. Die Römer waren gut beraten, den verschiedenen hunnischen Adligen gemäß ihres Ranges Respekt zu erweisen. Besonders interessant ist hier, dass auch die Königin (und selbst Bledas Witwe) nicht davon ausgenommen ist. Die Geschenke zwischen den Herrschenden verweisen uns auf einen weiteren bedeutsamen Aspekt – die Frage des Ranges. Für die Römer stand natürlich außer Frage, dass ihr Kaiser über allen anderen Herrschenden stand (vielleicht mit Ausnahme der Sassaniden-Herrscher, denen eine gewisse Gleichrangigkeit zugestanden wurde). Seine reichen Geschenke dienten, wie schon gesagt, auch dem Zweck, seine Stellung zu unterstreichen. Umgekehrt interpretierten die Hunnen die römischen Zahlungen und Geschenke als Anerkennung von Attilas Rang. Wie leicht solche Befindlichkeiten gestört werden konnten, zeigt Vigilas’ leichtfertige Bemerkung oder möglicherweise auch bewusste Spitze über die
Empire’s success lay in its ability to adopt the culture of those it ruled … to cream off their wealth and manpower, and to consume the food they produced.« und Heather 2011, S. 245. 27 Zu den verheerenden demographischen und ökonomischen Auswirkungen der hunnischen Überfälle und Geiselnahme oder Versklavung der Bevölkerung siehe: Lenski 2015, S. 230–246, bes. S. 236–238. 28 Priscus, Frg. 6 in Carolla; Frg. 10 in Blockley; Frg. 6M (S. 22f.) in Doblhofer. 29 Vgl. Kelly 2008, S. 113.
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angebliche Göttlichkeit des Theodosius.30 Auch die Botschaft Attilas an Theodosius31 reflektiert die Rivalität der Herrscher bestens.
3
Interkulturelles Lernen mit Priscus? Möglichkeiten und Grenzen
Dass die Forderung nach interkulturellem Lernen den modernen Geschichtsunterricht vor verschiedene Herausforderungen stellt, braucht hier nicht gesondert betont zu werden. Auch wenn es in der Geschichte an geeigneten historischen Themen und Problemstellungen hierfür gewiss nicht mangelt,32 bleiben in der konkreten Umsetzung doch stets eine Reihe von Einschränkungen oder Problemen bestehen.33 Der Gesandtschaftsbericht des Priscus bildet hier keine Ausnahme. Einerseits bietet die Quelle reichhaltige Ansatzpunkte für den Versuch einer problemorientierten, interkulturell orientierten Lesart, wie oben schon verschiedentlich angedeutet. Auf der anderen Seite sind die Schwierigkeiten – auf der praktischen wie auch inhaltlichen Ebene – nicht zu übersehen. Zunächst ist hier der schiere Umfang der Quelle zu nennen, der für die konkrete Verwendung im schulischen Unterricht eine kluge und starke Beschränkung in der Auswahl erfordert. Eine eindeutige zentrale Passage, die sich unmittelbar zur Behandlung aufdrängt, findet sich im Gesandtschaftsbericht nicht. Dafür bietet er eine ganze Reihe potenziell fruchtbarer Ansatzpunkte, wie etwa die Schilderung der Gastmähler oder die Gestalt Attilas. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass eine Behandlung »der Hunnen« allein mit Priscus schwer umzusetzen sein dürfte. Eine zweite Einschränkung dürfte der durchaus diffizile historische Kontext der Quelle darstellen. Auch wenn ein grobe Behandlung der Völkerwanderung im Rahmen des gymnasialen34 Geschichtsunterrichts der 5./6. Klasse am Beispiel der Germanen vorausgesetzt werden kann, dürfte eine etwas ausführlichere Einführung der politischen Situation Spätantike und der Völkerwanderung für die fruchtbare Auseinandersetzung mit der Quelle vonnöten sein. Dies scheint 30 31 32 33 34
Siehe unten S. 243. Siehe unten S. 244. Eine Übersicht möglicher Themen bieten z. B.: Alavi / von Borries 2000, S. 74–82. Vgl. dazu von Reeken 2014, S. 245f. und Pandel 2017, S. 199–203. Der nordrhein-westfälische Kernlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I erwähnt die Völkerwanderung zwar nicht explizit, sieht aber mit dem Inhaltsfeld 3 »Was die Menschen im Altertum voneinander wussten« und dem darin enthaltenen Teilthema »Interkulturelle Kontakte und Einflüsse« sowie mit dem Inhaltsfeld 4 »Europa im Mittelalter«, Teilthema »Die Grundlagen: Romanisierung, Christentum, Germanen«, durchaus Kontexte vor, in denen sie sich sehr gut thematisieren lässt. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), 2007, S. 27.
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schon zum Zwecke des sprachlichen Verständnisses erforderlich. So verwendet Priscus etwa die Bezeichnung »Hunnen« und »Skythen« weitgehend synonym, was zumindest eine kurze Erläuterung der antiken Vorstellung von den Skythen als nördliche Steppenvölker nötig macht.35 Schließlich mag auch gerade vor dem Hintergrund aktueller Migrationsbewegungen und der Diskussionen darüber eine gewisse Gefahr in Parallelisierungsversuchen liegen.36 Auch wenn die Hunnen bei Priscus deutlich ausgewogener als in den anderen Quellen beurteilt werden, bleiben sie dennoch die Aggressoren, die sich an den Ressourcen des römischen Reiches zu bedienen suchen. Vor diesem Hintergrund seien hier einige Themenkreise näher behandelt, die sich für eine schulische Behandlung eignen dürften. Es handelt sich dabei einmal um die mehrfach aufscheinenden Rangstreitigkeiten zwischen Hunnen und Römern, um die Schilderung der Gastmähler sowie um die Unterhaltung des Priscus mit dem ehemals kriegsgefangenen Landsmann. Zunächst jedoch soll der Versuch einer Kontrastierung des Hunnenbildes bei Priscus mit dem Hunnenexkurs von Ammianus Marcellinus gewagt werden. Nehmen wir als Ausgangspunkt also einen Teil jenes berühmten Hunnenexkurses, den Ammianus Marcellinus an den Beginn des 31. Buch stellte, mit dem er sein Werk unter dem Eindruck der römischen Niederlage bei Adrianopel ergänzte: »Alle besitzen sie gedrungene und starke Glieder und einen muskulösen Nacken und sind so entsetzlich entstellt und gekrümmt, dass man sie für zweibeinige Bestien […] halten könnte […]. Bei ihrer reizlosen Menschengestalt sind sie durch ihre Lebensweise so abgehärtet, dass sie keines Feuers und keiner gewürzten Speise bedürfen, sondern von den Wurzeln wilder Kräuter und dem halbrohen Fleisch von jedwedem Getier leben, das sie zwischen ihre Schenkel und dem Pferderücken legen und etwas erwärmen. Sie kennen niemals den Schutz von Gebäuden […] auch kann man bei ihnen nicht einmal eine mit Rohr gedeckte Hütte finden. […] Sie kleiden sich in Gewänder aus Leinen oder solche, die aus Fellen von Waldmäusen zusammengenäht sind, und haben keine besondere Kleidung für den Hausgebrauch und außerhalb des Hauses, sondern wenn sie einmal den Kopf in ein solches Hemd von schmutziger Farbe gesteckt haben, legen sie es erst ab oder wechseln es, wenn es durch langen Verschleiß in Fetzen aufgelöst und zerfallen ist. Den Kopf bedecken sie mit einer runden Kappe und schützen die behaarten Beine mit Ziegenfellen.«37
35 Vgl. dazu Schmitt 2007, S. 193f. sowie Steinacher 2017, S. 19f. Eine alternativ mögliche Angleichung in der Übersetzung hätte den Nachteil, eben jene Nuance der Fremdwahrnehmung aus der Quelle zu tilgen. 36 Zu derlei Gefahren siehe: Alavi 2001, S. 97 und 100f. 37 Ammianus Marcellinus, 31, 2.2–6 (Übersetzung von Wolfgang Seyfarth mit leichten Adaptionen).
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Als Vergleichspunkte zum Hunnenexkurs Ammians bieten sich v. a. drei Passagen aus dem Gesandtschaftsbericht an, nämlich a) die Begegnung des Priscus mit dem naturalisierten Kriegsgefangenen, b) die Schilderung des Hauses von Attilas Frau Kreka sowie c) ein Auszug aus Beschreibung des Gastmahles bei Attila: a) »Während ich zum Zeitvertreib vor der Umfriedung des Hauses des Onegesios spazieren ging, kam ein Mann heraus, den ich nach seiner Skythentracht für einen Barbaren hielt, und begrüßte mich auf griechisch [sic!] mit »Chaire!« Ich staunte, wieso er, ein Skythe, griechisch spreche; sprechen doch die Skythen, ein buntes Völkergemisch, neben ihrem heimischen Dialekt entweder hunnisch oder gotisch oder auch lateinisch, weil sie häufig mit den Römern in Berührung kommen; aber kaum einer von ihnen spricht griechisch. [… Er] sah aus wie ein geschniegelter Skythe, war gut und sorgfältig gekleidet und hatte den Kopf rundherum geschoren.«38 b) »Innerhalb der Umfriedung standen zahlreiche Gebäude […] Dort wohnte Attilas Frau [Kreka]. […] Ich traf sie auf einem weichen Lager ruhend; der Boden war mit wollenen Teppichen bedeckt, über die man schreiten musste. Zahlreiche Dienerinnen umstanden sie im Kreise, und andere hockten rings um auf dem Boden und schmückten Leinwandstreifen mit bunter Stickerei, die dann zur Zierde auf die Kleider der Barbaren aufgenäht werden.«39 c) »Zuerst erschien ein Diener Attilas mit einer Schüssel voll Fleisch. Nach ihm kamen andere mit Brot und Zukost. Den übrigen Barbaren und uns wurden auf Silbertellern erlesene Speisen vorgesetzt. Attila jedoch erhielt nur einen Holzteller mit Fleisch. Er zeigte sich auch sonst überaus mäßig; seine Gäste erhielten nämlich goldene und silberne Becher vorgesetzt, er aber trank aus einem hölzernen. Schlicht war auch sein Gewand, das nur durch fleckenlose Reinheit hervorstach.«40
Ammians Schilderung ist erkennbar davon geprägt, die Hunnen als fast schon semi-humane Wilde zu beschreiben, die sich durch maximale Kulturferne auszeichnen. Dem entspricht auch ihre ferne Herkunft – ein Schema, das sich bekanntlich schon bei Herodot findet.41 Überhaupt wirkt die ganze Passage stark topisch.42 Demgegenüber besticht Priscus durch seine nüchterne, detailreiche Schilderung seiner eigenen Eindrücke. Einer der auffälligen Marker für die zivilisatorischen Mängel der Hunnen ist dabei bei Ammian ihre Kleidung. Es mangelt ihr nicht nur an jedweder Raffinesse, auch hinsichtlich Qualität und Stellenwert geht sie kaum über den primären Zweck des Schutzes der Haut
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Priscus, Frg. 8.49f. in Carolla; 11.1.407–418 in Blockley; Frg. 8M (S. 53f.) in Doblhofer. Priscus, Frg. 8.129–131 in Carolla; Frg. 11.2.551–562 in Blockley; Frg. 8M (S. 48) in Doblhofer. Priscus, Frg. 8.161–163 in Carolla; Frg. 13.1.54–63 in Blockley; Frg. 8M (S. 53f.) in Doblhofer. Man vergleiche die Schilderung der näher lebenden und den Römern schon besser bekannten Schilderung der Alanen als »Hunnen light«, Ammianus Marcellinus, 31.2.21–25. 42 Vgl. auch Heather 2011, S. 196–198.
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hinaus. Demgegenüber hebt Priscus in allen drei zitierten Stellen die gute, in Falle der Kreka sogar offenkundig aufwändige, Kleidung der Hunnen hervor. Von methodischer Warte aus mögen gewiss einige Einschränkungen einem direkten Vergleich beider Sichtweisen entgegenstehen. Während Ammians Exkurs noch ganz von dem Schock der Begegnung mit den fremden Angreifern geprägt ist, sind bei Priscus die Hunnen zwar letztlich auch Feinde, aber durch diverse Kontakte auch recht gut bekannt, weswegen der Blick des Gesandten von einer Art professionellen Neugier geprägt ist. Ammian versucht überdies die Schilderung eines ganzen Volkes und seiner »Kultur«, wohingegen Priscus konkrete Personen beschreibt, wovon eine gar kein gebürtiger Hunne ist. Der zeitliche Abstand zwischen beiden Autoren könnte schließlich eine gewisse Akkulturation der Hunnen, wie z. B. ihre relative Sesshaftigkeit, die in den festen Gebäuden zum Ausdruck kommt, erklären. Bei näherer Betrachtung scheinen diese Erwägungen jedoch nicht wirklich entscheidend. Vielmehr erhält der Vergleich der Passagen gerade durch deren Verschiedenheit eine didaktisch reizvolle Spannung. Schließlich schreibt Priscus sicherlich in Kenntnis des Ammian-Textes und konnte wohl auch wenigstens teilweise mit einer Vertrautheit seines Publikums mit diesem oder doch mit anderen Hunnenschilderungen rechnen. Vor diesem Hintergrund mag die Betonung der sauberen Kleidung Attilas, der Verweis auf die ordentlich angezogenen Neu-Hunnen oder die prachtvollen Textilien in Krekas Haus ein bewusster Verweis auf solche Hunnenstereotypen sein. Gleichwohl kann auch bei Priscus keine Rede davon sein, die Hunnen als gleichrangig zu betrachten. Dem gebildeten Leser, der – sei es auch eigener Anschauung, sei es aus anderen Quellen – eine Vorstellung vom byzantinischen Hofzeremoniell hatte, welches den Herrscher als in sakrale Sphären entrückte Gestalt inszenierte, musste der Unterschied zum vergleichsweise schlichten Empfang bei Attila und Kreka unmittelbar ins Auge fallen. Während der Vergleich von Ammian mit Priscus streng genommen zuvorderst noch unter dem Rubrum »Fremdwahrnehmung« zu führen ist, bieten sich die Gastmahlschilderungen sowie einige Stellen über Rangstreitigkeiten zwischen Hunnen und Römern an, um interkulturelles Lernen in den Quellen selbst zu betrachten. Als etwa die Gesandtschaft auf dem Weg zu Attilas Residenz in ein Unwetter gerät, eilen ihr die Bewohner eines nahen Dorfes, das einer Frau des toten Hunnenkönigs Bleda unterstand, zu Hilfe. Priscus schildert den weiteren Verlauf der Ereignisse wie folgt: »Da nahmen sie [sc. die Bewohner des Dorfes] uns gastfreundlich auf und zündeten ein Feuer aus trockenem Schilf an. Herrin im Dorf war eine von Bledas Frauen; die schickte uns Proviant und schöne Mädchen, mit denen wir Liebe pflegen sollten (auf diese Weise pflegen nämlich die Skythen Gäste zu ehren). Wir dankten den Frauen für die mitgebrachten Nahrungsmittel und legten uns in den Hütten schlafen., verzichteten jedoch
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auf ihre Gesellschaft […] Wir verbrachten den ganzen Tag in jenem Dorf damit, unsere Zelte und unser Gepäck zu trocknen; der Sturm hatte sich gelegt und die Sonne stand hell am Himmel. Darauf versorgten wir unsere Pferde und Lasttiere und gingen dann zur Königin, um sie zu begrüßen. Wir vergalten ihr ihre Gastfreundschaft durch Geschenke: drei silberne Schalen, rotgefärbtes Leder, indischen Pfeffer, Datteln aus Phönizien und verschiedene Naschereien, die bei den Barbaren so gut wie unbekannt und daher sehr begehrt sind.«43
Vom historischen Standpunkt aus sind hier zunächst die Informationen aufschlussreich, die Priscus uns ganz beiläufig übermittelt. Wir erfahren hier von einer durchaus selbständigen Position der Königswitwe, die uns als Herrin über ein Dorf entgegentritt und der wir wohl auch eine ähnlich angemessene Residenz zugestehen müssen, wie sie Priscus uns in Krekas Fall schildert. Darüber hinaus kann man den Umfang der Gesandtschaft mit Reit- und Zugtieren mit den entsprechenden Transportmitteln zumindest erahnen – einschließlich der dazu notwendigen Verpflegung (Attila überließ der Gesandtschaft einen ganzen Ochsen als Abendmahl). Vor allen Dingen aber erhalten wir Einblick in die Bandbreite der offenbar ganz gezielt mitgeführten Geschenke, deren Umfang offenkundig auch reichlich Spielraum für solch ungeplante Gaben zuließ. Hier wie auch an anderen Stellen sieht man, dass solche Geschenke nicht nur den Herrschern, sondern auch einer breiteren hunnischen Elite zugedacht werden mussten. Hinsichtlich des interkulturellen Kontaktes und seiner Fallstricke ist hingegen die Erwähnung der jungen Frauen (wohl Sklavinnen aus dem Besitz der Königswitwe) von Belang. Priscus erwähnt dieses Detail für sein Publikum unter Verweis auf hunnische Gepflogenheiten. Dadurch, dass er betont, dass die Gesandtschaft auf die erotischen Dienste der Frauen verzichtet habe, markiert er zum einen eine kulturelle Differenz zwischen Hunnen und Römern und betont zum anderen die Pikanterie der Situation, welche leicht in einen Affront gegenüber den Gastgebern hätte ausschlagen können. Mit der Lösung der Situation unterstreicht er somit das diplomatische Geschick der Gesandtschaft. Selbiges Geschick benötigte Maximinos gleich zu Beginn seiner Reise, um eine gleich doppelte Verstimmung auf hunnischer Seite zu bereinigen: »So brachen wir mit den Barbaren auf und kamen nach Serdika, das ein rüstiger Wanderer von Konstantinopel aus in dreizehn Tagesreisen erreicht. Dort hielten wir Rast und luden Edekon mit seinen Barbaren zur Abendmahlzeit ein. Die Einheimischen lieferten uns Schafe und Rinder; wir schlachteten sie und schmausten wacker. Bei Tisch rühmten die Barbaren ihren Attila, wir aber unseren Kaiser. Da warf Vigilas ein, man dürfe doch Göttliches nicht mit Menschlichem vergleichen; Attila sei schließlich nur ein Mensch, Theodosius aber ein Gott. Das verstimmt die Hunnen, die bald empört auf43 Priscus, Frg. 8.72f. in Carolla; Frg. 11.2.296–312 in Blockley; Frg. 8M (S. 38f.) in Doblhofer.
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fuhren. Wir aber lenkten das Gespräch in andere Bahnen und beschwichtigten sie durch freundliche Reden. Als die Tafel aufgehoben war, überreichte Maximinos dem Edekon und dem Orestes Geschenke: seidene Gewänder und indische Edelsteine. Orestes blieb zurück, bis Edekon sich entfernt hatte, und meinte dann, wie klug und tüchtig Maximinos sei, weil er nicht denselben Fehler begehe wie die Hofleute im kaiserlichen Palast, wo man den Edekon ohne ihn zum Mahle geladen und mit Geschenken geehrt habe.«44
Die Passage veranschaulicht einmal mehr die Rolle der Gastlichkeit und der Geschenke für die Diplomatie. Obwohl keine Zahlen über die Teilnehmer genannt werden, verweisen die Schafe und Rinder, die ihr Leben lassen mussten, doch auf ein größeres Gelage, das sowohl die Stimmung der Beteiligten als auch den Ruhm des römischen Kaisers heben sollte. Gleiches gilt für die Geschenke, die neben ihrem materiellen Wert vor allem den Status von Gebenden wie Empfangenden reflektieren, wie man besonders schön an der Bemerkung des Orestes sieht, die ein Schlaglicht auf die diplomatischen Gepflogenheiten wie auch auf die Konkurrenz innerhalb der Entourage Attilas wirft.45 Von noch größerem Interesse ist indes die unbedachte oder vielleicht doch eher bewusste Spitze des Vigilas, die eine Höherrangigkeit des Theodosius postulierte, welche loyale Gefolgsleute Attilas selbstverständlich nicht auf sich sitzen lassen konnten. Dabei war Vigilas’ Bemerkung auch in anderer Hinsicht problematisch – der christliche Kaiser in Konstantinopel konnte natürlich keine Göttlichkeit strictu sensu für sich reklamieren. Er war zwar von einer Aura des Sakralen umgeben, aber selbst kein Gott. Ob der Alkohol diese Nuance vernebelte oder ob es eine provokante Zuspitzung durch Vigilas war, lässt sich nicht mehr eruieren. Der beständige Rangstreit zwischen Attila und den Kaisern in Ost wie in West zieht sich jedenfalls durch die Quellen und war wohl weit mehr als eine reine Frage der Etikette. Besonders schön unterstreicht dies eine in der Suida, einem byzantinischen Lexikon des 10. Jahrhunderts, überlieferte Anekdote: Als Attila im gerade eroberten Mailand ein Bild des über die Skythen triumphierenden Kaisers sah, beauftragte er umgehend einen Maler mit einem neuen Bildnis, das die römischen Kaiser darstellte, wie sie Goldtribute vor dem thronenden Hunnenkönig ausbreiteten.46
44 Priscus, Frg. 8.9f. in Carolla; Frg. 11.2.36–41 in Blockley; Frg. 8M (S. 27) in Doblhofer. 45 Eine zusätzliche Spannung mag die Situation noch durch die unterschiedliche Herkunft und Funktion der beiden erfahren haben, wie Vigilas unmittelbar im Anschluss an die zitierte Stelle andeutet. Allerdings erscheint die Rolle des Orestes weit über die eines bloßen Sekretärs hinausgegangen zu sein. Trotz seiner römischen Herkunft gehörte er offenbar zum engeren Vertrauten- und Beraterkreis Attilas. 46 Suida s.v. korykos und Mediolanon/Mediolanum, vgl. Maas 2015, S. 3; zur Suida oder Suda ferner: Tosi 2006.
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Auch die Geschichte rund um das Mordkomplott endet mit einer Spitze Attilas gegen Theodosius. Der Hunne ließ diesem nach der Gefangennahme des Vigilas durch einen seiner Gesandten folgende Botschaft ausrichten: »Theodosios sei allerdings der Sohn eines edlen Vaters, aber auch Attila sei vornehmer Abkunft und halte als Nachfolger seines Vaters Mundzuch seinen Adel in Ehren; Theodosios hingegen habe seinen ererbten Adel verscherzt, indem er ihn, Attila, tributpflichtig und daher sein Vasall geworden sei. Deshalb sei es frevelhaft, wenn er ihm, dem Attila, dem Höherstehenden, den das Schicksal zum Herrn über ihn gesetzt habe, wie ein treuloser Sklave hinterrücks nachstelle.«47
Betrachten wir zuletzt noch das schon erwähnte Zwiegespräch zwischen Priscus und seinem ehemals kriegsgefangenen Landsmann.48 Auf Priscus erstaunte Nachfrage, wieso der vermeintliche »Skythe« denn griechisch spräche, erzählt dieser, dass er in der mösischen Grenzstadt Viminacium ein wohlhabender Kaufmann gewesen sei, bis er bei einem hunnischen Überfall als Kriegsgefangener verschleppt wurde. Hernach auf hunnischer Seite kämpfend habe er reichlich Kriegsbeute gemacht und so von seinem Herrn Onegesios die Freiheit erhalten. Anstatt in das Römische Reich zurückzukehren, habe er sich nun bei den Hunnen eine neue Existenz und sogar eine neue Familie aufgebaut. Mit folgenden Worten schildert er die Vorzüge seiner neuen Heimat gegenüber den Zuständen im Römischen Reich:49 »Die Skythen führen nämlich […], wenn sie einen Krieg mit seinen Mühen und Beschwerden beendet haben, ein vollkommen sorgenfreies, untätiges Leben. Da genießt ein jeder die Früchte seiner Tapferkeit, und kein Mensch stört ihn dabei. Bei den Rhomäern [Oströmern / Byzantinern] aber kommt man leicht im Kriege um. Die müssen ja ihre Hoffnung stets auf andere setzen, weil sie aus Furcht vor ihren eigenen Tyrannen nicht selbst zu den Waffen zu greifen wagen. Und selbst wenn sie sich verteidigen, schweben sie dabei durch die Feigheit ihrer kriegsuntauglichen Führer in größter Gefahr. Im Frieden aber liegen die Dinge noch ärger, und zwar wegen der drückenden Steuern und der Ränke gewissenloser Schufte, für die die Gesetze nicht gelten. Verstößt ein Reicher und Mächtiger gegen das Gesetz, so braucht er keine Strafe zu zahlen; ein Armer hingegen, der sich nicht zu helfen weiß, muß mit der gesetzlich festgelegten Strafe rechnen, wenn er nicht schon vor der Urteilsverkündung, durch einen langwierigen Prozeß aufgerieben, aus dem Leben scheidet. Der ärgste Mißstand ist wohl, daß man Recht und Gerechtigkeit mit Geld erkaufen muß. Keinem Geschädigten wird der Schutz der Gesetze zuteil, wenn er nicht vorher Richter und Gerichtsbeamte besticht.« 47 Priscus, Frg. 12.2 in Carolla; Frg. 15.2.9–14 in Blockley; Frg. 12M (S. 61) in Doblhofer. 48 Priscus, Frg. 8.94–114 in Carolla; Frg. 11.2.407–510 in Blockley; Frg. 8M (S. 42–46) in Doblhofer; vgl. Conant 2015, S. 162f. und Heather 2015, S. 223f.; zur Kriegsgefangenschaft: Lenski 2015. 49 Priscus, Frg. 8.100–103 in Carolla; Frg. 11.2.436–453 in Blockley; Frg. 8M (S. 43f.) in Doblhofer.
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Auf diese Vorwürfe hin sah sich Priscus nach eigener Aussage zu einer Gegendarstellung genötigt, in der er das Imperium in Schutz nimmt: »Die Gründer des Römischen Reiches, weise und vortreffliche Männer, haben, um Unordnung zu vermeiden, die einen zu Hütern des Gesetzes gemacht, anderen wieder das Waffenhandwerk übertragen, damit sie, nur das eine Ziel vor Augen, ihre Soldatenpflicht erfüllen und durch die ständige Übung im Kriegsdienst vollkommen furchtlos und festen Mutes in die Schlacht zögen […]. Wieder anderen […] übertrugen sie die Sorge um den Ackerbau und Landwirtschaft; die sollten durch ihre Getreideablieferungen jene ernähren, die für sie kämpften. Sie setzten auch Beamte ein, die sich um die Geschädigten kümmern, das Recht der Schwachen wahren und durch die Rechtsprechung die Achtung vor dem Gesetz durchsetzen sollten. […] Den Rechtswahrern steht ein Entgelt von seiten [sic!] der streitenden Parteien zu, genau wie den Soldaten von den Landleuten. Ist es nicht etwa recht und billig, daß man seinem Helfer wieder hilft […]? […] Wenn sich Prozesse oft lange hinziehen, so beweist das nur die Sorgfalt bei der Rechtsfindung […] Die Gesetze gelten für jedermann; selbst der Kaiser muß ihnen gehorchen. […] Die Gesetze gelten gleichermaßen für reich und arm. […] Deine wiedergewonnene Freiheit hast du daher nicht deinem Herrn, sondern dem Schicksal zu verdanken. Jener hat dich doch in den Krieg geschickt, wo du als unausgebildeter Soldat leicht hättest fallen […] können. Da behandeln die Rhomäer ihre Sklaven doch weit menschenfreundlicher. Sie zeigen sich gegen sie liebevoll wie Väter oder Lehrer […]. In ihren Fehlern schließlich weisen sie sie wie ihre eigenen Kinder zurecht. Es steht ihnen auch nicht frei, ihre Sklaven mit dem Tod zu bestrafen, wie das bei den Skythen Brauch ist. Ferner stehen den Sklaven dort viele Wege in die Freiheit offen. […]«50
Mit seiner Verteidigungsrede, so Priscus weiter, habe er seinen Landsmann zumindest teilweise überzeugt, wie er mit dessen Antwort zu belegen sucht: »Da entgegnete jener unter Tränen, die Gesetze der Rhomäer seien wohl gut und das Staatswesen vortrefflich, allein die Machthaber seien nicht mehr so redlich und klug wie ihre Ahnen und richteten dadurch großen Schaden an.«51
Wie viel historische Wahrheit und wie viel rhetorischer Schmuck in diesem Abschnitt steckt, ist schwer zu entscheiden. Man mag der Begegnung sicherlich einen realen Kern zubilligen, auch wenn der homme de lettres Priscus gerade seine Replik offenkundig sorgfältig ausgearbeitet hat. Den Quellenwert schmälert dies indes kaum. Die Verteidigungsrede wird man zwar kaum als realistische Beschreibung des Imperium Romanum lesen, wohl aber als Quelle für die ideologisch gefärbte Sicht der Eliten darauf. Die Beschwerden des Neu-Hunnen
50 Priscus, Frg. 8.105–113 in Carolla; Frg. 11.2.455–504 in Blockley; Frg. 8M (S. 44–46) in Doblhofer. 51 Priscus, Frg. 8.114 in Carolla; Frg. 11.2.508–510 in Blockley; Frg. 8M (S. 46) in Doblhofer.
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über seine alte Heimat dürften hingegen von vielen Römern geteilt worden sein. Priscus greift hier offenbar geläufige Klagen auf.52 Hierzu passt auch, dass sein Gesprächspartner zwar dem Lob der Gesetze und Institutionen beipflichtet, seine Anklage gegen die Herrschenden jedoch weiter aufrechterhält. Wahrscheinlich leistet sich Priscus hier selbst eine nur schwach verbrämte Systemkritik. Für den interkulturellen Ansatz ist gerade dieses Zwiegespräch von besonderem Wert – aus unterrichtspraktischen wie grundsätzlichen Gründen. Die Passage ist in sich abgeschlossen, vergleichsweise übersichtlich in Umfang und Aufbau sowie inhaltlich nicht übermäßig schwierig. Die Zweiteilung in Rede und Gegenrede lässt Raum für verschiedene Spielarten der Behandlung. Neben einer kompletten Lektüre und Diskussion käme auch auf eine der beiden Hälften verteilte Gruppenarbeit in Frage; denkbar ist auch, zunächst nur die Klage zu lesen und die Schülerinnen und Schüler eine Replik verfassen zu lassen, die zum Abschluss gegebenenfalls mit dem Original verglichen werden kann. Auf der inhaltlichen Ebene steht selbstverständlich zunächst der »Systemvergleich« im Vordergrund. Hierbei ist zu beachten, dass der dargestellte hunnische way of life – Leben für Raub und Krieg – durchaus kritisch hinterfragt werden muss.53 Fragen nach den Vor- und Nachteilen von Kultur und Staatlichkeit gegenüber dem »ungebundenen« Leben drängen sich von selbst auf. Darüber hinaus ist die Gestalt des Neu-Hunnen von Interesse, weil sich in ihm viele, noch heute aktuelle Aspekte vereinen respektive überschneiden: Er wurde zunächst durch Kriegswirren ruiniert, verschleppt und versklavt. Anschließend erzählt er ein Aufstiegsnarrativ, das in Akkulturation und Assimilation mündet. Auf dieser Basis nimmt er eine kritische Perspektive gegenüber seiner alten Heimat ein und bekräftigt die Verbundenheit mit der neuen. Gleichzeitig lassen sich an ihm trefflich verschiedene Parameter von Fremdheit und Integration exemplifizieren: Erscheinungsbild, Sprache und Kultur beziehungsweise Akzeptanz der Lebensweise. Dass Priscus eine solche Figur für die Debatte über die Stärken des Imperium Romanum gewählt hat, ist somit eine hervorragende Vorlage für eine interkulturelle Operationalisierung, werden hier doch zentrale Fragen verhandelt: Was ist Heimat? Was bedeutet Integration in eine andere Kultur? Wie findet sie statt? Wie erkennt man Fremdheit respektive Zugehörigkeit? Dass das Gespräch zwischen Priscus und seinem ehemaligen Mitbürger 52 Vgl. Baldwin, 1980, S. 40f. Dass Priscus solche Klagen über den allgemeinen Verfall des Reiches nicht fremd waren, zeigt der Historiker selbst in seinem Kommentar zu den Tributzahlungen an die Hunnen: Priscus, Frg. 5 in Carolla; Frg. 9.3.11–38 in Blockley; Frg. 5M (S. 19f.) in Doblhofer; zum Verhältnis des Priscus zur Politik unter Theodosius II. siehe Baldwin, 1980, S. 31–33. 53 Dazu stellt sich die Frage, inwieweit das Schicksal des Kaufmanns wirklich repräsentativ war, vgl. Heather 2011, S. 212–217.
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selbst ein Akt interkultureller Kommunikation darstellt, verleiht der Quelle einen zusätzlichen Reiz.
4
Fazit
Der Gesandtschaftsbericht des Priscus ist für den schulischen Unterricht sicher keine bequeme aber eine durchaus lohnende Quelle – auch jenseits interkultureller Lernziele. Die detailreiche, unmittelbare und vergleichsweise neutrale Schilderung vermittelt Einblicke in eine Welt, die durch ihre Komplexität und dürftige Quellenlage eine didaktische Aufbereitung erschwert. Gewiss, auch die Schilderung des Priscus erfordert für den schulischen Einsatz eine sorgfältige Vorbereitung: der verwickelte historische Hintergrund muss altersstufengerecht vermittelt und eine Auswahl aus dem umfangreichen Bericht getroffen werden. Gegebenenfalls muss auch an eine Kommentierung oder sprachliche Bearbeitung schwieriger Passagen gedacht werden. Dann jedoch bietet die Quellen gerade für das interkulturelle Lernen eine ganze Reihe interessanter Ansatzpunkte, von denen zumindest einige hier aufgezeigt werden sollten. Zuvorderst ist hier an das Aufbrechen gängiger Stereotypen zu denken, mit denen die Hunnen bereits schon in der Spätantike belegt wurden. Der Vergleich mit Ammians Hunnenexkurs lädt dazu ein, über Fremdwahrnehmung, Kultur- und Zivilisationsbegriff sowie Selbstbilder zu reflektieren. Hier mag Priscus gewiss mit Blick auf die Hinterfragung von Stereotypen eine heilsame Wirkung entfalten, die er vielleicht schon auf seine antike Leserschaft hatte.54 Besonders gewinnbringend könnte indes auch das zuletzt behandelte Zwiegespräch über die Vorzüge und Nachteile hunnische und römischer Lebensweise sein, bündeln sich hier doch Fragen nach Migration, Kultur und Identität.55 Auch wenn die Lektüre von Priscus helfen kann, ein ausgewogeneres Bild Neben- und Miteinanders der Kulturen zu zeichnen, darf dies nicht zum anderen Extrem einer allzu harmonisierenden Vorstellung jener Zeit führen. Auch Priscus schildert ja durchaus die verhee54 Kelly 2008, S. 155: »For many Romans it was comfortable to think of the Huns as uncultured, uncivilized, and irredeemably foreign, and their leaders as treacherous, immoral, and wildly unstable. Priscus’ History offered a more sophisticated description of the world beyond the Danube, and a deliberately more disturbing one. After all, it is always reassuring to think of our enemies as godless barbarians. It is troubling to learn that they might be more like us than we would ever care to admit.« 55 Die verschwimmenden Grenzen der Zugehörigkeit spiegeln sich in erhellender Weise auch in den Gestalten Edekons und Orestes’: Edekon erscheint bei Priscus als Hunne / Skythe, wird in anderen Quellen jedoch u. a. als Thüringer oder Skire bezeichnet. Sein Sohn Hunulf stieg im oströmischen Reich zum Heermeister auf. Der Sohn des Orestes bestieg im Westreich als Romulus Augustulus den Kaiserthron, bevor er von Edekons anderem Sohn Odoaker abgesetzt wurde.
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renden Folgen der hunnischen Einfälle für weite Teile der ansässigen Bevölkerung. Das Ziel des interkulturellen Lernens und der Sensibilisierung für Stereotype darf daher nicht ahistorisch den Blick für die schlichten Fakten verstellen: »Barbarian migrations into the Roman world were a process full of war and plundering, conflict and bloodshed, and we should not forget that.«56
Praktischer Hinweis zur Nutzung des Gesandtschaftsberichts des Priscus im Unterricht Eine deutsche Übersetzung umfangreicher Auszüge des Berichts steht online in einem Digitalisat des folgenden Werkes zur Verfügung: Gustav Freytag (Hg.), Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1: Aus dem Mittelalter, 28. Aufl., Leipzig 1903, S. 143–172 (Dialog mit dem zum Hunnen gewordenen Griechen: ebd., S. 159–161), online unter URL: https://archive.org/details/bilderausder deu14freygoog/page/n183/mode/2up [26. 08. 2020]. Insbesondere bei einer Verwendung in der Sekundarstufe I bedürfen die auszuwählenden Passagen sicherlich einer behutsamen sprachlichen Modernisierung durch die Lehrkraft.
Quellen Blockley, Roger C. (Ed.), The Fragmentary Classicizing Historians of Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, 2 Bde., Liverpool 1981/83. Carolla, Pia (Ed.), Priscus Panita. Excerpta et fragmenta, Berlin / New York 2008 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Doblhofer, Ernst (Ed. / Übers.), Byzantinische Diplomaten und östliche Barbaren. Aus den Excerpta de legationibus des Konstantinos Porphyrogennetos ausgewählte Abschnitte des Priskos und Menander Protektor, Graz / Wien / Köln 1955 (Byzantinische Geschichtsschreiber, 4). Freytag, Gustav, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1: Aus dem Mittelalter, 28. Aufl., Leipzig 1903, zit. nach URL: https://archive.org/details/bilderausderdeu14freyg oog/page/n183/mode/2up [26. 08. 2020]. Seyfarth, Wolfgang (Ed. / Übers.), Ammianus Marcellinus: Römische Geschichte, Bd. 4, 2. Aufl., Berlin 1978 (Schriften und Quellen der Alten Welt, 21).
56 Pohl 2015, S. 253.
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Lehrplan Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2007, S. 27, zit. nach URL: https://www.schulentwicklung.nrw.de/ lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gymnasium_g8/gym8_geschichte.pdf [20. 11. 2017].
Literatur Alavi, Bettina, Von der Theorie zur Praxis interkulturellen Lernens. Problembereiche bei der Planung und Durchführung von Unterricht, in: Andreas Körber (Hg.), Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze, Münster u. a. 2001, S. 97–104. Alavi, Bettina / Borries, Bodo von, Geschichte, in: Hans H. Reich / Alfred Holzbrecher / Hans-Joachim Roth (Hg.), Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch, Opladen 2000, S. 75–91. Altheim, Franz, Geschichte der Hunnen, Bd. 4, 2. Aufl., Berlin / New York 1975. Baldwin, Barry, Priscus of Panium, in: Byzantion 50 (1980), S. 18–61. Conant, Jonathan P., Romanness in the Age of Attila, in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge u. a. 2015, S. 156–172. Elton, Hugh, Military Developments in the Fifth Century, in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge u. a. 2015, S. 125–139. Heather, Peter, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart 2011. Heather, Peter, The Huns and Barbarian Europe, in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge u. a. 2015, S. 209–229. Kelly, Christopher, Attila, the Hun. Barbarian Terror and the Fall of the Roman Empire, London 2008. Kelly, Christopher, Neither Conquest Nor Settlement: Attila’s Empire and Its Impact, in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge u. a. 2015, S. 193–208. Kim, Hyun Jin, The Huns, Rome and the Birth of Europe. Cambridge / New York 2013. Lee, Alan D., War in Late Antiquity. A Social History, Oxford u. a. 2007. Lenski, Noel, Captivity among the Barbarians and Its impact on the Fate of the Roman Empire, in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge u. a. 2015, S. 230–246. Maas, Michael, Reversals of Fortune: An Overview of the Age of Attila, in: Ders. (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Attila, Cambridge u. a. 2015, S. 3–25. Martindale, John Robert, The Prosography of the later Roman Empire, Bd. 2, Cambridge 1980. Pandel, Hans-Jürgen, Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, 2. Aufl., Schwalbach/Ts. 2017.
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Carolin Hestler
Von »Völkerzügen« zur »indogermanischen Landnahme«. Der Darstellungswandel der ›Völkerwanderung‹ auf historischen Geschichtskarten in Schulbüchern für die Mittelschule zwischen 1919 und 1945
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Einleitung
Karten in Geschichtsschulbüchern helfen Schülerinnen und Schülern schon immer bei der Verortung von Geschichte im Raum, zeigen Entwicklungen auf, veranschaulichen Veränderungen in Ländergrenzen oder verweisen auf Abhängigkeiten historischer Ereignisse von geographischen Gegebenheiten – der Zweck ihrer Verwendung war und ist hauptsächlich die Informationsentnahme. Aber ist dieser Gebrauch überhaupt legitim? Steckt gerade in historischen Geschichtskarten nicht noch viel mehr Potential als die bloße Vermittlung von vermeintlichem Faktenwissen?1 Im Sinne einer Annäherung an diese Fragestellungen, sei zu Beginn auf zwei Zitate verwiesen: »Not only is it easy to lie with maps, it’s essential.«2 (Mark Monmonier) »Wer jemals Karten gezeichnet hat, weiß, daß diese Arbeit nur zur kleineren Hälfte wissenschaftliche, zur größeren echte Künstlerarbeit ist […] Jedem Kunsthandwerk haftet Subjektives, haftet vor allem die Spur des Entwicklungsganges des Künstlers an.«3 (Karl Haushofer)
In einem wichtigen Punkt stimmen die Aussagen des US-amerikanischen Geographen Mark Stephen Monmonier aus dem Jahr 1991 sowie des führenden Vertreters der Geopolitik von 1922 Karl Haushofer4 überein: Karten sind immer etwas 1 Der Beitrag greift im Wesentlichen auf folgende Dissertation zurück: Hestler 2017 (dort weiterführende Literatur). 2 Monmonier 1991, S. 1. 3 Haushofer 1922), S. 17. 4 Karl Haushofer (1869–1946): Nach Karriere im Militär als Offizier und Forschungsreisen nach Japan, spezialisiert er sich im Ersten Weltkrieg auf den Bereich »Wehrgeographie«, wird habilitiert und 1919 Privatdozent für Geographie (ohne je ein vollwertiges Studium abgeschlossen zu haben). Er hat führende Positionen in der Deutschen Volkspartei (DVP) München, dem Verein für das Deutschtum im Ausland inne und pflegt enge Beziehungen zu Rudolf Heß und über ihn zu Adolf Hitler. Er teilt dessen Ansichten zur Geopolitik, wehrt sich allerdings gegen eine Vermischung von Geo- und Ethnopolitik. Vgl. Wolter 2003.
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Subjektives. Sie können die objektive Wirklichkeit nie abbilden. Ob nun bewusst oder nicht, bei jeder Kartenzeichnung fließen Entscheidungen, Ansichten und Vorstellungen der Autoren mit ein. Das in der Kartographie als Teildisziplin der Geographie schon längst anerkannte Prinzip des Kartenkonstrukts5 wird beispielsweise durch die Tatsache notwendig, dass die dreidimensionale Wirklichkeit nicht ohne Abstriche auf ein zweidimensionales Blatt Papier übertragen werden kann. Bei der Erstellung von Geschichtskarten wird diese Aufgabe ungleich schwerer, da nun die geographischen Dimensionen um die Dimension der Zeit ergänzt werden müssen. Um sich der Komplexität der Realität annähern zu können, gleichzeitig aber die Lesbarkeit von Karten zu gewährleisten, müssen Kartographen beziehungsweise ihre Auftraggeber zwangsläufig Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen beziehen sich auf die Datengrundlage, den Kartenausschnitt, die Sprache der eingezeichneten Begrifflichkeiten sowie den Maßstab und vor allem die Darstellungsmittel, wie Signaturen, Linien und Farben. Sobald Kartenautoren in einer dieser Entscheidungen voneinander abweichen, entstehen unterschiedliche Kartenbilder. Für die Geschichtswissenschaft hat diese Erkenntnis weitreichende Folgen, denn unterschiedliche Kartentypen können zu unterschiedlichen Zwecken verwendet werden. Unterschieden werden können drei Kategorien: Heute erstellte Karten, die als Datengrundlage den neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung zu einem bestimmten historischen Themengebiet wie der ›Völkerwanderung‹6 widerspiegeln, dienen uns zur Veranschaulichung komplexer Themengebiete. Man spricht von sogenannten Geschichtskarten.7 Karten, deren Entstehungszeit in der Vergangenheit liegt und die nicht den heutigen Stand der Forschung abbilden, nennt man historische Karten.8 Im Gegensatz zu Geschichtskarten umfassen sie das gesamte Korpus der Karten, die uns heute als Quellen dienen können. Je nachdem, was die Karten zeigen, muss man diese Kategorie allerdings nochmals unterteilen. Zeigen sie das Weltbild der Entstehungszeit, so geben sie uns Auskunft über die Wahrnehmung der Umgebung beziehungsweise über die Möglichkeiten der Darstellung. Stellen die Karten allerdings zum Zeitpunkt der Entstehung einen schon damals historischen Gegenstand dar, sind sie für uns heute Quellen für vergangenes Geschichtsbewusstsein. Es handelt sich dabei um Geschichtskarten (Darstellungen), die durch 5 Vgl. z. B. MacEachren 1995; Black, 1997; Harley 2001; Crampton 2001; Gryl 2010. 6 Die Begrifflichkeit gilt heute, angesichts der Erkenntnis, dass keine Völker im modernen Sinne von ›Nationen‹, sondern vielmehr Bevölkerungsgruppen in immer neuen Zusammensetzungen wanderten, als fragwürdig. Der Begriff wird hier trotzdem verwendet, da er im Zeitraum der Veröffentlichung der Karten unumstritten war. Siehe hierzu unter anderem: Postel 2004; Heather 2011. 7 Vgl. Sauer 2000, S. 38. 8 Vgl. ebd., S. 38.
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den Verlauf der Zeit zu historischen Karten (Quellen) wurden. Der Begriff historische Geschichtskarten bietet sich für diese Kartenkategorie an, die durch ihren Quellenwert aus unserer heutigen Sicht Teil vergangener Geschichtskultur sind.9 Die ›Völkerwanderung‹ als Kartengegenstand ist für die Erforschung historischer Geschichtskarten interessant, da die Kartenautoren aufgrund einer dünnen Quellenlage einen großen Spielraum für eigene Entscheidungen während der Erstellung haben. Der Grad der Abhängigkeit einer Karte von ihrer Entstehungszeit und den an der Entstehung beteiligten Personen und Institutionen sowie von deren Vor- und Einstellungen zu Geschichte kann anhand dieses Gegenstands besonders gut untersucht werden. Dafür sollen im Folgenden exemplarisch Völkerwanderungskarten aus Geschichtsschulbüchern der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus untersucht werden. Da Tobias Arand sich in diesem Band mit Darstellungen in Geschichtsschulbüchern der höheren Schulen beschäftigt, liegt der Schwerpunkt der Betrachtung im Folgenden auf Karten der preußischen Mittelschule.10 Die Mittelschule, deren Anfänge auf das Kaiserreich zurückgehen, sollte den Schülern (später auch Schülerinnen) die Möglichkeit eines über die Volksschule hinausgehenden Schulabschlusses ermöglichen und sie befähigen, Berufe im »technisch-gewerblich-kaufmännischen Mittelstand«11 sowie gehobenen Verwaltungsdiensten zu ergreifen. Ziel der Schule war nicht die Vorbereitung auf die Universitäten, sondern eine möglichst praxisnahe Bildung, die sich an den Realien, also Naturwissenschaften, Geographie, Ökonomie und Geometrie orientierte.12 Die Schulart, bei deren Besuch Schulgeld gezahlt werden musste, konnte in der Weimarer Republik einen massiven Schülerzuwachs verzeichnen und wurde neben Preußen auch in anderen deutschen Ländern eingeführt. Aufgrund des Bildungsföderalismus waren allerdings nicht alle Schularten dieses Namens vergleichbar. Da Preußen eine Vorreiterrolle in der Ausgestaltung der Schulen sowie in der Produktion der Schulbücher einnahm,13 soll hierauf im Folgenden der Schwerpunkt gelegt werden.
9 Vgl. Arand / Stetter 2012. 10 Für Darstellungen in Geschichtsschulbüchern der höheren Schule siehe der Beitrag von Tobias Arand im vorliegenden Band. 11 Konrad 2007, S. 83. 12 Vgl. ebd. S. 48. 13 Vgl. May 1985, S. 9.
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Die ›Völkerwanderung‹ auf Schulbuchkarten in Geschichtsbüchern der preußischen Mittelschule in den Jahren der Weimarer Republik
Die Schulbuchproduktion der gesamten Zeit war geprägt durch den Mangel an Papier und Maschinen, hervorgerufen zunächst durch die Folgen des Ersten Weltkriegs, dann durch die Weltwirtschaftskrise. Teilweise waren die Preise für Schulbücher staatlich reguliert, so dass Investitionen in die Druckqualität kaum rentabel waren. Die Verwendung von Farbdrucken beispielsweise hätte die Endprodukte auf eine solche Weise verteuert, dass sie für die Kunden unerschwinglich geworden wären. Vielmehr bürgerte es sich ein, dass Schulbücher lange weiterverkauft beziehungsweise verliehen wurden. Dies führte zu fehlenden Einnahmen der Schulbuchverlage, die sich wiederum auf die Druckqualität auswirkten.14 Aus diesem Grund sind Karten in Geschichtsschulbüchern der Weimarer Republik zumeist in schwarz-weiß gehalten. Ausnahmen bilden einige wenige farbige Karten in den Einbänden der Bücher. Eine Reduktion der Farben hat zur Folge, dass die wenigen verwendeten Farben an Aussagekraft gewinnen. Generell gilt diese Aussage für die Reduktion von Eintragungen jeglicher Art. Sobald diese nur reduziert auftreten, verstärkt sich die Wirkung der einzelnen Elemente. Ein Beispiel hierfür bildet die Karte des Schulbuchautors Walther Gehl Völkerzüge und Reiche der Völkerwanderung aus dem Jahre 1926 (Abb. 1). Europa inklusive des Mittelmeerraumes und des Schwarzen Meeres werden hier zu einer Zeit gezeigt, die durch den Titel nicht genau benannt wird. Angesichts der Legende, die das Siedlungsgebiet diverser gentes »um Christi Geburt« als Ausgangspunkt wählt, und des umgebenden Schulbuchtextes, in dem von Theoderichs Tod die Rede ist, kann davon ausgegangen werden, dass es sich um einen Zeitraum zwischen der Zeitenwende und 526 n. Chr. handelt.15 Aus der Legende wird ersichtlich, dass Wanderungen von »Völkern« einerseits mithilfe von unterschiedlich geformten Linien (unter Einzeichnung der Wanderungsrichtung mit Pfeilen), andererseits aber auch durch Klammersetzungen (was die jeweils ursprünglichen Wohnsitze um Christi Geburt bezeichnet) dargestellt werden. Es handelt sich also um eine dynamische Karte, die ansonsten von der Einzeichnung dicker schwarzer Linien sowie Namen von »Völkern« und Siedlungen (oftmals abgekürzt) dominiert wird. Am Rhein ist als einzige Stadt, eine Ortschaft mit der Abkürzung »W.« zu sehen. In Bezug auf die geographische Lage könnte es sich hierbei um die Stadt Worms, die nach dem Nibelungenlied sagenumwobene Stadt der Burgunder, handeln. Die Tatsache, dass diese und 14 Vgl. Kreusch 2007, S. 220. 15 Vgl. ebd.
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Abb. 1: Walther Gehl / Max Worbs, Geschichte für Mittelschulen Heft 1, Breslau 1926, S. 87.
weitere Städte nicht ausgeschrieben werden mussten, spricht dafür, dass die Schulbuchautoren davon ausgingen, dass die Schüler diese Städte kannten oder zumindest vom Lehrer darauf hingewiesen werden konnten. Zusätzlich behilft sich der Kartenautor damit bei der Lösung einer weiteren Problemfrage: Werden Städtenamen ausgeschrieben, muss sich der Kartenautor die Frage stellen, wie er den Namen schreibt: Verwendet er die heutige Schreibweise oder eine vermeintlich damalige? In welcher Sprache bezeichnet er die Stadt?16 Die des heutigen Heimatlandes oder einen deutschen Namen der Stadt? Dass der Kartenautor sich dafür entschied, deutsche Schreibweisen zu verwenden, ist an der Bezeichnung Roms zu sehen. Häufig wird die Sprache bewusst als Mittel eingesetzt um einen gegenwärtigen Gebietsanspruch zu verdeutlichen. An dieser Stelle kann allerdings eher davon ausgegangen werden, dass das Verständnis der Schüler im Mittelpunkt des Interesses der Kartenzeichnung stand. Neben den dicken schwarzen Linien für Gebirgszüge bieten diese Städte eine Orientierungssowie Erklärungshilfe bei der Beschreibung des Verlaufs der Wanderzüge und 16 Gerade am Beispiel der Verwendung des Buchstaben »W« wird dies deutlich: Nicht die Abkürzung des antiken Namens der Siedlung (»Borbetomagus«) wird verwendet, sondern ein Buchstabe, der im Lateinischen nicht existierte, den zeitgenössischen Betrachtern aber geläufig war.
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deuten mögliche Stadtgründungen als Folgen der Wanderzüge an. Ungereimtheiten in der Karte (beispielsweise die Verortung und Eingliederung der Alamannen, die es um Christi Geburt als Verband noch gar nicht gab) rühren sicherlich von einer ungenauen Wissensgrundlage, aber auch von der Verwendung von Generalisierungstechniken her. Der Kartenautor traf bei der Erstellung der Karte die Entscheidung, welche Städte, Gebirge und Flüsse für die Orientierung sowie das Verständnis des Sachverhalts notwendig sind. Alle anderen Elemente blendete er aus. Die Sachverhalte und Entwicklungen, für deren Präsentation er sich entschied, mussten vergrößert dargestellt werden, um sie trotz des Maßstabs lesbar zu machen. So war die Siedlung an der Stelle des späteren Worms sicherlich zur damaligen Zeit nicht so groß wie das Gebiet, das sie hier in der Karte abdeckt. Außerdem werden aus Gründen der einfacheren Darstellung alle Städte, Siedlungen, Gebirge und Flüsse auf dieselbe Weise dargestellt. Dass es sich im Fall der Gebirge eher um eine schematische Darstellung handelt, wird beispielsweise sichtbar im Vergleich des Umfangs von Fichtelgebirge und den Alpenzügen. Gerade diese hervorgehobene Stellung der Gebirge, die in den Schulbüchern Walther Gehls flächendeckend eingesetzt wird, ergibt sich nicht nur aus der Intention, die für die Richtung der Wanderungen wesentlichen geographischen Gegebenheiten besonders hervorzuheben; sie hängt auch mit der Prägung des Schulbuchautors zusammen. Über Gehl ist bekannt, dass er eine höhere Schule besuchte, bevor er unter anderem auch Geschichte studierte. Besonders nach 1933 fiel er durch seinen schnellen Parteieintritt in die NSDAP 1933 sowie durch seine aktive Rolle bei der Gleichschaltung und Überführung des Geschichtslehrerverbands in den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) auf. Für diesen trat er als Leiter von Schulungen auf und tat sich besonders als aktives Mitglied der Arbeitsgruppe »Geopolitik und Unterricht« hervor.17 Dieses spätere Engagement im Bereich der Geopolitik, aber auch Veröffentlichungen in Vergangenheit und Gegenwart18 lassen darauf schließen, dass er schon zur Entstehung dieses Schulbuches ein Verfechter geopolitischer Strömung in der Geschichtsdidaktik war.19 An dieser Stelle kann unter Geopolitik die Verwendung vermeintlich geographischer Belege für die Rechtfertigung beziehungsweise Begründung politischer Ambitionen verstanden werden.20 Prominent wurde in diesem Zusammenhang die Frage der Bedeutung des Rheins für Deutschland und Frankreich. Ob der Rhein nun als Grenze zwischen Frankreich und Deutschland fungieren solle, wie französische Wissenschaftler zu belegen suchten, oder ob er vielmehr 17 18 19 20
Vgl. Jacobmeyer 2011, S. 1530. Vgl. Blänsdorf 2004, S. 307. Vgl. Jacobmeyer 2011, S. 1432f. Vgl. Wolter 2003, S. 22.
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»Deutschlands Strom« sei und die Vogesen eine natürliche Grenze ausmachten, wie es deutsche Wissenschaftler behaupteten, blieb eine Streitfrage, die sich in kartographischen Schulbuchdarstellungen durchaus widerspiegelte.21 Walther Gehl als Vertreter dieser Strömung benutzte in all seinen Schulbüchern die schwarzen Linien als Gebirge, um Abhängigkeiten historischer Ereignisse und Begebenheiten von geographischen Gegebenheiten zu verdeutlichen. Der Schritt von dieser politischen Indienstnahme vermeintlicher Forschungsergebnisse zu einer Verknüpfung des Schicksals eines Volkes mit dem Boden, auf dem es siedelte beziehungsweise der Abhängigkeit von der Leistungsfähigkeit einer ›Rasse‹ von dem Boden, der ihren Ursprung ausmachte, war schnell getan. Und so griffen nationalsozialistische Geschichtsdidaktiker gerne auf die Ergebnisse der Geopolitiker zurück. Dabei wird am Beispiel Karl Haushofers sichtbar, dass die Verknüpfung von Boden und ›Rasse‹ nicht unbedingt zur ursprünglichen Geopolitik passte und daher auch nicht von allen Geopolitikern so aufgenommen wurde.22 Bei der Analyse der Aussage einer Karte ist es nicht nur wichtig zu untersuchen, welche Sachverhalte der Kartenautor für so zentral erachtete, dass er sie im Kartenbild darstellte, sondern ebenso, was er ausblenden wollte. In Abbildung 1 fällt beispielsweise auf, dass die Gegenden, in welche die Goten einwanderten, zuvor nicht besiedelt gewesen zu sein scheinen. Besonders auffällig ist das komplette Verschweigen der Römer in Mitteleuropa. Dadurch werden vermeintliche Siedlungsleistungen hervorgehoben, auch wenn jedem zeitgenössischen Betrachter das Imperium Romanum bekannt war. Auch Schlachten werden dem Leser vorenthalten, so dass manche Richtungsänderung der »Völkerzüge« rätselhaft wirken (Bsp. Ostgoten auf dem Balkan). Ursachen könnten die schon genannte bessere Lesbarkeit der Karte sein, die, sollten die Römer und andere Völker ebenfalls eingetragen werden, nicht mehr gegeben wäre. Ein weiterer Grund könnten aber auch die im Jahr zuvor für Preußen veröffentlichten verbindlichen Lehrpläne für Mittelschulen gewesen sein. Nach diesen Lehrplänen sollte die Kriegsgeschichte zugunsten der Politik- und Kulturgeschichte rigoros gekürzt werden.23 Eventuell deutet das Verschweigen von Schlachten auf die Angst hin, dass Schulbücher, die die Militärgeschichte zu sehr gewichteten, von den Zulassungsbehörden nicht genehmigt worden wären. Mithilfe der Schriftzüge, Pfeile und Namensgebungen für Städte erscheint es dem Betrachter, als sei ganz Europa am Ende der ›Völkerwanderung‹ von ›Germanen‹ besiedelt gewesen. Die Urahnen der damaligen ›deutschen‹ Leser 21 Vgl. Schultz 2000, S. 7 sowie Bendick 2000, S. 20–21. 22 Vgl. Wolter 2003, S. 23. 23 »Das Kriegstechnische tritt überall zurück; überhaupt werden nur solche Kriege eingehender berücksichtigt, die für das deutsche Volk von entscheidender Bedeutung gewesen sind.« Bestimmungen über die Mittelschule in Preußen vom 1. Juni 1925, S. 13.
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leben also nicht nur innerhalb des deutschen Reiches, sondern vielmehr weit über dessen Grenzen hinaus, was alleine die Verortung der Franken und Alamannen andeutet. An dieser Stelle leistet die Karte einen Beitrag zum Verständnis des »Auslandsdeutschtums« der Entstehungszeit. Dazu passt, dass Walther Gehl im »Verein für das Deutschtum im Ausland« (VDA) aktiv war.24 Allerdings sind diese Verortungen und Deutungen auch in Schulbüchern anderer Herausgeber zu finden, wie das folgende Beispiel »Die westgermanischen Stämme und die deutsch-slawische Grenze nach der Völkerwanderung« (Abb. 2) zeigt.
Abb. 2: Karl Wehrhan / Wilhelm Dienstbach / Heinrich Idelberger / Hans Wittelsbach, Geschichte 5, Klasse IA, Frankfurt am Main 1925, S. 7.
Auch diese, von Karl Wehrhan verantwortete, Schulbuchausgabe aus dem Jahr 1925 zeichnet die Gebirge mit dicken schwarzen Linien ein. Allerdings unterscheidet sich die Karte in einem Element entscheidend von Abbildung 1: am rechten Bildrand ist eine dick schraffierte Linie zu sehen, die eine »deutschslawische Grenze« zeigen soll. Schon der Fokus der Karte unterscheidet sich von Abbildung 1 durch die Auswahl des Kartenausschnitts. Dadurch können detailliertere Informationen gezeigt werden. Die übergroß erscheinende Grenze trennt die Karte. Dabei ist unklar, was mit »deutsch« gemeint sein soll, denn ein einheitlicher deutscher Staats- oder Sprachraum existierte zum Ende der ›Völkerwanderung‹ nicht. Durch die Eintragung der »westgermanischen Stämme« 24 Vgl. Jacobmeyer 2011, S. 1432.
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soll aber gar kein einheitliches deutsches Gebiet suggeriert werden. Vielmehr geht es darum, eine behauptete slawische Bedrohung aus dem Osten zu verdeutlichen. Hier wurden demnach gegenwärtige Vorstellungen und Bedürfnisse auf die Vergangenheit übertragen. Dies wird unterstützt von der Beobachtung, dass die Karte im letzten Band der Reihe veröffentlicht wurde. Laut Vorwort ist die Zielsetzung dieses Schuljahres ein »Rückblick« durch die Geschichte, um »eine lebendige Auffassung vom Werden und Wesen deutschen Volkstums zu erzielen und in die Gegenwartsfragen einzuführen«.25 Die nach dem Versailler Vertrag festgelegte und in Deutschland abgelehnte Ostgrenze war in der damaligen Gegenwart eine internationale Streitfrage, die deutsche Revisionisten mithilfe der Vergangenheit klären wollten. So wird durch diese Karte angedeutet, dass die Konflikte der Entstehungsgegenwart, wie sie sich besonders virulent in den kontroversen Debatten um die Locarno-Verträge äußerten, scheinbar bereits im ersten Jahrtausend nach Christus angelegt gewesen seien.
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Die ›Völkerwanderung‹ auf Schulbuchkarten in Geschichtsbüchern der Mittelschule in den Jahren des Nationalsozialismus
Kontinuitäten zwischen den Schulbüchern in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus wurden bereits am Beispiel des Schulbuchautors Walther Gehl angedeutet. Nicht nur personell, sondern auch inhaltlich waren vor 1933 bereits Vorstellungen verbreitet, an die die nationalsozialistische Ideologie im Geschichtsunterricht anknüpfen konnte. Exemplarisch zu nennen wären hier der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht sowie die Integration der Geopolitik in das, was im Nationalsozialismus als »historische Forschung« galt. Durch die angedeuteten Kontinuitäten gilt für die Schulbuchforschung auch nicht die Machtübertragung am 30. Januar 1933 als Zäsur.26 Vielmehr wurde bis 1938/1939 hauptsächlich mit den Schulbüchern der Weimarer Republik in den Mittelschulen weitergearbeitet. Dies lag vor allem daran, dass die Umgestaltung der Schulverwaltung und die Etablierung neuer Lehrpläne an den Mittelschulen bis zum 1. Juli 193827 andauerte. Schulbücher, die zuvor veröffentlicht wurden, versuchten in einer Art vorauseilendem Gehorsam Aussagen führender NS-Politiker, wie des Innenministers Wilhelm Frick, der am 9. Mai 1933 eine Ansprache 25 Ebd., S. V. 26 Hierzu siehe Kollmann 2006, S. 19f oder Scholtz 1985, S. 47–49. 27 Wobei die Lehrpläne erst zum 1. April 1939 wirksam wurden: Vgl. Amtsblatt des Reichs- und preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der anderen Länder 1938, S. 326.
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zum Thema »Kampfziel der deutschen Schule« vor der Ministerkonferenz hielt, umzusetzen. Die Konzentration auf die ›Rasse‹ als entscheidendes Element in der Entwicklung eines Volkes sowie die teleologische Ausrichtung der Geschichtsdeutung auf das Ziel des Nationalsozialismus hin musste zwangsläufig dazu führen, der vorgeblich ›deutschen‹ Vor- und Frühgeschichte größeren Raum zu geben und dafür den Umfang der Antike in den Schulbüchern einzuschränken.28 Neben der Verdreifachung der Anzahl der Karten fallen am folgenden Beispiel (Abb. 3–5) inhaltliche Unterschiede zwischen den Darstellungen vor 1933 und nach 1938 auf:
Abb. 3: Karl Wehrhan / Heinrich Idelberger / Hans Wittelsbach, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen, Teil II, Ausgabe A, Frankfurt am Main 1926, S. 13.
Abb. 4: Karl Grunwald/ Otto Lukas, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen II, Frankfurt am Main 1939, S. 27. 28 Vgl. Frick 1933; vgl. Richtlinien für die Geschichtslehrbücher vom 20. Juli 1933, S. 197.
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Abb. 5: Dietrich Klagges / Gustav Märkisch / Ernst Nickel, Volk und Führer, Klasse 2, Frankfurt am Main 1940, S. 114.
Alle drei gezeigten Karten wurden im Diesterweg-Verlag veröffentlicht – allerdings zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Autoren. Der Vergleich von Abbildung 3 und Abbildung 4 zeigt deutlich, dass 1939 eine Vereinfachung der dargestellten Verhältnisse vorgenommen wurde. Darüber hinaus wurden die Abgrenzungen als manifeste Größen dargestellt, statt sie veränderlich und durchlässig wie 1926 darzustellen. Die Hervorhebung des Ostgotenreiches hängt zusammen mit dem die Karte umgebenden Schulbuchtext, der die Bedeutung Theoderichs des Großen für die ersten »germanischen Reiche«29 betont. Die Heldenverehrung, die den nationalsozialistischen Geschichtsunterricht prägte, wird auf dieser Karte angedeutet. Beispielhaft sollten die Schüler anhand von ›deutschen‹ Helden in der Geschichte die Anforderungen an einen guten ›Führer‹ kennenlernen. Die hier zu beobachtende hervorgehobene Farbgebung der Ostgoten wird aber nur im Zusammenhang mit dem umgebenden Schulbuchtext sowie der exponierteren Stellung des Reiches im Kartentitel deutlich. Neu hinzugekommen sind 1939 die »Slaven«, denen durch Unterstreichung im Kartenbild eine gewisse Bedeutung zukommt. Durch die im Vergleich zu anderen Schriftzeichen große Schriftgröße wird auch hier eine Bedrohung suggeriert, ohne diese in Form von Pfeilen zu manifestieren. Auch die Gebietsgrößen weichen in den beiden Kartenversionen voneinander ab. Die Kartendarstellung von 1939 hat sich endgültig von der auch in der Weimarer Republik bereits schwach ausgeprägten Orientierung an wissenschaftlichen Prinzipien verabschiedet. Vielmehr ging es nun darum, kartographische Darstellungsmittel einzig dazu einzusetzen, die intendierte Kartenaussage zu ver29 Grunwald / Lukas 1939, S. 27.
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deutlichen. Einen weiteren Aspekt bringt die Karte von 1940 in die Diskussion ein. Die Bezeichnung »Slawen« ist sowohl leicht nach Osten verschoben als auch kleiner geschrieben und ihre Hervorhebung durch Unterstreichung fehlt. Sie scheinen in der Entstehungsgegenwart an Bedeutung verloren zu haben. Dieser Begriff, wie auch der Name der »Wandalen« unterscheidet sich zur Version von 1939 darüber hinaus in der Schreibweise: Sie wurden schlichtweg ›eingedeutscht‹, was den Bedeutungsgewinn des ›Deutschtums‹ sowie damit zusammenhängend der deutschen Sprache im schulischen Kontext versinnbildlicht. Tatsächlich zeigen sich auf den untersuchten Karten, neben Vereinfachungen in der Darstellung, hauptsächlich Veränderungen in der Sprache. Nach 1933 tauchen vermehrt ›deutsche‹ Begriffe, aber auch neue ›Fachbegriffe‹, wie die ›Landnahme‹ für die ›Völkerwanderung‹, auf. Zwar wird der Begriff hauptsächlich für die »Landnahme der Indogermanen«30 verwendet, doch benutzt gerade Dietrich Klagges31, der im Nationalsozialismus als einer der renommiertesten Geschichtsdidaktiker galt,32 den Begriff auch synonym für die gesamte ›Völkerwanderung‹ und unterstrich damit neben der vermeintlichen Rechtmäßigkeit von Gebietsansprüchen auch den Gegenwartsbezug. So konnten in seiner Wahrnehmung Eroberungszüge (besonders im Osten) im Zweiten Weltkrieg als parallele »Landnahme« herangezogen werden. In dieser Interpretation waren Klagges’ Darstellungen allerdings keine exemplarischen Beispiele für alle nationalsozialistischen Karten zur ›Völkerwanderung‹. Es ist vielmehr zu beobachten, dass er in seinen Schulbüchern direkt die eigenen geschichtsdidaktischen Theorien seines Werkes Geschichtsunterricht als nationalpolitische Erziehung umsetzte. Auch bei anderen Themenbereichen ist zu sehen, dass weitere Schulbuchautoren seinen Vorstellungen nur sehr eingeschränkt folgen. Das mag auch daran liegen, dass Klagges als Volksschullehrer über keinerlei wissenschaftliche Ausbildung verfügte und daher auch seine Qualifikation im Bereich der Geschichtswissenschaft als sehr gering eingeschätzt wurde.33 Zwar bezieht er sich in seinen Ausführungen mehrmals auf neueste Erkenntnisse der 30 Vgl. vom Hofe / Seifert / Heinen 1943, S. 31. 31 Dietrich Klagges war von 1911 bis 1920 Volksschullehrer im Rheinland. Von 1920 bis 1926 arbeitete er als Mittelschullehrer, bevor er bis 1930 als Mittelschulrektor tätig war. In seiner Ausbildung am Lehrerseminar besuchte Klagges nachweislich keine Geschichtsveranstaltungen, profilierte sich aber nach 1933 in diesem Bereich. Schon ab 1925 war er Mitglied der NSDAP für die er aktiv auftrat und aus diesem Grund 1930 aus dem Schuldienst entlassen wurde. 1931 wurde er in Braunschweig Innen- und Kultusminister und im selben Jahr Staatsminister für Inneres und Volksbildung. In dieser Funktion verlieh er Adolf Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft und ermöglichte somit dessen Wählbarkeit als Reichspräsident 1932. Von 1933 bis 1945 war Klagges als Ministerpräsident in Braunschweig tätig. Vgl. Germann 1995, S. 14–27. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. ebd.
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»Spatenwissenschaft«34, wie er die Archäologie bezeichnet, aber Aussagen wie die folgende lassen an der Wissenschaftlichkeit seiner Erkenntnisse erhebliche Zweifel zu: »Ihre Überlegenheit machte sie zu Herren weiter Länder und zahlreicher Völker, die sich ihnen unterwarfen und die ihnen dienen mußten. Billig nahmen die Unterworfenen Glauben, Sitten und Sprache ihrer ehrfürchtig bewunderten Herren an. Die kulturschöpferischen Fähigkeiten der nordischen Eroberer konnten sich nun ungehemmt auswirken, weil ihrem Gebot, anders wie in der Heimat, Arbeitskräfte in beliebiger Zahl zur Verfügung standen.«35
Der Schritt von solchen Aussagen hin zur Eroberung weiter Teile Osteuropas und der Misshandlung der einheimischen Bevölkerung als Zwangsarbeiter war nicht mehr groß. Ganz im Gegenteil: Klagges, wie auch andere vermeintliche ›Historiker‹ lieferten die historische Rechtfertigung für damals angestrebte Praxis. In der Perspektive der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung, die davon ausging, dass der Nationalsozialismus die »Vollendung der Geschichte« darstellte und daher jede vergangene Entwicklung den Weg für den Nationalsozialismus bereitet habe, passte obige Argumentation perfekt in die Ideologie. Eventueller Kritik an seiner fehlenden Wissenschaftlichkeit begegnete Klagges, indem er die Wissenschaftlichkeit vergangener Jahre diffamiert und einen neuen Umgang mit den Inhalten des Geschichtsunterrichts forderte: »Aber ›Vorgeschichte‹ ist kein Begriff, der neun- bis zehnjährige Jungen und Mädel begeistern könnte. ›Vorgeschichte‹ trägt den Hauch des ›Wissenschaftlichen‹ an sich. Die Jugend wittert dahinter eine neue Gelegenheit zur Langeweile und wird von vorneherein kopfscheu. Gerade die Vorgeschichte, die die geschichtliche Ehre unserer Ahnen so glänzend wiederhergestellt hat, ist uns aber zu schade dazu, um unserer Jugend durch nüchternen wissenschaftlichen Betrieb verekelt zu werden. Es würde in unseren Schulen vieles besser sein, wenn jeder Lehrer sich bewußt wäre, daß er den besten unserer Jugend, die er zur Wissenschaft hinführen will, nicht wissenschaftlich, sondern lebendig kommen muß.«36
Deutlich sind an dieser Stelle Parallelen zu Mein Kampf 37 zu sehen, in denen Adolf Hitler das Idealbild eines Geschichtslehrers mit seinem Realschullehrer vergleicht.38 Ob die Inhalte wissenschaftlich belegbar und korrekt seien, sei nicht
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Klagges 1937, S. 213. Ebd., S. 254–255. Ebd., S. 216–217. Vgl. Hitler 1940, S. 12. »[…] Ein alter Herr, […], vermochte er besonders durch eine blendende Beredsamkeit uns nicht zur zu fesseln, sondern wahrhaft mitzureißen. Noch heute erinnere ich mich in leiser Rührung an den grauen Mann, der uns im Feuer seiner Darstellung manchmal die Gegenwart vergessen ließ, uns zurückzauberte in vergangene Zeiten und aus dem Nebelschleier der
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wichtig. Der Stoff, der dazu befähigt, die Gegenwart erklären zu können, sollte vielmehr spannend erzählt werden. Für den Aufbau eines Schulbuches bedeutet dies die Reduktion der Texte zugunsten von Abbildungen und Karten. Dadurch lässt sich die beobachtete Kartenzunahme in den untersuchten Mittelschulgeschichtsbüchern (Weimarer Republik: 9, Nationalsozialismus: 3239) erklären. Welche Folgen diese Aussagen für eine veränderte Darstellung der Karten in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus haben, zeigt der Vergleich der Abbildungen 140 und 6 zum selben Themenbereich.
Abb. 6: Dietrich Klagges/ Gustav Märkisch/ Ernst Nickel, Volk und Führer, Klasse 2, Frankfurt am Main 1940, S. 176.
Sichtbar wird vor allem ein Rückgang der Komplexität durch das Verschweigen weiterer germanischer Stämme. Die Akzentuierung, die durch den Titel der Karte Jahrtausende die trockene geschichtliche Erinnerung zur lebendigen Wirklichkeit formte.[…].« Ebd. 39 Kriterien und Übersicht einsehbar unter: Hestler 2017, S. 147–148 sowie S. 174–176. 40 Gehl / Worbs 1926, S. 87.
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vorgenommen wird, ermöglicht diesen hohen Grad der Vereinfachung. Es geht an dieser Stelle einzig und allein um die »Ostgermanen«, westliche Stämme werden daher vernachlässigt. Im Gegensatz zu Karten in der Weimarer Republik finden vereinzelte militärische Auseinandersetzungen einen Weg auf die Karte (die Schlacht von Adrianopel im Jahre 378 n. Chr.). Die Wege der ›Völker‹ werden deutlicher herausgestellt, allerdings wird auf die Eintragung jeglicher Gebirgszüge verzichtet; nur in Mitteleuropa verzeichnet die Karte exemplarisch Flüsse. Auf der sprachlichen Ebene ist zu beobachten, dass die Tendenz der ›Eindeutschung‹ von Begrifflichkeiten weiter zunimmt und die Begrifflichkeiten als einigendes Moment verwendet werden. So werden nun, im Gegensatz zu Abbildung 1, alle eingezeichneten Gruppierungen als »Ostgermanen« bezeichnet. In Abbildung 1 wurde demgegenüber die Bezeichnung »Goten« (differenziert in Ost- und Westgoten) verwendet. Durch die explizite Zuordnung zur Gruppe der Germanen wird der Gegenwartsbezug erleichtert und der Anspruch auf die führende Position innerhalb Europas mithilfe vermeintlich historischer Argumente unterstrichen.
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Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Karten zur ›Völkerwanderung‹ die Bestimmungen und das Bewusstsein der jeweiligen Entstehungszeit verdeutlichen. Exemplarisch aufgeführt werden kann der in der Weimarer Republik geforderte Rückgang der Kriegsgeschichte zugunsten der Politik- und Kulturgeschichte,41 die auch im Themenbereich ›Völkerwanderung‹ festgestellt werden konnte. Zusammenstöße mit Römern oder Hunnen werden auf den Karten nicht eingezeichnet. Teilweise nimmt diese Verneinung von Konflikten solch abstruse Ausformungen an, dass die Römer in Europa überhaupt nicht gezeigt werden und nur durch Städtenennungen ihre Existenz erahnt werden kann.42 Bei der Frage der Repräsentanz der Römer auf den Karten zeigt sich, wie bei anderen Thematiken auch, die große Varianz der Kartendarstellungen in der Weimarer Republik. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verlässliche staatliche Vorgaben für die Entstehung von Schulbüchern fehlten.43 Andererseits spiegeln die Karten somit aber auch das Entstehen einer 41 Vgl. die oben zitierten Bestimmungen über die Mittelschule in Preußen vom 1. Juni 1925. 42 Die Ausblendung des Römischen Reiches auf einigen Karten könnte auch auf die Minimierung der Komplexität der Thematik zurückzuführen sein. Evidente Tatsachen, wie die Existenz des Imperium Romanum, wurden im Sinne einer Fokussierung auf einen gewissen Karteninhalt verschwiegen. Dies führt allerdings zwangsläufig zu einer Überbetonung der Völkerwanderungsbewegungen. 43 Erste verbindliche Lehrpläne für Mittelschule wurden in Preußen 1925 veröffentlicht.
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pluralen Gesellschaft der Nachkriegszeit wider. Erklärbar werden die verschiedenen Ansätze durch die politischen Einstellungen ihrer Autoren. Während beispielsweise Arnold Reimann dem national-konservativen Lager zuzurechnen war44 und er somit an Darstellungen aus der Vorkriegszeit anknüpfte, können Hermann Pinnow45 und Albrecht Herrmann46 als republiktreu beschrieben werden. Dies hatte Auswirkungen auf ihre Art der Kartendarstellung, die als gemäßigt (vor allem gegenüber Frankreich) beschrieben werden kann. Walter Gehl hingegen, einer der führenden Schulbuchautoren nach 1933, der auch schon in der Weimarer Republik Schulbücher veröffentlichte, galt schon damals als völkisch-antidemokratisch,47 was in seinen Karten ebenfalls nachweisbar ist.48 Gleich welchem politischen Lager die Autoren zuzurechnen sind, sie alle eint schon in der Weimarer Republik die Gegenwartsorientierung als Leitidee der Geschichtsdidaktik.49 Die Geschichte wird bewusst von der Gegenwart aus gedacht und in den Dienst der Gegenwart gestellt. Begriffe, wie die »deutsch-slawische Grenze«50, spielen auf gegenwärtige Gebietsverluste durch den Versailler Vertrag an und begründen dessen Ablehnung aus historischer Sicht. Die Tatsache, dass »die Germanen« als ein Volk mit verschiedenen Untergruppierungen gezeigt werden,51 entspringt ebenfalls dem Wunsch nach Einheit aller Deutschsprachigen in der Entstehungszeit des Buches. Nach 1945 wurde die These von der Existenz von Nationen bereits im ersten Jahrtausend vor Christus revidiert: »Bei genauerer Untersuchung erwies sich die Annahme, antike und neuzeitliche Sprecher einander verwandter Sprachen hätten eine gemeinsame, kontinuierliche politische Identität, als unhaltbar.«52 Das genetische Prinzip beziehungsweise die Gegenwartsorientierung wurde nach 1933 noch mehr zum Leitgedanken der historischen Narration. Da sich die Gegenwart in ideologischer und politischer Sicht geändert hatte, mussten sich in der Wahrnehmung von Repräsentanten des NS-Erziehungssystems auch die Inhalte und Deutungen der Geschichte anpassen. Der Schwerpunkt des ersten Jahres des Geschichtsunterrichts lag nun nicht mehr auf den antiken Hochkulturen. Im Nationalsozialismus wurden diese am Rande als Produkt »indogermanischer Landnahme« erwähnt. Hauptsächlich sollte es aber darum gehen, dass 44 Vgl. Blänsdorf 2004, S. 349; Kössler 2008, S. 87–88. 45 Vgl. Blänsdorf 2004, S. 318. 46 Er scheint an der Erstellung der preußischen Geschichtslehrpläne beteiligt gewesen zu sein: vgl. hierzu: Bücherschau 1926, S. 79. 47 Vgl. Jacobmeyer 2011, S. 1432–1433. 48 Vgl. Abb. 1. 49 Vgl. Rödiger 1928, S. 78–79. 50 »Die westgermanischen Stämme und die deutsch-slawische Grenze nach der Völkerwanderung«, in: Wehrhan / Dienstbach / Idelberger / Wittelsbach 1925, S. 7. 51 Z. B. ebd. 52 Heather 2011, S. 30–31.
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die Schüler die gegenwärtige »Volksgemeinschaft« als ein »uraltes Erbteil unserer Vorfahren«53 begriffen. Dadurch rückte die Geschichte des vermeintlich »deutschen« Bodens der Gegenwart in den Fokus der Karten. Die höhere Gewichtung des »Germanentums« war nur ein Grund für die immens gestiegene Zahl an Karten in Mittelschulbüchern. Ein weiterer methodischer Grund lag darin, dass Karten komplexe Sachverhalte auf einem relativ kleinen Raum vereinfacht darstellen konnten und somit die Leitfrage der Zwischenkriegszeit »Was gehört zu Deutschland?« plakativ zu ›beantworten‹ war. Während in der Weimarer Republik die wissenschaftliche Korrektheit bei einigen Autoren und Verlagen, wie dem Teubner- oder Oldenbourg-Verlag,54 noch von größerer Bedeutung gewesen war, ließ diese Orientierung nach 1933 deutlich nach. Die Wissenschaftlichkeit geriet zugunsten einer starken Vereinfachung und Ideologisierung zunehmend in den Hintergrund. An den gezeigten Beispielen wird dies sichtbar durch übergroße Symbole,55 die nicht mithilfe von zulässigen Generalisierungsmethoden entstanden und die große Teile der Karte überdecken. Ein weiteres Beispiel für Ideologisierung zu Ungunsten der Wissenschaftlichkeit sind die zahlreich vorgenommenen ›Eindeutschungen‹ von Namen und Begrifflichkeiten (z. B. »Köln«, »Xanten«, »Straßburg« zu Zeiten der römischen Besiedlung56) beziehungsweise die Verwendung von Exonymen, der Verwendung deutscher Namen für Städte, die zum Zeitpunkt der Karte einem anderen Land, wie beispielsweise Frankreich, zuzurechnen waren. Der damit manifestierte Gebietsanspruch wird somit zum politischen Argument für die Gegenwart der Schulbuchbenutzung. Die Gegenwartsorientierung nach der Machtübertragung wurde ergänzt durch die Implementierung des Führerprinzips beziehungsweise der Orientierung an ›germanischem‹ Heldentum. Frühgermanische ›Helden‹, wie Ariovist57 oder Theoderich (Abb. 4), wurden somit zu Wegbereitern Adolf Hitlers stilisiert und das Fehlen eines entschlossenen Führers aller Germanen verhinderte in dieser ideologischen Perspektive deren Einigung während beziehungsweise am Ende der ›Völkerwanderung‹.58 Der NS-Literatur zufolge59 sollte der Geschichtsunterricht darüber hinaus ›rassisch‹ geprägt sein. Allerdings fällt auf, dass es den Autoren schwerfiel, diese Komponente kartographisch darzustellen. Daher blieben sie auch im Nationalsozialismus hauptsächlich den Kategorien
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Rossius 1933, S. 623. Vgl. Wittmann 2013, S. 39; vgl. Jäger 2003, S. 92–93. Z. B. Abb. 1. »Die römisch-germanische Grenze«, in: vom Hofe / Seifert / Heinen, 1943, S. 79. Vgl. Brügger 1944, S. 102. Vgl. Göbel 1942, S. 67. Z. B. Folkers 1938, S. 559.
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Sprache und Kultur als Kriterien für das ›Deutschtum‹ einer Region oder Bevölkerung verhaftet. Allerdings gerieten durch diese ›rassische‹ (da ›Rasse‹ keine reale, sondern eine rein ideologische Kategorie ist, tatsächlich dann doch wieder auf andere Kriterien rekurrierende) Ausrichtung des Geschichtsbildes andere Themen in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts beziehungsweise bestehende Themen wurden anders gedeutet. So werden die Kelten auf den Karten der Weimarer Republik komplett verschwiegen. Im Nationalsozialismus drehte sich diese Deutung. Die Vermischung von Kelten und Germanen nach der ›Völkerwanderung‹ wurde nun nicht als Problem gewertet, sondern ganz im Gegenteil: Da die Kelten ebenfalls als ›nordisches Volk‹ galten, bedeutete die ›Vermischung des Blutes‹ in der NS-Perspektive gleichzeitig eine ›Auffrischung nordischen, germanischen Blutes‹. Durch die Abstammung vom selben ›nordischen‹ Volk, beziehungsweise durch die Zugehörigkeit zu den Indogermanen, verband die Kelten und Germanen nun mehr, wodurch die Kelten und deren kulturelle Errungenschaften (die dadurch auch als ›deutsche‹ Leistungen gewertet werden konnten) ebenfalls zu einem Themenkomplex im NS-Geschichtsunterricht wurden.60 Gerade im Zusammenhang mit der ›Völkerwanderung‹ rückten durch die rassistische Ideologie weitere Gesichtspunkte in das Blickfeld. Wenn eine ›Vermischung‹ der ›Rassen‹ grundsätzlich zum Niedergang führte, so war die ›Völkerwanderung‹ zunächst einmal nicht positiv zu werten. Da aber davon ausgegangen wurde, dass eine kleine indogermanische Herrschaftsschicht reichte, um ein ganzes Volk anzuleiten, wurde die ›Völkerwanderung‹ zur »Landnahme der Indogermanen«.61 Betont wurde in allen Schulbüchern jedoch, dass die Verbindung zum Ursprungsgebiet essentiell wichtig war. Ein Volk, das seinen Kontakt zum »Urboden« verlor, war besonders anfällig für Vermischungen des Blutes und damit dem Untergang ›geweiht‹. In den gezeigten Karten sind daher Pfeile vom Ursprungsgebiet in angrenzende Gebiete zu erkennen – der Siedlungsraum wurde also vergrößert, ohne das Ausgangsgebiet zu verlassen. Auch hier lassen sich deutliche Parallelen zur ›Lebensraumgewinnung‹ im Osten ab 1939 herstellen. Die vereinfachte Darstellung der Inhalte in Karten sowie die Orientierung am Gegenwartsprinzip führen dazu, dass die Karten immer mehr an Komplexität verloren und die Ideologie in den Vordergrund rückte. Der Kartengegenstand gerät zur Nebensache und dient einzig und allein als Transportmittel für Ideologie. Im Vergleich der Schulbücher unterschiedlicher Autoren und Verlage führte dies dazu, dass sich die Darstellungen immer mehr ähnelten. Einzig Dietrich Klagges, der durch die Mittel extremer Vereinfachung und eine Über60 Vgl. vom Hofe / Seifert / Heinen, 1943, S. 92. 61 Ebd., S. 31.
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spitzung der Ideologie auffällt, unterscheidet sich von anderen Kartenautoren. Neben der Implementierung eigener geschichtsdidaktischer Ideen konnte die Uneindeutigkeit der ideologischen Ausrichtung Gründe für abweichende Darstellungen bilden. So gilt Theoderich einmal als Einiger der Germanen62 und einmal als ein römischer Abkömmling, der es nicht schaffte, einen »Bund« germanischer Völker zu gründen.63 In Anlehnung an die eingangs zitierten Aussagen Monmoniers und Haushofers kann festgehalten werden, dass die Arbeit mit Karten im Unterricht nicht auf der Ebene der reinen Darstellung stehen bleiben kann. Vielmehr müssen quellenkritische Fragen mit in die Interpretation einbezogen werden, damit Lernende den Konstruktcharakter dieses Materialtyps erfassen. Erweitert man den Blick auf diese Weise, bietet sich der Geschichtswissenschaft wie auch dem Geschichtsunterricht in historischen Geschichtskarten ein bisher weitgehend vernachlässigter Quellenfundus, der Aussagen über vergangene kartographische Techniken, die Erstellung von Schulbüchern, aber auch politische Haltungen von Autoren und Verlagen zulässt.
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Carolin Hestler
Wolter, Heike, »Volk ohne Raum« – Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Basis von Fallstudien zu Leben und Werk Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers, Münster / Hamburg / London 2003.
Abbildungsverzeichnis 1. Gehl, Walther / Worbs, Max, Geschichte für Mittelschulen Heft 1, Breslau 1926, S. 87. 2. Wehrhan, Karl / Dienstbach, Wilhelm / Idelberger, Heinrich / Wittelsbach, Hans, Geschichte 5, Klasse IA, Frankfurt am Main 1925, S. 7. 3. Wehrhan, Karl / Idelberger, Heinrich / Wittelsbach, Hans, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen, Teil II, Ausgabe A, Frankfurt am Main 1926, S. 13. 4. Grunwald, Karl / Lukas, Otto, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen II, Frankfurt am Main 1939, S. 27. 5. Klagges, Dietrich / Märkisch, Gustav / Nickel, Ernst, Volk und Führer, Klasse 2, Frankfurt am Main 1940, S. 114. 6. Klagges, Dietrich / Märkisch, Gustav / Nickel, Ernst, Volk und Führer, Klasse 2, Frankfurt am Main 1940, S.176.
Tobias Arand
»Kampf um Lebensraum und Freiheit« – Die ›Völkerwanderung‹ und ihre Rolle in Moritz Edelmanns nationalsozialistischer Geschichtsschulbuchreihe ›Volkwerden der Deutschen‹
1
Einleitung
Lehrpläne, fachdidaktische Beiträge und Schulbücher spiegeln keineswegs die schulische Realität wider. Sie sind lediglich normativer Ausdruck des Gewollten, zugleich aber auch die objektivsten Quellen über vergangenen Unterricht, der in seiner Flüchtigkeit und Vertraulichkeit in der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern später kaum wirklich umfassend rekonstruierbar ist. Anders formuliert: Lehrpläne, fachdidaktische Beiträge und Schulbücher zeigen die Vorstellungen der Bildungspolitik, der Wissenschaft und Schuladministrationen über eine wünschenswerte Schulrealität, die sich in Wirklichkeit häufig anders verhält. Dieser Befund gilt, seitdem es Lehrpläne, also staatliche Regulierungsbemühungen, und Schulbücher gibt. Er gilt auch für die Zeit des totalitären Nationalsozialismus. Wer sich also mit der Frage beschäftigen möchte, welche Rolle die ›Völkerwanderung‹ im Geschichtsunterricht des sogenannten ›Dritten Reichs‹ spielte, wird nicht umhinkönnen, diese Frage hauptsächlich auf jene nach den ›Vorstellungen‹ dieser Rolle auf Seiten der Entscheidungsträger zu reduzieren. Sicherlich liegen neben den trockenen Berichten der Schulaufsichtsbehörden persönliche Erinnerungen oder Planungsunterlagen ehemaliger Lehrer und Schüler vor, die zu diesem Thema befragt werden könnten, doch sicher überprüfbare Ergebnisse lassen sich auf dieser letztlich höchst subjektiven empirischen Basis nicht erzielen.1 So ging die bisherige Forschung zum Geschichtsunterricht im Nationalsozialismus von Untersuchungen der Lehrpläne, der Schulbücher oder der fachdidaktischer Literatur aus.2 Aus dem thematischen
1 Die Studie von Apel / Bittner, 1994 versucht, sich auf Grundlage der Auswertung von Protokollen aus Lehrerkonferenzen, Personalakten, Berichten der Schulrevisoren u. ä. der tatsächlichen vergangenen Schulrealität zu nähern. Das Verfahren hat aber deutliche erkenntnistheoretische Grenzen. 2 Gies 1988, S. 110–127; Genschel 1980 und Ders. 1982, S. 261–294; Kollmann 2006; Riekenberg 1983 und Ders. 1988, S. 128–140; Selmeier 1969; Weiß 1991.
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Umfeld dieses Beitrag liegt neben der älteren Arbeit des Verfassers von 20093 die Studie Stefan Bittners aus dem Jahr 2001 vor, welche Die Entwicklung des Althistorischen Unterrichts zur Zeit des Nationalsozialismus4 untersucht, vor. Beide Beiträge widmen sich aber nicht dem tatsächlichen Unterricht, sondern aus den schon genannten Gründen hauptsächlich der Untersuchung administrativer Maßnahmen sowie der gedruckten Scheinrealität der Geschichtsschulbücher.5 Dies gilt auch für die zuletzt erschienene Ludwigsburger Dissertation von Carolin Hestler zu Geschichtskarten in Schulbüchern, die sich als erste in der geschichtsdidaktischen Forschung explizit auch mit der Rolle der ›Völkerwanderung‹ im nationalsozialistischen Geschichtsbuch beschäftigt.6 Dass die Schulwirklichkeit wie zu allen Zeiten auch während des Nationalsozialismus von den ideologischen Vorgaben abweichen konnte, Lehrer also je nach Alter und Position ihre individuellen Spielräume in der Interpretation der Lehrpläne und der Schulbücher zu nutzen verstanden, ist jedoch anzunehmen und vereinzelt auch zu belegen.
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Der ›Gleichschalter‹ des Geschichtsunterrichts Moritz Edelmann7
Einer der eifrigsten Nationalsozialisten, die versuchten, normativen Einfluss auf die Inhalte und Methoden des Geschichtsunterrichts zu nehmen, war Moritz Edelmann. Edelmann war seit 1934 als ›Reichssachwalter Geschichte‹ im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) der formal höchstgestellte Geschichtsdidaktiker des ›Dritten Reichs‹. In den Zwanziger Jahren wirkte Edelmann, ausgebildeter Lehrer für die Fächer Geschichte und Erdkunde, neben seiner Schultätigkeit an der Erstellung erdkundlicher Schullehrwerke und geschichtlicher Lichtbildreihen mit. Weiterhin bildete er an einem Fachseminar Studienreferendare aus. Bis 1935 arbeitete Edelmann an wechselnden Berliner Schulen, bevor er ab April des Jahres schließlich Oberstudiendirektor und Schulleiter an der Staatlichen Augusta-Schule wurde. Edelmann, bis 1933 nur 3 Arand 2009. Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich in Teilen um eine überarbeitete Neufassung dieses Aufsatzes. Die Ausführungen zur Darstellung der ›Völkerwanderung‹ wurden ergänzt. 4 Bittner 2001, S. 285–303. 5 Wobei Bittner ankündigt, sich unter Bezugnahme auf die Studie Apel / Bittner 1994 auch der von den Vorgaben abweichenden Schulrealität widmen zu wollen, dies aber dann nur am Rande tut. Vgl. Bittner 1998, S. 285 und S. 294. Weiterhin bezieht sich Bittner überwiegend auf den altsprachlichen Unterricht. 6 Hestler 2017, hier S. 145–208. 7 Umfassende Biographie Edelmanns bei Tobias Arand 2005, S. 121–143; Ders. 2006b, S. 235–247; Ders. 2006a, S. 242–246 sowie Hesse 1995, S. 249–250.
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Studienrat, profitierte damit in hohem Maße von der großen Anzahl entlassener Oberstudiendirektoren, die seit der Machtübertragung gezielt durch treue Parteigänger Hitlers ersetzt wurden. 1934 überführte er den Geschichtslehrerverband ohne Widerstand seiner Mitglieder in den NSLB, wo fortan das ›Sachgebiet Geschichte‹ und damit alle Geschichtslehrer, die noch unterrichten durften, von Edelmann geführt wurden. Zur effektiven Durchsetzung seiner Vorstellungen suchte Edelmann Kontakt und Hilfe insbesondere bei Walter Franks ›Reichsinstituts für die Geschichte des Neuen Deutschland‹, dessen Hauptanliegen die Etablierung einer antisemitischen Geschichtsschreibung war. Mit Jahresbeginn 1934 übernahm Edelmann auch die Mitherausgeberschaft der bei B. G. Teubner in Leipzig verlegten traditionsreichen und maßgebenden Zeitschrift des Geschichtslehrerverbandes Vergangenheit und Gegenwart. Die Vergangenheit und Gegenwart nutzte Edelmann im Folgenden als Kampfblatt zur Durchsetzung seiner persönlichen Vorstellungen eines Geschichtsunterrichts im Sinne des Nationalsozialismus.
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Der Geschichtslehrplan für ›Höhere Schulen‹ von 1938 und die Rolle der Alten Geschichte
Erst fünf Jahre nach der sog. ›Machtergreifung‹, am 29. Januar 1938, erließ der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Bildung Bernhard Rust die reichsweiten Bestimmungen zu Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule.8 Die Bestimmungen regelten die Inhalte und Methoden für die Fächer der Oberschulen und Gymnasien im Reich und traten mit dem Schuljahr 1938/39 in Kraft. Der Lehrplan Geschichte, der in den Bestimmungen die Seiten 69 bis 104 einnahm und an dessen Formulierung Moritz Edelmann großen Anteil hatte, konnte erst nach langen Diskussionen zwischen Ministerien, Reichsinstitut und NSLB verabschiedet werden.9 Bis zu diesem Zeitpunkt war der Geschichtsunterricht im Nationalsozialismus zumindest im Hinblick auf die staatliche Regulierung ein Provisorium gewesen. Bis 1938/39 wurden die Inhalte des Geschichtsunterrichts nur durch Einzelerlasse geregelt, die Bestimmungen aus der Weimarer Zeit in Teilen korrigierten, in Teilen ablösten. Im Sommer 1933 erschienen die Vorgaben des Reichsinnenministers Wilhelm Frick für die Neugestaltung der Geschichtsschulbücher. Sie sahen insbesondere eine Neubewertung der Vorgeschichte und Antike vor. So sollte der Unterricht nicht mehr mit dem Mittelmeerraum, sondern mit der ›germanischen Vorgeschichte‹ beginnen 8 Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1938. 9 Für die Volksschule folgten reichsweite Lehrpläne 1939/40 für die Mittelschule wurden nach 1939 Stundentafeln und ein knapper Lehrplan erstellt, vgl. Genschel 1980, S. 71ff.
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und die Kulturleistungen der Griechen und Römer waren »als Tat der nordischen Rasse« darzustellen. Logisch wird dies nur in Zusammenhang mit der Forderung, die »indogermanischen Wanderungen als Wanderungen nordischer Rasseelemente in den Süden« zu deuten, die die dortigen Kulturleistungen erst hervorzubringen halfen.10 Ersichtlich wird hier die wesentliche Schwierigkeit, die gerade die Antike den nationalsozialistischen Schulideologen bot: Es war nicht möglich, von ihr zu reden und gleichzeitig Germanentum und Deutschheit als überlegene Zivilisationsphänomene vom Altertum bis zur Gegenwart zu feiern, ohne die Kulturvölker des Mittelmeers selbst zu Nachfahren der Germanen zu erklären. Um die Unwissenschaftlichkeit der Argumentation zu verschleiern, mussten nicht unerhebliche sprachliche und inhaltliche Volten vollführt werden. So erschienen im Januar 1935 reichsweite Rassekundeerlasse, die auch für den gymnasialen Geschichtsunterricht Auswirkungen hatten. Wieder erfuhren Vorgeschichte, die Alte Geschichte und damit auch die ›Völkerwanderungszeit‹ bemerkenswerte Umdeutungen: »Die Weltgeschichte ist als Geschichte rassisch bestimmter Volkstümer darzustellen. An die Stelle der Lehre ›ex oriente lux‹ tritt die Erkenntnis, daß mindestens alle abendländischen Kulturen das Werk vorwiegend nordisch bestimmter Völker sind, die in Vorderasien, Griechenland, Rom und den übrigen europäischen Ländern – z. T. im Kampf gegen andere Rassen – sich durchgesetzt haben (…).«11
Begleitet und vorbereitet wurden die Erlasse durch entsprechende fachdidaktische und pseudofachwissenschaftliche Beiträge in Edelmanns Vergangenheit und Gegenwart, die mitentscheidend waren für die Durchsetzung eines Geschichtsunterrichts unter rassistischen Gesichtspunkten. Zu den Themen ›Alte Geschichte und nordische Rasse‹ und ›Alte Geschichte und Schulunterricht‹ erschienen in Vergangenheit und Gegenwart zahlreiche Beiträge. Edelmann gelang es dabei, durchaus bekannte Namen zu gewinnen. So äußerten sich in dieser Publikation für Geschichtslehrer unter anderem 1935 der schon seit der Weimarer Republik bekannte Rassenideologe Hans Friedrich Karl Günther über den Einschlag der nordischen Rasse im hellenischen Volke12 oder 1933 der Archäologe und Epigraphiker Fritz Schachermeyr, damals Professor in Jena, zu den Aufgaben der Alten Geschichte im Rahmen der nordischen Weltgeschichte.13 Angesichts derartiger Deutungen der Antike und ihrer Aufgaben im Unterricht, kann es nicht mehr verwundern, dass die Alte Geschichte in den reichsweiten Lehrplänen aus heutiger Sicht als solche in den Stoffvorgaben des Lehrplans kaum mehr zu erkennen war. Insbesondere die rassistischen Theoreme 10 11 12 13
Vgl. ebd., S. 19f. Zit. nach ebd., S. 26f. Günther 1935, S. 529–547. Schachermeyr 1933, S. 589–600; ähnlich auch Erbt 1936.
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Günthers, die dieser schon 1929 in seiner Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes14 formuliert hatte, fanden im Hinblick auf die Alte Geschichte einen starken Niederschlag im Lehrplan. Der 1. Durchgang durch die Geschichte – im 5. Schuljahr wurden nur Anekdoten über berühmte ›Deutsche‹ von Arminius bis Hitler vorgestellt – begann im 6. Schuljahr. Anders als zuvor wurde nicht jedoch mit der Vorgeschichte und nicht mehr mit der klassischen Antike begonnen. Die Antike erschien dann folgend als nur aus germanischem Blickwinkel von Interesse und nahm einen quantitativ geringen Rahmen ein. Als umfassende Geschichte der Antike im geläufigen Sinne wird man die wenigen Inhalte schwerlich bezeichnen wollen: »Die großgermanische Zeit: Erste Landnahme in Süddeutschland. Zusammenstoß mit den Römern: Kimbern und Teutonen, Ariovist. Das für das Verständnis unerläßlich Notwendige über das damalige Römerreich. Arminius Befreiungstat, Marbods völkisches Versagen. Entstehung der westgermanischen Stämme, Durchbruch durch den Limes, Landnahme der Franken und Alemannen; Wikingerzüge der Angeln und Sachsen.«15
Als Daten der Antike waren zu merken: »101 v. Chr. Untergang der Kimbern. 58 v. Chr. Ariovist unterliegt im Elsaß. 9 n. Chr. Armins Freiheitssieg im Teutoburger Wald. 250 n. Chr. Durchbruch der Germanen durch den Limes.«16 Weitere Daten galten der ›Völkerwanderungszeit‹ an der Grenze von Antike und Mittelalter. Bis zum Ende des 1. Durchgangs im 9. Schuljahr spielte die Antike dann keine Rolle mehr. Im 2. Durchgang durch die Geschichte im 10. bis 12. Schuljahr folgte im ersten Halbjahr der 10. Klasse auf die Urzeit die Geschichte der »Indogermanenvölker in Vorderasien und am Mittelmeer.«17 unter starker Betonung rassistischer Motive: »Die nordischen Völker im Mittelmeerraum: Die Welt der Ilias (…). Die Gesetzgebung Spartas in ihrer rassischen und bevölkerungspolitischen, soldatischen und sozialistischen Ausrichtung. (…) Die Perserkriege als Freiheitskampf gegen drohende politische und geistige orientalische Verknechtung. (…) Altrömisches Bauerntum (…) als Verkörperung nordischen Wesens. Die Kaiserzeit unter folgenden Gesichtspunkten: hellenistische, orientalische und jüdische Einflüsse (…).«18
Quantitativ stand die Antike auch im 2. Durchgang deutlich hinter dem Mittelalter und insbesondere der Neuzeit zurück.
14 15 16 17 18
Günther 1929. Lehrplan 1938/39, S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 90 Ebd., S. 91f.
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Die Zeit der ›Völkerwanderung‹ und ihre Darstellung in ›Volkwerden der Deutschen‹
Dass das normative Medium des Geschichtsschulbuches für die effektive Vermittlung ihrer ideologisierten Sicht auf das Altertum und damit ebenso auf die ›Völkerwanderungszeit‹ unerlässlich war, erkannten auch Edelmann und seine Mitstreiter. Ab 1935 unternahm Edelmann mit der Publikation eines schmalen Ergänzungsheftchens mit dem Titel Volkwerden der Deutschen – Die letzten 15 Jahre den Versuch der Etablierung einer eigenen Schulbuchreihe für höhere Schulen, die ebenfalls wie Vergangenheit und Gegenwart bei B.G. Teubner veröffentlicht wurde, und deren Zweck die praktische Umsetzung seiner geschichtsdidaktischen Vorstellungen sein sollte.19 Die eigentliche Reihe erschien jedoch erst 1939, also nach Verabschiedung des reichsweiten Lehrplans. Bis 1941 waren alle acht Bände auf dem Markt. Die Reihe erschien in acht Bänden und dem Ergänzungsheftchen; die Bände wurden von unterschiedlichen Bearbeitern verantwortet. Die Gliederung der Bände entsprach sehr genau dem im Lehrplan gewünschten doppelten Durchgang durch die Geschichte und den dort getroffenen inhaltlichen Vorgaben. Im ersten Durchgang in den Klassen 6–9 ging es chronologisch von den Germanen bis zur damaligen Gegenwart. Im zweiten Durchgang in den Klassen 10–12 wurde getreu dem Lehrplan die Chronologie wiederholt, der Akzent aber stärker auf Rassefragen gesetzt. Bereits im ersten, im Vorgriff auf spätere Bände konzipierten Ergänzungsbändchen aus dem Jahr 1935 über die ›letzten 15 Jahre‹ werden die wesentlichen Absichten und Methoden der späteren Schulbuchreihe sichtbar. Die entscheidende inhaltliche Absicht Edelmanns ist die Propagierung eines teleologischen Geschichtsbildes, das den Gang der deutschen Geschichte in der Durchsetzung des Nationalsozialismus als gekrönt und beendet ansieht. Der 2. Band der Schulbuchreihe Edelmanns wurde von dem Vorgeschichtler, Walter Frenzel, Dozent an der Hochschule für Lehrerbildung in Frankfurt/Oder, unter dem Titel Geschichte des deutschen Volkes und seiner Vorfahren von den Anfängen bis Kaiser Karl 1939 besorgt.20 Der Text für die Klasse 6 ist als historische Meistererzählung angelegt, die Abbildungen des im Dritten Reich bekannten Künstlers und Illustrators Rudolf Warnecke,21 Phantasiezeichnungen aus Alltag und Krieg, Nachzeichnungen ar19 Edelmann 1935. 20 Frenzel 1939. 21 Warnecke lebte 1905–1994. Er war ganz dem nationalsozialistischen Schönheitsideal verpflichtet. Bevorzugte Motive war mythologische (z. B. ›Urteil des Paris‹) und heimatgeschichtliche Themen.
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Abb. 1: Walter Frenzel, Geschichte des deutschen Volkes und seiner Vorfahren von den Anfängen bis Kaiser Karl, Leipzig / Berlin 1939 (Volkwerden der Deutschen, 2).
chäologischer Funde sowie einige Karten, dienen nur als Beweis des im Text schon Gesagten. Weder gibt es Quellenarbeit noch Arbeitsaufträge, was allerdings dem damaligen Stand der Schulbuchkonzeption entspricht. Von den zehn Kapiteln des Buches widmen sich nur die Kapitel V, VI und VII der Antike. Kapitel VII bewegt sich dabei an der Grenze von Spätantike und Frühmittelalter. Wie vom Lehrplan gefordert, dient die antike Geschichte auch hier nur als Folie zur Propagierung der nationalsozialistischen Rassenideologie. Auffällig sind an vielen Stellen unwissenschaftliche begriffliche Anachronismen, die den Schülern in Anknüpfung an ihre Sprachwelt zum einfacheren Verständnis dienen sollen (z. B. ›Jungvolk‹ für junge Germanen22), und die bemühten Versuche, bereits die Antike als von der vorgeblichen ›jüdischen Weltverschwörung‹ gefährdet darzustellen. Methodische Überlegungen, z. B. zur Glaubwürdigkeit antiker Textquellen, werden in dem Band an keiner Stelle sichtbar. Die historischen Erzählungen suggerieren eine vollständige Übereinstimmung von geschichtlicher Narration des Buches und tatsächlicher Vergangenheit. Indiz 22 Frenzel 1939, S. 69.
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hierfür ist an vielen Stellen die Verwendung des historischen Präsens, der Unmittelbarkeit und Tatsächlichkeit sogar an solchen Stellen vortäuscht, die sehr deutlich grob gekürzt und aus dem Überlieferungszusammenhang herausgerissen wurden. Innerhalb der im nationalsozialistischen Geschichtsunterricht wie schon angeführt wenig prominenten Rolle der Alten Geschichte hatte die ›Völkerwanderung‹23 jedoch die zentrale Position. In ihr vollzieht sich aus Sicht der NSDidaktiker die legitime Landnahme der durch erhaltene ›Rassenreinheit‹ überlegenen germanischen Völker in den Mittelmeerraum hinein, wo sich die dortigen Völker durch ›Vermischung des Blutes‹ ihrer ursprünglichen Kräfte beraubt haben. Gleichzeitig ist die ›Völkerwanderung‹ zwar nicht expressiv verbis, aber doch deutlich erkennbar für die Lernenden narrativ als Muster und Legitimation des im Zweiten Weltkrieg erneut sich vollziehenden Ausgreifens der Germanen vulgo Deutschen auf fremden Boden angelegt. Zentral für die Darstellung der ›Völkerwanderungszeit‹ in den untersuchten Schulbüchern ist die sich aus heutiger Sicht als überholt zu bezeichnende Fehleinschätzung, dass es sich bei den Germanen um eine zwar in Gruppenvarianten auftretende, insgesamt aber weitgehend einheitliche, kulturell, ideell und ethnisch zusammengehörige ›Rasse‹ gehandelt habe. So ist es nur logisch, dass die NS-Schulbuchautoren die gentes der Wanderzeit nicht als in vielerlei Hinsicht heterogene Verbände, sondern ausschließlich als ›Völker‹ inklusive aller mit dem Begriff verbundenen Konnotationen und moralischen wie ethnischen Zuweisungen darstellen. Doch nur unter dieser Grundannahme funktioniert der hier offene erkennbare Rassismus in der Darstellung der ›Völkerwanderungszeit‹ in den Schulbüchern der Reihe: Die ›homogene Rasse‹ ist immer die überlegene Rasse; die ›vermischte Rasse‹ hingegen zeigt ihre ›Entartung‹ in Amoralität, physiognomischer Hässlichkeit, vor allem aber in ihrer Besiegbarkeit durch die germanischen Kriegerrecken, die ihre Streitäxte den unterlegenen und verweichlichten ›Mischvölkern‹ über den Schädel schlagen wie ungefähr 1700 Jahre später die Wehrmacht mit ihren Panzern Frankreich überrollt. Der Beginn der ›Völkerwanderung‹ wird in Band 2 in das Kapitel VI. Freiheitskampf um den nordischen Volksboden, die germanische Großtat24 eingebettet. Der Durchbruch der Alamannen durch den Limes Mitte des 3. Jahrhunderts wird als »Heldenkampf der Schwaben«25 gefeiert. In der Darstellung des Geschichtsbuches befreien die Invasoren »südwestdeutschen Volksboden«26 von der römischen Fremdherrschaft, die insbesondere durch das Werk jüdischer 23 Der Begriff ›Völkerwanderung‹ ist mittlerweile veraltet, war zum Zeitpunkt des ›Dritten Reichs‹ jedoch unumstritten, weshalb er hier weiterhin Verwendung finden soll. 24 Frenzel 1939, S. 69ff. 25 Ebd., S. 83. 26 Ebd.
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Händler auch in das ›freie Germanien‹ hinein ›zersetzend‹ wirkt.27 Dass im heutigen Südwestdeutschland überwiegend keltische Stämme beheimatet waren, wird den Lernenden nicht mitgeteilt. Schließlich siegten die germanischen Sueben aber in schweren, verlustreichen Kämpfen und holen das Zehntland ›heim ins Reich‹: »(…) beginnt ein Kampf Mann gegen Mann. Verwegene, wutentbrannte Jünglinge springen wie Katzen die schwerbewaffneten Legionssoldaten an. Hier wird keine Gnade gegeben. Ein kurzer Tod wird den Fremdlingen. In wenigen Monaten ist das Zehntland überrannt, sind die Lager zerstört, die Wachtürme niedergebrannt, die Zwingburgen vernichtet. Kein ruhmgieriger Fürst, kein General führt die Sweben. Es stürmt ein Volk (…).«
Unverblümt wird hier mit der Abenteuerphantasie und der Freude am kindlichen Kriegsspiel gearbeitet, um aus jungen Menschen spätere Soldaten zu machen. Ein Appell an die nationalsozialistische Jugend schließt diese Darstellung ab und bestimmt den elf- oder zwölfjährigen Lesern noch einmal überdeutlich ihre künftige Aufgabe: »Tausende sterben dahin. Doch: Im Kampfe um die Heimat der Ahnen ist kein Opfer zu groß!«28 Im VII. Kapitel, das den Titel Ausgriff der Germanen auf fremden Volksboden wird nun analog zu den Jahren 1935 bis 1939 nicht mehr nur alter ›Volksboden‹ (Saarland, Rheinland, Österreich, Sudetengebiete) zurückgewonnen, sondern fremdes Land für ein ›Volk ohne Raum‹ erobert: »Doch nicht lange dauert es, da wird den Goten das Land an der Ostsee zu eng. Unter ihrem König Filimer machen sich aufs neue große Scharen von Jungbauern mit Weibern und Kindern auf die Wanderung (…).«29 Dann treffen die Goten auf die Hunnen. Dass das ganze Schulbuch seinen Schilderungen ständig auch legendäre oder ersichtlich rhetorisiert und fiktional überformte antike Überlieferungen zugrunde legt und als unhinterfragbare historische Tatsachen vorgibt, zeigt sich hier in der allerdings noch zusätzlich rassistisch aufgeladenen Darstellung der hunnischen Reiterkrieger, die sich eng an Ammianus Marcellinus und seine ohnehin schon abwertende Darstellung anlehnt; selbstverständlich, ohne diesen Umstand transparent zu machen: »Man erzählt sich bei den Germanen, dass sie von Hexen und Gespenstern abstammen; so wild und fremd erscheinen sie. Klein und krumm sind sie von Gestalt, aber breitschultrig und riesenstark. Ihr kurzer Hals scheint zwischen den Schultern vergraben. Wenn ein Lachen über ihr breites Gesicht geht, reicht ihr Mund fast bis zu den Ohren. Sie leben von Wurzeln und rohem Fleisch, das sie wie einen Sattel aufs Pferd legen und
27 Vgl. Ebd., S. 82. 28 Ebd., S. 85. 29 Ebd., S. 86.
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Abb. 2: Walter Frenzel, Geschichte des deutschen Volkes und seiner Vorfahren von den Anfängen bis Kaiser Karl, Leipzig / Berlin 1939 (Volkwerden der Deutschen, 2), S. 90.
mürbe reiten. Die Leinengewänder, in die sie sich kleiden, legen sie nicht eher ab, bis sie ihnen in Fetzen vom Leibe fallen.«30
Das Prinzip der Entmenschlichung des Anderen, wie es die Nationalsozialisten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion bald nach Erscheinen des Schulbuches vom Wort in die Tat überführen werden, ist in diesen Zeilen schon vorweggenommen. Hier begegnet der ›germanische Herrenmensch‹ dem ›slawischen Untermenschen‹ und besiegt ihn schließlich trotz einiger Rückschläge in einem heroischen Kampf bei den Katalaunischen Feldern: »Germanische Heldenkraft rettet Europa!«31 Die Gefahr »asiatischer Zwingherrschaft«32 ist gebannt. Es ist insbesondere in den Kapiteln zur ›Völkerwanderung‹ erstaunlich, mit welcher Unbekümmertheit nationalsozialistisch-ideologisches Vokabular in vollkommener Ignoranz gegenüber den schon seit dem 19. Jahrhundert geltenden einfachsten Grundregeln der Geschichtswissenschaft als Anachronismen über die Lernenden gegossen wird! 30 Ebd., S. 87; vgl. Ammianus Marcellinus 31,2,2–10. 31 Frenzel 1939, S. 95. 32 Ebd.
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Als Höhepunkt des germanischen Ausgreifens wird das Reich Theoderichs dargestellt. Er ist »Theoderich der Große« und »Friedensstifter«.33 Theoderich ist der vorbildliche ›Führer‹, dem aber noch das große und dauerhafte Einigungswerk verwehrt bleibt. Sein Reich scheitert an einem Umstand, der in der gesamten Schulbuchreihe immer wieder und besonders mit Blick auf das ›Deutsche Reich‹ im Spätmittelalter, in der Frühen Neuzeit und der Weimarer Republik hervorgehoben wird: Dem vorgeblichen deutschen Hang zur Uneinigkeit, welche in den Augen seiner Anhänger erst Adolf Hitler endgültig dank seines Charismas überwinden konnte: »Nicht alle Germanenkönige verstehen die Größe seines Friedensplans. Sie wollen nicht einsehen, wie nötig es ist, daß alle Germanen brüderlich zusammenstehen.«34 So enden schließlich im nationalsozialistischen Geschichtsbild die germanischen Reiche am Mittelmeer, weil sie »(…) in verblendeter Zweitracht gegeneinander stritten (…)«35, doch nicht ohne ›Spuren im Blut der Feinde des Nationalsozialismus‹ zu hinterlassen: »Die größten Völker Europas, die oft genug unser Vaterland auf Leben und Tod bekämpften, haben ein gut Teil ihrer Macht und Blüte Germanen zu verdanken.«36 Die Darstellungstendenzen des zweiten Bandes wurden im sechsten Band der Reihe fortgesetzt und radikalisiert. Der sechste Band der Edelmannschen Reihe war für die 10. Klasse konzipiert, in der, wie schon angedeutet, der zweite Durchgang durch die Geschichte erfolgen sollte. Der Band trug den Titel Von der Vorgeschichte bis zum Ende der Stauferzeit und wurde 1939 von Hans Bartels, Karl Klotzsch, zwei Oberstudiendirektoren in Hannover und Berlin, sowie Hans Lüdemann aus Berlin, Mitarbeiter in Walter Franks ›Reichsinstitut‹, besorgt.37 Hier kommen die Schüler zum ersten Mal mit der Geschichte des Alten Orients und Griechenlands in Berührung. Gut die Hälfte des Bandes kann thematisch der Alten Geschichte zugerechnet werden; der Rest entfällt auf Vorgeschichte und Mittelalter. Auf illustrierende Zeichnungen wurde verzichtet, lediglich Karten in meist suggestiver Gestaltung, die u. a. den Gedanken einer weitgehenden ethnischen und kulturellen Identität der Germanen visualisieren, sind beigefügt. Auch in diesem Band von Volkwerden der Deutschen erfolgt die Unterrichtung durch einen Fließtext, der vermeintliche historische Fakten schildert. Arbeitsaufträge oder -anregungen fehlen. Die Geschichte erscheint auch in diesem Band nur noch als Kampf zwischen den ›nordischen‹ und den ›minderwertigen‹ anderen Völkern. Ausgehend von der Theorie einer Heimat der Indogermanen in der norddeutschen Tiefebene werden alle Ereignisse der Antike wie im anderen Band unter dem Blickwinkel dieses behaupteten Rassenantagonismus betrach33 34 35 36 37
Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 105. Ebd. Bartels / Klotzsch / Lüdemann 1939.
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Abb. 3: Hans Bartels / Karl Klotzsch / Hans Lüdemann, Von der Vorgeschichte bis zum Ende der Stauferzeit, Leipzig / Berlin 1939 (Volkwerden der Deutschen, 6), S. 147.
tet. Dies führt auch hier wieder zu Projektionen zeitgenössisch nationalsozialistischer Rassentheoreme auf die vergangenen Völker der Antike. Ein Grundgedanke des Buches, der im zweiten Band nicht so ausgeprägt zu finden ist, bildet die Propagierung eines geradezu biologistischen Geschichtsbilds von Reichsentwicklungen als Zyklus von Aufstieg, Blüte und Verfall, wobei letzterer insbesondere durch ›Rassemischung‹ und damit sittlich-kulturelle ›Entartung‹ bewirkt wird. Die ›Völkerwanderung‹ wird unter den Überschriften »Kampf um Lebensraum und Freiheit« und »Germanenherrschaft auf römischem Reichsboden« im Kapitel »Die Großgermanische Zeit«38, zu der die Autoren auch noch das Frankenreich zählen, behandelt. Ebenfalls offensichtlich ist – wie schon in den anderen Bänden – in Volkwerden der Deutschen 6 die Betonung der Bedeutung großer Männer in der Geschichte. Zwar ist dieser Gedanke als strukturierendes Element der Geschichtsschreibung keine Erfindung der Historiker des ›Dritten Reichs‹, in der Fixierung auf die Idee des willensstarken ›Führers‹ wie ihn die Autoren z. B. in der Person Alarichs und vor allem Theoderichs verkörpert sehen, hält er aber in 38 Bartels / Klotzsch / Lüdemann 1939, S. 136–185.
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diesem Schulbuch eine doch eindeutig originär nationalsozialistische Note. So wird z. B. Theoderichs »Führerstellung« ausdrücklich betont.39 Angesichts des gegenüber Band 2 allerdings sehr viel weiter gespannten historischen Zeitraums, der in Band 6 behandelt wird, ist der quantitative Umfang der ›Völkerwanderung‹ (22 von 276 Seiten bei 48 von 134 Seiten in Band 2) hier deutlich geringer.
5
Fazit
Wer ein Geschichtsschulbuch schreibt, übernimmt eine hohe Verantwortung für das geistige und sittliche Wohlergehen seiner jugendlichen Leser, für die Formung ihrer Intellektualität und Reflektiertheit. Das normatives Wesen der Schulbücher, ihr häufig autoritärer Anspruch als Ausdruck purer Wissenschaftlichkeit und ihre Anmutung vermeintlich vollkommener Objektivität führt auf Seiten der Lernenden auch heute noch fast immer zu der irrigen Annahme, dass in ihnen eine in Stein gemeißelte Wahrheit zu suchen und zu finden sei. Umso bedeutsamer sind der heutigen Geschichtsdidaktik bei der Konzeption von Geschichtsschulbüchern – zumindest theoretisch40 – daher zentrale Begriffe wie ›Multiperspektivität‹ oder ›Kontroversität‹. Auch wenn die damaligen Schulbuchautoren als Kinder ihrer Zeit und ihrer Überzeugungen zu verstehen sind, man ihnen kaum den jetzigen Stand der geschichtsdidaktischen Forschung zum Maßstab machen darf und sie dazu dem damaligen Stand der Wissenschaft zur ›Völkerwanderungszeit‹ ausgesetzt waren, muss man sagen, dass sie selbst aus damaliger Sicht dieser Verantwortung nicht gewachsen gewesen sind. Schon vor dem ›Dritten Reich‹ gab es Schulbücher, die sich im Rahmen der damaligen Möglichkeiten um Ausgeglichenheit, Wissenschaftlichkeit und damit tatsächlich um den sich entwickelnden Verstand ihrer Leser bemüht haben. Aus Sicht überzeugter Nationalsozialisten und damit von Ideologen, die auch ein wirr-unsystematisches, noch dazu völlig unoriginelles Werk wie Hitlers Mein Kampf für eine geistige Großtat halten konnten, haben die Autoren allerdings eine hervorragende Arbeit geleistet. Volkwerden der Deutschen ist die konkrete Materialisierung der Vorstellungen des als ›Reichssachbearbeiter der Fachschaft Geschichte im NSLB‹ immerhin formal entscheidenden Mannes in der geschichtsdidaktischen Diskussion während des Nationalsozialismus. Er hat dabei willige Mittäter in den Autoren der hier untersuchten Bände gefunden. Die Reihe ist der Versuch des ›Gleichschalters‹ mit dem Steuerungsmittel ›Geschichtsbuch‹, 39 Ebd., S. 155. 40 In vielen Geschichtsschulbüchern, insbesondere der Sekundarstufe I, werden noch heute selbst die grundlegenden Anforderungen der Geschichtsdidaktik für ein zeitgemäßes historisches Lernen ignoriert.
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eine exakte Übereinstimmung der von ihm propagierten ideologisierten Theorie und der tatsächlichen Praxis im Geschichtsunterricht zu erreichen. Es zeigt sich so ein auf absolute ideologische Konformität abzielender Gestaltungswillen, der jedoch nicht auf Subtilität, sondern brachiale Überwältigungsstrategien setzt. Nicht zuletzt wegen der Erfahrung mit dieser Art von Schulbüchern wurde 1976 der ›Beutelsbacher Konsens‹ zum Verbot jeder Form von emotionaler und intellektueller Überwältigung in der politischen Bildung (und geschichtliche Bildung ist immer auch politische Bildung!) verabschiedet. Die Reihe ist im Hinblick auf die Rolle der Alten Geschichte und damit auch der ›Völkerwanderungszeit‹ in den betreffenden Bänden aber auch Ausdruck des Versagens der damaligen deutschen Althistoriker. Diese wollten sich – mit Ausnahmen wie Helmut Berve oder Wilhelm Weber – zwar sicher nicht mit dem Nationalsozialismus wirklich gemein machen, weil sie den Rassenwahn und Antisemitismus insbesondere der germanentümelnden Vorgeschichtler mehrheitlich wohl als unwürdig empfanden. Dennoch gaben sie durch den Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm vermeintlich ›reiner‹ Forschung fern jeder Diskussion über Lehre und Unterricht aber auch jene Felder der Antike frei, die die Vorgeschichtler ohne wirkliche Kompetenz so okkupieren und dabei einen Schwerpunkt auf die Zeit der Wanderungen legen konnten. Dass seriöse Altertumsforscher die Arbeiten eines Hans Günther nicht ernst nahmen und viele ihn und seine Adepten zwischen 1933 und 1945 durch Ignorieren und politisch unverdächtige Spezialforschungen hintertrieben, mag wissenschaftsintern ausreichend gewesen sein. Den Ideologen vom Schlage eines Moritz Edelmann oder seiner Mitstreiter aber auch das Feld des Geschichtsunterrichts weitgehend kampflos überlassen zu haben, statt sich kompetent und aktiv im Sinne der Bewahrung wissenschaftlicher Standards in die geschichtsdidaktischen Diskussionen einzumischen, war kein Ruhmesblatt eines Forschungszweigs, dem ohnehin zu Unrecht oft genug der Vorwurf gemacht wurde – und noch immer gemacht wird – nicht ganz von dieser Welt zu sein. Am Gegenstand der ›Völkerwanderung‹ zeigt sich dieses Versagen besonders deutlich. Die in der ganzen Schulbuchreihe sich wie ein roter Faden durchziehende Unwissenschaftlichkeit, der Rassismus, die Kriegserziehung und die häufig plumpe Übernahme nationalsozialistischen Vokabulars finden bei dem Gegenstand der ›Völkerwanderung‹ einen besonders fruchtbaren Nährboden. Da es den Autoren hier aber um den Nachweis der historischen Richtigkeit ganz grundlegender nationalsozialistischer Theoreme ging, kann dieser Befund allerdings nicht wirklich überraschen. Eine Mahnung vor jeder Form von Ideologisierung in Geschichtsschulbüchern, von links wie von rechts, könnte der Befund aber schon sein. Die Frage, wie stark einige Tendenzen der nationalsozialistischen Darstellung der ›Völkerwanderungszeit‹ auch heute noch ungewollt in manchen Geschichtsschulbüchern fortleben, wäre einen eigenen Beitrag wert.
»Kampf um Lebensraum und Freiheit«
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Goten und Hunnen der Moderne – Gegenwartsbezogene Thematisierungen der Völkerwanderung im geschichtsdidaktischen Fokus
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Einleitung: Woran erkennt man Barbaren?
Das konstitutive Merkmal der Völkerwanderung1 war die Tatsache, dass große Verbände von Menschen nichtrömischer Herkunft gegen den Willen Roms die Grenzen des Imperium Romanum überschritten und sich zum Teil dauerhaft auf dessen Gebiet niederließen.2 Diese Menschen waren aus Sicht der Römer beziehungsweise der romanisierten Reichsbewohner Barbaren. Woran erkennt man solche Leute? Man kann es sich einfach machen und von einer sehr ursprünglichen, griechischen Definition des Wortes ausgehen: Der Barbar ist dann derjenige, der eine andere Sprache spricht.3 Interessanter ist eine zweite, normativ aufgeladene Begriffsvariante.4 Zentrale Kennzeichen des Barbaren sind dann seine negativen Charaktereigenschaften, vor allem unzivilisiertes Gebaren, Unberechenbarkeit und Grausamkeit.5 Als barbarisch empfinden es heute die al1 Natürlich könnte man diesen Begriff – wie viele andere im vorliegenden Beitrag, allen voran den Terminus »Barbar« oder Konzepte wie »Fremdheit« – in Anführungszeichen setzen. Dass dies im Folgenden nicht geschieht, ist dem Prinzip der Lesbarkeit geschuldet und impliziert nicht die Annahme, dass solche tradierten Konstrukte für die Bezeichnung von Realitäten jenseits menschlicher Vorstellungen unproblematisch wären. Der vorliegende Aufsatz geht auf einen Vortrag des Verfassers im Rahmen folgender Veranstaltung zurück: »Die Völkerwanderung: Mythos und Wirklichkeit«, Studientag des Vereins Alte Geschichte für Europa e.V. (AGE), Bonn, 31. Oktober 2016. Für hilfreiche Rückmeldungen, Literaturhinweise und Verbesserungsvorschläge danke ich Konrad Vössing, für Unterstützung bei der Literatur- und Quellenbeschaffung Sandra Müller, Victor Henri Jaeschke und Norbert Geiss sowie Theresa Michels, Merlin Schiffers und Janna Schulz, die überdies das Korrekturlesen und die Erstellung des Quellen- und Literaturverzeichnisses übernommen haben. 2 Zu Phänomen und Wortgeschichte: Rosen, 2006, S. 19–22 und 18–37. 3 Vgl. Losemann 1997, S. 439. Dass die oben gestellte Frage nach Merkmalen von Barbaren auf Vorstellungen und nicht auf Realitäten zielt (ähnlich Buchners Kolleg Geschichte 2014, S. 12: »Was ist ein Barbar?«), bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Barbaren als unwandelbaren ›Typus‹ gibt es immer nur in den Köpfen derjenigen, die ihre Mitmenschen so bezeichnen. 4 Zum doppelten Gehalt des Begriffs: Todorov 2008, S. 40f. und Rosen 2006, S. 28f. 5 Vgl. Losemann 1997, S. 421 (mit einer Liste lateinischer Begriffe, die zur Charakterisierung von Barbaren verwendet wurden).
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lermeisten Zeitgenossen, wenn im Namen politischer oder religiöser Ziele Menschen durch terroristische Akte getötet werden. Auch die absichtliche Zerstörung von religiös oder kulturell bedeutsamen Stätten gehört nach einem breiten transkulturellen Konsens in diese Kategorie. Von »barbarism« sprach 2016 auch die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power angesichts der Bombardierung der syrischen Großstadt Aleppo unter Beteiligung der russischen Luftwaffe.6 Der Barbar ist in der Perspektive der menschenrechtsorientierten liberalen Demokratie dadurch gekennzeichnet, dass er Würde, Leben und Kultur anderer Menschen aufs Tiefste missachtet, dass er vernichtet, was er nicht versteht, und uneingeschränkt gewaltbereit ist.7 Diese normativ aufgeladenen Vorstellungen sind nicht weit von dem entfernt, was in der römischen Literatur über Barbaren zu lesen ist – und zwar keineswegs erst in der Völkerwanderungszeit. So schrieb etwa der griechisch-römische Historiker Cassius Dio über die zur Zeit des Augustus besiegten Alpenstämme der Räter, dass sie alle männlichen Angehörigen der mit ihnen verfeindeten Gruppen unter Einschluss von ungeborenen Kindern töteten.8 Auch was der anderthalb Jahrhunderte später als Geschichtsschreiber tätige Ammianus Marcellinus von den Hunnen berichtete, passte dazu: Hässlich und struppig seien sie, halbe Aasfresser, dabei blitzschnell und gefährlich im Kampf, unzuverlässig im Frieden, launisch, unberechenbar, nach Raub und Mord trachtend.9 Die allermeisten Schulbuchautoren würden bei der Verwendung dieser Quelle sicherlich darauf hinweisen, dass die machtorientierten Römer solche Charakteristika konstruiert haben, um die von ihnen unterdrückten Völker moralisch zu diskreditieren. Mit Yves Albert Dauge kann man dem Barbarenbegriff 10 tatsächlich die Funktion einer Vereinfachung von Wirklichkeit zuschreiben: Er habe es den Römern erlaubt, die feindlichen Mächte in ihrer Vorstellungswelt zu einem – so Dauge – »contretype de le romanité« zu verdichten; zugleich habe er in
6 Zit. nach Nichols / Bayoumy 2016. 7 Vgl. im Rekurs auf Tzvetan Todorov: Jellonnek 2012. Tzvetan Todorov versteht als Barbaren diejenigen, die in anderen keine Mitmenschen sehen. Vgl. Todorov 2008, S. 36. 8 Vgl. Cassius Dio 54,22,1–3 und 5 (Übers. Veh 1986/2007) und mit anderer Übertragung Junkelmann 1986, S. 68; zu Cassius Dio (163/4 – nach 229 n. Chr.): Wolff 2002, S. 52f.; zur Barbarentopik: Losemann 1997, S. 442 und Pohl 2005, S. 101; zur gegenwartsbezogenen Verwendung des »Barbarendiskurses«: Jellonnek 2012. 9 Vgl. Ammianus Marcellinus, Buch 31,2,1–12 (Übers. Veh 1974, S. 708–711); in anderer Übers. (Seyfarth) zit. in: Buchners Kolleg Geschichte 2014 (Bearbeiter des Unterkapitels: Jochen Oltmer), S. 26; zur Hunnenbeschreibung des Ammianus Marcellinus unter Betonung des topischen Charakters: Pohl 2005, S. 100f. 10 Die Verwendung des Singulars soll keine Invarianz der antiken Vorstellungen von Barbaren suggerieren. Gerade in der Spätantike war das römische Denken über Barbaren dynamischen Veränderungen unterworfen. Vgl. Vogt 1967, S. 5–68 (in soziologischer Perspektive herangezogen in: Stichweh 2010, S. 25–44).
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seiner orientierenden Wirkung römischen Sieges-, Ordnungs- und Herrschaftswillen freigesetzt.11 In seiner normativen Negativität steht der Barbarenbegriff Denkmustern nah, die man im Kontext des modernen Kolonialismus oder ab 1914 in der französischen Kriegspropaganda gegenüber Deutschland finden kann – wobei die Moderne das Barbarenkonzept mit nationalistischen und rassistischen Komponenten auflud, die dem römischen fremd waren.12 Das Vordringen rassistischer Denkweisen im Sinne der Annahme biologistisch definierter Unterschiede in der Wertigkeit von Menschen vollzog sich nach Anfängen in der Frühen Neuzeit erst im 19. Jahrhundert – dann allerdings auf breiter Front und mit langfristig schrecklichen Wirkungen.13 Die besondere Inhumanität moderner, rassistisch aufgeladener Barbarenkonzepte lag darin, dass sie in ihrem biologistischen Determinismus keine »Entbarbarisierung« (Herfried Münkler)14 und damit auch keine grundsätzliche Statusverbesserung und Integration der als Barbaren Stigmatisierten zuließen, während dies im römischen Kontext ein häufiges und bedeutsames Phänomen gewesen war, so etwa in Form der Verleihung des römischen Bürgerrechts an Hilfstruppensoldaten nichtrömischer Herkunft.15 Das abgründigste Beispiel der rassistischen Abwertung von Menschen war der Antisemitismus des nationalsozialistischen Deutschlands, der auf dem Wege des – wie Michael Wildt es formuliert hat – »eliminatorische[n]
11 Dauge 1981, S. 807–809 (zit. Begriff ebd., S. 807); vgl. ferner zusammenfassend hierzu die Rezension von Levau 1983 und zur Kritik die Rezension von Wankenne 1983. Möglicherweise ist im Barbarenbegriff eine negative Parallele zu positiven Formen der Komplexitätsreduktion zu sehen, wie sie Jan Timmer für die politisch-soziale Funktion der fides in der spätrepublikanischen römischen Eliten aufgezeigt hat, indem er auf das Einsparen von sozialen »Transaktionskosten« durch ein Vertrauen hinweist, das die immer wieder neue Überprüfung der Verlässlichkeit möglicher Partner überflüssig mache. Vgl. Timmer 2017, S. 84–86 (anschließend an Niklas Luhmann). 12 Vgl. Hartmann 2003, S. 53–55 (allerdings unter Hinweis auf dem Rassismus ähnliche Funktionen der antiken Klimatheorie); Dauge 1981, S. 682; knapp zu modernen Kolonialideologien: Osterhammel 2006, S. 112–118; zur Verwendung rassistischer Feindbilder im Ersten Weltkrieg: Audoin-Rouzeau / Becker 2000, S. 168; zum Fehlen von Biologismus, Rassismus und Nationalismus in der Antike: Wilker 2005. 13 Osterhammel 2010, S. 1214 und 1217; zum Aufkommen biologistischer und physischer Merkmalszuschreibung in der Frühen Neuzeit: Stichweh 2010, S. 34. 14 Münkler 2005, S. 151. 15 Vgl. mit Literatur: Geiss 2017, S. 279–292. Auf die besondere funktionale »Flexibilität« von noch nicht rassistisch aufgeladenen Barbarenbegriffen der Spätantike weist Meier (2019, S. 76) hin, dessen Synthese vor der Drucklegung des vorliegenden Beitrags nur noch ganz punktuell herangezogen werden konnte. Zur unüberwindlichen Ausgrenzungsmacht von Rassismus und Biologismus (im Gegensatz zu ›nur‹ kulturell argumentierender Exklusion): Wildt 2007, S. 373.
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Fremdmachen[s]« der jüdischen Opfer den späteren Massenmord an ihnen in den Denkweisen und Haltungen der Täter wesentlich vorbereitet hat.16 Kein Zweifel: In der Geschichte haben Konstrukte des Fremden als des Feindlichen und Bekämpfenswerten in vielfältiger Weise Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt bis hin zum genozidalen Massenmord hervorgebracht – und dieses Gefahrenpotenzial ist leider auch in der Gegenwart real. Das heute z. B. im nordrhein-westfälischen Kernlehrplan Geschichte greifbare Anliegen, den »Konstruktcharakter« menschlicher Vorstellungen vom Fremden herauszuarbeiten,17 entspricht vor diesem Hintergrund einem der wichtigsten Ziele, die ein menschenrechtsorientierter Geschichtsunterricht zu verfolgen hat. Risiken für die fachliche Differenziertheit des Lernprozesses resultieren allerdings aus der epochenübergreifenden Herangehensweise. Der besondere Reiz, aber auch das Gefahrenpotenzial des Lehrplan-Inhaltsfeldes »Fremdsein in historischer Perspektive« liegt darin, dass es sehr unterschiedliche Kontexte der Erfahrung, Wahrnehmung und Konstruktion von Fremdheit miteinander verbindet18 – und hier kann man bei aller Wertschätzung des diachronen Vergleichs kritisch fragen, ob die im vornationalen Zusammenhang eines antiken Imperiums19 formulierten Äußerungen römischer Schriftsteller über Germanen in einen sinnvollen Bezug zur Wahrnehmung nationalstaatlich gerahmter Einwanderungsprozesse ins Ruhrgebiet zu setzen sind.20 Die Diskrepanzen verschärfen sich noch, wenn der Unterricht im Teilthema »Germanen in römischer Perspektive« die spätantike Völkerwanderung in den Blick nimmt, was der Lehrplan zwar nicht vorgibt, die im Folgenden betrachteten Lehrwerke aber anbieten. Denn hier handelt es sich um ein Themenfeld, das dem Komplex des Krieges mindestens ebenso zuzuordnen ist wie dem der Migra16 Wildt 2007, S. 372, vgl. mit Blick auf die dem Massenmord vorangehende Entziehung der Staatsbürgerschaft Gosewinkel 2019, S. 296. Sozialpsychogisch beschreibt diesen erschreckenden Mechanismus Harald Welzer, wenn er die mörderischen Wirkungen einer »Koordinatenverschiebung« durch »unhintergehbare und absolute Unterscheidung von Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen« konstatiert. Welzer 2016, S. 248; zu Genoziden vergleichend ferner Benz 2006. 17 »Die Schülerinnnen und Schüler […] erklären den Konstruktcharakter von Bezeichnungen wie ›der Germane‹, ›der Römer‹ und ›der Barbar‹ und die damit einhergehende Zuschreibung normativer Art, […].« Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen (Hg.) 2014, S. 23. Im Hintergrund dieses Lehrplans stehen offensichtlich die Überlegungen von Schreiber u. a. 2006, S. 21f. 18 Als Fallbeispiele des thematisch extrem disparaten Inhaltsfeldes dienen neben der »Darstellung der Germanen in römischer Perspektive« auch »mittelalterliche Weltbilder in Asien und Europa«, »Selbst- und Fremdbild in der frühen Neuzeit« am Beispiel von Reisenarrationen und »Fremdsein, Vielfalt und Integration – Migration am Beispiel des Ruhrgebiets im 19. und 20. Jahrhundert«. Ebd. S. 22. 19 Dazu Matthisen 2006 und Vössing 2017. 20 Zu dezidiert »nationalpolitischen« Hintergründen des restriktiven Umgangs mit polnischer Arbeitsmigration in Preußen: Oltmer 2017, S. 102f.
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tion.21 Es besteht die Gefahr, dass aus dem Bemühen um eine möglichst vollständige Dekonstruktion römischer Barbaren- und Germanenbilder gleichsam etwas ›mitdekonstruiert‹ wird, was zumindest für Teile der spätrömischen Bevölkerung lebensweltliche Erfahrung war: Kriegserlebnisse in Gestalt von Gewalt, Plünderung, Zerstörung und Unterdrückung durch bewaffnete Gruppen. Dies gilt auch dann, wenn solche Erfahrungen nicht in Reinform greifbar sind, sondern in den Quellen fast immer durch tradierte Deutungsmuster überprägt erscheinen.22 In der Spätantike traten Verbände wie Franken oder Goten ungeachtet aller Topik keineswegs nur als imaginierte oder ›konstruierte‹ Gefahr in Erscheinung, sondern trugen als ein – wenn auch in der kausalen Gewichtung kontrovers diskutierter – Faktor zum Ende des Imperium Romanum bei.23 Es spricht einiges dafür, die aus Gewalterfahrungen in der Begegnung mit diesen bewaffneten Gruppen resultierenden Perzeptionen bei der romanisierten Bevölkerung kategorial deutlich von solchen Wahrnehmungen des Fremden zu unterscheiden, die nur mit »Irritation« (Rudolf Stichweh)24 einhergehen. Selbst wenn man alle literarischen Zeugnissen der Völkerwanderungszeit in den Bereich des Fiktionalen einordnen würde, blieben immer noch archäologische Befunde, die das Vordringen bewaffneter Verbände in das Imperium Romanum hinein als einen gewaltsamen und zumindest für Teile der Bevölkerung leidvollen Vorgang ausweisen. Hiervon zeugen – um nur zwei Beispiele aus dem Rheinland anzuführen – die wohl beim fränkischen Einfall von 353 n. Chr. in einem Brunnen des Legionslagers Bonn notdürftig bestatteten Toten ebenso wie archäologisch nachweisbare Brandschichten, welche die Einnahme Kölns durch die Franken zwei Jahre später hinterlassen hat.25 Die Archäologie kann es selten leisten, mit kriminalistischer Eindeutigkeit Germanen als Täter zu ›überführen‹,26 aber die Plausibilität der Einordnung solcher Befunde in den Kontext militärischer Invasion spricht doch dafür, nicht alle spätantiken Berichte über Erfahrungen mit Barbaren als Gruppen oder Individuen, von denen Gewalt und
21 Zum wesentlichen Unterschied zwischen bewaffneter und nicht bewaffneter Migration vgl. den Beitrag von Konrad Vössing im vorliegenden Band. 22 Das Gewicht der Tradition war durchaus gegeben. Vgl. Vogt 1967, S. 59. Dass in der antiken Literatur gleichwohl nicht alles Topik sein muss, was danach aussieht, zeigt das ältere, literarisch und archäologisch greifbare Beispiel abgeschlagener Köpfe in keltischen und keltoligurischen Kontexten. Vgl. Dedet 2011. 23 Vgl. zu dieser Diskussion Roland Steinacher im vorliegenden Band (»Die Umgestaltung der römischen Welt zwischen Antike und Mittelalter. Perspektiven der Forschung«). 24 Für Rudolf Stichweh begründet Alterität allein noch keine Fremdheit. Vielmehr müsse zusätzlich gelten, dass »die Andersheit des Anderen als eine Störung oder Irritation empfunden wird, die man nicht auf sich beruhen lassen kann […].« Stichweh 2011, S. 432. 25 Vgl. Gechter 2001, S. 173; zu Köln: Hellenkemper 2002, S. 461 und Eck 2004, S. 65. 26 Zu Grenzen archäologischer Beweisführung im Bereich von Ereignisgeschichte und Zuordnung von Täterschaft: von Rummel 2013, S. 17–27, ebenso Kulikowski 2013, S. 683–701.
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Grausamkeit ausging,27 umstandslos in den Bereich der zu dekonstruierenden Topik bzw. des Stereotyps einzuordnen. Dies wäre letztlich genauso undifferenziert wie ein kritikloses Ausschreiben der Quellen. Angebracht ist vielmehr ein Umgang mit römischen Vorstellungen von Barbaren, der sowohl für das Topisch-Konstruierte als auch für menschliche Erfahrung von Gewalt offen ist. Römische Feindbilder von germanischen und anderen Gruppen mögen vielfach unbegründete oder lediglich der eigenen Herrschaftslegitimation dienende Vorurteile tradieren, im kriegerisch geprägten Kontext der Völkerwanderung wurden diese Feindbilder aber auch durch reale Bedrohungs- und Gewalterfahrungen mitbedingt und bestätigt.28 Vor diesem Hintergrund sei im Folgenden zwei Leitfragen nachgegangen: – Wie kann der Geschichtsunterricht im Hinblick auf Gewalt erfahrungsbezogene29 Anteile in römischen Vorstellungen von Barbaren thematisieren, ohne dass dadurch in unkritischer Weise antike Stereotype reproduziert werden? – In welcher Weise wurden in nachantiker Zeit Barbarenbegriffe und Völkerwanderungsanalogien verwendet und wie sind diese Aktualisierungsversuche zu beurteilen? Das Ernstnehmen von Gewalterfahrungen, die in Barbarenkonzepte der Römer eingeflossen sind, bedeutet keineswegs, dass ihnen eine moralische Überlegenheit gegenüber anderen Völkern zuzuerkennen wäre. Es besteht kein Anlass dazu, einem antiken Imperium einen solchen Anspruch zuzubilligen, dessen Bürger sich an öffentlichen Hinrichtungen in Amphitheatern delektierten und dessen Feldherren sich mit dem Abschlachten möglichst vieler Feinde brüsteten.30 Hinzu kommt, dass sich Erfahrungen von Gewalt und Instabilität in der Geschichte Roms keineswegs immer auf äußere Invasoren zurückführen lassen. Schon die Bürgerkriege der späten Republik zeigten deutlich genug, dass es 27 Vgl. zur Bedeutung von Gewalt in germanischen Kontexten den Beitrag von Lennart Gilhaus im vorliegenden Band sowie Hasenfratz 2009, S. 285–289. 28 Zur – heiklen – Frage eines möglichen Realitätsbezugs mancher Feindbilder im Rekurs auf Kissinger: Hartmann 2003, S. 34; ähnlich Buc 2015, S. 114 und 276 (bezogen auf das aus seiner Sicht reale, nicht nur ›topische‹ Massaker der Kreuzfahrer an der Bevölkerung Jerusalems im Jahr 1099). 29 Zum erfahrungsgeschichtlichen Zugriff bereits Sonnabend 2010. Allerdings scheint Sonnabend den Erfahrungsgehalt antiker Quellen unter Verweis auf deren Topik insgesamt eher skeptisch zu veranschlagen, z. B. ebd. S. 41. 30 Vgl. Zimmermann 2013, S. 250; zum Amphitheater: ebd. S. 350f. (allerdings unter Hinweis auf den teilweise topischen Charakter literarischer Grausamkeitsdarstellungen). Armin Eich kommt mit Blick auf Massaker römischer Armeen zu folgender Feststellung: »Der militärische Terror symbolisierte den Anspruch einer uneingeschränkten Vollgewalt über Leben und Tod jeder Kreatur.« Eich 2015, S. 218, zu den tödlichen Spielen mit zahlreichen literarischen Quellenbelegen: Beck 2016; geschichtsdidaktisch zur Fremdheit Roms: Bernhardt 2013, S. 13– 34.
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keineswegs immer fremde Heerscharen waren, die Leid und Verderben über die römische Bevölkerung brachten, sondern oft genug römische Truppen.31 Die Situation verkomplizierte sich in der Spätantike noch dadurch, dass die Kategorien ›barbarisch‹ und ›römisch‹ angesichts der zunehmenden Bedeutung germanischer Kontingente im römischen Heer nicht mehr trennscharf waren.32 Fremde Invasoren waren somit keine exklusive Quelle von Gewalt und Leid, daraus lässt sich aber nicht die kontraintuitive Schlussfolgerung ableiten, dass von kampferprobten Germanenverbänden auf römischem Territorium kein berechtigtes Bedrohungsgefühl für die dort schon länger ansässige Bevölkerung ausgegangen wäre.33
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Antike Barbaren im Geschichtsunterricht: zwei aktuelle Schulbuchbeispiele
Die Völkerwanderung eignet sich als Stoff für dramatische und erschreckende Bilder. Als geradezu idealtypisches Beispiel hierfür sei eine Buchillustration von André Durenceau vorgestellt, die sich in der deutschen Fassung des populärwissenschaftlichen Werkes Kaiser, Ritter und Patrizier. Prunk und Pracht des Mittelalters in Wort und Bild von 1975 findet (National Geographic Society / Ringier). Dargestellt ist die Plünderung Roms durch Alarichs Westgoten im Jahr 410 n. Chr.34 Da dieses Historiengemälde im Stil zeitgenössischer ›Sandalenfilme‹ hier nicht reproduziert werden kann, sei es im Folgenden etwas ausführlicher beschrieben: Hochdramatisch inszeniert Durenceaus Bild das brutale Treiben von Barbaren auf dem Forum Romanum, das durch eine Feuersbrunst in ein gespenstisches Licht getaucht wird: Alarichs Westgoten fallen über Rom her. Sie rauben, brandschatzen, entführen, vergewaltigen und töten. Schutzlos ist ihnen das 31 Vgl. etwa das Beispiel der Proskriptionen und Konfiskationen unter dem zweiten Triumvirat: Christ 1979, S. 434–436. 32 So deutet z. B. Mathisen die Einnahme Roms 410 als innerrömisches Ereignis (Konflikt zwischen dem in römischen Diensten stehenden Alarich und Kaiser Honorius): vgl. Mathisen 2013, S. 93f; dagegen lässt sich einwenden, dass dem Zugriff auf Rom keine kaiserliche Anordnung zugrunde lag. Vgl. von Rummel 2013, S. 26; zur Problematik der Grenzziehung zwischen ›römisch‹ und ›nichtrömisch‹ ferner: Steinacher (»Man baut wütende Barbaren auf«, ohne Datum); zur politischen und interessenabhängigen Relativität der Zuschreibungen ›römisch‹ und ›barbarisch‹: Meier / Patzold 2013, S. 19. 33 So räumt auch der die Revision des »Zerrbildes von den plündernden, mordenden, sengenden Barbaren« lobende Holger Sonnabend »Plünderungs- und Beutezüge« bis hin zur Einnahme Roms 455 n. Chr. als real ein. Sonnabend 2010, S. 36 und 37f. 34 Durenceau in Setton 1975, S. 24f. Das Erscheinungsdatum der amerikanischen Erstausgabe konnte nicht mit hinreichender Sicherheit ermittelt werden.
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Zentrum der Welt und der Zivilisation ausgeliefert. Das brennende Staatsarchiv verweist darauf, dass sie auch vor der Zerstörung des »kulturellen Gedächtnisses« (Jan Assmann)35 der Römer nicht Halt machen. Der Aufbau des Gemäldes ist klar und mit einer eindeutigen Botschaft versehen: In der rechten Bildhälfte sucht die bedrohte Zivilisation verzweifelt Zuflucht, repräsentiert durch die Zivilbevölkerung Roms, darunter Mütter, die sich schützend über ihre Töchter beugen, eine Frau mit Kleinkind auf dem Arm, ein niedergestreckter, offenbar sterbender Greis, weiter hinten auf der Rednertribüne und den Stufen des ConcordiaTempels Männer in Toga, vielleicht Senatoren, und vor dem Triumphbogen des Septimius Severus ein paar römische Soldaten, Repräsentanten der zerstörten staatlichen Ordnung, die das Geschehen als hilflose Statisten beobachten müssen. Im scharfen Kontrast dazu stehen in der linken Bildhälfte die Westgoten, die hier die Barbarei als den Gegenpol der Zivilisation schlechthin verkörpern, hab-gierig, gewalttätig, eine Horde von Schwerverbrechern, vereinzelt assistiert durch römische Überläufer. Besonders exponiert ist ein Kämpfer mit ungepflegt herunterhängendem Schnurrbart, wildem Blick und gezücktem Langschwert, drohend nach vorn gebeugt, fast in der Haltung eines Gorillas – Alarich? Weitere Barbaren tragen römischen Hausrat und Kunstgegenstände zusammen. Sexuelle Gewalt beherrscht große Teile der linken Bildhälfte, repräsentiert durch gotische Krieger, die entblößte weibliche Körper packen und wegschleppen. Auf dem Forumspflaster liegen erschlagene Römer; einem römischen Soldaten wird gerade ein Schwert in die Brust gerammt. Es bedarf keiner besonderen Interpretationskompetenz, um zu erkennen, wie der Maler hier die Rollen verteilt wissen will: Römerinnen und Römer – und mit ihnen die hochstehende antike Zivilisation – sind die Opfer; Goten sind nicht nur Täter, sondern die Inkarnationen des Bösen überhaupt. Dies ist im Wesentlichen der Eindruck, den André Duranceaus Gemälde bei den meisten Betrachtern hervorrufen dürfte.36 Eben dieses Bild findet sich in dem 2014 erschienenen Schulbuch Geschichte und Geschehen (Klett) wieder, das für den Oberstufenunterricht in NordrheinWestfalen konzipiert wurde – und zwar mit folgender Legende: »Eroberung Roms auf einem Historiengemälde – eine realistische Darstellung?«37 Es handelt 35 Assmann 2007. Die Bildlegende hebt eigens hervor, dass es sich um das »Reichsarchiv« handle; zudem verleiht sie dem dargestellten Geschehen eine melancholische Vanitas-Note durch die Feststellung, dass sich die Römer »inmitten der Denkmäler vergangener Größe« versammelt hätten. Setton 1975, S. 25. Bei der Darstellung des Baubestandes auf dem Forum Romanum ist das Gemälde einem gewissen Realismus verpflichtet, während andere Details wie die Rüstungen römischer Soldaten für die Spätantike anachronistisch sind. 36 In der visuellen Darstellung der Barbaren bei Duranceau fallen Parallelen zu den von Uwe Baumann im vorliegenden Band untersuchten Comics auf, insbes. zu Abb. 2. 37 Geschichte und Geschehen 2014, S. 28. Im Folgenden geht es nicht um das kritische Zerpflücken von im Ganzen gelungenen Schulbuchkapiteln; die betrachteten Seiten bieten vielmehr Anlass zum Nachdenken über geschichtsdidaktische Probleme, die über diese
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sich hier um eine Frage, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Darstellung anregen soll. Sie ist allerdings sehr suggestiv formuliert, was den Schülerinnen und Schülern kaum entgehen kann. In der Folge stellen sie sich in ihrem Antwortverhalten wahrscheinlich auf den ungeschriebenen, aber mutmaßlich intuitiv für sie erfassbaren Erwartungshorizont ein – vielleicht mit folgendem Gedanken: »Hier soll ich betonen, dass die Darstellung die Germanen in unfairer Weise als wilde und gefährliche Menschen abqualifiziert, obwohl sie sich doch bei der Einnahme Roms recht zivilisiert verhalten haben.« Auf einen solchen Erwartungshorizont deuten auch eine auf derselben Seite abgedruckte Textquelle sowie ein Arbeitsauftrag hin, der diese und das Bild aufeinander bezieht: »Überprüfen Sie, inwieweit das Historiengemälde von der Eroberung Roms (Q 11) mit den Angaben der ›Überlieferung‹ (Q 10) übereinstimmt.«38 Bei der Textquelle handelt es sich um einen Auszug aus der Mitte des 6. Jahrhunderts entstandenen Gotengeschichte des Jordanes.39 Darin wird die Plünderung Italiens einschließlich Roms durch die Westgoten beschrieben, zugleich aber das maßvolle Verhalten der Germanen in der alten Hauptstadt des Imperiums hervorgehoben: »Sie legten jedoch nicht, wie es wilde Völker gewöhnlich tun, Feuer und duldeten nicht, dass die heiligen Orte irgendwie entweiht wurden.«40 Zwar werden die Schülerinnen und Schüler in einem vorgeschalteten Arbeitsauftrag aufgefordert, die gotischen Wurzeln des Jordanes bei der Rekonstruktion seiner Beurteilung des Geschehens von 410 n. Chr. zu berücksichtigen.41 Haften bleibt aber wohl eher das Bild eines germanischen Stammes, der sich wenigstens in der ewigen Stadt vergleichsweise maßvoll und respektvoll, vor allem gegenüber der Religion, verhalten hätte.42 Folgt man jedoch der von Ralph Mathisen zusammengestellten Quellenübersicht zur Plünderung Roms, so ergibt
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Lehrwerke hinausweisen. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags ist sich der Tatsache bewusst, dass Schulbücher starken Reduktionszwängen unterliegen, die ihn selbst bei der Gestaltung eines Schulbuchkapitels zum hier behandelten Thema ebenfalls vor schwierige Herausforderungen stellen würden. Einen Vorschlag des Verfassers zur weiteren kritischen Diskussion bietet im vorliegenden Band: Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier für den Geschichtsunterricht. Geschichte und Geschehen 2014, S. 29, Arbeitsauftrag Nr. 18. Ebd. S. 28, Quelle Nr. 10; zum Autor knapp: Müller 2002, S. 172. Geschichte und Geschehen 2014, S. 28, Q 10 (der Quellenangabe dort zufolge in der Übersetzung von Birgitt Neuwald). Vollständig klammert das Lehrwerk das Thema Gewalt mit Blick auf Alarichs Zug nach Süden nicht aus. Für Regionen Italiens außerhalb Roms werden in dem zitierten Quellenauszug durchaus Verheerungen durch die Westgoten eingeräumt: »[…] dort [in Ligurien, Anm. P. Geiss] machten sie reiche Beute, verwüsteten dann ebenso die Aemilia und zogen […] bis zur Stadt Rom […].« Ebd. Geschichte und Geschehen 2014, S. 29, Arbeitsauftrag Nr. 16. Ähnlich auch Heather 2006 u. a., S. 227 (»one of the most civilized sacks«).
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sich ein weniger eindeutiges Bild, das Gewaltausübung einschließt.43 Selbst der das Ereignis tendenziell verharmlosende Christ Orosius weist klar auf Brandschatzung hin.44 Augustinus erwähnt in de civitate Dei die Vergewaltigung von Frauen und andere Gewalttaten in so drastischer Form, dass man wohl nicht von Einzelfällen ausgehen kann und es schwer fällt, in dem Ereignis von 410 einen geordneten oder gar zivilisierten Vorgang zu sehen.45 Auch an anderer Stelle verweist der Kirchenvater auf Berichte von massiven Gewalterfahrungen: »Grauenhaftes wurde uns vermeldet: Mord, Brandstiftung, Raub, Totschlag, Folterung der Menschen. Es ist wahr, wir haben viel vernommen, alles beklagt, oft geweint und sind kaum getröstet worden; ich streite es nicht ab, noch leugne ich, viel gehört zu haben, vieles, das sich in jener Stadt [Rom, Anm. P. Geiss] zugetragen hat.« »Horrenda nobis nuntiata sunt: strages factae, incendia, rapinae, interfectiones, excruciationes hominum. Verum est, multa audiuimus, omnia gemuimus, saepe fleuimus, uix consolati sumus; non abnuo, non nego multa nos audisse, multa in illa urbe essse commissa.«46
Da diese Aussagen der Argumentationstendenz des Augustinus zuwiderlaufen, der das Ereignis aus theologischen Gründen in seiner Bedeutung herabstuft, sollte man die von ihm erwähnten Berichte nicht mit reiner Konstruktion gleichsetzen.47 Mit Mischa Meier und Steffen Patzold wird man vielmehr von einem »für die Zeitgenossen wohl eher traumatisierende[n] Geschehen« sprechen und Konrad Vössing darin folgen müssen, dass moderne Verharmlosungen der in den Quellen geschilderten Gewalterfahrungen unangemessen sind.48 In einem multiperspektivisch angelegten Schulbuchdossier könnten dem Bericht des Jordanes über die angeblich bei der Plünderung fast wie ›Gentlemen‹ agie-
43 Mathisen 2013, hier S. 89–93. 44 Orosius, Buch VII, Kap. 39, 15 (Übers. Lippold 1986, Bd. 2, S. 221); zit. und kommentiert in Mathisen, 2013 S. 90; zur verharmlosenden Darstellung des Ereignisses bei Orosius: Pohl, 2005, S. 16; zur Geschichtskonzeption des Orosius auch Löwith 1990, S. 187–196. Ein eindrucksvolles analytisches Tableau zentraler Narrationen zur Einnahme Roms 410 n. Chr. bieten Meier / Patzold 2013. Archäologisch ist ein erschütterndes Zerstörungsereignis offenbar weder be- noch widerlegbar. Vgl. von Rummel 2013, S. 26f. 45 Augustinus zit. nach Mathisen, 2013, S. 89 und Anm. 29 und weitere Auszüge zu Grausamkeiten in Meier / Patzold 2013, S. 40–42. Für die Glaubwürdigkeit der Berichte des Augustinus spricht besonders, dass sie nicht zu seinem Argumentationsanliegen passen. Vgl. Konrad Vössing, 2018, S. 1228 (mit Kritik an verharmlosenden Darstellungen der Einnahme Roms in der modernen Historiographie). 46 Augustinus, lat. Text und dt. Übers. zit. nach Goetz / Patzold / Welwei (Hg. / Übers.) 2006, S. 324–327. 47 Vgl. Vössing 2018b, Sp. 1227f. Vogt konstatiert bei Augustinus Erschütterung über das Ereignis von 410, zugleich aber auch Relativierung, was dessen Bedeutsamkeit in theologischer Perspektive betrifft. Vgl. Vogt, 1967, S. 48. 48 Meier / Patzold 2013, S. 66; Vössing 2018b, Sp. 1223 und 1227f.
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renden Goten sicherlich Quellen gegenübergestellt werden, die auf Erfahrungen von Angst, Gewalt und Leid verweisen.49 Zwar wird im zitierten Schulbuch auch der Wahrheitsgehalt der Schilderung bei Jordanes durch eine problematisierende Überschrift hinterfragt: »Die Goten – ›rücksichtsvolle‹ Eroberer?«50 Von einer Gleichbehandlung beider Sichtweisen – der dramatisierenden Durenceaus und der verharmlosenden des Jordanes – kann aber nicht die Rede sein, da nur letztere durch eine antike Quelle repräsentiert wird, während die Schülerinnen und Schüler schon an der Bildlegende sofort erkennen sollten, dass die hochsuggestive ›Rekonstruktion‹ aus dem 20. Jahrhundert keinerlei Quellenwert für das Geschehen von 410 n. Chr. beanspruchen kann. Die Schieflage verstärkt sich noch dadurch, dass der oben zitierte Arbeitsauftrag den Text des Jordanes nicht als ein Zeugnis aus der Überlieferung adressiert, sondern von »den Angaben der Überlieferung« spricht – fast so, als ob es zu dem Ereignis keine anderen Quellen gäbe.51 Dies steht gerade angesichts der späten Zeitstellung und perspektivischen Prägung der von Jordanes verfassten Schilderung in einem Spannungsverhältnis zu quellenkritischen Standards des Faches, auch wenn hier sicherlich einzuräumen ist, dass nachvollziehbare unterrichtspraktische Gesichtspunkte einer Ausweitung der Materialbasis entgegengestanden haben könnten.52 Im Hintergrund dieser vergleichsweise ›gotenfreundlichen‹, die Geschichte des Jordanes fortschreibenden Quellenauswahl und Aufgabenstellung stehen mutmaßlich Lehrplanvorgaben, die auf den Abbau von Stereotypen und Vorurteilen zielen – ein Anliegen, das aus gutem Grund zentral zum freiheitlichdemokratischen Erziehungsauftrag der Schule gehört;53 bezogen auf militärische Konfliktzusammenhänge der spätantiken Völkerwanderung verhindert die im Schulbuch konkret gewählte Vorgehensweise aber das Verstehen von historisch plausiblen Extremerfahrungen mit Aggression und Bedrohung, die hier mit Blick auf die Einnahme Roms im Jahr 410 n. Chr. als gegenstandslos ausgeblendet werden, weil offenbar auch die in den Quellen erschließbare Gewalterfahrung als Konstrukt identifiziert werden muss, um dem Lehrplan entsprechend den »Konstruktcharakter des Begriffs Fremdsein« zu betonen.54 Diese moralische Entlastung spätantiker Kämpfer ist aber pädagogisch gar nicht nötig und wird vom Lehrplan überhaupt nicht verlangt, denn das Erkennen von Konstrukten und die Auseinandersetzung mit ihnen impliziert ja nicht, dass die überaus 49 Dazu die Quellen in der in Anm. 45 zit. Literatur und der oben in Anm. 37 bereits erwähnte Dossiervorschlag im vorliegenden Band. 50 Geschichte und Geschehen 2014, S. 28, Quelle Nr. 10. 51 Ebd. S. 29, Arbeitsauftrag Nr. 18 (Kursivierung im Zitat hier durch P. Geiss). 52 Vgl. zu Arbeitskontext und Intentionen des Jordanes Meier / Patzold 2013, S. 100–112. 53 Vgl. etwa § 2 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen, zuletzt geändert am 21. Juli 2018; zum Lehrplanhintergrund das voranstehende Zitat in Anm. 17. 54 Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen (Hg.) 2014, S. 17.
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betrübliche Rolle des Faktors Gewalt in der Menschheitsgeschichte verneint werden müsste oder dürfte: Gewalttätig waren die Westgoten nicht, weil sie mit einer ›kulturtypisch gotischen Brutalität‹ ausgestattet gewesen wären (dies wäre in der Tat ein Stereotyp), sondern weil sie sich als siegreiche Invasoren einer Stadt bemächtigen konnten.55 Hinzu kommt, dass die Westgoten, von denen die Aggression hier ausging, keine unverrückbar feststehende Entität mit ebenso fixierten Eigenschaften – etwa besonderer Neigung zu Gewalt – waren, sondern aus konstruktiven Prozessen der »Ethnogenese« hervorgegangen sind.56 Für die um Leib und Leben oder zumindest Hab und Gut fürchtenden Stadtrömerinnen und -römer des Jahres 410 änderten solche in der Rückschau möglichen Differenzierungen allerdings wenig: Für sie war der unsanft an die Haustür klopfende Gote weder ein »Konstrukt« noch das volatile Zwischenergebnis komplexer ethnogenetischer Prozesse, sondern – wer will es der Hauptstadtbevölkerung verdenken – der sehr reale, substanzielle und gefährliche Barbar. Gewalterfahrung lässt sich nur um den Preis einer Ideologisierung von Geschichtsbetrachtung ausblenden, die für das historische Lernen ebenso wenig sinnvoll sein kann wie z. B. die alarmistische Heranziehung des Völkerwanderungsvergleichs im Kontext aktueller Debatten über Migration.57 Mit dem legitimen demokratiepädagogischen Kernanliegen des genannten Lehrplan-Inhaltsfeldes – dem Aufbrechen potenziell xenophober Fremdheitskonzepte – ließe sich durchaus eine fachlich differenziertere Vorgehensweise verbinden: Man muss den Gewaltcharakter der Völkerwanderung nicht ausblenden, um im historischen Lernen erkennbar zu machen, dass die Konstruktion des Fremden auch davon abhängt, wie sich Menschen zu ihren Erfahrungen positionieren, dass sie also nicht einfach und restlos durch Erfahrungen determiniert ist.58 Dass Menschen als zur Reflexion eigener Empfindungen fähige Wesen keinesfalls gezwungen sind, das von ihnen als fremd Wahrgenommene pauschal mit ›dem Bösen‹ oder ›Gefährlichen‹ gleichzusetzen, zeigt das spätantike Beispiel des Priesters Salvian von Marseille. In seinem gegen 439 n. Chr. geschriebenen Werk De gubernatione Dei richtet er einen ungewöhnlichen Blick
55 Zu Geschehen und Quellenlage detailliert Mathisen 2006. 56 Zur Ethnogenese vgl. Castritius 2005; zur rückblickenden historiographischen Konstruktion von West- und Ostgoten bei Jordanes: Meier / Patzold 2013, S. 100–112. 57 Zur Gefahr der Ideologisierung: Borgolte 2014, S. 445–473, hier S. 446f. (insbes. bezogen auf Indienstnahmen der Völkerwanderung für den Europagedanken); zur Forderung nach einer (nie ganz erreichbaren) Entideologisierung von Wissenschaft anregend: Wilhelmy 2017, S. N4; vgl. zu problematischen Aktualisierungen der Völkerwanderung Konrad Vössing und Roland Steinacher (»Wandernde Barbaren […]«) im vorliegenden Band und die nachfolgenden Beobachtungen, s. u. S. 305–307. 58 Zu Möglichkeiten einer positiven Transformation der Wahrnehmung des Fremden im Rahmen des Konzepts »Gastlichkeit«: Waldenfels 2007, insbes. S. 368.
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auf die Barbaren.59 Zwar schleppt er in seiner Darstellung offenkundig bei seinen Lesern fest etablierte Stereotype über ›die Franken als solche‹ etc. mit, wertet die fremden Invasoren aber moralisch gegenüber den Römern auf, deren Sündhaftigkeit sie barbarischer Herrschaft unterworfen habe: »Wenn daher, wie sie sagen, Gott die menschlichen Angelegenheiten betrachtet, wenn er sich kümmert, liebt und lenkt, warum erlaubt er dann, dass wir allen Völkern unterlegen und elender sind als sie? Warum duldet er, dass wir von den Barbaren besiegt und dem Recht der Feinde unterworfen werden? Um es kurz zu machen, wie ich schon zuvor gesagt habe, er duldet unser Leiden an diesen Übeln deshalb, weil wir verdienen, dass wir dies erleiden. Richten wir den Blick nämlich auf die Schändlichkeiten, Untaten und Verbrechen des römischen Volkes, die ich oben erwähnt habe, und verstehen wir, ob wir Schutz verdienen können, wenn wir in solcher Unreinheit leben.« »Si ergo, inquiunt, respicit res humanas deus, si curat, si diligit, si gubernat, cur nos infirmiores omnibus gentibus et miseriores esse permittit? cur vinci a barbaris patitur? cur iuri hostium subiugari? Brevissime, ut iam ante dixi, ideo nos perferre haec mala patitur, quia meremur ut ista patiamur. Respiciamus enim ad turpidudines, ad flagitia, ad scelera illa Romanae plebis, quae supra diximus, et intellegemus, si protectionem mereri possumus, cum in tanta impuritate vivamus.«60
Salvian betont im weiteren Argumentationsgang, dass die Barbaren zwar Häretiker oder Heiden, die Römer ihnen in dieser Hinsicht also (unverdient) überlegen seien, dass dies aber für die Moralität der Lebensführung nicht gelte. Hier müssten die Römer den Barbaren insofern sogar als unterlegen gelten, als höhere Ansprüche an sie zu stellen seien: »Denn da alle, wie wir zuvor schon gesagt haben, Barbaren oder Heiden sind oder Häretiker, so möchte ich mit den Heiden beginnen, da ihr Irrtum der ältere ist: Das Volk der Sachsen ist wild, das der Franken treulos, das der Gepiden unmenschlich, das der Hunnen schamlos, das Leben aller Barbarenvölker schließlich ist Lasterhaftigkeit. Aber weisen denn ihre Laster etwa dieselbe Schuldhaftigkeit auf wie unsere, ist die Schamlosigkeit der Hunnen so verbrecherisch wie unsere, die Treulosigkeit der Franken so anzuklagen wie unsere, oder der Alkoholismus des Alamannen so tadelnswert wie der Alkoholismus des Christen, oder die Räuberei des Alanen so verurteilenswert wie die Räuberei des Christen? Wenn der Hunne oder Gepide täuscht, wen wundert dies, da er doch die Schuld des Täuschens ganz und gar nicht kennt? Was ist neu daran, dass der Franke Meineide schwört, da er doch den Meineid für eine Art des Gesprächs hält, nicht des Verbrechens.«
59 Zu Person und Werk und Intentionen knapp: Goetz / Patzold / Welwei (Hg. / Übers.) 2006, S. XXII–XXXIV, hier S. XXXIII. 60 Salvianus, De gubernatione Dei, IV, 12, 54–55, deutscher Text unter Nutzung der Übersetzung in: Goetz u. a. (Hg. / Übers.) 2006, S. 491–493; lateinischer Text zit. nach: Edition Halm (Hg.) 1877 (DMGH), S. 47.
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»Nam cum omnes, ut iam ante diximus, barbari aut pagani sint aut haeretici, ut de paganis, quia prior illorum error est, prius dicam, gens Saxonum fera est, Francorum infidelis, Gipidarum inhumana, Chunorum impudica, omnium denique gentium barbarorum vita vitiositas. Sed numquid eundem reatum habent illorum vitia quem nostra, numquid tam criminosa est Chunorum impudicitia quam nostra, numquid accusabilis Francorum perfidia quam nostra, aut tam reprehensibilis ebrietas Alamanni quam ebrietas Christiani, aut tam damnabilis rapacitas Alani quam rapacitas Christiani? Si fallat Chunus vel Gipida, quid mirum est, qui culpam penitus falsitatis ignorat? Si perieret Francus, quid novi faciet, qui periurium ipsum sermonis genus putat esse, non criminis?«61
Diese ganz offenkundig überreich von Vorurteilen durchzogene Umwertung des Barbarischen62 als dem Römischen moralisch überlegen ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Adressaten für sie krisenhafte Erfahrungen mit bewaffneten Nichtrömern gemacht haben, die hier in moraltheologischer Absicht als wohlverdiente Strafe Gottes neu perspektiviert werden. Reine Topik ohne jeden lebensweltlichen Bezug könnte eine solche Rolle in der Argumentation wahrscheinlich kaum übernehmen.63 Ergebnisoffener als die – möglicherweise so gar nicht intendierte – Verharmlosung des ›Gotenbesuchs‹ von 410 n. Chr. ist im oben zitierten Schulbuch Geschichte und Geschehen der Umgang mit der Aufnahme einer großen Zahl von Goten auf das römische Reichsgebiet, die im Jahr 376 n. Chr. Kaiser Valens genehmigt hatte. Das Lehrwerk gibt in gekürzter Form den berühmten Bericht des spätrömischen Historikers Ammianus Marcellinus wieder, der nachfolgend im Auszug zitiert sei. Hintergrund der Passage ist ein Vorstoß der damals als besonders furchterregend geltenden Hunnen, durch den verschiedene andere gentes, unter ihnen die Goten, aus ihren Siedlungsgebieten jenseits der Donau vertrieben worden waren.64 Die Dramatik der Situation sei den Römern erst 61 Salvianus, De gubernatione Dei, IV, 14, 67–68, deutscher Text unter Nutzung der Übersetzung in Goetz u. a. (Hg.) 2006, S. 493; lateinischer Text: Edition Halm (Hg.) 1877 (DMGH), S. 49. 62 Salvian war hier nicht isoliert. Zu seiner Einordung in ein spätantikes Umdenken gegenüber den Barbaren: Vogt 1967, S. 58f. und 65. Zugleich orientierte er sich Vogt zufolge – wie in den Zitaten oben deutlich sichtbar – an »traditionellen Vorstellungen von den Feinden Roms«. Ebd. S. 59. Eine in der Umwertung des Barbarenbegriffs ähnliche Denkfigur findet sich später in Montaignes berühmtem Eassai Des cannibales, der allerdings nicht theologisch, sondern eher relativistisch argumentiert – » chacun appelle barbare ce qui n’est pas de son usage « – und den Europäern unter Verweis auf die französischen Religionskriege ein höheres Maß an Grausamkeit attestiert als den damals als Anthropophagen betrachteten Indigenen Südamerikas. Montaigne, Ed. Micha 1969 [1595], Buch I, 30. Kapitel, S. 251–263, hier S. 254 (voranstehendes Zitat) und 258f. (Religionskriege). 63 Vgl. Pohl 2005, S. 106. Sonnabend spricht hier und mit Blick auf Augustinus zutreffend davon, dass die Erfahrung mit »Migration und Migranten« im »religiös-politischen Diskurs instrumentalisiert worden« sei. Sonnabend 2010, S. 42. 64 Vgl. zur unmittelbaren Vorgeschichte: Ammianus Marcellinus, Buch 31,3, Übers. Veh 1974, S. 714–717.
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bewusst geworden, als die auf der Flucht befindlichen Goten unmittelbar an ihrer Reichsgrenze ankamen und Gesandte zum Kaiser schickten:65 »Allmählich konnte man aber den Ereignissen größeren Glauben schenken, und die Ankunft von Gesandten aus dem Barbarenland bestärkte ihn noch. Flehentlich und unter Beschwörungen baten sie [die Gesandten der Goten vor Valens], die landflüchtige Volksmenge diesseits des Stromes aufzunehmen. Die Angelegenheit weckte indessen mehr Freude als Angst, da Schmeichler des Kaisers Glück in den höchsten Tönen priesen, das ihm aus den fernsten Gegenden so viele Jungmannschaften zuführe und ihm wider Erwarten die Möglichkeit anbiete, die eigenen und fremdstämmigen Streitkräfte zu vereinen. Außerdem fließe jetzt statt des Mannschaftsersatzes, wofür jährlich nach Provinzen Steuer gezahlt werden mußte, eine große Menge Gold in den Staatsschatz. In dieser Hoffnung schickte man verschiedene Beamte mit dem Auftrag ab, die wilde Menschenmenge samt ihren Fahrzeugen über den Fluß herüberzuholen, und alle Sorgfalt wurde darauf verwendet, dass kein einziger von den künftigen Reichszerstörern, und sei er selbst von tödlicher Krankheit ergriffen, zurückgelassen wurde. Die Goten bekamen auf diese Weise mit Erlaubnis des Kaisers die Möglichkeit, die Donau zu überqueren und Teile Dakiens zu bewohnen […].« »uerum pubescente fide gestorum, cui robur aduentus gentilium addiderat legatorum precibus et obstinatione petentium citra flumen suscipi plebem extorrem, negotium laetitiae fuit potiusquam timori eruditis adulatoribus in maius fortunam principis extollentibus, quae ex ultimis terris tot tirocinia trahens ei nec opinianti offerret, ut collatis in unum suis et alienigenis uiribus inuictum haberet exercitum et pro militari supplemento, quod prouinciatim annuum pendebatur, thesauris accederet auri cumulus magnus. hacque spe mittuntur diuersi, qui cum uehiculis plebem transferant truculentam. et nauabatur opera diligens, ne qui Romanam rem euerturus relinqueretur uel quassatus morbo letali. proinde permissu imperatoris transeundi Danubium copiam colendique adepti Thraciae partes transfretabantur […].«66
Die weitere Entwicklung kann hier nur skizziert werden: Es kam zu Spannungen zwischen Römern und den schlecht versorgten und behandelten Neuankömmlingen; dem folgten militärische Auseinandersetzungen, die 378 n. Chr. in der Schlacht von Adrianopel und der Vernichtung des oströmischen Heeres gipfelten – und am Ende musste das Imperium 382 n. Chr. unter Kaiser Theodosius die dauerhafte Präsenz eines geschlossenen gotischen Verbandes auf seinem Territorium vertraglich akzeptieren.67 Ammianus Marcellinus zeichnet die Entschei65 Vgl. Ammianus Marcellinus, Buch 31,4, Übers. Veh, S. 717f. 66 Voranstehende Passagen aus: Ammianus Marcellinus, Buch 31,4–5, zit. in der deutschen Übers. von Veh 1974, S. 718 (in anderer Übers. zit. in Geschichte und Geschehen 2014, S. 34); und im lateinischen Text nach der Edition Seyfahrt (Hg.) 1978, S. 169; zu den Ereignissen knapp: Paul Petit 1974, S. 141. 67 Zum Voranstehenden: Heather 2006, S. 158–184; ferner Meier 2019, S. 171–183. Eine ausführlichere Kontextualisierung kann hier unterbleiben, da dieser Ereigniszusammenhang Gegenstand einer detaillierten Analyse von Konrad Vössing im vorliegenden Band ist.
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dung des Valens im Wissen um die konfliktreichen Folgen sehr düster und kommentiert die römische Unterstützung der Germanen bei deren Donauüberquerung wie folgt: »Ita turbido instantium studio orbis Romani pernicies ducebatur« – »So holte man im stürmischen Eifer um die dräuenden Gefahren bemüht, das Verderben selbst in die römische Welt hinein.«68 Doch zurück zum zitierten Schulbuch Geschichte und Geschehen: In einem Arbeitsauftrag werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, Vor- und Nachteile – wörtlich »Segen oder Fluch« – der kaiserlichen Maßnahme von 376 n. Chr. aus römischer und germanischer Sicht zu diskutieren.69 Der interpretatorische Umgang mit dem Ereignis, den das Buch anregen will, ist daher – anders als bei der Betrachtung der Einnahme Roms 410 n. Chr. – nicht suggestiv; Arbeitsauftrag und Quelle lassen vielmehr eine multiperspektivische Betrachtung zu, sofern die auch ohne weitere Literatur bei Ammianus Marcellinus erkennbare Tendenz zur kritischen, ja polemischen Beurteilung der Politik des Kaisers Valens den Lernenden bewusst gemacht wird.70 Zu einer besonders kritischen Auseinandersetzung mit den Wertungen dieser Quelle regt das konkurrierende Schulbuch Buchners Kolleg Geschichte in einem von Jochen Oltmer bearbeiteten Kapitel an: Die Schülerinnen und Schüler sollen das Urteil des Ammianus Marcellinus über die Vorgänge des Jahres 376 n. Chr. »bewerten«,71 was in der Begrifflichkeit der nordrhein-westfälischen Operatorenliste bedeutet, dass sie ein »Werturteil« fällen, »das auf den Wertvorstellungen des Grundgesetzes basiert«.72 Dabei sollen sie »aktuelle politische Diskussionen« berücksichtigen.73 Gänzlich ungesteuert ist dieses »Bewerten« nicht, da die Lernenden eine wenige Seiten zuvor präsentierte These Josep Fontanas einbeziehen sollen, der zufolge der Hinweis auf die Bedrohung Roms durch Barbaren in der Antike wie auch heute noch ein willkommenes Manöver sei, um von hausgemachten Gesellschaftsproblemen abzulenken.74 Mit Blick auf Ammianus Marcellinus bedeutet dies – wie etwa auch von Holger Sonnabend betont –, dass die für die Stabilität des Imperiums gefährliche Übersiedlung der Goten ins römische Gebiet als Ausdruck von »Vorurteilen und Stereotypen im Hinblick auf die 68 Ammianus Marcellinus, Buch 31,4,5, lat. Ed. Seyfahrt, S. 169, dt. Übers. Veh 1974, S. 718. 69 Geschichte und Geschehen 2014, S. 35, Arbeitsauftrag Nr. 12. 70 Vgl. zur fehlenden Neutralität des Ammianus Marcellinus ebenfalls den Beitrag von Konrad Vössing im vorliegenden Band; zur geschichtsdidaktischen Begründung von Multiperspektivität klassisch Bergmann 2007. 71 Buchners Kolleg Geschichte 2014, S. 27f., Arbeitsauftrag Nr. 4, ebd., S. 28 (die hier besprochenen Seiten in dem von Maximilian Lanzinner herausgegebenen Band sind im Impressum als »bearbeitet von« Jochen Oltmer ausgewiesen). 72 Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, Übersicht über die Operatoren (ohne Datum). 73 Buchners Kolleg Geschichte 2014, S. 28, Arbeitsauftrag Nr. 4. 74 Ebd. sowie Textauszug von Josep Fontana ebd. S. 15.
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germanischen Völker«75 zu lesen ist. Auch hier gilt in der Tendenz: Die Goten sind die Guten, zumindest tun sie nichts wirklich Bedrohliches. Die Thematisierung der Einnahme Roms durch die Westgoten in Geschichte und Geschehen und die Präsentation des gotischen Donauübergangs 376 n. Chr. in Buchners Kolleg Geschichte stimmen tendenziell darin überein, dass militärische Bedrohungen durch bewaffnete Barbarenverbände als konstruiert entlarvt und damit auf römischer Seite entsprechende Wahrnehmungen – zumindest tendenziell – als unberechtigt abgetan werden. Die Alternative zu diesem didaktischen Vorgehen liegt ganz sicher nicht darin, ein essentialistisches76 Barbarenkonzept zu rehabilitieren; sie liegt viel eher darin, hinter der spätrömischen Charakterisierung von Bedrohungs- und Gewalterfahrungen in der Begegnung mit Barbaren nicht nur konstruierende Topik zu sehen, sondern die Möglichkeit anzuerkennen, dass die sie niederschreibenden Menschen eben auch für sie unter Umständen sehr konkrete und leidvolle Erlebnisse oder für sie glaubhafte Berichte darüber verarbeitet haben. Die Schlacht von Adrianopel, in der zwei Jahre nach dem Donauübergang neben großen Teilen des oströmischen Heeres auch der Kaiser Valens den Goten zum Opfer fiel, war ja kein »Konstrukt«, sondern eine reales und blutiges Ereignis, auch wenn die Überlieferung eine vollständige und exakte Rekonstruktion der Dimensionen dieser Katastrophe vielleicht nie zulassen wird.77 Das Bedürfnis, spätantike Zeugnisse zu Bedrohungs- und Chaoserfahrungen als überwiegend konstruierend zu entlarven, könnte sich in Zukunft noch aus dem berechtigten Wunsch heraus verstärken, politisch motivierten Instrumentalisierungen des Völkerwanderungsbegriffs als Chiffre für Migration im 21. Jahrhundert entgegenzutreten. In dem Maße, in dem die spätantike Umbruchzeit zu einem vermeintlich überzeitlich relevanten ›Horrorszenario Massenmigration‹ stilisiert wird, dürfte in kritischer Reaktion hierauf auch der Drang zunehmen, die Bedeutung der Züge von militärisch organisierten Goten, Hunnen, Vandalen und anderen für die Auflösung römischer Herrschaft im Westen zu relativieren.78 War Klaus Rosen 2002 noch davon ausgegangen, dass die Nutzung der Völkerwanderung als »aktuelles Argument« nach 1945 der Vergangenheit angehört habe,79 so erlangten seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 politisch motivierte Rekurse auf diese weit entfernte Vergangenheit – und damit implizit oder explizit auch auf spätantike Barbarenvorstellungen – zumindest 75 76 77 78
Sonnabend 2010, S. 41. Zu Essentialisierung als didaktischem Problem: Grewe 2016, S. 55–30, hier S. 23f. Zu den Ereigniszusammenhängen: Heather 2006, S. 179–181; Rosen 2006, S. 7–10. Hier sei nochmals auf die berechtigte Kritik Borgoltes an einer Ideologisierung der Völkerwanderungsforschung – und sei es für den ›guten Zweck‹ – hingewiesen. Vgl. Borgolte 2014, S. 446f. 79 Vgl. Rosen 2006, S. 121.
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vorübergehend wieder Bedeutung.80 Besondere Aufmerksamkeit fand im Januar 2016 ein von dem Althistoriker Alexander Demandt verfasster Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der sich in narrativ eindringlicher Weise mit dem Donauübergang der Goten im Jahr 376 n. Chr. und seinen für das Imperium Romanum desaströsen Folgen befasste.81 Die Flüchtlingskrise wurde darin mit keinem Wort erwähnt, aber jeder nicht vollständig naive Leser musste die intendierte Parallelisierung sofort erkennen.82 Ein weiteres prominentes Beispiel für die politisch-argumentative Heranziehung der Völkerwanderung war das Buch des Politikwissenschaftlers Hans-Peter Schwarz über die »Neue Völkerwanderung nach Europa«.83 Der Begriff »Völkerwanderung« hat aufgrund der in ihm eingelagerten Erfahrungen, Topoi und Bilder ein denkbar starkes Emotionalisierungspotenzial, das ihn politisch leicht und effektvoll aktualisierbar macht, das aber auch zu äußerster Vorsicht bei der Herstellung von Parallelen zur Gegenwart mahnt. Dies gilt nicht zuletzt für den normativen Rahmen, in dem das spätantike Imperium Romanum und die europäischen Demokratien des 21. Jahrhunderts ihr migrationspolitisches Handeln jeweils legitimier(t)en: Die für freiheitlich-demokratische Gemeinwesen grundlegende Vorstellung von der Universalität der Menschenrechte kann für die Römer jenseits von philosophischen Eliten nicht vorausgesetzt werden.84 Der Rekurs auf die Völkerwanderung kann sich aber nicht nur an migrationskritischen, sondern auch an diesen völlig entgegengesetzten Argumentationszielen orientieren: Hans-Peter Schwarz bezieht sich auf einen von ihm als geradezu prophetisch gewürdigten Essay, den Jean-Christophe Rufin 1991 unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vorgelegt hat und der ebenfalls mit der Völkerwanderungsanalogie spielt: L’Empire et les nouveaux barbares (»Das Reich und die neuen Barbaren«).85 Rufin ging von einem globalen limes aus, der 80 Vgl. hierzu neben den Beiträgen von Roland Steinacher (»Wandernde Barbaren […]«) und Konrad Vössing im vorliegenden Band (mit einer ausführlichen Diskussion der Problematik heutiger Analogiebildungen) die Übersicht in: Simon-Nanko 2015. 81 Demandt 2016 S. 6; ganz anders die Argumentation von Borgolte 2015; dazu Demandt 2015. 82 Vgl. mit scharfer Kritik Thünemann 2016. 83 Schwarz 2017. 84 Vgl. Kühnhardt 1987, S. 41 und S. 45; zu dieser Differenz bezogen auf Praktiken der Bürgerrechtsverleihung auch Geiss 2017, S. 291. Ein Barbaren und Römer umschließendes Menschheitskonzept (im Sinne eines »Menschseins«, das »als steigerbar gedacht« wird) sieht Rudolf Stichweh im Rekurs auf Joseph Vogt allerdings bei dem spätantiken Panegyriker Themistius. Stichweh 2010, S. 26–29 (voranstehende wörtlich Zitate ebd., S. 29); vgl. Vogt 1967, S. 18–21. Vogt (S. 20) und Stichweh (S. 27) stimmen darin überein, dass dieses spätantike Menschheitskonzept nicht alle Barbaren inkludiert, sondern nur die unterworfenen und unter römischer Herrschaft stehenden. 85 Rufin 2001; dazu die Zusammenfassung und Würdigung zentraler Gedankengänge in Schwarz 2017, S. 26–30.
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den nicht mehr durch die konkurrierenden universalistischen Lager des Westens und des Ostens gespaltenen Norden von einem sich selbst überlassenen Süden trenne.86 Anders als die universalistische und gerade dadurch sich selbst gefährdende EU, wie sie Schwarz präsentiert, ist dieser Norden bei Rufin durch post-universalistische »Gleichgültigkeit« gegenüber dem Süden gekennzeichnet.87 Dieser Süden bleibe sich in seiner »Barbarei«, womit Rufin das rasante Bevölkerungswachstum, seine alten Konflikte, sein Elend und seine gewaltorientierten Ideologien meint, selbst überlassen, solange er die nördlichen Interessen in der »Kontaktzone« nicht störe.88 Wo dies der Fall sei, entferne sich der Norden von den in seiner territorialen Sphäre geltenden idealistischen Werten zugunsten pragmatischer Strategien und setze zu seiner Verteidigung sogar »Barbaren gegen Barbaren« ein.89 Anders als bei Schwarz ist es hier nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Universalismus, das die »neue Völkerwanderung« so gefährlich macht.90 Auch diese Analogie, die im Sinne eines menschenrechtsorientierten Universalismus in eine ganz andere Richtung tendiert als Schwarz und Demandt, bleibt in historischer Perspektive unbefriedigend, weil sie ja ebenfalls die Differenz zwischen bewaffneter und unbewaffneter Migration ausklammert. Sie würde erst dann an Plausibilität gewinnen, wenn – wie Roland Steinacher jüngst in einem Gedankenexperiment ausgeführt hat – »eine libysche Söldnermiliz, die den neuen Limes in der Sahara gegen die Flüchtlinge bewacht«, wegen schlechter Bezahlung »Deutschland oder Frankreich übernimmt«.91
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Die alten neuen Barbaren: das Bild der Deutschen in der französischen Kriegspropaganda 1914–18
Aktualisierende Bezugnahmen auf die Völkerwanderung sind in politischen Diskurszusammenhängen und Konflikten kein neues Phänomen. So spielten die Verwendungen des mit dem französischen Äquivalent »invasions barbares« eng verbundenen Barbarenbegriffs in Frankreich während des Ersten Weltkriegs eine wesentliche Rolle.92 Hier ging es natürlich anders als bei den voranstehend zi86 87 88 89 90
Vgl. Rufin, S. 133, 136 und 149. Vgl. ebd., S. 141. Ebd. S. 143. Ebd. S. 176 und 208. Diesen Unterschied deutet Schwarz durch ein »allerdings« in seinem ansonsten zustimmenden Kommentar an. Vgl. Schwarz 2017, S. 30. 91 Steinacher (»Man baut wütende Barbaren auf«, ohne Datum). Steinacher wählte hier natürlich bewusst ein gegenwärtig skurril wirkendes Beispiel, um die gesamte Völkerwanderungsanalogie ad absurdum zu führen. 92 Jeismann sprach von einer »Rückkehr der Barbaren«. Jeismann 1992, S. 207; zum Begriff »invasions barbares«: Rosen 2006, S. 29.
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tierten Beispielen nicht um die – freilich von politischen Tendenzen geprägte – Analyse einer gegenwärtigen Situation auf dem Wege der Analogiebildung, sondern um die Schaffung eines klaren Feindbildes – es ging um die Diffamierung des Gegners in einem existenziellen Konflikt.93 In der Ikonographie des Krieges finden sich deutliche Reminiszenzen an antike Barbarenkonzepte. Dies mag exemplarisch ein Plakat zu einer Ausstellung über die »Deutschen Verbrechen« verdeutlichen, das den »Gott Thor, die grausamste Gottheit des alten Germaniens« als Zertrümmerer gotischer Kathedralen zeigt.94 Als Kronzeuge für die kulturzerstörerische Barbarei der Deutschen wird auf diesem Plakat Heinrich Heine mit folgender Aussage aus seiner Schrift Religion und Philosophie in Deutschland aufgerufen. Der Text war in Frankreich bekannt, weil ihn Heine 1834 erstmalig in der berühmten Revue des deux mondes publiziert hatte: »Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt, und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer zerschlägt endlich die gotischen Dome.«95
Heinrich Heine warnte seine französischen Leser vor einer Situation, in der die deutsche Naturphilosophie nach dem Absterben des bislang noch mäßigenden Christentums die Oberhand gewinnen würde.96 Diese Warnung präsentiert das Ausstellungsplakat von 1915 als eine mittlerweile eingetroffene und durch deutsche Kriegs- und Kulturverbrechen bestätigte Prophetie. Einen direkten Bezug zwischen deutscher Kriegsführung und Völkerwanderung stellte die französische Tageszeitung Le Matin am 2. Oktober 1914 her: »Die Geschichte wird sagen: ›Im 20. Jahrhundert wollten die Barbaren Paris plündern, wie ihre Vorfahren des 16. Jahrhunderts oder die Goten des 5. Jahrhunderts Rom geplündert hatten. Sie folgen demselben Ziel: [nämlich] die Hauptstadt des Denkens und der Kunst zu vernichten, die menschliche Hoffnung zu ruinieren, ja sogar die Idee der Freiheit selbst zu zerstören.‹«
93 Vgl. mit geschichtsdidaktischen Überlegungen und Quellenbeispielen Schneider o. J. 94 Clasquin 1915; vgl. Schneider o. J. sowie mit Beschreibung und Interpretation Gaehtgens 2018, S. 107f. Diese Monographie thematisiert die Wahrnehmung deutscher Kulturbarbarei am Beispiel der Beschießung der Kathedrale von Reims 1914 auf breiter Materialbasis, konnte aber vor der Drucklegung des vorliegenden Beitrags nur noch punktuell berücksichtigt werden. 95 Heine 1968, S. 44–165, hier S. 163; zur Erstveröffentlichung: ebd., S. 606 (Anm. d. Hg.); franz. Text: »Alors, et ce jour, hélas, viendra, les vieilles divinités guerrières se lèveront de leurs tombeaux fabuleux, essuieront de leurs yeux la poussière séculaire ; Thor se dressera avec son marteau gigantesque et démolira les cathédrales gothiques…« Heine 1855, S.182; Heine-Zitat auch in: Gaultier 1915, S. 123; zur Bedeutung des Zitats im propagandistischen Horizont des Ersten Weltkriegs: Gaehtgens 2018, S. 108. 96 Vgl. Heine 1968, S. 163.
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»L’histoire dira : ›Au début du vingtième siècle les barbares voulurent faire le sac de Paris comme leurs ancêtres du seizième siècle ou les Goths du cinquième avaient fait le sac de Rome. Ils obéissaient au même dessin : anéantir la capitale de la pensée et de l’art, ruiner l’espoir humain, détruire jusqu’à l’idée de la liberté.‹«97
Hintergrund des Artikels war die Beschießung von Reims und der dortigen französischen Krönungskathedrale durch die deutsche Artillerie.98 Die Zerstörung französischer Kulturgüter durch deutsche Kriegsgewalt war ein wichtiges Argument für die diskursive Stigmatisierung des deutschen Feindes als barbarisch.99 Michael Jeismann bestimmt die Funktion des Barbarenbegriffs für die Franzosen 1914–18 ähnlich wie es Dauge für die Römer tut: Es gehe, so Jeismann, darum, die »Vernichtung des kriminalisierten Gegners als ›Forderung des Rechts‹«100 zu legitimieren und das eigene Selbstverständnis aus einer »Semantik nationaler Gegensätze«101 heraus zu begründen. Im Krieg entstanden zahlreiche Publikationen, die die Schäden an französischen Kathedralen in Wort und Bild festhielten. Ein Beispiel hierfür ist die Publikation Les Vandales en France, die 1915 als Sonderausgabe der Zeitschrift L’Art et les artistes erschien.102 Derselben Tendenz ist ein weiterer, 1917 von Pierre Loti, einem Mitglied der Académie française, vorgelegter Band unter dem Titel L’outrage des barbares verpflichtet, der unter anderem eine verstümmelte Christusfigur zeigt.103 Sie steht zweifellos für das Märtyrertum Frankreichs, das sich auch in der für das beschossene Reims gebräuchlichen Formulierung »ville martyre« manifestiert.104 Das auf die Deutschen bezogene Barbarenstigma wird in diesen Publikationen historisch mit recht wahllosen Analogien verknüpft: Während im Titel des bereits zitierten Themenhefts Les Vandales en France eine Gleichsetzung mit einer tatsächlich germanischen gens erfolgt, taucht in der Einleitung ein damit kaum kompatibler Vergleich mit den Hunnen auf: 97 [Anonym] 1914, S. 1 (Le Matin, 2. Oktober 1914). 98 Vgl. Möller 1998, S. 53–64, hier S. 62; dazu jetzt detailliert die Monographie von Gaehtgens (2018). Gaehtgens zufolge zerstörten die Deutschen die Kathedrale wie große Teile der Stadt Reims im Zuge von Kampfhandlungen, nicht mit dem – von der Gegenseite unterstellten – Ziel der Vernichtung eines erstrangigen Kulturdenkmals. Vgl. ebd., S. 47f. und 73. 99 Jeismann 1992, S. 146; Gaethgens 2018, S. 73f. u. ö. 100 Jeismann 1992, S. 141. 101 Ebd., S. 135. 102 Dayot 1915. Diese und weitere nach Digitalisaten zitierte Publikationen aus dem Ersten Weltkrieg sind im Quellenverzeichnis mit Internetadressen versehen und können über das Online-Angebot »Gallica« der Bibliothèque nationale de France (gallica.bnf.fr) aufgerufen werden. Leserinnen und Leser haben so bei Interesse die Möglichkeit, direkt auf einen Teil der im Folgenden zu betrachtenden Textauszüge und Illustrationen zuzugreifen (und auf zahlreiche weitere). »Gallica« stellt für den Geschichtsunterricht ein Quellenangebot allerersten Ranges dar. 103 Loti 1917, S. 27; zur Person Pierre Lotis: Académie française (o. J.) 104 Möller 1998, S. 62.
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»[…] und wie der finstere Kaiser der Barbaren, diese Geißel der Menschen, seine blutigen und grausamen Wahn von den gefrorenen Flüssen des Nordens an die Gestade des Orients trägt, wer weiß, ob nicht auch Stambul, auf dem gegenwärtig eine noch schrecklichere Bedrohung als die vor dem Vierten Kreuzzug lastet, seinen Platz in einer dieser tragischen Nummern finden wird […].« »Et, comme le sinistre empereur des Barbares, ce fléau des hommes, promène sa démence sanglante et cruelle des bords et des fleuves glacés aux rivages d’Orient, qui sait si Stamboul aussi, sur laquelle pèse à l’heure présente une menace plus terrible encore que celle qui précéda la quatrième Croisade, ne trouvera pas bientôt sa place dans un des ses numéros tragiques […].«105
Die »Geißel der Menschen« ist hier eine Reminiszenz an das »flagellum Dei«, die »Gottesgeißel«, wie Papst Leo I. die Hunnen bezeichnete.106 Mit den »gefrorenen Flüssen des Nordens« wird ebenfalls ein Element antiker Barbarenvorstellungen aufgegriffen: Je nördlicher die Herkunft, desto barbarischer der Mensch.107 Die Gleichsetzung von Hunnen und Deutschen findet sich auch in der bereits zitierten Publikation Pierre Lotis von 1917: »Aber heute, im Zuge ihres glänzenden Rückzugs, erreicht der Horror wirklich seinen Gipfel, heute sehen wir die Entlarvung Deutschlands, das es endlich wagt, seine Fratze vor der Welt zu enthüllen. Seit Attila hat die Welt solche Sitten nicht mehr gesehen: die in die Sklaverei weggeführte Zivilbevölkerung, die Zerstörung, der Diebstahl, das Schlachten, ja sogar die Schändung der Gräber unserer Soldaten, alles offiziell und minutiös durch Befehle der Anführer organisiert.« »Mais c’est aujourd’hui, au cours de leur brillante retraite, que l’horreur atteint vraiment son comble, c’est aujourd’hui le véritable démasquage de la Germanie, osant enfin tout à fait dévoiler au monde son visage de goule. Depuis Attila, l’Europe n’avait plus l’idée de mœurs pareilles : les populations civiles emmenées en esclavage, la destruction, le vol, la tuerie, et jusqu’aux violations des sépultures de nos soldats, officiellement et minutieusement organisés par ordre des chefs.«108
Dies hätte, wenn man »Deutschland« durch antike gentes ersetzt, ganz ähnlich Ammianus Marcellinus schreiben können. Aber warum diese Beliebigkeit? Weshalb werden die Deutschen einmal als Goten, einmal als Vandalen und dann wieder als Hunnen bezeichnet? Als vermeintlich idealtypische Repräsentanten des nach ihnen benannten Vandalismus und germanische ›Verwandte‹ der Deutschen boten sich die Vandalen natürlich besonders für eine antideutsche Feindbildkonstruktion an.109 Was die erklärungsbedürftigere Gleichsetzung der 105 106 107 108 109
Dayot 1915, S. 3–14, hier S. 4. Zit. nach Pohl 2005, S. 106. Vgl. ebd. S. 101. Loti 1917. Zu den von den Vandalen selbst nur sehr partiell zu verantwortenden Hintergründen ihrer überaus schlechten Reputation bei der Nachwelt knapp: Vössing 2018, S. 119–121.
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verhassten boches mit den Hunnen betrifft, so ist ihr Hintergrund sicherlich die berühmt-berüchtigte »Hunnenrede« Kaiser Wilhelms II. aus dem Jahr 1900.110 Darin hatte er deutsche Soldaten aufgefordert, bei der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands einen ähnlichen Schrecken zu verbreiten wie die antiken Hunnen.111 Loti stellt den Bezug zu dieser Rede explizit her, indem er einen Auszug daraus als Legende zu einem zerschossenen Kruzifix präsentiert.112 Entscheidender als diese öffentliche Entgleisung Wilhelms II. war etwas anderes: die Suggestivwirkung der Hunnenbeschreibung des Ammianus Marcellinus, der sie als Idealtypus des verabscheuenswürdigen und gefährlichen Barbarentums präsentierte. Der britische Dichter Rudyard Kipling ließ sich 1914 vor diesem Hintergrund zu dem Gedicht The Hun is at the Gate inspirieren: »For all we have and are For all our children’s fate Stand up and take the war The Hun is at the Gate«113
Wissenschaftlich präziser präsentiert sich dieser gegen alles Deutsche gerichtete Barbarendiskurs114 in einer 1916/17 vorgelegten Publikation von Ernest Babelon. Der Titel des zweibändigen Werkes erhebt die Geschichte des Rheines als Zivilisationsgrenze zur »großen Frage des Westens«: La Grande question d’Occident – Le Rhin dans l’histoire.115 Babelon war nicht irgendein nationalistischer Propagandist, sondern als Numismatiker und Archäologe langjähriger Direktor des berühmten Cabinet des médailles in der Pariser Nationalbibliothek.116 In der Einleitung bemüht er sich, den Rhein in einer historischen Langzeitperspektive zur Zivilisationsgrenze zu machen: Es sei ein Grundgesetz der Geschichte, dass die gegen den Fluss anrennenden Barbaren aus Germanien immer zu ›Verteidigern‹ dieser Grenze würden, sobald sie einmal auf seinem linken Ufer ansässig seien.117 Babelon verwendet also einen ›weichen‹ Barbarenbegriff: Die Fremden kommen als Barbaren, aber sie bleiben es nicht. Hier zeigt sich der vergleichsweise integrative französische Nationsbegriff im Hintergrund.118 Die Hervorhe110 Rekonstruierter Wortlaut in: Sösemann 1976, S. 342–358; zur Bedeutung dieser Rede für die propagandistische Gleichsetzung von Deutschen und Hunnen: Gaehtgens 2018, S. 109f. 111 Vgl. Sösemann, S. 349f. 112 Vgl. Loti 1917, S. 27. 113 Zit. nach Koch-Hillebrecht 2008, S. 131. Vgl. auch Ther 2015 und Jellonnek 2012. 114 Vgl. zu Begriff und Funktionen Münkler 2005, S. 150–157 sowie gegenwartsbezogen Jellonnek 2012. 115 Babelon 1916–1917 (ein Digitalisat dieser Publikation scheint nicht vorzuliegen); zum politischen Kontext dieses Werkes Schöttler 1999. 116 Bodenstein 2008. 117 Vgl. Babelon 1916–1917, S. II; zur Konstruktion des Rheins als Kulturgrenze auch folgendes Unterrichtsdossier mit weiteren Quellen: Will 2011. 118 Vgl. Gosewinkel 2014.
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bung der Integrationsfähigkeit germanischer Neuankömmlinge hindert Babelon allerdings nicht daran, Rheinüberquerungen von Barbaren jeweils als für die Zivilisation höchst schädliche Ereignisse zu betrachten: »Jedes Mal, wenn ihr Widerstand [gemeint ist hier der Widerstand der früheren, nun zu Verteidigern der Rheingrenze gewordenen Eroberer, Anm. P. Geiss] gebrochen wurde, wenn die Überquerung des Flusses von neuen Barbaren durchgesetzt wurde, wurde die westliche Welt erschüttert, die Zivilisation ruiniert, das Leben der Völker gefährdet.« »Chaque fois que leur résistance a été brisée et que le passage du grand Fleuve a été forcé par de nouveaux Barbares, le monde occidental a été bouleversé, la civilisation ruinée, la vie des peuples mise en danger.«119
Mit anderen Worten: Babelon essentialisiert das Barbarentum nicht im Sinne einer unwandelbaren Kategorie, aber es bleibt doch eine Bedrohung. Für die Gegenwart des Ersten Weltkrieges leitet Babelon aus dieser Feststellung eine unmissverständliche Schlussfolgerung ab: »Der Teutonismus muss jetzt wie ehedem in seine Heimat zurückgedrängt werden, über den Rhein.«120 Michael Jeismann hat in seiner bekannten Studie Das Vaterland der Feinde aufgezeigt, dass die französische Darstellung der Deutschen als Barbaren keineswegs eine propagandistische Innovation des Ersten Weltkrieges war. Sie komme schon während der Revolutionskriege als antifeudales Feindbild vor, nationalisiere sich dann im Krieg von 1870/71 und erscheine schließlich 1914–18 als stark »ethnisiertes« Konzept.121 Eine Besonderheit des französischen Barbarentopos lag darin, dass es die technischen und intellektuellen Fähigkeiten des deutschen Feindes durchaus anerkannte. Jeismann zitiert Caro mit der Formulierung, die Deutschen seien »gebildete Attilas«.122 Ihre Bildung mildert das ihnen eigene Barbarentum in einer französischen Perspektive aber nicht unbedingt ab – im Gegenteil: Bei Babelon ist der »Kult der Gewalt« ein wesentliches Merkmal der Deutschen als »gebildete Barbaren«.123 Hier spiegelt sich genau das, was Wolfgang Leiner als die französische Theorie der »beiden Deutschland« bezeichnet hat: Seit 1870 habe verstärkt die Notwendigkeit bestanden, das Böse und Aggressive am deutschen Nachbarn mit seinen kaum bestreitbaren intellektuellen, technischen und wissenschaftlichen Höchstleistungen zusammenzudenken.124 Die deutschen Barbaren waren ein in Wort und Bild überaus suggestives Konstrukt der französischen Kriegspropaganda. Dieses Feindbild hatte aber 119 Babelon 1916–1917, S. II., ähnlich Jullian 1915, S. 39; zu Jullians Le Rhin gaulois und dessen Kontext im Ersten Weltkrieg: Schöttler 1999. 120 » […] le teutonisme doit, maintenant comme jadis, être refoulé chez lui, au delà [sic] du Rhin. « Babelon 1916–1917, S. VI. 121 Jeismann 1992, S. 354 und 362. 122 Zit. ebd. S. 229: E. Caro 1870, S. 577–594, hier S. 590. 123 Babelon 1916–1917, S. VI. 124 Leiner 1988, S. 28–46, hier S. 34–40.
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einen durchaus realen Erfahrungshintergrund in den Kriegsverbrechen, die deutsche Soldaten zu Beginn des Krieges in ihrer Angst vor Heckenschützen (francs-tireurs) an der belgischen und ostfranzösischen Zivilbevölkerung begangen haben.125 Diese Taten, denen über 6000 Menschen zum Opfer fielen, haben die Etablierung antideutscher Barbarenstereotype auf Seiten der Entente wesentlich begünstigt.126 Auch hier wäre es im Geschichtsunterricht fachwissenschaftlich und geschichtsdidaktisch unangemessen, diese reale Gewalterfahrung unter Verweis auf Stereotype aus dem Fokus des historischen Lernens zu verbannen.
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Geschichtsdidaktische Herausforderungen bei der Thematisierung von Barbarenbegriffen und Völkerwanderungsanalogien
In einem Beitrag zu geschichtsdidaktischen Implikationen des postkolonialen Denkens vertritt Bernd-Stefan Grewe zu Recht die Forderung, die Essentialisierung von kultureller Differenz aufzugeben.127 Der Barbarenbegriff proklamiert gegenüber dem damit bezeichneten Fremden eine zivilisatorische und moralische Überlegenheit, die ihn für die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen als ungeeignet, irreführend, abwertend, potenziell gewaltfördernd und damit gefährlich erscheinen lässt.128 Das Beispiel des Ersten Weltkrieges führt überdies vor Augen, dass er eine nachantike Karriere als Feindbildkonzept durchlaufen hat, die seine Verwendung in gegenwärtigen Kontexten unmöglich machen. Anders verhält es sich mit dem nicht personen- und gruppenbezogenen Konzept der Barbarei. Hier kann man mit Tzvetan Todorov davon ausgehen, dass es zur Bezeichnung von Verhaltensweisen jener notwendig ist, die anderen das Menschsein absprechen und sie entsprechend inhuman behandeln.129 Dieses Konzept essentialisiert und stigmatisiert keineswegs, da es nicht Gruppen oder Individuen ein für alle Mal als barbarisch abstempelt, sondern sich auf (veränderbare) Verhaltens- und Denkweisen bezieht. Zudem schränkt es den Blick nicht auf von außen kommende Menschen ein, sondern vermag auch Prozesse
125 Vgl. hierzu mit weiterer Literatur: Kramer 2017. 126 Zahlen ebd.; Verarbeitung in der Propaganda der Entente detailliert in: Horne / Kramer 2001, S. 175–225. 127 Vgl. Grewe 2016, hier S. 23f. 128 So auch Jellonnek 2012. 129 Vgl. Todorov 2008, S. 39.
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der ›Selbstbarbarisierung‹ von Gesellschaften in den Blick zu nehmen, die aus der Angst vor dem Fremden resultieren können.130 Die Idee des ›in uns allen schlummernden Barbaren‹, den es in Schach zu halten gilt, lässt sich bereits 370 n. Chr. bei dem antiken Panegyriker Themistius finden.131 Löst man sie von ihrem spätantiken Kontext, wo sie mit der Vorstellung eines notwendigen Kampfes gegen äußere Barbaren verbunden ist,132 so bleibt diese Idee für die Gegenwart bedenkenswert: Triumphiert nicht dieser innere Barbar in Menschen, die sich zu Gruppen zusammenrotten, um Schwächere anzugreifen oder anderweitig zu terrorisieren, weil sie in ihnen feindliche Fremde sehen? Und hat sich dieser innere Barbar nicht auch jener Zeitgenossen bemächtigt, die unter Berufung auf göttlichen Willen andere unterdrücken, verfolgen und ermorden? Ein zentrales Anliegen jeder Gesellschaft, die sich als den universalen Menschenrechten verpflichtet versteht, muss es in dieser Perspektive sein, energisch daran zu arbeiten, dass die in ihren Menschen liegenden Barbareipotenziale nicht die Oberhand gewinnen.133 Ein unschätzbarer Vorteil des von Todorov konturierten Begriffs von Barbarei läge für ein demokratisches Gemeinwesen darin, dass die solchermaßen barbarisch handelnden Menschen nicht ein für alle Mal zu Feinden erklärt werden müssten, sondern als prinzipiell ›rückholbar‹ gelten könnten. Dies stünde nicht im Widerspruch zu der für liberale Demokratien grundlegenden Fähigkeit und Bereitschaft, sich ohne falsche Kompromisse im Inneren wie nach außen hin gegen Akte der Barbarei zu verteidigen. Die für den Geschichtsunterricht in einer menschenrechtsorientierten Gesellschaft zentrale »Dekonstruktion« essentialistischer Kategorien und »Dicho130 Diesen Gedanken formuliert Todorov ebenfalls: »La peur des barbares est ce qui risque de nous rendre barbares.« Todorov, S. 20. Die Möglichkeit einer ›Selbstbarbarisierung‹ von in aufklärerischer Tradition stehenden Gesellschaften ist Thema in Horkheimer / Adorno 1996: Die Autoren sehen in einer von der »Kritik« in die »Affirmation« übergehenden (ebd., S. 2) und diesen Übergang nicht selbstkritisch reflektierenden (vgl. ebd., S. 3) Aufklärung die Quelle einer »neuen Art von Barbarei« (ebd., S. 1) und schreiben ihr, der Aufklärung, sogar totalitäre Züge zu (vgl. ebd., S. 12). Dies mündet bei Horkheimer und Adorno jedoch nicht in ein antiaufklärerisches Plädoyer, da sie – völlig zu Recht – festhalten, »daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar« sei (ebd., S. 3). 131 Zehnte Rede des Themistius, hier rezipiert nach Zitat und Kommentar in Vogt 1967 (S. 20) sowie in Stichweh 2010 (S. 26f.). 132 Vogt 1967, S. 21. 133 Bei Themistius ist in der Übersetzung Joseph Vogts davon die Rede, dass die barbarischen »Leidenschaften« im Menschen nicht »auszureißen« sind, aber – wie Vogt kommentierend ergänzt – »niedergehalten« werden müssen. Ebd. S. 20. Vogts Aufsatz schließt mit Kritik am römischen Unwillen, das in der Spätantike bereits formulierte Ideal einer alle Menschen umfassenden Philanthropia zu realisieren. Vogt 1967, S. 67. Nichts in diesem universalistisch orientierten Text lässt erkennen, dass Joseph Vogt vor 1945 ein aktiver Unterstützer der NSRassenideologie war. Vgl. Losemann 2012. Zu Grenzen des Philanthropia-Konzepts bei Themistius vgl. oben Anm. 84 und Konrad Vössing im vorliegenden Band.
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tomien«134 darf nicht dazu führen, dass die im antiken Barbarenbegriff verarbeiteten und gespeicherten Erfahrungen mit bewaffneten und organisierten Großgruppen einfach zur quantité négligeable erklärt oder ganz ausgeklammert werden, gerade dann nicht, wenn es um Kriegserfahrungen geht. Die durchaus von Plünderung, Gewalt und Zerstörung begleiteten Raub- und Eroberungszüge germanischer und anderer Völker durch das Römische Reich waren für viele seiner Bewohner in erster Linie kein bereicherndes Erlebnis, sondern eine Quelle der Angst um Stabilität, Leib und Leben, aber auch um Besitz. Allerdings hat die Forschung auch betont, dass es sich angesichts der für das spätrömische Militär typischen Verbindung unterschiedlicher Komponenten oft nicht klar ermitteln lässt, ob es eine römische oder eine barbarische Soldateska war, die das Land verheerte und die Bevölkerung zum Rückzug in befestigte Höhensiedlungen zwang.135 Zu berücksichtigen ist zudem auch die Einseitigkeit der Überlieferungslage, die nicht nur ein fachwissenschaftliches, sondern auch ein geschichtsdidaktisches Problem darstellt: Es ist eben angesichts der ausschließlich von romanisierten oder gräzisierten Autoren getragenen Überlieferung kaum möglich, ein multiperspektivisches Quellendossier anzulegen, in dem z. B. auch die Opfer der Gewaltanwendung römischer bzw. in Roms Sold stehender Armeen zu Wort kämen.136 Die Goten, die 376 n. Chr. über die Donau kamen, bleiben anders als z. B. Soldaten und Zivilisten unterschiedlichster Kriegsteilnehmerstaaten des Konflikts von 1914–18 für immer stumm. Dass die Völkerwanderung als historischer Gesamtzusammenhang so wenig mit den Migrationsphänomenen der Gegenwart gemein hat, bedeutet für die schulische Thematisierung von Bedrohungs- und Gewalterfahrungen spätantiker Römer, die in Vorstellungen vom Barbarischen eingeflossen sind, geradezu eine Entlastung: Da die Goten des späten 4. Jahrhunderts mit den Migranten der Gegenwart so wenig verbindet,137 muss die destabilisierende und durchaus auch menschliche Opfer fordernde Wirkung gotischer Präsenz auf dem Boden des Imperium Romanum nicht bagatellisiert werden, um gewissermaßen über Bande moderne Xenophobie zu bekämpfen. Umgekehrt sollte damit auch die Motivation entfallen, spätantike Germanenzüge und ihre Wirkungen in migrationskritischer Absicht zu dramatisieren. Gerade die Auseinandersetzung mit antideutschen Barbarenvergleichen in der französischen Kriegspropaganda der Jahre 1914–18, so plausibel diese für viele Franzosen angesichts realer deutscher Gewalt bis hin zu Kriegsverbrechen waren, kann im historischen Lernen die 134 Grewe 2016, S. 24. 135 So bezogen auf archäologische Befunde aus dem spätantiken Spanien und mit deutlicher Kritik an ihrer Verknüpfung mit ethnisch klar identifizierbarer Invasion: Kulikowski 2013. 136 Zu dieser Einseitigkeit z. B. Goetz u. a. 2006, S. XVI (Einleitung). 137 Hier sei nochmals auf die detaillierte Argumentation Konrad Vössings im vorliegenden Band verwiesen.
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Fragwürdigkeit von konfliktgeborenen Analogien vor Augen führen. Sowohl die dekonstruierende Totalauflösung vergangener Bedrohungserfahrungen als auch deren Aktualisierung und Instrumentalisierung zum Zweck des Aufbaus gegenwartsbezogener Schreckensszenarien und Feindbilder führt weg von dem, was Geschichtsunterricht ausmachen muss, wenn dieser nicht zu einer politischideologischen Indoktrinationsveranstaltung von zweifelhaftem analytischem Wert herabsinken soll. Migrationspolitische Konflikte der Gegenwart sind nicht auf den fernen Schlachtfeldern der Völkerwanderungszeit auszutragen, sondern in respektvoller, Diffamierung, Diskriminierung, Drohung und Gewalt jedweder Couleur ausschließender Form auf dem Forum des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens.138
Quellen Übergreifende Edition zur Völkerwanderung Goetz, Hans-Werner / Patzold, Steffen / Welwei, Karl-Wilhelm (Hg. / Übers.), Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Erster Teil, Darmstadt 2006 (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 1b). Goetz, Hans-Werner / Patzold, Steffen / Welwei, Karl-Wilhelm (Hg. / Übers.), Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Zweiter Teil, Darmstadt 2007 (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 1b).
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Peter Geiss
Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier für den Geschichtsunterricht
Einleitung: Was können wir wissen? Die letzte ernsthafte Bedrohung Roms lag in der Kaiserzeit weit zurück. Im Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) hatten die Römer vorübergehend einen Angriff Hannibals auf ihre Hauptstadt zu fürchten, zu dem es dann aber nicht gekommen war. Seitdem hatten sie sich daran gewöhnt, dass kein äußerer Feind in der Lage war, Rom zu erobern. Umso schockierender war es für manche Zeitgenossen, dass im Sommer 410 n. Chr. der germanische Verband der Westgoten unter ihrem Anführer Alarich die Stadt besetzte und plünderte. Doch welche Bedeutung hatte dieser ›Fall Roms‹ für die Geschichte des spätrömischen Reiches und seine Auflösung im Westen um 500 n. Chr. tatsächlich? In der Bewertung dieses Ereignisses waren sich schon die zeitgenössischen Beobachter uneinig. Auch die historische Forschung streitet darüber, ob die Einnahme Roms ein tiefer Einschnitt war oder doch eher ein Randgeschehen in den vielfältigen Veränderungsprozessen, die zum Ende der römischen Herrschaft im Westen führten. Das politische Zentrum des Imperium Romanum war Rom damals schon lange nicht mehr. So residierte der weströmische Kaiser Honorius zum Zeitpunkt der Besetzung in Ravenna, während Konstantinopel die unangefochtene Hauptstadt des spätrömischen Ostreiches war. Die Gründe für Alarichs ›Griff nach Rom‹ liegen im Dunkeln. In der Forschung wurde vermutet, er habe Oberbefehlshaber (magister militum) der damals schon zu großen Teilen aus Germanen bestehenden weströmischen Armee werden wollen. Die Besetzung Roms wäre dann ein Druckmittel gewesen, mit dem Alarich diesem Ziel in Verhandlungen mit Kaiser Honorius näherzukommen glaubte.1 1 Voranstehende Informationen der Einleitung sowie Quellenauswahl des vorliegenden Dossiers überwiegend basierend auf: Ralph Mathisen, Roma a Gothis Alarico duce rapta est. Anvient Accounts of the Sack of Rome in 410 CE, in: Johannes Lipps/Carlos Machado/Philipp von Rummel (Hg.), The Sack of Rome in 410 AD. The Event, its Context and its Impact. Proceedings of the Conference held at the German Archaeological Institute at Rome, 04.– 06. November 2010, Wiesbaden 2013, S. 87–102, zit. nach URL: http://www.academia.edu/
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Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es, Ursachen und Bedeutung des Ereignisses von 410 n. Chr. so gut wie möglich auf der Grundlage antiker Quellen zu rekonstruieren. Da sich diese Quellen teilweise widersprechen und auch nur einen winzigen Ausschnitt aus den damaligen Wahrnehmungen bieten, wird das Bild immer unsicher und unvollständig bleiben. Hinzu kommt, dass jede Zeit mit ihren jeweils eigenen Fragen und Sichtweisen in die Vergangenheit zurückblickt und die Geschichte vom ›Fall Roms‹ neu und anders erzählt. Die ein für alle Mal feststehende Interpretation darüber, was 410 n. Chr. genau geschehen ist und was dies bedeutet (hat), kann es deswegen nicht geben.2 In diesem Dossier finden Sie eine Auswahl an Quellen, die in zeitlicher Nähe zu dem Ereignis entstanden sind und es in unterschiedlicher Weise bewerten.
Quellen und Materialien 1.
Honorius als siegreicher Kaiser – eine spätantike Münzdarstellung
Abb. 1: Goldmünze (Solidus) des Kaisers Honorius, Quelle: Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 18213243, Aufnahmen durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann), Permalink: https://ikmk.smb.museum/object?id=1821324 [29. 03. 2019].
11162904/_Roma_a_Gothis_Alarico_duce_capta_est_The_Sack_of_Rome_in_410_CE [17. 07. 2020]; weitere Literatur im Aufsatz von Peter Geiss im vorliegenden Band. Für Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge danke ich Konrad Vösssing, für Unterstützung bei der Beschaffung der Text- und Bildquellen sowie beim Korrekturlesen Theresa Michels, Janna Schulz und Roland Ißler für die freundliche Genehmigung zur Reproduktion der Münze unter Nr. 1 Karsten Dahmen (Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin). 2 Zur Zeitgebundenheit und Veränderlichkeit des Erzählens über den ›Fall Roms‹: Mischa Meier / Steffen Patzold, August 410 – Ein Kampf um Rom, Stuttgart 2013 (Reclam-Lizenzausgabe), S. 9–11.
Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier
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Honorius war 410 n. Chr. Kaiser der Westhälfte des Römischen Reiches. Er hatte nicht die Macht, die Einnahme Roms durch die Westgoten zu verhindern. Die Rückseite zeigt Honorius beim Niedertreten eines besiegten Feindes. In den Händen hält er links ein militärisches Feldzeichen, rechts eine kleine Figur der Siegesgöttin Victoria, die auf einem Globus steht. Nichtchristliche Symbole deuten in der Spätantike nicht immer auf einen entsprechenden religiösen Hintergrund hin.3
2.
Das »gefallene Haupt der Welt« (Hieronymus)
In einem zeitgenössischen Brief schildert der damals in Bethlehem lebende Theologe und Bibelübersetzer Hieronymus (374–419/20 n. Chr.) seinen Eindruck von der Einnahme Roms.4 »[…] terribilis de occidente rumor adfertur obsideri Romam et auro salutem ciuium redimi spoliatosque rursum circumdari, ut post substantiam uitam quoque amitterent. haeret uox et singultus intercipiunt uerba dictatntis. capitur urbs, quae totum cepit orbem, immo fame perit ante quam gladio et uix pauci, qui caperentur, inuenti sunt.«
»[…] aus dem Westen erreicht mich ein schreckliches Gerücht. Es ist von einer Belagerung Roms die Rede, dann von einer Rettung der Bürger durch Goldzahlungen, aber auch von einer erneuten Einkreisung der Stadt, bei der die Bürger nach ihrem Besitz nun auch noch das Leben verlieren würden. Meine Stimme versagt und das Weinen unterbricht meine Worte beim Diktieren [des Briefes]. Nun wird die Stadt eingenommen, die selbst die ganze Welt eingenommen hat. Genauer gesagt geht Rom nun durch Hunger zu Grunde, noch bevor es durch das Schwert zugrunde gerichtet wird, und es findet sich kaum noch eine Handvoll Einwohner, die [von den Westgoten] überhaupt noch gefangen genommen werden könnten.«
Lat. Text: Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae, Teil III, ed. Isidor Hilberg, Wien/Leipzig 1918 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 56), Brief 127,12 (S. 154). Freie Übers.: Peter Geiss unter Beratung durch Konrad Vössing. Unterstützend wurde folgende Übers. konsultiert: Hans-Werner Goetz / Steffen Patzold / Wilhelm Welwei (Hg./Übers.), Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Zweiter Teil, Darmstadt 2007 (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 1b), S. 341.
3 Vgl. Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr., München 1989, S. 414. 4 Zur Person: Art. »St. Jerome«, in: Encyclopaedia Britannica digital, Chicago 2014.
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Gräueltaten der Eroberer (Augustinus)
Augustinus war Bischof im römischen Nordafrika und kann als der einflussreichste christliche Theologe der Spätantike gelten. Er trat dem Vorwurf der Nichtchristen entgegen, die Einnahme Roms wäre eine Strafe für den Abfall der Römer von ihren alten Göttern. Zudem vertrat er die Auffassung, dass dieses Ereignis kein tiefer historischer Einschnitt gewesen sei. Viele Einwohner der Stadt Rom waren vor den Westgoten nach Hippo geflohen, wo sich der Bischofssitz des Augustinus befand. Er musste in seinen Predigten auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen und konnte die Ereignisse in Rom nicht verharmlosen, obwohl es eigentlich in seinem Argumentationsinteresse lag, das Geschehen als nicht allzu schwerwiegend darzustellen.5 a)
Einnahme Roms und göttliches Strafgericht über das biblische Sodom: ein Vergleich
»Sodomis non pepercit, Sodomam perdidit: Sodomam penitus igne comsumpsit […]. Ab urbe autem Roma quam multi exierunt et redituri sunt, quam multi manserunt et evaserunt, quam multi in locis sanctis nec tangi poterunt! […]
»Sodom hat er nicht verschont, Sodom hat er zugrunde gerichtet: Sodom hat er ganz und gar im Feuer verbrannt […]. Aus der Stadt Rom aber sind doch so viele herausgekommen und werden bald wieder dorthin zurückkehren, so viele sind geblieben und [den Westgoten] dennoch entkommen und so viele konnten auch nicht angetastet werden, weil sie sich an die heiligen Stätten [d. h. Kirchen] geflüchtet hatten. […]
Horrenda nobis nuntiata sunt; strages facta, incendia, rapinae, interfectiones, excruciationes hominum. Verum est, multa audivimus, omnia gemuimus, saepe flevimus vix consolati sumus; non abnuo, non nego multa nos audisse, multa in illa urbe esse commissa.«
Schreckliches wurde uns berichtet: Ein Gemetzel sei angerichtet worden, Raub, Brandschatzung, Tötungen, Folter von Menschen. Das ist wahr, wir haben vieles gehört, wir haben das alles zutiefst beklagt, oft geweint und kaum Trost gefunden. Ich weise das nicht zurück, ich leugne nicht, dass wir viel gehört haben, dass in dieser Stadt viele Verbrechen begangen wurden.«
Lat. Text: Augustinus, Sermo de urbis excidio, in: Sancti Aurelii Augustini Hipponensis Episcopi Opera Omnia, Bd. 6, ed. Jean-Paul Migne, Paris 1841, 2,2–3 (S. 718). Freie Übers.: Peter Geiss unter Beratung durch Konrad Vössing. Unterstützend wurde folgende Übers. 5 Zur Anwesenheit stadtrömischer Flüchtlinge unter den Zuhörern des Augustinus und zum theologischen Hintergrund: Maier / Patzold, August 410, S. 42f. und S. 56–58.
Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier
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konsultiert: Hans-Werner Goetz / Steffen Patzold / Karl-Wilhelm Welwei (Hg. / Übers.), Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Zweiter Teil, Darmstadt 2007 (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 1b), S. 325 und 327.
b)
»Falsche Götter« helfen nicht
»Ecce, inquit, christianis temporibus Roma perit. Forte Roma non perit: forte flagellata est, non interempta: forte castigata est, non deleta. Forte Roma non perit, si Romani non pereant. Non enim peribunt, si Deum laudabunt: peribunt, si blasphemabunt. Roma enim quid est, nisi Romani? Non enim de lapidibus et lignis agitur, de excelsis insulis et amplissimis moenibus. […]
»Seht nur, sagt er [ein Kritiker des Christentums], in christlichen Zeiten geht Rom unter. Möglicherweise [antworte ich ihm] geht Rom nicht unter; möglicherweise wird Rom ausgepeitscht, nicht vernichtet; möglicherweise wird es gestraft, nicht zerstört. Möglicherweise geht Rom nicht unter, wenn die Römer nicht untergehen. Sie werden nämlich nicht untergehen, wenn sie Gott loben; sie werden untergehen, wenn sie ihn lästern. Was ist denn schon Rom, wenn nicht die Römer? Es geht ja nicht um Steine und Holzbalken, um prächtige Wohnblocks und weitläufige Stadtmauern. […]
Sed quare inter sacrificia Christianorum perit Roma? Quare inter sacrificia Paganorum arsit mater ejus Troja? Dii, in quibus spem suam Romani posuerunt, omnino Romani dii, in quibus spem Pagani Romani posuerunt, ad Romam condendam de Troja incensa migraverunt. Dii Romani ipsi fuerunt primo dii Trojani. Arsit Troja, tulit Aeneas deos fugitivos: imo tulit deos fugiens stolidos. Portari enim a fugiente potuerunt: fugere ipsi non potuerunt. Et cum ipsis diis vieniens in Italiam, cum diis falsis condidit Romam.«
Aber warum geht denn unter den Opfern der Christen Rom unter? Warum brannte Troja, die Mutter Roms, unter den Opfern der Heiden? Die Götter, auf welche die Römer ihre Hoffnung setzten, ganz klar die römischen Götter, auf welche die heidnischen Römer ihre Hoffnung setzten, waren zur Gründung Roms aus dem brennenden Troja ausgewandert. Die Götter Roms waren am Anfang selbst Trojaner. Troja ist abgebrannt, Aeneas brachte die Götter als Flüchtlinge mit; mehr noch: er brachte machtlose Götter mit. Sie konnten nämlich von dem Flüchtling [Aeneas] getragen werden, selbst aber nicht fliehen. Und mit diesen Göttern kam er nach Italien, mit diesen falschen Göttern gründete er Rom.«
Lat. Text: Augustini Hipponensis episcopi opera omnia, Bd. 5,1, ed. Jean-Paul Migne (Patrologia Latina, 38), Paris 1865, Sermo, 81,9 (S. 505). Freie Übers.: Peter Geiss unter Beratung von Konrad Vössing. Unterstützend wurde folgende Übers. konsultiert: HansWerner Goetz / Steffen Patzold / Karl-Wilhelm Welwei (Hg. / Übers.), Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des
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3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Zweiter Teil, Darmstadt 2007 (Freiherr-vomStein-Gedächtnisausgabe, 1b), S. 331.
4.
Hintergrund: die Position der Götterverehrer
Auch wenn 410 n. Chr. die meisten Einwohner des Imperium Romanum Christen waren, hielt sich die alte Götterreligion noch in Teilen der Gesellschaft, gerade in der gebildeten Oberschicht. Ein führender Vertreter dieser aus christlicher Sicht ›heidnischen‹ Kreise war der Senator und Stadtpräfekt Symmachus, der 382 n. Chr. für die Wiederaufstellung des von dem christlichen Kaiser Gratian entfernten Altars der Siegesgöttin Victoria im römischen Senatsgebäude eintrat.6 Auch wenn diese Auseinandersetzung fast 30 Jahre vor der Eroberung Roms geführt wurde, ist sie doch als Interpretationshintergrund noch von Interesse. »Romam nunc putemus adsistere atque his vobiscum agere sermonibus: optimi principum, patres patriae, reveremini annos meos, in quos me pius ritus adduxit! utar caeremoniis avitis, neque enim paenitet! vivam meo more, quia libera sum! hic cultus in leges meas orbem redegit, haec sacra Hannibalem a moenibus, a Capitolio Senonas reppulerunt. ad hoc ergo servata sum, ut longaeva reprehendar?«
»Wir wollen uns nun einmal vorstellen, dass [die Göttin] Roma anwesend ist und mit euch in folgendem Gespräch verhandelt: Ihr besten Kaiser, ihr Väter des Vaterlandes, habt Respekt vor meinen vielen Lebensjahren, zu denen mich eine gewissenhafte Religionsausübung geführt hat! Ich will die Zeremonien der Vorväter weiterführen und bereue das auch nicht! Ich will nach meiner Sitte leben, weil ich frei bin. Dieser Kult hat die ganze Welt unter die Herrschaft meiner Gesetze gebracht, diese Opfer haben Hannibal von den Mauern [der Stadt Rom] und die Senonen vom Kapitol zurückgeworfen. Wurde ich etwa deshalb gerettet, damit ich mir nun im hohen Alter Kritik anhören muss?«
Lat. Text: Q. Aurelii Symmachi quae supersunt, ed. Otto Seeck, Monumenta Germaniae Historica, Auctores antiquissimi, Bd. 6, Teil 1, Berlin 1883, Relatio 3,9, S. 282. Freie Übers.: Peter Geiss unter Beratung durch Konrad Vössing. Unterstützend wurde folgende Übers. konsultiert: Richard Klein (Hg. / Übers.), Der Streit um den Victoriaaltar. Die 3. Relatio des Symmachus und die Briefe 17, 18 und 57 des Ambrosius, Darmstadt 1972 (Texte zur Forschung, 7), S. 104.
6 Vgl. Demandt, Die Spätantike, S. 425.
Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier
5.
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Westgoten und Römer im christlichen Glauben verbunden (Orosius)
Orosius stand Augustinus nahe und wurde von ihm wesentlich beeinflusst.7 In seiner hier zitierten Weltgeschichte setzte er sich ebenfalls kritisch mit nichtchristlichen Interpretationen des Ereignisses von 410 n. Chr. auseinander. »adest Alaricus, trepidam Romam obsidet turbat inrumpit, dato tamen praecepto prius, ut si qui in sancta loca praecipueque in sanctorum apostolorum Petri et Pauli basilicas confugissent, hos inprimis inuiolatos securosque esse sinerent, tum deinde in quantum possent praedae inhiantes a sanguine temperarent. […]
»Alarich ist da, er belagert, erschreckt und erobert das ängstliche Rom. Vorher hatte er allerdings die Vorschrift erlassen, dass insbesondere diejenigen Einwohner unangetastet und sicher bleiben sollten, die sich an die heiligen Stätten – und vor allem in die Kirchen der heiligen Apostel Petrus und Paulus – flüchten würden. Zudem sollten seine Krieger in ihrer Gier nach Beute doch möglichst beim Blutvergießen Maß halten. […]
discurrentibus per Vrbem barbaris forte unus Gothorum idemque potens et Christianus sacram Deo uirginem iam aetate prouectam, in quadam ecclesiastica domo reperit, cumque ab ea aurum argentumque honeste exposceret, illa fideli constantia esse apud se plurimum et mox proferendum spospondit ac protulit, cumque expositis opibus attonitum barbarum magnitudine pondere pulchritudine, ignota etiam uasorum qualitate intellegeret, uirgo Christi ad barbarum ait: haec Petri apostoli sacra ministeria sunt. praesume, si audes; de facto tu uideris. ego quia defendere nequeo, tenere non audeo. barbarus uero ad reuerentiam religionis timore Dei et fide uirginis motus ad Alaricum haec per nuntium rettulit: qui continuo reportari ad apostoli basilicam uniuersa ut erant uasa imperauit, uirginem etiam simulque omnes qui se adiungerent Christianos eodem cum defensione deduci. ea domus a sanctis sedibus longe ut ferunt et medio interiectu Vrbis aberat. itaque magno spectaculo omnium disposita per singulos singula et super capita elata palam aurea atque argentea uasa portantur; exertis undique ad
Als nun also die Barbaren durch die Stadt streiften, fand einer der Goten, ein kräftiger Kerl und zugleich ein Christ, eine Gott geweihte Jungfrau fortgeschrittenen Alters in einem kirchlichen Haus. Und als er von ihr in respektvollem Ton Gold und Silber verlangte, versprach sie in gläubiger Standhaftigkeit: Bei ihr befinde sich sehr viel davon und sie werde es gleich bringen – und sie brachte es. Als sie dann nach dem Ausbreiten der Schätze bemerkte, dass der Barbar wegen ihrer Größe und auch ihrem Gewicht und der außergewöhnlichen Qualität völlig sprachlos war, sagte sie zum Barbaren: ›Dies ist die heilige Gottesdienstausstattung [d. h. z. B. Abendmahlskelch, Weihrauchgefäß etc.] des Apostels Petrus. Nimm sie an dich, wenn du es wagst, mit den Folgen der Tat musst du selbst zurechtkommen. Ich kann sie nicht verteidigen und wage es daher nicht, sie festzuhalten.‹ Den Barbaren nun bewog die Furcht vor Gott und der Glaube der Jungfrau, sich gegenüber der Religion respektvoll zu verhalten und er ließ Alarich dies durch einen Boten berichten: Dieser befahl, sämtliche Gefäße, wie sie waren, umgehend zur Kirche des Apostels
7 Zur Person: Art. »Orosius, Paulus«, in: Encyclopaedia Britannica digital, Chicago 2014.
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defensionem gladiis pia pompa munitur; hymnum Deo Romanis barbarisque concinentibus publice canitur; […].«
zurückzubringen und zudem auch die Jungfrau wie auch alle Christen, die sich ihr anschlossen, unter demselben Geleitschutz wegzuführen. Der Überlieferung zufolge war dieses Haus von den heiligen Stätten weit entfernt, und man musste die halbe Stadt durchqueren. Deshalb wurden in einem großen Schauspiel für alle die Gefäße aus Gold und Silber dorthin getragen, jeweils von einzelnen Menschen deutlich sichtbar über den Kopf gehoben. Nachdem von allen Seiten zur Verteidigung die Schwerter gezogen worden waren, wurde so eine fromme Prozession gesichert. Im Zusammenklang stimmten Römer und Barbaren öffentlich einen heiligen Gesang für Gott an; […].«
Lat. Text: Pauli Orosii historiarum adversum paganos libri VII. Accedit eidusdem liber apologeticus, ed. Karl Zangmeister, Wien 1882 (Corpus striptorum ecclesiasticorum latinorum, 5), Buch 7,39,2–9 (S. 544–547). Freie Übers.: Peter Geiss unter Beratung von Konrad Vössing. Unterstützend wurde folgende Übers. konsultiert: Hans-Werner Goetz / Steffen Patzold / Karl-Wilhelm Welwei (Hg. / Übers.), Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Zweiter Teil, Darmstadt 2007 (Freiherr-vomStein-Gedächtnisausgabe, 1b), S. 313 und 315.
6.
Ein späterer Bericht über die Einnahme Roms (Prokop)
Der oströmische Historiker Prokop berichtete Mitte des 6. Jahrhunderts über das damals fast anderthalb Jahrhunderte zurückliegende Ereignis.8 »Der Kaiser Honorius hatte zuerst in Rom residiert, friedlichen Sinns und ganz zufrieden, wie ich meine, wenn man ihn in seinem Palast ein beschauliches Dasein führen ließ; als aber die Barbaren näher rückten – man meldete die Ankunft eines großen Heeres im Gebiet der Taulantier –, verließ er Hals über Kopf die Residenz und floh nach Ravenna, einer festen Stadt, die an einer Bucht des Jonischen Meeres [Adria] gelegen ist. Manche behaupteten, dass er selbst die Barbaren herbeigerufen habe, da ihn eine Revolution bedrohte; das scheint mir aber wenig wahrscheinlich, so weit man aus dem Charakter des Menschen einen Schluss ziehen kann. Die Barbaren fanden keinen Widerstand vor und hausten furchtbar. Die Städte, welche sie eroberten, zerstörten sie so gründlich, dass zu meiner Zeit 8 Zur Person: Rainer A. Müller, Art. »Prokop von Caesarea«, in: Rüdiger vom Bruch / Rainer A. Müller (Hg.), Historiker-Lexikon, 2. Aufl., München 2002, S. 263. Der nachfolgend abgedruckte Auszug aus Prokops Werk wird ebenso wie das Historiengemälde (Nr. 7) zitiert und kommentiert in Mathisen, Roma, S. 100.
Die Westgoten in Rom (410 n. Chr.) – ein multiperspektivisches Quellendossier
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keine Spur mehr von ihnen vorhanden war, vor allem am Jonischen Golf – nur hier und da blieb wie durch Zufall ein Turm oder Tor stehen; wer ihnen begegnete, wurde getötet; sie schonten weder Jung noch Alt, weder Frauen noch Kinder […]«
Prokop schildert dann die Belagerung und Einnahme Roms. Durch eine (an das berühmte trojanische Pferd erinnernde) List sei es Alarich gelungen, Krieger in die Stadt einzuschleusen und so die Tore für seine Westgoten öffnen zu lassen. »Die Goten steckten sofort die Häuser nahe am Tor in Brand, unter diesen auch das des Sallust, des bekannten römischen Geschichtsschreibers. Die halbverbrannten Ruinen davon haben sich bis zu meiner Zeit erhalten. Sie plünderten die ganze Stadt, töteten die Mehrzahl der Bewohner und zogen weiter. Wie man erzählt, hatte damals der Kaiser Honorius in Ravenna einen Eunuchen, welcher die Aufsicht über den Hühnerhof führte; dieser meldete ihm, dass Roma [lateinischer Name Roms] verloren sei; er aber schrie laut auf und sagte: ›Sie hat doch soeben erst noch aus meiner Hand gefressen.‹ Er hatte nämlich eine sehr große Henne, die Roma hieß. Da begriff erst der Eunuch, was der Kaiser meinte, und sagte, dass die Stadt Rom von Alarich zerstört worden sei. Darauf soll der Kaiser gesagt haben: ›Ach, guter Freund, ich glaubte die Henne, die Roma, wäre mir gestorben‹. So dumm, behauptet man, sei dieser Kaiser gewesen.«
Prokop, Vandalenkrieg, übers. v. D. Coste, Leipzig 1885 (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit), S. 2 und 4, sprachlich und orthographisch hier leicht modernisiert.
7.
Eine moderne Illustration der Anekdote Prokops
Abb. 2: John William Waterhouse, The Favourites of the Emperor Honorius, 1883, Aufbewahrungsort: The Art Gallery of South Australia, Adelaide; ikonographische Angaben nach: https://
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Peter Geiss
www.agsa.sa.gov.au/collection-publications/collection/works/the-favourites-of-the-emperor-ho norius/25266/ [07. 02. 2020], Reproduktion hier: © akg-images.
Arbeitsaufträge 1. Versuchen Sie, die Ereignisse in Rom 410 n. Chr. zu rekonstruieren, soweit Ihnen dies auf der Grundlage der in diesem Dossier versammelten Quellen möglich ist. Berücksichtigen Sie dabei die Frage der Zuverlässigkeit dieser Quellen. 2. Zeigen Sie am Beispiel der Aussagen des Augustinus und des Orosius, welchen Einfluss die christliche Religion auf die Interpretation des Ereignisses von 410 n. Chr. hatte (Dok. 3 und 5). Berücksichtigen Sie dabei die Tatsache, dass damals Teile der römischen Reichsbevölkerung noch die alten Götter verehrten (Dok. 4). 3. Erläutern Sie, inwieweit zwischen dieser christlichen Interpretation und der offiziellen Darstellung römischer Herrschaft ein Spannungsverhältnis bestand (Münze des Honorius, Dok. 1). 4. Identifizieren Sie Ereignisse in späterer Zeit oder in der Gegenwart, deren Interpretation ebenfalls aufgrund von unterschiedlichen religiösen oder weltanschaulichen Haltungen stark umstritten ist. 5. Diskutieren Sie auf dieser Basis den Unterschied zwischen einer historischen Tatsache und einer Interpretation. Ist diese Unterscheidung aus Ihrer Sicht überhaupt möglich? 6. Traditionell sahen die Römer in den ›Barbaren‹ unzivilisierte, gewalttätige und moralisch unzuverlässige Menschen. Charakterisieren Sie die Darstellung der ›Barbaren‹, die sich im Bericht des Orosius findet (Dok. 5). Wie könnten die auffallenden Unterschiede zu früheren Barbarenvorstellungen zu erklären sein? 7. Schätzen Sie den Wahrheitsgehalt der bei Prokop (erst im 6. Jahrhundert) wiedergegebenen Anekdote über das Verhalten des Kaisers Honorius ein (Dok. 6). Welchen Sinn unterlegt die Anekdote unabhängig von ihrer Faktentreue dem Geschehen von 410 n. Chr. und wie beurteilen Sie diesen Sinn? 8. Das hier gezeigte Historiengemälde von William Waterhouse (Dok. 7) ist für das Ereignis von 410 n. Chr. keine Quelle. Diskutieren Sie, inwieweit es für Historikerinnen und Historiker dennoch sinnvoll sein kann, sich mit späteren Darstellungen dieser Art auseinanderzusetzen.
Abbildungsverzeichnis
Umschlag
»Rome Via Appia Antica« © Shutterstock / LianeM
Klaus Rosen Abb. 1:
Raffael (Rafaello Sanzio), Die Begegnung Paps Leos I. mit Attila, 1514, Aufbewahrungsort: Stanza di Eliodoro, Palazzi Pontifici, Vatikan; ikonographische Angaben nach: https://www.wga.hu/art/r/raphael/4stanze/2eliodor/4meetin.jpg [07. 02. 2020], für die Reproduktion © SCALA Group S.p.A.
Uwe Baumann Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4:
Histoire de France en bandes dessinées, 2. Attila, Clovis, Zeichnungen von Raymond Poïvet und Julio Ribera / Texte von Roger Lécureux und Christian Godard, Paris: Société des Périodiques Larousse 1976, Teil 1: La ruée des Huns (»Der Hunnensturm«), S. 71,4 (© Société des Périodiques Larousse / Raymond Poïvet / Julio Ribera Lécureux / Christian Godard). Harold Rudolph Foster, Prinz Eisenherz, Hal Foster Gesamtausgabe, Bonn: Bocola, S. 125, Abb. 7: © King Features Syndicate, Inc. / Distr. Bulls / Bocola, Bonn (2006). Harold Rudolph Foster, Prinz Eisenherz, Hal Foster Gesamtausgabe, Bonn: Bocola, S. 160, Abb. 5: © King Features Syndicate, Inc. / Distr. Bulls / Bocola, Bonn (2006). Valérie Mangin / Aleksa Gajic, Die Geißel der Götter (Le Fléau des Dieux), Bd. 4: Vae Victis, Augsburg: Finix Comics 2010, S. 5,1–3: © MC Productions / Mangin / Gajic / Finix Comics (2010).
Carolin Hestler Abb. 1: Abb. 2:
Walther Gehl / Max Worbs, Geschichte für Mittelschulen Heft 1, Breslau 1926, S. 87. Karl Wehrhan / Wilhelm Dienstbach / Heinrich Idelberger / Hans Wittelsbach, Geschichte 5, Klasse IA, Frankfurt am Main 1925, S. 7.
336 Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6:
Abbildungsverzeichnis
Karl Wehrhan / Heinrich Idelberger / Hans Wittelsbach, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen, Teil II, Ausgabe A, Frankfurt am Main 1926, S. 13. Karl Grunwald / Otto Lukas, Lehrbuch der Geschichte für Mittelschulen II, Frankfurt am Main 1939, S. 27. Dietrich Klagges / Gustav Märkisch / Ernst Nickel, Volk und Führer, Klasse 2, Frankfurt am Main 1940, S. 114. Dietrich Klagges / Gustav Märkisch / Ernst Nickel, Volk und Führer, Klasse 2, Frankfurt am Main 1940, S. 176.
Tobias Arand Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Walter Frenzel, Geschichte des deutschen Volkes und seiner Vorfahren von den Anfängen bis Kaiser Karl, Leipzig / Berlin 1939 (Volkwerden der Deutschen, 2), Einband. Walter Frenzel, Geschichte des deutschen Volkes und seiner Vorfahren von den Anfängen bis Kaiser Karl, Leipzig / Berlin 1939 (Volkwerden der Deutschen, 2), S. 90. Hans Bartels / Karl Klotzsch / Hans Lüdemann, Von der Vorgeschichte bis zum Ende der Stauferzeit, Leipzig / Berlin 1939 (Volkwerden der Deutschen, 6), S. 147.
Quellendossier Abb. 1:
Abb. 2:
Goldmünze (Solidus) des Kaisers Honorius, Quelle: Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, 18213243, Aufnahmen durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann), Permalink: https://ikmk.smb.museum/object?id=1821324 [29. 03. 2019]. John William Waterhouse, The Favourites of the Emperor Honorius, 1883, Aufbewahrungsort: The Art Gallery of South Australia, Adelaide; ikonographische Angaben nach: https://www.agsa.sa.gov.au/collection-publications/collection/ works/the-favourites-of-the-emperor-honorius/25266/ [07. 02. 2020], für die Reproduktion © akg-images.
Autorenverzeichnis
Arand, Tobias, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Abteilung Geschichte. Beigel, Thorsten, Dr., Bergische Universität Wuppertal, Institut für Geschichtswissenschaft, Alte Geschichte. Baumann, Uwe, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie, Modern Anglophone Literatures and Cultures. Demandt, Alexander, em. Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Alte Geschichte. Geiss, Peter, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Didaktik der Geschichte. Gilhaus, Lennart, Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Alte Geschichte. Hestler, Carolin, Dr., AR, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Abteilung Geschichte. Rosen, Klaus, em. Prof. Dr. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Alte Geschichte. Steinacher, Roland, Prof. Dr., Universität Innsbruck, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Alte Geschichte. Vössing, Konrad, Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Alte Geschichte.