Die Dialektik des Mythos 9783787327461, 9783787310456

Das Hauptwerk des russischen Philosophen Aleksej Losev (1893-1988) wird hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt

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German Pages 210 [238] Year 1972

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Die Dialektik des Mythos
 9783787327461, 9783787310456

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Aleksej Losev Die Dialektik des Mythos

ALEKSEJ LOSEV

Die Dialektik des Mythos Übersetzt von Elke Kirsten Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von ALEXANDER HAARDT

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-1045-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2746-1

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1994. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Vorbemerkung ................ ... . ....... ........... ...... .,.,,.,,..... Einleitung. Mythos, Sprache und Kunst im Frühwerk . ............. ................. Aleksej Losevs .......................... Editorische Hinweise . ........................ . ..... . .. ..... ...... Bibliographie. Aleksej Losevs frühes Werk ..................... Aleksej Losev Die Dialektik des Mythos

. .

Vorwort ..................... ................... ........................ Einleitung ................................. ......... ........................ I.

Der Mythos ist keine Erfindung oder Fiktion, er ist kein ... . ............ Phantasiegebilde ... ..................... ... 11 Der Mythos ist kein ideales Sein ........................... 111. Der Mythos ist keine wissenschaftliche und insbesondere keine primitiv-wissenschaftliche Konstruktion .. IV. Der Mythos ist keine Metaphysik .......................... V. Der Mythos ist weder Schema noch Allegorie ......... VI. Der Mythos ist keine Dichtung .............................. VII. Der Mythos ist eine personhafte Form .................... VIII. Der Mythos hat keinen spezifisch religiösen Ursprung IX. Der Mythos ist kein Dogma .................................. X. Der Mythos ist kein historisches Ereignis als solches XI. Der Mythos ist Wunder .......................... . . . ...... XII. Zusammenfassung aller dialektischen Momente des Mythos in Hinblick auf den Wunderbegriff ............. XIII. Endgultige dialektische Formel ........................... . XIV. Übergang zur realen Mythologie und die Idee einer absoluten Mythologie .... . ................. .................... ....

.

Anmerkungen des Herausgebers ........... ........................ Personenregister .......... .............. .............. ...................

VII

Leben und Werk des russischen Philosophen Aleksej F. Losev (18931988)bezeugen die unbeugsame Kraft des freien Denkens im Widerstreit mit jeder, nur kraft Verordnung etablierten Macht des Dogmas einer Ideologie. Die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegte Schrift zur ))Dialektikdes Mythos(( wurde 1930 von den Moskauer Machthabern verboten und eingezogen, weil sich Losev zum Christentum bekannte und offenlegte, daß auch der Geltungsanspruch der Heilslehre des Kommunismus nur auf der Verabsolutierung mythischer Setzungen beruht; heute besticht das 1990 in Moskau neu aufgelegte Werk durch die ungebrochene Aktualität und Präzision, mit der Losev generell die Macht (und das Elend) des Mythos im Denken unserer Zeit analysiert und beschreibt. Der Verlag dankt Arseni Gulyga für den Hinweis auf die besondere Bedeutung dieses Buches und für die Vermittlung der deutschen Veröffentlichungsrechte, der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung für die Förderung der Übersetzung Der Verlag

EINLEITUNG Mythos, Sprache und Kunst im Frühwerk Aleksej Losevs

In seiner 1930 in Moskau erstmals veröffentlichten, 1990 neu auf gelegten ))Dialektikdes Mythos«l geht es dem russischen Philosophen und klassischen Philologen Aleksej Losev (1893-1988)darum, die Kategorien und Strukturen des mythischen Bewußtseins umrißhaft herauszuarbeiten und dieses gegenüber einer neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Weltsicht als gleichberechtigte Form der Weltdeutung zu legitimieren. Drei Konzeptionen des Mythos waren dabei für Losev von exemplarischer Bedeutung: 1. Die Arbeit des Neukantianers Ernst Cassirer über ))Dasmythische Denken((, die 1925 als 2.Teil der in der Sowjetunion der zwanziger Jahre höchst einfiußreichen »Philosophieder symbolischen Formen« erschienen ist;* 2. die Theorien des Symbols und des Mythos, wie sie Schelling in seiner »Philosophie der Kunst((und später in der ))Philosophie der Mythologie(( expliziert hat;3 3. und schließlich - für den heutigen Leser überraschend - die Rekonstruktion der antiken Mythologie aus der Perspektive des Neuplatonikers Prok10s.~

1 A. Losev: Dialektika mifa. Moskva 1930. Nachdruck in: A. Losev: Iz rannich proizvedenij (Aus dem Frühwerk). Moskva 1990. S.391-655. Diese Neuauflage enthält kompetente Kommentare von L.A. GogotiSvili, auf die in der vorliegenden Ausgabe öfters zurückgegriffen wird. 2 E. Cassirer : Philosophie der symbolischen Formen. 2.Teil: Das mythische Denken. Darmstadt, 8. unv. Auflage, 1987. Losev weist schon in der »Dialektik der künstlerischen Form« von 1927 auf die Affinität seiner Mythos-Theorie gegenüber derjenigen Cassirers hin. Vgl. A. Losev: Dialektika chudoiestvennoj formy. Moskva 1927. Nachdruck: München 1983. S. 15lff.(Künftig zitiert: DKF). 3 F.W.J. Schelling: Philosophie der Kunst. In: Sämtliche Werke, l.Abt., 5.Bd, Stuttgart und Augsburg 1859. Nachdruck: Darmstadt 1966. Ders.: Philosophie der Mythologie. In: Sämtliche Werke, 2.Abt., 1.U. 2.Bd., Stuttgart und Augsburg 1856 U. 57. Nachdruck: Darmstadt 1966. Losevs Bezugnahme auf Schellings Theorie des Mythos findet sich in DKF 151. 4 Proklos' Metaphysik der All-Einheit bildet für Losev den Höhepunkt des antiken Neuplatonismus, den er - unter den Bedingungen der Moderne - restituieren will. Seine hohe Einschätzung von Proklos' Mythos-Theorie findet sich in DKF 150.

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Deutet die Orientierung an Cassirer darauf hin, daß der Mythos zum Gegenstand einer wissenschaftlich-distanzierenden Analyse gemacht wird, so spricht Losevs Rückgriff auf Proklos dafür, daß er die Rehabilitierung des mythologischen Weltverständnisses der Antike anstrebt. Hier trifft er sich mit der ästhetizistischen Wiederbelebung antiker Mythen im russischen Symbolismus, insbesondere durch den von ihm hochgeschätzten VjaPeslav Ivanov, der - von Nietzsches ))Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« inspiriert - den Kult des sterbenden und wiederauferstehenden Dionysos kulturgeschichtlich und philosophisch analysiert sowie lyrisch gestaltet hat.5 Sofern Losev schließlich seine Position mit derjenigen Schellings in dessen ))Philosophie der Mythologie« identifi~iert,~ die als Vorstufe einer ))Philosophie der (jüdisch-christlichen) Offenbarung« konzipiert ist, erwartet man auch in Losevs Text eine Überhöhung und Relativierung der antiken Göttenuelt durch das Christentum. Tatsächlich wird diese Erwartung im Schlußkapitel der „Dialektik des Mythos((eingelöst, wo der Autor sein christliches Weltverständnis in der verschlüsselten Form einer ))absoluten Mythologie« expliziert. Unmittelbar nach Erscheinen des Buches wurde Losev im April 1930 verhaftet. Den Ausschlag gab - neben der Orientierung an den ))idealistischen((Konzeptionen des Neuplatonismus, des deutschen Idealismus, des Neukantianismus und der Phänomenologie Edrnund Husserls - die Propagierung einer christlichen Philosophie im Geiste der Ostkirche. Aber schon d e i n folgende Charakterisierung der Phraseologie des marxistischen Klassenkampfes hätte Losevs Inhaftierung zur Folge gehabt: ))VornStandpunkt der kommunistischen Mythologie aus geht nicht nur )ein Gespenst um in Europa, das Gespenst des Kommunismus )Idealisten((und »Klassenfeind« Losev, deren Höhepunkt der Auftritt von L.M. Kaganovii. am 16. Parteitag bildete. Auf die Verhaftung des Philosophen am 18.1V.1930 folgte eine 17monatige Untersuchungshaft im gefürchteten Lubjanka-Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes, davon viereinhalb Monate in Einzelhaft. Losev wird als Mitglied eines »kirchlich-politischenZentrums« zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Es folgt der Abtransport in ein Arbeitslager für den Bau des Weißmeer-Ostseekanals (Belmorbaltlag), wo sich

14 Zum Leben und Werk von P.A. Florenskii (1882-1937), der in der neueren philosophischen und theologischen ~iskusiionin ~ u ß l a n deine große Roiie spielt. ve1.U. Wemer: Pavel Florenskii: Lebensspuren. In: P. Florenskii: ' Die k o r t S. 7-23. n'ostase,"übers. U. hrsg. von U. weiner. ~ t u t i ~ a1990. 15 Zu den frühen, zwischen 1916 und 1930 erschienenen Schriften Losevs vgl. A. Haardt: Husserl in Rußland. Phänomenologie der Sprache und Kunst bei G. Spet und A. Losev. München 1992. Zum geistes- und philosophiegeschichtlichen Kontext von Losevs Denken vgl. W. Goerdt: Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke. FreiburgIMünchen 1984. S. 471-686.

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Losevs Gesundheit, insbesondere sein Sehvermögen, rapide verschlechtert. Schließlich wird er aufgmnd seiner Invalidität und unter Fürsprache einfiußreicher Persönlichkeiten, insbesondere von M. Gor'kijs Ehefrau, E.P. PeSkova, und Lenins Schwester, M.I. Ui'janova, im Herbst 1933 aus der Lagerhaft entlassen. Nach der Rückkehr aus dem Lager folgte eine »Schweigeperiode« bis zum Jahre 1953, in der Losev - mit Ausnahme einer Textauswahl aus Nikolaus Cusanus (1937) und einer Arbeit über Polyklet (1939) - nichts veröffentlichen konnte. Er arbeitete in dieser Zeit an verschiedenen sowjetischen Bildungsinstitutionen, wobei ihm der Umstand zugute kam, daß der 1921 in Schulen und Universitäten verbotene Latein- und Griechischuntemcht 1934 wieder eingeführt worden war. Aufgrund seiner bisherigen Publikationen wurde ihm 1943 der Titel eines Doktors der Philologie ~honoriscausaa verliehen. Von 1942 bis 1944 war Losev Professor am Lehrstuhl für Logik an der Moskauer Staatlichen Lomonosov-Universität, der ihm jedoch wegen »Propagierung Hegelschen Denkens« entzogen wurde. Seit 1944 lehrte er arn Moskauer Staatlichen pädagogischen Lenin-Institut als Professor für klassische Philologie und allgemeine Sprachwissenschaft. Nach dem Tod seiner ersten Frau irn Jahre 1954 heiratete Losev 1956 die Altphilologin Aza A. Tacho-Godi, Professorin für klassische Philologie an der Moskauer Universität (MGU). Sie ermöglichte ihrem seit 1947 endgültig erblindeten Mann die weitere wissenschaftliche Arbeit. Seit 1953 hat Losev in den Bereichen der antiken und neuzeitlichen Philosophie und Literatur, der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Ästhetik und Musiktheorie und anderen Forschungsgebieten an die 400 Arbeiten, darunter 34 Bücher veröffentlicht." Sein Hauptwerk ist die 8-bändige »Geschichte der antiken Ästhetik«, die eigentlich eine umfassende Philosophie- und Kulturgeschichte der griechischen und römischen Antike darstellt (7 Bände sind davon bereits publiziert). Aleksej Losev ist am 24. Mai 1988 gestorben. Seit dem Tode Losevs sind in der Sowjetunion und in der GUS wichtige Materialien veröffentlicht worden, welche den biographischen Hintergrund und die philosophische Bedeutung seines Frühwerks immer deutlicher werden lassen. Die »Philosophie des Namensa, die nMusik als Gegenstand der Logik« und die »Dialektik des Mythos« sind 1990 neu herausgegeben worden. Auch wird die Frage nach dem Übergang von Losevs idealistischem Früh- zum marxistisch orientierten Spätwerk differenzierter gestellt. Früher hatte man die Schweigepe16 Vgl. dazu die irn Moskauer Jahrbuch»Kontekstaveröffentlichte Bibliographie (Kontekst 1990. C. 55-63).

Mythos, Sprache und Kunst im Frühwerk Aleksej Losevs

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riode des Philosophen in den dreißiger und vierziger Jahren als »schwierigen Weg zum Marxismuscc gedeutet,17 in neueren Veröffentlichungen wird eine pragmatisch motivierte äußerliche Anpassung angenommen, ohne die ein wissenschaftliches Arbeiten in den sowjetischen Bildungsinstitutionen in der Tat nicht möglich war. Nun hat Losev selber noch in Interviews der achtziger Jahre darauf hingewiesen, daß Engels' „Dialektik der Natur« und Lenins ~Philosophische Hefte« sein eigenes, für ihn selber spezifisches Verständnis der marxistischen Dialektik bestimmt hätten.18 Wie tiefgreifend diese - sicherlich auch pragmatisch motivierte - Orientierung an Engels' und Lenins Dialektikverständnis wirklich gewesen ist, läßt sich nur durch einen systematischen Vergleich von Losevs Auffassung und Durc-ng dialektischer Denkweisen in seinem idealistischen Frühwerk und seinen späten Schriften deutlich machen. Doch wie stark sein Denken auch durch seine Einpassung in ein ihm fremdes gesellschaftlich-ideologisches System transformiert worden sein mag, daß bestimmte Leitgedanken seiner früheren Philosophie bis zuletzt für ihn bestimmend gewesen sind, dafür spricht die Wiederaufnahme seiner frühen Beschäftigung mit Vladimir Solov'evs Metaphysik der All-Einheit in seinen letzten Lebensjahren.lg

2. Sprache und Mythos

Das Mythische in einem weiten Sinn bestimmt Losev anhand der personalen Begegnung mit demjenigen, der zum Thema mythischer Rede wird. Mythisch ist der lebendige Gesamteindruck, den eine Person - oder eine personal aufgefaßte Sache - in einer solchen Begegnung in mir hinterläßt. Mythen sind Erzählungen, in denen Ereignisse zur Sprache kommen, die für die betreffende Person bezeichnend sind. Die Art und Weise, in der ich den Anderen mit seinem Namen anspreche, bildet dabei den Schlüssel für das Verständnis dieser mythi, ~ ~ im Namen sind Losev zufolge jene für schen E r z ä h l ~ n g e n denn Vgl. Bol'Caja sovetskaja knciklopedija. T.XV. Moskva 1974 S. 29-31. 18 Vgl. V. Erofeev: A.F. Losev: V poiskach smysla (Auf der Suche nach dem Sinn). In: Voprosy literatury 1985, Nr.10. S. 205-231. 19 Knapp vor seinem Tod beendete Losev die umfassende Monographie über Madimir Solov'ev und seine Zeit« (W. Solov'ev i ego vremja. Moskva 1990). Zu erwähnen ist auch die 1988 erschienene, mit A. Gulyga veranstaltete zweibändige Ausgabe von Werken Solov'evs. 20 Eine Theorie des (magisch verwendeten) Namens bildet auch das Zender bahnbrechenden Arbeit Hans Blumenbergs über die »Arbeit am Mythos«. Vgl. bes. das Kapitel über das »Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten« (H. Blumenberg: Arbeit am Mythos. FrankfurtlMain l9i9. S. 40-67). 17

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die Person wesentlichen Daseinsmöglichkeiten mitgemeint, die dann erzählerisch expliziert werden. Dieser Mythosbegriff umfaßt ein weites Spektrum von Erzählformen. Am unteren Ende steht jede beliebige Erzählung, sofern sie das Charakteristische einer Person zum Ausdruck bringt, am oberen Ende steht die »wunderbare«,dem Gewohnten und Vertrauten widerstreitende Geschichte, wobei das Wunderbare darin besteht, daß die Handlungsweise einer Person ihre äußersten Möglichkeiten zur Erscheinung bringt. Von hier schreibt sich das Phantastische jedes Mythos (im engeren Sinn) her, sofern jenes Optimum in der Empirie nie realisiert ist.21 Losevs Theorie des Mythos als erzählerische Entfaltung des im Namen Vermeinten ist bereits in der 1927 publizierten »Philosophie des Namens« greifbar.u Was hier andeutungsweise ausgesprochen wurde, erfährt in der »Dialektik des Mythos(( seine ausführliche Bestimmung. Umgekehrt wird der hier kaum thematisierte sprachphilosophische und ontologische Rahmen von Losevs MythosTheorie in der ))Philosophiedes Namens(( systematisch entfaltet. Er soll im folgenden kurz vorgestellt werden. Grundlegend in Losevs Sprachphilosophie ist eine ganz bestimmte Konzeption des Verhältnisses der Worte zu den durch sie bezeichneten Sachen, derzufolge das Wesentliche derselben in den Worten sowohl zum Ausdruck kommt als auch durch sie verdeckt wird. Seiner platonischen Orientierung entsprechend denkt Losev dabei die Worte nach dem Modell von Namen (Eigen- und Gattungsnamen). Die Aufgabe der philosophischen Reflexion auf Namen bzw. Worte besteht darin, durch Aufdeckung von Vieldeutigkeiten und Vagheiten des vorgegebenen Sprachgebrauchs das Wesentliche einer Sache zur größtmöglichen Deutlichkeit zu bringen, was immer zugleich bedeutet, die prinzipielle Inadäquatheit sprachlicher Bestimmung gegenüber diesem Wesentlichen sichtbar zu machen. Das Wesentliche einer Sache, sofern es zur Erscheinung gelangen kann und begrifflich fixierbar ist, nennt Losev deren Eidos. Dabei sieht er es als Verdienst der Husserlschen Phänomenologie an, dieses antike Konzept, das in der zeitgenössischen Philosophie in Vergessenheit geraten sei, in Erinnerung gebracht zu haben.23Die eidetische Phänomenologie wird von Losev als jene moderne Form philosophischen Bewußtseins rezipiert, die den Rückweg in die Antike,

S.U. C. 156f. A. Losev: Filosofija imeni. Moskva 1927. Nachdruck in: A.F. Losw: Iz rannich proizvedenij (Aus dem Frühwerk). Moskva 1990. S. 9-192. Zitiert wird künftig die 1. Auflage unter »PhN()DerSophist« dialektisch entwickelten fünf obersten K a t e g ~ n e ndas : ~ ~Seiende, die Bewegung, die Ruhe, die Identität und der Unterschied, von Losev als jene Bestimmungen aufgewiesen, welche für die Wesensstruktur jedes Gegenstandes konstitutiv sind. Das so konzipierte Eidos weist in zwei Richtungen über sich hinaus: als in sich einheitliche Struktur ist es durch ein organisierendes Prinzip begründet, durch eine uranfängliche Einheit, die höher liegt als das Eidos selbst. Es ist das Überseiende, das Ur-Eine, der in sich 24

Vgl. Platons »Sophistes«249e-255e.

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differenzlose Grund, der sich in die Vielheit bestimmter Wesensstrukturen ausdifferenziert. Auf der anderen Seite ist jedes Eidos Wesen v o n e t W a s, es ist ein Allgemeines, das mehreren Individuen gemeinsam ist, das eines ))F&tumsa bedarf, in dem es sich realisiert. So ergibt sich für den russischen Platoniker in der Ausmessung dessen, was zu jedem Denkbaren notwendigerweise gehört, eine Vierheit von Prinzipien, eine Tetraktide:I5 A. Das schlechthin Eine (odno) B . Die in sich organisierten, voneinander abgegrenzten und aufeinander bezogenen eidetischen Gestalten C . Das Werden, der wechselseitige Übergang der eidetischen Gestalten ineinander und ihre Weiterbestirnrnung zur intelligiblen Struktur eines bestimmten Individuums D. Dieses individuelle ))Faktum((selbst, das vGewordene((,welches die Trias von Einem, Eidos und Werden »trägt((. Der Name bzw. das Wort ist als Ausdruck des so konzipierten Eidos zu verstehen. Die Worte sind dabei mehr oder weniger imstande, die Sachen bzw. das Wesentliche an ihnen zur Darstellung zu bringen. ))Das Geheimnis des Wortes besteht darin [...I, der Ort zu sein für die intime und bewußte Begegnung mit dem inneren Leben des Gegenstandes. a26 Die möglichen ))Begegnungen«zwischen Worten und Sachen werden in der ))Philosophiedes Namens(( in einem radikalen Perspektivenwechsel nachgezeichnet: Zunächst analysiert Losev aus der Perspektive des Sprechenden und Verstehenden die Struktur des Wortes bzw. des sprachlichen Ausdrucks sowie die Art und Weise, in der man sich über dessen Bedeutung auf die jeweilige Sache bezieht. In der Folge wird umgekehrt das Wort vom Wesen der Sache her als dessen Selbstdarstellung interpretiert. Losev verläßt die Perspektive der Subjektivität, um im Horizont einer onto-theologischen Fragestellung die ganze hierarchisch geordnete Stufenleiter des Seienden als Selbstaussprache des Absoluten auszulegen (oder - wie es in Anspielung auf die Gedankenwelt der griechischen Patristik heißt - als Manifestation der „Energien((der »ErstenWesenheit«).Das menschliche Sprechen und Denken erscheint jetzt als die höchste ))Stufedes Wortesa, in dem sich das Absolute ausspricht. In diesem umfassenden Modell von Sprache und Wirklichkeit kommt dem Mythos ein zentraler Stellenwert zu. Für das jeweilige Eidos ist der Mythos die ursprünglichste und umfassendste Aus25 26

Vgl. DKF 9-13. PhN 47.

Mythos, Sprache und Kunst im Frühwerk Aleksej Losevs

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drucksform, der gegenüber alle begrifflichen und theoretischen Bestimmungen sekundär sind.27))Mythisch«ist der lebendige Gesamteindruck, den eine Sache bzw. Person in der Kommunikation mit ihr hinterläßt. Erst auf dem Hintergrund des in dieser Begegnung mythisch aufgefaßten Eidos ergeben sich alle anderen, theoretischbegrifflichen und alltagssprachlichen Bestimmungen.

3. Kunst und Mythos

Aufschlußreich für die Frage nach der spezifisch mythologischen Ausdrucksform eines Eidos sind Losevs Bemerkungen über das Verhältnis von Kunst und Mythos in seiner >)Dialektikder künstlerischen Form« (1927).28Hier führt er den Schlüsselbegriff des Symbols ein, worin er der - auch für den russischen Symbolismus bestimmenden - Tradition der romantischen Ästhetik, insbesondere Schellings Vorlesungen zur nPhilosophie der Kunst(Wissenschaft«ist. Deshalb ist sie auch nicht »wissenschaftlich((widerlegbar. Außer einer »wissenschaftlichen((Bedeutung kann dieser mythisch-magische Akt viele andere Bedeutungen haben, die Levy-Bruhl, der ihn als Beispiel für die Sinnlosigkeit der Mythologie anführt,7nicht einmal im Traum eingefallen sind. Zum Beispiel muß dieser Ritus ja überhaupt keine utilitaristischmedizinischen Ziele haben. Vielleicht wird der nord-östliche Monsun von den Eingeborenen gar nicht als etwas Schlimmes und Schädliches angesehen. Man könnte sich vorstellen, daß sie ihn als einen Akt gerechter Bestrafung oder weiser göttlicher Führung erleben und daß sie dieser Bestrafung gar nicht aus dem Weg gehen, sondern sie in würdiger Ehrfurcht annehmen wollen; und vielleicht ist das die Bedeutung des Ritus. Kann er denn nicht viele verschiedene Bedeutungen haben, wenn man ihn vom Boden der tatsächlich vorfindbaren Mythologie aus betrachtet? Forscher wie Levy-Bruhl, für die die Mythologie immer etwas Schlechtes und die Wissenschaft immer etwas Gutes ist, werden nie etwas von solchen Riten verstehen. Von ihrem Standpunkt aus können sie nur sagen, daß es sich dabei um schlechte Wissenschaft und hilfloses kindliches Denken handele, um eine sinnlose Anhäufung idiotischer Manipulationen. Aber das zeigt auch, daß Levy-Bmhl und ähnlich denkende Forscher von Mythologie überhaupt nichts begreifen. ))Tanangla«erhebt ja gar keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Es wäre doch auch primitiv und dumm, an den Sonaten Beethovens wegen ihrer ))Unwissenschaftlichkeit((Kritik üben zu wollen. Diese Forscher beschreiben zwar das einfache Faktum ))Tanangla(( und interpretieren es, aber das eigentlich Wesentliche des Mythos enthüllen sie nicht, und sie hindern auch uns daran, es zu tun, denn woher soll ich etwas vom wahren Inhalt des Ritus erfahren, wenn ich ihn weder selbst gesehen habe, noch der Autor mir dessen Inhalt vermittelt? Stattdessen offeriert er mir eine Kritik des Ritus von seinem eigenen, für mich sehr bedingten, »wissenschaftlichen((Standpunkt aus. - Das heißt also, der Mythos befindet sich außerhalb der Wissenschaft und basiert auch auf keiner wie auch immer gearteten »wissenschaftlichen(( Erfahmng. Es heißt, daß die Beständigkeit der Naturerscheinungen seit frühesten Zeiten Anlaß dazu gegeben hat, über diese Erscheinungen nachzudenken und sie zu erklären, und daß die Mythen Erklärungsversuche derartiger natürlicher Gesetzmäßigkeiten sind. Aber das ist eine

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rein apriorische Vorstellung, die mit gleichem Erfolg auch durch die entgegengesetzte ersetzt werden kann. Und in der Tat, warum ist es denn gerade die »Beständigkeit«,die dabei eine Rolle spielt, und noch dazu gerade diese Rolle? Wenn die Erscheinungen ihren beständigen und unveränderlichen Verlauf nehmen (wie zum Beispiel beim Wechsel von Tag und Nacht oder den Jahreszeiten),worüber muß man sich da wundem und was zwingt dazu, sich einen wissenschaftlich-erklärenden Mythos auszudenken? Das mythische Bewußtsein denkt wahrscheinlich eher über seltene, ungewöhnliche, eindmcksvolle und einzigartige Erscheinungen nach und liefert nicht sosehr ursächliche Erklärungen, als vielmehr ausdrucksvolle und bildhafte Darstellungen. Die Beständigkeit der Naturgesetze und deren Beobachtung sagt überhaupt nichts aus, weder über das Wesen noch über die Herkunft des Mythos. Andererseits verbirgt sich hinter dem Versuch, den Mythos als eine Art archaischer Wissenschaft zu sehen, wiederum eine bedingte, heterogene Vorstellung, die die Aufdeckung des immanent-wesentlichen inhalts des Mythos verhindert. Im Helios-Mythos findet sich keinerlei Astronomie, auch wenn man von der wenig wahrscheinlichen Hypothese ausgeht, daß dieser Mythos ausgedacht worden ist, um die Beständigkeit des sichtbaren Verlaufs der Sonne zu erklären. Im Bericht der Bibel von den sieben Schöpfungstagen sind weder astronomische, noch geologische, noch biologische, noch überhaupt wissenschaftliche Gedanken enthalten. Und alle Versuche der Theologen, die Genesis vom Standpunkt zeitgenössischer wissenschaftlicher Theorien aus zu >)enträtseln«, sind gegenstandslos und geschmacklos. Allgemein bekannt sind auch die kühnen Unternehmungen der »Theologen«, die »Apokalypse zu deuten((.Ungeachtet dessen, daß die klassische Patristik derartige Deutungen sorgfältig vermied, und ungeachtet auch dessen, daß man den vielschichtigen Bildern der Apokalypse hunderte von historischen Fakten zuordnen kann, hat sich die Anzahl dieser ))Apokalyptiker«doch eher noch vergrößert statt verringert. Da, wo die »Gläubigen«unfähig sind, philosophisch oder dialektisch-dogmatisch zu denken, beschäftigen sie sich mit der „Deutung der Apokalypse«, denn träumen war immer leichter als denken. Man will einfach nicht begreifen, daß man den Mythos eben mythisch auffassen muß, daß der mythische Gehalt des Mythos an sich tief und differenziert, reich und interessant genug ist und seine Bedeutung in sich trägt und daß er gar keiner Deutungen und wis>enschaftlich-historischer Enträtselungen bedarf. Außerdem ist Apokalypse eine »Offenbarung((.Aber was ist das denn für eine Offenbarung, wenn wir, anstatt alle diese erstaunlichen apokalyptischen Bilder direkt und wörtlich zu nehmen, jedem das Recht geben, jedem Bild eine beliebige historische Epoche oder ein beliebiges Ereignis zuzuordnen?

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5. Wir wollen noch einmal über den Begriff der reinen Wissenschaft nachdenken und versuchen, ihr Wesen genauer zu formulieren; dabei wird deutlich werden, wie weit entfernt reine Mythologie und reine Wissenschaft voneinander sind. a) Was ist für die Wissenschaft als solche notwendig? Ist es zum Beispiel notwendig, daß sie von der realen Existenz ihrer Objekte überzeugt ist? Ich behaupte, da/3 die Gesetze der Physik und der Chemie immer diegleichen sind, ob man nun von der Realität der Materie ausgeht oder von ihrer Nicht-Realität und reinen Subjektivität. Ich kann völlig überzeugt sein davon, daß die physische Materie überhaupt nicht existiert und nur ein Erzeugnis meiner Psyche ist, und trotzdem ein guter Physiker und Chemiker sein. Das heißt, daß der wissenschaftliche Gehalt dieser Disziplinen überhaupt nicht von philosophischen ObjektTheorien abhängt und gar kein Objekt braucht. Zweitens gibt es eine Reihe von Wissenschaftszweigen, die, ungeachtet ihrer großen empirischen Bedeutung, rein deduktiv abgeleitet werden, zum Beispiel die Mathematik und die theoretische Mechanik. Auch wenn die empirische Forschung und das Experiment für die Wissenschaft nötig sind, so hindert die wissenschaftlichen Experimentatoren doch nichts daran zu denken, daß ihnen das alles nur so scheint und daß in Wirklichkeit weder die Materie noch das Experiment mit ihr, noch sie selbst existieren. Also ist die Wissenschaft nicht an der Realität ihres Objektes interessiert; und das »Naturgesetz((sagt weder über seine eigene Realität etwas aus noch über die der Dinge und Erscheinungen, die diesem »Gesetz« unterworfen sind. Natürlich ist es unnötig, darauf hinzuweisen, daß der Mythos in dieser Beziehung ganz im Gegensatz steht zur wissenschaftlichen Fowel. Der Mythos ist ganz und gar real und objektiv; und es kann niemals auch nur die Frage gestellt werden, ob die entsprechenden mythologischen Erscheinungen real sind oder nicht. Das mythische Bewußtsein operiert nur mit realen Objekten, mit maximal konkreten und wahren Erscheinungen. Man kann allerdings im mythischen Bereich das Vorhandensein verschiedener Grade von Realität feststellen, aber das ist etwas anderes als das Fehlen jedes Realitätsmoments in der reinen wissenschaftlichen Formel. In der mythischen Welt finden wir zum Beispiel die Erscheinungen der Verwandlungsmöglichkeit, Fakten, die verbunden sind mit der Wirkung einer Tarnkappe, mit Tod und Auferstehung von Menschen und Göttern usw. usw. Alles das sind Fakten verschiedener Intensitäten des Seins, Fakten verschiedener Realitätsgrade. Und hier geht es gerade nicht um etwas Nicht-Seinshaftes, sondern um das Schicksal der Seinshaftigkeit selbst, um ein Spiel verschiedener Realitätsgrade des Seins. In der Wissenschaft gibt es nichts Vergleichbares. Auch da wo sie anfängt, von verschiedenen Krümmungen des Raums zu sprechen (wie zum Beispiel

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in der zeitgenössischen Relativitätstheorie),ist sie nicht an der Raumkrümmung und am Sein selbst interessiert, sondern nur an der Theorie dieses Seins, an den Formeln und Gesetzen eines solchen inhomogenen Raums. Der Mythos dagegen ist das Sein selbst, die Realität selbst, die Konkretheit des Seins selbst. b) Gehen wir einen Schritt weiter: braucht denn die Wissenschaft das Subjekt des Forschers? Wir hatten gezeigt, daß der Gehalt eines beliebigen »Naturgesetzes« überhaupt nichts über die Objekte aussagt. Jetzt müssen wir kategorisch erklären, daß er auch überhaupt nichts über das Subjekt der Untersuchung aussagt. Leute, die nur unbewußt gebliebene Metyphysik und schlechte Mythologie kennen, werden nun gleich über mich herfallen und zum millionsten Male die langweilige Wahrheit, die mir immer ein bißchen das Gefühl einer leichten Übelkeit vermittelt, wiederholen: Wie soll es denn eine sich entwickelnde Wissenschaft geben, wenn es weder Objekte für wissenschaftliche Forschungen gibt noch Subjekte, die diese Forschungen durchführen? Aber das sind Einwände, die mich enervieren und auf die ich hier nicht eingehen werde. Ich sage nur so viel, daß ich aus keinem »Naturgesetz(( irgendeine Besonderheit des Wissenschaftlers, der es entdeckt hat, herauslesen kann.Nehmen wir zum Beispiel die Fallgesetze. Wer ist auf sie gekommen und hat sie abgeleitet? Wann, wo und wie hat ihr Urheber gelebt? Was war er für eine Persönlichkeit, welchen Charakter besaß er? Nichts davon weiß ich. Wenn ich nichts aus anderen Quellen darüber erfahren habe, das Gesetz selbst sagt mir nichts davon. Ein ))Naturgesetz«ist eben ein »Naturgesetz«. In seinem Sinngehalt findet sich keinerlei Hinweis auf irgendwelche Subjekte noch auf irgendwelche Objekte. Zweimal zwei ist vier: versuchen Sie, mir einen Hinweis auf den Urheber dieses arithmetischen Satzes zu geben! Der Mythos steht natürlich auch in dieser Beziehung ganz im Gegensatz zur wissenschaftlichen Formel oder zum »Gesetz«. Jeder Mythos ist, wenn er nicht auf seinen Urheber hinweist, immer selbst in gezuisser Weise Subjekt. Er ist immer lebendige und handelnde Person. Er ist auch objektiv und dieses Objekt ist eine lebendige Person. Der reine wissenschaftliche Satz ist un-objektiv und un-subjektiv. Er ist einfach ein logisches Gebilde, eine Art sinnhafter Form. Und man müßte schon ein sehr enger und spezifisch denkender Metaphysiker sein, um die Meinung vertreten zu können, daß die reine Wissenschaft materiell oder - im Gegenteil - subjektiv-psychisch sei. Das heißt natürlich nicht, daß sie, um sich real zu venuirklichen, nicht auch Gegenstände oder Subjekte, die sie schaffen, benötigte. Doch was braucht die Wissenschaft nicht alles, um sich real zu venuirklichen?

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Der Mythos ist keine wissenschaftliche Konstruktion

Wenn wir weiter über das Wesen der reinen Wissenschaft nachdenken, werden wir finden, daß ihr reiner Sinngehalt, genau genommen, nicht einmal eine vollendete, gereifte Wahrheit braucht. Damit Wissenschaft Wissenschaft ist, ist nur eine Hypothese notwendig und sonst nichts. Das Wesen der reinen Wissenschaft besteht nur darin, daß eine HyC)

pothese aufgestellt und, wenn nötig, durch eine andere, vollkommenere ersetzt wird. Selbstverständlich sprechen wir hier immer von der Wissenschaft als solcher, von der reinen Wissenschaft, von der Wissenschaft als einer Summe bestimmter sinnhafter Gesetzmäßigkeiten und nicht von der realen Wissenschaft, die natürlich immer eine Vielzahl von Eigenschaften hat, die von der jeweiligen historischen Epoche, von Menschen abhängen, die sie real hervorbringen, von allen faktischen Gegebenheiten, ohne die die Wissenschaft nur ein abstraktes, sich außerhalb von Raum und Zeit befindendes Konstrukt ist. Ein real handelnder und schaffender Gelehrter ist immer komplizierter als seine rein abstrakt-wissenschaftlichen Thesen. So wurde zum Beispiel in der Metaphysik der Neuzeit der Begriff der Materie fast immer hypostasiert und verdinglicht, und der Begriff der Kraft wurde fast immer real-naturalistisch verstanden, das heißt im Grunde unterschied er sich in nichts von dämonischen Naturkräften (wie wir sie in verschiedenen Religionen usw. finden), allerdings war er ausgestattet mit allen Anzeichen rationalistischer Degeneration. Braucht die Wissenschaft als solche denn das alles? Sie braucht es absolut nicht. Es ist die Aufgabe der Physik zu zeigen, daß zwischen bestimmten Phänomenen eine bestimmte Abhängigkeit besteht. Ob aber diese Abhängigkeit und sogar die Erscheinung selbst real existieren, ob die Abhängigkeit immer und ewig bestehen wird, ob sie im absoluten Sinne wahr oder nicht wahr ist - alles das kann und darf der Physiker uns nicht sagen. Alle diese vielen Physiker, Chemiker, Mechaniker und Astronomen haben ausgesprochen theologische Vorstellungen von ihren »Kräften«,»Gesetzen«und von der »Materie((,den „Elektronen«, den ))Gasen((,den »Flüssigkeiten«,den „Körpern((,der )Wärme«,der »Elektrizität(( usw. Wenn sie reine Physiker, Chemiker usw. wären, würden sie sich auf die Ableitung der Gesetze beschränken und es damit gut sein lassen. Und alle „Gesetze((,auch die grundlegendsten und unbestreitbarsten, würden ausschließlich als Hypothesen erörtert werden. Das wäre reine Wissenschaft. Hier hat der Neu-Kantianismus unendlich recht, wenn er die theologischen Vorurteile der zeitgenössischen pseudo-wissenschaftlichen Problematik zerstört. Aber immer wieder muß darauf hingewiesen werden, daß es hier nur um reine Wissenschaft geht und daß eine derartige Wissenschaft real niemals existiert; hier geht es nicht um die Analyse einer real-historischen Wissenschaft, sondern nur um die ihrer theoretisch-sinnhaften Grundlagen und

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Strukturen. Und es wird deutlich, daß einerseits in der zeitgenössischen Wissenschaft - bei ihren etwas naiveren Praktikern, bei den scperirnentell arbeitenden und nicht philosophisch denkenden Forschern - mythologische Vorstellungen vorherrschend sind und daß andererseits das Wesen der Wissenschaft völlig verschieden ist vom Wesen der Mythologie. Der Mythos ist niemals nur Hypothese, bloß mögliche Wahrheit. Wozu braucht ein Gelehrter die absolute Wahrheit oder sogar das absolute Sein? Ich habe zum Beispiel etwas zur Verbesserung des Telefonapparates erfunden oder wichtige Ergänzungen zur Theorie der Planetenumlaufbahn herausgefunden, oder ich bin als Philologe der Geschichte eines bestimmten Terminus bzw. einer Wortart, der synthaktischen Form einer bestimmten Sprache nachgegangen - wo ist bei alidem das absolute Sein? Der Mythos jedoch wird immer durch Fakten gestützt, die nur als Fakten existieren. Ihr Sein ist ein absolutes Sein. Ich habe vielleicht herausgehnden, daß sich Gase unter dem Einfluß von Wärme ausdehnen. Es gibt aber keinen Grund, dieses Gesetz als unanfechtbare Realität und unverrückbare Wahrheit anzusehen. Es ist nur eine Hypothese, auch wenn es allgemein anerkannt und durch Jahrhunderte hindurch gültig wäre. Natürlich können Sie daran glauben, daß es der »wahren Realität entspricht«. Aber dieser Glaube fügt dem Gesetz nichts Neues hinzu, und deshalb ist er dafür nicht notwendig. Der hypothetische Charakter der Wissenschaft hindert diese nicht daran, Brücken und Großkampfschiffezu bauen oder mit Flugzeugen zu fliegen. Der wahre wissenschaftliche, rein wissenschaftliche Realismus besteht in diesem hypothetischen Charakter und in diesem Funktionalismus, in einem Panmethodismus. Reale Wissenschaft, reales Leben und folglich Mythologie sind etwas anderes. Der Mythos ist keine hypothetische, sondern eine faktische Realität, keine Funktion, sondern Resultat, Ding, keine Möglichkeit, sondern Wirklichkeit und noch dazu konkret erfahrbare, geschaffene und existierende Lebenswirklichkeit. 6. Noch einen wichtigen Punkt haben wir zu erörtern, bevor die Frage nach der Abgrenzung der Mythologie von der Wissenschaft als prinzipiell beantwortet angesehen werden kann. Man darf nämlich den Gegensatz von Mythologie und Wissenschaft nicht auf die absurde Behauptung hinauslaufen lassen, der Mythologie komme keinerlei Wahrheit oder auch nur Gesetzmäßigkeit zu. Das ist die Meinung E. Cas~irerc.~ Nach seiner Lehre ist die völlige und prinzipielle Ununterscheidbarkeit des ))Wahren((und des „Scheinbaren«, das völlige Fehlen von Stufen der Glaubwürdigkeit, charakteristisch für das mythische Bewußtsein, in dem es keine Begründung und nichts Begründetes gebe. Ferund »Vorner fehle im Mythos der Unterschied zwischen ))Wirklichem(( gestelltem«, zwischen »Wesentlichem«und »Unwesentlichem«.Darin

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Der Mythos ist keine wissenschaftliche Konstruktion

bestünde der Gegensatz zur Wissenschaft. Cassirer hat recht, wenn Gegensatz des ))Wahren((und man an den ~~wissenschaftlichen« »ScheinbarenÄußere(( daß es genau das >)Innere«ist, was nach außen hin in Erscheinung tritt. Mit anderen Worten, ein mehr »Inneres« ist auch ein »Allgemeineres«, ein mehr »Äußeres((ein mehr »Besonderes((.Ebenso kann man sagen, daß ein mehr »Inneres« auch ein Abstrakteres und ein mehr C

W.J.Scheiiing. Philosophie der Kunst.S.W.I, 5,539. [Nachdr.:Damxtadt 19661.

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Der Mythos ist weder Schema noch Allegorie

))Äußeres«ein Konkreteres ist, oder daß ein mehr ))Inneres((auch ein Idealeres, Sinnhafteres, und ein mehr »Äußeres((ein Realeres, Gestalthafteres ist. Derartige Klassifizierungen lassen sich viele finden. Wichtig ist dabei aber die zentrale und allgemeinste Antithese, die allen erwähnten besonderen Antithesen zugrundeliegt. Mit ihr werden wir uns nun beschäftigen. Erstens ist ein Ausdruck möglich, in dem das ))Innere((stärker ist als das „Äußere«. Was heißt das? Es bedeutet, daß wir in einer ausdruckshaften Form ein ))Inneres«erkennen, dem sich das Äußere untergeordnet hat und nur insoweit vorhanden ist, als es für das In-Erscheinung-Treten des Inneren notwendig ist. Es ist ein Allgemeines da, das so ausgedrückt wird, daß für sein Verständnis kein Besonderes nötig ist. Das Besondere ist nur bestrebt, das Allgemeine zu zeigen, das seinem Wesen nach jedem Besonderen fremd ist. Ein Beispiel dafur ist jeder Mechanismus. In einem Mechanismus kommt eine allgemeine Idee zum Ausdruck, und alles Besondere, aus dem er besteht, alle einzelnen Rädchen und Schräubchen fügen dieser Idee nichts Neues hinzu. Die Idee des Mechanismus erfährt in keiner Weise eine Bereicherung, indem man ihr die einzelnen bzw. alle Teile eines Mechanismus hinzufügt. Ebenso erhalten die einzelnen Teile des Mechanismus , die durch eine allgemeine Idee vereinigt werden, letztere in einer sehr abstrakten und allgemeinen Weise. Sie verändert die Teile nicht, sondern liefert nur die Methode ihrer Vereinigung. Der Mechanismus ist daher notwendigerweise schematisch. Er verkörpert eine Idee, die seinem Material fremd ist, und diese Idee, dieses sein „Inneres«, ist nur die Methode der Vereinigung der einzelnen Teile, ist nur nacktes Schema. Das ist die erste ausdruckshafte Form, der Schematismus. Und man kann sicher sein, daß der Mythos keinesfalls ein Schema ist. Wenn es so wäre, würde sich das Übersinnliche, Ideale des Mythos in eine abstrakte Idee verwandeln, und sein sinnlicher Inhalt würde unwesentlich bleiben und der Idee nichts Neues hinzufügen. Im Mythos wird niemals von Mechanismen, sondern von Organismen, meistens sogar von Personen, von lebendigen Wesen gesprochen. Seine Personen sind keine abstrakten Ideen und Methoden, um das Sinnliche zu organisieren und ihm einen Sinn zu geben, sondern dieses Sinnliche selbst, das lebendige Wärme und Energie ausstrahlt. Hier ist gerade das ))Äußere((,konkrete((, »Sinnliche«,»Besondere~,))Reale«,„Gestalthafte« wichtig. Zweitens kann ein Audruck eine Allegorie sein. Hier finden wir das umgekehrte Verhältnis von »innen«und »außen«.Das ))Äußere«ist stärker als das »Innere«,das »Reale((voller und interessanter als das ~Ideale((.Im Schema hatte sich das „Innere((, die »Idee«, nicht mit dem »Äußeren«,mit der ))Sache((vereinigt, aber da es trotzdem Ausdruck

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ist, verwandelte sich die statische »innere Idee« und der Sinn in eine ))Methode((oder ein Gesetz für die Sinngebung des ))Äußeren((,der „Dinge«,der »Sinnlichkeita.Darin liegt auch die Beschränkung der Ausdruckshaftigkeit des Schemas. Anders verhält es sich mit der Allegorie. Hier ist vor allem das ))Äußere«,oder das „Bild«, die sinnliche Erscheinung gegeben, und die Selbständigkeit der ))Idee«wird annulliert. Dennoch ist die Allegorie Ausdruck und deshalb k a m in ihr nicht nur »Äußeres«vorhanden sein. Dieses ))Äußere«muß trotzdem in irgendeiner Weise von einem »Inneren«, von einer »Idee«zeugen. Was ist das fur eine Idee? Wenn zwischen den beiden Sphären ein Ungleichgewicht besteht, dann kann diese Idee nicht aus der Sphäre ihrer Abstraktheit und ihrem Nicht-Offenbarsein herausgeführt werden. Sie muß als nicht-offenbare in Erscheinung treten, sich ausdrücken als nicht-ausgedrückte. Das heißt, wir bekommen ein »Bild«,in das eine abstrakte Idee hineingelegt wurde, in dem eine nicht-ausgedrückte, nicht-offenbare Idee sichtbar wird, - wir bekommen ein ))Bild«als Illustration, als mehr oder weniger zufäliige, durchaus nicht notwendige Erläuterung der Idee, eine Erläuterung, die mit der Idee selbst nicht wesentlich verbunden ist. Das typischste und deutlichste Beispiel einer poetischen Allegorie ist die Fabel. In den Fabeln Krylovs handelt und spricht eine Ameise, aber weder der Autor der Fabel, noch ihr Leser kommen auf den Gedanken, daß eine Ameise tatsächlich so handeln und sprechen kann, wie es dort dargestellt wird. Eine Libelle wird dort zum Beispiel ))vonböser Schwermut geplagt«. Aber bei der Lektüre der Fabel kommt niemand auf die Idee anzunehmen, daß eine Libeile tatsächlich zu solchen komplizierten Empfindungen fähig ist. Das heißt, das »Bild((bedeutet hier etwas ganz anderes als die »Idee«. Sie sind materiell voneinander getrennt. Natürlich sind sie auch irgendwie verbunden, denn sonst ginge es hier nicht um Ausdruck.Aber diese Verbundenheit ist derart, daß beide Seiten, die ))Idee«und das ))Bild((,nicht vollständig ineinander eingehen, denn das »Bild«identifiziert sich nur mit der reinen abstrakten Idee, nicht mit der Idee in ihrer Ganzheit. Viele mythologische Theorien sind aus diesem allegorischen Verständnis heraus entstanden. Man kann sagen, daß fast aiie populären mythologischen Theorien des 19. Jahrhunderts, die ))mythologische«,anthropologische usw. diesem ungeheuren Irrtum erlegen sind. Die Helden Homers - Achili, Odysseus usw. - wurden als Ausdruck von »Naturerscheinungen« angesehen. In den mythischen Bildern und Gestalten sah man die auf- oder untergehende Sonne oder ganz allgemeine atmosphärische Erscheinungen oder die Vergöttlichung historischer Persönlichkeiten. Diesen Theorien nach waren mythische Helden nicht einfach mythische Helden, sie wurden in einem besonderen, übertragenen Sinne interpretiert, verwiesen auf eine andere, wichtigere und

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veriinftigere Wirklichkeit und besaßen selbst keine wahre und endgultige Realität. Mit Mythos hat eine derartige allegorische Deutung natürlich nichts zu tun. Wir müssen uns ein für ailemal merken: die mythische Wirklichkeit ist eine sehr reale Wirklichkeit, keine metaphysische, keine, die etwas anderes aussagt, sondern eine vollkommen selbständige, ganz und gar echte, die man so nehmen muß, wie sie ist, absolut naiv und wörtlich. Hier hiift kein Allegorismus. In der Allegorie herrscht prinzipiell ein Ungleichgewicht zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem. In ihr ist das Bild immer mehr als die Idee. Das Bild wird in aller Ausführlichkeit dargesteilt und ausgeschmückt, die Idee hingegen ist abstrakt und verborgen. Um das Bild zu verstehen, genügt es nicht, es als solches zu betrachten. Um seinen Sinn und seine Funktion zu erfassen, muß noch eine besondere abstrakte Ergänzung bedacht werden. Im Mythos hingegen ist das, was unmittelbar sichtbar ist, auch das, was er bedeutet; der Zorn Achills ist der Zorn Achills, nichts anderes; Narziss ist der wirkliche, reale Jüngling Narziss, der anfangs tatsächlich und wirklich von den Nymphen geliebt wird und dann aus Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild wirklich stirbt. Auch wenn hier noch eine zusätzliche Allegorie vorhanden ist, muß doch notwendigerweise erst einmal die wahre, eindeutige, wörtliche Realität der mythischen Bilder festgestellt werden, ehe man sich um eine allegorische Deutung bemüht. Drittens kann ein Ausdruck ein Symbol sein. Im Gegensatz zu Schema und Aliegone finden wir hier ein vollständiges Gleichgezuicht mischen uInnen« und ~Außena,„Idee((und „Bild((,)~Idealem(l und ))Realem((. Im ))Bild(( ist nichts vorhanden, was nicht auch in der ))Idee«wäre. Die Idee ist in keiner Weise »allgemeiner«als das „Bild((,und das ))Bild«besitzt nichts Besonderes der Idee gegenüber. Die »Idee«ist konkret, sinnlich und anschaulich gegeben und wird nicht nur als abstrakter Begriff hinzugedacht. Das Bild selbst spricht von sich aus von einer ausgedrückten ))Idee((und nicht einfach von einer >)Idee«; und es genügt, nur das »Bild(( und seine rein »bildhaften«Mittel zu betrachten, um damit auch schon die Idee zu erfassen. Im Schema wird die »Idee«mit der ))Erscheinung)trübenSpielereien«. Ihre Bewegungen sind trügerisch, dahinfliegend ungestüm: sie >)wandertumher«, sie »überquert den Himmela, sie »zittert«,sie »herrscht«,sie ))wanderthin und her«, (sie »durchstreift den Himrnela) und sieht immer wieder anders aus (»Halbmond«, »mit zwei Hörnern«, »Sichel«, »Vollmond(c).Bei Tjutfev gibt es keinen »Halbmond«, keine »Sichel«, das Antlitz des Mondes wird »nicht von Wolken verhüllt«. Der Mond Tjutfevs steht unbeweglich am (meistens wolkenlosen) Himmel. Er ist »magisch«, »hell strahlend«, »glänzend((,))voll((.Niemals ist er - im Gegensatz zu PuSkins Wortgebrauch - ))silbern((.Er ist »bernsteinfarben«,aber nicht gelb, auch nicht rot wie manchmal bei PuSkin. Der ))Mond(( Tjuttevs ist neblig-weiß und verschwindet fast nie vom Himmel.« Eine «Unsichtbare« ist er schon gar nicht. Er ist ))Genius«des Himmels. Das heißt, wir haben hier zwei ganz individuelle Sichtweisen des Mondes vor uns: einmal ist er ein ruhig strahlender „Genius«,das andere Mal eine über den Himmel eilende >)Luna«.Bei Baratynskij ist der Mond blaß (>)silbern« wie bei PuSkin und »lieblich((wie bei Tjuttev), und er zeigt sich nur als ))irdischerEindruck« in der Seele des Dichters, der sie dazu bringt zu glauben, daß ))derMond zu den Enden der Erde lockt.« Er befindet sich vor allem in der Seele. Und was am Himmel zu sehen ist, ist nur ein leeres Wort: Luna, Mond, »auch wenn es klar ist((, fügt A. Belyj hinzu. Ebenso gibt es natürlich auch drei Sichtweisen der Sonne. Die Sonne PuSkins ist eine »vom Morgenrot heraufgeführte, hohe, strahlende, klare Sonne«, wie das „Kristall eines Öllämpchens« (ganz im Gegensatz zu seiner trüben, erregenden, leidenschaftlichen Luna). Bei Tjutfev ist die Sonne im Gegenteil und im Gegensatz zu seinem ruhigen Mond »flammend((,glühend und „hitzig-purpurrot«.Sie ist »flammend, »glänzend« eine ))Kugel«in »blitzenden Strahlen«. Eine Art

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Blitze schleuderndes Ungeheuer, das Funken sprüht und Rosen regnen läßt und den Regenbogen errichtet. Baratynskijs Sonne ist (zwar auch »lebendig((),aber sie leuchtet nur irgendwie »wider Willen« und verstreut »falsches Gold«. Auch die Sonne erscheint bei ihm »geisterhaft« und verwandelt sich manchmal in die ))Sonne der Jugend«. Und drei Himmel: Das PuSkinsche ))Himmelsgewölbe«(blau, fern), das Tjuttevsche uns ))geneigte Firmament(( (dazu gehört das »flammende Azurblau«) und Baratynskijs »heimatlicher«,»lebendiger«,»bewölkter« Himmel. Bei PuSkin heißt es: »Das ferne Himmelsgewölbe glänzt«; bei TjutPev: »Flammend schaut das Firmament hernieden; bei Baratynskij: »der heimatliche Himmel ist voller Wolken«. A. Belyj faßt die Sichtweisen, die die drei Dichter der Natur gegenüber haben, in folgender Weise zusammen: PuSkin. >)Dasferne Himmelsgewölbe leuchtet; es ist Nacht: die verschleierte Luna ist hinter Wolken versteckt; gegen Morgen führt das Morgenrot eine hohe, helle Sonne heraus; sie strahlt wie Kristall, die Luft überwindet die Schläfrigkeit noch nicht; das sprudelnde, vom Schaum grauweiße Wasser schäumt und glitzert usw.« »Das Bild ist verhalten, objektiv und klar (es wirkt sogar kalt)((, sagt A. Belyj. »PuSkin führt uns ganz bewußt am Tage in die Natur und zeigt uns ihre apollinische Seite.« Er studiert die Natur und bringt ihr Chaos in Worte. TjutErm. ))Flammendblickt das azurblaue Firmament auf uns herab; der glühende Bali der Sonne wandert mit leuchtenden, warmen Strahlen über ihn hin. Wenn die Sonne nicht da ist, ist es der hellstrahlende, göttliche Mond, der mit friedensbringender Sanftheit die Lüfte erfüllt und sich über alles ergießt. Er erquickt die Brust, entflammt die Wangen der Mädchen und spiegelt sich in den klaren Wogen des Wassers wider.« »So zeichnet Tjuttev die flammenden Naturelemente; dagegen wirkt PuSkins Muse eher kalt; aber diese flammende, glühende Helligkeit ist verlogen; und wenn man sich mit dem Werk PuSkins näher beschäftigt, erweist es sich, daß diese Kälte Magie ist; bei TjutPev sind die Elemente in flammendem Kampf begriffen, und alle Bilder reißen sich los und fallen in die Seele des Dichters: »Alles in mir; und ich in allem.« Aber warum steht vor dieser Strophe eine andere, sehr viel kühlere? „Stunde unaussprechlicher Schwermut: Alles in mir; und ich in allem.« Weil die poetische Sprache Tjuttevs hier in die dunkle Sprache der Natur zerfällt, und diese letztere ist die Sprache des Chaos! Vor den Augen TjutCevs wirbelt ein Sturm farbenprächtiger Regenbogen auf: die Finsternis Ahrimans; dagegen ist TjutCev machtlos, PuSkin jedoch

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gut gerüstet: er durchschreitet furchtlos alle Dunkelheit, und von daher rühren seine kristallklaren Bilder.« Baratynskij. »Am heimatlichen, doch bewölkten Himmel sehen wir ein kaltes, aber lebendiges Tagesgestirn; die reine Luft ist voller Wohlgerüche, in den sommerlichen, kühlen Gewässern entstehen Wasserwirbel; es ist keine Sonne da, und der Mond lockt verführerisch von der Erde weg.« »PuSkin beherrscht die Natur, bei TjutCev befindet sie sich in ständiger Auflösung, beides gibt es bei Baratynskij nicht: seine Natur hat zwei Gesichter: einerseits toben die Prinzipien der Leidenschaft, Mond und Wasser in ihm, und er ist nicht fähig, ihnen Einhalt zu gebieten; seine Lebenskraft schöpft er aus Luft, Sonne und Himmel, und mit ihr (seine duftende Luft ist heilkräftig) tötet er in sich den Aufruhr der Leidenschaften: die Wasser; die >)erstarrten«Feuchtigkeiten, die wie Wasserfälle über der Erde hängen, die Erde selbst, in der es große Bereiche der Kraftlosigkeit gibt, und nur dadurch wird die Luft (keine flammende TjutCevsche Luft) duftend und frisch.^ »Die Natur TjutCevs ist leidenschaftlich: die )Wasser( Baratynskijs kochen vor Wollust, aber sie werden tapfer besiegt. Im Bild und Gleichnis der Naturgewalten erzählt uns die Poesie Baratynskijs davon, wie das Fleisch in ihr abgetötet wird, und wie - leider nur um diesen Preis - die Wohlgerüche ihrer reinen und heilkräftigen Luft entstehen.«d Diese drei hier angeführten Mythologien der Natur können - ganz abgesehen davon, ob die Interpretation A. Belyjs stimmt oder nicht - als gutes Beispiel einer allgemein möglichen Mythologisierung von Naturerscheinungen dienen. Hier zeigt sich , was echte Mythologie der Natur im Gegensatz zu wissenschaftlich engen und einfallslosen wissenschaftlichen Theorien von Sonne und Mond leisten kann und wo sie in nicht-naturbezogenen mythologischen Bildern auffindbar ist. Es ist allerdings hier nicht unsere Aufgabe, die symbolische Natur einzelner Mythen zu untersuchen - das muß in einer gesonderten Abhandlung geschehen -, jetzt geht es darum, den grundlegenden Schluß zu ziehen, daß der Mythos niemals nur Schema oder nur Allegorie

ist, sondern immer vor allem Symbol, und da/3 er als Symbol schematische, allegorische und vielfältig-symbolische Schichten enthalten kann.

d

A.Belyj. Poesie des Wortes. Petersburg 1922, 10-19.

Der Mythos ist keine Dichtung

VI. Der Mythos ist keine Dichtung Ein großer Teil der Forscher ist der Überzeugung, daß Mythologie und Poesie gleichgesetzt werden können. Von J. Grimm angefangen, werden Mythen oft als poetische Metaphern eines archaischen bildhaften Denkens angesehen. Die Frage nach dem Verhältnis von Mythologie und Poesie ist tatsächlich eine äußerst komplizierte Frage, denn die Ähnlichkeiten sind leichter zu erkennen als die Unterschiede. Von daher scheint es angebracht, nicht mit der vergleichenden Analyse eines mythischen und eines poetischen Bildes zu beginnen, sondern erst einmal auf die wichtigsten Ähnlichkeiten beider hinzuweisen. Das gibt uns die Möglichkeit, die beiden Sphären klarer zu umreißen. 1.Jedem müßte eigentlich ohne weitere Erklärung deutlich sein, daß das mythische und das poetische Bild ganz allgemein Möglichkeiten einer ausdruckshaften Form darstellen. Was Ausdruck ist, wissen wir schon. Es ist die Synthese von ))innen((und »außen«, - die Kraft, die ein ))Inneres«zur Erscheinung zwingt und die ein >)Äußeres« in die Tiefe eines »Inneren((hineinzieht. Ein Ausdruck ist immer dynamisch und bewegt, und diese Bewegung ist immer von »innen«nach ))außen«und von »außen«nach »innen((gerichtet. Im Ausdruck begegnen sich zwei Energien, eine kommt aus der Tiefe, die andere von außen, und es geht bei dieser Begegnung um die Wechselbeziehung beider in einem unteilbaren, ganzen Bild, in dem immer beide Energien vorhanden sind, so daß eine von der anderen nicht mehr unterschieden werden kann. Was Poesie ist, wird schon daraus deutlich, daß sie immer Wort und Worte ist. Das Wort ist immer ausdruckshaft. Es ist immer Ausdruck, Verständnis und nicht einfach ein Ding oder eine Bedeutung. Das Wort ist nicht eindimensional, es hat immer eine Tiefendimension. Der Mythos genauso. Der Mythos ist entweder direkt oder verborgenerweise dichterisch, aber immer ausdruckshaft, immer ist deutlich, daß er zwei oder mehr Schichten enthält, die in der Weise identisch sind, daß man in der einen immer die andere erkennen kann. Daß der Mythos prinzipiell immer dichterisch ist, kann niemand bezweifeln. Es ist aber unmöglich, mit Hiife der Aspekte des Ausdrucks, das heißt mit Hdfe von Schema, Allegorie und Symbol zwischen Mythologie und Poesie eine Grenze zu ziehen. Das mythische wie das poetische Bild können sowohl Schema wie auch Allegorie und Symbol sein. 2. Mythologie und Poesie sind ferner in gleicher Weise geistige Größen, das heißt: sie sind nicht nur Ausdruck, sondern auch beseelter, durchgeistigter Ausdruck. Jede poetische Form ist etwas Durchgeistig-

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tes, sie ist von innen sichtbares Leben. In der Poesie kommt ein »Inneres((zum Ausdruck, das gleichsam wie lebendig ist und über eine lebende Seele, Geist, Bewußtsein und Intelligenz verfügt. Das ist bei jeder Kunst so. Schon aus den einfachsten primitiven Ornamenten spricht lebendiges Leben und sich regender Lebenswille. Und dies ist nicht einfach Ausdruck. Es ist Ausdruck, der in allen seinen Verästelungen durchgeistigt sein will, geistig frei, und der danach strebt, von der Schwere und Dunkelheit der ungeistigen, taubstummen, dumpfen Stofflichkeit befreit zu werden. In der Mythologie ist es genauso. Sie spricht entweder direkt von lebenden Wesen und Personen oder aber von nicht-Lebendem so, daß es unter einem ursprünglichen, lebendigen und durchgeistigten Gesichtspunkt sichtbar wird. Doch muß man sich dabei vor grob naturalistischen Auffassungen von Poesie und Mythologie hüten. Das Wesen der Poesie besteht nämlich nicht in der Darstellung des Schönen oder des Durchgeistigten, das heißt: man kann nicht sagen, daß das Wesen der Poesie in irgendeiner Besonderheit ihres Gegenstandes bestünde. Wenn wir davon sprechen - und dabei eine unkritische Begrifflichkeit verwenden -, daß die Poesie das Schöne darsteile, so bedeutet dies in keiner Weise, daß ihr Gegenstand tatsächlich schön ist. Er kann genausogut häßlich sein oder tot. Folglich ist nicht der Gegenstand, auf den sich die Poesie richtet, poetisch, sondern die Art seiner Darstellung, das heißt letztendlich die Art und Weise, wie er aufgefaßt, wie er verstanden wird. Das gleiche muß von der Mythologie gesagt werden. Auch die Mythologie vermittelt etwas Lebendiges, Durchgeistigtes und, wenn Sie so wollen, etwas Schönes. Aber das bedeutet nicht, daß das mythologische Objekt immer ein lebendes Wesen ist, eine Person, ein durchgeistigter Gegenstand. Es gibt keine mythische Gestalt an sich, so wie es kein Ding gibt, das schon an sich schön wäre. Die mythische Gestalt ist mythisch gemäß der Art ihrer Ausgestaltung, das heißt gemäß ihrer Darstellung, gemäß der Art, wie sie von anderer, fremder Seite her verstanden wird. Mythisch ist die Darstellungsweise der Sache, und nicht die Sache an sich. Auch von daher ist es unmöglich, eine Grenze zwischen Mythologie und Poesie zu ziehen. Beide leben in einer vergeistigten Welt; und diese Vergeistigung ist eine Erscheinungsweise der Dinge, der Modus ihrer Ausgestaltung und die Art, wie sie aufgefaßt werden. Weder in der Poesie noch in der Mythologie ist es notwendig, daß alles beseelt ist. Und vergebens versuchen die Wissenschaftler uns einzuhämmern, daß das ursprüngliche mythische Bewußtsein, das von ihnen immer als Animismus vorgestellt wird, sich notwendig mit einer allgemeinen Beseeltheit verbindet. Es ist einfach falsch, daß im Mythos alles beseelt ist. Mythisch lebende und fühlende Menschen unterscheiden

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sehr wohl beseelte Gegenstände von unbeseelten, und sie sind nicht so veniickt, einen Stock als lebendes Wesen anzusehen und in einem Tier nichts als einen unbeseelten Mechanismus zu erkennen. Letzteres tun »Wilde«,aber eine besondere Art von ))Wilden«:die Materialisten. Folglich besitzen Mythologie und Poesie eine grundlegende Ähnlichkeit: die Art und Weise, wie sie ihren Gegenstand erschaffen und gestalten, ist ))ausdruckshaft«und gleichzeitig intelligent und das heißt, sie versetzen Dinge, wie immer diese auch sein mögen, in eine vergeistigte und lebendige Umgebung. 3. Sowohl das poetische wie auch das mythische Sein ist unmittelbares, unabgeleitetes Sein. Das Bild hat weder in der Poesie noch in der Mythologie ein logisches System, eine Wissenschaft, eine Philosophie oder überhaupt eine Theorie nötig. Das Bild ist anschaulich und unmittelbar sichtbar. Es sind lebendige Gesichter und Antlitze, in denen der Ausdruck zutage tritt, und um zu verstehen, muß man nur sehen und anschauen. Beide besitzen sie gleichermaßen eine anschauliche, innere und äußere Bildhaftigkeit, und auch in dieser Hinsicht ist es nicht möglich, einen Unterschied zwischen Mythologie und Poesie zu finden. Sie sind gleichermaßen unmittelbar, anschaulich, einfach und bildhaft. Von daher sind viele Forscher geneigt, jede Grenze zwischen diesen beiden Sphären menschlichen Schaffens zu verneinen. Und in der Tat ist diese Grenze auf einer vollständig anderen Ebene zu finden und hat nichts mit einer mehr oder weniger großen Anschaulichkeit oder Unmittelbarkeit zu tun.

4. Eine gewisse relative Ähnlichkeit ist schließlich in einer Art Losgelöstheit zu finden, die fiu beide Bereiche charakteristisch ist. AUerdings handelt es sich hier nun gerade um jenes Gebiet, wo Poesie und Mythologie prinzipiell und endgultig auseinandertreten, und deshalb ist bei der Konstatierung von Ähnlichkeit Vorsicht geboten. Zweifellos gibt es diese Ähnlichkeit. Die Poesie, wie überhaupt alle Kunst, besitzt eine charakteristischeLosgelöstheit in dem Sinne, daß sie Emotionen weckt, und zwar nicht gegenüber den Dingen als solchen, sondern gegenüber ihrer besonderen Bedeutung und Gestaltung. Wenn im Theater Brand, Mord und andere Katastrophen und Verbrechen dargestellt werden, stürzen wir ja nicht auf die Bühne, um zu helfen, um die Not zu lindern oder das Verbrechen zu verhindern oder abzuwenden. Wir bleiben ruhig auf unserem Platz sitzen, ganz gleich, was auf der Bühne geschieht. Hier ist sich alle Kunst gleich. Sie lebt tatsächlich aus »interesselosemWohlgefallen«, damit hat Kant tausendmal recht. Damit ist die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Kunst natürlich noch in keiner Weise gelöst, ja nicht einmal be-

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rührt. GesellschaftlicheBedeutung kann auch das »»interesseloseWohlgefallen(( haben. Und je mehr die Kunst uns wegführt von der »»Wirklichkeit« und vom »Interesse«, desto mehr müssen wir für sie bezahlen und desto mehr spielt sie manchmal eine gesellschaftliche Rolle. Aber das sind Fragen, die uns im Moment überhaupt nicht interessieren. Wichtig ist nur, daß beiden, Poesie und Mythologie, eine gewisse Art von Losgelöstheit eigen ist, die die Dinge aus dem Fluß der natürlichen Lebenserscheinungen herausnimmt und sie in Gegenstände eines durchaus nicht lebens- und alltagsnotwendigen Interesses verwandelt. Unzweifelhaft besitzt auch die Mythologie eine Art Losgelöstheit. Wir haben schon darauf hingewiesen. Bei all seiner Lebendigkeit, Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und sogar Sinnlichkeit enthält der Mythos auch eine Abgehobenheit, mit deren Hilfe wir ihn von allem übrigen absondern und in ihm etwas Ungewöhnliches, aller gewöhnlichen Wirklichkeit Widersprechendes sehen, etwas Unerwartetes und fast Wunderbares. Das Vorhandensein einer derartigen Losgelöstheit im Mythos zu leugnen, ist völlig unmöglich.

5. Aber gerade in diesem Bereich der Losgelöstheit 1äPt sich eine grundlegende Unterscheidung von Mythologie und Poesie durchführen. Weder die Ausdruckshaftigkeit der Form noch ihr geistiger Charakter, noch die unmittelbare Anschaulichkeit, noch schließlich auch die Losgelöstheit, wenn sie für für sich genommen wird, können den Mythos vom poetischen Bild unterscheiden. Es ist der Typus dieser Losgelöstheit, nicht diese selbst, der uns erkennen läßt, was Mythos und was Poesie, was mythische und was einfach poetische Phantasie ist. - 1. Schon ein erster Blick auf die Natur der mythischen Losgelöstheit zeigt, daß keinerlei Abgehobenheit, keine Phantastik, keine den Abweichung von der gewöhnlichen und alltäglichen »»Wirklichkeit« Mythos daran hindern, lebendige und wörtlich zu nehmende Realität zu sein, Poesie und Mythos jedoch in dem Sinne losgelöst sind, daß sie nichts Reales, sondern nur das Antlitz und Bild realer Dinge vermitteln, die auf ganz besondere Weise, nicht einfach so wie die übrigen Gegenstände, existieren. Kentauren, hundertarmige Riesen sind allerwirklichste Realität. Das mythische Subjekt wirft sich ins Geschehen und sitzt nicht tatenlos in schweigender Betrachtung versunken da. Poetische Wirklichkeit ist betrachtete Wirklichkeit, die mythische Wirklichkeit jedoch ist real, stofflich und körperlich, sogar sinnlich ungeachtet ihrer Besonderheiten und ungeachtet sogar der Art ihrer Abgehobenheit. 2. Das heißt, daß der Typus der mythischen Losgelöstheit ein ganz anderer ist als der der poetischen. Die poetische ist die des Faktums oder genauer: die Losgelöstheit vom Faktum. Die mythische hin-

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gegen ist von der Bedeutung losgelöst, von der Seele des täglichen, gewöhnlichen Lebens. Vom Faktum und ihrer realen Existenz her gesehen bleibt die Wirklichkeit im Mythos genau dieselbe wie im gewöhnlichen Leben, sie ändert nur dessen Bedeutung und Idee. In der Poesie hingegen wird die Realität selbst wie auch die der Gefühle und Handlungen zerstört; und im Theater verhalten wir uns so, als gäbe es das auf der Bühne Dargestellte gar nicht wirklich und als wären wir daran von keiner Seite her interessiert. Für den Mythos und das mythische Subjekt ist ein derartiges Verhalten völlig undenkbar, Mythisches Sein ist reales Sein, und wenn es Wohlgefallen hervorruft, dann unbedingt »interessiertes«, besser gesagt, es ruft nicht einfaches Wohlgefallen hervor, sondern einen ganzen Komplex allerverschiedenster realer Gedanken, Gefühle, Stimmungen und Willensakte, über die der Mensch im gewöhnlichen Leben verfügt. 3. Auf diese Weise vereinigt der Mythos charakteristische Züge sowohl der poetischen wie auch der real-stofflichen Wirklichkeit. Von der ersteren übernimmt er alles besonders Phantastische, Erdichtete, Unreale. Von der zweiten übernimmt er alles besonders Lebendige, Konkrete, Sinnliche, Reale, alle erfüllte Intensität des Seins, alle elementare Faktizität und Körperhaftigkeit des Seins, alles, was daran nicht metaphysisch ist. Das Phantastische, Unerhörte und Ungewöhnliche der Ereignisse tritt hier als etwas Einfaches, Anschauliches, Unmittelbares und sogar direkt Naives auf. Es geschieht so, als wäre es etwas Gewöhnliches und Alltägliches. Durch diese Synthese von Unerwartetem, Ungewöhnlichem mit einer naiv-realen Unmittelbarkeit unterscheidet sich die mythische Losgelöstheit von der Poesie, in der alles Mögliche Raum hat, aber keine realen Dinge.

6. Das heißt also, daß der Mythos kein poetisches Bild ist, beide besitzen eine für sie charakteristische Art von Losgelöstheit, die sie unterscheidet. Um dabei aber zu einer noch größeren Klarheit zu kommen, muß nun folgende Frage gestellt werden: ist ein poetisches Bild ohne mythisches und ein mythisches ohne poetisches möglich? a) Die erste Frage zu beantworten, ist nicht schwer. Natürlich ist Poesie ohne Mythologie möglich, besonders wenn Mythologie in einem engen und sehr spezifischen Sinne aufgefaßt wird. Es ist in der Tat nicht nötig, daß ein Dichter ein E. T. A. Hoffmann oder E. A. Poe ist. Dichtung ist Ausdruck, sie ist intelligenter Ausdruck, und zwar intelligenter Ausdruck, der einmal in dieser und einmal in jener Form einer Wechselbeziehung von Ausgedrücktem und Auszudrückendem erscheint usw. Alles das gibt es auch im Mythos. Wenn man den Begriff des Mythos im weitesten Sinne des Wortes gebraucht, kann man - von dieser Grundlage ausgehend - sagen, daß Dichtung ohne Mythologie un-

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möglich ist, daß Dichtung eigentlich Mythologie ist. Aber unter Mythologie kann man (und hat es meistenteils auch getan) einen enger spezifizierten Gegenstand verstehen - die durch ihre Ungewöhnlichkeif überraschende ausdruckshafte Wirklichkeit. Wir sprechen schon nicht mehr davon, daß die Poesie »interesselos«und die Mythologie »interessiert« - stofflich, körperlich - ist. Wenn man Mythologie in dieser Weise auffaßt, dann ist Poesie gar keine Mythologie. Sie muß nicht unbedingt Bilder bringen, die besonders ungewöhnlich sind. Boris Godunov und Evgenij Onegin bei Pus?cin sind zweifellos poetische Gestalten, trotzdem ist in ihnen nichts Seltsames, Ungewöhnliches, Abgehobenes im mythischen Sinne enthalten. Es ist poetisch-abstraktes Sein, kein mythisch abstraktes. Andererseits ist die Poesie nicht verpflichtet, Bilder von lebendiger, stofflicher Wirklichkeit zu schaffen. Nicht einmal die Darstellung historischer Personen und Ereignisse in der Dichtung ist eine Darstellung der Realität als solcher. Das poetische Bild, wenn es wirklich ein poetisches Bild ist, bleibt sogar in der Darstellung historischer Fakten abgehoben, und vom rein poetischen Standpunkt aus gesehen gibt es die Frage gar nicht, ob der PuSkinsche Godunov dem historischen entspricht oder nicht. Die poetische Wirklichkeit genügt sich selbst, und sie ist - in ihrer Losgelöstheit - vollkommen selbständig und auf nichts zurückzuführen. - Folglich unterscheidet sich die Poesie in einem entscheidenden Punkt von der Mythologie, wenn sie auch viel mit ihr gemeinsam hat, und man kann sagen, daß sie die Mythologie absolut nicht benötigt und ohne sie existieren kann. Gogol' war nicht genötigt, immer Bilder von der Art zu schaffen, wie er es in den Erzählungen »Der verhexte Ort« oder »Der Vij«getan hat. Er konnte ebensogut auch die Bilder und Gestalten des ))Revisorsa m d der »Toten Seelen« erschaffen. b) Schwieriger ist es, auf die zweite Hälfte der oben gestellten Fra'ge zu antworten: ist denn Mythologie ohne Poesie möglich? Muß nicht eine Gestalt oder ein Bild anfangs poetisch sein und dann erst, nachdem einige neue Momente hinzugefügt wurden, mythisch? Oder ist die Ähnlichkeit zwischen Poesie und Mythologie von der Art, daß die ähnlichen Elemente im Mythos nach einem ganz anderen Prinzip kombiniert werden, so daß gar keine Notwendigkeit besteht, die Mythologie - durch Hinzufügen neuer Elemente - aus der Poesie entstehen zu lassen, und das mythische Bild selbständig konstruiert werden muß, ohne daß dabei die Poesie überhaupt beachtet wird? Auf den ersten Blick scheint es am leichtesten zu sein, das mythische Bild aus dem poetischen auf dem Wege der Hinzufügung entsprechender Momente zu erhalten und so das poetische Bild als unabdingbar zugehörig zum mythischen zu betrachten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, daß das nicht der Fall ist. Die Aufmerksamkeit muß

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nämlich auf die unbestreitbare Tatsache gelenkt werden, daß nicht nur die Poesie mythischen Charakter trägt. Wir hatten schon bei unseren vorausgehenden Überlegungen bemerkt, daß auch die positive Wissenschaft mythische Züge enthalten kann und immer enthält. Das bedeutet nicht, daß sie anfangs Poesie sein oder poetische Elemente enthalten muß und dann in Mythologie übergeht. Nein, die Wissenschaft ist, wie wir gesehen haben, an sich mythologisch, und zwar aliein, weil sie sich im Dickicht des historischen Prozesses befindet, und nicht deshalb, weil sie poetisch ist. Das heißt, es scheint so, als habe die Mythologie die Poesie überhaupt nicht nötig. Bei einem anderen Beispiel ist dies weniger offensichtlich, aber es gibt auch entscheidende Hinweise. Dabei denken wir an den mythologischen Gehalt der Religion. Daß Religion immer mythologische Elemente enthält, daran besteht kein Zweifel. Ja man könnte darüber hinaus noch die Frage stellen: ist Religion überhaupt ohne Mythologie möglich? Eine Frage, die an dieser Stelle nicht gelöst werden kann. Aber daß Religion absolut ohne Poesie und Kunst auskommen kann, um Religion zu sein, scheint mir auch eine unbestreitbare Tatsache. Dabei ist nicht wichtig, daß reale Religionen immer in künstlerischer Form gegeben sind und die Kunst zu ihrer Entwicklung und Entfaltung benötigen. Aber daß Religion an sich keine Kunst ist und sich ihr gegenüber in vielen Fällen sogar antagonistisch verhält (wenn sich das eine dem anderen nicht freiwillig unterordnet), ist offensichtlich auch ein endgültig erwiesenes Faktum. Das heißt, Religion ist in engster Weise mit Mythologie verknüpft und kann doch vollkommen ohne Poesie auskommen. Daraus geht hervor, daß sowohl die religiöse Mythologie ebenso wie jene, aus der sich - größtenteils unbewußt - die positive Wissenschaft nährt, nicht auf die Poesie angewiesen ist, obwohl sie natürlich nichts daran hindert, mit ihr eine enge Verbindung einzugehen. Letztendlich ist das ganze Alitagsleben durchzogen vom Mythos (etwas, worüber wir noch zu sprechen haben werden), aber es ist ganz unmöglich zu sagen, daß diese Mythologie mit dem übereinstimmt, was an Poesie in unserem Leben enthalten ist.Das wäre eine ganz unsinnige These. Folglich ist Mythologie durchaus ohne Poesie möglich, und ein mythisches Bild muß nicht unbedingt poetische Elemente enthalten. 7. Aber wie ist das zu denken? Was für ein Mythos muß das sein, der nicht wesentlich mit Poesie verbunden ist und so auch weder poetischen Gehalt noch die Struktur der Poesie besitzt? Wir hatten schon dargestellt, daß der grundlegende Unterschied des mythischen Bildes vom poetischen im Typus der ihnen beiden zugehörigen Losgelöstheit liegt. Was bleibt denn übrig, wenn aus einem mythischen Bild alle poetischen Inhalte und Formen entfernt werden? Man erhält ge-

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nau jenefur den Mythos charakteristische Losgelöstheit, das Prinzip der mythischen Losgelöstheit selbst. Für sich genommen kann sie natürlich sowohl auf die Religion wie auf Wissenschaft und Kunst und teilweise auch auf die Dichtung angewendet werden. An dieser Stelle ist es angebracht, etwas über diese mythische Losgelöstheit als Prinzip einer besonderen Form oder spezifischen Schicht in einer bestimmten Gestaltungsform zu sagen. Keine andere der oben erwähnten Gegenüberstellungen oder Ausgrenzungen hat uns die Möglichkeit gegeben, uns genau auf dieses Moment zu konzentrieren. Allein der Vergleich mit der Poesie, das heißt genauer: die Ausklammemng d e s Poetischen aus dem Mythos, enthüllt uns jetzt in aller Unmittelbarkeit das Prinzip der mythischen Losgelöstheit. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Poesie auszuschließen, bedeutet, allen Reichtum ihrer Formen und Inhalte, alle ausdruckshaften, dichterischen Elemente, alle Anschaulichkeit und Emotionalität usw. auszuschließen. Wir sprachen schon davon, daß sich die mythische und die poetische Losgelöstheit voneinander unterscheiden.Das heißt also, daß auch alle poetische Losgelöstheit ausgeschlossen werden muß, um die reine, unvermischte, mythische zu erhalten. Was sie an sich ist, haben wir schon gesagt. Was sie letztlich für eine Rolle spielt, davon werden wir dann sprechen, wenn wir alle Bestandteile des Mythos betrachtet und ihre wahre Stellung inmitten dieser Elemente verstanden haben. Im Moment geht es nur um folgende Frage: Wie sieht die Struktur dieser reinen und unvermischten mythischen Losgelöstheit aus? Das heißt, es geht nicht um die Frage nach ihrem allgemeinen Sinn, auf die wir schon geantwortet haben, und nicht um die Frage nach ihrem dialektischen Ort im System des mythischen Gesamtbildes, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Im Moment geht es um eine Frage, die zwischen diesen beiden anderen liegt. Welcher Art ist die Struktur der reinen und unvermischten mythischen Losgelöstheit? Der Mythos ist losgelöst vom Sinn und von der Idee der gewöhnlichen Fakten, aber nicht von ihrer Faktizität. Der Mythos hat die gleiche Realität wie alle realen Dinge, und wenn es überhaupt einen Unterschied zwischen der mythischen und der faktisch-stofflichen Realität gibt, dann liegt dieser nicht darin, daß die erstere schwächer, weniger intensiv und massiv, phantastischer und immaterieller wäre, sondern eher darin, daß sie stärker ist, oft unvergleichlich intensiver und massiver, realistischer und körperhafter. Folglich liegt das Besondere der mythischen Losgelöstheit darin, daß sie von der Bedeutung der Dinge abstrahiert. Das heißt, die alltäglichen Dinge erhalten, obwohl sie die gleichen bleiben, eine vollständig neue Bedeutung, unterwerfen sich einer vollständig anderen Idee, die sie dann zu abgehobenen Dingen werden läßt. Ein Teppich ist ein ungewöhn-

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licher Gegenstand des täglichen Lebens. Ein fliegender Teppich hingegen ist ein mythisches Bild. Worin liegt der Unterschied? Absolut nicht im Faktum, denn dem Faktum nach bleibt der Teppich, was er war. Der Unterschied liegt darin, daß er eine völlig neue Bedeutung bekommen hat, eine andere Idee, man betrachtet ihn mit ganz anderen Augen. Die Haare, die der Friseur zusammen mit anderem Unrat in seinem Laden zusammenkehrt, und Haare, die als Amulett dienen, unterscheiden sich in nichts, was ihre Faktizität betrifft. In beiden Fällen handelt es sich um einen gewöhnlichen, einfachen Gegenstand. Aber Haare, die als Amulett dienen, als Träger der Seele oder seelischer Kräfte oder als Zeichen anderer Realitäten, solche Haare erhalten eine neue Bedeutung und mit ihnen muß man daher auch anders umgehen. Man kann zum Beispiel nicht so wenig sensibel sein, daß man den Unterschied zwischen Stearin und Wachs, zwischen Petroleum und Brennöl, zwischen Eau-de-Cologne und Weihrauch nicht erkennt. Das Stearin hat etwas Praktisches, Dienendes, aber auch etwas Schmutziges, Schmieriges, etwas Freches und Dünkelhaftes an sich. Dagegen ist Wachs etwas Liebliches, Warmes, Sanftmut liegt in ihm und Liebe, Warmherzigkeit und Reinheit, der Beginn eines geistigen Gebets ist darin enthalten, das unbeirrt nach Stille und Herzenswärme strebt. Ebenso frech und unselig ist das Petroleum, es mißt die Liebe nach Gewicht und die Wärme in Kalorien, es ist geistlich unrein und stinkt, es ist Maschine und Schmiermittel. Wie der Tabak der Weihrauch des Satans ist, so ist das Petroleum die Soße des bösen Geistes. Eau-de-Cologne existiert überhaupt nur für Friseure und Verkäufer und vielleicht noch für modische Protodiakone. Sein Gebet mit einer Stearin-Kerze in der Hand sprechen, nachdem man Petroleum in das Lämpchen gegossen hat und nach Eau-de-Cologne durftet, kann man eigentlich nur, wenn man vom wahren Glauben abgekommen ist. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes Häresie und über derartige Eigenmächtigkeiten sollte das Anathema gesprochen werden. Auch das Tragen eines Bartes ist natürlich von Bedeutung. Und auf dem Konzil, das den Stoglav b e s c h l ~ ßwurde , ~ ~ festgesetzt: ))Wennjemand sich den Bart rasiert und dann stirbt, ist er es nicht wert, daß man ihm die Messe liest und die Totengebete spricht, noch daß man Hostien oder Kerzen für ihn in die Kirche bringt. Er gehört zu den Ungläubigen. Von den Ketzern hat man so etwas gelernt.(( Immer und überall geht es um Dinge und um nichts anderes. Die mythische Bedeutung der Dinge hindert sie nicht daran, eben solche zu sein, sie verstärkt eher noch ihre Dinglichkeit. Ein »ehrbarer Bart« und eine „abgeschabte Schnauze« sind beides Realitäten; nur ist das eine gute Realität und das andere eine schlechte. - Folglich verleiht die mystische Losgelöstheit

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den Dingen eine neue Bedeutung und löst sie aus ihrem gewöhnlichen ideellen Zusammenhang und ihrer gewöhnlichen Bedeutsamkeit heraus. 8. Aber das ist uns schon bekannt, wir rufen es nur in die Erinnerung zurück. Was folgt daraus für die Struktur der mythischen Losgelöstheit bzw. der mythisch-abgehobenen Schicht anderer Bewußtseinsstrukturen? a) Wenn eine solche Losgelöstheit einmal gegeben ist, vereinigt sie - ganz gleich, worin sie bestehen mag - die Dinge unter einem neuen Gesichtspunkt und nimmt ihnen die ihnen eigene natürliche Abgesondertheit. Ein Teppich ist ein Gegenstand, der in die natürliche Ordnung gehört. Das Fliegen in der Luft ist auch ein in gewisser Weise realer Prozess einer bestimmten natürlichen Ordnung (nämlich der der Vögel, Insekten usw.) Aber nun vereinigen sich ))Teppich«und »Fliegen in der Luft« zu einem neuen Bild. Was heißt das? Das heißt, daß sie sich trotz ihres natürlichen Unterschieds und in gewisser Weise sogar trotz ihrer Unvereinbarkeit gemäß einer ganz bestimmten Idee von Vereinigung vereinen, wobei ihr natürlicher Unterschied kaum noch sichtbar ist. Die Idee, die sie vereint und ihnen ein abgehobenes Sein verleiht, hat sie aus der Sphäre der gewöhnlichen Dinge und Prozesse heraus- und in eine abgehobene Sphäre hineingeführt. Folglich muß es für diese Dinge einen Punkt geben, in dem sie konvergieren, eine einheitliche Sicht, in der ihre natürliche Unvereinbarkeit in einer plötzlichen Verbundenheit und Versöhnung aufgehoben wird. b) Daraus folgt, daß die mythische Losgelöstheit eine ungewöhnlich einfache, elementare lntuition voraussetzt, die die gewöhnliche Idee der Dinge augenblicklich in eine neue, nie dagewesene verwandelt. Eine solche spezifische Intuition besitzt jeder Mensch, jeder sieht die Welt in einem ganz besonderen Licht. Und daher ist das Besondere an der mythischen Losgelöstheit ihre Universalität. Jeder Mensch, ganz gleich wie reich seine Psyche ausgestattet sein mag, besitzt eine derartige nur ihm eigene Weise, die Dinge aufzufassen und mit ihnen umzugehen. Das kann bei jedem beliebigen Schriftsteller nachgeprüft und nachgewiesen werden. Nur ist es bei unseren Literaturhistorikern und Literaturwissenschaftlern nicht üblich, sich mit derartigen Fragen zu beschäftigen. Es geht dabei um sehr empirische, reale Probleme, die ein großes Tatsachenmaterial und umfangreiche statistische Untersuchungen erfordern, wenn man daran geht, die allgemeine Art von Bildhaftigkeit und die sonstigen literarischen Besonderheiten eines Schriftstellers zu erforschen. Diese ursprüngliche und primitive Intuition ist etwas sehr Einfaches, etwas ganz besonders Ein-

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faches, eine ganz bestimmte Weise, eine Sache anzuschauen. Das heißt, in Wirklichkeit ist es nicht nur die Art, wie man eine Sache anschaut, sondern wie man das ganze Sein, die Welt, jedes beliebige Ding, die Gottheit, die Natur, den Himmel, die Erde, die eigene Kleidung, schließlich die Nahrung, das kleinste Atom des täglichen Lebens betrachtet, und nicht nur, wie man es betrachtet, es geht im Grunde nicht um eine Betrachtungsweise, sondern um eine ganz uranfängliche Weise des Bewußtseins, auf die Dinge zu reagieren, eine uranfängliche Weise des Zusammenstoßes mit der Umgebung. In diesem Punkt unterscheidet sich die mythische Losgelöstheit in nichts von dieser primitiv-intuitiven Art, auf die Dinge zu reagieren, denn der Unterschied liegt vielleicht nur im Grad oder der Spezifikation dieser allgemeinen primitiv-biologisch-intuitiven Einstellung des Bewußtseins, gegenüber dem Sein zu reagieren. Und so kann man sagen, daß der Mythos nach Ausklammerung allen poetischen Inhalts nichts anderes ist als eine allgemeine, allereinfachste, vor aller Reflexion liegende, intuitive Wechselbeziehung von Mensch und Ding. Real erfahren kann man diese vor der Reflexion liegende Reaktionsweise zum Beispiel beim alltäglichen Umgang mit der Psyche eines anderen Menschen. Da begegnet uns ein weinender oder lachender Mensch. Wie nehmen wir ihn wahr? Wenn wir das Gesicht dieses Menschen sehen, erfassen wir sofort - fast augenblicklich und ohne jedes Nachdenken - dieses Leiden oder dieses Lachen. Noch fehlt jeder Gedanke über dieses Leiden, und doch haben wir schon in genauester, feinster Weise das Leiden dieses Menschen konstatiert. Und nicht nur konstatiert, sondern wir verhalten uns ihm gegenüber schon auf eine besondere Weise und haben schon eine Wertung vorgenommen. Das Denken über dieses Leiden setzt erst später ein. Daran wird deutlich, wie verkehrt alle mythologischen Theorien sind, die dem Mythos eine gedankliche Konstruktion zugrundelegen wollen. Und wir nehmen nicht nur kurzzeitige und markante Erscheinungen so auf. Alle Wahrnehmung einer fremden Individualität geschieht auf diese Weise. Einmal erzählte mir ein Arzt, daß er schon beim ersten Blick auf einen eintretenden Patienten und vor jeder Untersuchung wisse, ob der Kranke geheilt werden könne oder nicht. PeCorin, der Held Lermontovs, weiß beim ersten Blick auf eine Frau, ob eine gegenseitige Sympathie entstehen kann oder nicht. Und der gleiche Lermontov hat mit großer Genialität herausgefunden, daß ein Soldat, der in der folgenden Schlacht fallen wird, schon am Morgen des Tages dieser Schlacht einen ganz besonderen Gesichtsausdruck hat, der normalerweise weder von ihm selbst noch von anderen wahrgenommen ~ i r d . >)Hellsichtigkeit« ~4 ist ein Phänomen, das nicht nur bei religiösen Menschen, sondern oft sogar bei völlig umeligiösen Naturen auftritt

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und allgemein bekannt ist, so daß dafür keine besonderen Beispiele angeführt werden müssen. Eine solche Hellsichtigkeit in bezug auf eine fremde Seele und sogar in bezug auf deren Schicksal ist jedem mehrmals im Leben und in der Literatur begegnet, auch wenn sich einige verfehlte Theorien darum bemühen zu leugnen, daß es so etwas wie die unmittelbare Wahrnehmung einer fremden Psyche gibt. Genau den gleichen Charakter trägt auch die mythische Auffassung und das mythische Verständnis der Dinge. Auch der Mythos entreißt die Dinge ihrer natürlichen Umgebung, wo sie unvereinbar, unverständlich oder im Hinblick auf ihre künftige Existenz unerforscht sind, und taucht sie ein in eine neue Sphäre, in der plötzlich ihr innerer Zusammenhang offenbar wird, ohne daß sie dabei an Realität und Stofflichkeit verlieren, so daß sie ihren angemessenen Ort finden und ihr weiteres Schicksal deutlich wird. C)In diesem Zusammenhang erhält der Begriff der nLosgelöstheit« eine besondere Bedeutung. Jetzt sind wir so weit, daß wir sagen können, daß dieser Terminus ungenau ist, weil er gleichermaßen Losgelöstheit wie bildhafte Konkretheit ausdrückt. Von welchem Standpunkt aus wird denn hier von Losgelöstheit gesprochen? Losgelöstheit wovon? Von gewöhnlichen Ideen, gewöhnlichen Dingen und Erscheinungen, hatten wir gesagt. Aber was ist eine gewöhnliche Idee und was sind gewöhnliche Dinge? Ist das nicht einfach relativ? Ist es nicht so, daß ein Ding einmal gewöhnlich und ein andermal vollkommen ungewöhnlich und unerwartet sein kann? Sicherlich ist der Inhalt dieses Terminus etwas in höchstem Maße Relatives und Bedingtes. Das Gewöhnliche erweist sich manchmal als außerordentlich rätselhaft, sogar als wunderbar und einmalig und bleibt trotzdem etwas Gewöhnliches. So wird deutlich, daß man nicht von einer mythischen Losgelöstheit sprechen sollte, sondern davon, daß alles auf der Welt überhaupt, alles Existierende, angefangen bei den kleinsten, nichtigsten Dingen bis hin zur Welt im Ganzen, in gewisser Weise selbst eine Stufe oder eine Qualität der mythischen Losgelöstheit ist. Auch das, was wir als den gewöhnlichen Lauf der Dinge bezeichnen, ist ein Resultat unseres »mythischen«Blickes, denn auch hier sind die Dinge ja nicht in ihren isolierten Funktionen und abstrakten Begriffen gegeben, sondern wir erkennen, daß sie in gewisser Weise den verschiedensten, wenn auch nicht sehr klaren und tiefen Ideen unterworfen sind. Jede Farbe, jeder Ton, jede Geschmackseigenschaftbesitzt unzweifelhaft mythische Qualitäten. Farben erscheinen als kalt, warm, hart, weich, Töne als scharf, schwer, leicht, innig, streng usw. Die mythische »Losgelöstheit« ist damit eine in höchstem Maße universale Form; und es gibt kein einziges Ding, das wir nur als nackten und abstrakten Begriff wahrnehmen würden. Ein lebendiges Ding - dieses Papier hier zum

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Beispiel, dieser Bleistift und diese Feder, dieses Zimmer - wird immer als etwas aufgefaßt, das einen gewissen persönlichen, sozialen oder anderen tief-ausdrucksvollen Inhalt besitzt und immer mehr oder minder an einem mythischen Sein Anteil hat. Oder meinen Sie vielleicht, daß zum Beispiel die hebräische MikweZ5 kein tief-ausdrucksvoller Mythos ist? Oder das, was nach der Beschneidung kommt?. ... Die Juden wissen, wovon ich spreche. Aus allem oben Gesagten folgt, daß die >)mythischeLosgelöstheit« einfach eine Losgelöstheit ist von einer nur abstrakten und abgesonderten Existenz. Sie ist jene spezielle Sphäre, in die die abstrakten Begriffe eintauchen, um sich in lebendige Gegenstände der lebendigen Wahrnehmung zu verwandeln. Der Mythos ist, wie wir gesehen haben, lebendiges, ausdruckshaftes und symbolisch-ausdruckshaftes,geistigausdruckshaftes Sein. Ein Ding, das zum Symbol und zur Intelligenzz6 geworden ist, ist schon ein Mythos. So weisen Mythos und mythische Losgelöstheit jene oben einzeln behandelten Merkmale in einer gewissermaßen unteilbaren Einheit auf. Die Losgelöstheit wird verständlich, wenn alles, was vorher analysiert wurde, nun in einer Kategorie zur Synthese gelangt, und zwar in einer Kategorie, die das Wesen des Mythos enthüllt, und wenn wir die dialektische Vereinigung alles dessen, was bisher erarbeitet wurde, in einer einzigen und unteilbaren Struktur wiederfinden. Wenn wir die poetische Losgelöstheit beiseitelassen und nur bei den realen Dingen bleiben, wird jetzt deutlich, daß die realen Dinge auch in gewisser Weise begriffene Dinge sind. Dabei ist es möglich, sie entweder wissenschaftlich oder religiös aufzufassen. Und es gibt die mythologische Auffassung. Diese ist letztlich ein Zusammentreffen von Bewußtsein und Ding, das sich in allereinfachSter biologisch-intuitiver Unmittelbarkeit vollzieht. Ohne das gibt es gar keine Erfahrung lebendiger Dinge. Aber diese ursprüngliche auf das Lebendige bezogene Intuition zeigt uns nur, daß die von uns bisher gesondert aufgeführten wesentlichen Eigenschaften des Mythos von diesem neuen Gesichtspunkt aus noch einmal überprüft werden müssen, und zwar dahingehend, daß sie sich nun in einer Kategorie zusammenfinden und zu einer Struktur des Mythos vereinigen. Es gibt in der mythischen Losgelöstheit nichts, was abgesondert von anderen Bereichen existieren würde, weder eine partielle Lebendigkeit noch eine partielle Ausdruckshaftigkeit, noch eine partielle Geistigkeit usw. Es gibt nur etwas Umfassendes und Einheitliches, in dem alle diese Elemente in einer ungeteilten Kategorie zusammenfließen. Das synthetische Moment ebenso wie die lebendige Unmittelbarkeit und die Naivität des Mythos verlangen danach, daß die mythische Losgelöstheit genau in dieser Weise in Erscheinung tritt. Und damit sind wir bei ihrer Definition angelangt.

Der Mythos ist eine personhafte Form

VII. Der Mythos ist eine personhafte Form 1. Bis jetzt verfugen wir über folgende Thesen, die das Wesen des Mythos charakterisieren, indem sie es von den teilweise mit ihm zusammenfallenden Formen des Bewußtseins und des künstlerischen Schaffens abgrenzen.

1. Der Mythos ist nichts Ausgedachtes, keine Fiktion, keine Phantasterei, sondern eine logisch, das heißt vor allem dialektisch notwendige Kategorie des Bewußtseins und des Seins überhaupt. 2 . Der Mythos ist kein ideales Sein, sondern lebensvolle, erfahrbare, erschaffene, stoffliche Realität. 3 . Der Mythos ist kein wissenschaftliches und insbesondere kein primitiv-wissenschaftliches Konstrukt, sondern ein lebendiger wechselseitiger Austausch zwischen Subjekt und Objekt, der seine eigene, außer-wissenschaftliche, rein mythische Wahrheit, Glaubwürdigkeit, prinzipielle Gesetzmäßigkeit und Stmktur enthält. 4 . Der Mythos ist kein metaphysisches Konstrukt, sondern reale, stofflich-sinnlich erschaffene Wirklichkeit, die aber gleichzeitig abgelöst vom gewöhnlichen Gang der Dinge und Erscheinungen in sich hierarchisch gegliedert ist und verschiedene Grade von Losgelöstheit besitzt. 5 . Der Mythos ist weder Schema noch Allegorie, sondern Symbol; und als Symbol kann er schematische, allegorische und dem Leben zugeordnete symbolische Schichten enthalten. 6 . Der Mythos ist kein poetisches Werk, seine Losgelöstheit hebt die isolierten abstrakt-gesonderten Dinge heraus in eine intuitivinstinktive und primitiv-biologische Sphäre, die mit dem menschlichen Subjekt in einer Wechselbeziehung steht, und in der sie zu einer unzertrennbaren, organisch-gewachsenen Einheit zusammengefaßt werden. Diese sechs Thesen sind es, die den Begriff des Mythos schrittweise herausarbeiten. Erstens ist er eine dialektische Notwendigkeit des Bewußtseins und des Seins, obwohl noch unbekannt ist, worin sie besteht. Zweitens geht es dabei um reale Dinge, um tatsächlich existierende Wirklichkeit. Das heißt, um den Mythos näher zu bestimmen, wird aus der Gesamtsphäre des logisch Notwendigen eine Kategorie des vorhandenen Seins herausgelöst. Aber auch das ist noch zu weit gefaßt. Und daher nehmen wir drittens aus der vorhandenen Wirklichkeit jene Sphäre heraus, die für das Subjekt in ganz intimer Weise spürbar ist, nämlich die Sphäre der ursprünglichen Lebensbeziehung von Subjekt und Objekt, wo es ein Subjekt und Objekt des Ge-

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fuhls, des Willens, der Affekte usw. gibt. Aber auch hier geht es nicht um die Gesamtsphäre der Wechselbeziehung von Subjekt und Objekt, sondern nur um ihren stnktunerten, gestalteten, gesetzmaßig aufgebauten Bereich. Viertens unterliegt natürlich auch diese letzte Folgerung einer Analyse. Alles ordinär Flache, alles, was in seiner Abstraktheit und Isolierung hypostasiert wird, des, was die Dinge in ihrer dumpfen Abgeschiedenheit und Zerstreuung läßt, gehört nicht zum Mythos. In ihm tritt die vernünftige, belebende Seite der Dinge in Erscheinung, durch die sie - in ganz verschiedener Weise - aus allem allzu Gewöhnlichen und AUtäglichen herausgelöst werden. Noch deutlicher wird diese Wechselbeziehung von verschiedenen Schichten der Wirklichkeit, fünftens, nicht als dualistisch-metaphysisdi-naturwer Gegensatz, nicht als schematische oder allegorische Wechselbeziehung, sondern als symbolische charakterisiert, das heißt: die irn Mythos unterscheidbaren Schichten der Seinshierarchie müssen zu einer materiellen Identität gelangen, und zwar in der Art, daß sie zu einer unteilbaren Einheit werden, in der die Energien der verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit sich zu einem sinnhaften Spiel verbinden, wo sie zwar voneinander getrennt, aber doch wechselseitig aufeinander bezogen bleiben und sich sogar miteinander identifizieren. Schließlich hat sich uns diese geistige, symbolisch-ausdnickshafte, subjekt-objektive, losgelöste Wirklichkeit als eine vor aller Reflexion liegende dargestellt, als eine primitiv-intuitiveWechselbeziehung von Subjekt und Objekt. Um es noch kürzer zu sagen: Der Mythos ist eine dialektisch notwendige Kategorie von Bewußtsein und Sein (I),die sich als stoffliche, lebendige Realität (2) einer subjekt-objektiven, strukturell (in einem bestimmten Bild) gegliederten Wechselbeziehung (3) zeigt, in der das von der isoliert-abstraktenStofflichkeit abgelöste Leben (4) symbolisch (5) ein vor der Reflexion liegendes, instinktives, intuitiv aufgefaßtes geistiges und energiehaltiges Aussehen bekommt (6). Noch kürzer: Der Mythos ist ein intelligibles (3) Symbol (4-5) des Lebens (2, 6), dessen Notwendigkeit sich in dialektischer Weise offenbart (I),oder - eine cymbolisch gegebene Intelligenz des Lebens. Um sich nicht dem Vorwurf der Unklarheit auszusetzen, muß schließlich darauf hingewiesen werden, daß hier unter »Leben«einfach eine Kategorie verstanden wird, in der sich eine bestimmte Intelligenz verwirklicht. Und dann kann der Mythos folgendermaßen definiert werden: er ist symbolisch verwirklichte Intelligenz. Ich behaupte nun, daß auch die Persönlichkeit symbolisch verwirklichte Intelligenz sei. Und deshalb lautet die kürzeste Formulierung der vorhergegangenen Überlegungen (mit ail ihren Eingrenzungen und Unterteilungen): Der Mythos ist personhaflec Sein, oder genauer, Bild personalen Seins, personale Form, Antlitz der Person.

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2. In dieser Formel haben wir nun endlich auch jene einfache und einheitliche Kategorie gefunden, in der die Eigenart des mythischen Bewußtseins sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Das muß noch etwas verdeutlicht werden. Person setzt Selbstbewußtsein, Intelligenz voraus. Dadurch unterscheidet sie sich von einer Sache. Und Mythos und Person - wenn auch nur teilweise - zu identifizieren, erweist sich zweifellos als völlig berechtigt. Doch Person ist natürlich mehr als nur Selbstbewußtsein. Sie muß ständig aktiv in Erscheinung treten, und sie hat Tiefendimensionen.Wenn sie reines Selbstbewußtsein wäre, befände sie sich als geistiges Wesen außerhalb von Zeit und Geschichte. Die reale Person hat notwendigenveise einen bleibenden Kern und veränderliche Akzidenzien, die mit diesem Kern als dessen energetische Erscheinungsweisen verbunden sind. Deshalb ist auch die Antithese von »Innen«und ))Außen«für den Begnff der Person unbedingt notwendig. Auch noch von einem anderen Gesichtspunkt aus. Person als Selbstbewußtsein sieht sich immer als Gegenüber zum ))Außen«,zu dem, was nicht sie selbst ist. Auch wenn sie sich zur Selbsterkenntnis in sich selbst versenkt, findet sie diese Antithese von Subjekt und Objekt, Erkennendem und Erkanntem. In der Person jedoch ist diese Antithese aufgehoben. Die Gegenüberstellungz u Umgebung ebenso wie die Gegenüberstellungim Akt der Selbsterkenntisist nur moglich, wenn auch die Synthese dieser Gegensätze vorhanden ist. Wenn ich mich der Außenwelt gegenüberstelle, heißt das, daß ich ein gewisses Bild von ihr habe, das gleichermaßen von ihr selbst und von mir geschaffen wird. Darin vereinige ich mich mit ihr bis zur völligen Ununterschiedenheit. Im Akt der Selbsterkenntnis zeigt sich das noch deutlicher. Ich beobachte mich selbst. Das heißt aber, daß das von mir Beobachtete ich selbst bin, das heißt, es handelt sich um eine unbestreitbare Identität von mir mit mir selbst, eine Identität von Subjekt und Objekt. Folglich ist Person als Selbstbewußtsein, in dem sich Subjekt und Objekt wechselseitig erkennen, notwendigenveise eine ausdruckshafte Kategorie. Immer sind in der Person zwei verschiedene Ebenen vorhanden, die letztlich identisch und in einem unteilbaren Antlitz verbunden sind. Wenn Sie einmal den Gesichtsausdruck eines Menschen betrachten, den sie schon lange kennen, werden Sie ganz bestimmt nicht nur die äußeren Gesichtszüge dieses Menschen wahrnehmen, so wie es Ihnen vielleicht ergeht, wenn Sie geometrische Figuren sehen (obwohl auch darin gewisse ausdruckshafte Elemente vorhanden sind). Sie werden mit Sicherheit noch etwas anderes wahrnehmen, etwas lnneres -, das allerdings durch das Äupere erkennbar wird und das die Unrnittelbarkeit der Wahrnehmung in keiner Weise beeinträchtigt. Das bedeutet, daß die Person immer Ausdruck ist und deshalb prinzipiell Symbol. Das wichtigste dabei ist aber, daß die Person venuirklichtes Symbol ist

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und venoirklichte Intelligenz. Wenn wir vom Symbol als solchem sprechen, bleibt es reiner Begnff, von dem nicht bekannt ist, welche Dinge er interpretiert und gestaltet. Dasselbe gilt von der Intelligenz. Die Person hingegen ist immer eine materielle Verwirklichung von Intelligenz und Symbol. Sie ist Faktum. Sie existiert in der Geschichte. Sie l&, kämpft, wird geboren, blüht auf und stirbt. Sie ist immer und unbedingt Leben und nicht reiner Begnff. Letzterer muß verwirklicht, vergegenständlicht, materialisiert werden. Er muß in einem lebendigen Körper und in Organen offenbar werden. Person ist immer körperlich gegebene Intelligenz, körperlich verwirklichtes Symbol. Die menschliche Person ist ohne Körper undenkbar, das heißt: nicht ohne einen durchgeistigten, intelligenten Körper, durch den hindurch die Seele sichtbar wird. So kann zum Beispiel ein Moskauer Gelehrter einer Eule ähnlich sehen, ein anderer einem Eichhörnchen, ein dritter einer Maus, ein vierter einem Schwein, ein fünfter einem Esel, ein sechster einem Affen. Und einer, der sich sein Leben lang bemüht, ein richtiger Professor zu sein, kann doch aussehen wie ein Verkäufer. Ein anderer, so wichtig er auch tut, wie ein geschniegelter Friseur. Und wie anders soll ich denn eine fremde Seele kennenlernen als durch den Körper? Auch wenn der Körper stirbt, so bleibt er doch in irgendeiner Weise mit der Seele verbunden, und immer wenn man an sie denkt, wird man auch den dazugehörigen Körper im Gedächtnis haben. Er ist nichts Ausgedachtes, keine zufäliige Erscheinung, nicht nur Illusion, keine Bagatelle. Er ist immer Offenbarung der Seele - und folglich in gewissem Sinne selbst Seele. Den einen oder anderen braucht man nur kurz anzusehen, um zu der Überzeugung zu kommen, daß der Mensch vom Affen abstammt, wobei meine eigentliche Empfindung mir aber genau das Entgegengesetzte sagt, denn natürlich stammt der Mensch nicht vom Affen ab, sondern der Affe vom Menschen. Nur deshalb können wir überhaupt von Person sprechen. Der Körper ist kein toter Mechanismus aus irgendwelchen unbekannten Atomen. Der Körper ist das lebendige Antlitz der Seele. Durch die Art zu sprechen, durch den Blick, durch die Falten auf der Stirn, durch die Art, wie ein Mensch seine Hände hält und seine Füße bewegt, durch die Hautfarbe, die Stimme, die Form der Ohren, ganz abgesehen von zusammenhängenden Handlungsabläufen, kann ich immer in Erfahrung bringen, was für eine Persönlichkeit ich vor mir habe. Schon aus einem Händedruck läßt sich manches erkennen. Und so sehr auch eine spiritualistische und rationalistische Metaphysik versucht hat, den Körper herabzuwürdigen, so sehr der Materialismus bestrebt war, den lebendigen Körper als tote, dumpfe Materie anzusehen, ist und bleibt er doch die einzige Form, in der der Geist tatsächlich unter den Bedingungen unserer Welt in Erscheinung tritt. Als ich eines Tages bemerkte, daß mein Gang sich

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verändert hatte, fing ich an nachzudenken und verstand dann, warum das so sein mußte. Der Körper ist unverzichtbarer Bestandteil der Persönlichkeit, denn letztere ist nicht mehr als körperliche Verwirklichung von Intelligenz und intelligentem Symbol. Manchmal graut es mir, wenn ich das Gesicht eines Menschen betrachte, den ich neu kennenlerne, oder wenn ich seine Handschrift betrachte: weil mir darin sein vergangenes wie sein künftiges Schicksal unerbittlich und unausweichlich entgegenblickt. 3. Ist es nun möglich, aus diesen Ergebnissen zu schließen, daß jede Person mythisch ist? Das ist unbedingt so zu verstehen. Jede lebendige Person ist in gewisser Weise ein Mythos. Natürlich ein Mythos in dem Sinne, in dem ich ihn verstehe. In einem sehr weitgefaßten Sinn. Unsere vorhergehende Analyse mußte jedoch bis zu dieser - wesensmäßigen Identifizierung führen. Man muß dabei nur im Blick haben, daß jedes Ding nicht aufgnind seiner rein stoffiichen Qualitäten mythisch ist, sondem aufgnind seiner Zugehörigkeit zur Sphäre des Mythos, dank seiner mythischen Form und Interpretation. Deshalb ist die Person nicht deshalb Mythos, weil sie Person ist, sondern weil sie vom Standpunkt des mythischen Bewußtseins her inbpretiert und gestaltet ist. Unbeseelte Gegenstände wie zum Beispiel Blut, Haare, Herz und andere Organe, Famkraut usw. können auch mythisch sein, aber nicht deshalb, weil sie Personen sind, sondern weil sie vom Standpunkt des personhaftmythischen Bewußtseins aus verstanden und gestaltet worden sind. SOist die magische Kraft eines Amuletts oder Talismans nur möglich, weil sie das lebendige Bewußtsein irgendeines Menschen beeinflußt oder auf unbeseelte Gegenstände einwirkt, aber so, daß sie indirekt auf das Bewußtsein eines Menschen Einfluß ausübt. Das heißt, daß jedes Amulett, jeder Talisman als personhaftes oder prinzipiell personhaftes Sein gestaltet ist, an sich aber weder Person noch einfach beseelter Gegenstand ist. Deshalb ist der Mensch auch nicht deshalb Mythos, weil er Mensch ist, sozusagen ein menschliches Ding, sondem weil er als Mensch und als menschliche Person gestaltet und verstanden wird. An sich müßte er keine Person sein, wie zum Beispiel auch der Speichel keine Person ist, ungeachtet d e r seiner magischen Kraft. 4. Jeder kleinste Bewußtseinsakt ist von personhafter Wahrnehmung durchdrungen. Man muß schon Materialist sein, um nicht die personhafte Bedeutung des Körpers und seiner einzelnen Organe zu erkennen. Was die Sexualorgane betrifft, so stimmt sogar der Materialist in bezug auf deren Bedeutung dieser allgemein menschlich-intuitiven Anschauung zu, obwohl sie sich in materieller Hinsicht in keiner Weise

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von Fingern, Ohren usw. unterscheiden. Ich fuhre hier die Überlegungen V. R o z a n o v ~ eines , ~ Fachmanns auf diesem Gebiet, an, um ein Beispiel fürdie Mythologie des Geschlechts zu bringen, so wie sie natürlichenveise von jedem »)normalen«Menschen erlebt wird. a) )>Esgibt eine geheimnisvolle, schwer auszudrückende und bisher von niemandem erforschte Wechselbeziehung, das heißt mehr noch, eine Identität der Geschlechtsorgane der beiden Geschlechter mit der Seele, und zwar der Seele in ihrem Idealzustand und ihrer Vollendung. Und wenn man vom »»Einswerdender Seelen« in der Ehe, das heißt in der geschlechtlichen Vereinigung spricht, so stimmt das bis in die allerletzte Tiefe hinein. Die Seelen werden tatcächlich eins, wenn sie in den Organen vereinigt sind! Aber wie gegensätzlich sind diese Seelene (und deshalb ergänzen sie sich)! Die männliche Seele ist in ihrem Idealzustand fest, gerade, kräftig, vorwärts strebend, überwältigend, das heißt genauso wie das, was der Mann schamhaft mit seinen Händen bedeckt. Und wenn man die Frau betrachtet: ihre idealen Charakterzüge sind: Zärtlichkeit, Weichheit, Hingabqiihigkeit, Nachgiebigkeit - was sich in ihrem ganzen Verhalten, in ihrem Leben im Gesamtzustand ihrer Seele ausdrückt. Aber auch hier sind das nur Bezeichnungen für die Eigenschaften ihrer Geschlechtsorgane. Mit ein und denselben Worten, Termini und Begnffen drücken wir das aus, was wir vom Mann hoffen und erwarten in bezug auf seine Seele, auf seine Biographie, und von seiner Frau aus gesehen in bezug auf seine Geschlechtsorgane; und umgekehrt, wenn der Mann bezaubert und entzückt die Seele und den Charakter seiner Frau beschreibt, benutzt er - und kann gar nicht anders als sie zu benutzen - genau die Worte, die er in Gedanken gebraucht, wenn er von ihr getrennt ist oder sie lange nicht gesehen hat und sich den geschlechtlichen Bereich ihres Körpers vorstellt. Und noch einer weiteren feinen Besonderheit sollten wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Die weibliche Psyche hat die Eigenschaft, weder hart noch fest, nicht scharf und klar umrissen zu sein, sondern irn Gegenteil sich wie ein Nebel auszubreiten und in eine unbestimmte Feme mitzureißen, denn ihre Grenzen sind unbekannt. Aber auch das sind Prädikate ihrer feuchten und duftenden Geschlechtsorgane und der geschlechtlichen Sphäre allgemein. Das Haus einer Frau, ihr Zimmer, ihre Sachen alles ist sehr anders als die Sachen, das Zimmer, das Haus eines Mannes; weich, offen, alles ist in Wohlgeruch getaucht, in den lieben, warmen Wohlgeruch der weiblichen Seele, deren Anziehungskraft die Liebe des Mannes entzündet. Alle diese Eigenschaften ihrer Person, ihrer Biographie, der Einrichtung und sogar der Dinge sind Eigenschaften ihrer geschlechtlichen Sphäre. Ein Mann erfüllt das Haus niemals mit »»Wohle

Dialektik! Anm.

V.

A. Losev.

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geruch((:seine Psyche, sein Bild, seine Angelegenheiten sind laut, aber sie »dehnen sich nicht aus«. Er ist wie ein Baum, aber ohne Duft, sie ist wie eine ewig und weithin duftende Blume. Und ebenso wie die Seele sind auch die Orgnne! Daher sind sie irn gesamten Kosmos (nicht nur dem irdischen) d e i n dazu geschaffen, fruchtbar zu sein, Nachkommen zu zeugen, Gottes Ebenbild zu sein in alle Ewigkeit... Seele gehört zur Seele wie der Funke zur Flamme - das ist die Fortpflanzung!«* Man muß nicht unbedingt so denken, wie es Rozanov tat. Das Geschlecht hat tatsächlich eine grundlegende und tiefe Bedeutung für den Menschen, aber (und hier stellen wir der Mythologie Rozanovs eine andere Mythologie entgegen) Fortpflanzung und Paarung sind dabei weniger wichtig, als Rozanov es darstellt. Nonnen und Prostituierte sind sehr viel interessanter, als die flache, bourgeoise judaistische Mystik, die Rozanov verkündet. Rozanov ist Mystiker des Spießertums in der genauen soziologischen Bedeutung des Wortes. Er vergöttert alles spießbürgerliche Zubehör: Kohlsuppe, Zigaretten, Bettfreuden und familiäre Gemütlichkeit. Das zeigt, daß er nichts weiß vom Wohlgeruch des Nonnentums, nichts spürt von der erlesenen Weiblichkeit jungfräulicher Askese, und daß ihm nicht klar ist, daß die körperliche Vereinigung eine Vulgarisierung der Ehe ist. Er ist nie in einem strengen Nonnenkloster gewesen, hat nie Nächte hindurch am Gottesdienst der Fastenzeit teilgenommen, nie die Bußgesänge der Jungfrauen gehört, nie die Tränen der Rührung und der körperlichen und seelischen Erregung, die die reuevollen Nonnen während der Gebete vergießen, gesehen, nie erlebt, wie nach einem nächtelangen Gebet die Sonne aufgeht, niemals die wunderbaren und erstaunlichen Erkenntnisse gehabt, die tagelanges Fasten hervorruft, nie das Liebe, Heimatliche, Ewige gespürt, das diese ausgemergelten feinen Körper, diese mageren, schwachen Knochen ausstrahlen, nie das Nahe, Helle, Reine, so sehr Vertraute, Einfache, Tiefe, Klare, Universeile, Kluge, Selbstlose, Wohlriechende, Naive, Mütterliche dieser eingefallenen Brüste, dieser müden Augen, dieser schwachen und zerbrechlichen Körper in ihrer schwarzen, langen Kleidung gefühlt, die schon an sich die betäubte und erstarrte Seele rührt und tröstet.. . Aber ich bin ins Schwatzen gekommen! Ich habe Rozanovs Überlegungen zu einer Mythologie des Geschlechts angeführt, und mein eigenes eben angeführtes Beispiel kann ebenso als Beispiel für eine solche Mythologie dienen, nur ist es natürlich eine ganz andere Mythologie. Aber das ist gar nicht wichtig. Wichtig ist, daß sowohl die Welt Rozanovs wie das orthodoxe Kloster Formen f V. V. Rozanov. Menschen des Mondlichts. Christliche Metaphysik. S.P.B. 1913, 39-41.

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mythischen Seins sind und nicht die degenerierte Flachheit einer »wissenschaftlichen Weltanschauung«. b) Ich möchte noch weiter gehen. Meiner Meinung nach ist sogar jedes unbeseelte Ding oder jede Erscheinung, sofern sie nicht als abstrakt-isolierte, sondern als Gegenstand der lebendigen menschlichen Erfahrung angesehen wird, unbedingt Mythos. Alle Dinge unserer alltäglichen Erfahrung sind mythisch. Und von dem, was gewöhnlich als Mythos bezeichnet wird, unterscheiden sie sich vielleicht nur dadurch, daß sie ein bißchen weniger auffallend und interessant sind. Nehmen Sie einmal Ihr Arbeitszimmer. Nur in einer sehr abstrakten Überlegung kann man es sich als neutral und unabhängig von Ihrer Stimmung und Ihrem Selbstgefühl vorstellen. Mai erscheint es vertraut, fröhlich, gastfreundlich, mal düster, langweilig und verlassen. Es ist ein lebendiges Ding nicht des physischen, sondern des sozialen und historischen Seins. Und es geht dabei nicht um Ihre subjektive Stimmung. So sehr man mir einreden will, daß mein niedriges und dunkles kleines Zimmer nur mir und dank meiner subjektiven Eigenschaften freundlich und fröhlich erscheint, so ist es in Wirklichkeit aber doch so, daß es selbst an sich ursprünglich fröhlich und freudig ist und erst danach auf mich diesen Eindruck macht. Es gibt natürlich Philosophen, die behaupten, daß nicht nur die Stimmung, die ein bewohntes Zimmer hervorruft, sondern auch das Zimmer selbst und alles auf der Welt sich als mein Subjekt erweist. Ich sagte schon, daß wir Farben, Töne, Gerüche und Geschmack niemals in ihrer isoliertstofflichen Form erleben. Das ist leere Abstraktion. Reale lebendige Dinge sind etwas anderes, die Sonne zum Beispiel, die im Winter erstmals nach langen trüben Tagen wieder durch die Wolken schaut, ist nicht die Sonne der Astronomie, sondern sie ist Quelle unserer Heiterkeit, Ermunterung und Erneuerung. Und sie verhiift uns dazu, daß wir leichter atmen können, daß unsere Seele wieder jung wird und unsere Kräfte sich wiederbeleben. Angeblich ist das Messen der Temperatur bei einem Kranken nicht Heilung, sondern dient der Feststellung der Krankheit. Aber dagegen protestiere ich. Der Kranke erlebt das Thermometer niemals als Instrument, das Krankheit konstatiert. Ich jedenfalls meine, daß es oft genug selbst schon wirklich Heilung ist, und wenn ich krank bin, ist es oft so, daß ich mich schon besser fühle, wenn ich die Temperatur gemessen habe. Auch wenn ich mir noch so sehr klar mache, daß das natürlich noch keine Heilung ist, wird es doch vom Organismus so erlebt und bewiesen dadurch, daß tatsächlich eine Erleichterung oder sogar eine Genesung eintritt. AUerdings wirkt dieses Mittel nicht immer. Aber wirkt denn eine echte Arznei immer unbedingt heilungs-

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fördernd? Sie meinen sicher, daß es der Doktor ist, der heilen muß. Aber der Kranke denkt, daß die Heilung schon begonnen hat, wenn der Arzt kommt und ihn untersucht. Ich jedenfalls denke das immer. Schon das Faktum des Kommens des Arztes ist der Beginn der Heilung. Ich kann gar nicht anders, als so zu denken. Einen Doktor, der nicht heilend wirkt, kann ich mir gar nicht vorstellen, obwohl einem der Verstand natürlich ständig sagt, daß nicht jeder Doktor ein guter Doktor ist, und daß nicht jeder, der seine Sache wirklich gut versteht, im gegebenen Fall auch eine Heilung bewirkt. Und trotzdem, die Gestalt des Doktors allein genügt schon, daß die Genesung beginnt. C) Einmal bin ich mit einer Dame auf einem schlechten Weg übers Feld gegangen und habe schwierige Überlegungen in bezug auf ein hoch-philosophisches Problem angestellt. Und war baß erstaunt, als die Dame mich plötzlich mit der Bemerkung unterbrach: ))WennSie wollen, daß Ihre Argumente Gewicht bekommen, sollten Sie nicht stolpern.« Ich war überrascht, aber erinnerte mich plötzlich daran, wie einmal auf einer Sitzung der Psychologischen Gesellschaft in Moskau ein bedeutender russischer Philosoph ständig an seiner Krawatte herumnestelte, während er seine Einwände gegen den Vortrag eines anderen bedeutenden Denkers vorbrachte. Er knetete an ihr herum, drehte und wendete sie, aber sie wollte ihm nicht gehorchen und ordentlich an ihrem Platz sitzen. Und ich erinnere mich, daß dieser Philosoph nicht nur mit seinen Einwänden scheiterte, sondern daß ich ihm bis heute nicht seine ungehorsame Krawatte verzeihen k a m . Dieser Krawatte wegen ist seine Philosophie für mich uninteressant geworden, und zwar offenbar für immer. Heute ist mir klar, daß hier eine echt mythische Wahrnehmung vorlag - der Einwände des Philosophen und seiner unglücklichen Krawatte und seiner Person. Hier könnte man auch an Dostoevskijs Brüder Karamazov denken, wo Peter A. Miusov F. P. Karamazov davon erzählt, daß in einer Heiligenlegende ein M;uSrer, nachdem man ihm den Kopf abgeschlagen hatte, aufstand, ihn unter den Arm nahm und »liebevollküßte«. F. P. Karamazov sagt zu Miusov: »Sie haben das in einer Gesellschaft erzählt, in der auch ich mich befand, so ungefähr vor vier Jahren. Ich erwähne es nur deshalb, weil Sie mit dieser komischen Geschichte meinen Glauben ins Wanken gebracht haben. Davon haben Sie natürlich nichts gewußt, aber ich bin mit erschüttertem Glauben nach Hause gegangen, und seither ist er immer noch mehr erschüttert worden. Ja Petr Aleksandrovit, Sie sind die Ursache eines großen Faiies gewesen. Und das ist nicht bloß so eine Geschichte von Diderot.« Und als Miusov darauf antwortet: ))Manspricht so manches beim Mittagessen ... Denn damals saßen wir gerade beim Essen« ..., sagt Karamazov nüchtern: »Ja, Sie haben damals zu Mittag gegessen, aber ich habe den Glau-

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ben verloren!,(28Und tatsächlich kann nur eine sehr abstrakte Vorstellung von dieser Anekdote oder von menschlichen Aussagen überhaupt zu dem Schluß führen, daß es hier nur um Worte geht. Oft sind die Worte schrecklich und ihre Wirkung ganz und gar mythisch und magisch. d) Es heißt, daß Schnupfen durch eine Erkältung hervorgerufen wird. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es so. Aber daß die Erkältung durch eine schlechte seelische Verfassung hervorgerufen wird, durch ein unangenehmes Ereignis oder durch ein Unglück - das habe ich viele Male erlebt. Normalerweise erkältet man sich, wenn jemand anfängt, einen aus dem Dienst zu verjagen. Manchmal wird einem gleichzeitig in der Straßenbahn das Portemonnaie gestohlen oder ein verletzter Finger fängt an zu eitern. Am meisten Unheil gestiftet hat bei der Einschätzung derartiger Erfahrungen unsere traditionelle abstrakt-metaphysische Psychologie. Es heißt, daß das Psychische keinen Platz einnimmt, daß es keine Ausdehnung besitzt. Aber wie kann das sein? Ich - und übrigens jeder andere auch - unterscheide sehr genau einen dumpfen von einem scharfen Schmerz, einen schneidenden von einem beißenden, einen stechenden von einem reißenden usw. usw. Ein Kopfschmerz kann an einer Stelle anfangen und sich dann an eine andere verlagern. Er fängt zum Beispiel im Nacken an, steigt in die Scheitelgegend, wird in der Stirn spürbar und klingt dann ab in der Tiefe der Augenhöhlen. Es heißt, daß man die Empfindung des Schmerzes vom entsprechenden physiologischen Prozeß unterscheiden muß. Es sei nicht die Empfindung,sondern der entsprechende physiologische Prozeß, der da spürbar werde. Gut, aber was tut denn weh bei mir - die Empfindung des Schmerzes, der Reiz, den der Schmerz ausübt, oder was noch? Natürlich schmerzt weder die Empfindung noch der Reiz, sondern einfach der Kopf. Und nichts anderes wandert durch den Kopf als der Schmerz selbst. Sie meinen sicher auch, daß die Seele sich nicht in der Ferse befinden kann. Was mich betrifft, so hält sie sich leider oft genug in den Fersen auf, als daß ich das nur metaphorisch oder als Lüge betrachten könnte. Auch wenn Sie mir nicht glauben können, ich habe meine Seele so manches Mal in den Fersen gespürt. Ich weiß sogar, auf welchen Wegen sie im Organismus dorthin gelangt. Wenn Ihnen dies unverständlich ist, ist allerdings nichts zu machen. Nicht allen ist alles gleichermaßen verständlich. Manche verstehen zum Beispiel nicht, daß die Sexualorgane sich in keiner Weise mit den übrigen Körperteilen vergleichen lassen, obwohl das im Grunde jedem genauso klar ist, wie daß die Juden eine Nation sind, die mit keiner anderen vergleichbar ist, oder daß ein weibliches Wesen nicht mit einem männlichen verglichen werden kann, obwohl ein aufklärerischer Liberalismus ständig seinen deka-

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denten Mythos von der allgemeinen Gleichheit und Gleichberechtigung verkündet. Genauso bestreitet man, daß es so etwas gibt, wie die Existenz einer bestimmten Höhe in Tönen und Stimmen, die in der Seele erklingen. Zuerst die Stimmen: es ist falsch zu denken, daß es hierbei nur um eine Allegorie geht. Wenn ich anfange zu schwanken, weil plötzlich zwei Gedanken in mir im Widerstreit liegen, dann heißt das nicht, daß dieses »in mir« das Wichtigste ist. Es geht darum, daß ich wählen muß. Daß die Stimmen, die sich in meinem Innern streiten, tatsächlich ich selbst bin, glaube ich niemals. Denn zweifellos handelt es sich dabei um eine Art eigenständiger Wesen, die unabhängig und getrennt von mir existieren und sich aus eigenem Willen in mir niedergelassen und in meiner Seele Streit und Lärm heworgerufen haben. Im »Revizor«von Gogol' beschreibt der Postmeister, der den Brief Chlestakovs öffnet, seinen Zustand so: ))Eswar eine unnatürliche Kraft da, die mich ins Verderben stürzte. Der Bote, der den Brief der Post mitgeben sollte, war schon gerufen worden, aber ich war so schrecklich neugierig wie noch nie in meinem Leben. Ich konnte es einfach nicht, ich konnte es nicht. Ich hörte, daß ich es nicht konnte! Und es zog mich so zu ihm hin, es zog so! Im einen Ohr hörte ich: )Öffne ihn nicht! Du gehst zugrunde wie ein Huhn; und im anderen Ohr war mir, als ob ein böser Dämon flüsterte: Öffne, öffne, öffne! Als ich das Siegel erbrach, war es wie Feuer in meinen Adern, und als ich den Brief öffnete, war mir eiskalt, wirklich, eiskalt. Und die Hände zitterten und mir wurde ganz übel.((Dem Postmeister zuzurechnen ist nur die Wahl zwischen zwei Ratgebern und die darauf folgenden Empfindungen, aber diese beiden Ratgeber selbst sind absolut nicht er selbst, sondern zweifellos andere Wesen. Der Postmeister vergleicht das eine von ihnen mit einem Dämon. Ich persönlich glaube, daß, wenn schon Dämon, es einer von den kleinen war, von den Spaßvögeln. Ein Dämon muß nicht unbedingt groß und wichtig sein. Es gibt auch welche, die nur Verwirrung stiften, sich vergnügen, kitzeln, Dummheiten machen, sie sind beinahe harmlos. Eine andere Sorte von Dämonen findet sich im Kopf des Judas in ))JudasIscha. ~ ~er die Leiden des von ihm verratenen Heinot« von L. A n d ~ e e vAls landes mitansehen muß, erlebt er seltsame Dinge: »Augenblicklich erfüllte sich der Kopf des Judas in allen seinen Bereichen mit Getöse, Geschrei und Geheul von tausend tobenden Gedankens.. . Oder: ))Irgendwelche steinernen Gedanken lagen im Hinterkopf des Judas, und er war ihnen sehr zugetan; er wußte nicht, was für Gedanken das waren, wollte nicht an sie rühren, aber er fühlte sie ständig. Und manchmal stürzten sie sich plötzlich auf ihn, bedrängten ihn, begannen ihn mit einer unvorstellbaren Schwere zu bedrücken, als wenn das Gewölbe einer steinernen Höhle sich langsam und schrecklich auf (

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seinen Kopf niederließ. Dann griff er mit der Hand nach seinem Hen, wie erstarrt versuchte er sich zu bewegen und entschloß sich, seine Augen auf eine andere Stelle zu richten.« Es ist falsch zu denken, daß Asketen, die sich in hochgeistigen Gefilden bewegen, sich in tiefster Ruhe befänden, als wenn sich in ihnen keinerlei innere Ereignisse abspielten. Geistige Ruhe ist natürlich ein grundlegender Charakterzug mystischen Bewußtseins. Aber lesen wir, was Mark der Asket dazu sagt. »Die Gnade im Zeichen des Kreuzes wirkt folgendermaßen: sie bringt Frieden in alle Glieder, und die Seele wird durch die Freude, die sie empfängt, wie ein einfaches, gutherziges Kind; und der Mensch verurteilt niemanden mehr, weder Hellenen, noch Juden, noch Sünder; aber der innere Mensch schaut mit reinen Augen auf alle Menschen wie auf einen einzigen und freut sich an der ganzen Welt und wünscht, daß alle Hellenen und Juden sich vor dem Sohn Gottes als ihrem Vater verneigen. Und es öffnen sich ihm die Türen, und er tritt in viele Wohnungen ein, und je weiter er in sie eintritt, desto mehr werden sie ihm geöffnet, und aus hundert Wohnungen tritt er in weitere hundert Wohnungen, und er wird reich, und wenn er neu und verwandelt worden ist, werden ihm andere, neue und wunderbare Dinge gezeigt, und als dem Sohn und Erben werden ihm Dinge anvertraut, die nicht mit menschlichem Mund und menschlicher Sprache ausgesprochen werden können. Ein andermal beginnt er, Gott zu verkünden, aus Liebe zu ihm beginnt er, um Frieden zu beten, um die ganze Welt zu retten, als heilgewordener Adam: von der göttlichen Liebe entzündet möchte er, daß alle gerettet werden, und verkündet das Wort des Lebens und das Reich Gottes: »daß ich möge kundmachen das Geheimnis des Evangeliums«, (Eph. 6,19)und erzählt von den himmlischen und göttlichen Geheimnissen der unendlichen und unfaßbaren Ewigkeit. Ein anderes Mal wiederum rüstet sich der Mensch, zieht »die Waffenrüstung Gottes« (Eph. 6,ll) an, führt das himmlische Heer in den Kampf gegen die Feinde und tötet viele von ihnen. Wiederum ein anderes Mal ist Gott in der Seele wirksam, Gott und Seele erfreuen sich gegenseitig, und der Mensch lebt in Licht und Freude, wenn er sich Gott und seinen Brüdern zuwendet«... usw.g Doch kehren wir zu den Stimmen zurück, die jeder in seiner Seele hört. Das Interessanteste dabei ist, daß diese Stimmen immer eine bestimmte Tonhöhe und ein bestimmtes Timbre besitzen und sich durch viele musikalische Kategorien und Eigenschaften auszeichnen. Ich g Die sittlichen Worte der Selbstlosigkeit unseres ehrwürdigen gottseligen Vaters Markus. Sergiev Posad 1911, 197-198.

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selbst bin zum Beispiel nicht in der Lage, mich dazu zu zwingen, irgendeiner Vorlesung zuzuhören; ich höre immer nur eine tiefe Baßstimme, die langsam auf einer Note immer dasselbe Wort in die Länge zieht: »Lang-wei-lig. Lang-wei-ligc. Manchmal aber einfach nur gedämpft und dumpf-ermüdend: »A-a-a-a-a-a-a...G bis zum Überdruß. Ich glaube, daß diese Stimme nicht höher ist als eine Konteroktave, so wie fa oder so1 einer Konteroktave. Wenn man sehr lange in einer fremden Vorlesung oder in einem langweiligen Vortrag sitzt, kommt es soweit, daß diese Stimme ein bißchen höher wird und anfängt, hin und her zu schwanken und zwar so, daß eine sehr kurze tiefe Note augenblicklich in schnellem Glissando in eine sehr hohe übergeht, diese sich dann unendlich lange hinzieht, und schließlich in quälender Weise in einer grauen Leere verklingt, und so wiederholt es sich viele Male. In anderen Situationen sind wieder andere Töne zu hören. Bekanntlich ist es ebenso leicht, andere Menschen zu einer Überzeugung zu bringen, wie es schwer ist, sich selbst von etwas zu überzeugen. Wenn Sie zum Beispiel manchmal mit großem Pathos wiederholen: »Es ist möglich, den Sozialismus in einem Land zu verwirklichen. Es ist möglich, den Sozialismus in einem Land zu verwirklichen. Es ist möglich, den Sozialismus in einem Land zu verwirklichen.« Hören Sie da nicht gleichzeitig, wie in Ihrer Seele ein ganz hohes, dünnes Stimmchen ertönt: »Nicht.. oder ))Nie...« oder einfach: »I-i-i-i-i.. Sie müssen dieser Stimme dann nur laut und bestimmt die Frage stellen: »Wie bitte? Er kann nicht verwirklicht werden???«, dann verstummt sie sofort, und ein Bild taucht auf: ein Hündchen, dem Sie gerade mit einem Knüppel drohenund das nicht wegläuft, sondern sich ängstlich auf die Erde legt, die Schnauze hinstreckt, um den Schlag zu erwarten, und demütig bittend mit dem Schwanz wedelt, als wollte es sagen: »Sie wollen mich doch gar nicht schlagen, nicht wahr? Wir versöhnen uns doch wieder, ja?« Sie schlagen natürlich nicht, sondern fangen wieder an, dasselbe zu erzählen. Aber sowie Sie damit beginnen, fängt das Stimmchen wieder an, mit dünner, piepsender Stimme zu sprechen, und wieder ertönt, noch stärker als vorher, dieses unerträglich hohe, demütig sich einschmeichelnde, seine Augen gen Himmel verdrehende, gleichzeitig spöttischverschlagene und fast schon verächtliche: »I-i-i-i-i-....« So wird dieser hohe Ton in der Seele durch Worte verdrängt und die Worte durch eben dieselbe Piepsstimme. Und es sind natürlich Wesen, die der Seele nicht eigentlich zugehören, die da am Werke sind.h .((

.((

Bezüglich der Auffassung, daß es in der Seele nicht nur ein »Ich«, sondern auch ein gewisses sehr reales »Es«gibt, s. das interessante Buch C.Freuds )>Ichund Ese, übersetzt unter der Redaktion von A. A . Frankovskij, Leningrad

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e) Über die mythischen Vorstellungen von Zeit und Raum ist schon viel geschrieben worden. Ich möchte zuerst von der Mythologie der Zeit sprechen. Leider ist es an dieser Stelle nicht möglich, ausführlicher auf Beispiele einzugehen, trotzdem will ich - ausgehend von Cassirer - versuchen, einige dazu auszuführen.' Für jeden Monotheismus ist es charakteristisch, daß die Zeit nicht von Naturprozessen, sondern vom Willen Gottes abhängig gemacht wird. Wenn die Psalmen Zeiten und Zeiträume preisen, die von oben festgesetzt sind, so verkünden die Propheten das, was man als Religion der Zukunfr bezeichnen kann. Die Zeiten werden kürzer, und es bleibt nur die Zukunft. Der Schöpfergott tritt in den Hintergrund. Hervor tritt der Gott der Geschichte und der Gott der Vollendung. - Auch in der persischen Religion ist die Idee der Zukunft vorherrschend, aber mehr erdverbunden und nicht so vielgestaltig. Alles steht im Zusammenhang mit der Niederlage Ahrimans und dem Anbruch einer neuen Epoche. Das dort vorhandene optimistische Streben nach Kultur wird religiös sanktioniert. Daher werden im Awesta der Bauer und der Viehzüchter gepriesen. Nicht Gott ist es, der den Menschen rettet, sondem der Mensch rettet sich selbst und errichtet eine gute Weltordnung. - In der indischen philosophischen und religiösen Spekulation findet sich ein ganz entgegengesetztes Zeitverständnis. Auch hier geht es um die Erwartung des Endes d e r Zeit. Aber dieses Ende wird durch die Klarheit und Tiefe des Denkens herbeigeführt. Wenn im Awesta der Schlaf ein böser Dämon ist, so wird schon in den ältesten Upanischaden das Denken als eine tiefe Versenkung in den Schlaf gedeutet. Das ist der Weg zum Brahman. Von daher stammt die Zeitvorstellung, die in den buddhistischen Quellen am deutlichsten zutage tritt. Die Lehre Buddhas bewahrt aus dem Zeitverlauf nur die Momente des Werdens und des Entstehens, was gleichbedeutend ist mit Leiden. Das Leiden entsteht durch drei verschiedene Arten des Durstes: nach Lust, des Durstes nach Werden und des Durstes nach Vergangenem. Die Ewigkeit des Werdens wird verkündet, und ebenso wie es kein Ende des Werdens gibt, gibt es auch kein Ziel. Das steht in völligem Gegensatz zu den biblischen Propheten wie auch zur Lehre des Awesta. Ziel ist nicht das Ende der Zeiten, sondern das Aufiören von Zeit und 1924. Daß man in diesen Fragen nicht unbedingt Freudianer sein muß, zeigt zum Beispiel P.S. Popov in seinem auf gut ausgewähltem Material basierenden Artikel: »Ich« und ,>Es«im Werk Dostoevskijs - in dem Sammelband ~Dostoevskij~, Moskau 1928, S. 217-274. Ernst Cassirer: Der mythische Zeitbegriff. [In: E. Cassirer: Phil. der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken. 8. unveränderte Auflage, Darmstadt 1987, S. 129-145. Losev bezieht sich auch auf den Abschnitt über „Die Gestaltung der Zeit im myth. U. religiösen Bewußtsein« (das., C. 145-169)].

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Werden. Nicht das Ende der Zeiten rettet die Menschen, sondern die Aufhebung der Zeit mitsamt all ihrem Geschehen. - Auch die chinesische Religion besitzt eine besondere und nicht minder bedeutende Konzeption der Zeit. Auch die Hauptprinzipien der Ethik des Taoismus sind Untätigkeit und Ruhe. Es geht darum, in sich selbst die ))Leere« des Tao zu gebären. Das Tao bringt alles hewor und verschlingt alles. Aber im Unterschied zum Buddhismus geht es hier nicht um Überwindung sondern um Bewahrung des eigenen Ich, ja sogar um die des Körpers und aUer seiner Formen. Hier wird, genau genommen, nicht die Zeit überwunden, sondern die Veränderungen in der Zeit. Das Sein befindet sich außerhalb des Zeiülusses, obwohl es nicht irgendein jenseitiges, sondern ein rein irdisches Sein ist. Es ist, konkret gesprochen, unveränderliche Zeit, sie ist im Himmel. Himmel und Zeit sind bei den Chinesen nicht geschaffen. Genauso wie in der Ethik des Konfuzius, die bekanntlich Züge eines äußerst strengen Traditionalismus aufweist. - Die ägyptische Religion besitzt ähnliche Zeitvorstellungen wie die chinesische. Auch sie will das reale Leben des Menschen mit seinem Leib und allen Gliedern bewahren und verewigen. Daher stammt die Praxis des Einbalsamierens. Und es folgt daraus so etwas wie eine Statik der Zeit, die im Geometrismus der ägyptischen Kunstwerke zum Ausdruck kommt. Die Dinge selbst vergehen, aber ihre plastische und architektonische Form bleibt. Ein Beweis für diesen Sieg der Form sind die Pyramiden. - In der griechischen Religion findet sich erstmals eine wirkliche Wahrnehmung der Zeit als Gegenwart. Zu ihr gehört Dauer, aber ohne die indische Hoffnungslosigkeit, ohne Untergang, Beständigkeit, aber ohne die chinesische Erstarrung, Enoartung des Zukünftigen, aber ohne daß wie im Alten Testament der Naturprozeß ignoriert wird. Hier vereinigen sich Zeitliches und Ewiges zu einer ungeteilten Gegenwart, wobei sich nicht beides gegenseitig zum Opfer bringt, sondern in seiner Freiheit und Unberührtheit bestehen bleibt. Ich würde sagen, daß Zeit und Ewigkeit hier erstmals gesondert in Erscheinung treten und beide zusammen eine ganze und ungeteilte, aktuale Unendlichkeit bilden. - Leider ist es mir hier nicht möglich, das christliche Problem der Zeit darzustellen und es mit der neuzeitlichen Auffassung zu vergleichen. Nur daß es dem griechischen Verständnis nahesteht, kann hier gesagt werden. Es enthält jedoch auch besondere Merkmale, die nirgends vorher zu finden sind, sofern Zeit und Ewigkeit in ihrer Identität auf das Reich des reinen Geistes übertragen werden. Es wäre einfach unsinnig, die Zeit in den verschiedenen Religionen und Mythologien im Stil der neuzeitlich-physikalischen, das heißt homogenen und unendlichen, leeren und dunklen Zeit zu verstehen. Und es ist sicher, daß nicht nur in den verschiedenen religiös-mytho-

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logischen Systemen, sondern auch jetzt niemand jemals die Zeit in diesem Sinne erlebt. Wenn Sie von der wirklichen realen Zeit sprechen wollen, so ist sie natürlich immer inhomogen, komprirnierbar und dehnbar, vollkommen relativ und bedingt. Wer hat denn nicht schon erlebt, daß ihm drei Sekunden so lang erschienen sind wie ein ganzes Jahr, und ein Jahr wie drei Sekunden? Ich meine sogar, daß die Zeit sich seit 1914 in gewisser Weise verdichtet hat und schneller vergeht. Die apokalyptischen Erwartungen in der Vergangenheit lassen sich gerade durch eine solche Verdichtung der Zeit erklären, in der das Ende nahe ist und die dann wieder abnimmt. In der Zeit finden sich wie irn Raum Einschnitte und plötzliche lntensivierungen. Ich habe mehrmals in meinem Leben erlebt, wie irn Zeitverlauf tiefe Löcher und Brüche aufgetreten sind. Manchmal sieht es so aus, als sei die Zeit zu Ende, und dann fängt sie doch wieder an, einen munteren Pfiff auszustoßen und sich zu einem unfaßbaren Wirbel zusammenzuballen. Und manchmal schreitet sie so keck voran, daß man in den Momenten, wo die Uhr schlägt, hingehen möchte, um diese erbarmungslose Maschine, die dazu dient, das ganze Leben zu reglementieren, in kleine Stücke zu zerschlagen. Ab und zu treten Erschütterungen im Zeitverlauf auf. Und schließlich ist die Zeit in gewissem Sinne umkehrbar. Allgemein bekannt ist, daß es märchenhafte Augenblicke gibt, in denen der Mensch plötzlich alt bzw. jung wird. Für die religiöse Ekstase ist es charakteristisch, daß die Zeit darin aufhört und sich zusammenzieht und vergangene und zukünftige Zeiten in einem unteilbaren, ganz gegenwärtigen Punkt konzentriert werden. An der irdischen Uhr, das heißt der Sonne, gemessen, betet ein Mensch sagen wir mal zehn Stunden lang. Tatsächlich erlebt er diese zehn Stunden aber als einige Sekunden, wobei diese inhaltlich reicher sind nicht nur als drei gewöhnliche Sekunden, sondern auch als zehn Stunden und vielleicht als zehn Jahre. Überhaupt ist der Kosmos unendlich vielgestaltig, was seine zeitliche Struktur angeht. Die Lebenszeit eines Menschen und die eines Insekts, das nur einen Tag alt wird, sind ihrem Wesen nach völlig unvergleichbar; vom Standpunkt des menschlichen Lebens aus gesehen ist ein Tag eines solchen Insekts etwas Nichtiges und fast Komisches. Und trotzdem besitzt auch dieses Insekt sein organisches Leben mit einer reichen Vergangenheit und einer unbekannten, bedeutsamen Zukunft, und wenn ein solches Insekt Bewußtsein hätte, könnte man sicher sein, daß es auf keinen Fall sein Leben als besonders kurz und komisch ansehen würde. Zu behaupten, ein solches Zeitverständnis sei subjektiv, bringt dabei nicht weiter, denn warum soll ein Zeitraum plötzlich objektiv sein und alle anderen subjektiv? Das ist ein Koeffizient, den man unbedingt aufgeben muß, weil er auf alles und nichts anwendbar ist, denn es geht um das, was

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Zeit eigentlich ist. Und dann wird deutlich, daß es viele Zeiten gibt, komprimierte Zeiten und in die Länge gezogene, und daß sie jeweils ihre eigene Gestalt und Struktur besitzen. Ein Kind, das drei Jahre gelebt hat, hat durchaus nicht weniger gelebt als ein neunzigjähriger Greis. Vor dem Antlitz der Ewigkeit ist ihr Leben als Leben gleich, nur besitzt es beide Maie einen anderen Inhalt und einen anderen Sinn. Zeiten gibt es so viele wie Dinge, und Dinge oder besser, Arten von Dingen, gibt es so viele wie Bedeutungen und Ideen. Die Zeit Zeitist der Schmerz der Geschichte, der von der ~)wissenschaftlichen« rechnung nicht erfaßt wird. Und der Schmerz des Lebens ist das alierklarste und derrealste. »Der Schmerz des Lebens ist sehr viel mächtiger als das Interesse am Leben. Und deshalb wird die Religion immer stärker sein als die Philosophie.«30

5. Möglich, und nicht nur möglich, sondern notwendig ist eine Dialektik der mythischen Zeit. Ich habe in meiner Darstellung des antiken Kosmos auf sie hingewiesen und möchte hier noch einmal einige Thesen dazu anführen.] I. Zeit ist nicht nur Zeit, das heißt reine Dauer, denn diese Dauer endet entweder irgendwann oder sie endet nie. a) Wenn sie irgendwann endet, dann trägt sie ihrer Natur nach das Ende in sich, das heißt, sie ist nicht nur Zeit, sondern noch etwas anderes, etwas anderes aber bedeutet auch etwas Nicht-Zeitliches. b) Wenn die Zeit jedoch niemals endet und nicht enden wird, dann ist sie Ewigkeit, das heißt Zeit plus etwas anderes, etwas anderes bedeutet aber etwas Nicht-Zeitliches. Folglich ist Zeit in jedem Fall immer im Grunde auch etwas Nicht-Zeitliches, das heißt Ewiges (wenigstens im Prinzip). 11. Trotzdem ist Zeit nicht einfach Ewigkeit, denn Ewigkeit ist unbeweglich und in einem Punkt konzentriert, Zeit jedoch ist fließend, lange andauernd und ununterbrochen im Werden. Deshalb ist die Zeit ein alogisches Werden der Ewigkeit, ähnlich wie die Ewigkeit das alogische Werden einer außer-zeitlichen Idee ist. 111. Wenn die Zeit das alogische Werden der Ewigkeit ist, dann bedeutet das, daß a) die Zeit Ewigkeit ist, denn werden kann nur das, was etwas ist, und folglich ist in jedem Moment der Zeit ihr ewiger Inhalt ganz und ungeteilt, unzertrennt anwesend. b) Die Zeit ist nicht Ewigkeit, denn sie ist der Verbleib der Ewigkeit im Anderssein und in der Zertrennung, ihr fließend-vielgestaltiges Werden. C)Und schließlich ist die Zeit Ewigkeit und ist es nicht, beides gleichzeitig, denn die zeitliche Ewigkeit und die ewige Zeit ist bestimmte und begrenzte Uni A. F. Losev, Antitnij kosmos i sovremennaja nauka. Moskau 1927. [160-1621

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endlichkeit, aktuale Unendlichkeit, wo unbegrenztes Werden und immerwährende Anwesenheit der Ewigkeit ein und dasselbe sind. W. a) Aber wenn die Zeit nicht einfach Zeit ist, sondem immer auch Ewigkeit, und die Ewigkeit nicht einfach Ewigkeit, sondem auch Zeit, dann muß die in dieser Synthese entstandene aktuale Unendlichkeit die Unbegrenztheit ebenso wie die Grenze des Werdens gewährleisten. Dialektisch ist es unabdingbar, daß die Zeit ein Ende hat. Aber wie ist das möglich? Was wird nach dem Ende sein? Wieder Zeit? b) Diese Fragen erfordern die dialektische Unmöglichkeit, die Grenzen der festgesetzten Zeit zu überschreiten, denn nur dann wird die Frage nach dem, was danach kommt, hinfällig, das heißt, sie hört auf, eine Frage zu sein. C)Diese Unmöglichkeit wird in dem Moment real, wo es sich erweist, daß die Struktur der Zeit selbst es unmöglich macht, daß sie sich weiter vorwärts bewegt, das heißt, die Zeit muß mit absoluter dialektischer Notwendigkeit ungleichartig sein und außerdem noch ungleichartig in bestimmter Richtung. d) Und zwar: 1. Aus der Zeit heraustreten kann man nur, wenn es eine andere Zeit gibt. 2. Folglich kann man nicht aus der Zeit heraustreten, wenn es keine andere Zeit gibt. 3. Zeit kann es nur nicht geben, wenn sie entweder in abstrakter Weise durch eine Idee ersetzt wird ( 2 X 2 = 4 ist ein außerzeitlicher arithmetischer Satz) oder wenn verschiedene Zeiten in eine bestimmte Zeit zusammengezogen werden. 4. Da das erstere entfällt (weil damit jedes Zeitproblem entfällt), bleibt nur das zweite, nur muß dabei die Zusammenziehung verschiedener Zeiten als Zusammenziehung aller möglicher Zeiten verstanden werden, und die Zusammenziehung in eine Zeit muß als Zusammenziehung in einem unteilbaren Punkt verstanden werden. 5. Folglich kann man aus der Zeit nur dann nicht heraustreten, wenn sie sich in eine unendlich - verdichtete verwandelt, das heißt nur dann, wenn sie selbst Ewigkeit wird. e) Das bedeutet, daß Zeit verschiedene Grade von Ewigkeit besitzen kann, so wie sie nach der die Zeit bestimmenden Dialektik alogisches Werden der Ewigkeit sein muß. V. Wie sind nun aber diese verschiedenen Grade von Ewigkeit physikalisch denkbar? Glücklicherweise hat uns die zeitgenössische Wissenschaft diese seit langem verlorengegangene mythische Idee zurückgegeben, so daß sie mathematisch wie physikalisch erklärbar a) Die Zeit tritt in einem physikalischen Körper als Bewegung oder als Ruhe auf. Bewegung kann verschiedene Grade von Geschwindigkeit besitzen. Je schneller sich ein Körper bewegt, desto weniger sichtbar werden die Begrenzungspunkte seines Umfangs. Man hat errechnet, daß der Umfang eines Körpers gleich Null ist, wenn er sich mit

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Lichtgeschwindigkeit bewegt. Folglich wird ein Körper durch eine bestimmte Manifestation von Zeit vollkommen deformiert, auch wenn er der Bedeutung nach noch nicht aufgehört hat, Körper zu sein, so hat er doch keinen Umfang mehr. b) Angenommen, die Geschwindigkeit eines Körpers überschreitet die Lichtgeschwindigkeit. Das heißt, sein Umfang wird gleich einer imaginären Größe, und wir versinken in ein Reich von Körpern und Zeiten, in dem unsere eigenen Körper und Zeiten nur vollkommen ins Gegenteil gewendet - »Kopf nach unten((und »Fersennach oben« - erscheinen können. C)Angenommen schließlich, daß ein Körper sich mit unendlich großer Geschwindigkeit bewegt. Das würde bedeuten, daß er sich gleichzeitig überall befände (denn in einem Augenblick umfaßt er die ganze Unendlichkeit, seine Schnelligkeit ist unendlich) und auch nirgends (weil er sich unaufhörlich bewegt und nirgends anhält und stehenbleibt). Genau das ist auch die Ewigkeit der ldeen - und zwar ist hier tatsächlich die platonische Idee gemeint -, die gleichzeitig überall und nirgends ist, in der die Wirkung der Ursache vorangeht, die also das Reich der absoluten Zwecke ist und deren Idealität als Körper gedacht wird, unser gewöhnlicher irdischer Körper, der sich allerdings mit unendlich groper Geschwindigkeit bewegt. Und deshalb ist der Platonismus, wenn Sie so wollen, einfach ein Teil der Physik, oder die Physik ist ein Teil der Platonismus (das ist dasselbe). Nur so ist es für die Mythologie denkbar, denn für sie ist alles gleichzeitig körperlich und unkörperlich. VI. Die Welt stellt auf diese Weise ein System verschiedener Zeitverdichtungen dar. Im »Antiken Kosmos« habe ich gezeigt, wie die Neu-Platoniker sich diese symmetrisch und konzentrisch um ein einziges Zentrum - die Erde - angeordnete verschiedenartige Verdichtung von Zeit und Raum gedacht haben. In den verschiedenen mythologischen Systemen kann das natürlich auch auf verschiedene Weise geschehen. Wichtig ist aber, daß vom dialektischen Standpunkt aus der Kosmos verschiedene Verdichtungen von Raum und Zeit haben muß, denn sonst ist nicht gewährleistet, daß man nicht hinter die Zeit gelangen kann,und ohne das gibt es keine Zeitgrenzen, das heißt, Zeit wird dialektisch undenkbar. Trotzdem, - wie auch immer die Mythologie sich die zeitliche Struktur des Kosmos gedacht hat -, es ist unabdingbar, daß die Zeit sich genau auf der Grenze der Welt zur Ewigkeit verdichtet. Nur dann kann man nicht aus der Zeit, das heißt aus dem Sein, heraustreten und die Grenzen der Welt überschreiten. Wir bewegen uns beispielsweise von der Erde zum Mond. Hier, im Raum und in der Zeit des Mondes, ändern wir uns und beginnen, in einer anderen Zeit zu leben. Dann bewegen wir uns zu anderen Planeten und erfahren dabei immer neue Umgestaltungen. Schließlich nähern wir

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uns der räumlichen Grenze der Welt, wo sich unser Körpervolumen in Null verwandelt und wir anfangen, uns mit dem gesamten Himmelsgewölbe zu drehen, ohne die Grenzen der Welt und folglich auch die Grenzen der Zeit zu überschreiten. Genauer gesagt bleiben wir auch dann innerhalb der Zeit, aber in einer Zeit, die schon in der Ewigkeit verläuft und lebt, in einer ihrer hierarchischen Sphären, so daß weder Werden noch Vergehen das Sein schwächen, sondern so, daß es durch eine ewige Kreisbewegung um sich selbst begrenzt wird. VII. Ein und dieselbe Sache, ein und dieselbe Person kann folglich in unendlich verschiedenen Formen vor- und dargestellt werden, je nachdem auf welcher Ebene des räumlich-zeitlichen Seins sie gedacht wird. Diese Ebenen können niemals an sich zur Erscheinung kommen, da sie nichts anderes sind als das Werden der Ewigkeit. Wenn folglich im Werden nur das werden kann, was in dem, was wird, enthalten ist, dann sind die Ebenen des raum-zeitlichen Seins nichts als alogisch, das heißt mehr oder weniger blind wiederholte Ebenen und Bereiche der Ewigkeit selbst. Im System der dialektisch durchdachtesten Kosmologie - der antiken - geht man - wie ich es im »Antiken Kosmos« gezeigt habe - von vier, oder genauer, fünf Ebenen aus: Feuer (das Ur-Eine), Licht (Vernunft, Idee), Luft (Seele, Geist), Erde (Körper der Sophia), Wasser (als qualitative Konkretisiemng des vierten Prinzips durch die drei ersten Prinzipien). Es existieren also mindestens fünf Arten von Raum, fünf verschiedene Arten von Zeit und fünf Arten von Körperhaftigkeit (ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen), der Feuer-Körper, der Licht-Körper, der Luft-Körper, der ErdKörper und der Wasser-Körper, und folglich auch fünf verschiedene Arten der Gestaltung und Bildung, fünf Arten von Symbolen. VIII. Den Kosmos kann man sich als ein System von fünf (oder besser noch von einer unendlichen Menge) von Räumen und Zeiten vorstellen. Jede Sphäre der Welt besitzt eine für sie besonders charakteristische Art von Raum und Zeit, in der letztere sich entweder im Ruhezustand oder in einer gleichförmigen Bewegung befindet. Aber durch das immer vorhandene alogische Element kann jede Sphäre auch andersartige Räume und Zeiten enthalten, die in einer relativen Disharmonie zu denen stehen können, die für die jeweilige Sphäre spezifisch sind. Dann kann man beobachten, wie zum Beispiel in der Sphäre des Erd-Raumes und der Erd-Zeit der Erd-Körper sich in einen Luft-, Licht-, Feuerkörper usw. verwandelt. Wenn man andererseits die genaue Wechselwirkung dieser Sphären kennt, ist es möglich, sie bewußt zu verändern. Ich werde hier nicht die vielen Beispiele anführen, die mir dazu einfallen und die gerne aufgeschrieben werden würden, nur eins davon, das von V. G. Bogoraz (Tan) stammt, möchte ich an dieser Stelle bringen. ))Auf unserer Erde wohnen

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Mäuse. Irgendwo existiert jedoch ein ganz besonderer Mäusebereich. Dort leben diese Mäuse gewissermaßen in einer anderen Hypostase des Seins. Sie haben Wohnungen, Vorräte, Werkzeuge, Geräte, feiern Riten, bringen entsprechende Opfer dar. In diesen Bereich gerät ein irdischer Schamane. Eine alte Frau leidet an Halsschmerzen. Auf unserer Erde ist sie eine Maus, die in eine Fangschlinge aus Stroh geraten ist, die unsere irdischen Kinder aufgestellt haben. Man kann sie auf zweierlei Arten heilen. Entweder von den Schamanen in jenem besonderen Bereich, so daß die Schlinge hier auf der Erde zerreißt. Die Maus läuft weg, und die alte Frau dort wird wieder gesund. Der Schamane hat sie geheilt. Oder die Strohschlinge auf der Erde zerreißt, die Maus entkommt, die Alte ist gesund. Als Bezahlung bekommt der Schamane Fleisch, eine Rolle Lederriemen, Seehundfelle. Auf unserer Erde allerdings verwandeln sich diese Geschenke in trockene Zweige und verwelkte Blätter.«k Auf diese Weise wird die Theorie einer mythischen Zeit und eines mythischen Raums dialektisch begründet und gleichzeitig wird dadurch das mythische und anschaulich-wunderbare Wesen aller Dinge sichtbar. b) Jedes Ding besitzt die Ebene personhaften Seins, denn jedes Ding ist nichts anderes als nach innen gewendete Person, die zwischen UrFeuer, Ur-Licht einerseits und undurchdringlicher Finsternis andererseits schwankt. Jedes Ding kann unendlich viele Erscheinungsweisen seiner personhaften Natur besitzen. Die anschaulichsten Beispiele eines solchen doppelten, dreifachen oder ganz allgemein vielfachen Symbolismus liefern Märchen und Träume. Ich habe viele Bücher, wissenschaftliche und unwissenschaftliche, über Traumtheorien gelesen, aber ein Beispiel ist es gewesen, das mich von der symbolischen Natur des Traums überzeugt und mich dazu gebracht hat, seine Bedeutung im Sinne einer mythisch-modifizierten Gestaltung der gewöhnlichen Lebenserscheinungen anzuerkennen. Ich bin einmal einem Pilger begegnet, der offensichtlich ein Asket war, und habe mich mit ihm über Mystik unterhalten. Auf meine Frage: )Warum hast Du nicht geheiratet?personhafteForm«, weist er nicht darauf hin, daß man eher ein bestimmtes Moment der Person als Mythos bezeichnen kann, das natürlich von ihr bestimmt ist, aber dennoch nur ein Moment in ihr und nicht sie selbst als Substanz ist? Zweitens, interessant und notwendig ist eine detailliertere Analyse des personhaften Prinzips nicht nur hinsichtlich des mythoshaften Moments oder der mythoshaften Seite der Person, sondern auch hinsichtlich der Formen der Erscheinungsweisen der Person, hinsichtlich dessen, wie dieses Moment, diese Seite im Mythos funktioniert. Die Person bringt sich in vielfacher Weise zum Ausdruck. Ein lebendiger Mensch geht, spricht, schläft. Alles das sind Erscheinungsweisen seiner Person. Der Mensch handelt gut, weniger gut oder verbrecherisch. Auch das sind Erscheinungsweisen seiner Person. Was ist dabei für den Mythos notwendig? Welche Kategorie von Erscheinungsweisen der Person ist für den Mythos wesentlich und notwendig? Drittens kann nicht behauptet werden,daß der Begriff der Losgelöstheit, den wir als für den Mythos charakteristisch herausgearbeitet haben, durch unsere Analyse vöilig klar umrissen wurde. Das erste, was wir getan haben, war, daß wir die Losgelöstheit als solche dargestellt haben. Dann haben wir die mythische Losgelöstheit von der poetischen unterschieden; die poetische ist die Losgelöstheit vom Faktum, die mythische die vom Sinn, von der Idee des Faktums (um eines neuen Sinnes und einer neuen Idee willen). Schließlich hatten wir festgestellt, daß überhaupt alle Dinge, soweit sie in der lebendigen Erfahrung vorkommen, - auch die allergewöhnlichsten - in diesem Sinne eine mythische Losgelöstheit besitzen, denn niemand wird jemals die Dinge als reine und isolierte, außerhalb eines personhaften und folglich sozialen Kontextes, auffassen. Dabei ergibt es sich, daß diese oder jene Losgelöstheit vom Sinn der Dinge (der abstrakt isolierten natürlich), immer in der Erfahrung vorhanden ist und daß in einem solchen Fall die gesamte Erfahrung selbst sich als mythisch erweist. Unwillkürlich entsteht dabei eine gewisse Unsicherheit. Es ist ganz offensichtlich, daß lebendige Dinge mythisch sind, daß >)Losgelöstheito dabei nur bedeutet, daß sie von einer abstrakten Isoliertheit losgelöst sind, daß das aber in Wirklichkeit keine Losgelöstheit

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ist, sondern die Grundlage für die allerechteste und -lebendigste Realität. Weshalb wird dann dafür aber der besondere Terminus ))Mythos« verwendet? Man könnte genausogut von ))Dingen«,))Personen«, >)lebendigerErfahrung« usw. sprechen. Trotzdem spricht man außerdem und sogar im Gegensatz dazu von Mythos. Worum handelt es sich? Ist die wirkliche mythische Losgelöstheit denn nicht nur eine Losgelöstheit von den abstrakt-isolierten Dingen, sondern noch von etwas ganz anderem? Muß man den Mythos nicht nur irn weitesten Sinne auffassen, sondern muß man ihn vielleicht im Gegenteil ganz eng verstehen, so wie es die Wissenschaft offensichtlich gewöhnlich tut und der alltägliche Wortgebrauch? Daß der Mythos nichts Ausgedachtes ist, wissen wir. Aber warum ist dieses Wort so oft als Synonym für NichtSeiendes, Nicht-Existierendes, für lügenhafte Erfindungen, irreale Phantastik gebraucht worden? Wie muß mit dieser Frage umgegangen werden? Alles das sind Fragestellungen, die uns zu weiteren Abgrenzungen und Präzisierungen führen.

VIII. Der Mythos hat keinen spezifisch religiösen Ursprung Diese Abgrenzung ist sehr wesentlich und führt uns in die Richtung einer Lösung der ersten oben gestellten Frage. Weder die Wissenschaft noch das gewöhnliche Alltagsbewußtsein besitzen eine klare Definition des Begriffs Mythos, und beide verwenden oft das Wort Mythos statt Religion und umgekehrt. Dabei unterscheiden sich beide Begriffe in wesentlicher Weise voneinander. Und die nächste Aufgabe ist es, diesen Unterschied herauszufinden. 1. Die Verschiedenheit beider Bereiche wird deutlich, wenn man erst einmal ihre Übereinstimmungen ins Auge faßt. Die Gemeinsamkeit von Mythos und Religion besteht darin, daß beide Bereiche Bereiche des personhaften Seins sind. Was die Religion betrifft, so besteht darüber kein Zweifel weder vom wissenschaftlichen noch vom gewöhnlichen Alltagsbewußtsein her. Religion und Mythologie leben beide aus der Selbstbehauptung der Person. In der Religion sucht die Person Tröstung, Rechtfertigung, Läuterung und sogar Rettung. Auch im Mythos ist die Person bemüht, in Erscheinung zu treten, sich selbst zu offenbaren und auszusprechen, in gewisser Weise eine eigene Geschichte zu haben. Diese gemeinsame personhafte Basis macht aber auch die Verschiedenheit beider Bereiche deutlich. In der Tat finden wir in der Religion eine gewisse besondere, spezifische Selbstbehauptung der

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Person. Und zwar eine ganz prinzipielle, die Begründung des Selbst in seinem letzten Grund, in den seinshaften Wuneln seines Urgrunds. Wir gehen nicht fehl, wenn wir behaupten, daß Religion immer eine Art Selbstbehauptung der Person in der Ewigkeit beinhaltet; wobei es dabei vorerst noch gar nicht um die Frage nach den Arten des Personbegriffs und dem Charakter von Personen oder nach den Möglichkeiten, den Begriff Ewigkeit aufzufassen, geht. Ohne weiter auf diese Frage einzugehen, kann man trotzdem formal von jeder Religion sagen, daß sie in gewisser Weise ein Versuch ist, die Person in einem ewigen Sein zu begründen, sie für immer mit dem absoluten Sein zu verbinden. Deshalb ist Religion weder Erkenntnis des Absoluten noch Streben danach, noch Gefühl des Unendlichen, überhaupt in keiner Weise ein intellektuelles Verhalten in bezug auf das Absolute. Die Religion ist die Begründung des Selbst, seines Wesens - nicht nur die seiner intellektuellen Anteile - in der Ewigkeit. Und wenn die Person daher weder Erkenntnis noch Streben, noch Gefühl, noch Seele, noch Körper, noch Geist, sondern reale und substantielle Begriindung von Erkenntnis, Streben, Gefühl, Seele, Körper und Geist ist, dann will die Religion gerade Rettung der Person sein und will sie in der Weise festigen, daß sie nicht mehr in Gefahr kommt, in den Bereich des defizienten Seins zu geraten. Religion ist vor allem eine bestimmte Art von Leben. Sie ist weder Weltanschauung - auch keine mystische oder religiöse - noch Moral, und sei es auch eine sehr hohe, religiöse, sie ist weder Gefühl noch Ästhetik, auch kein feuriges Gefühl oder eine durch und durch mystische Ästhetik. Religion ist vwwirklichte Weltanschauung, stoffliche, substantielle Moral, reale Begnindung des Gefühls, darüber hinaus geschieht diese Verwirklichung auf verschiedene und vor allem rein körperliche Weise, und auch die Substantialität kann ganz verschieden aussehen und ist vor allem spürbarphysiologisch. Religion gibt es nicht ohne Körper, denn der Körper ist ein bestimmter Zustand der Seele, so wie die Seele ein bestimmter Zustand des Geistes ist; und das Schicksal des Geistes ist das Schicksal der Seele, das Schicksal der Seele ist das Schicksal des Körpers. Der Spiritualismus und jede Art von Metaphysik sind Feinde der Religion. Außerdem sind es Lehren und nicht das Leben selbst. Und zwar sind es Lehren, die den Körper abwerten und ihn sogar oft als Illusion erscheinen lassen, während in der Religion - und auch das nicht in jeder - ein bestimmter Zustand des Körpers und nicht der Körper selbst verurteilt wird. In der aller-„geistigsten«Religion verkörpert sich das Absolute in einem normalen menschlichen Körper, und am Ende der Zeiten findet die »Auferstehung des Leibes((, die Auferstehung aller Körper statt. Ohne eine körperhafte Gemeinschaft mit dem Absoluten gibt es überhaupt keine wesentliche Gemeinschaft

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mit ihm. Ein Gebet tröstet und erleichtert, wobei nicht gesagt werden kann, ob es sich dabei um eine körperliche oder eine geistige Tröstung und Erleichterung handelt. Ein Gebet, das irn Kopf steckenbleibt, und da vielleicht von der Stirn in den Hinterkopf wandert, ist ein sehr schwaches Gebet. Für das wirkliche Gebet gibt es einen ganz bestirnmten physiologischen Weg, es hat seinen streng lokalisierten Ort, auf den ich mich hier nicht genauer einlassen kann. Wer betet, weiß, daß sein Gebet von vielen äußeren Gegebenheiten abhängt, zum Beispiel davon, ob man dabei sitzt oder steht, ob man auf einem hohen oder niedrigen Stuhl sitzt, von der Lage des Körpers und der Haltung des Kopfes, von der Art des Atmens, von der Jahreszeit usw., ganz abgesehen von der inneren Aufmerksamkeit und Bußfertigkeit und unabhängig davon, daß ein wirkliches Gebet von d e i n e kommt, ohne daß man weiß, woher und wie, und es manchmal allen äußeren Umständen zum Trotz den Menschen seinen alltäglichen Gegebenheiten entreißt. Wenn der Frühling beginnt, fällt es schwerer, sich zu konzentrieren und zu beten. Im Herbst und im Winter ist es leichter. Ebenso kann man auch von den Tränen sagen, daß sie das Leben selbst sind, geistiges wie physisches Leben. Es gab einmal einen Mönch, der gesagt hat: »Wenn du dir Tränen wünscht, sorge dafür, daß dir keinerlei körperlicher Trost zuteil wird.« Die Mönche besitzen eine regelrechte Tränenlehre, eine Technik des Weinens, obwohl die Gabe der Tränen letztlich ein Geschenk der Gnade ist." Mit alldem möchte ich nur sagen, daß Religion sich dadurch auszeichnet, daß sie Leben, das heißt substantiell-körperlich begründet ist, darüber hinaus Leben der Person, und zwar in der Weise, daß dieses Leben das Ziel hat, das substantiell-körperliche Gegründetsein im ewigen und absoluten Sein zu verankern. 2. a) Wenn wir Religion so verstehen, wird sofort der grundlegende und wesentlichste Unterschied von Mythologie und Religion deutlich. Sofort wird klar, daß wenn Religion substantielles Gegründetsein der Person im ewigen Sein ist, Mythologie dann weder substantielles Gegründetsein und schon gar nicht Gegründetsein in der Ewigkeit ist, obwohl sie zweifellos ganz aus dem personhaften Prinzip lebt. Natürlich ist eine religiöse oder absolute Mythologie möglich und notwendig (s. Kap. XIV). Aber darum geht es nicht. Vielmehr darum, ob das mythische Hauptprinzip ein religiöses ist oder nicht. Kann man sagen, daß jede Mythologie und überhaupt alles auf der Welt letztlich religiös ist? Auf diese Frage muß man ganz bestimmt mit ))neinaantworDie Verschiedenheit der Tränen ist ein oft behandeltes Thema des asketischen Lebens. Vgl. )>Vonden Tränen«von Bischof Ignatius (Brjanfaninov) 1905. I 193-205.

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ten. Der Mythos als solcher, das Wesen des Mythischen, rnuß nicht um jeden Preis auf einem religiösen Prinzip beruhen. In der Religion geht es um die Fragen (oder genauer um die Mythen) von Sündenfall, Buße, Erlösung, Sünde, Rechtfertigung, Läuterung usw. Kommt der Mythos ohne diese Probleme aus? Ganz sicher. Die Religion bringt nur einen besonderen Inhalt in die Welt und macht ihn zum religiösen Mythos, aber die eigentliche Struktur des Mythos hängt ganz und gar nicht davon ab, ob er einen religiösen oder einen anders gearteten Inhalt besitzt. Im Mythos lebt die Person nicht unbedingt aus einer religiösen Selbstbehauptung in der Ewigkeit. Ihm fehlt der Hauptnerv religiösen Lebens: die Sehnsucht nach Erlösung und Buße. Mythen sind möglich und kommen immer wieder vor, die keinerlei Hinweise auf die Ewigkeit, nicht einmal auf Sünde, Buße, Strafe für negatives Verhalten und Belohnung für positives enthalten. In der Religion wird die zeitliche Ebene immer vom Standpunkt des ewigen oder mindestens des zukünftigen Lebens aus beurteilt. Es geht um die Sehnsucht nach Überwindung von Sünde und Tod und um das Streben nach Heiligkeit und Unsterblichkeit. Der Mythos hingegen besitzt in dieser Hinsicht Ähnlichkeit mit der Poesie. Ihm ist es gleichgultig, was dargestellt wird. Die Erzählung vom Kampf um Troja ist natürlich ein Mythos, der aber fast vollständig so dargestellt werden kann, daß keinerlei religiöses Moment darin auftaucht. Oder nehmen Sie die Helden aus einem anderen, z.B. einem russischen oder deutschen Epos. Was ist an den Gestalten von Ilja Muromec, AljoSa Popovir und anderen spezifisch religiös? Hier geht es nur um ein Bild von empirisch lebenden Persönlichkeiten, allerdings um Persönlichkeiten, die sich durch besondere Kraft und besondere Fähigkeiten auszeichnen, die aber in keiner Weise etwas Religiöses zum Ausdruck bringen oder bestätigen oder hervorrufen. Der Mythos ist keine substantielle, sondern eine energiehafte Selbstbehauptung der Person. Er ist keine Behauptung in ihrem tiefsten und letzten Ursprung, sondern eine Behauptung, eine Festigung und Bestätigung ihrer Funktionen der Manifestation und des Ausdrucks. Mythos ist Gestalt, Bild, sinnhafte Erscheinung der Person, nicht ihre Substanz. Er ist, wie wir schon sagten, Antlitz der Person. Nur haben wir diesen Ausdruck friiher so gebraucht, als sei er völlig identisch mit dem Terminus ))Person«.Jetzt wollen wir ihn in seiner wörtlichen Bedeutung verwenden und die beiden Begriffe einander gegenüberstellen, das Antlitz der Person und die Person selbst. Der Mythos ist ein Ausmalen der Person, ihre bildhafte Ausstrahlung, ihre Gestalt. 3. An diesem Punkt muß ein Fehler vermieden werden, der dem abstrakt-metaphysischen Denken vieler Gelehrter häufig unterläuft.

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Der Unterschied von Antlitz und Person wird oft als Getrenntheit, als materielle und substantielle Gesondertheit gedeutet. Ich möchte im Moment nicht in eine Betrachtung der Dialektik von Wesen und Energie eintreten, da das eine Frage ist, auf die ich mehrfach eingegangen binn. Ich kann hier nur sagen, daß die Dialektik eine gleichzeitige Anerkennung sowohl der I d e n t i t ä t der Person mit ihren Erscheinungsweisen und Energien wie auch ihres Unterschiedes von ihnen erfordert. Die Person mitsamt ihren lebendigen Funktionen ist eine, ein und dieselbe, und trotzdem kann sie sich von ihren Zuständen und Energien unterscheiden. Das heißt, wenn wir vom Antlitz der Person und dem Unterschied beider Begriffe sprechen, heißt das in keiner Weise, daß Antlitz und Person getrennt voneinander existieren können, Antlitz für sich und Person für sich. Ein solcher widernatürlicher Dualismus wäre Tod und Untergang sowohl des lebendigen philosophischen Denkens wie der lebendigen menschlichen Wahrnehmung. Der Mythos ist nicht die Person selbst, sondern ihr Antlitz, und da das Antlitz untrennbar mit der Person verbunden ist, ist auch der Mythos untrennbar mit ihr verbunden. Das Antlitz, das mythische Antlitz ist nicht von der Person zu trennen und ist daher selbst Person. Aber die Person ist unterschieden von ihrem mythischen Antlitz, ihren mythischen Ausdrucksweisen, und deshalb ist sie weder ihr Antlitz noch ihr Mythos, noch ihr mythisches Antlitz. Ich will hier einige Beispiele dafür anführen, wie die personale Tiefe, die nicht Antlitz, das heißt Ausdruck der Person ist, trotzdem die Struktur des letzteren bestimmt. Ich stütze mich dabei auf einige Beobachtungen zum Problem des Raums in der Malerei0. Den Raum der byzantinischen monumentalen Fresken und Mosaiken kann man als ideographischen Raum bezeichnen. Er wird symbolisch mit Hilfe konventioneller Zeichen ausgedrückt. Zum Beispiel durch den goldenen Hintergrund der mittelalterlichen Mosaiken. Normalerweise findet sich diese ideographische Ausdrucksform des Raums, die zur flächigen, darstellenden Malerei des monumentalen und dekorativen Stils gehört, in archaischen Kulturepochen und ist durch eine feudale Gesellschaftsstruktur bedingt. Wenn wir uns in egozentrischer Weise auf die äußere reale Welt hin orientieren, spiegelt sich das auf einem Bild als Zentralperspektive aufeinander zulaufender Linien, der Raum ist in sich geschlossen, konzentrisch. Wenn wir von einer exzentrischen Orientierung sprechen, wie

" Z.B.in ))Antitnijkosmos i sovremennaja nauka« Moskva 1927.

O Diese Beobachtungen sowie die Terminologie stammen von N. M. Tarabukin33 und sind von ihm in seiner Arbeit: ))DasProblem des Raums in der Malerei« dargestellt worden.

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sie sich in der mittelalterlichen russischen lkonenmalerei findet, dann entfaltet sich der Raum hier in Richtung auf den Beschauer hin. Das ist die exzentrische Ausdmcksform des Raums. Bei der egozentrischen Orientierung zieht sich Raum in der Tiefe zurück, als sei er dem aktiven Eindringen des Blicks des Zuschauers unterworfen, der die ihm äußere Welt betrachtet. In der exzentrischen Ausdrucksform entfaltet sich der Raum jedoch von innen nach außen. Das ist auch verständlich, denn die Ikonenmalerei war das Produkt eines Weltgefühis, das aus dem Gedanken einer sich in ihrem Anderssein entwickelnden und sich offenbarenden Substanz hervorging. Der Raum der fernöstlichen Malerei, der chinesischen und japanischen, ist exzentrokonzentrisch. Der Beschauer nimmt den Raum aus dem Inneren des Bildes auf, aus seinem Zentrum. In der japanischen Malerei entfaltet er sich radiusförmig nach allen Seiten hin. Er ist radial. Im exzentrischen Raum gibt es weder eine rein flächige, frontale Darstellung noch eine perspektivische. Um einen Gegenstand von drei Seiten zu zeigen, entwickelt der Künstler den Raum von innen nach außen. Der Beschauer betastet den Gegenstand mit seinen Augen, sieht dessen sich selbst genügendes Leben, das in keiner Weise von einem »Gesichtspunkt« abhängig ist, und es ist ihm nicht möglich, in diesen Raum einzudringen. Alle seine Formen wirken wie gegen uns gerichtet, der Raum kommt auf uns zu und zieht uns nicht in die Tiefe wie der Raum der perspektivischen Projektion. Die dargestellten Personen kommunizieren miteinander, ohne daß sie den Bedingungen unseres Raums und den >)Gesetzender Schwerkraft« unterliegen. Zu einer solchen Auffassung des Raums sind in der letzten Zeit teilweise die Futuristen und teilweise die Expressionisten gelangt, allerdings aus einem völlig anderen Weltgefühl heraus. Wieder etwas anderes ist der gotische Raum. Die gotische Malerei befindet sich irn luftigen Raum einer Kirche, die von bunten Fenstern erhellt wird. Die Farben dieser Fenster erfüllen das Innere der Kirche mit wunderbaren Schattierungen, die dem ganzen Raum einen geheimnisvollen Charakter verleihen. Andererseits ist die Gotik bemüht, alle Grenzen für das Element des Raums zu beseitigen. Sie erhebt ein ganzes bewegtes Meer von spitz zulaufenden Bögen in die Unendlichkeit, wobei diese Bögen nicht von Steinquadern, sondern nur von Nervüren gehalten werden. Im Grunde gibt es hier keinerlei Wände. Man kann sagen, daß es in der Gotik überhaupt keinen begrenzten Raum gibt. Er ist seinem Wesen nach unendlich und nicht-materiell. Die phantastischsten Verbindungen von Bögen und Gewölben, feine, spitzenartige und runde Geflechte und schwingende Bailustraden finden sich darin. Es ist ein vertikaler Raum. Der Stein hat hier nicht die Bedeutung von etwas Materiellem. Er ist die ästhetisch verfeiner-

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te Ungeordnetheit (Worringer). Wahrscheinlich konnte nur ein rein gotisches Raumverständnis neuere Theoretiker dazu bringen, von der Architektur als von erstarrter Musik zu sprechen. Ungewöhnlich eigenartig wird der Raum von den Futuristen dargestellt. Es ist ein Raum, der gleichzeitig auch Zeit sein will, entsprechend dem vierdimensionalen Raum der neuesten Naturwissenschaft, die sich in Verbindung mit dem Prinzip der Relativität entwickelt. Es ist ein Hyper-Raum. Die Futuristen wollten irn Raum Bewegung ausdrücken. Oft hat diese Absicht zu naiven Ergebnissen geführt, zum Beispiel zur Darstellung eines Pferdes mit zwölf Beinen. Die weitere Entwicklung führte zum Kubismus. Die Kubisten haben in spekulativer Weise den Gegenstand in seine Einzelteile zerlegt, um seine Form zu entwickeln und ihn flächig von d e n Seiten zu zeigen. Dabei scheint sich alles in einer drehenden Bewegung zu befinden. Auch die Expressionisten gehören hierher. Im Vergleich mit der futuristischen Anhäufung von Formen und Farben kehrten die Expressionisten teilweise zur gegenständlichen Darstellungsweise zurück. Trotzdem enthält der Raum bei ihnen zweifellos eine zeitliche Komponente. In manchen Fällen (Chagall) erscheint er wie traumartig. Die Gegenstände sind aus der wirklichen Welt entnommen, aber sie sind völlig frei von allen Bedingungen und Grenzen des ~dreidimensionalen~ Raums, und es ist keinerlei mechanische Anstrengung nötig, um ihn zu überwinden. Eine derartige »Verrücktheit«und eine solche freie Komposition der Gegenstände finden wir zum Beispiel bei Chagall, bei dem Ahasver, Möbel, Menschen durch die Luft zu schreiten, in der Luft zu hängen scheinen.Es ist ein Raum nicht der Wahrnehmung, sondern der Vorstellung. Die Dinge sind gemalt nicht wie sie sind und wahrgenommen, sondern wie sie vorgestellt werden. Von daher stammt zum Beispiel die Neigung vieler Expressionisten, die Dinge so zu malen, als würden sie von oben schräg gesehen, die räumliche und zeitliche Aufeinanderfolge wird zerstört, statt Aufeinanderfolge findet sich Gleichzeitigkeit. In einigen Strömungen des >)gegenstandslosen«Expressionismus wird der Raum endgültig entmaterialisiert. Kandinskij beispielsweise orientiert sich in keiner Weise mehr am Gegenstand. Der Beschauer sieht nicht mehr, sondern er fühlt die Bewegung einer Art »vor-kosmischen Chaos«. Dies ist die verkörperte Verneinung jeder organisierten Ordnung, das Chaos des Protests gegen jegliche »Harmonie«der zeitgenössischen Zivilisation. Es zerstört, ohne Neues zu schaffen. N. M. Tarabukin fragt: »Ist hier nicht ein zweites Mal (das erste Mal im späten Barock) die dunkle, widersprüchliche, von heftiger Sehnsucht erfüllte ))Seele((der Gotik in diesen späten Erscheinungen der europäischen Kunst wiedererwacht, wie ein bewegtes Meer von Farben und ein unorganisiertes Chaos von hysterischen

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Kompositionen?« Aber dies ist natürlich ein sehr viel prinzipielleres Chaos, das die katholische Hysterie der Gotik noch übertrifft und dem dessen weltanschauliche Grundlagen und Entwürfe fehlen. Im Resultat wird überall deutlich, wie der Mythos (in diesem Fall in der Malerei) von seinem tiefen personhaften Grund bestimmt wird, aber nicht dieser selbst, sondern nur eine seiner vielen Erscheinungsweisen ist.P An ihm, an seiner Struktur erkennen wir den Charakter des personalen Seins. Auf weitere Beispiele kann man verzichten. Vom Standpunkt der kommunistischen Mythologie aus geht nicht nur ein »Gespenst um in Europa, das Gespenst des Kommunismus~~, (Anfang des »Kommunistischen Manifests), sondern ))eswimmelt auch von konterrevolutionären Scheusalen«, Des heulen die Schakale des Imperialismusa, >)dieHydren der Bourgeoisie fletschen ihre Zähne«, ))derRachen der ausbeuterischen Finanzwelt steht weit offen«, usw., da gibt es solche Typen wie zum Beispiel »Banditen im Frack«, »Räuber mit Monokel«, »gekrönte Verursacher von Blutbädern)Röte«an sich kann man nicht sehen, nur die roten Dinge; ))Röte((zu denken, heißt abstrakt denken, sie ist ein abstrakter Begriff. Ebensowenig kann man die Materie als solche sehen, hören, tasten. Sie ist ein abstrakter Begriff. Materie kann man nur denken. 3. Aber was denken wir denn beim Begriff der Materie? Vielleicht sind die äußeren Sinne hier doch wenigstens mitenthalten? Mit anderen Worten: Ist die Materie vielleicht der abstrakte Begriff einer Verbundenheit der Dinge mit unseren Sinnesorganen? Auch damit kann man sich nicht einverstanden erklären. Der Begriff der Materie enthält nichts Subjektives, und die Materialisten behaupten selbst, daß sie ewig und schon vor dem Leben und den Lebewesen mitsamt allen Wahrnehmungen und Organen entstanden sei. Das heißt, der Hinweis auf die Sinnesorgane ist in keiner Weise hilfreich. d) In der letzten Zeit haben die Materialisten die Sache einfach verfälscht. Sie erklärten, die Materie sei das Prinzip der Realität, und der Materialismus sei schlicht die Lehre von der Objektivität der Dinge und der Welt. Da kann man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. 1. Wenn die Materie der Dinge die Realität der Dinge ist und sonst nichts, dann sind Platon, Aristoteles und Plotin Materialisten, weil sie die Realität des Kosmos anerkannt haben und darüber hinaus dessen Dialektik hervorragend entwickelt haben. Dann sind alle Kkhenväter Materialisten, weil sie die Realität Gottes, die Realität der Weltentstehung, die Realität der Schöpfung und des Sündenfalls des Menschen, die Realität Christi und der Berichte in den Evangelien, die Realität des Verderbens und der Errettung der Menschen usw. anerkannt haben. Die Verwechslung wird damit offensichtlich: die Materie ist ganz und gar nicht einfach Realität, sondern sie ist spezifische Realität. Aber was für eine? Die der sinnlichen Dinge? Aber das ist wiederum

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empirischer Sensualismus und folglich Relativismus. Der ganzen Welt? Aber dann ist nicht klar, was für den Materialisten die Welt ist. Usw. usf. Mit einem Wort: alles, was schon vorher an Schwierigkeiten bei der Definition von Materie aufgetreten ist, wiederholt sich hier. 2. Nehmen wir einmal an, daß es bekannt wäre, wessen und welcher Dinge Realität die Materie ist. Aber dann müssen wir wiederum sagen, daß die Realität als solche nicht sichtbar, nicht hörbar und nicht tastbar ist und daß sie für sich genommen kein materielles Ding, sondern abstrakter Begriff ist. Wo ist also hier der ))Materialismus«? Schließlich möchte ich darauf verzichten, die physikalischen Theorien der Materie näher zu betrachten. Wenn ich hier ein Verzeichnis aller Materie-Theorien anführen würde, die es in der Physik gegeben hat, angefangen von der Theorie, daß Materie eine besondere Flüssigkeit sei, bis hin zur Theorie ihrer völligen und absoluten Vernichtung, dann würde ich den Leser damit nur verwirren. Das Studium der Geschichte der Physik zeigt gerade, daß es irn Materialismus überhaupt nicht um eine wissenschaftliche Theorie der Materie geht, weil es Dutzende solcher Theorien gibt, die entstehen und wieder verschwinden wie Eintagsfliegen. Und es ist unverständlich, daß die Materialisten es wagen, sich auf ein solches Chaos von Theorien zu stützen und damit die Menschen zu belästigen. e) Aus allem oben Gesagten ergibt sich folgendes: Materie, für sich genommen, ist ein abstrakter Begriff, und der Materialismus ist die Absolutsetzung eines abstrakten Begriffs, das heißt typische abstrakte Metaphysik. Tatsächlich besitzt der Mensch sehr viele abstrakte Begriffe, ohne die er Welt und Leben nicht denken kann, ))Materie«ist einer der legitimsten und notwendigsten Begriffe der menschlichen Vernunft. Warum muß man denn einen Begriff aus dem ganzen dialektischen System herausnehmen, ihn ins Zentrum stellen und nach ihm ein ganzes philosophisches System benennen? Alle abstrakten Begnffe sind gleichermaßen absolut, und es gibt keinen logischen Grund dafür, einen von ihnen auf Kosten eines anderen zu verabsolutieren. Warum bin ich denn verpflichtet, mich als Idealisten zu bezeichnen? Wenn die Materialisten die Offensichtlichkeit jenes ))einfachen«Faktums behaupten, daß alles auf Materie gegründet sei, und wenn Materie tatsächlich nichts anderes ist als ein abstrakter Begriff, dann ist klar, daß der Materialismus von einer bestimmten Form intellektueller Anschauung ausgeht, und daß sein Ausgangspunkt eine besondere Offenbarung der Materie ist, so etwa wie eine Engelserscheinung, oder die Erscheinung eines leuchtenden Kreuzes am Himmel u.ä. Ich bin ganz einverstanden, wenn die Materialisten diese Offenbarung des ))materiellen« Absoluten für offensichtlich und überzeugend halten. Ich ge-

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stehe ihnen das Recht zu, sich diese Erfahrung begreiflich zu machen und ein wissenschaftliches System zu konstruieren. Aber dann müssen sie auch zugeben, daß 1.ihre Lehre weder auf Logik noch auf Wissen basiert, sondern auf einer unmittelbaren und überdies übersinnlichen Offenbarung (denn Materie ist, wie wir gesehen haben, nichts Sinnliches), 2. daß diese Offenbarung eine Erfahrung vermittelt, die Anspruch auf absolute Ausschließlichkeit erhebt, das heißt, daß sie zum religiösen Mythos wird, 3. und daß dieser Mythos seine absolute Begründung im Denken erhält, das heißt, daß er zum Dogma wird. Darin besteht die Rechtfertigung des sogenannten dialektischen Materialismus. Vom Standpunkt der reinen Dialektik aus gibt es, wie ich gezeigt habe, keine Möglichkeit, den Begriff der Materie derart zu verabsolutieren, er ist genauso wichtig wie alle anderen, denn alle dialektischen Begriffe, soweit sie dialektisch abgeleitet sind, sind gleichermaßen notwendig, wahr, objektiv und absolut. Und so gesehen ist der »dialektische Materialismus« ein schreiender Unsinn, grobe Mißachtung aller Dialektik und typische bourgeoise abstrakte Metaphysik. Aber befreien Sie ihn einmal von der Notwendigkeit, den Primat des Glaubens zu beweisen; erkennen Sie an, daß er sein Objekt (das heißt den abstrakten Begriff der Materie) als das Absolute ansieht, und überdies als eins, das in besonderer Weise geoffenbart wurde und keinerlei Kritik oder Zweifel zuläßt; erkennen Sie an, daß es einen Urheber dieser Offenbarung und dieses Glaubens und einen Träger dieses einzig wahren Mythos gegeben haben muß; lassen Sie die Dialektik ihre Kategorien (Materie, Geist usw. usf .) frei entwickeln unter der Bedingung, daß es schon eine unanfechtbare, absolute, materielle Wirklichkeit gibt, eine überall vorhandene, ewige, unveränderliche, allmächtige, allgutige und sich selbst genügende: dann wird der dialektische Materialismus eine stringente Theorie (die nicht abstrakt und nicht metaphysisch ist), so dialektisch und absolut folgerichtig und ohne Widersprüche wie der antike und mittelalterliche Platonismus, so eindeutig wie jede dogmatische Theologie, solange nicht die Frage nach der Begründung ihres letzten Objekts gestellt wird, das nur im Glauben, im Mythos als höchste Offenbarung erfaßt werden kann. 6. Warum tritt der Mythos von der Allmacht des Wissens oder dem Primat der Materie nicht als Mythos auf und wird normalerweise von niemandem als Mythos angesehen? Mythos ist, so sagten wir, personhaftes Sein. Aber was ist in der neuzeitlichen Epoche des Individualismus und bourgeoisen Subjektivismus unter personhaftem Sein

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zu verstehen? Ausschließlich ein rein subjektives Sein. Person ist im objektiven, zum Beispiel naturhaften Sein nicht vorhanden. Die Abkömmlinge der bourgeoisen Kultur, Materialismus und Atheismus, begreifen die Natur als unpersönlichen Mechanismus und können sich deshalb ihr gegenüber nicht personhaft verhalten. Der Mechanismus ist Mechanimus und sonst nichts. Und wenn man den Mechanismus als Mechanismus, als reinen Mechanismus auffaßt, dann ist dies natürlich auch keine Mythologie, so wie auch die Euklidische Geometrie oder die reine Dialektik oder die Syllogistik keine Mythologien sind. Aber spricht denn die materialistische Weltanschauung nur von reinem Mechanismus? Oder nur von einer logischen Kategorie, die ausschließlich mit den Mitteln der reinen Vernunft konstruiert wurde? Natürlich nicht. Sie hypostasiert, verdinglicht, verabsolutiert den Mechanismus, vergöttert ihn, gibt ihm eine absolute Vorrangstellung. Daher muß sie, wenn sie logisch folgerichtig sein will, die mechanische Welt personhaft verstehen. Denn )>Person«ist eine der gewöhnlichsten Kategorien des menschlichen Bewußtseins, ähnlich den Kategorien von Zeit, Raum, Kausalität usw. Gerade die Materialisten sollten das wissen. „Person« ist eine notwendige Kategorie unter anderen. Der Glaube jedoch fiihrt zu der Behauptung, daß es faktisch nur Materie gebe und daß alles von ihr beherrscht werde. Was soll dabei die Kategorie der Person? Es ist ganz deutlich, daß der folgerichtig denkende Materialist, und insbesondere der dialektische Materialist (der sich nicht scheut, jede beliebige Kategorie abzuleiten), die Materie personhaft verstehen muß, vom Standpunkt der Kategorie der Person her. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es dabei nicht um die Personifiziemng und Beseelung der Materie geht. Das Farnkraut in Mythos und Magie ist nichts Beseeltes, obwohl die personhafte Interpretation dieser Pflanze sie zum Besitz des mythischen Bewußtseins werden lassen kann. Unter den Bedingungen personhafter Interpretation hört die Materie auf, eine harmlose logische Kategorie zu sein. Sie wird zu einem blinden, finsteren, schwarzen, toten, schweren Ungetüm, das trotz Tod und Vergänglichkeit die Welt regiert. Die Materie kann man nicht beseelen. Aber die Glaubenslehre des Materialismus zwingt zu der Behauptung, d1J3 außer der Materie nichts sei. Das heißt: Materie ist Tod. Damit will ich nicht sagen, daß die Materie als solche, die reine Materie Tod ist. Absolut nicht. Ich habe oft genug gesagt, daß die Materie als solche, die reine Materie nur eine der gewöhnlichsten Abstraktionen des menschlichen Geistes ist. Sie ist nicht Tod, sondern ein bestimmter abstrakter Begriff. Trotzdem kann und darf der Materialist nicht nur von der Materie als solcher, das heißt nur von einem abstrakten Begriff sprechen. Er muß sie absolutsetzen, das heißt sie als einzig mögliches absolutes Sein darstellen. Aber in dem Moment,

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wo das zugegeben wird, verwandelt sie sich in ein universales, totes Ungetüm, das alles beherrscht, obwohl es tot ist. Warum denn »tot« wird der Materialist fragen. Deshalb, weil und warum ))Ungeheuer)Leben«verwendet. Materialismus muß meiner Überzeugung nach notwendig als eine besondere Art von Mythologie und spezielle dogmatische Theologie verstanden werden. Die Tatsache, daß der Materialismus normalerweise anders verstanden wird, zeugt nur von bourgeoisem Individualismus und liberalem Subjektivismus, der ganz unfähig ist, den Mythos als objektive Kategorie zu verstehen, und der gleichermaßen für die übliche Kritik des Materialismus, die materialistische Kritik wie für den Materialismus selber charakteristisch ist. Ein totes und blindes universales Ungeheuer, das ist alles, wozu der Materialismus fähig ist, alles, was an Personhaftigkeit, Lebendigkeit und Geschichte der lebendigen Persönlichkeit in ihm vorhanden ist. Darin liegt auch seine Originalität und die Unmöglichkeit, ihn auf andere Weltanschauungen zurückzuführen. Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit sind kein Merkmal des Materialismus. Auch Idealisten begründen Wissenschaft, und theoretische Wissenschaftlichkeit hat für sie einen ebensolchen Reiz wie für Materialisten. Auch die Prinzipien »Re»Praxis«und ähnliche sind nicht charakteristisch alismus«, ~Aktualität((, für den Materialismus. Das sind rein religiöse Kategorien und jeder religiöse Mensch will sich auf nichts anderes als auf ein echt-reales Sein gründen, auf lebendige Erfahrung, und auch ihm ist es verboten, nur Theoretiker zu sein und die Praxis, die lebendige Verwirklichung seiner Ideale, zu vernachlässigen. Sogar der Ruf nach einem erdverbundenen Leben ist nicht charakteristisch für den Materialisten, das gibt es auch im Heidentum, wo Erde, Leib, irdische Freuden und Tröstungen verherrlicht werden, und Heidentum ist Mystik. Das wirk-

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lich originelle Werk des neuzeitlichen Materialismus ist der Mythos vom universellen toten Leviathan, der sich - und darin besteht der materialistische Wunderglaube - in den realen Dingen der Welt verkörpert, in ihnen erstirbt, um dann wiederaufzuerstehen und sich in den schwarzen Himmel eines toten und dumpfen, traumlosen Schlafs, dem alle Merkmale des Lebens fehlen, zu erheben. Denn die Entstehung der Dinge aus der Materie ist nun wirklich ein echtes Wunder. Nehmen Sie zum Beispiel ein paar hölzerne Bretter: keins von ihnen besitzt die Merkmale eines Tisches. Woher kommt dann plötzlich ein Tisch oder ein Schrank? Aus der Zusammenfügung verschiedener Bretter? Aber kein Brett besitzt so etwas wie »Schrankhaftigkeit((.Wie kann dann aus ihrer Verbindung ein Schrank entstehen? In Ihrer Tasche ist kein Groschen und in meiner ist keiner, erscheint dann ein Groschen, wenn wir unsere beiden Taschen verbinden? Es ist klar, daß dann ein Wunder geschehen muß. Die Materialisten glauben an die wunderbare übernatürliche Verkörperung nicht gerade eines Vaters, aber doch einer tauben und blinden Mutter-Materie in einem klaren und sinnvollen Wort, in realen Dingen, wobei das materialistische Dogma von Kraft und Materie spricht, weil es auch um Bewegung und nicht nur um tote Dinge geht (manchmal wird die materialistische Dialektik sogar als Wissenschaft der Gesetzmäßigkeiten der Bewegung definiert), ganz ähnlich wie in der christlichen Religion das inkarnierte Wort Gottes davon spricht, »einen anderen Tröster, den Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht« h e r a b ~ u s e n d e n ,und ~ ~ ihn herabsendet, damit dieser dem Leben, der Verkündigung, dem Schaffen und der »Bewegung((segensreiche Kräfte verleihe. So ist die materialistische Lehre von der Materie, den Naturgesetzen (die in den Dingen wirksam sind) und der Bewegung eine Entartung der christlichen Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit und der Inkarnation des Gottessohnes, eine Entartung, die trotzdem genauso mythologisch und dogmatisch ist wie jedes beliebige religiöse Dogma. Ich denke,daß es kaum nötig ist,hier auf die bourgeoise Natur des Materialismus einzugehen. Der Materialismus gründet sich auf die Vormachtstellung abstrakter Funktionen des menschlichen Verstandes, dessen Produkte nach außen projiziert und in einer abstrakten Form verabsolutiert werden. Besonders unangenehm ist der - wie ein äffisches Nachahmen des Christentums wirkende - populäre und in der großen Anzahl wenig begabter Physiker, Chemiker und sonstiger Naturwissenschaftler sehr verbreitete wissenschaftliche« Materialismus, auf den man die ganze Weltanschauung gründen möchte. Das ist aber schon keine bürgerliche, sondern eine klein-bürgerliche Ideologie, die Philosophie kleiner, grauer, gefühlloser, ärmlicher, talentloser Seelchen, das widerliche Trugbild enger und kalter Egoisten, in

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bezug auf die man die russische Revolution notgedrungen nicht nur als richtig und gerecht, sondern auch als ungenügend bezeichnen muß. Der wissenschaftliche Positivismus und Empirismus ist wie der ganze dumme Lobpreis der Wissenschaft, der so tut, als sei das Wissen vollkommen frei und unabhängig, nichts anderes als eine letzte kleinbürgerliche Degeneration und Abstumpfung des Geistes, eine auch in soziologischer Hinsicht kleinbürgerliche Ideologie. Wie ein schäbiger kleinkarierter Geizhalz möchte der Materialist der Welt seine unbedeutenden, eigennützigen Launen aufzwingen. Deshalb steilt er sich die Welt als seelenloses, mechanisches, nichtswürdiges Etwas vor (von einer anderen Vorstellung der Welt auszugehen, würde er gar nicht wagen); und sich selbst sieht er als guten Bankier, der allein durch mathematische Berechnungen lebendige Menschen und lebendige Arbeit beherrscht (eine andere Vorstellung von sich selbst würde einem Menschen nicht erlauben, Materialist zu sein). Dazu möchte ich eine Dichterin zu Worte kommen lassen, die dieses kleinkarierte, kleinburgerlich-wissenschaftlicheDenken »um uns« ebenfalls sehr gut kennt: »Alles um uns. Schreckliches, Grausames, Häßliches, Gieriges, Stumpfes, Gefühlloses, Schmutziges, Schmieriges, langsam Zermürbendes, Ehrloses, Kleinliches, Schlüpfriges, Schändliches, Elendes, Peinliches, Rachsüchtig-Neidisches, Lüsternes, Niedriges, Geiziges, Tückisches, Heimliches, Widriges, Enges, Verkrampftes, Bedrückendes, Dumpfiges, Feiges, Unwürdiges, Schlammiges, Sumpfiges, Sklavisches, Dienendes, Kriechendes, Beugendes, Starres, Unfehlbares, hartnäckig Leugnendes, ängstlich sich Drückendes, träge Beherrschendes, Muffiges, Schläfriges, Welkes, Erstarrendes, Eitles, Verlogenes, ganz Unerträgliches, Dummes, Gemeines.. . und Klägliches, Klägliches! Doch schweigen wir lieber, was nützt die Klage? Wir wissen: es kommen einst bessere Tage.« Z. G i p p i ~ s ~ ~ [übersetzt von R. Plank] Das ist das Antlitz jeder Art von Positivismus ,ganz gleich auf welche wissenschaftlichen, logischen, phänomenologischen und philosophischen Beweisgrunde er sich stützt. 7. Der Materialismus hat jedoch kein einheitliches mythologisch-

dogmatisches System ausgearbeitet. Materialisten lieben es, auf die

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Vielfalt und Widersprüchlichkeit idealistischer Ansichten zu schimpfen, aber aus reiner Unwissenheit: wirklichen Idealismus hat es bei uns wenig gegeben, und man kann physisch gezwungen werden, an die Einheitlichkeit des Materialismus zu glauben. Trotzdem gibt es im Materialismus genauso viele Parteien wie im Idealismus. Der Materialismus hat eine ganze Reihe einander widersprechender Systeme geliefert, die sich gut mit den entsprechenden Systemen der christlichen Theologie vergleichen lassen. Ich will meine Darstellung mit diesen Vergleichen nicht überfrachten, aber einen Vergleich hier anzuführen, halte ich doch für angebracht. Und zwar behaupte ich, daß der Streit zwischen ))dialektischen((und ))mechanistischen((Materialistenj7 nichts anderes ist als der Streit der östlichen Orthodoxie mit dem Katholizismus über die Frage nach dem Ausgang des Heiligen Geistes. Wer mich genau verstehen will, muß eine andere Arbeit, in der ich die Frage nach dem Filioque bis in alle Einzelheiten hin behandle, zu Hiife nehmens. Hier muß ich mich sehr kurz fassen. Das Problem des Filioque besteht darin, daß die katholische Kirche lehrt, der Heilige Geist gehe vom Vater und vom Sohn aus, während er nach orthodoxer Lehre nur vom Vater ausgeht. Was zwingt die Katholiken zu ihrer Annahme? In der oben erwähnten Arbeit behaupte ich, daß der Ausgang aus zwei Hypostasen voraussetzt, daß beide in einem wesentlichen Punkt miteinander identisch sind. Diese Identität kann nach allgemein-kirchlicher Lehre jedoch nicht bis zu ihrer völligen Verschmelzung führen. Eine der beiden Hypostasen muß zurücktreten. Wenn man sich vorstellt, daß dem Vater die erste Stelle gebührt, dann würde das bedeuten, daß das aus-sich-heraustretende, schaffende, über-seiende Prinzip über dem des Wortes, des Sinns, der Idee usw. steht, das heißt, daß das Moment der Vaterschaft sich in ein agnostisches Prinzip verwandelt, das allem Vernünftigen und Gestalteten in dualistischer Weise gegenübersteht. Wenn jedoch in der Einheit von Vater und Sohn die zweite Hypostase den Vorrang bekommt, dann tritt das Prinzip der Gestaltung, des Sinns und des Wortes in den Vordergrund, und das Moment des zeugenden, überseienden Schoßes tritt zurück. Einen gedanklich-sinnhaften Bereich, der nicht in einem über-sinnhaften Schoß wurzelt, nennt man rationalistisch. Das heißt, das Filioque ist entweder Agnostizismus oder Rationalismus, die bestrebt sind, dem Menschen zur Selbständigkeit seiner eigenen, inneren, subjektiven Ordnung zu verhelfen und ihn von Gott zu entfernen, so daß dieser trotz seiner (christlichen) Unterschiedenheit vom Geschöpf notwendig eine Struktur der Subordination erhält,

Oferki antiCnogo simvolizrna i mifologii Moskva 1930. I. S. 858-866.

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das heißt eine, die für pantheistisches Denken charakteristisch ist, wo es keine Unterschiedenheit von Gott und Geschöpf gibt und die Unvollkommenheit des Geschöpfes in Gott selbst und seinen hierarchischen Strukturen seinen Ursprung hat. Der Katholizismus ist natürlich kein Pantheismus, aber sein nicht-pantheistischer Gott trägt pantheistische Züge, und von daher wird verständlich, daß der Heilige Geist sich näher am Bereich des Geschöpfs und unterhalb der beiden anderen Hypostasen befindet, so daß die Dreifaltigkeit unfreiwillig auseinanderfällt. Der Katholizismus gerät so in den Bereich eines formallogischen Agnostizismus, wo Wesen ist und die Erscheinung herabgesetzt wird, oder in den eines Rationalismus bzw. Positivismus, wo Erscheinung ist, aber das Wesen diese Erscheinung nicht befruchtet, so daß sie sich in ein totes Schema verwandelt. Das heißt: Es gibt in beiden Systemen weder Wesen noch Erscheinung, noch Manifestation des Wesens im eigentlichen Sinne. Demgegenüber steht der Standpunkt der russisch-orthodoxen Lehre, die erstens die wesentliche Eigenart jeder Hypostase anerkennt, wobei keine der anderen untergeordnet und alle drei völlig gleichwertig sind, und die zweitens aufgrund der Eigenart der Hypostasen behauptet, daß der Heilige Geist sich nicht in gleichartigen Beziehungen zum Vater und zum Sohn befinden kann. Er »geht«vom Vater ))aus((,so wie auch das reale Leben physischer Dinge davon abhängt, was das Ding eigentlich, in seinem Ursprung ist. Aber vom Sohn kann er nicht ausgehen, ebenso wie das reale Leben der physischen Dinge nicht so von deren Struktur selbst abhängen kann, wie es vom Dinge selber abhängt. Der Vergleich mit einer Pflanze kann hier weiterhelfen. Man kann natürlich sagen, daß das reale Leben einer Pflanze gleichermaßen vom Samen und von seiner anatomischen Struktur abhängt, aber nur, wenn man diese Worte nicht ernst nimmt. Denn das Leben geht aus vom Samen und von den Wurzeln und nicht von der Struktur einer Pflanze, das heißt von einer Art Lebensvorrat, der im Samen enthalten ist. Wenn man jedoch sagt, das Leben einer Pflanze gehe ebenso aus dem Samen hervor wie aus dessen Struktur, dann hieße das entweder, die Struktur der Pflanze ihrer Substantialität zu berauben oder diese herabzusetzen - dabei entsteht ein agnostischer Dualismus zwischen der Pflanze und ihren lebendigen Kräften -, oder diese lebendigen Kräfte ihrer Substantialität zu berauben, so daß allein die faktische Struktur der Pflanze bestehen bleibt; dann ist das Ergebnis ein rationalistischer Mechanizismus und Positivismus. Der Heilige Geist geht vom Vater aus. Vom Sohn auszugehen, würde bedeuten, auszugehen vom Wort, von der Vernunft, das heißt nicht einfach auszugehen, sondern abgeleitet zu werden. Die Pflanze entsteht natürlich aus dem Samen, aber sie wird nicht auf rationale Weise aus ihm abgeleitet.

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Die zeitgenössischen »mechanistischen(cMaterialisten behaupten im Streit mit den »dialektischen((,daß es metaphysisch, also etwas Negatives und Schlechtes, sei, nicht alle vernünftigen Kategorien (zum Beispiel die des »Lebens«,des ))BavuBtseins«,des »Begriffs(( usw. usw.) auf die Materie zurückzuführen. Daraus folgt, daß entweder die jeweilige Kategorie (zum Beispiel des Lebens) hier herabgesetzt, vernichtet und auf einen materiellen, physischen Prozeß reduziert wird (dann ist das eindeutiger Agnostizismus), oder die Kategorie bleibt bestehen, aber so, daß jedes eigenständig-vernünftigePrinzip aus ihr entfernt wird und sie sich in ein mechanisches Schema verwandelt (dann ist das ein eindeutiger, rationalistischer Mechanismus). Wie urteilt der nMechanist« zum Beispiel in der Biologie über das »Leben«? Das Leben ist für ihn nur die Gesamtheit physikalisch~hemischerProzesse. Das bedeutet aber, daß er es einfach ignoriert, denn jeder, der nicht gerade verrückt ist, unterscheidet Lebendiges von Nichtlebendigem, er wendet sich einfach ab vom lebendigen Leben, er sieht es nicht und versteht es nicht und gebraucht nicht einmal diesen Terminus, er ist reiner Agnostiker. Oder er sieht zwar das Leben in all seiner Vielfalt, aber er hat für jede Kategorie des Lebens eine physikalisch-chemischeErklärung, er ist mechanistischer Materialist. Wir sehen, daß Agnostizismus und Mechanizismus im Grunde dasselbe sind, und die Unterschiede in ihrem Denken keine wesentliche Bedeutung besitzen. Die »dialektischen«Materialisten urteilen anders. Sie behaupten, daß alle Kategorien ihre Besonderheit besitzen und nicht eine auf eine andere zurückgeführt werden kann.So sind die Bewußtseinsprozesse auch durchaus keine physikalisch-chemischen Prozesse, die Lebensprozesse nicht Gegenstand der Physik oder Mechanik. Aber alle diese Prozesse entstehen natürlich aus der Materie; sie ist es, die sie antreibt, nichts anderes. Leben und Bewußtsein entsteht, geht aus von Materie, aber nicht von Gesetzen der Materie, nicht von materiellen Dingen. Leben und Bewußtsein gehen von der Materie aus, werden aber nicht aus ihr abgeleitet. Das gibt den Dialektikern die Möglichkeit, die formal-logische Verabsolutierung des Mechanismus zu vermeiden, der zwar ganz im dialektischen System enthalten ist, aber doch eine Ergänzung hinsichtlich der Realität der Begriffe erfordert, die nicht auf ein mechanisches Sein zurückführbar sind und eine selbständige - rein dialektische - Analyse erfordern. Aus allem eben Gesagten ergibt sich - und ich behaupte das mit vollem Ernst -, daß die ))Dialektiker«die orthodox-rechtgläubigen Materialisten und die >)Mechanizisten(( die katholischen Materialisten sind. 8. Ich möchte noch eine Reihe von Beispielen anführen, aus denen

für jeden unvoreingenommenen Blick die Vorrangstellung des My-

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thos deutlich wird und sich zeigt, daß nicht der Mythos der Logik, sondern die Logik dem Mythos folgt, was gleichbedeutend ist mit dem Auftreten des Dogmas. Antithese von Subjekt I. Als erstes möchte ich auf die »umstrittene)Subjektivisten« hergefallen, haben sie malträtiert, aus den Universitäten An vielen und Instituten gejagt und ihren Platz eingeno~nmen.~~ Orten und in vielen Situationen ist es gar nicht möglich, den Begriff Subjekt zu erwähnen, ohne gleich als Bandit hingestellt zu werden. Doch wir wollen in Ruhe, und vor allem dialektisch, die beiden Begriffe »Subjekt«und ))Objekt«und ihre Wechselbeziehung untersuchen. a) Das Subjekt. Ist es etwas oder ist es nichts? Das Subjekt ist etwas. Etwas Existierendes oder etwas Nicht-Existierendes? Das Subjekt ist etwas Existierendes. Kann man es denken und wahrnehmen? Unbedingt. Folglich ist das Subjekt etwas Existierendes, das man denken und wahrnehmen kann. Aber das heißt, daß es Objekt ist, denn als Objekt wird gerade das bezeichnet, was existiert und was man denken und wahrnehmen kann. Mit anderen Worten, man kann nicht einfach Subjektivist sein. Angenommen, Sie sind Solipsist, das heißt nur: Sie existieren und sonst nichts, d e s übrige ist von ihnen hervorgebracht. In diesem Fall wären Sie selbst das einzige Objekt, das real existiert. Wenn Sie in dieser Weise behaupten, daß nur Sie d e i n existierten (und d e s übrige nur Produkt Ihres Subjekts sei), wären Sie ein Gott, aber kein Subjektivist. Ihr Subjekt ist auch real, und das heißt, es ist Objekt. Wenn Sie jedoch nicht überzeugt davon sind, daß Sie selbst existieren, dann sind Sie natürlich ebensowenig davon überzeugt, daß d e Dinge von ihnen hervorgebracht werden, das heißt: Sie sind nicht von ihrem Subjektivismus überzeugt. Aber dann haben Sie auch kein Recht, gegen den Objektivismus zu opponieren. b) Das Objekt. Ist es etwas oder ist es nichts? Das Objekt ist etwas. Etwas Existierendes oder Nicht-Existierendes? Das Objekt ist etwas Existierendes. Kann man es denken oder wahrnehmen? Unbedingt. Aber wir müssen vorsichtig sein und hören, was die Gegenpartei vorzubringen hat. Da heißt es: Das Objekt ist etwas Existierendes, aber man kann es weder denken noch wahrnehmen. Gut. Aber wenn Sie sagen, das Objekt sei etwas Existierendes, behaupten Sie damit etwas oder behaupten Sie nichts? Wenn Sie nichts behaupten, dann heißt

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das, daß Sie schweigen und ich Sie nicht höre und Ihnen nicht antworten muß. Wenn Sie jedoch etwas behaupten, dann bedeutet das, daß das Objekt nicht nur etwas Seiendes ist, sondern daß man darüber auch denken und sprechen kann. Wenn das Objekt folglich etwas red Existierendes ist, dann kann man etwas sagen und denken von ihm, dann mup für ein solches Objekt (wenigstens d s Möglichkeit) ivendein Subjekt existieren. Angenommen, daß für das Objekt keinerlei Subjekt existiert. Das würde bedeuten, daß man es weder wahrnehmen noch denken kann. Aber wenn man nichts darüber sagen und denken kann, dann kann man von ihm auch weder sagen, daß es Objekt sei, noch daß es existiert, noch daß es überhaupt etwas ist. Daraus ergibt sich: Entweder es gibt das Objekt, dann gibt es auch ein Subjekt, oder es existiert kein Subjekt für die Objekte, dann kann auch kein Objekt existieren. Folglich kann es vom dialektischen Standpunkt aus weder ein Subjekt ohne Objekt, noch ein Objekt ohne Subjekt geben. Jedes Subjekt ist Objekt und jedes Objekt ist (wenigstens als Möglichkeit) Subjekt. Ales übrige ist Mythologie. Die Leidenschaftlichkeitder »Subjektivisten((und die Heftigkeit der nObjektivisten« können nur dadurch erklärt werden, daß da emotionale Kräfte am Werk sind, die nichts mit logischem Denken zu tun haben. Das heißt, es handelt sich um rein mythologische Leidenschaften und auf Emotion gründende Glaubenslehren, die immer danach streben, Dogma zu werden. 11. Wenn der Streit zwischen ldealisrnus und Materialismus (»Realismus«)wirklich dialektisch ausgetragen und nicht jede der beiden Parteien von einer eigenen mythologisch-dogmatischen Glaubenslehre und Theologie ausgehen würde, gäbe es nichts einzuwenden. Was ist denn »Idee«, was ist >)Realität«und was »Materie«? a) Die Idee. Ist sie etwas oder ist sie nichts? Die Idee ist etwas. Die Idee ist etwas Existierendes. Wenn sie nicht existierte, könnte man über sie nicht reden,und dann hätte niemand das Recht zu sagen, daß sie etwas sei. Folglich ist die Idee etwas Existierendes. Aber ist die >)Existenz(( der Idee von der Idee selbst unterschieden oder nicht? Wenn die Idee sich in nichts von der ))Existenz«oder dem »Sein«unterscheiden würde, dann wäre jedes Ding, schon allein deshalb, weil es existiert, eine ldee oder wenigstens ideell. Wenn wir daher sagen, daß die Idee existiert, unterscheiden wir »Existenz«von »Idee«.Daraus folgt: Entweder die Idee existiert nicht, das heißt, sie ist nicht etwas, sondern nichts, oder aber sie ist etwas und existiert, aber dann verlangt sie (wenigstens in der Möglichkeit) danach, verwirklicht zu werden, und danach, daß diese Verwirklichung von ihr selbst unterschieden, das heißt nicht ideell ist. Entweder gibt es keine ldee oder es gibt eine, aber dann gibt es auch ihre auperhalb von ihr liegende Realität.

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b) Das Reale (Materielle)ist etwas, und etwas Existierendes. Das bedeutet, daß irgendwelche charakteristischen Merkmale vorhanden sind. Bedeuten Merkmale etwas oder bedeuten sie nichts? Wenn sie nichts bedeuten, dann gibt es auch keine wirklichen Merkmale. Wenn sie jedoch etwas bedeuten, dann entweder etwas Wesentliches oder etwas Unwesentliches. Wenn es etwas Unwesentliches ist, kann man es beiseitelassen. Wenn es wesentlich ist, dann handelt es sich um Merkmale, ohne die das Reale nicht existieren kann. Die Gesamtheit wesentlicher Merkmale einer Sache bezeichnen wir jedoch als ihre Idee. Nehmen wir die Idee aus einem realen Ding heraus: Dann bleibt kein einziges für es wesentliches Merkmal übrig. Kann man in diesem Fall behaupten, daß dieses Ding wirklich real ist? Daraus folgt: entweder das Ding, die Realität, die Materie enthalten eine nicht auf sie zurückfuhrbare Idee, eine un-stoffliche, un-reale und un-materielle, oder es existiert weder Ding noch Realität, noch Materie. ILI. In einer solchen dialektischen Wechselbeziehung befinden sich auch die Begriffe Bewußtsein und Sein. Im Grunde ist das natürlich eine Wiederholung der Antinomie von Subjekt und Objekt, aber ich möchte gern darauf zu sprechen kommen wegen der Leidenschaftlichkeit, mit der die Losung: »das Sein bestimmt das Bewußtsein« vorgetragen wird. Was bedeutet diese Behauptung? Ich kann sie jetzt nicht umfassend analysieren. Eine Behauptung, bei der weder klar ist, was ))Sein«,noch was >)Bewußtsein«, noch was »bestimmt«bedeutet, muß man entweder beiseitelassen oder aber sich zu einer längeren Untersuchung entschließen. Ich kann hier weder das eine noch das andere tun, sondern muß mich darauf beschränken, eine Bedeutung des Begnffs »Sein«näher zu betrachten, welche die Verteidiger dieses Axioms meist irn Sinn haben. Und zwar denkt man dabei gewöhnlich (bei weitem nicht immer!) an die gesellschaftliche Ordnung und sogar an besondere Aspekte derselben. Danach bestimmen dann die geschaftlichen Verhältnisse das Bewußtsein. Fragen wir weiter: Woraus bestehen die gesellschaftlichen und sogar die Produktionsverhältnisse?Schaffen die Menschen sie nicht selbst? Wenn dem so ist, heißt das, nicht nur »das Sein bestimmt das Bewußtsein«, sondern auch das Bewußtsein bestimmt das Sein. Wenn dem nicht so ist, wenn also die Produktionsverhältnisse nicht von Menschen geschaffen werden, dann sind es erstens keine gesellschaftlichen und noch weniger Klassenverhältnisse (und der Marxismus würde zusammenbrechen), und zweitens müßte das Bewußtsein als vollkommen passiv und handlungsunfähig gedacht werden, woraus dann ein antidialektischer, rein fatalistischer Dualismus von aktiven, aber sinnlosen, nicht-bewußten Dingen einerseits und eines bewußten, aber vollkommen untätigen und priIlittiven Menschen andererseits entstünde. Und wenn wirklich »das Sein den Menschen

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bestimmt«, dann ist nicht nur jede aktive Umgestaltung von Leben und Welt, zu der eine Revolution aufruft, unmöglich, sondern auch die Revolution selbst, da sie ja gerade ))bewußt«und aktiv auf das gesellschaftliche Sein einwirkt. Das Sein bestimmt das Bewußtsein; aber ist das Bewußtsein nicht selbst Sein? Entweder es ist wirklich nicht Sein, dann haben wir einen rein kantischen metaphysischen Dualismus vor uns: auf der einen Seite das subjektive Bewußtsein, das nicht Sein ist, und auf der anderen das Sein und die »Dinge an sich«, über deren Bewußtsein nichts bekannt ist. Oder das Bewußtsein ist auch Sein, dann wird das Bewußtsein durch sein eigenes Sein »bestimmt((, das heißt durch die Gesetze seiner eigenen Existenz, dagegen wird jedoch kein Idealist etwas einzuwenden haben. Von den sonstigen Bedeutungen dieser unklaren Termini ))Sein«,»Bewußtsein((und ))Bestimmung((will ich nicht sprechen, weil jeder Dutzende von verschiedenen Bedeutungen hat, und von ihnen hängt es ab, wie man die Aussage ))dasSein bestimmt das Bewußtsein((beurteilt. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß man rein dialektisch gesehen beides sagen muß: »das Sein bestimmt das Bewußtsein(cund »das Bewußtsein bestimmt das Sein«; mythologisch kann man behaupten, was man will, denn da geht es nicht um Wissen, sondern um Glauben. n! Dialektisch betrachtet setzen Wesen und Erscheinung einander voraus. a) Wenn es ein Wesen gibt, dann ist es etwas, das heißt, es hat irgendein Merkmal, das es von allen übrigen wesentlich unterscheidet. hlglich ist es etwas, das erkannt wird, das heißt, es tritt in irgendeiner Weise in Erscheinung, es manifestiert sich. Entweder es gibt ein Wesen, dann gibt es auch seine Erscheinung, oder es gibt keine Erscheinung des Wesens, dann ist keine Aussage darüber möglich, weder die, daß es Wesen ist, noch die, daß es überhaupt existiert. Das bedeutet im übrigen, daß die Kantische Metaphysik der ))Dingean sich« bei der leisesten Berührung durch die Dialektik in sich zusammenfällt. b) Eine Erscheinung ist die Erscheinung von etwas, dieses muß von der Erscheinung selber verschieden sein. Wenn nicht, ist die Erscheinung nicht Erscheinung von etwas, das heißt, sie ist überhaupt keine Erscheinung. Aber wenn das, was erscheint, von der Erscheinung unterschieden ist, heißt das, es ist nicht Erscheinung, es ist etwas, das für sich selbst existiert, vor der Erscheinung und ohne Erscheinung. Und das, was an sich - unabhängig von seiner Erscheinung - existiert, ist auch das, was normalerweise als Wesen bezeichnet wird. Folglich ist eine Erscheinung entweder Erscheinung eines Wesens, das heipt, eine Erscheinung setzt immer ein nicht in Erscheinung tretendes Wesen voraus, oder es gibt überhaupt keine Erscheinung. Nehmen wir außerdem an, daß es nur das Wesen gibt, und sonst nichts. Das bedeutet, daß das Wesen noch vor seinem Übergang in

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die Erscheinung (letztere kann man unter der genannten Voraussetzung beiseitelassen) in irgendeiner Weise für uns in Erscheinung tritt in dem Moment, wo wir etwas von ihm aussagen, und sei es nur das eine, daß es Wesen ist. Mit anderen Worten, das Wesen übernimmt in diesem Fall die Funktion der Erscheinung, wie es im neuzeitlichen Rationalismus geschieht. Ohne in Erscheinung zu treten, sagt das Wesen doch etwas über sich aus, wobei es sich aber nur um einen abstrakten Begriff handeln kann. Es ist die neuzeitliche rationalistische Metaphysik, die sich die Welt in Gestalt verabsolutierter abstrakter Begriffe vorstellt. Nehmen wir andererseits an, daß es nur Erscheinungen gibt und sonst nichts. Dann erweisen sich die Erscheinungen als letztes selbständig-seiendes Sein - auch als Wesenheiten, das heißt, die Erscheinung muß die Funktion des Wesens übernehmen. Das ist im Materialismus geschehen. Die Materie ist in der normalen Seinsordnung nicht Wesen, sondern nur Realisierung, Verwirklichung des Wesens und nicht selbst Wesen. Trotzdem haben die Materialisten sie aus dem lebendigen System des Seins herausgerissen und sie als einzig mögliches Sein absolut gesetzt. Das hat dazu geführt, daß die Materie die Funktion des Wesens übernommen und nicht nur den Platz absoluter Wesenheiten, sondern auch des Ursprungs dieser Wesenheiten eingenommen, das heißt, sich in eine Gottheit verwandelt hat. Keine Dialektik kann reinen Spiritualismus oder reinen Materialismus rechtfertigen. Sie sind nur mythologisch gerechtfertigt, und nichtmythologisch erscheinen sie nur deshalb, weil man ihnen normalerweise nicht im Entwicklungsstadium der Mythologie, sondern der dogmatischen Theologie begegnet. V. Auch an dem Problem von Körper und Seele entzünden sich die mythologischen Leidenschaften. Vom Standpunkt des Lebens aus scheint alles völlig klar zu sein. Nur ein Geisteskranker kann einen Stuhl für ein lebendes Wesen halten und ein lebendes Wesen für einen unbeseelten Gegenstand. Trotzdem möchten viele die Existenz der Seele einfach negieren. a) Der Körper ist unbeseelt, aber er lebt und bewegt sich. Daraus ergibt sich die Frage: warum bewegt sich eine Sache oder der Prozeß A? Antwort: weil ihn eine andere Sache oder der Prozeß B bewegt: Gut. Aber warum bewegt sich B? Deshalb, weil C ihn bewegt. Aber wie lange können wir eine Bewegung auf eine andere zurückführen? Entweder unendlich oder nicht unendlich oft. Angenommen, unendlich oft. Das heißt, wir kommen niemals bis zum Ursprung der Bewegung und können nicht nur die Frage nach diesem Ursprung nicht beantworten, sondern müssen prinzipiell zugeben, daß sie auch nicht beantwortet werden kann (denn niemand kann unendlich oft eine Bewegung auf eine andere zurückführen, das widerspricht dem Wesen

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der Unendlichkeit). Nehmen wir nun an, daß es notwendig ist, eine Bewegung nicht unendlich oft, aber mehrere Male auf eine andere zurückzufuhren, um den wahren Ursprung der Bewegung zu finden. A führen wir auf B zurück, B auf C usw. bis zu X. Nehmen wir an, bei X hätten wir dann vielleicht eine ausreichende Erklärung für die Bewegung A gefunden. Was heißt das? Das heißt, daß X von nirgends her mehr einen Anstoß bekommt, um sich zu bewegen, und daß es sich folglich aus sich selbst bewegt. Aber das, was sich aus sich heraus bewegen kann, ist die Seele. Das heißt, entweder Sie verkünden einen absoluten Agnostizismus und wissen nicht, wie die Bewegung der Dinge erklärt werden kann, oder Sie wissen, wie die Bewegung zu erklären ist, aber dann haben Sie irgendwo, irgendwann, irgendwie die Existenz der Seele anerkannt. Die Leugnung der Existenz der Seele ist daher dialektisch ein Ding der Unmöglichkeit. Besonders Menschen, die die Existenz Gottes negieren, verfallen in diesen irrtum. Wenn Gott nicht existiert, bewegt die Welt sich aus sich selbst. Wir untersuchen den Körper A und seine Bewegung und führen ihn auf B zurück, B auf C usw. und erhalten schließlich die Summe aller Dinge, aus denen die Welt besteht, indem wir jede einzelne Bewegung auf die Welt als auf die erste Ursache jeder einzelnen Bewegung zurückführen. Aber was bedeutet das? Das bedeutet, daß die Welt beseelt ist, daß eine besondere Weltseele existiert. Darauf könnte man einwenden: warum Seele, wenn die Welt ein Körper ist? Wenn die Welt ein Körper ist und nur ein Körper, dann haben wir ja schon zugegeben, daß ein Körper und seine Bewegung nicht aus sich selbst heraus erklärbar ist. Deshalb haben wir angefangen, eine Bewegung auf eine andere zurückzuführen. Ganz gleich, was für einen Körper wir genommen hätten, einen kleinen oder einen großen, seine Bewegung können wir nicht aus ihm selbst heraus erklären, solange wir ihn uns als unbeseelt denken. Und wir sind gerade davon ausgegangen, daß jeder Körper als Körper an sich etwas Unbeseeltes ist. Die Welt unterscheidet sich von einem Stein, der irgendwo herunterfällt, durch alles Mögliche, bloß nicht dadurch, daß sie beseelt ist. Die Welt ist, besonders vom Standpunkt der Materialisten aus, nur die Summe verschiedener Steinarten, nicht mehr. Folglich muß man auch im Hinblick auf die ganze Welt (als Körper) unbedingt die Frage nach dem Ursprung ihrer Bewegung und des Lebens stellen. Entweder man erklärt ihre Bewegung durch etwas anderes, außerhalb der Welt Liegendes, das heißt, es wird die Existenz Gottes als der ersten U m chefur alle Bewegung der Welt vorausgesetzt, oder die Welt bewegt sich selbst, aus sich selbst heraus, dann ist sie nicht einfach Körper, denn der Körper ist, wie wir gesehen haben, unbeseelt und kann sich nicht selbst bewegen. Das bedeutet letztlich, daß ein Materialist, der wirklich Dialektiker sein will, entweder die Existenz Gottes oder die einer Weltseele anneh-

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men muß. Sonst ist der Materialismus entweder nichts anderes als absoluter Agnostizismus, oder es gibt weder Leben noch Bewegung in der Welt. Beide Ansichten sind häufig anzutreffen: Die Materialisten sind entweder Agnostiker und können nichts erklären oder sie betrachten die Welt in der Tiefe ihrer Seele und trotz gegenteiliger Beteuerungen als ewigen Tod, als riesiges, allumfassendes, greuliches Ungetüm, - von dem ich schon gesprochen habe -, wo es nicht mehr notwendig ist, eine Erklärung für Leben und Bewegung zu finden. b) Die Seele bewegt sich selbst, aus sich selbst heraus. Das heißt, daß in ihr das bewegende Moment von dem bewegt werdenden unterschieden ist, daß das bewegt werdende das Objekt des bewegenden ist. Anders gesagt, die Seele muß immer einen Körper haben. Entweder es gibt eine Seele, dann ist auch ein Körper da, oder es gibt keinen Körper, dann gibt es auch keine Seele. Weil es im Moment bei uns wenig Leute gibt, die der Seele dem Körper gegenüber Vorrangstellung einräumen, will ich diese Argumentation jetzt nicht entwickeln. Ich kann dazu nur sagen, daß es nicht nur einen physisch-sinnlichen Körper gibt. Und nicht nur die Theosophie und einige »natürliche«Religionen sprechen von verschiedenen Typen des Körpers, vielmehr ist dies eine Ansicht, die auch fester Bestandteil des christlichen Glaubens ist. Christus erschien seinen Jüngern, obwohl die »Türen verschlossen((waren (Joh. 20, 19) und zeigte ihnen trotzdem »die Hände und seine Seite« (Joh. 20, 20), und Thomas berührte sogar seine Wunden (Joh. 20, 27). Ein anderes Mal erscheint Christus seinen Jüngern völlig unerwartet: ))Sieerschraken aber und fürchteten sich, meinten, sie sähen einen Geist« (Luk. 24,37). Jesus zeigt ihnen wieder Hände und Füße und spricht: »Sehet meine Hände und meine Füße, ich bin's selber. Fühlet mich an und sehet: denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe« (39), und er nimmt sogar Nahrung zu sich (41-43). Es ist klar, daß hier nicht einfach von einem physischen Körper die Rede ist. Die Lehre von der Auferstehung des Fleisches spricht ganz offen davon, daß es verschiedene Arten von Körpern gibt. ))Nichtist alles Fleisch einerlei Fleisch; sondern ein anderes Fleisch ist der Menschen, ein anderes des Viehs, ein anderes der Vögel, ein anderes der Fische. Und es gibt himmlische Körper und irdische Körper; aber eine andere Herrlichkeit haben die himmlischen und eine andere die irdischen.« (1. Kor. 15,39-40).))Eswird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib (44). Vom zukünftigen Körper heißt es: »daß er gleich werde seinem verklärten Leibe(((Phil. 3, 21) ))Dennwir wissen, wenn unser irdisch Haus, diese Hütte, zerbrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist irn Himmel.« (2. Kor. 5,l) usw.

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Ich würde sogar sagen, daß kein einziges christliches Dogma ohne eine besondere mystisch-mythologische Naturphilosophie möglich ist. Die Himmeifahrt Christi ist nur möglich, weil sich sein physischer Körper umgestaltet hat. Die Verklärung auf dem Berg Tabor ist die Lehre vom geistigen Körper. Auch der Heilige Geist, der mit Feuerzungen spricht, zeugt von einer bestimmten Vorstellung von Raum und Materie. Ebenso die Berichte von der Himmelfahrt des Propheten Elias und der Gottesmutter. Auch die Sophia, die Weisheit Gottes, ist letztlich nichts anderes als eine besondere Art von Körper. - Also setzen Seele und Geist immer einen Körper voraus, der so oder anders organisiert ist. VI. Auch Individualismus und Sozialismus bedingen - dialektisch gesehen - einander gegenseitig. Person ist nur in einer Gesellschaft möglich, und die Gesellschaft nur als Gesamtheit von Personen. Natürlich ist die Person nicht nur ein Element der Gesellschaft und die Gesellschaft nicht nur eine Gesamtheit von Personen. Trotzdem ist keine Person ohne Gesellschaft und keine Gesellschaft ohne Person möglich. Gesellschaftliche und persönliche Bedürfnisse sind gleicherweise natürlich und berechtigt und besitzen ein Recht auf Befriedigung. Und dennoch wird oft genug und, wie allgemein bekannt, die Gesellschaft der Person und umgekehrt zum Opfer gebracht. Allerdings nur, wenn auf dialektisches Denken verzichtet wird. VII. Freiheit und Notwendigkeit ist ein Bereich, in dem auf dem Boden mythologischen Umgetriebenseins unablässig die verschiedensten formal-logischen, abstrakten Metaphysiken entstehen. a) Nehmen wir an, alles sei von absoluter Notwendigkeit bedingt, und es gäbe keinerlei Freiheit. In diesem Fali ist diese allgemeine Notwendigkeit, als einzig wahrhaft-seiende, nur von sich selbst abhängig. Aber das bedeutet, daß sie Freiheit ist. Denn nur von sich selbst abhängig zu sein, heißt frei sein. b) Angenommen, alles ist absolut frei und nichts und niemand ist von irgendetwas abhängig. Wenn d e s absolute Freiheit ist, dann kann - auf Grund dieser Absolutheit - nichts aus den Grenzen der Freiheit heraustreten, alles ist absolut von ihr abhängig. Die Abhängigkeit von etwas ist aber Notwendigkeit. Die absolute Freiheit ist also absolute Notwendigkeit. Nur nicht-dialektische, formal-logische Überlegungen vermögen eines vom andern zu trennen, das setzt aber eine Beschränktheit voraus, die auch schon wieder in einem nicht-logischen Interesse, einer nicht-logischen Voreingenommenheit gründet. VIII. Unendlichkeit und Endlichkeit. a) Gehen wir - wie die Mythologen einer bestimmten Sekte - von der Annahme aus, daß die Welt unendlich ist und nur unendlich. Wenn etwas kein Ende hat, hat es folglich keine Grenzen und Formen. Wenn etwas keine Grenzen oder For-

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men hat, heißt das, daß es sich in nichts von allem übrigen unterscheidet. Aber wenn es sich in nichts von allem übrigen unterscheidet, ist es folglich auch unmöglich festzustellen, ob es überhaupt existiert oder nicht. Und wenn die Welt unendlich ist, heißt das, daß sie gar nicht existiert. Der Nihilismus der Neuzeit denkt im Grunde auch so. Die Unendlichkeit von Welten zu preisen, entstand aus dem Wunsch, jede Welt zu zerstören, und der Katholizismus, der die lebendige und reale Welt retten wollte, hatte logisch völiig recht, Giordano Bruno zu v e r b r e ~ e nWer . ~ ~seine Person in den Vordergrund stellte, mußte die Welt vernichten. Ich hatte schon Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß Subjektivismus und Mechanizismus (Nihilismus)das gleiche sind. Wenn alles Wesentliche ins Subjekt verlagert wird, bleibt für das Objekt sehr wenig, und es verliert seinen letzten Zufluchtsort - seine Existenz. Daher kommt es, daß alle Subjektivisten und Individualisten die Unendlichkeit der Welt und der Welten verkünden. Aber ebenso wie ein isolierter Individualismus und Subjektivismus, in die sozial-ökonomische Sphäre übertragen, eine bourgeoise Kultur und einen kapitalistischen Produktionsstil hervorbringen, ist die Lehre von der Unendlichkeit der Welt offensichtlich eine typisch liberal-bourgeoise Mythologie. Und deshalb unterscheiden sich die proletarischen Ideologen, die die Unendlichkeit der Welt propagieren, entweder in nichts von kapitalistischen Scheusalen und Schakalen, oder sie unterscheiden sich, wissen aber selbst noch nicht, wodurch. Wir haben hier die gleiche Sackgasse wie in der Frage nach dem Sein Gottes. Einerseits verlangt die offizielle Mythologie, daß es keinen Gott gebe. Andererseits ist das Hauptargument hier die These: »Die Wissenschaft hat bewiesen, daß Gott nicht existiert.« Aber erstens hat die Wissenschaft immer existiert, auch bei religiösen Menschen, so daß man höchstens sagen kann, daß bei dieser Aussage nicht die Wissenschaftüberhaupt, sondern eine bestimmte Art von Wissenschaft gemeint ist. Zweitens beruht jeder wissenschaftliche Beweis auf einer äußerst isolierten Funktion des Subjekts. Kulturhistorisch war das nur in der Renaissance, das heißt in einer vorwiegend bourgeoisen Kultur möglich. Der rational begründete Atheismus ist geradezu eine Emanation kapitalistischen Geistes. Vom proletarischen Standpunkt aus haben abstrakte Ideen in der Geschichte keinerlei Bedeutung. Deshalb ist der Rückgriff auf abstrakt-wissenschaftliche Beweise etwas, was in den Bereich liberal-bourgeoisen Denkens gehört, von Proletariern ausgesprochen wirkt so etwas nur unecht. b) Angenommen, die Welt sei endlich und nur endlich. Wenn die Welt endlich ist, bedeutet das, daß sie eine bestimmte Grenze hat. Dann entsteht die Frage: und was existiert jenseits dieser Grenze, kann man die Grenzlinien überschreiten, wenn man sich weiter bewegt? Wenn

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das möglich ist, dann ist klar, daß diese Grenze noch nicht die letzte ist, das heißt, sie ist überhaupt keine Grenze, und jenseits von ihr ist auch wieder Welt zu finden, - wobei diese Überlegung natürlich an jedem Punkt, den wir in unserer Bewegung jenseits der Weltgrenze erreichen, neu angestellt werden muß, so daß die Grenze selbst sich im Grunde immer weiter hinausschiebt und die Welt unendlich erscheint. Wenn es hingegen unmöglich ist, die Grenzen der endlichen Welt zu überschreiten, wir uns aber trotzdem weiter bewegen (denn es gibt keinen besonderen Grund dafür anzunehmen, daß es unmöglich ist, sich zu bewegen), dann bedeutet das wiederum, daß die Weltgrenze sich entsprechend unserer Vorwärtsbewegunghinausschiebt, das heißt, daß die Welt in gewissem Sinne unendlich ist. Folglich ist die Welt gleichzeitig endlich und unendlich. Anders zu urteilen, ist dem Dialektiker unmög1ich.E~sind die Mythologen, die alle naiv Denkenden zu der Annahme veranlaßt haben, die Welt sei entweder endlich oder unendlich. Über die Möglichkeit, einen Ausweg aus dieser formal-logischen und abstrakt-metaphysischen Sackgasse zu finden, möchte ich in einem besonderen Werk sprechen, wenn man mir die Möglichkeit dazu gibt.40 IX. Das Absolute und das Relative. a) Es heißt, daß alles relativ sei. Gut. Tatsächlich alles? Auch das Vergangene? Antwort: Das wissen wir nicht. Aber wenn man nicht weiß, ob auch das Vergangene relativ ist, kann man nicht behaupten, daß alles relativ ist. »Gut«, bekommt man dann zur Antwort, »auch das Vergangene.«))Unddas Gegenwärtige?«))Auchdas Gegenwärtige!« ))Unddas Zukiinftige?«Wozu brauchen Sie das Zukunfhge, wird dann gefragt. »ErlaubenSie, aber Sie haben gesagt, daß alles relativ sei.(())Alsogut, auch das Zukünftige.« Folglich ist alles Gegenwärtige, alles Vergangene und alles Zukünftige relativ. Überall herrscht die Relativität. Doch fragen wir weiter: gibt es die Relativität an sich in irgendeinem unzugänglichen, jenseits der Vernunft liegenden Bereich, wo sie nichts beeinflußt und bestimmt, oder ist sie tatsächlich die reale Bestimmung der Dinge? Die erste Möglichkeit fällt für jemanden, der behauptet, alles sei relativ, selbstverständlich weg. Denn wenn d e s relativ ist, dann heißt das, daß die Relativität alles bestimmt. Sie umfaßt alles Vergangene, alles Gegenwärtige und d e s Zukünftige und ist für d e Zeiten ein wesentliches und nicht wegzudenkendes Merkmal. Aber das ist das Absolute natürlich auch. Das Absolute ist das, was alles umfaßt und alles bestimmt. Hier wiederholt sich das, was von der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit gesagt wurde: Es gibt nichts Freies, alles ist notwendig, also ist die Notwendigkeit selbst frei, denn sie hängt von sich ab. Es gibt nichts Absolutes, alles ist relativ; das heißt, daß die Relativität selbst absolut ist. Entweder es gibt keinerlei Relativität, dann kann man vom

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Absoluten sagen, was man will, oder es gibt Relativität, und sogar nur Relativität, dann ist alles absolut, vor allem die Relativität selbst. b) Alles ist absolut, nur das Absolute existiert. Aber ))seinDieAnziehungskraft ist direkt proportional zur Masse und umgekehrt proportional dem Quadrat ihrer Entfernung. Diese erste Antwort des Kopernikus[!] auf die Frage nach der Beziehung von Erde und Sonne war einfach dumm. Einfach dumm. Er hat eine Berechnung angestellt. Aber eine Berechnung in bezug auf eine sittliche Erscheinung anzustellen, finde ich einfach dumm. Er hat einfach dumm geantwortet, unangemessen. Und diese dumme Antwort des Kopernikus auf die sittliche Frage nach dem Verhältnis von Sonne und Erde war der Grund für aiie Gemeinheit und Niedrigkeit der Erde und die Leere und Verwüstung der Himmel. >Natürlichsorgt die Sonne nicht für die Erde, sondern zieht sie nur an gemäß dem Quadrat der Entfernung. »Pfui!a (V. V. Rozanov41) (

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2. Da die Geschichte immer das Werden von verstandenen, erkannten Fakten ist, ist sie immer auch eine Art Modus des Bewußtseins. Das heißt, wir haben hier die erste Möglichkeit einer Grenzziehung zwischen Natur und Geschichte. Es hat keinen Sinn, auf die Vorwürfe des ))Subjektivismus((,»Idealismus«,der »Metaphysik«usw. einzugehen. Das ist einfach langweilig. Wem es schwerfällt, die »Objektivität« des vBewußtseins(c und »Verstehensc(einzusehen, der liest meine Überlegungen umsonst und verliert nur unnütz Zeit über dem Studium des Problems von Mythos und Geschichte. Fakten der Geschichte müssen immer auch Fakten des Bewußtseins sein. In der Geschichte arbeiten wir jedoch nicht mit den Fakten als solchen, sondern mit der Struktur, die uns eine bestimmte Art der Auslegung, des Verständnisses liefert. Die Ansammlung von Fakten, aus der beispielsweise die Zeit der Kulturwende im Rußland des 17. Jahrhunderts besteht, müßte noch einmal so bedacht werden, daß tatsächlich eine Kulturwende sichtbar würde und nicht nur die nackten Tatsachen, wie zum Beispiel die westliche Malerei in den Bojarenhäusern oder die deutsche Vorstadt Moskaus. In geschichtlichem Sinne haben alle diese Fakten, als Fakten genommen, keinerlei Bedeutung. Sie müssen durch eine allgemeine Konzeption, die schon in ihnen enthalten ist, aber nicht einfach aus der Summe d e r Fakten besteht, erfaßt werden. Die historische Sicht verallgemeinert die Fakten und sieht sie »in specie«. Diese lebendige, bewegliche >)species(( ist der eigentliche Gegenstand der Geschichte. Welche Bedeutung hat diese »species(cfür den Mythos? Sie ist natürlich etwas ganz anderes als das, was wir als die erste Schicht bezeichnet haben. Wenn diese erste Schicht sozusagen amythisch war, dann liefert die zweite das Tatsachenmaterial für den Mythos und dient als Arena, in der sich mythische Geschichte entfaltet. Jetzt können wir den Mythos sehen, und die wirklich historischen Fakten erkennen. Solange wir uns auf der Stufe der ersten Schicht befinden, analysieren wir nur die einzelnen Farben, die für die Herstellung eines Bildes verwendet wurden, die Leinwand, auf der es gemalt wurde, aiie Stoffe, aus denen es besteht, unterziehen wir einer chemischen und physikalischen Analyse. Aber an das Bild selbst sind wir damit überhaupt noch nicht herangekommen. Nun jedoch schauen wir auf das Bild als Ganzes, nehmen es in seiner einheitlichen Konzeption wahr, sehen das Helldunkel von Farben und die Formen, ohne an die chemische oder physikalische Zusammensetzung zu denken. Das heißt, wir befinden uns auf der Stufe der zweiten Schicht. In bezug auf die mythische Geschichte bedeutet das, daß wir anfangen, lebendige Personen und lebendige Fakten zu sehen; das Bild der Geschichte wird als ganzes erfaßt und wahrgenommen. Wir haben nicht mehr eine

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einzelne tote Verordnung oder Bestimmung im Blick, sondern deren reale historische Bedeutung, ihre faktische Wirkung auf das staatliche und gesellschaftlicheLeben, nicht mehr eine Sammlung toter Dokumente und Briefe eines Beamten, sondern den Menschen, der sich in diesen Dokumenten und Briefen zum Ausdruck bringt. Es ist eine ausgesprochen unsinnige und abstrakte Beschäftigung, mit einer Peitsche in die Luft zu schlagen, aber die Auspeitschung von Bauern und Sklaven zum Beispiel ist Ausdruck einer konkreten Idee, denn hier handelt es sich um reale Personen, die miteinander verbunden sind und einander verstehen. Es gibt natürlich ganz verschiedene Stufen der Konkretheit historischer Ideen. Menschen auf Scheiterhaufen zu verbrennen, ist schöner, als sie zu erschießen, ebenso wie die Gotik schöner ist und konkreter als Kasernen, der Glockenton als Autogehupe, der Platonismus als der Materialismus. In der zweiten Schicht befinden sich sozusagen die »malerischen«Funktionen des historischen Prozesses. Aber für den Mythos ist nicht nur die Geschichte im gewöhnlichen Sinne historisch. Historisch ist jede Person, jede persönliche Beziehung, jede kleinste Charaktereigenschaft oder jedes Ereignis im Leben einer Person. Besonders im Christentum wird der universale Historismus stark empfunden. Im Heidentum, das von einer Vergötterung des Kosmos ausgeht, gibt es strenggenommen kein Geschichtsbewußtseint Der heidnische Platonismus ist ein äußerst ahistorisches Denksystem. Dort sind Geschichte und Soziologie Teile der Astronomie. Im Christentum, das von der Verherrlichung einer absoluten Person ausgeht, ist praktisch jede Kleinigkeit personalistisch und historisch. Besonders das christliche Mönchtum ist von der Erfahrung eines mystischen Geschichtsbewußtseins geprägt. Für einen Mönch gibt es nichts Indifferentes. Der Mönch erlebt d e s als Geschichte seiner eigenen Erlösung und der Erlösung der Welt. N u der Mönch ist Universalist im Sinne eines allgemeinen Geschichtsbewußtseins, und nur der Mönch lehrt ein Geschichtsbewußtsein, das nichts mit dem zu tun hat, was normalemeise darunter verstanden wird. Er kann seine Person und sein persönliches Anliegen in richtiger Weise einordnen, und nur er allein hat die Enge des Kleinbürgertums überwunden. Nur der Mönch vermag die Bedeutung des geschlechtlichen Lebens richtig zu erfassen, und nur er d e i n kennt die Tiefe und Schönheit der weiblichen Seele. Nur er weiß um die ungeheure Antinomie, die im Tatbestand der Fortpflanzung enthalten ist, die weder ein Wüstling noch ein braver Ehemann kennt. Ein berühmter Mönch und Was ich übrigens in den ~Oc'erkianticnogo sirnvolzma...(1 I 792-794 nachgewiesen habe.

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Lehrer schreibt: »Einmalhat man mir von einem außergewöhnlich untadeligen Verhalten erzählt: Es geschah einmal, daß ein Mann eine wunderschöne Frau erblickte, und während er sie anschaute, lobte und pries er Gott, den Schöpfer, und da widerfuhr es ihm, daß dieser eine einzige Blick ihn in das Meer der göttlichen Liebe versenkte und ihn zur Quelle der Tränen führte. Und es war wunderbar zu sehen, wie dieser Mann durch etwas erhöht wurde, was einen anderen ins Verderben geführt hätte. Ein Mensch, der in einem solchen Fall ebenso handelt und fuhlt, wird noch vor der allgemeinen Auferweckung gesund und unversehrt auferstehen«.' Kann man überhaupt die Feinheit des Gefühls und die Tiefe der Betrachtungsweise eines Mönches mit der Kleinbürgerlichkeit dessen, was man als »weltliches«Leben bezeichnet, vergleichen? Kann außer einem Mönch jemand verstehen, daß wahres Mönchtum dasselbe ist wie eine Ehe, und eine wahre Ehe Mönchtum? Wer erkennt denn schon, daß es im Leben der Mönche und Nonnen, im glückseligen Schweigen von Körper und Seele, in der feinen Empfindung für die Wirkung des Denkens auf den Blutkreislauf, in der Transparenz der Gedanken und der besonderen unaussprechlichen Leichtigkeit des Körpers zur Zeit der Fasten, in der Süße der Enthaltsamkeit, im inbrünstigen Gebet eines geöffneten Herzens um Geschichte geht,um die wirkliche, wahre Geschichte des Geistes, deren Kämpfe und Revolutionen der Welt unbekannt sind. Im Vergleich mit einem solchen Leben ist alles andere so unwesentlich, alle Heldentaten des weltlichen Lebens wirken dagegen armselig und eng. Nur du, Schwester und Braut, Jungfrau und Mutter, nur du, Nonne und Büßerin, nur du hast die Eitelkeit der Welt erkannt und die Weisheit, die darin liegt, die Schwäche der weiblichen Seele zu überwinden. Nur du, in deiner ganzen Blässe und Magerkeit, kennst das Geheimnis des Fleisches und des fleischlichen Menschen. Nur du, die du krank bist und voller Liebe, ewig und licht, müde und ergriffen, nur du hast durch Fasten und Beten erkannt, was Liebe ist und Selbstaufgabe, und was es bedeutet, daß die Kirche als der Leib Christi bezeichnet wird. Wir hier im weltlichen Leben tragen die Sehnsucht in uns, dort im Kloster schaut man in großer Freude auf den Lauf der Jahrhunderte.. . ))Ich sehe deine Augen, du Unermeßliche, unter deinem Blick löst sich die Seele, verlaß mich nicht, meine Einzige und Treue, Du Freudenreiche, die durch ihre Freuden alles weiß.«* V Die Leiter [zum Paradies] unseres ehrwürdigen Vaters Johannes [Climacus] Sergiev Posad 1894, 140.

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Auch das ist Geschichte, lebendige, zitternde Freude und Schmerz über die historischen Schicksalsläufe... Aber es ist natürlich mythische Geschichte, Geschichte fur das mythische Subjekt, Geschichte des Mythos und schicksalhaftes Sein. Für einen Leser, der einen Mythos für etwas Ausgedachtes hält, für eine Erfindung, ist das, was ich hier schreibe, natürlich bedeutungslos.. . Oder glauben Sie, daß historische Mythen etwas anderes, Harmloseres und weniger Schwerwiegendes sind? Denken Sie das ruhig. Mir ist eines Tages aufgefallen, daß es bei Sterbenden vorkommt, daß sie plötzlich fir Minuten, Stunden (und manchmal Tage) den Blick auf einen Punkt des Raums richten, der unter normalen Umständen überhaupt keine Anziehungskraft für sie besessen hätte. Manchmal erscheint dabei ein Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht dieses Menschen, als ob er irgendein schreckliches Ungeheuer vor sich sähe. Manchmal liegt helle Freude auf einem solchen Gesicht, Frieden und ein leises Lächeln. Ein andermal schaut es zwar verwundert drein, bleibt dabei aber M t , stumpf und indifferent. Mit ganz wenigen Ausnahmen sind solche Menschen aber nicht bereit, davon zu berichten, was sie in diesen Augenblicken gesehen und erlebt haben. Ich selbst habe, nachdem ich diese Wahrnehmung gemacht hatte, immer wieder, mehrere Jahre hindurch, Freunde und Verwandte eines Sterbenden nach diesem Blick auf dem Sterbebett ausgefragt. Es ist fast nie geschehen, daß sich meine Beobachtungen nicht bestätigt hätten; es gab ein paar zweifelhafte oder unvollständige Berichte, aber keine wirklichen Ausnahmen. Meinen Sie nicht, daß hier etwas von der wahren Geschichte der Person zum Ausdruck kommt, ihr mythisches Schicksal? 3. Es gibt noch eine dritte Schicht, in der sich der historische Prozeß vollendet. Geschichte ist nicht nur Werden des Bewußtseins oder Gegenstand eines möglichen oder wirklichen Bewußtseins, sondern sie ist für sich selbst Objekt und Subjekt, nicht Gegenstand eines anderen, sondern des eigenen Bewußtseins. Geschichte ist Selbstbewußtsein, werdendes Selbstbewußtsein, das geboren wird, heranreift und stirbt. Das ist eine dialektisch notwendige Schicht des historischen Bewußtseins. In der Geschichte finden sich nicht einfach nur tote Fakten und nicht nur Fakten, die jemand von außen erkennt und analysiert. Geschichte ist auch Geschichte der selbstbewußten Fakten. Sie ist das Werk bewußt-ausdruckshafter Fakten, wobei einzelne Dinge in den allgemeinen Prozeß gerade dadurch eingehen, daß sie ihr Selbstbewußtsein und ihre selbstbewußte Existenz zum Ausdruck bringen. Aber was ist denn ein schöpferisch gegebenes und aktiv ausgedrücktes Selbstbewußtsein? Die Antwort lautet: das Wort. Im Wort erreicht das Bewußtsein die Stufe des Selbstbewußtseins. Im Wort kommt

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der Sinn als Organ des Selbstbewußtseins zum Ausdruck und setzt sich d e m anderen entgegen. Das Wort ist nicht nur verstandene, sondern auch sich selbst verstehende, nicht nur begriffene, sondern sich selbst begreifende Natur. Das Wort ist also das Organ der Selbstorganisation der Person, die Form des historischen Seins der Person. Deshalb erreicht der historische Prozeß nur hier seinen strukturellen Reifezustand. Ohne Worte wäre die Geschichte taub und stumm wie ein Bild, das, obwohl es gut gemalt ist, doch niemanden anspricht, weil es auch niemanden gibt, der es wahrnehmen könnte. Ein Bild muß eine echte lebendige Sprache sprechen, und irgend jemand muß sie hören können. Geschichte darf nicht nur »Malerei«,sondern muß sein. Sie darf nicht nur einfach die Gestalten und Bilauch >)Poesie« der der Fakten hervorbringen, sondern auch Worte über diese Fakten. Das ist der Ort, an dem das mythische Bewußtsein seine Wirksamkeit entfaltet. Denn letzteres liefert die Worte zu den historischen Fakten, die Berichte über das Leben der Menschen und nicht nur ein stummes Bild von ihnen. Der Mythos ist »poetisch«und nicht »malerisch«. Ohne »Poesie«,das heißt ohne Worte, hätte der Mythos niemals die Tiefe der menschlichen - und jeder anderen - Person berührt. Er würde immer an anschaulich-plastischen Formen haften und könnte niemals das ausdrücken, wozu nur das Wort fähig ist. Das Wort ist prinzipiell vernünftig und ideell, während Gestalt und Bild prinzipiell visuell-kontemplativ erschlossen werden, und eine »Idee«können sie nur insoweit vermitteln, wie diese sichtbar in Erscheinung tritt. Der Mythos besitzt einen viel größeren Reichtum. Seine »Sinnlichkeit«umfaßt nicht nur stofflich-körperliche, sondern auch d e vernünftigen Formen. Ein rein geistiger Mythos ist möglich, während in der »Malerei«dabei bestenfalls eine kraftlose Allegorie herauskäme. So ist der Mythos also nicht historisches Ereignis als solches, sondern er ist immer Wort. Im Wort ist das historische Ereignis auf der Stufe des Selbstbewußtseinsangelangt. Mit dieser Feststellung beantworten wir die zweite der oben vorgelegten Aporien (hinsichtlich der Form, in der die Person irn Mythos in Erscheinung tritt). Die Person wird im Mythos historisch sichtbar, und in ihrer Geschichte tritt das Element des Wortes in Erscheinung. Kurz zusammengefaßt lautet unsere Folgerung also: Der Mythos ist in Worten überlieferte personhafte Geschichte.

XI. Der Mythos ist Wunder 1.Wir sind in unseren Überlegungen zu einem außerordentlich seltsamen und verdächtigen Ergebnis gekommen. Letztlich würde das

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nämlich bedeuten, daß jede Grenze zwischen Mythos und gewöhnlicher Geschichte, genauer, der Biographie oder der Beschreibung einzelner Episoden im Leben eines Menschen, aufgehoben wäre. Aber ganz so einfach läßt sich die von uns oben erarbeitete Formel natürlich nicht erklären. Schließlich ist sie das Resultat einer langwierigen Analyse sehr schwieriger Begriffe, wie des Symbols, der Person, der Geschichte, des Wortes usw. Ihre Einfachheit besteht eigentlich nur darin, daß die von uns darin verwandten Termini so weit verbreitet und populär sind. Doch gebrauchen wir diese Termini nicht irn dunklen, unklaren Sinne eines unkritischen Bewußtseins, sondern haben phänomenologisch alle grundlegende Momente dieser Begriffe zutage gefördert und sie gegenüber anderen, die Sache nur venvirrenden Bereichen abgegrenzt. Eine Frage bleibt jedoch trotz allem offen. Auch wenn wir herausgefunden haben, daß der Mythos Geschichte ist, daß er Wort ist, daß er unser gesamtes tägliches Leben erfüllt, so ist es doch nicht überzeugend, daß er nichts anderes sein soll als Geschichte und Biographie, so wie sie gewöhnlich verstanden werden, und nicht noch etwas Eigenes, Besonderes zum Inhalt hat. Wir sind früher schon auf einen sehr weitgefaßten Begriff des Mythos gestoßen, aber wir mußten ihn im Grunde ablehnen, weil der Mythos, als intelligibles Symbol begriffen, sich in nichts zum Beispiel von der Poesie unterscheidet. Schon dort hatten wir darauf hingewiesen, daß es noch einen enger gefaßten und spezifischeren Begriff des Mythos gibt, den wir in der Erzählung Gogol's »Der Vij« angetroffen haben. Dort reitet der Held Choma Brut nicht auf einem Pferd, nicht einmal auf einem Schwein oder einem Hund, sondern auf einer Hexe oder sie auf ihm. Das führte uns dazu, daß wir dem Mythos eine gewisse Losgelöstheit zugeschrieben haben. Aber alles, was wir bisher über diesen Begnff gesagt haben, ist unbefriedigend geblieben. Losgelöstheit kann man als Losgelöstheit von abstrakt-isolierten Dingen verstehen. Aber das ist natürlich nicht die spezifisch mythische Losgelöstheit, denn alle Dinge der lebendigen menschlichen Erfahrung sind auf diese Weise »losgelöst«.Man kann sie auch poetisch als allgemeine Losgelöstheit von den Dingen verstehen, aber auch das mußten wir ablehnen, weil der Mythos den Bereich der Dinge in keiner Weise verläßt, sondern sich - im Gegenteil -, indem er das personhafte Element einbezieht -, ganz besonders auf sie und auf alles, was verwirklicht wird, stützt, obwohl der Mythos die Dinge tiefer versteht als das gewöhnlich der F d ist. An welchem Punkt unserer Überlegungen sind wir jetzt angekommen? Solange wir den Begriff der Person noch nicht definiert hatten, konnten wir die Frage nach der mythischen Losgelöstheit nicht stellen. Um den Mythos vom poetischen Bild abzugrenzen, genügte es, einfach auf das Faktum der

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Ungewöhnlichkeit und scheinbaren Ubernatürlichkeit seines Inhalts hinzuweisen; das ist eine klare Unterscheidung, abgesehen davon, daß der Mythos stofflich-materiellist, die Poesie hingegen »interesselos«. Solange wir von der Beziehung des Mythos zu den Dingen im allgemeinen gesprochen haben, war dieser Hinweis ausreichend, und es wurde deutlich, daß das mythische Faktum und die mythische Sache eine besondere Art von Fakten und Sachen ist. Die Faktizität und Stofflichkeitdes Mythos ist deutlich zutagegetreten, und es hätte keiner weiteren Abgrenzung bedurft. Aber dann erwies es sich, daß der Mythos personhaftes Sein ist, historisches Sein und Wort. Es zeigte sich, daß er Selbstbewußtsein ist. Wenn er Selbstbewußtsein ist, dann muß die für ihn charakteristische Losgelöstheit notwendigerweise in bewußter Form in ihm enthalten sein. Wenn der Mythos Wort ist, dann heißt das, daß er aussprechen muß, worin diese Losgelöstheit besteht, letztere muß ausgedrückt, ausgesprochen werden und in Erscheinung treten. Wir hatten auch Mythos und Metaphysik unterschieden und darauf hingewiesen, daß die Existenz des »übematürlichen(cMoments im Mythos seiner Körperlichkeit und Stofflichkeit nicht im Wege steht. Beim Vergleich mit dem Symbol hatten wir gezeigt, daß die Beziehung und »Übernatürlichem«im Mythos symbolisch gevon >)Natürlichem« sehen werden muß, das heißt als numerische Einheit, als eine Sache. Aber was das Übernatürliche seinem Wesen nach ist, haben wir nicht geklärt, sondern es nur mit weitgehend unbestimmten Bezeichnungen wie das >)Ungewöhnliche«oder das »Seltsame«versehen. Inzwischen hat der Mythos für uns eine bewußt-personhafte, auf Wort und Geschichte bezogene Form bekommen. Das heißt, daß wir das nungewöhnliche« oder »Seltsame«nicht länger links liegen lassen können, indem wir es bloß konstatieren. Person, Geschichte, Wort, diese Definitionen haben dazu geführt, daß wir nun einen übergeordneten Begriff finden müssen, in dem alles seinen Platz findet: Person, Geschichte, Wort, das »Übernatürliche« und das »Seltsame()Suggestion«spricht, sagt damit noch nichts über das eigentliche Phänomen aus, und im Grunde ist es eine rein emotionale Aussage. Wenn man das Wunder als Resultat einer Hypnose ansieht oder einfach als die Einbildung eines Verrückten, dann ergibt das überhaupt nichts für die wissenschaftliche Analyse des Begriffs. Und jedes Kleinkind weiß, daß es verschiedene Arten von Verrücktheit gibt und daß keine der anderen gleich ist. Was ist das Spezifikum der Verrücktheit, die Wunderglaube genannt wird? Dieser Frage kann man nicht ausweichen. Das Wunder als Erfindung oder Folge von Hypnose abzutun, zeigt, daß man nicht sachlich und ruhig nachgedacht, sondern rein gefühlsmäßig geurteilt hat. So etwas können sich eigentlich nur launische und

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nervöse Schwachköpfe ausdenken.' Um das Phänomen des Wunders wirklich zu erfassen, dürfen wir auf keine der angeführten Theorien zurückgreifen. Das Wunder ist weder einfach eine Einwirkung höherer Mächte auf ein niedrigeres Sein, noch verletzt es die Naturgesetze, es erklärt sich auch nicht einfach aus dem Gedanken der Einheitlichkeit der Naturgesetze, es ist keine Erfindung des Subjekts, keine willkürliche Projektion oder Hypnose, keine Suggestion.

4. Um die Analyse dieses schwierigen, von Philosophie und Wissenschaft gewöhnlich verachteten Begriffs folgerichtig und genau durchzuführen, wollen wir unsere Darstellung in einzelne Punkte (die allerdings leicht den Umfang eines ganzen Kapitels annehmen können) gliedern. a) Es ist deutlich geworden, daß wir es beim Begriff des Wunders mit einem Phänomen zu tun haben, in dem es um das Zusammenfallen oder wenigstens um die Wechselbeziehung und das Aufeinandercto/3en von zwei verschiedenen Wirklichkeitsebenen geht. Das war offensichtlich der Grund dafür, das Wunder als Einwirkung höherer Mächte oder als Verletzung der Naturgesetze zu betrachten. Wir hingegen möchten in einer genauen phänomenologisch-dialektischen Analyse sowohl den Charakter der beiden Ebenen wie auch die Art der Wechselbeziehung herausfinden. Wichtig ist uns dabei vor d e m , daß es sich hierbei (wie aus unserer vorhergehenden Darstellung hervorgeht) um die Wechselbeziehung zweier (oder mehrerer) personhafler Ebenen handelt. Beim Wunder geht es um das In-Erscheinung-Treten einer oder mehrerer Personen, das wiederum für eine oder mehrere andere Personen geschieht (wobei wir unter dem Begriff Person das verstehen, was wir oben ausgeführt haben). Über diese axiomatische Aussage zu streiten, dürfte kaum möglich sein. Das Wunder ist immer die Wertung einer Person, die für Personen bestimmt ist. b) Daraus ergibt sich folgende Frage: Um die Wechselbeziehung welcher personhafter Ebenen geht es beim Begriff des Wunders? Am ein-

' Die einzige (mir bekannte) Untersuchung zum Phänomen des Wunders in russischer Sprache zeichnet sich dadurch aus, daß sie nicht von einem philosophisch-kritischen Gesichtspunkt an die Sache herangeht: »Feofan. Bischof von Kronstadt. Das Wunder. Der christliche Glaube an das Wunder und seine Rechtfertigung. Versuch einer apologetisch-ethischen Abhandlung. Petrograd 1 9 1 5 ~Das Resultat djeser langen, mit einem großen wissenschaftlichen Apparat ausgestatteten Uberlegungen ist eine recht uninteressante und kritisch nicht durchdachte Formel: »Das christliche Wunder ist eine erstaunliche, sichtbare, übernatürliche Erscheinung (in der physischen Welt, in der körperlichen und geistigen Natur des Menschen und in der Geschichte der Völker), vom lebendigen, personalen Gott hervorgebracht, um den Menschen zur religiös-sittlichen Vervollkommnung zu führen.«

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fachsten wäre es anzunehmen, daß es um die Beeinflussung einer Person durch eine andere geht. Das führt uns aber nicht weiter. Wenn eine Person eine andere beeinflußt, ist daran erst einmal nichts Wunderbares. Ein Kluger belehrt einen Dummen, ein Gelehrter einen Ungelehrten, einer, der lesen und schreiben kann, einen anderen, der es nicht kann, ein Lebenserfahrener einen Unerfahrenen usw. Wunderbar ist daran gar nichts. Aber es kann natürlich, wie alles auf der Welt, wunderbar sein. Auch der Aufgang und der Untergang der Sonne, Geburt und Tod eines Menschen, sogar die unscheinbarsten Natur- und Lebenserscheinungen können wunderbar sein, und sind es oft genug auch. Das heißt nicht, der Einfluß einer Person auf eine andere ist wunderbar, sondern ein gewisses besonderes Moment, das sich nicht einfach auf das Faktum der Beeinflussung zurückführen läßt. Auch der Einfluß einer höherstehenden Person auf eine niedriger stehende hat nichts Wunderbares an sich. Man kann sogar sagen, daß es immer schwieriger wird vom >)Wunder«zu reden, je höher der Rang der Person ist, die handelt und Einfluß ausübt; und die allerhöchste Person, wenn es sie gibt, wird ja sowieso als eine immer und ständig handelnde und wirkende gedacht, so daß für das Wunder dabei gar kein Raum bleibt. Die wirklich wunderbare Wechselbeziehung personhafter Ebenen darf nicht im Bereich der Einflußnahme, die eine Person auf die andere ausübt, gesucht werden, sondern innerhalb einund derselben Person, nur dann kann man wirklich von der Wechselwirkung zweier oder mehrerer personhafter Ebenen sprechen. Am besten wird das deutlich, wenn man an Gestalten denkt, die sich venuandeln können und in vielerlei Verkörperungen auftreten können. Daß es sich dabei um Wunder handelt, unterliegt keinem Zweifel. Und daß einund dieselbe Hexe sich einmal in ein rollendes Rad, einmal in einen Vogel, einmal in einen grauen Wolf verwandelt, das heißt, daß es dabei immer um die gleiche Person geht, ist auch klar. Damit ein Wunder geschehen kann, ist somit eine Person ausreichend. Notwendig sind jedoch zwei Ebenen innerhalb dieser Person. Welche sind das? C)Bei diesen beiden Ebenen handelt es sich einmal um die äußerlichhistorische und dann um die innerlich-gedankliche Ebene, das hegt um die Ebene der vorsätzlichen Absicht und des Ziels. Schauen wir sie uns genauer an. - Die Person ist erstens Person, das heißt, sie ist vor allem Person an sich, abgelöst von ihrer Geschichte und ihrer Entwicklung. Was heißt das? Das bedeutet,daß sie in d e n Veränderungen und aller Geschichte ihrer Biographie immer und unwandelbar sie selbst bleibt. Nach der Grundregel der Dialektik kann Entwicklung nur stattfinden, wenn etwas da ist, was sich entwickelt und wird, und etwas, das innerhalb d e r faktisch erfolgender Veränderungen unwandelbar bestehen bleibt. Sowie dieses >)Etwas«in seinem Wesen ver-

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ändert und zerstört wird, wird auch seine Entwicklung unterbrochen, und es beginnt die Entwicklung von etwas ganz anderem. Die Person ist vor allem anderen erst einmal eine Einheit, die über alle Veränderungen erhaben ist und außerhalb ihrer eigenen Geschichte existiert. Nur so ist Geschichte überhaupt möglich. Aber sie ist zweitens als reale Person auch historische Person.Sie ist ständig im Werden begriffen, verändert und entwickelt sich ewig. Ein bißchen allgemeiner ausgedrückt: sie ist immer in der Zeit. Was ist die Zeit? Die Zeit, oder das Werden, ist nur deshalb möglich, weil sie die dialektische Antithese zu Sinn und Idee ist, zu denen die Unwandelbarkeit gehört. Eine mathematische Formel kann auf jede Zeit angewendet werden (oder kann es ihrem Sinn nach), an sich enthält sie nichts Zeitliches. Die Zeit ist die Antithese zum Sinn, zum Gehalt. Sie ist ihrer Natur nach alogisch, irrational. (Es gehört zu ihrem Wesen, daß das Moment der Vergangenheit schon vorbei ist, das der Zukunft noch nicht ist und außerdem unbekannt und die Gegenwart ein unfaßbarer Augenblick ist). Das Wesen der reinen Zeit besteht in diesem alogischen Element des Werdens, in alogischem Werden, in dem nichts unterschieden und einander gegenübergestellt werden kann; hier ist alles in einem unzerlegbaren Strom des Sinns zusammengeflossen. Das Wesen der Zeit besteht in einem unablässigen Anwachsen des Seins, in dem vollkommen, absolut unbekannt ist, was nach einer Sekunde sein wird, und in dem das Vergangene vollkommen und absolut unwiederbringlich verloren ist, und diesen unaufhaltsamen, unmenschlichen Lauf des Werdens kann keine Macht der Welt zum Stillstand bringen. Und deshalb gibt es niemals eine Garantie dafür, daß das, was die Naturgesetze voraussagen, auch wirklich eintrifft. Die Zeit ist ein echt alogisches Element des Seins, im wahrsten Sinne Schicksal, oder, mit einem Begriff aus einem anderen Erfahrungssystem, göttlicher Wille. Zu Unrecht haben Gelehrte und Philosophen den Begriff des Schicksals verworfen und ihn durch den der Kausalität ersetzt. Aber das bedeutet nur, daß man den Kopf in den Sand steckt und es nicht wagt, dem Leben in die Augen zu sehen. Schicksal ist eine absolut reale, dem Leben zugehörige Kategorie. Es ist in keinster Weise etwas Ausgedachtes, sondern das grausame Antlitz des Lebens selbst. Wir gebrauchen diesen Begriff und Terminus täglich, täglich und stündlich sehen wir die Wirkungen des Schicksals, in unserem eigenen Leben und in fremdem, und wir wissen und begreifen sehr gut, daß wir nicht für eine einzige Sekunde unseres Lebens garantieren können; bis zur Schmerzhaftigkeit sind wir uns bewußt, daß die Zukunft unbekannt ist und dunkel wie eine in unendliche Femen verschwimmende Dämmerung: und bei alledem tun wir den Begriff des Schicksals ab, verachten ihn als etwas Ausgedachtes, als etwas, das nicht der Realität

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entspricht, als Fiktion, und lassen uns stattdessen auf falsche Theorien und Vorurteile ein. Und denken uns den Begriff der Kausalität aus. Aber die Kausalität kann nichts daran ändern, daß der Mond vielleicht, bevor die Mondfinsternis überhaupt eintritt, in irgendeinem Brand des Weltalls in Flammen aufgeht oder aus anderen, noch unbekannten Gründen einfach verschwindet oder zerstört wird. Angenommen, daß für ein bestimmtes Datum eine Mondfinsternis vorausgesagt wird. Aber ob der Mond dann überhaupt noch existiert und ob es dieses Datum noch geben wird, weiß niemand. Ich bin da, wie gesagt, jedenfalls gar nicht sicher. Das Schicksal ist das Realste, was ich in meinem eigenen Leben und in dem aller anderen Menschen sehe. Es ist keine Erfindung, sondern eine grausame Zange, die unser Leben umklammert. Und es ist das Schicksal, das uns lenkt und führt, niemand anderes. - Das Wunder enthält also zwei personhafte Ebenen: 1. Die Person an sich, außerhalb aller Veränderungen, außerhalb ihrer Geschichte, Person als Idee, als Prinzip, als Sinn ihrer Entwicklung, als unveränderliche Regel, nach der sich das reale Geschehen ausrichtet. Und 2. Die Geschichte dieser Person, der reale Verlauf ihres Werdens und ihrer Entwicklung, ein alogiches Werden, eine Vielheit in der Einheit, die sich unaufhörlich in Bewegung befindet, eine absolute, immer irn Fluß seiende Ununterschiedenheit und eine rein zeitliche Dauer und Anspannung. d) Ganz von selbst erhebt sich dabei folgende Frage: In was für einer Wechselbeziehungbefinden sich diese beiden personhaften Ebenen? An diesem Punkt sind wir erstmals in der Lage, uns einer dialektischen Lösung der Frage nach dem Begriff des Wunders zu nähern (einer dialektischen, weil die Philosophie keine andere verlangt). Und zwar gelangen diese beiden Ebenen, die vollkommen verschieden sind, in einer einzigen unteilbaren Gestalt zu einer Identität, wobei sie dem Grundgesetz aller Dialektik folgen. Hier wiederholt sich die ursprüngliche Dialektik vom >)Einen« und >>Anderen«, und nur wenn wir sie verstanden haben, können wir auch die Dialektik des Wunders verstehen. Das »Eine((und das »Andere«unterscheiden sich in notwendiger Weise voneinander und sind doch gleichzeitig identisch. Aber nicht dieses allgemeine dialektische Gesetz ist interessant, sondern seine Konkretisierung in bezug auf die Kategorie des Wunders. Sowie wir begonnen haben, von Geschichte und Werden, von Zeit zu sprechen, entsteht die Frage, wie denn dieses Werden vor sich geht. Werden, Entwicklung ist nur möglich, wenn etwas da ist, was sich entwickelt und wird. Und sowie eine Sache in eine Entwicklung eintritt, fangen wir an, das real Werdende und folglich geworden Seiende mit dem zu vergleichen, was werden soll, die werdende, sich entwickelnde Sache mit ihrer Idee. Ohne diesen, offenen oder verborgenen, Vergleich

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ist es unmöglich, über reales Werden, reale Entwicklung zu sprechen. Aber wenn wir uns eine Sache anschauen, die eine Entwicklung durchlaufen hat, die ))geworden((ist, dann entdecken wir darin nicht nur zwei Schichten, zwei Ebenen, sondern sehr viel mehr. Erstens die abstrakte Idee der Sache, oder in unserem Faii die Idee der Person, außerhalb ihrer Geschichte, die an ihrem Ort bleibt, genauso wie zweitens, das Moment des rein alogischen Werdens, das meonal-historische Moment. Aber diese beiden Schichten allein zum Ausgangspunkt zu nehmen, hätte einen üblen Dualismus zur Folge, und es wären weder Dialektik noch Wunder möglich. Diese beiden Bereiche oder Ebenen sind miteinander identisch. Und das heißt, daß es noch etwas Drittes gibt, das mehr ist als abstrakte Idee und abstraktes alogisches Werden und auf keins von beiden zurückgeführt werden kann, das seinem Wesen nach aber auch mit keinem der beiden Bereiche etwas gemeinsam hat. Dieses Dritte muß beides sein: Idee und Werden. Es ist Idee, aber nicht Idee an sich, sondern ausschließlich durch alogische Vermittlung gegeben, und es ist alogisches Werden und Materie, aber ausschließlich als Idee und durch Vermittlung der Idee gegeben. Es ist das, was in Wirklichkeit alles Werden und nicht nur wie die abstrakte Idee - seinen ideellen Gehalt regiert. Es ist das wahre Urbild, das reine Paradigma, die ideale Gestalt der abstrakten Idee. Wenn einmal die Idee und ihre Verkörperung vorhanden sind, bedeutet das, daß auch verschiedene Stufen dieser Verkörperung möglich sind. Und nicht nur verschiedene Stufen, sondern auch eine unendliche Fülle. Das Höchstmaß dessen, was der Verkörperung der Idee in der Geschichte an Fülle und Ganzheit möglich ist. Es ist eine geistige Sinngestalt, die auch das alogische Werden in sich trägt und gerade dadurch eine vergeistigte Körperlichkeit erlangt; es hat seine in ihm liegende abstrakte Aufgabe voll verwirklicht und ist dadurch zu einer einheitlichen und zugleich gegliederten vergeistigten Körperlichkeit, das heißt zur Gestalt geworden. Trotzdem genügt dies nicht, wenn wir wirklich die beiden Bereiche, den des abstrakten Sinns und den des abstrakten Werdens zu einer Synthese bringen wollen. Denn es ist notwendig, daß man nicht nur darauf hinweist, daß diese beiden Ebenen der dritten völlig unähnlich und von ihr unterschieden sind, sondem auch daß gezeigt wird, daß in beiden Sphären Spuren der dritten vorhanden und sie von ihr geprägt sind. Wir hatten jedoch gesagt, daß das dritte Prinzip in keiner Weise auf die ersten beiden zurückgeführt werden kann und mit ihnen nichts gemeinsam hat. Wie kann dann überhaupt eine Synthese zustandekommen?Es ist klar, daß man nicht bei einer Gegenüberstellung der drei verschiedenen Sphären stehenbleiben kann. Die ersten beiden müssen im Hinblick auf die dritte modifiziert werden. Das heißt nicht, daß sie dabei nicht sie selbst

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bleiben. Erst einmal sind sie sie selbst und sonst nichts. Aber sie müssen die Möglichkeit enthalten, mit der dritten zu einer Identität zu gelangen. Jede der beiden Bereiche muß gemä/3 seiner Besonderheit zu einer Synthese mit dem dritten kommen. Nur so kann wirklich von einer dialektischen Synthese von Idee und Werden gesprochen werden. Folglich ist, viertens, eine Modifikation der abstrakten Idee in Hinblick auf die - wie man sie nennen kann - ausdruckshafte Idee oder die Bedeutung (im Unterschied zum abstrakten Sinn) notwendig, und fünftens eine Modifikation des rein abstrakten Werdens mit seiner fehlenden Gliederung und A-Logik in Hinblick auf ein verstandenes, begriffenes Werden oder auf ein real-stoffliches Bild des gewordenen Objekts. So sieht die dialektische Beziehung der beiden personhaften Ebenen aus, die im Phänomen des Wunders synthetisch miteinander verbunden und wiedervereinigt werden. e) Ein Vergleich, ohne den kein Werden und keine Entwicklung möglich ist, kann folglich auf verschiedene Weise vor sich gehen. Man kann das real-stoffliche Bild des gewordenen Objekts mit seiner abstrakten Idee vergleichen und schauen, inwieweit hier eine Übereinstimmung zustandegekommen ist. Ein solcher Vergleich ist aber schon deshalb kaum interessant, weil wir schon im voraus wissen, daß nichts werden kann ohne etwas, das wird, daß es keine Geschichte gibt, ohne das, was sich in der Geschichte befindet. Nun versuchen wir jedoch das real-stoffliche Bild einer Sache mit seinem Urbild, seinem Paradigma, seinem »Muster«, seiner Idealgestalt, mit seiner absoluten Ganzheit, dem Höchstmaß der ihm innewohnenden Fülle und dessen, was es sein kann, zu vergleichen. Eine vollkommene Übereinstimmung können wir hier natürlich nicht erwarten. Es gibt immer nur eine teilweise Übereinstimmung des red-stofflichen Bildes mit der ihm innewohnenden Idealgestalt und Idedaufgabe, mit seinem Urbild, und zu meinen, daß in irgendeinem Fall das Urbild völlig mit seinem Abbild zusammenfallen könne, gibt es keinen Grund. Umso mehr muß es erstaunen und seltsam, ungewöhnlich, wunderbar erscheinen, wenn es sich zeigt, daß es in der historischen Entwicklung einer Person einen Moment geben kann, wo ihr Urbild deutlich und klar zum Ausdruck kommt, wo das Höchstmaß des Zusammenfalls beider Ebenen erreicht wird, wo ideales Urbild und stoffliche Gestalt zur Übereinstimmung kommen. Dieser Moment ist zugleich der Moment des Wunders. Wunder ist die dialektische Synthese von zwei Bereichen der Person, in ihm erfüllt sich die in der Tiefe der historischen Entwicklung liegende Aufgabe des Urbildes. Es ist sozusagen die zweite Verkörperung der Idee, zuerst wurde sie im ursprünglichen, idealen Archetypus, im Paradigma verkörpert, dann wurde sie in Gestalt der letzteren im realen historischen Ereignis offenbar. Natürlich erfüllt

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jede Person auf irgendeine Weise die auf dem Grunde seines ursprünglichen Seins liegende Aufgabe. Aber sie muß sie möglichst vollständig erfüllen. Die Verbundenheit einer realen geschichtlichen Situation mit ihrem idealen »Vorbild«muß deutlich gezeigt werden und bewußt zum Ausdruck kommen. Nehmen wir einmal das Beispiel der Heilungen, die in den Tempeln des Asklepios im alten Griechenland stattfanden. Alle wußten, daß Asklepios der Gott der Gesundheit war und Kranke heilte. Alle wußten, daß er auch dann half, wenn niemand Heilung erflehte. Schließlich war auch allen bekannt, daß die Priester alle möglichen medizinischen Mittel verwandten und sogar operierten. Und trotzdem war eine Heilung im Tempel des Asklepios ein Wunder. Warum? Weil sichtbar wurde, wie Asklepios den Kranken hilft. Man mußte hingehen, beten, und zwar gerade zu diesem Gott in diesem Heiligtum, usw. Alles wurde auf mechanische Weise erklärt, und der fromme Grieche dachte überhaupt nicht daran, daß hier etwas Übernatürliches am Werke sei. Alles ging absolut natürlich vor sich. Und trotzdem wurde der Kranke gesund. Tausendmal ist es natürlich vor sich gegangen, und es geht sogar immer alles natürlich vor sich, immer und unabänderlich wirken die Gesetze auf mechanische Weise. Und doch ist gestern der Kranke trotz der gleichen mechanischen Gesetze aus irgendeinem Grund nicht gesund geworden, heute hingegen, obwohl wiederum genau die gleichen Gesetze wirksam waren und nur neue Fakten hinzugetreten sind, (er ist in den Tempel gegangen, hat gebetet usw.) heute wurde er aus irgendeinem Grund geheilt. Es ist klar, daß das Neue, das heute geschehen ist, nicht darin besteht, daß Asklepios heute geheilt hat und gestern nicht (Götter wirken und heilen immer), und auch nicht darin, daß heute die physiologischen Gesetze verletzt wurden und gestern nicht (die Gesetze bleiben sich immer gleich und niemand kann sie verletzen), nein, das Neue besteht darin, daß heute das gewöhnlich kaum bemerkbare Band zwischen dem realen Leben des Kranken mit dem idealen Zustand dieses Lebens, der in ewiger göttlicher Glückseligkeit mit keiner Krankheit behaftet ist, sichtbar und klar geworden ist. Das Wort »Wunder« weist in allen Sprachen auf diesen Moment der »Verwunderung«über das, was geschieht und sichtbar wird, hin - gr.: Qaüpa, lat.: miraculum miror, deutsch: Wunder bewundern, slav.: Cudo. Das Wunder besitzt den Charakter der Mitteilung, der Offenbarung, der Verkündigung, des Zeugnisses, des erstaunlichen Zeichens, der Manifestation, sozusagen der Prophetie, der Enthüllung, aber nicht den des Seins der Fakten, der Ereignisse. Es ist eine Modifizierung des Sinns der Fakten und Ereignisse, aber es ist nicht selbst Faktum und Ereignis. Es ist eine bestimmte Methode der Interpretation historischer Ereignisse und nicht die Suche nach ihnen. Jemanden, der an ein Wunder glaubt,

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kann man mit nichts widerlegen. Sogar das Wort »Glaube«paßt hier nicht. Er sieht und kennt das Wunder. Wenn man mit irgendeinem wundertätigen Gegenstand (zum Beispiel einem Amulett) eine Krankheit heilt, ist man logisch volikommen im Recht, wenn man auf die Einwände eines Skeptikers folgendermaßen antwortet: »Sie meinen, daß mich Ihre Arzneimittel geheilt haben, ich behaupte dagegen, daß es das heilige Öl gewesen ist, mit dem ich die kranke Stelle eingerieben habe, das heißt, die Krankheit wurde mit beiden Mitteln behandelt, warum soll es ausgerechnet die Medizin gewesen sein, die gehoifen hat, und nicht ein Wunder. Und folgt denn die Medizin nicht auch einer Gesetzmäßigkeit, und ist sie nicht auch von idealen Ursachen abhängig?«Einen solchen Menschen von seiner Meinung abzubringen, ist unmöglich, weil es logisch nicht möglich ist zu beweisen, daß das Amulett nicht gewirkt hat, denn auch die Medizin wirkt ja nicht immer in gleicher Weise. Stellen wir uns einen lebendigen Menschen, eine Person, ihre Geschichte und ihr Leben vor. Jeder einzelne Moment dieses Lebens enthält fünf Aspekte, die in ihrem momentanen Antlitz eins sind, in der Abstraktion jedoch unterschieden werden können: erstens die abstrakte Idee dieses Lebens (es handelt sich zum Beispiel u m einen Mann, einen Russen, der in einem bestimmten Jahrhundert oder Jahrzehnt lebt, einen Staatsmann, Soldaten, Bauern usw.) Zweitens unterscheiden wir den Aspekt des Dahinfließens dieses Lebens, in dem sich die Idee verkörpert und eine neue lebendige Gestalt bekommt. Drittens sehen wir den idealen Zustand dieses Lebens, in dem die abstrakte Idee volikommen verkörpert ist. Viertens wird der erste Aspekt im Lichte des dritten gesehen, das heißt, es geht darum, daß der abstrakten Idee etwas hinzugefügt wird, etwas, das vom Ideal kommt, sozusagen die Summe dessen, was im Ideal enthalten ist, der abstrakte Ausdruck des Ideals. Fünftens: Hier steht der zweite Aspekt im Lichte des dritten, das heißt, es wird etwas zur leeren alogischen Dauer hinzugefügt, etwas, das vom Ideal kommt, dann wird die Dauer zum realen-lebensvollen Antlitz der Person. Wenn der firnfteund der dritte Aspekt zusammenfallen, sagen wir: das ist ein Wunder, und mit Hiife des vierten Aspekts betrachten wir verwundert die erstaunlichen Fakten und Ideen, in denen sich der erste Aspekt der Person ausgedrückt hat, wenn er anfing, sich im zweiten zu erfüllen.

5. Die hier angeführte Analyse des Begriffs des Wunders zeigt, daß letzteres symbolischer Natur ist, wenn man das Symbol so versteht, wie ich es oben ausgeführt habe. Um die symbolische Natur des Wunders noch klarer herauszuarbeiten, müssen wir aber noch näher auf das Wunder als Symbol oder auf das echte mythische Symbol eingehen.

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a) Schon Kant hat sehr schön gezeigt, daß neben dem >)bestimmenden« Vermögen der Urteilskraft, dem Vermögen, vom Allgemeinen her über das Besondere zu urteilen, dem Vermögen des Verstandes, Regeln aufzustellen, auch eine »reflektierende«Urteilskraft existiert, die vom Besonderen zum Allgemeinen fortschreitet und den empi~ ~ Katerisch zufälligen Verlauf der Erscheinungen b e t r a ~ h t e t .Die gorie des Verstandes, die nur dazu da war, die empirischen Erscheinungen zu regeln und zu ordnen, wird von diesem Gesichtspunkt aus schon zum Zweck. Wir fangen an, die Dinge nicht einfach als Bereich fur die Anwendung der abstrakten Kategorien zu betrachten, sondem wahrzunehmen, in welchem Maße die Erscheinungen mit ihrem Zweck zusammenfallen. Solange wir die Kategorien als solche benutzen, ist nichts Erstaunliches daran, daß sie sich auf die Natur anwenden lassen, denn außer ihnen gibt es nichts, was den Dingen Sinn verleihen könnte. Aber wenn sich zeigt, daß eine empirische Erscheinung genauso verlaufen ist, wie es ihr Zweck erfordert, dann wundem wir uns, und diese Übereinstimmung sagt Kant, ruft das Gefuhl des Wohlgefallens hervor. Von daher gibt es zwei Vorstellungsformen der Zweckmaßigkeit in der Natur, die logische und die ästhetische. Die erste operiert mit einem Zweck-Begriff, indem er die Entsprechung oder die Nicht-Entsprechung des zufälligen Verlaufs einer Erscheinung mit ihrer formalen Zweckmäßigkeit untersucht; so sind wir gezwungen, manches Objekt in der Natur teleologisch und nicht mechanisch zu betrachten. Die andere Vorstellungsform enthält jenes Gefühl des Wohlgefallens oder des Mißfallens, das im Subjekt vorhanden ist, wenn es in der empirischen Zufälligkeit eine Übereinstimmung oder eine ~icht-Übereinstimmungmit seinen Erkenntnisfähigkeiten, die den Begriff des Zwecks erfordern, vorfindet. Mit anderen Worten, die logische Zweckmäßigkeit ist die Übereinstimmung des zufälligen Verlaufs der empirischen Erscheinungen mit ihrem Urbild, die ästhetische Zweckmäßigkeit hingegen ist die Übereinstimmung des zufalhgen Verlaufs der empirischen Erscheinungen mit ihrem Urbild als Intelligenz (»Subjekt«). Dieser richtige Gedanke Kants muß uns nicht dazu führen, seinen gesamten Subjektivismus und Formalismus zu übernehmen. Wenn er von der Übereinstimmung der empirischen Zufälligkeit mit der »formalenZweckmäßigkeit«spricht, hat Kant natürlich das gleiche im Blick wie wir, wenn wir die Notwendigkeit des Urbildes als der idealen und höchsten Übereinstimmung von Kategorie und Sache, des absolut Notwendigen mit dem absolut Zufälligen, behaupten, und wenn wir verlangen, daß der empirische Verlauf einer Sache mit diesem Urbild verglichen wird (dabei beginnt die ästhetische Wahrnehmung). Das sinnliche Bild fällt mit der gedanklichen Kategorie in einem unzerlegbaren Bild zusammen, das natürlich schon

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nicht mehr die Sache selbst ist, wenn es auch untrennbar mit ihr verbunden ist. Das nennt Kant >)formaleZweckmäßigkeit.« Sicher ist Eidos nicht einfach Form, und die »Gesetzgebung des Verstandes((ist, auch wenn die empirische Zufälligkeit daran teil hat, eine Erfindung der Kantischen subjektivistischen Metaphysik. Aber wenn wir ))Kategorie« und »Verstand«rein objektiv (als Sinn) auffassen und die Übereinstimmung von Zufälligkeit und Kategorie wiederum als rein objektive Struktur des Bildes einer Sache verstehen, können wir uns gefahrlos auf Kant stützen und von logischer ebenso wie von ästhetischer Zweckmäßigkeit sprechen. Wobei die ästhetische Zweckmäßigkeit in unserem System offensichtlich der intelligiblen Modifizierung des Sinns entspricht. Wenn der außerhalb der intelligiblen Sphäre liegende Sinn in der Empirie verwirklicht wird, und es sich erweist, daß diese zufällig entstandene Verwirklichung vollkommen mit der idealen Bestimmung zusammenfällt, bekommen wir das ausdruckshafle Bild einer Sache, das man als außerhalb der intelligiblen Sphäre liegenden Ausdruck einer Sache, als außerhalb der intelligiblen Sphäre liegendes Symbol bezeichen kann. In diesem Faile haben wir einen zum Beispiel pflanzlichen oder tierischen - Organismus vor uns. Aufgabe und deren Erfüllung fallen hier vollkommen zusammen, je mehr sich Aufgabe und Erfüllung entsprechen, desto vollkommener ist der Ausdruck, desto bestimmter die logische Zweckmäßigkeit. Wenn der intelligible Sinn, das heißt das Selbstbewußtsein, in der Empirie verwirklicht wird und wir meinen, daß hier Verwirklichung und Absicht übereinstimmen, dann ist nicht nur eine logische Vorstellung dieser Verwirklichung notwendig, sondern auch eine Erfahrung, die dem objektiv verwirklichten Selbstbewußtsein entspricht, das heißt, es muß eine Befriedigung über das, was erreicht wurde, eintreten: ein Gefuhl des Wohlgefallens. Und für das intelligible Symbol, von dessen Verwirklichung hier die Rede ist, ist dieses Gefühl konstitutiv und dialektisch notwendig (obwohl es faktisch viele Subjekte gibt, die es niemals erleben). b) Aber Kant ist hier stehengeblieben und konnte gemäß der Art seines Philosophierens auch nicht über diesen Punkt hinauskommen. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß es außer einer logischen und ästhetischen Zweckmäßigkeit auch eine mythische gibt und daß diese mythische Zweckmäßigkeit das Wunder ist. Kant hat über die Subsumtion [der Erscheinungen] unter die >)Kategorie«und unter die »mentalen Fähigkeiten« gesprochen. Im Anschluß daran korrigiere ich ihn und spreche von einem logischen Symbolismus oder von der Verwirklichung der abstrakten Kategorie, der Idee, des Sinns über die »Subsumtion« unter das logische Symbol. Ich habe auch von einem intelligiblen oder ästhetischen Symbolismus gesprochen bzw. von einer

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Verwirklichung der Intelligenz, des Selbstbewußtseins, über die >)Subsumtion« unter das intelligible, ästhetische Symbol. Jetzt spreche ich dagegen vom mythischen Symbolismus, das heißt nicht über die Verwirklichung des abstrakten und intelligiblen Sinns, sondern über diejenige der Person, über das, was unter den Begriff des personhaften Symbols fällt. Nach der logischen und ästhetischen Zweckmäßigkeit spreche ich von personhafter Zweckmäßigkeit und habe damit die Natur des Wunders ebenso wie die des Mythos beschrieben. Nur dialektische Überlegungen haben bis zu diesem Punkt führen können. Ebensowenig wie man bei einer abstrakten Idee als solcher stehenbleiben kann und ohne es zu wollen über die Venoirklichung dieser Idee sprechen muß, über die Sache, in der diese Idee verkörpert ist, ebensowenig kann man einfach von intelligiblem Sinn, das heißt von Selbstbewußtsein an sich sprechen, das heißt von einem Selbstbewußtsein, das nirgends verwirklicht wird und folglich niemandem gehört. Natürlich handelt es sich dabei um eine selbständige Kategorie, die in ihrer vollen Selbständigkeit und Unabhängigkeit dargestellt werden muß. Aber wenn man dialektisch vorgeht, verlangt sie nach der nächsten Kategorie, nach der Kategorie des Faktums, des Vorhandenseins, der Wirklichkeit und natürlich nicht nach einer Kategorie, die allgemein alle Fakten urnfaßt, sondern die Fakten der Intelligenz, des Selbstbewußtseins, des intelligiblen Sinns als einer verwirklichten Gegebenheit, oder ganz einfach nach der Person. Die Person ist unserem Verständnis nach die Intelligenz, die sich als Mythos und Sinn, als personales Antlitz verwirklicht hat. Und das Zusammenfallen des zufälligen Verlaufs der empirischen Geschichte einer Person mit ihrer idealen Bestimmung baeichnen wir als Wunder. 6. a) Diese Definition des Begriffs des Wunders kann leicht ad absurdum geführt werden, wenn man vergißt, daß es dabei um die Person und ihre Geschichte geht. Man könnte zum Beispiel folgendermaßen argumentieren: Ein Musiker, der sein Instrument in vollkommener Weise beherrscht, müßte demnach ein Wunder sein, weil auch hier die empirische Zufälligkeit des Lebens (das Studium) mit der idealen Bestimmung (der Beherrschung der Technik) zusammenfällt. Aber diese Überlegung zeigt, daß noch nicht verstanden wurde, daß es beim Phänomen des Wunders um die Person geht. Denn in der Beherrschung der Technik kommt die Person natürlich zum Ausdruck (genauso wie beim Essen, Trinken, schlafen), aber sie ist nicht die Person und nicht deren Geschichte selbst. Es ist die Geschichte einer ihrer vielfältigen und isolierten Funktionen. Man kann natürlich sagen (und tut es auch oft), es handele sich um eine »übermenschliche«Technik, eine »nie dagewesene« Meisterschaft, um eine wunderbare« technisch

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und künstlerisch vollkommene Darbietung usw. Auch eine isolierte Funktion hat natürlich ihre zufällige Geschichte, ihre ideelle Bestimmung, und da beides auch in ganz verschiedener Weise zusamrnenfallen kann, so könnte man auch hier von Wunder oder von verschiedenen Stufen des Wunders sprechen. Aber unter Wunder im eigentlichen Sinn verstehen wir die Sphäre der ganzen Person, und das geschichtliche In-Erscheinung-Treten der ganzen Person, die energiehaft zum Ausdruck kommende Person in ihrer Substanz. Das heißt, daß hier an das Leben selbst gedacht ist und an das Zusammenfallen oder das Nicht-Zusammenfallen des Lebens mit dem Ideal. Oft wird die Psyche (besonders von Psychologen) als eine Reihe von Zuständen oder Arten des psychischen Lebens verstanden. Man spricht von Empfindungen, Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotionen, Willensakten usw., also von isolierten Funktionen. Und das psychische Leben selbst wird als eine Vereinigung dieser Funktionen verstanden. Eine derartige Auffassung ist für mich natürlich unannehmbar. Und sie erweist sich als besonders unzutreffend, wenn es um den Begriff der Person geht. Die Person ist eben nicht Empfindung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit oder Erkenntnis, sie ist nicht Affekt, Emotion, Gefühl, Streben, Wunsch, Wille, Tat. Sie bringt sich dann in notwendiger Weise zum Ausdruck. Aber das tut sie auch in der Kleidung, im Atmungsprozeß, im Blutkreislauf, in der Verdauung, und das bedeutet natürlich nicht, daß sie Stoff ist oder Kleidung, oder Magen und Verdauung usw. Die Person als Kategorie hat nichts mit einzelnen, isolierten Funktionen gemeinsam, sie setzt sich nicht aus ihnen zusammen, sondern stammt aus einem ganz anderen Ursprung. b) Ohne den von uns erarbeiteten Begriff der Person sind wir nicht in der Lage, uns die Dialektik des Wunders zu verdeutlichen. Bei der ästhetischen Zweckmäßigkeit handelt es sich um eine isolierte Funktion des Gefühls. Natürlich geht es dabei auch um Erkenntnis und Willen. Aber die ästhetische Zweckmäßigkeit ist im reinen Gefühl zentriert. Deshalb setzt das Zusammenfallen des »Ideal-Möglichen((mit dem »Real-Zufälligen«hier (oft wenigstens) eine sehr lange Geschichte gerade dieser isolierten Funktionen voraus. Und wenn wir das Spiel eines virtuosen Pianisten betrachten und es als »Wunder«bezeichnen, sehen wir natürlich auch, daß hier eine lange Zeit der Mühe und Anstrengung vorausgegangen ist, in der es viele und vielfältigste Zufälligkeiten gegeben hat. Das Ergebnis ist eine große Beweglichkeit der Finger, die zusammenfällt mit den idealen Absichten sowohl des Komponisten wie des ausführenden Künstlers. Aber es ist ganz deutlich, daß es dabei um die Dialektik zweier isolierter Bereiche geht: der Willensanstrengung eines Menschen mit einer gewissen Idealvorsteiiung

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eines Musikers, um zwei Sphären also, die losgelöst sind vom allgemeinen Bereich der Person, eine empirisch zufällige und eine ideal vorgestellte Sphäre. Sie sind antithetisch und werden in der künstlerischen Darbietung zur Synthese vereinigt. Aber was geschieht, wenn wir nicht vom Gefühl und seiner Entwicklung sprechen, nicht vom Willen und seinen Anstrengungen, nicht von Erkenntnis und Erkenntnisakten, sondern von der Person, die sich eben nicht aus diesen drei Bereichen oder überhaupt irgendwelchen isolierten Funktionen zusammensetzt? Dann kann unsere Synthese nicht die des Gefühls als der Identität von Erkenntnis und Streben sein. Sie kann auch nicht die von Freiheit und Notwendigkeit, und schon gar nicht die von Kategorie und sinnlichem Bild in irgendeinem Werk der Kunst sein. Es muß eine personhafte Synthese sein, die in keiner Weise von ähnlichen isolierten Funktionen und Synthesen berührt und bestimmt wird. Diese Synthese ist das Wunder, die mythische Zweckmäßigkeit. C) Und deshalb können wir das Phänomen des Wunders weder auf eine rein kognitive und logische, noch auf eine willensmäßige, noch auf eine ästhetische Synthese zurückführen. Wenn es sich um eine rein aus dem Erkenntnisbereich stammende Synthese und um rein logische Zweckmeßigkeit handelte, dann wäre jeder beliebige Organismus, pflanzlicher oder tierischer Art, ein Wunder, weil dabei immer die Kategorie des Zwecks mitgedacht wird. Denn jeder Organismus hat seine Geschichte und lebt sein eigenes selbständiges Leben, und in bezug auf ihn können wir immer die Frage stellen und stellen sie auch: wie wird das im Keim eines jeden Organismus angelegte Ziel, sein Zweck, erreicht? Man kann natürlich, wenn man will, jeden Organismus als ein Wunder betrachten, aber er ist kein Wunder im eigentlichen Sinne, höchstens eine primitive Vorstufe davon. Das eigentliche Wunder ist eben mehr als eine rein kognitive Synthese und logische Zweckmaßigkeit. Wenn wir einen Lahmen, der durch eine wundertätige Ikone geheilt wurde, vom rein rationalen Standpunkt aus betrachten, dann könnte das Wunder in diesem Fall nur als Übergang von einem anatomisch-physiologischen Zustand in einen anderen erklärt werden. Dann wäre das, was wir über das Wunder sagen, nichts anderes als Anatomie und Physiologie, bestenfalls Medizin, und das Wunder selbst wäre einfach ein biologischer Akt. Aber so wird ein Wunder niemals erlebt. Die biologische und ganz allgemein die körperlich-organische und physische Natur des Wunders bildet nur den Hintergrund des eigentlichen Wunders, in dem es in ganz verschiedener Weise zum Ausdruck kommen kann. An sich besitzt sie keinerlei eigenständige Bedeutung, obwohl das Wunder darin zur Erscheinung kommt, und sie von daher absolut notwendig ist. Ich spreche jetzt nicht von Menschen, die selbst ein Wunder erlebt haben

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oder daran glauben. Sondern ich meine, daß auch jemand, der nicht daran glaubt, in dieser Weise denken muß. Es geht auch gar nicht um glauben oder nicht glauben, sondern um den Gegenstand, an den man glaubt oder nicht glaubt. Sie glauben vielleicht nicht an Wunder, aber Sie haben eine Vorstellung davon, denn wie könnten Sie etwas ablehnen, von dem Sie nicht wissen, was es ist? Das heißt, wenn Sie Wunder ablehnen, wissen Sie, was Sie ablehnen und wissen folglich, was ein Wunder ist. Und wenn Sie es wissen, unterscheiden Sie es von allem, was nicht Wunder ist. Wenn Sie das Wunder nicht von dem unterscheiden, was nicht Wunder ist, dann lehnen Sie, indem Sie das Wunder ablehnen, auch alles ab, was nicht Wunder ist, das heißt alles Reale und Wirkliche. Wie steht es dann mit Ihrem Materialismus? Aber Sie bejahen natürlich alles Reale und Wirkliche, folglich d e s , was nicht Wunder ist, das heißt Sie wissen, daß Wunder etwas anderes ist als das, was nicht Wunder ist, und Sie müssen wissen, worin der Unterschied besteht. Man kann nur zu einer Ablehnung von allem, was Wunder ist, kommen, wenn man weiß, worin ein Wunder sich von dem unterscheidet, was kein Wunder ist. Und deshalb ist das Wunder auf jeden Fall mehr als ein physischer oder körperlichorganischer Vorgang. Der »Wissenschaft«bleibt dann nur folgendes Argument: Das Wunder ist natürlich kein rein physischer Vorgang, sondern physischer Akt plus Einbildung. Das heißt, es handelt sich um reinen Subjektivismus - eine Meinung, in der die ganze Hilflosigkeit der Position der liberalen Metaphysik zum Ausdruck kommt. Auch die allerphysiologischsten Vorgänge werden ja oft auf subjektive Prozesse zurückgeführt, und es gibt viele Wissenschaftler, die das tun. Das heißt, es wird dann schon nicht mehr vom Phänomen des Wunders gesprochen, sondern von der Beziehung, die man zu ihm hat, das heißt, man spricht von sich selbst. Eine solche Verschiebung des Blickwinkels iit ein logischer Fehler, ungeachtet dessen, daß das Wunder interessanter ist als »wir selbst)Diegeschehene Heilung ist ein Wunder. Das Wunder ist Einbildung. Folglich ist die geschehene Heilung Einbildung« (das heißt ein Syllogismus des Typs: Aile Hunde bellen.Ein Sternbild ist der ))Hunde.Folglich bellt ein Sternbild). Der zweite Fehler besteht darin, daß eine Umkehrung (conversio) stattfindet, da naiver Weise angenommen wird,

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daß das Urteil: »jedes Wunder ist Einbildung« keine besondere Bestimmung der Art von Einbildung verlange, die mit dem Wunder identisch sein soll (was nur dann möglich wäre, wenn daraus hervorginge, daß »alle Einbildungen Wunder sind«). d) Das Wunder ist keine Synthese der Erkenntnis und keine logische Zweckmäßigkeit. Aber es ist ebensowenig eine Synthese aus dem Bereich des Wiliens oder die Synthese von Freiheit und Notwendigkeit. Damit sind wir an einem außerordentlich wichtigen Punkt unserer Überlegungen angelangt. Denn wenn es keine willensmäßige Synthese ist, kann es keinesfalls das Ergebnis von Willensvorgängen, zum Beispiel eines Gebets oder einer besonderen Tat, sein. Man kann natürlich der Meinung sein (und ist es oft auch), daß dieser bestimmte Mensch nur geheilt worden ist, weil er viel gebetet oder gefastet oder überhaupt ein sittlich hochstehendes, tugendhaftes Leben geführt hat. Wer so denkt, hat aber von der eigentlichen Natur des Wunders noch nichts verstanden. Denn das hieße ja, daß es sich tatsächlich um eine willensmäßige Synthese von Freiheit und Notwendigkeit handelt. Ich stelle mir eine frei gewählte Aufgabe und bemühe mich, allen empirischen Widrigkeiten zum Trotz, sie zu erfüllen. Und es gibt irgendein Ideal und einen Endpunkt für meine Bestrebungen. Dann kann es geschehen, daß das Ergebnis meiner Anstrengungen genau mit dem zusammenfällt, was in der Aufgabe als Ideal verborgen ist, was zwar außerhaib von mir liegt, aber doch für mich notwendig ist. Freiheit und Notwendigkeit fallen in einem Punkt zusammen und bilden eine Synthese. Ein Wunder hingegen ist etwas ganz anderes, ein Wunder geschieht nicht, weil ein Mensch sich besonders angestrengt hat oder besser ist als die anderen. Davon hängt es ganz und gar nicht ab, und herauszufinden, was für Menschen es sind, denen Wunder widerfahren, ist sehr schwer. Vom Wunder als von einer willensmäßigen Synthese zu sprechen, bedeutet, es im Bereich der Moral anzusiedeln, bzw. die Moral in einen Bereich hineinzutragen, der nur eine ganz entfernte Beziehung zu ihm hat. Eine derartige Auffassung würde dazu führen, jede gelungene Handlung, jede gelungene Tat als Wunder anzusehen. So gesehen wäre zum Beispiel ein Kind, das laufen lernt, ein Wunder. Oder ein Geiger, der sein Instrument mit großer Vollkommenheit beherrscht. Oder der Bau einer Lokomotive, die in der Lage ist, riesige Entfernungen zu überwinden. Alle menschlichen Handlungen und Taten, die sich ein bestimmtes Ziel (sei es hoch oder niedrig, bedeutend oder weniger bedeutend) setzen und dieses Ziel erreichen, wären Wunder. Aber eine solche Ausweitung des Wunderbegriffs widerspricht dem allgemein üblichen Wortgebrauch, ganz abgesehen von der moraiistischen Beschränktheit, die der ungeheuren Weite des mythischen und religiösen Bewußtseins damit verliehen wird.

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e) Ein Wunder ist auch keine ästhetische Synthese und setzt keinen besonderen Gefühlszustand voraus, obwohl es sich darin, wie überhaupt in allem, widerspiegelt. Es als ästhetische Synthese zu betrachten, ist ebenso unmöglich wie es für eine logische oder praktische zu halten. Die ))wissenschaftliche((Behauptung, daß es keine Wunder gebe, trifft vollkommen daneben, weil das Wunder gar keinen Anspruch auf wissenschaftliche oder logische Beweisbarkeit erhebt. Genauso falsch ist es, Wunder und Moral zu verbinden, denn Wunder geschehen außerhalb jeder Moral, außerhalb von Pflicht und Schuldigkeit und Verantwortung. Auch einem Verbrecher kann ein Wunder widerfahren, trotz seiner verbrecherischen Taten und trotz seines Lebens. Und ein Wunder ist schließlich auch kein gefühlsmaßiger Selbstgenuß und die Betrachtung eines von der Realität abgelösten Kunstwerks. Logik und Wissenschaft möchten beweisen, daß Wunder auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruhen, und tun d e s übrige als bloße Einbildung ab; die Moral versteht das Wunder als Ergebnis von Willensanstrengungen und als Belohnung für tugendhaftes Leben. Das Gefuhl, die Ästhetik sieht die Schönheit des Wunders und betrachtet das Objekt ihrer Wirksamkeit als abgehobenes, »interesseloses«, künstlerisches oder ästhetisches Sein, als etwas ))Schönes«oder »Wunderbares«.Alles das hat mit dem eigentlichen Wunder nichts zu tun, es wirkt dürftig und armselig in bezug auf das, was das eigentliche Wesen des Wunders ausmacht. f) Letztendlich unterscheiden wir also vier verschiedene Arten von Zweckmäßigkeit: Erstens die logische, deren Ergebnis der Organismus ist. Zweitens die praktische oder willensmäßige, deren Resultat die technische Vollkommenheit ist (in bezug auf den Menschen die vollkommene Moral). Drittens die ästhetische, deren Ergebnis das Kunstwerk ist. Viertens die mythische, oder personhafte, deren Ergebnis das Wunder ist. Ich spreche hier nicht von faktischer Zweckmäßigkeit als solcher, da sie immer relativ ist und von diesen vier Möglichkeiten abhängt. Ein Erdbeben auf der Krim ist faktisch schrecklich. Mythisch gesehen (von anderen Gesichtspunkten muß hier nicht die Rede sein) ist es zur rechten Zeit eingetroffen, und es ist sogar tröstlich, daß es dort und jetzt ~ t a t t f i n d e . ~ 7. a) Was verstehen wir nun unter mythischer oder personhafter Zweckmäßigkeit? Organismus und Norm waren die Resultate logischer und praktischer Zweckmäßigkeit, beide haben für den personalen Bereich keine Bedeutung. Für die Person, als eine unteilbare Ganzheit, muß

" Diese Zeilen wurden in der Zeit des Erdbebens auf der Krim im Jahre 1927 geschrieben. Die Anmerkung datiert von 1930.4

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eine neue Zielvorstellung, die weder für den Willen noch für die Erkenntnis konstitutiv ist, gewonnen werden. Was will die Person als Person? Sie will natürlich die absolute Selbstbegründung. Sie will von nichts und niemandem abhängig sein, zumindest nicht ihrer inneren Freiheit beraubt werden. Sie will nicht in Einzelteile auseinanderfallen, sich nicht in Widersprüche verstricken, nicht in Finsternis und Nicht-Sein untergehen. Sie wiü die ewige Glückseligkeit, wie die Götter, die frei und unabhängig im unendlichen Frieden und der geisterfüllten Stille ihres lichten Seins leben. Und wenn nun die bunte, ereignisreiche, äußere Geschichte eines Menschen, der im Halb-Dunkel einer schwachen, kränklichen Existenz dahindämmert, plötzlich an einen Punkt kommt, wo diese ursprüngliche und immerwährende Bestimmung der Person plötzlich aufleuchtet und ein Zustand der Glückseligkeit erreicht wird, in dem die quälende Leere und der grausame Lärm der Empirie überwunden sind, dann bedeutet das, daß sich ein Wunder vollzieht. Plötzlich wird das reine, lichte Bild, das von Ewigkeit her verhöhnt, verachtet, erniedrigt und beleidigt auf dem Grunde der Seele ruht, wieder lebendig und ersteht als heller, frischer Morgen des Seins. Das, was war, ist nicht untergegangen, wir tragen es als ewige Heimat in uns. Die Gegenwart hat ihre Wurzeln in der Tiefe der Jahrhunderte und nährt sich von ihnen. Das HeirnatlichEwige ist im Herzen der Menschen verborgen, wir ahnen es nur, so wie manchmal eine Melodie oder ein Bild aus Kindertagen in uns aufsteigt und wieder verschwindet. Im Wunder tritt plötzlich die unvergängliche Vergangenheit der Jahrhunderte, die immerwährende Ewigkeit des Vergangenen zutage. Nach mühsamen Wanderungen kehren wir in den Frieden, in die lebendige Stille unserer ewigen Heimat zurück. Alles, woraus die Seele gelebt hat, der Lärm des Seins, die leere Unrast des Lebens, alles, was die Existenz von Grund auf verdorben und krank gemacht hat, fliegt wie ein leichtes Federchen davon, und die Kindlichkeit dieses neuen, lichten Lebens läßt uns lächeln. Alle Sünden sind vergessen und vergeben, glückselige Müdigkeit ergreift alles Fleisch, und der Morgen eines erfrischten, jungen Geistes ersteht in hellem Licht. b) Natürlich kann dieser glückselige Zustand in vielfältigster Weise zum Ausdruck kommen, und wir kommen damit zu zwei wesentlichen Ergebnissen. Erstens sehen wir, daß jede Kleinigkeit der mythischen Wunderwelt ihren Sinn und ihren dialektischen Ort hat. Sagenhafte Helden zum Beispiel (wie Svjatogor in den russischen Bylinen) mit ihren übernatürlichen Kräften und ungeheuren Taten sind aus diesem Wissen um die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen entstanden, denn auch die physische Kraft gehört zur absoluten Selbstbegründung der Person. Alle Ereignisse der mythischen

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Welt, die fliegenden Teppiche, Tischlein-deck-dichs, Wunderkräuter, Tarnkappen usw. sind Erscheinungen von Kräften, Fähigkeiten, Erkenntnissen der von der absoluten Selbstbegründung her verstandenen Person des Menschen. Je nachdem, wie man sich diese glückselig in sich selbst gründende Person vorstellt, unterscheiden sich auch die verschiedenen Typen des Wunders - ebenso wie diejenigen des Mythos. Der Verwandlungszauber ist ein Wunder, weil hier das empirische Leben der Person mit einem Aspekt ihres Idealzustands, und zwar mit ihrer Allgegenwart und Vielfalt, zusarnmengefalien ist (wenigstens bis zu einem bestimmten Grad). Und weil diese Verbindung hier sichtbar geworden ist, sprechen wir von Wunder. All die verschiedenartigen Vertreter teuflischer, unreiner Mächte gehören zum Beispiel hierher: Satan, Dämonen, Teufel und Teufelchen usw. Überall sind Abgehobenheit und sinnliche Präsenz verbunden und werden vom Standpunkt des reinen ursp~nglichenSeins aus beurteilt. So sehr sich auch Nihilisten und Aufklärer wehren mögen: Es gibt Dämonen, und nur der bemerkt sie nicht, der sich von ihnen blenden läßt und sich in ihrer Macht befindet. Man muß ja nicht glauben, daß es nur die bösen Mächte gibt, die wir aus den klassischen Religionen kennen. Die heutigen Teufel treten in philosophischem, künstlerischem, wissenschaftlichem Gewand auf.x Übrigens wird der Teufel meist verniedlicht wie d e s auf der Welt. Wenn man sich die gewaltigen Dämonen Indiens vor Augen hält, kann man mit vollem Recht sagen, daß irn Vergleich mit der tiefen Melancholie der Baghavadgita der Nihilismus und Pessimismus Baudelakes wie die Laune einer Rentnerin erscheint, der man die Tränen eines reifen Mannes gegenüberstellt. Kann man Dämonen denn überhaupt begreifen, wenn:y »die dunkle Welt versinkt in Sünden, in Sünden, die nicht vergehen werden, die übelriechenden Seelen ersticken in ihren Sünden, und die Sünder wissen nichts von Erlösung und nichts von göttlicher Güte.«45 Es ist, zweitens, leicht zu sehen, da13 der Wunderbegriff relativ ist. Wenn wir eine bestimmte Sache gesondert betrachten, zum Beispiel rein materiell oder historisch, und sie vom logischen, praktischen und X Über die weltlichen Gestalten des Teufels k a m man sich zum Beispiel bei J. MatuSevskij: Der Teufel in der Poesie, übersetzt von V. M. Lavrov. Moskau 1902, informieren. Interessantes Material dazu liefert auch F. H. Rjazanskij: Dämonologie in der altrussischen Literatur. Moskau 1915, ebenso bei S.Maximov: Unheimliche, unreine Mächte und die Macht Christi. Y MatuSevskij. op.cit., S. 278.

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ästhetischen Standpunkt aus beurteilen, dann ist sie kein Wunder. Wenn wir sie jedoch in Beziehung zu ihrem ideal-personhaften Sein setzen, ist sie unbedingt ein Wunder. Als Wunder erscheinen die Dinge, wenn sie sich in geistig-mystische Bereiche erheben. In der >)Vita des ehrwürdigen Gregor des S i n a i t e n ~lesen ~ ~ wir: »Die Seele, die zu Gott aufsteigt, um sich zu vollenden, sieht die ganze Kreatur in hellem Licht wie in einem Spiegel, oder wie der Apostel Paulus berichtet: [))Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren] - ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich's nicht.. . [da ward derselbe entrückt bis an den dritten Himmel« (2. Kor. 12,2)]; dieser Aufstieg zu Gott, dieses Entrücktsein endet dann, wenn ein Hindernis entsteht und der Mensch gezwungen ist, wieder zu sich selbst zurückzukehren.« Es gibt viele Beispiele dafür, daß jemand die Schöpfung, die Kreatur als Wunder ansieht; um niemanden vor den Kopf zu stoßen, möchte ich hier nicht die Heiligenviten anführen, sondern einige entsprechende Passagen aus der weltlichen Literatur zitieren. In Dostoevskijs »Brüdern Karamazov« findet sich folgende Erzählung:" »In meiner Jugend, das ist lange her, vor vierzig Jahren, wanderte ich mit Vater Anfirn durch ganz Rußland, um Almosen für unser Kloster zu sammeln, und eines Abends übernachteten wir zusammen mit einigen Fischern an einem großen schiffbaren Fluß. Ein wohlgestalteter Jüngling, dem Aussehen nach ein Bauer von etwa achtzehn Jahren, setzte sich zu uns; er hatte sich beeilt, an Ort und Stelle zu sein, weil er am nächsten Morgen ein Kaufmannsschiff am Ufer entlangziehen sollte. Und ich sah, wie er mit stillem klaren Blick vor sich hinschaute. Die Nacht war ruhig und heil, eine warme Julinacht, vor uns lag der breite Fluß, Nebel stiegen von ihm auf und erfrischten uns, ein Fischlein plätscherte leise, die Vöglein waren verstummt, alles war stiil, herrlich, alles betete zu Gott. Und nur wir beide, dieser Jüngling und ich schliefen nicht, sondern sprachen von der Schönheit der Gotteswelt und ihrem großen Geheimnis. Jedes Grashälmchen, jedes kleinste Tierchen, jede Ameise und jede goldene Biene kennt seinen Weg auf wunderbare Weise, legt, ohne Verstand zu besitzen, Zeugnis ab vom Geheimnis Gottes und vollendet es durch sein Dasein. Und ich sah, wie das Herz des lieben Jünglings erglühte. Er vertraute mir an, daß er den Wald liebe, die Waldvögelein; er war Vogelfänger, konnte jeden Vogel herbeilocken und kannte ihre Sprache: »Besseres als den Wald kenne ich sonst nichts«, sagte er, »jaund alles ist gut«. ))Wahrlich«,antwortete ich ihm,« alles ist gut und wunderbar, denn alles ist Wahrheit. Schau dir das Pferd an«, sagte ich zu ihm, »dieses große Tier, das dem Menschen so nahesteht, oder den Ochsen, der ihn nährt und für ihn arbeitet, traurig und nachdenklich, schau ihre Gesichter an: wie demütig sind sie, wie ergeben dienen

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sie dem Menschen, der sie so oft erbarmungslos schlägt, welche Sanftmut, welche Zutraulichkeit und welche Schönheit liegt in ihrem Blick. Und wie ergreifend ist es zu wissen, daß sie ohne Sünde sind, denn d e s ist volikornrnen, alles außer den Menschen ist sündlos, und Christus ist eher mit ihnen als mit uns«. »Ist denn Christus auch mit den Tieren?«fragte der Jüngling. »Wie könnte es denn anders sein«, sagte ich zu ihm, ))das Wort Gottes ist für d e da, die ganze Schöpfung, alle Kreatur, jedes Blättchen strebt zu ihm hin, singt Gott zum Ruhm, fleht zu Christus, ohne ihn zu kennen, und trägt durch das Geheimnis seines sündlosen Daseins zur Vollendung bei«. Hier haben wir ein sehr schönes Beispiel dafür, wie man dereinfachste Dinge als Wunder ansehen und interpretieren kann. Als Wunder stellt sich auch die Welt jener Einsiedlerin Fevronija dar, von der V. J. Bel'skij und N. A. Rimskij-Korssakov in der »Erzählung von der Stadt Kitei« berichten, die auf einer volkstümlichen Legende beruht. Daraus stammt der folgende Text aus dem »Lobpreis der Einsiedelei": A c h du, mein Wald, du Ort meiner Einsamkeit, Eichenhain du, mein herrliches Reich! Wie eine liebende Mutter hast du mich gehegt und gepflegt. Hast Du Dein Kind nicht erfreut und erheitert, das Kleine, Dumme zum Lachen gebracht? Tagsüber liebliche Lieder gesungen, Und nachts zaubrische Märchen erzählt? Vögel und Tiere spielten mit mir und wie fröhlich konnten wir scherzen, und wenn böse Träume mich quälten, gab das Rauschen der Blätter mir Ruh. Dank sei dir, mein grünes, einsames Reich, für alles: für deine herrliche Schönheit, für die Kühle zur Mittagszeit und die feuchte Frische der Nacht, für die grauen Nebel am Abend und die Perlen des Taus in der Frühe, für das Schweigen sei Dank, das du mir gegeben, für tiefe Gedanken, für Freude und Stille...(( Und weiter: >)Tagund Nacht dienen wir Gott mit Weihrauch und Lobgesängen; die helle Sonne leuchtet uns tags,

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nachts flimmern die Sterne wie Kerzen, immer erklingen liebliche Lieder, Vögel und Tiere und alles, was atmet, singt und jubelt zum Ruhme der herrlichen Schöpfung. Herrlicher Himmel, du Gottesthron,' sei gepriesen in Ewigkeit! Und Du Mütterchen Erde trage ihn sicher und gut!«& Die Geburt eines Kindes ist wissenschaftlich gesehen das notwendige Resultat bestimmter natürlicher Vorgänge, vom Wilien her ist es das Resultat des Wunsches der Eltern, Kinder zu haben, vom Gefühl her kann das Kind als ein wunderschönes Geschöpf angesehen werden. Aber wenn man es im Hinblick auf den ewig-glückseligen, absolut in sich selbst gründenden Urzustand der Person betrachtet, der die ewige Geburt und das ewige Werden sozusagen als ewige Selbsterschaffung und Selbsthervorbringung in sich trägt, dann ist die Geburt eines Kindes ein Wunder, so wie es für Satov im Roman Dostoevskijs: »Die Dämonen« ein Wunder war: »Freun Sie sich, Anna Petrovna, es ist so eine große Freude.. .(C stammelte Satov mit töricht-glückseligem Gesicht.. . »Das Geheimnis der Erscheinung eines neuen Wesens ist ein so großes und unerklärliches Geheimnis.« Satov murmelte zusarnmenhanglos vor sich hin, wie trunken vor Begeisterung. So als ob alles in seinem Kopf schwankte und die Worte ohne sein Zutun aus seiner Seele flössen. >)Erstwaren nur zwei Menschen da, und jetzt gibt es plötzlich einen dritten, einen neuen Geist, ganz und volikommen, so wie Menschenhände ihn nicht erschaffen können, ein neues Denken und eine neue Liebe, es ist fast schrecklich.. . Und es gibt nichts Größeres auf der Welt.«49Und nicht nur die Geburt eines Kindes, alles auf der Welt kann als wirkliches Wunder interpretiert werden, sofern nämlich das jeweilige Ereignis im Lichte der ursprünglichen, glückseligen Selbstbegmndung gesehen wird. Eine Verbindung zu diesem Zustand kann ja in jedem Ereignis hergestellt werden. Und oft tun wir es auch ganz unfreiwillig und verhalten uns plötzlich den einfachsten Dingen gegenüber auf ganz neue Weise, weil sie uns auf einmal ganz anders, geheimnisvoll und rätselhaft erscheinen. Jeder hat schon einmal dieses merkwürdige Gefühl erlebt, daß einem plötzlich alles seltsam vorkommt, die allergewöhnlichsten Tatsachen: daß die Menschen gehen, essen, schlafen, sterben, geboren werden, sich streiten, lieben usw., und daß man plötzlich alles von einer neuen, anderen, vergessenen und verleugneten Seinsebene her beurteilt und das Leben als ein einziges Symbol erscheint, als vielschichtiger Mythos,

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als überraschendes Wunder. Sogar alles Mechanische, Mechanistische, alle »Naturgesetze« sind wunderbar, sind mythische Wunder. Es muß gar nichts besonders Seltsames und Schreckliches, nichts besonders Ungewöhnliches, besonders ins Auge fallendes, Machtvolles, Märchenhaftes geschehen, damit das mythische Bewußtsein erwacht und das Leben sich plötzlich von seiner wunderbaren Seite her erschließt. Es genügt das einfachste, alltäglichste, unbedeutendste Ereignis, daß alles plötzlich Wunder und Mythos wird. So erblickt zum Beispiel der ehrwürdige Benedikt das Weltall in einem Lichtstrahl, in einem Stäubchen; in seiner Vita heißt es: >)Vom Abend an hatte der ehrwürdige Benedikt wenig geschlafen, und so nahm er die Stunde der Mitternacht voraus, stand am Fenster und betete. Plötzlich sieht er ein gropes helles Himmelslicht, so da/3 die Nacht von Tageslicht übergossen wird: >Gibtes etwas Wunderbareres so sagte der ehrwürdige Vater zu mir - als das ganze Weltall in einem einzigen Lichtstrahl zusammengefa/3t zu sehen? < Und als der Ehrwürdige noch genauer hinschaut, sieht er einen Feuerkreis und darin Engel, die die Seele des seligen Germanus, des Bischofs von Capua emportragen.« C) So kann die mythische Zweckmäßigkeit, das Wunder in allen Dingen gefunden werden, und man kann höchstens von Stufen des Wunderbaren sprechen, das heißt eher noch von Stufen und Formen des ursprünglich glückselig-personhaften Seins und seinen Erscheinungsweisen in den Ereignissen des empirischen Daseins. Man kann sogar sagen, daß es gar keine Stufen des Wunderbaren gibt, sondern daß alles in gleichem Mape wunderbar ist. Aber dazu muß gleich hinzugefügt werden, daß jedes Ding nur als Modus eines bestimmten Aspekts des erwähnten personhaften Seins auftritt und daraus seine Bedeutung bezieht. Das könnte zu verschiedenen Abstufungen des Wunderbaren im empirischen Dasein führen, was aber nicht der Fall ist; das Wunderbare ist überall in gleicher Weise vorhanden, nur sein Objekt ist verschieden. Die ganze Welt und alles, was zu ihr gehört, alles was lebt und was nicht lebt, ist gleicherma/3en Mythos und gleichemaJ3en Wunder.

XII. Zusammenfassung aller dialektischen Momente des Mythos in Hinblick auf den Wunderbegriff Erst jetzt können wir die Frage nach der mythischen Losgelöstheit endgültig als geklärt betrachten. Es hatte uns viel Mühe gekostet, diesen Begriff nach allen Seiten hin abzutasten. Wir hatten die mythische

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Losgelöstheit mit einer Losgelöstheit von den Dingen im allgemeinen und mit der poetischen verglichen. Das Ergebnis konnte uns jedoch noch nicht zufriedenstellen. Immer wieder standen wir vor der schwierigen Aufgabe, die Sinnlichkeit, die maximale Konkretheit und rein materielle Körperlichkeit des Mythos mit seiner Jenseitigkeit,Märchenhaftigkeit, seinem allgemein bekannten »irrealen«Charakter in Einklang zu bringen. Erst jetzt ist es uns mühsam gelungen, hier zu einer Synthese zu gelangen. Diese Synthese ist das Wunder. Das Wunder ist die absolut notwendige dialektische Synthese, aus der heraus das mythische Bewußtsein lebt, ohne sie gäbe es überhaupt keinen Mythos. Und damit erhält auch die Beziehung des Mythos zu den übrigen Bereichen menschlicher Kreativität, von denen in unserer Abhandlung die Rede war, eine neue Bedeutung.

1. Der Mythos ist, so hatten wir gesagt, keine Erfindung oder Fiktion, sondern eine dialektisch notwendige Kategorie des Bewußtseins und des Seins. Damals war das eine bloße Behauptung, die wir als Antithese zu den allgemein gängigen Vorurteilen aufgestellt hatten. Für das mythische Subjekt ist der Mythos keine Fiktion, sondern eine echte Notwendigkeit, und ohne noch die wirkliche Natur dieser Notwendigkeit zu erkennen, hatten wir von vornherein behauptet, daß sie dialektischer Natur sein müsse. Und zwar deshalb, weil die Realität des Mythos eine conditio sine qua non für die Existenz des mythischen Subjekts ist. Es ist seine unmittelbare und ursprünglichnaive Lebenshaltung. Und da, wo das Leben in naiv-unmittelbarer Weise berührt wird, geht es immer um Dialektik, auch wenn dies manchmal erst bei näherer Betrachtung deutlich wird. Erst jetzt wissen wir, worin die dialektische Natur des Mythos und seine dialektische Notwendigkeit bestehen. Der Mythos ist dialektisch notwendig, weil er personhaftes und folglich historisches Sein ist, und die Person ist nur eine weitere dialektische Kategorie, die zu der des Sinns (der Idee) und der Intelligenz hinzutritt. Es ist die Synthese zweier Bereiche, der ursprünglichen, vor-historischen, nicht ins Werden übergehenden und der historischen, werdenden, empirisch-zufälligen Person. 2. Ferner hatten wir gezeigt, daß der Mythos kein ideales Sein ist, sondern tatsächlich erlebte und geschaffene, materielle Realität. Es war allerdings unklar geblieben, worin diese mythische lebensvolle Realität letztendlich besteht. Im Gegensatz zu einer immateriellen Idealität ist der Mythos außerordentlich real, besonders materiell bis zur Unheimlichkeit physisch-sinnliche Realität. Inzwischen haben wir die Natur dieser gesteigerten Realität klar herausgearbeitet. Und wir sehen

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deutlich, daß gerade das Wunder die körperliche Natur des Mythos hervorhebt, sie der Sphäre der gewöhnlichen, ordinären Körperhaftigkeit entreißt - allerdings ohne sie zu vernichten, denn ohne Körperlichkeit gibt es keinen Mythos - und sie dadurch wesenhaft konzentriert und vertieft. Dem uns bisher noch unbekannten Faktor, der einen Körper zu einem mythischen Körper macht, haben wir jetzt einen Namen geben können und damit seine dialektische Natur und Notwendigkeit aufgedeckt. 3. Der Mythos, hatten wir weiter ausgeführt, ist nicht Wissenschaft, sondern Leben, das eine eigene mythische Wahrheit und sinnhafte Struktur enthält. Über den Charakter dieser Wahrheit hatten wir noch keine Aussagen machen können. Inzwischen haben wir sie von der logischen, der praktischen und ästhetischen unterschieden. Das hat uns geholfen, den Begriff der mythischen Wahrheit klar zu definieren. Der Mythos besitzt zweifellos ein eigenes Wahrheitsverständnis, in ihm wird festgelegt, inwieweit die sich wandelnde empirische Person mit ihrer eigenen ursprünglich-idealen Unberührtheit übereinstimmt. Sie ist von jeder anderen Wahrheit unterschieden und basiert auf der Wahrheit des Wunders.

4. Der Mythos ist keine metaphysische Konstruktion, sondern stoffliche Wirklichkeit, die sich jedoch gleichzeitig vom gewohnten Lauf der Dinge abhebt und verschiedene Abstufungen enthält. Davon ist in unserer Arbeit viel die Rede gewesen. Aber erst jetzt, nachdem wir den Begriff des Wunders analysiert haben, können wir diese allgemeine Behauptung mit Inhalt füllen. Worin die mythische Losgelöstheit in ihrem gleichzeitig rein stofflich-materiellenSein besteht, wissen wir inzwischen gut. Aber wir wissen auch, was die hierarchische Natur des Mythos ausmacht. Wir haben - dialektisch - begründet, wie sie beschaffen ist, das heißt, daß sie immer nur eine vorläufige Bedeutung besitzt und bestrebt ist, sich der absoluten Selbstbegründung der Person anzunähern. In ihrem Entäußert-Sein wiederholt die Person nur die ihr eigenen, untergeordneten Momente, die in ihrem An-Sich-Sein zugleich und zumal gegeben sind. Folglich ist die Dialektik und Klassifizierung dieser Momente auch die Dialektik jener hierarchischen Stufen, in die die Person bei ihrem Übergang in ihr Anders-Sein zerfällt und die, der meonalen Natur des Andersseins entsprechend, zufällig und durcheinander im Ozean des Werdens auftauchen und verschwinden. In dieser Weise wird die hierarchische Struktur des mythischen Seins dialektisch bestimmt, abgeleitet und begründet.

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5. Der Mythos ist weder Schema noch Allegorie, sondern Symbol. Auch diese Behauptung wird durch die Analyse des Begriffs des Wunders untermauert. Ein Symbol ist ein Ding, das genau das bedeutet, was das Ding seinem Wesen nach ist. Jetzt müssen wir hinzufügen, daß das mythische Symbol ein vierfaches ist, ein Symbol vierten Grades. Erstens ist es Symbol, weil es Ding oder ein Wesen ist. Denn wir sind davon ausgegangen, daß jeder reale Gegenstand, insoweit er von uns als unmittelbar und selbständig seiend verstanden und wahrgenommen wird, ein Symbol ist. Der Baum, der vor meinem Fenster steht, ist das, was er bedeutet, er ist Baum und er bedeutet Baum. Zweitens ist der Mythos Symbol, weil er Person ist. Das heißt, es geht nicht einfach um Dinge, sondem um intelligible Dinge. Dadurch wird das erste stoffliche Symbol in ein neues intelligibles Symbol verwandelt. Auch hier geht es damm, etwas zu unterscheiden und anschließend zu einer Identität zu bringen, darum, von »SeinFilosofijairnenie durchgeführt. Moskau 1927, S. 13 und in der »Dialektika chudoiestvennoj formy*. ~ o s k a u1927, Kap. 3.

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Und da man bei einer Intelligenz auch von einer gewissen Selbstbezogenheit auszugehen hat, haben wir a) eine Selbstbezogenheit, die das Moment der Unterscheidung fixiert, das heißt, sie betrachtet sich als von etwas anderem begrenzt und ist damit Erkenntnis. b) Ferner haben wir eine Selbstbezogenheit, die sich zwar von einem Anderssein begrenzt sieht, aber danach trachtet, dieses in sich aufzunehmen, sich mit ihm zu vereinen, so daß eine bewegliche Grenze, ein Übergang in ein Anderssein möglich wird; es geht hier um Streben, Sehnsucht, Wille (diese letzteren Unterscheidungen müssen uns hier nicht interessieren). C)Die Selbstbezogenheit, die in ein Anderssein übergegangen ist, findet dort sich selbst, so daß die Notwendigkeit eines weiteren Übergangs wegfällt, die Entwicklung kommt zum Stilistand, erreicht eine äußere Grenze, die sie nicht mehr überschreitet, sie kehrt in sich selbst zurück; Subjekt und Objekt der Selbstbezogenheit vereinen sich hier zu einer um sich selbst, um ihr eigenes Zentrum kreisenden Intelligenz, das ist das Gefuhl. Die Dialektik der Intelligenz sieht also folgendermaßen aus. a) Erkenntnis, oder wenn Sie wollen, »theoretische Vernunft((.b) Wiile, »praktische Vernunft* und C) Gefühl, ))ästhetischeVernunft«. Der Bereich des Faktums, der Person ist damit noch nicht berührt, sondem nur der des Sinns, der Idee bzw. der einer modifizierten Idee, einer durch die Intelligenz modifizierten Idee. Erst danach geht es um die Dialektik der Person. Jede Kategorie der Dialektik ist ein Gesetztsein der vorhergehenden in dem sie umgebenden Anderssein und erhält folglich aus der Verbindung mit diesem Anderssein, aus der Synthese mit ihm, neue Eigenschaften. Anders gesagt, jede Kategorie verkörpert die vorhergehende, ahmt sie nach; letztere ist deren Muster und Paradigma. Erstere ist die vom Anderssein modifizierte vorhergehende Kategorie. Deshalb ist auch die Person erstens eine faktische, das heißt eine sich im Anderssein verwirklichende Intelligenz, und zweitens Verwirklichung und Verkörperung aller drei Momente der Intelligenz. Aus der Erkenntnis erwächst die Wissenschaft. Aus dem Wilien die Moral. Aus dem Gefühl die Kunst. Wissenschaft, Moral und Kunst sind drei Aspekte der schöpferischen Inteliigenz, die durch ein unauflösliches, dialektisches Band miteinander verbunden sind. b) Aber was wird aus diesen Bereichen, wenn wir sie nicht einfach als Formen der Intelligenz, sondem als Formen einer faktisch-substantiell vewirklichten Intelligenz, als Formen des substantiell-personhaften Seins betrachten? Dann betreten wir den Bereich der Religion. Die Religion strebt nach der substantiellen Selbstbegründung der Person, das heißt nach ihrer Selbstbegnindung in der Ewigkeit. Von dem partiellen bzw. defizienten Sein der Person wollen wir einstweilen noch nicht sprechen. Uns geht es erst einmal nur um die Person als solche, um ihr

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Wesen und ihre Natur. Und es ist deutlich, daß das Leben der Person in diesem Sinne verstanden nichts anderes ist als Religion. Und Religion ist Widerspiegelung und Verkörperung der umfassenden Intelligenz. Wie sehen unsere drei dialektischen Stufen im Bereich der Religion aus? Erkenntnis und Wissenschaft werden hier zu Theologie; Wille und Verhalten - normiertes Handeln, bzw. Moral - werden zu religiösem Verhalten, und im besonderen zum Ritus. Und was wird aus dem Gefühl, dem die Ebene des Kunstwerks entspricht, wenn man es in die religiöse Sphäre einordnen wili? Ich behaupte, daß das Gefühl hier dem Bereich des Mythos, der Mythologie zuzuordnen ist. Im künstlerischen Bild vollzieht sich die Rückkehr zu einer naiven Wirklichkeit, wenn das Subjekt zur Ruhe gekommen ist, wenn es nicht mehr mühsam nach den Gesetzen seines zufälligen Daseins suchen und sein Verhalten mit der aufgefundenen Norm in Übereinstimmung bringen muß. Im reinen Gefühl, dem subjektiven Korrelat des Kunstwerks, wird erneut ein naives Gleichgewicht der Intelligenz gefunden, der Mensch wird gleichsam wieder zum Kind, bei dem alle Erkenntnisprobleme gelöst und alle Fragen nach Verhaltensnormen beantwortet sind. Im Mythos ist auch das belehrende, »theoretische« Moment (das in seiner isolierten Form zur Theologie wird) in der ))praktischen« Sphäre (die zum Ritus gehört), das heißt in einem lebendigen Geschehen mit entsprechenden Taten und Ereignissen aufgelöst. Es entsteht sozusagen ein prinzipiell-religiöses, von Sinn erfulltes Verhalten, oder ganz allgemein, ein lebendiger Lebenslauf, eine heilige Geschichte, Mythologie. Dialektisch gesehen gehen Theologie und Ritus der Mythologie voraus, das heißt, sie werden in ihr zu einer Synthese vereint. Zwischen Mythologie und Theologie besteht die gleiche dialektische Beziehung wie zwischen Kunst und Wissenschaft, und zwischen Mythologie und Ritus die gleiche wie zwischen Kunst und Moral. Ebenso muß man sagen, daß die Beziehung von Theologie und Religion dialektisch der von Erkenntnis und Wissenschaft zum Leben entspricht, daß die Beziehung des Ritus zur Religion das gleiche ist wie die von Moral und Leben, und daß schließlich die Beziehung der Mythologie zur Religion die gleiche ist wie die zwischen Kunst und Leben. C) Damit haben wir das Verhältnis von Mythologie und Religion deutlich und genau herausgearbeitet. Mythologie ist - dialektisch gesehen - nicht möglich ohne Religion, denn sie ist nichts anderes als die Widerspiegelung des reinen Gefühls und seines objektiven Korrelats - des künstlerischen Bildes - in der Sphäre der Religion. Ohne Religion und ohne die Frage nach der (zumindest teilweisen) substantiellen Selbstbegründung der Person in der Ewigkeit (zumindest einer partiellen Ewigkeit) gibt es keine Mythologie. Aber wir

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sehen auch deutlich, daß Mythologie an sich keine Religion ist, daß sie nicht von ihr hervorgebracht wird, und Religion selbst keinesfalls nur Mythologie ist. Religion ist, nach unserer Formulierung, substantielle Begründung in der Ewigkeit. Folglich muß sie Formen schaffen, in denen sich diese Begrundung faktisch vollziehen kann. Anders ausgedrückt: Das Wesen der Religion besteht in den Sakramenten. Sie sind weder Theologie und haben nichts mit Wissenschaft und Erkenntnis zu tun, noch sind sie Ritus bzw. normiertes Verhalten und Moral, noch Mythologie bzw. heilige Geschichte oder Kunst, noch Symbol, noch Gefühl, mag dieses letztere auch noch so rein, geläutert und religiös sein. Die Sakramente sind Formen der substantiellen Begründung der Person als solcher in der Ewigkeit. Im Christentum sind Sakramente nur deshalb möglich, weil es die Kirche gibt. Die Kirche ist der Leib Christi. Christus ist der Gottmensch, das heißt einzige und alleinige Substanz Gottes und des Menschen. Und die Sakramente sind die universale Emanation des Gottmenschentums, immerwährende Möglichkeit und HiUe für den Menschen, der sich substantiell in der Ewigkeit zu gründen sucht. Deshalb haben wir bei der Analyse der Wechselbeziehung von Mythologie und Religion behauptet, daß die Mythologie im Vergleich mit der letzteren der Poesie sehr viel näher steht. Theologie ist religiöse Wissenschaft, Ritus ist religiöses Verhalten und Mythologie ist religiöse Poesie und Kunst. Die Religion selbst ist weder das erste noch das zweite, noch das dritte. Und die Versuche, Religion auf Wissenschaft und Erkenntnis, auf Moral und Verhalten oder auf Ästhetik und Gefühl zurückzuführen, sind allesamt lächerlich und armselig. d) Mythologie ist zwar nicht denkbar ohne Religion, dennoch geht es ihr nicht um die substantielle und absolute Selbstbegründung der Person. Sie ist eher eine energetische, phänomenbezogene Selbstbegrundung, in der das Substantielle und Absolute zwar logisch vorhanden und dialektisch notwendig ist, aber nicht unmittelbar und direkt angestrebt wird. Man kann auch sagen, daß die substantielle Selbstbegründung immer auf irgend eine Weise im Mythos enthalten ist, er selbst ist aber nur ihr Sinn, ihre Idee, ihre Darstellung und ihr Antlitz. Der Mythos als solcher, als Bild, als Darstellung, muß das Problem der substantiellen Hervorbringung der Person nicht enthalten. So setzt natürlich die mythische Gestalt des Odysseus, der die Bewohner der Unterwelt durch sein Blut zu neuem Leben erweckt, voraus, daß das mythische Bewußtsein, das diese Gestalt hervorgebracht hat, intuitiv etwas von ewigem Leben, Auferstehung, von der geistigen Verfassung und Allmacht auch des Unbeseelten (zum Beispiel des Blutes) usw. weiß. Also von Aspekten der Person im Lichte ihrer absoluten Selbstbegründung. Danach und nach den realen Beziehun-

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gen dieser Begründung zu irdischen Ereignissen wird hier nicht gefragt. Der Mythos von Odysseus beschränkt sich auf eine bildhafte Beschreibung des Geschehens, ohne die religiösen Hintergründe zu beurteilen. Was in anderen Mythen jedoch durchaus der Fall sein kann. Normalerweise genügt es aber, daß die Elemente der ursprünglichen absoluten Sebstbegründung nur als Hintergrund vorhanden sind, als selbstverständliche Voraussetzung. Das mythische Bewußtsein, das den Mythos von Odysseus geschaffen hat, nährt sich von religiösmystischen Intuitionen, die aber nicht selbst dargestellt werden, sie werden nur instrumentell benutzt und kommen in den mythischen Bildern und Gestalten nur sehr partiell zum Ausdruck, alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die dargestellten Fakten und Ereignisse. Ein Mythos, wie der von Odysseus, ist keine Religion, aber es gibt Mythen, die man durchaus als Religion bezeichnen kann, zum Beispiel alle, die mit den Mysterien verbunden sind. Der Mythos von Demeter und dem Raub der Kore, der den hellenischen Mysterien zugmndeliegt, ist schon kein Mythos im eigentlichen Sinne mehr, sondern Religion, die allerdings in mythischer Weise zum Ausdruck gebracht wird (sie konnte auch anders ausgedrückt werden, zum Beispiel philosophisch - bei den Pythagoräern und Platon, künstlerisch bei den Tragikern, usw.). 8. Der Mythos ist, so hatten wir weiter ausgeführt, nicht Dogma, sondem Geschichte. Auch dieser Aspekt kann auf dem Hintergrund der Analyse des Wunderbegriffs jetzt klarer umrissen werden. Vor allem ist deutlich geworden, daß der Mythos vielschichtig ist und einen dialektischen Widerspruch enthält. Auch er, der als Verkörperung des Gefühls und seines objektiven Korrelats, des künstlerischen Symbols, in der religiös-personhaften Sphäre entstanden ist, kann als Dreiheit aufgefaßt werden. Es hindert uns nichts daran - und die weitere Überlegung fordert es sogar -, vom Prinzip der Person auszugehen. So wie das »Eine«,wenn es in das »Andere«übergeht, sich in »Werden« verwandelt, und die Erkenntnis, wo sie sich im Anderssein befindet, Verhalten,Wille und Streben wird, so wird die ursprüngliche Person in ihrer Ganzheit und Unberührheit im Anderssein zur historischen Person, sie bekommt ihre eigene Geschichte. Aus unserer Analyse geht dabei deutlich hervor, daß es sich hierbei um heilige Geschichte handelt. Um das dritte Glied zu finden, das heißt die Synthese der inneren Dialektik des Mythos, müssen wir uns daran erinnern, daß der Mythos nicht nur historisches Ereignis, sondern Wort ist. Das Wort ist die Synthese des idealen Prinzips der Person und ihrem Eintauchen in die Tiefen der geschichtlichen Entwicklung. Das Wort ist erneuerte und neu verstandene Person. Sie kann sich nur aus der

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Berührung mit dem Anderssein neu verstehen und begreifen, wenn sie - von ihm abgestoßen - sich von ihm unterscheidet und damit die historische Ebene erreicht. Das Wort ist die historisch gewordene Person, die durch die Unterscheidung vom Anderssein zur Stufe der Selbsterkenntnis gelangt ist. Das Wort ist das zum Ausdruck gekommene Selbstbewußtsein der Person, einer Person, die sich als Intelligenz erkannt hat. Es ist die Natur, die sich zu einem aktiven Selbstbewußtsein entfaltet hat. Person, Geschichte und Wort sind die drei dialektisch aufeinander bezogenen Ebenen, aus denen der Mythos besteht. Sie machen die Struktur, den Aufbau des Mythos und der Mythologie aus. Deshalb enthält jede reale Mythologie, erstens, die Lehre von einem ursprünglichen heilen und lichten Sein oder einfach die Lehre vom ursprünglichen Wesen, zweitens einen theogonischen, historischen Prozeß, und drittens das zur Stufe des Selbstbewußtseins im Anderssein vorgedrungene ursprüngliche Wesen. Hier haben die Verschiedenheiten der religiösen Systeme ihren Ursprung, aus dem Charakter dieses dreigliedrigen Aufbaus kann man die einer Mythologie zug-ndeliegende Idee erschließen. Eine Idee kommt in der griechischen Mythologie zum Ausdruck, wo Uranus und Gea aus dem Chaos entstehen und ein Entwicklungsprozeß bis hin zu dem hellen Reich der olympischen Götter einsetzt; eine andere Idee ist die der aus zwei Bestandteilen bestehenden christlichen Mythologie: der Bereich der göttlichen Dreieinigkeit und der mythischen Geschichte der Schöpfung, des ursprünglich sündenlosen Zustands des Menschen, des Sündenfalls und des Übergangs in eine schlechte Vielfalt, der Buße und der Wiederherstellung des verlorengegangenen Bundes, des neuen und endgültigen Abfalls und der neuen, nun endgültigen Auferstehung und Rettung. Der alte Adam, der neue Adam, der satanische Zorn des Geistes der Vernichtung, das Jüngste Gericht, Hölle und Paradies sind notwendige dialektische Kategorien dieses Systems, die mit einem unauflöslichen Band verbunden sind. Alter und neuer Adam, Hölle und Paradies haben ihre Dialektik, die aber nur bei der Besprechung besonderer mythologischer Systeme thematisiert werden sollte. Eine dritte Idee liegt schließlich der neuzeitlichen Mythologie zugrunde, die auch von einem Chaos ausgeht, aber nicht vom griechischen, sondern von einer Art Urbrei, der »Materie«, mit der Antithese von ))Kraft«und »Bewegung«,von der man nicht weiß, von wem und wohin sie gelenkt wird, einem Reich des absoluten Zufalls und der blinden Selbstbehauptung, und der Synthese einer Mechanik der Atome, die weder Seele, noch Bewußtsein, noch vernünftigen Willen, noch Geschichte enthält. Eine vierte Idee schließlich findet sich in jener Mythologie, die die Wahrheit der zweiten von uns angeführten Mythologie kennt, in der Umklammerung durch die dritte

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zu ersticken droht, und ohne in der Lage zu sein, sich daraus zu befreien, eine dumpfe, unergründliche Lebensgier empfindet, eine Sehnsucht nach dem glückseligen, friedlichen und naiven Urzustand des Geistes, in dem es keine Trennung gibt, wo Heimat und Ewigkeit in eine einzige Liebkosung des Seins zusammenfließen. Ich glaube, daß das Ur-Symbol einer solchen Mythologie von Dostoevskij in seinem Roman »Schuld und Sühne«zum Ausdruck gebracht wird: »Wo habe ich nur gelesen«, dachte Raskolnikow irn Weitergehen, ndaß ein zum Tode Verurteiler eine Stunde vor seinem Tod gesagt oder gedacht hat, wenn er auf einem hohen Felsen leben müßte, auf einem winzigen Plätzchen, wo nur seine beiden Füße Platz hätten, umgeben von Ozean, ewiger Finsternis, ewiger Einsamkeit und ewigem Sturm, und er auf diesem Fleckchen ein ganzes Leben lang, tausend Jahre, die Ewigkeit hindurch stehen müßte, daß so zu leben, besser sei, als jetzt zu sterben! Nur leben dürfen, leben! Irgendwie leben, aber leben!. .. Welche Wahrheit! Herr Gott, welche Warheit! Ein Schuft ist der Mensch!. .. Und ein Schuft ist der, der ihn dafür so nennt,« fügt er nach einer Pause hinzu.50Aile diese mythologischen Ideen, die indische, die ägyptische, die griechische, die orthodox-christliche, die katholische, die protestantische, die atheistische usw. bilden gemeinsam eine irn universal-historischen Prozeß synthetisch-verkörperte Idee, so daß eine einheitliche universal-menschliche Mythologie entsteht, die den einzelnen Völkern und ihren Weltanschauungen zugrundeliegt und sich auf dem Wege der Ablösung eines religiösmythologischen, und folglich historischen Systems durch ein anderes verwirklicht. Diese einzelnen mythologischen Systeme darzustellen und ihre Einheit in einer sie alle umfassenden, allgemeinen Mythologie aufzuzeigen, ist jedoch die Aufgabe unserer weiteren . ~ ~Dialektik schon sehr ins Einzelne gehenden U n t e r s ~ c h u n g e nDie des Mythos geht über in eine Dialektik der einzelnen, besonderen, historischen Formen der Mythologie.

XIII. Endgültige dialektische Formel Erstens. Unsere Analyse des Begriffs des Mythos ist hiermit beendet. Weitere Überlegungen würden uns keine neuen Gesichtspunkte liefern, obwohl man unsere Schlußfolgerungen auch anders formulieren und darstellen könnte, so wie man auch eine schwierige mathematische Formel auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen kann, ohne eine neue Größe einführen zu müssen. Wie weit waren wir mit unserer Analyse gekommen, bevor wir den Begriff des Wunders einführten? Wir waren bei folgender Definition stehengeblieben: Der My-

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thos ist in Worten gegebene, personhafte Geschichte. Jetzt können wir sagen: Der Mythos ist in Worten gegebene wunderbare personhafte Geschichte. Das ist alles, was ich über den Mythos sagen kann. Und wahrscheinlich wird man erstaunt sein, daß als Endergebnis so langwieriger Erörterungen eine derart einfache, ja banale, allgemein anerkannte Definition herauskommt. Wer meint denn nicht, daß ein Mythos eine Erzählung ist, das heißt etwas in Worten Vermitteltes, daß in dieser Erzählung lebendige Personen auftreten und wundersame Geschichten geschehen? Ich könnte mein Ergebnis natürlich auch schwieriger und komplizierter zum Ausdruck bringen, besonders in terminologischer Hinsicht. Trotzdem habe ich es vorgezogen, auf allgemeine Termini zurückzugreifen und diese phänomenologisch klar herauszuarbeiten und eindeutig zu fixieren. Wenn ich auch die gewohnten Worte gebrauche, so doch nicht in ihrer herkömmlichen, unklaren Bedeutung, sondern in einem durchanalysierten und fixierten Sinn. Deshalb kann nur der mit meiner Formel etwas anfangen, der die Dialektik der Kategorien »Person«,»Geschichte)Jede(( lektik ist jedoch erfüllt von ganz verschiedenen, relativen Mythen, deshalb ist oft nicht deutlich, wo sich der eigentliche Ort des Mythos befindet. Die absolute Mythologie, die davon ausgeht, daß das Sein in letzter Konsequenz magischer Name ist (hier geht sie bewußt von einer Glaubenslehre aus, so wie das - bewußt oder unbewußt - jede Mythologie tut), versteht d e dialektischen Kategorien als magische Namen, denn wenn das Sein letzten Endes magischer Name ist, dann heißt das, da/3 alle einzelnen Kategorien als von ihm affiziert gedacht werden müssen. Dialektik als reines Denken ist keine Mythologie. Aber eine solche Dialektik gibt es nicht. Sie baut immer auf einer bestimmten Mythologie auf, da auch Inhalt und Struktur der Kategorien auf tausendfache Weise variiert werden können. In meiner Arbeit über die Dialektik Platons habe ich gezeigt, von welcher Mythologie sie bestimmt ist." Auch die Hegelsche Dialektik ist durch eine ganz bestimmte Mythologie bedingt. Das heißt, eine Entfaltung der absoluten Mythologie bedeutet gleichzeitig eine Entfaltung der Dialektik, dessen, was

" »OCerki antitnogo

simvolizma i mifologii~Moskau 1930. I 661-671.

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Dialektik eigentlich ist, das heißt einer Dialektik, die nicht nur auf einem von vielen möglichen Prinzipien aufbaut, sondern auf allen möglichen Prinzipien. Ein solches Unterfangen ist nicht so unmöglich, wie es auf den ersten Blick scheint. In der Hegelschen Dialektik wird die Ableitung der Kategorien meisterhaft und überzeugend durchgeführt, so daß jeder, der damit arbeitet, sich im großen und ganzen auf deren Richtigkeit verläßt. Trotzdem ist deutlich, daß dieser Dialektik eine ganz bestimmte Auffassung (das heißt meiner Meinung nach ein Mythos) zugrundeliegt, nämlich die Auffassung, daß Philosophie als Begnffslehre, das heißt als reine Logik verstanden werden muß. Folglich gründet sie sich nur auf ein Prinzip. Natürlich rnuß eine Dialektik logisch strukturiert sein, und dies in erster Linie. Aber sie ist nicht nur Logik. Sie stellt ja sogar das Postulat auf, daß Logisches und A-logisches die gleiche Bedeutung haben müssen. Und sie ist verpflichtet, auch das A-logische als eins der sie bestimmenden Prinzipien anzuerkennen. Oder nehmen wir ein anderes, noch erstaunlicheres Beispiel. Für den dialektischen Materialismus ist die Materie der Grund allen Seins. Ich hatte schon Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die Materie als Kategorie gesehen, die gleiche Bedeutung besitzt wie die Idee. Folglich ist der dialektische Materialismus eine relative - nicht eine absolute - Mythologie. Die absolute Mythologie baut auf Materie und Idee als auf zwei völiig gleichgewichtigenPrinzipien auf (obwohl sie durch die Dialektik zu einem unteilbaren Prinzip vereinigt werden). Ich wiii nun versuchen, den Aufbau der absoluten Mythologie darzustellen, und gehe dabei von den Beispielen relativer Mythologien aus, die ich oben angeführt habe. Außerdem bitte ich den Leser, sich an die im Kapitel IX.erarbeiteten Antinomien zu erinnern. Da eine reine nicht-mythologische Dialektik eine Fiktion ist, so ist auch die Dialektik, die ich dort dem rein formal-logischen Denken gegenübergesteilt habe, eine mythologische Dialektik, das heißt, um sie zu übernehmen, rnuß man notwendig an einen Mythos glauben. Nehmen wir uns die Antinomien der Reihe nach vor. 2. Als erstes hatte ich die Antinomie von Glauben und Wissen dargestellt. Der Glaube - so verlangt es die Dialektik - kann ohne Wissen nicht bestehen und ist sogar selbst Wissen (oder eine Art desselben), das Wissen wiederum kann nicht ohne Glauben bestehen und ist letzten Endes nicht anderes als Glauben (oder eine Art desselben). Die relativen Mythologien gehen entweder von einem Glauben ohne Wissen oder einem Wissen ohne Glauben aus, die absolute Mythologie kann nur einen Weg wählen: sie rnuß beiden, Glauben und Wissen, die gleiche Wertigkeit zusprechen. Sie kann das nur, indem sie beide

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vereint, so daß ein Drittes entsteht, und nur so, daß diese Vereinigung weder unter dem Vorzeichen des Glaubens noch dem des Wissens geschieht, und das Dritte als eine ganz neue, besondere Kategorie erscheint, in der die beiden anderen völlig aufgehen und zu unselbständigen, abstrakten Momenten werden. Nur so kann eine dialektische Synthese beschaffen sein, nur so können die einander feindlich gegenüberstehenden Prinzipien von Glauben und Wissen vereint werden. Man kann diese Synthese als Ur-Wissenbezeichnen, das beides, Glauben und Wissen, enthält und beides braucht. Es ist ailereinfachste und doch rein logische Synthese. Aber um sie anerkennen, verstehen und behaupten zu können, muß man auf eine entsprechende mythologische, lebensbezogene Erfahrung zurückgreifen. Ich nenne sie absolute Mythologie, sie ist immer Ur-Wissen, knosis. Fideismus und Rationalismus hingegen sind Aspekte einer relativen Mythologie. Wobei ganz deutlich wird, daß die relative Mythologie sich nur auf ein Prinzip gründet, während die absolute sich auf alle stützt. Fideismus und Rationalismus, hatte ich gesagt, sind bourgeoise, individualistische Philosophien. Sie sind aus dem Zerfall der noch im Mittelalter vorhandenen Lehren eines mystischen Urwissens entstanden. Absolute Mythologie ist gnostisch, sie ist Gnostizismus (natürlich im allgemeinen, nicht im engen Sinne der christlichen Sekten des zweiten und dritten Jahrhundert~.)"~ Ich habe nicht die Absicht, hier genauer auf die Grundlagen der absoluten Mythologie einzugehen, und von daher entfällt die Notwendigkeit einer Klassifizierung der verschiedenen Typen von Gnosis. Es gibt eine prophetische Gnosis, eine Gnosis des Gebets, eine intellektuelle usw. Ich möchte hier nur zur phrophetischen etwas sagen. Immer wieder wird versucht, prophetische Aussagen zu deuten. Besonders die Apokalypse verleitet dazu, sie zu erklären und auszulegen. Dazu ist folgendes anzumerken: 1) Wenn die Bilder der Apokalypse erst durch Deutung und Auslegung verständlich werden, weder »Offenbarung((noch Prophetie. dann wäre die )>Offenbarung(( Der wahre Sinn der in der Zukunft liegenden Ereignisse würde [durch die Apokalypse]verschleiert, und diese Verschleierung wäre nur durch eine wissenschaftliche^( Auslegung zu überwinden, eine Auffassung, die weder im Sinne des Christentums noch in dem der Kirche sein kann. 2) Wenn man davon ausgeht, daß die apokalyptischen Bilder im übertragenen Sinne gedeutet werden müssen, wäre es sehr viel zb Isaak der Syrer (Werke, Sergiev Possad 1911) spricht von zwei Arten des Wissens. Erstens dem »natürlichen, dem Glauben vorausgehenden()Person«,die - wie es auch der gesunde Menschenverstand nahelegt - zugleich Subjekt und Objekt ist. Die »Person«ist die dialektische Synthese von »Subjekt« und »Objekt« in einem unteilbaren Ganzen. Und es ist interessant, daß es ganz unmöglich ist, sie auf eins von beiden zu reduzieren. Wenn die alten subjektivistischenPsychologen anfingen, über die Person zu sprechen (was sie fast nie oder nur am Rande - kleingedruckt - getan haben), dann blieben sie irn Bereich bestimmter einzelner Fähigkeiten (hauptsächlich - und natürlich auch auf Grund eines Mythos - im Bereich des Denkens). Und wenn zeitgenössische Reflexologen das tun, nachdem sie alles auf physiologische Prozesse zurückgeführt haben, wirkt es höchstens lächerlich. In der absoluten Mythologie ist es völlig unmöglich, das Subjekt zugunsten des Objekts, und umgekehrt, zu vernichten, gleichzeitig jedoch enthält sie notwendig eine neue Kategorie, die

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in der Synthese beider besteht. Absolute Mythologie ist Personalismus. 11. Die zweite Antinomie war die von Idee und Materie oder, allgemeiner, von Idealem und Realem. Die Synthese kann hier als Substanz bezeichnet werden, die immer als etwas Reales, das jedoch in einer bestimmten Weise vernünftig gestaltet ist, gedacht wird. Absolute Mythologie ist Substantialismus. 11'. Die Synthese der Antinomie von Bmußtsein und Sein ist die Kreativität. Um etwas zu erschaffen, muß das Bewußtsein in irgendeiner Weise beteiligt sein, es muß aber gleichzeitig am Sein teilhaben und sich in ihm widerspiegeln. Absolute Mythologie ist Kreationismus oder Theorie der Kreativität. Wissenschaftler können mit diesem Begriff meistens nichts anfangen, was nicht zu verwundern ist, weil schon der Begriff des Bewußtseins schwer zu fassen ist. Wieviel unsinnige Theorien gibt es darüber! Dabei kann es dialektisch auf ganz einfache Weise abgeleitet werden. Erstens. Jedes A entsteht dialektisch dadurch, daß es sich von allem anderen abgrenzt und sich ihm entgegenstellt. Zweitens. Angenommen, daß wir alles zusammengefaßt haben, was war, ist und sein wird, und daß wir nicht nur A haben, sondern d e s A und Nicht-A, was immer diese auch sein mögen. Drittens. Um dieses »Alles«dialektisch abzuleiten, muß man es irgendwem entgegenstellen und es abgrenzen, es durch irgendetwas negieren. Viertens. Aber es gibt nichts anderes mehr, denn wir sind ja schon von >)allem«ausgegangen. Folglich kann dieses »alles«nur sich selbst entgegengesetzt, nur durch sich selbst begrenzt werden. Fünftens. Aber wer könnte diese Gegenüberstellung durchfuhren? Da es außerhalb von »allem«nichts gibt, kann es sich nur sich selbst gegenüberstellen. Sechstens. Und das bedeutet, daß es Bmußtsein besitzt. Auf diese äußerst einfache Weise kann es dialektisch abgeleitet werden. Wenn wir diese Kategorie in ihrer ganzen Notwendigkeit, Selbständigkeit und Nicht-Reduzierbarkeit verstehen würden, könnten wir auch die Notwendigkeit, Selbständigkeit und Nicht-Reduzierbarkeit der Kategorie der Kreativität verstehen. IV. Wesen und Erscheinung, die einander als Gegensatzglieder in einer Beziehung gegenüberstehen, gelangen im Begriff des Symbols zur Synthese. Das Symbol ist eine Erscheinung, die auf eine bestimmte Wesenheit verweist, das heißt: diese zum Inhalt hat. Die absolute My-

thologie ist Symbolismus. V. Die Antithese von Leib und Seele vereinigt sich im Begriff des Lebens, das nicht ohne Leib zu denken ist, das heißt ohne etwas, das bewegt wird, ohne Objekt der Bewegung, aber auch nicht ohne ein bewegendes und gleichzeitig sich selbst bewegendes Prikip. Absolute Mythologie ist Theorie des Lebens. VI. Interessant ist die versöhnende Synthese von Individualismus

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und Sozialismus. Eine Sphäre ist zu finden, in der Individuum und Gesellschaft gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Je mehr ein Individuum seine eigene Individualität ausbaut und vertieft und sich dadurch von anderen abhebt und entfernt, desto mehr muß es notwendigeweise auf die Gesellschaft, auf das Gemeinwohl einwirken. Diese Synthese ist die der Religion und zwar der Religion im Sinne der Kirche. Nur in diesem Bereich ist es möglich, daß ein einzelner Mensch sich derart auf sich selbst konzentriert, - bis dahin, daß er zum Einsiedler wird -,daß er gerade dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch andere errettet; das, was er tut, ist für alle wichtig, für die ganze Kirche, er hebt ihr geistiges Niveau und hilft den Menschen, der Erlösung näherzukommen. Da nur im Symbol eine tatsächliche Vereinigung von Idee und Materie stattfindet, und da das im Leben verkörperte Symbol Organismus ist, so kann das Allgemeine und Individuelle nur im symbolischen Organismus wirklich vereinigt werden. Und die Kirche ist der Leib Christi, das heißt die absolute Wahrheit als symbolischer Organismus. Absolute Mythologie ist daher immer Religion im Sinne der Kirche. VII. Freiheit und Notwendigkeit finden ihre Synthese im Gefühl, in dem immer Pflicht und Neigung, Sollen und Wollen in eins zusammenfallen. Absolute Mythologie ist Leben des H e m s . VIII. Das Unendliche und das Endliche wird in der zeitgenössischen Mathematik unter der Bezeichnung aktuale Unendlichkeit zusammengefaßt. Die Unendlichkeit wird dabei nicht als Abgrund absoluter Finsternis, in dem weder Anfang noch Ende, noch Grenze zu sehen sind, gedacht. Sie besitzt Form und Vernunft und ist somit etwas Endliches. Sie besitzt ihre eigene, klar angebbare Struktur, und es gibt eine ganze Wissenschaft, die sich mit dem Aufbau und den Ordnungen der Unendlichkeit befaßt. Die Theorie der transfiniten Zahlen sollte unbedingt bei der Bestimmung der absoluten Mythologie mit herangezogen werdemZc In bezug auf den Weltraum ergibt sich dabei folgende interessante Konsequenz. Wir hatten behauptet, daß die Welt gleichzeitig eine räumliche Grenze besitzt, sie aber auch wieder nicht besitzt. Sie hat eine räumliche Grenze, die zu überschreiten unmöglich ist. Für die formale Logik ist das eine ausweglose Situation: entweder die Welt besitzt keine Grenze, dann gibt es auch keine Welt, oder es gibt die Welt, In negativer Form wird der Gedanke über die gleichzeitige Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt zum Beispiel bei M. W. Mafinskij in dem Artikel: »Das Prinzip der Relativität der endlichen Welt« (Zurnal Russkogo fizikochimifeskogo obiVestva, fast' fizifeskaja. 1929 LXI, vyp. 3, S. 235-256) dargestellt. Hier wird bewiesen, daß es physikalisch absolut unmöglich ist, die endliche von der unendlichen Welt zu unterscheiden.

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aber man kann ihre Grenzen überschreiten, und dann gibt es keinerlei Grenzen für die Welt, das heißt, im Grunde kann es in beiden Fällen keine Welt geben. Die Dialektik löst diese Frage anders. Die Welt hat eine bestimmte Grenze, aber man kann sie nicht überschreiten. Das ist nur so denkbar, daß der Raum an den Grenzen der Welt es unmöglich macht, diese zu überschreiten, das heißt, daß der Raum sich an den Grenzen der Welt krümmt und jeden Gegenstand, der hier erscheint, dazu zwingt, sich gemäß dieser Krümmung zu bewegen, zum Beispiel sich an der Peripherie der Welt zu bewegen. Und wenn er wirklich die Grenzen der Welt überschreiten will, dann muß er sich physisch so verändern, daß sein Körper keinen Raum mehr einnimmt und ihn nichts mehr daran hindert, die Welt zu verlassen. Das ist aiiergewöhnlichste Dialektik: wenn wir sehen, daß sich vor unseren Augen etwas bildet und wir eine scharfe Linie ziehen, die diesen Gegenstand, diese Sache, von d e m übrigen trennt und unterscheidet, dann entsteht vor uns eine Art Ganzheit, innerhalb derer man nun, unabhängig von der Verbindung mit dem, was sie umgibt, neue Unterscheidungen durchführen kann; die Dialektikforderteine dialektische Struktur innerhalb dieses Objekts, es kann nicht einfach ein verschwommener, undifferenzierter Fleck bzw. Loch sein. Aber jede Struktur erfordert die Verschiedenheit und die Einheit des Unterschiedenen. Wenn wir uns daher entschließen können, die Welt nicht als schwarzes Loch und verschwommenes Trugbild unseres rationalen Übereifers, sondern als reales, eigenständiges Objekt zu denken, dann müssen wir auch ihre Grenze denken und folglich sie selbst als eine Ganzheit, eine Ganzheit, die in sich selbst gegliedert ist. Und da es sich vorerst nur um einen Raum handelt, erfordert diese innerräumliche Gliederung erstens die Ungleichartigkeit dieses Raums und zweitens ein bestimmtes System dieser ungleichartigen Räume.zd Das heißt also, die Synthese von der Unendlichkeit und der Endlichkeit des Weltraums ist die Gestalthaftigkeit dieses Raums. Außerdem macht das Vorhandensein einer endlichen Welt es möglich (ja erfordert es sogar), daß

zd Hier wird ein anderes Axiom des Nihilismus berührt, die Frage nach der Erdumdrehung. Die nihilistische Astronomie möchte, daß nichts ist und alles zu Staub zerfällt. Die Erde wird zu einem unscheinbaren Sandkorn, das im taumelnden Durcheinander ungeheurer Geschwindigkeiten verlorengeht. Vernünftige Gründe für die Bewegung der Erde lassen sich ebensowenig finden wie für ihren Stiüstand, und wissenschaftlich kann man nur davon sprechen, wie sich die Erdumdrehung zum Lauf der Fixsterne verhält. Siehe zum Beispiel den Artikel von R. Grammel, Mechanische Beweise Mr die Erdumdrehung (>#Erfolge der physikalischen Wissenschaft«, Bd. I11 (1923)).Hier werden etwa zwei Dutzend wissenschaftlicheBeweise dafür analysiert, aber keiner von ihnen erweist sich als glaubwürdig.

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das Volumen eines Körpers sich ändert, je nachdem, welchen Ort er in der Welt einnimmt, wie er sich in ihr bewegt. Im besonderen erfordert es diese Dialektik, daß der Raum an der Peripherie der Welt so beschaffen ist, daß er das Körpervoiumen auf Null reduziert. Was nicht heißt, daß er sich nicht auch in eine imaginäre Größe verwandeln könnte, und zwar jenseits der ~ e l t ~ r e n z e n . ~ ' Obwohl ~ a t h e m a t i k u n dPhysik längst die Möglichkeiten geschaffen haben, alle diese Probleme real und nüchtern zu durchdenken, kann man doch niemanden dazu zwingen, diesen wissenschaftlichen Standpunkt ernstzunehmen. Der Newtonsche Mythos vom gleichartigen und unendlichen Raum - ein rein kapitalistisches Prinzip, wie ich immer sage - beherrscht die gesamte gelehrte Welt. Wobei die Ausdruckslosigkeit, Relieflosigkeit, Farblosigkeit, ja totale Leblosigkeit eines solchen Raums offensichtlich ist. Und trotzdem verneigt sich die gesamte Gelehrtenwelt vor diesem Mythos wie vor einem Götzenbild.Und daher ist es für irgendeinen Philosophen, zum Beispiel einen solch armseligen wie mich, eher möglich, das Prinzip der Relativität zu verstehen als für die Mehrheit der Mathematiker und Physiker, die einfach nicht über die entsprechenden Intuitionen verfügen. Es gibt sogar Dichter, die diese unendlichen ))Weltenweiten«,die in Wirklichkeit einem Irrenhaus gleichen, besingen. Wie soll man es sich denn denken, daß die Welt eine räumliche Grenze besitzt, wird einem dann entgegengehalten. Mein Gott, warum muß man sich das denn denken? Haben Sie nicht doch schon irgendeinmal den Kopf erhoben und mit Ihrem Blick den Horizont gestreift? Ist denn da noch eine andere Grenze nötig? Sie ist nicht n u r denkbar, sie ist sichtbar.* l e Russische Literatur zum Prinzip der Relativität wird von mir irn »Antiken Kosmos, und die moderne Wissenschaft«, Moskau 1927, S. 409-411, angeführt. Dort wird auch die dialektische Begründung für die bekannte Formel von Einstein und Lorentz (212) geliefert. Nicht d s absolute Wahrheit, sondern als Beispiel einer möglichen Annäherung der zeitgenössischen Wissenschaft an die Idee einer absoluten Mythologie kann man - aus Hunderten von Beispielen - die Theorie von L. Fegard (seinen Artikel »Das Nordlicht und die oberen Schichten der Atmosphäre«) anführen (»Erfolgeder physik. Wissenschaft«, Bd. IV, 1924), der von 1922-1923 das Spektrum des Nordlichts beobachtete und zu dem Schluß kam, daß der Stickstoff (für das Vorhandensein von Wasserstoff und Helium gibt es keine Beweise, obwohl allgemein davon ausgegangen wird, daß sie 100 km über der Erdoberfläche existieren) entweder durch die ansteigenden Temperaturen entsteht, oder dadurch, daß er durch elektrische Kräfte angezogen wird. Der Charakter des Spektrums und andere Gründe schließen die erste Annahme aus. Die zweite Annahme fiihrt dazu, daß sich der Stickstoff durch die Elektrizität ionisiert und verdichtet wird und kleine Kristalle bilden muß. Man spricht dae ; wieher von einem Kristailnebel in den oberen Schichten der ~ t m o s ~ h ä rwas derum den alten Überliefemnaen von der Existenz des Himmelaewölbes und mehrerer Himmel entspricht.

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Und es gibt keinen Grund dafür, seinen Augen nicht zu trauen. Dabei zeigt sich, daß der Positivismus einfach gemeiner Nihilismus und Religion der Lochanbetung ist. Lassen Sie ihre Phantasien und Träume und kommen Sie zu uns, wurde uns vorgehalten, hier finden Sie das wahre Leben, Sie brauchen nur ihre Augen und Ohren aufzumachen. Und was haben wir gefunden, als wir tatsächlich unsere Träume und Phantasien verworfen und die Augen geöffnet haben? Nichts als Lug und Trug. Der Horizont wird also von unserer Phantasie geschaffen? Den Himmel gibt es gar nicht? Weltgrenzen und sonstige Grenzen auch nicht? Das heißt, man darf weder seinen Augen noch Ohren, noch seinem Tastsinn trauen? Wohin sind wir denn gekommen? Welche Teufel haben uns dazu gebracht, uns die Welt als dunkles Loch, das Universum als bodenlosen Abgrund vorzustelien? Nein, der Positivismus hat uns nicht zu Realisten gemacht, er versucht, uns die Haut abzuziehen, er versucht, uns zu bestehlen und zu berauben. Die Dialektik verlangt nach der Gestalthaftigkeit des Raums, nach der Endlichkeit der Welt und nach der Möglichkeit der Umwandlung der Körper."g Absolute Mythologie ist Theorie der aktualen Unendlichkeit aller realen, möglichen und denkbaren Objekte. Sie ist die Theorie der Perspektivität des Seins und der Plastizität und Ausdruckshaftigkeit des Lebens. Ähnlich steht es um die Antinomien des Absoluten und Relativen und des Ewigen und Zeitlichen. Die Synthese der ersteren ist die Gestalthaftigkeit, die Physiognomie, das Antlitz des Absoluten, die Synthese der zweiten Antinomie ist die Gestalthaftigkeit der Ewigkeit, ihre reale Physiognomie, ihr lebendiges Antlitz. Das Absolute ist kein dunkler Fleck mehr, sondern Absolutes und Ewiges werden zu einem sichtbaren Antlitz, zu einer geistigen Ikone, zu wißbarer Wahrheit. Das neuzeitliche Denken hat aufgehört, dialektisches, das heißt antinomisch-synthetisches Denken zu sein, weil es die Fähigkeit verloren hat, dieses Antlitz des Absoluten zu sehen. Zu einer Renaissance der Dialektik kam es erst, als dieses Antlitz sichtbar wurde, diesmal übrigens im Innem der menschlichen Person (im deutschen Idealismus und der deutschen Romantik). Im dialektischen Materialismus ist es daher notwendig, das Proletariat als eine Art abolutes Antlitz Zg Die dialektische Begründung für diese Möglichkeit habe ich irn »Antitnij Kosmos« a.a.0. 158-160 gegeben, die wissenschaftlich-chemische (in Verbindung mit der Lehre von den geometrischen Invarianten, das heißt den nichtphysikalischen festen Punkten, die die chemische Gleichartigkeit der ailgemeinen Materie regulieren und die gegenseitige Umwandlung chemischer Elemente erklären) findet sich bei N. C. Kurnakov, »DieBeständigkeit chemischer Umwandlung der Materie« (Erfolge der physikalischen Wissenschaft, Bd. W, 1924).

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des Seins anzusehen. Übrigens gibt es viele Lehren, die Ähnliches aussagen - nur sind sie anders formuliert -, ohne daß man sie zur Kenntnis nimmt. So besteht das Wesen der Kabbala, wie mir ein jüdischer Gelehrter, ein großer Kenner der kabbalistischen und talmudischen Literatur (den ich nach der üblen Angewohnheit europäischer Gelehrter nach dem Einfluß des Neo-Platonismus auf die Kabbala ausfragte) versicherte, absolut nicht im Pantheismus, wie es von liberalen Philosophen angenommen wird, die die Lehre vom En-Soph und den SephirothS mit neu-platonischen Gedanken in Verbindung bringen, sondern eher in einem Pan-Israelismus: der kabbalistische Gott braucht Israel für seine eigene Erlösung, verkörpert sich in ihm und wird selbst Israel, und von daher ist der Mythos von der Weltherrschaft des vergöttlichten Israel, das sich von Ewigkeit her in Gott befindet, eine ebensolche dialektische Notwendigkeit wie es für den platonischen Kosmos notwendig ist, als beseeltes Wesen und allmächtige und glückselige Gottheit gedacht zu werden, und für Christus, Gottmensch zu sein. Weltjudentum als absolutes Anlitz des Seins ist natürlich auch eine relative, keine absolute Mythologie. Sie ist eine der logischen Möglichkeiten. Absolute Mythologie jedoch ist immer eine be-

stimmte geistige Ikonographie der Unendlichkeit. Die Synthese der Antinomie des Ganzen und der Teile ist der Organismus, in dem beides vorhanden ist: die Ganzheit, die sich nicht in einzelne Momente zerlegen läßt, und die Einzelteile als Träger des Ganzen. Absolute Mythologie ist Organismus. All diese Antinomien sind in der universalen 12. Antinomie des Einen und des Vielen, oder des S e i e n d e n (des Seins) und des NichtSeienden (des Nichtseins) enthalten. Die Antionornie des E i n e n und des V i e 1e n ist die ursprünglichste, einfachste und inhaltsleerste. Die Synthese ist die Zahl (oder von einem anderen Gesichtspunkt aus: das Ganze), die Synthese von Sein und Nichtsein das Werden. Absolute Mythologie ist deshalb immer Arithmologismus (es liegt ihr immer die Zahl zugrunde) Totalismus (die Lehre von der absoluten Ganzheit) und Alogismus (das heißt, sie wird neben dem logischen Element immer auch die absolute irrationale Ununterschiedenheit des Seins anerkennen). Viertens. Die angeführten Beispiele sollen nur noch einmal zeigen, inwiefern die absolute Mythologie alle Prinzipien umfaßt und sie in einer bestimmten Art und Weise zu einem Ganzen vereint. Außerdem sind sie fast identisch mit den grundlegenden Kategorien, ohne welche die absolute Mythologie nicht bestehen kann. Gehen wir sie durch: Gnostizismus, Personaiismus, Substantiaiismus, Kreationismus, Symbolismus, Theorie des Lebens, Religion, Theorie des Gefühls, Ikonographie des Absoluten, Arithmologismus, Totalismus, Alogismus. Mit anderen Worten, absolute Mythologie ist reli-

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giöses Urwissen (6) im Gefühl (7) des schöpferisch-(3)substantiellen (2) Symbols (4) des organischen (11) Lebens (5) der Person (I), arithmologisch-totalistisch und gleichzeitig alogisch (12) gegeben irn absoluten (9) und ewigen Antlitz (10) des Unendlichen (8). Alle diese Begriffe sind Hinweis auf den des entfilteten magischen Namens in seinem absoluten Sein. 5. Auch die methodologische Orientierung der absoluten Mythologie wird aus dem Vorhergesagten deutlich. Obwohl ich vorhabe, mich mit ihr noch gesondert zu beschäftigen, kann ich doch auch jetzt schon die dialektische Struktur der grundlegenden Mythen der absoluten Mythologie erkennen. a) Die Welt als Ganzes und jedes einzelne Ding ist Synthese der unbeweglichen Idee und des beweglichen materiellen Werdens. Dialektisch gesehen muß die nicht-werdende Idee auch ihren idealen, nicht-werdenden Körper besitzen, denn natürlich kann ein in sich gegliederter und sterblicher Körper, der die ewige Idee in sich enthält, nicht letzter Ausdruck dieser Idee sein. Und so sehr die Positivisten auch staunen mögen, es ist die Dialektik, die dies mit absoluter Notwendigkeit erfordert, denn wenn es verschiedene Grade der Verwirklichung der Idee gibt, dann muß sie auch zu einer höchsten und unendlichen Stufe ihrer Verwirklichung gelangen. Folglich ist das Vorhandensein einer idealen Welt eine dialektische Notwendigkeit; und Dialektik muß zu diesem Schluß kommen, wenn sie nicht in ihrer freien Entwicklung gehindert wird. Dialektik muß zu dem Schluß kommen, daß Gott zumindest möglich ist. In dem Moment, wo es Zeit gibt, gibt es auch Ewigkeit (denn wo Schwarz ist, gibt es immer auch irgendwo Weiß); wenn es das Relative gibt, gibt es auch das Absolute; wenn es das Grenzenlose gibt, gibt es auch die Grenze. Außerdem ist erwiesen, daß es für jedes Ding im Prinzip ein ihm adäquates Bewußtsein geben muß, denn sonst könnte man vom jeweiligen Ding nichts sagen oder denken, das heißt, es würde gar nicht existieren. Zu allem Sein, dem einzelnen wie dem ganzen mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehört das ihm adäquate Bewußtsein. Und wenn ein solches universales Bewußtsein vorhanden ist, kann man es sich durchaus auch als Substanz bzw. als Subjekt denken. Die Dialektik vereinigt die Begriffe Ewigkeit, Absolutheit, unendliche Grenze, Bewußtsein (All-Wissen) und Subjekt und gibt dieser Vereinigung eine bestimmte Form, das heißt der Gottesbegriff ist für die Mythologie dialektisch notwendig. Mehr noch. Er ist die Bedingung dafür, daß Denken überhaupt möglich ist. Denn Zeit ist nur denkbar, wenn wir - sei es auch unbewußt - die Kategorie der Ewigkeit gebrauchen, das Relative nur dann, wenn auch die Ka-

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tegorie des Absoluten in unserer Vernunft vorhanden ist, auch wenn sie aus einem nicht folgerichtigen Denken heraus als notwendig verneint werden kann. Mit einem Wort, der Gottesbegriff ist Bedingung und Ziel für das Denken des Seins im Ganzen. Er löst sich in dem Moment auf, wo das intuitive Bewußtsein der Ganzheit des Seins nicht mehr vorhanden ist. Das neuzeitliche Denken mußte nicht nur die Realität Gottes ablehnen, sondern gleichzeitig auch die eines übersichtlich umrissenen Kosmos, das heißt die der Welt, die Realität der Seele, der Natur, der Geschichte, der Kunst usw. Aber nehmen wir an, daß Gott existiert. Der Begriff selbst enthält nichts Weltliches. Und deshalb ist Gott dialektisch gesehen etwas Auper- und Vor-Weltliches. Und wenn die Dialektik sich frei entfalten kann und zur absoluten wird, dann ist jeder Pantheismus ausgeschlossen. Das pantheistische Heidentum baut offensichtlich auf einer relativen Mythologie auf, es befindet sich im Bann rein realer Intuitionen, die die Freiheit der Dialektik zerstören. Folglich ist der Theismus eine dialektisch-mythologische Notwendigkeit. b) Ein anderes Beispiel. Wenn Gott ist, so muß er in irgendeiner Weise in Erscheinung treten, ungeachtet seiner wesenhaften Unerkennbarkeit. Wenn er das nicht täte, könnte man nicht von seinem Sein sprechen. Das ist die oben erwähnte IV. Synthese. Gott enthält jedoch idealiter alles in sich. Folglich muß er in d e m in Erscheinung treten. Daher sind zum Beispiel die Ikonen eine dialektische Notwendigkeit. Aber wie tritt er in Erscheinung? Angenommen, Gott und Welt sind dasselbe (Pantheismus). Daraus würde folgen, daß es erstens eine unzähiiche Menge von Göttern gibt, weil es unzählige ErscheinungsweiSen der Welt gibt, und zweitens, daß sie substantielle Gottmenschen sind, sowohl die kleinen unbedeutenden wie die großen bedeutenden, und daß drittens der Umgang mit ihnen sich in nichts vom Umgang mit einer anderen Art von Gottmenschen, mit den »Menschen«,unterscheidet; von daher fällt die Notwendigkeit von Kirche und Sakramenten weg. Folglich ist der Pantheismus immer l. Polytheismus, 2. Satanismus, 3. Ununterschiedenheit von Kult und Sakramenten. Die absolute Mythologie hingegen ist Theismus. Daraus folgt: Erstens. Gottes absolutes Außerhalb-der Welt-Sein läßt nur eine vollkommene und substantiellepersonale Verkörperung im Anderssein zu. Zweitens. Alle übrigen Menschen können nur zu einer gnadenhaften, energiehaften, aber nicht zu einer substantiell-personalen Wrgöttlichung gelangen. Drittens. Die Beziehung zum Gottmenschen ist nur mit Hilfe der Sakramente und der äußeren Organisation der Kirche möglich. C) Immer schon hat man sich über die Unsterblichkeit der Seele Gedanken gemacht. Aber auch hier helfen nur dialektische Überlegungen weiter. Das heißt nicht, daß ich von Ihnen verlange, dialektisch

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zu denken. Denn erstens ist das durchaus nicht immer notwendig, zweitens sind Sie dazu kaum in der Lage, und drittens ist es völlig unwichtig, wie Sie denken wollen. Ich behaupte nur eins: Wenn Sie rein dialektisch denken wollen (bitte, tun Sie es nicht!), dann ist die Unsterblichkeit der Seele für die Mythologie das primitivste Axiom der Dialektik. Erstens. Die Dialektik besagt, daß jedes Werden einer Sache, eines Dings, nur möglich ist, wenn in ihm etwas Nicht-Werdendes existiert. Zweitens. Die Seele ist etwas Werdendes, das in den Bereich des Lebens gehört (der Mensch denkt, fühlt, freut sich, leidet usw.). Drittens. Folglich existiert in der Seele etwas Nicht-Werdendes, das heißt etwas lebendig-Ewiges. Die Seele ist ebenso unsterblich, wie d e s auf der Welt, jedes Ding unsterblich ist, natürlich nicht an sich (man kann sie zerstören), sondern in ihrem nicht-werdenden Grund. Wenn Sie die Unsterblichkeit der Seele verneinen, so zeigt das nur, daß Sie nicht verstehen, wie »Sein«und »Nicht-Sein«im ))Werden«ihre Synthese finden. Die Seele ist ja nur eine Art des Seins. d) Nehmen wir uns noch einmal folgende Synthesen vor: 111. (Person), V. (Leben), VII. (Herz), IX. (Ewigkeit und ihr Antlitz) und betrachten wir sie im Lichte der universalen Synthese des Symbols (=M. Und erörtern wir folgende dialektische Thesen: I. a) Eine Sache, die sich selbst gegenüberstellt, ist eine Sache, die Selbstbaoußtsein und Bewußtsein besitzt. b) Das Bewußtsein kann Substanz und nicht Substanz sein. Im ersten Fail kommen wir zu einem Bewußtsein als Substanz, das heißt zu etwas, das gleichzeitig Subjekt und Objekt ist, wir kommen zur Person. 11. a) Die Person ist dialektisches Prinzip und verwirklichte Person. Die Verwirklichung der Person im Anderssein ist ihr Leben. b) Das Leben der Person hat verschiedene Aspekte. Betrachten wir sie vom Gesichtspunkt der Synthese von Freiheit und Notwendigkeit aus, so ist diese der Kern, das Herzstück der Person. Die Person kreist in ail ihren Lebensvoilzügen in sich selbst. Sie tut dies im Medium ihrer Sinnlichkeit und Sensibilität, die zu sich selber zurückkehrt. 111. a) Aber das Ewige und Zeitliche ist, wie wir gezeigt haben, einund dasselbe. Beider Synthese ist das Antlitz des Ewigen, die gestalthafte Ewigkeit. b) Folglich ist es dialektisch notwendig, daß das Leben der Person in ein Stadium gerät, wo ewiges absolutes Werden und ewige absolute Unbeweglichkeit und Unzerstörbarkeit sich zu einer Synthese vereinen. C) AUes das geschieht im Bereich des H e m s , in einer alogischen Dynamik, die um ihr unbewegliches Zentrum kreist. W.a) Der Charakter der Beziehung von Herz und Vernunft hängt ab von der Beziehung der Person an sich zu ihrem Schicksal im

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Anderssein. Die Lbereinstimmung des Andersseins mit der vorgegebenen Idee hat sogar Kant schon als Gefühl des Wohlgefallens verstanden, die ~icht-Übereinstimmungals das des Mißfailens. b) Auf rein dialektischem Wege gelangen wir damit notwendig zu den Kategorien von Paradies und Hölie. Die Dialektik von ewiger Glückseligkeit und ewigen Qualen ergibt sich aus den fünf elementaren Kategorien: Person, Leben, Herz, Ewigkeit und Symbol. Wir haben den Begriff der absoluten Mythologie und deren Dialektik untersucht. Dialektisches Denken ist nicht ungefährlich. Übrigens versteht der Leser mich falsch, wenn er meint, daß ich ihn dazu verpflichten möchte. Er soll nur eins wissen: Wenn er dialektisch denken will, dann wird er notwendigerweise auf den Begriff der Mythologie im allgemeinen und den der absoluten Mythologie im besonderen und alle weiteren, sich daraus ergebenden von uns erörterten Begriffe stoßen. Aber es ist Ihre Entscheidung, ob Sie es für nötig halten, sich dieser Art des Denkens anzuvertrauen. Wenn Sie meine persönliche Meinung dazu interessiert, so geht Sie das, erstens, nichts an; auch verpflichtet die Meinung eines einzelnen zu nichts. Und zweitens bin ich zutiefst davon überzeugt, daß allem reinen Denken im Leben eine sehr untergeordnete Rolie zukommt. Sind Sie jetzt zufrieden? Wir haben im folgenden nun die große Aufgabe zu bewältigen, die gmndlegenden Strukturen der absoluten Mythologie und die Dialektik der Haupttypen der relativen Mythologie zu entwickeln.

1 Vermutlich bezieht sich Losev hier auf seine Kulturtypologie, wie er sie in den ))Studienzum antiken Symbolismus und zur antiken Mythologie I(((Moskau 1930)entworfen hat. Hier ordnet er im 6. Abschnitt über »Die gesellschaftliche Natur des Platonismusa (S. 759-886) verschiedenen Gesellschaftsformationen unterschiedliche Kunstformen und Religionstypen zu. In Anknüpfung an die Hegelsche Asthetik unterscheidet Losev die orientalische, klassisch-griechische und christlich-mittelalterlicheEpoche, wobei er den mittelalterlichen Kulturtyp in den byzantinischen, lateinischen und protestantischen unterteilt. 2 Vgl. W. Wundt: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte in 5 Bänden . Leipzig 19001909. Die Bände 3-5 tragen den Titel ))Mythusund Religion«, auf deren russische Übersetzung (Petersburg 1910) sich Losev ausdrücklich bezieht. Wundt sieht im ~ f f e kund t den von diesem ausgehenden Willenshandlungen den Ursprung des Mythos. Damit setzt er sich - wie später auch Losev - vom ~~Intellektualismus~~ solcher Theorien ab, die im Mythos eine primitive Form der Naturerklärung sowie eine Vorstufe zweckrationaler Beeinflussung der Natur sehen wollen. 3 Vgl. F.M. Dostojewskij: Die Brüder Karamazov. Aus dem Russ. übertragen von H. Ruoff und R. Hoffmann. München 1981. S. 63. (Diese TextPassage sowie alle folgenden Dostowskij-Zitatewurden für die vorliegende Ausgabe von E. Kirsten übersetzt). 4 Losev bezieht sich hier auf A. Comte's ))Coursde philosophie positive(((1830-42), auf den 1. Teil von H. Spencers »Principles of Sociology(( (1876) sowie auf E.B. Tylors )>PrimitiveCulture« (1871). 5 Eine Anspielung auf einen Gedanken Svidrigajlovs, einer Romanfigur in Dostoevskijs »Schuld und Sühne«. In einem Gespräch über das ))Lebenim Jenseits((sagt er: ))Wirdenken uns die Ewigkeit ja immer als eine Idee, die man nicht verstehen kann, als etwas Gewaltiges. Endloses. Aber warum muß sie denn unbedingt gewaltig groß sein? Stellen Sie sich nur vor, wenn dann statt dessen plötzlich nur ein kleines Zimmer dort wäre, etwa so groß wie eine Badestube auf dem Land und ganz verräuchert, und Spinnen säßen in allen Ecken, und das wäre die ganze Ewigkeit.. (F.M. Dostojewski: Schuld und Sühne. Aus dem Russischen übertragen V. R. Hoffmann, 12. überarbeitete Auflage. München 1991. S. 370). 6 Gemeint ist die erste der vier vom niederländischen Physiker H.A. Lorentz 1895 entwickelten Bewegungsgleichungen, die in Einsteins spezieller Relativitätstheorie von 1905 eine zentrale Rolle s ~ i e l e nsollte. Lorentz und Einstein beziehen sich gleicherweise auf den von A. Michelson erstmals 1881 durchgeführten Versuch, mit dem die Annahme eines Lichtäthers durch Messung der Lichtgeschwindigkeit in verschiedenen Rich.((

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Anmerkungen des Herausgebers

tungen widerlegt wurde. In der Interpretation dieses Versuchs gelangt Einstein zu einer Annahme, die im Rahmen der klassischen Physik nicht möglich ist: die Lichtgeschwindigkeit sei in bezug auf unterschiedlich bewegte Beobachter konstant. ~ n t s ~ i e c h e nwerden d die traditionellen ~ o n z e ~ t e von Länge, Masse und Zeit grundlegend verändert. U.a. wird angenommen, daß der Abstand, den das Licht in einem bestimmten System zurücklegt, vom Standpunkt eines anderen Systems (das in bezug auf das erste in Bewegung ist) als verkürzt erscheint. Der Faktor, derfür jene Verkürzung bestimmend ist, läßt sich mit Hilfe der 1. Lorentzschen Gleichung als m a u s d r ü c k e n , wobei V die Geschwindigkeit des beobachtbaren Systems in bezug auf den Beobachter und C die Lichtgeschwindigkeit ist. Weiter unten (S. 83 f.) stellt Losev Denkexperimente an, in denen angenommen wird, daß V gleich C ist oder C überschreitet. 7 Vgl. L. Levy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les societes inferieures, 2 eme ed., Paris 1912. C. 62. 8 Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, 8. unv. Auflage. Darmstadt 1987. S. 47ff. 9 Diese Erzählung von N.V. Gogol' (1809-52)erschien erstmals 1835 im Novellenband »Mirgorod«. Vgl. N.V. Gogoli Polnoe sobranie sofinenij [Gesammelte Werke], T.2. Moskau 1937. S. 185-187. 10 Eine Theorie des Symbols entwirft Losev in seiner »Dialektik der künstlerischen Forma (Moskau 1927) (ND: München 1983). Vgl. bes. S. 26 ff., S. 106ff., C. 152ff., S. 228 ff. 11 Das Gedicht von A.V. Kol'cov (1808-42) »Der Wald« ist eine Allegorie auf das Schicksal Puskins, der 1837 einem Duell zum Opfer gefallen ist. 12 Apk. 12, 1. 13 Gemeint ist eine Figur aus dem Drama L.N. Andreevs (1871-1919) ))DasLeben des Menschen« (1907). Dieses besteht aus einem Prolog und fünf Akten mit den Titeln: Die Geburt des Menschen, Liebe und Armut, Tanz beim Menschen, Das Unglück des Menschen, Der Tod des Menschen. „Jemand in Grau gekleidet, Er genannt((ist eine anonyme, schwer deutbare Figur, die während des ganzen Schauspiels anwesend ist und mit ihren Repliken nur selten in die Handlung eingreift. 14 J.W. Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Bd. 10: Zur Farbenlehre, hrsg. V. P. Schmidt. München 1989. S. 231. Losev zitiert aus der russischen Übersetzung von V.O. LichtenStadt: Gete. Bor'ba za realistifeskoe mirovozzrenie. [Goethe. Der Kampf um eine realistische Weltanschauung]. Petersburg 1920. S. 240-247. 15 Ibid. 16 Op. cit., S. 232. 17 P. Florenskij: Nebesnye znamenija (Razmyslenija o simvolike cvetov) [Himmlische Zeichen (Erörterungen über die Farbsymbolik)], in: P. Florenskij: Sobranie sotinenij [Gesammelte Werke] T.1: Stat'i po iskusstvu [Aufsätze zur Kunst] Red.: N.A. Struve Paris 1985. S. 57-62. 18 Florenskij, a.a.O., S. 57. 19 Op. cit., S. 58. 20 Op. cit., S. 61 ff. P. Florenskijs (1882-1937) Konzeption der Sophia geht auf Gedanken V1. Solov'evs zurück, die dieser insbesondere in seinen )Vorlesungen über das Gottmenschentum« (1879-81) entfaltet hat.

Anmerkungen des Herausgebers

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Solov'ev und Florenskij geben eine theologisch-philosophischeAuslegung von Aussagen des Alten Testaments über die Sophia bzw. die Weisheit Gottes. So heißt es in den Sprüchen Salomons (8, 22-23): »DerHerr schuf mich, seines Waltens Erstling, als Anfang seiner Werke, vorlängst. Von Ewigkeit her bin ich gebildet, von Anbeginn, vor dem Ursprung der Welt«. Die Sophia wird von Florenskij als idealisierte Schöpfung in ihrem präexistenten Zustand gedacht, wie sie Gott von Ewigkeit her als sein personales Gegenüber entworfen hat. Zugleich ist sie als >)Schutzengel« der sich c h t ~Natur verwirklichenden Schöpfung für die ~ n t w i c k l u n ~ s ~ e s c h ivon und Menschheit (mit-)bestimmend.Zu den verschiedenen Aspekten der Sophia bei Florenskij vgl. M. Silberer: Die Trinitätsidee im Werk von Pavel A. Florenskij. Versuch einer systematischen Darstellung in Begegnung mit Thomas von Aquin. Würzburg 1984. S. 203-253. Zu Leben und Werk von Florenskij vgl. bes. M. Hagemeister: Pavel Florenskij und seine Schrift »Mnimosti V geometrii* (1922), in: P.A. Florenskij: Mnimosti V geometrii [Imaginäre Größen in der Geometrie], Nachdruck: München 1985. S. 1-60. 21 Vgl. Plotins Enneade „Über die Zahlen« (Enn. VI,6), deren Übersetzung und Kommentar von Losev 1928 veröffentlicht wurde. 22 Im Folgenden referiert Losev den Essay »Poesie des Wortes«, den der russische Symbolist Andrej Belyj (1880- 1934) im Jahre 1916 verfaßt hat. Vgl. A. Belyj: Wezija slova ... [Poesie des Wortes] Chicago 1965. S. 3-6. 23 Die hundert Artikel (sto glav) umfassende Sammlung von Bestimmungen des Moskauer Konzils von 1551, das von Ivan IV. (dem »Schrecklichen(~)einberufen worden ist. 24 Vgl. J. Lermontov: Ein Held unserer Zeit, übersetzt von J. V.Guenther. Stuttgart 1969. S. 198. 25 Hebr. Mikwe - »Ansammlung des Wassers«: jüdische rituelle Reinigungsstätte, seit dem Mittelalter künstlich angelegtes Bad. 26 Der Ausdruck »Intelligenz«(»intelligencija«) bezeichnet bei Losev die Selbstbezüglichkeit, das Für-sich-sein eines Subjekts. In diesem Sinn wurde der Terminus bereits in J.G. Fichtes »Einleitungenin die Wissenschaftslehre« von 1797 verwendet. W Vasilij V. Rozanov (1856-1919)ist in Rußland zunächst bekannt geworden durch eine Aufsatzreihe von 1891 über Dostoevskijs »Legende vom Großinquisitor((.Er wirkte als Publizist, Kulturkritiker und Religionsphilosoph. In Büchern wie »Das dunkle Antlitz. Metaphysik des Christentums(((1911), ))GefalleneBlätter« (1913-1915)u.a.m. deckt er mit einer an Nietzsche gemahnenden Methode der Demaskierung die »dunklen Seitena des Christentums auf. Der christlichen Faszination am Leiden, seiner Todessehnsucht und Körperfeindlichkeit stellt er das Alte Testament als Dokument einer lebensbejahenden Religion gegenüber. Vgl. H.A. Stammler: V.V. Rozanov als Philosoph. Giessen 1984 (Hier findet.sich eine Bibliographie, die auch die Übersetzungen von Rozanovs Schriften umfaßt); E.V. Barabanov: V.V. Rozanov, in: V.V. Rozanov: Werke T.l: Religija i kul'tura. Moskau 1990. S. 3-16. Im Folgenden zitiert Losev (in der 2. Auflage) »Ljudilunnogo sveta. Metafizika christianstvac [Menschen des Mondlichts. Metaphysik des Christentums] Petersburg 1913. S. 39-41. (Ein Nachdruck der 1. Auflage von 1911 erschien 1977 in Würzburg). \

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Anmerkungen des Herausgebers

28Vgl. F.M. Dostojewskij:Die Brüder Karamazov, a.a.0. (W.Anm. 3).S. 64f. 29 Vgl. L.N. Andreev: Povesti i rasskazy, T.2. Moskva 1971. S. 46ff. 30 Dieses Zitat konnte nicht identifiziert werden. Möglicherweise enthält es einen Gedanken von Losev selber. Eine solche Präsentation des eigenen Tates als eines fremden ist ein Verfahren, das Losev auch in seiner „Musik als Gegenstand der Logika (Moskau 1927)anwendet. Hier schreibt er seine eigene Beschreibung musikalischen Erlebens einem ))wenigbekannten deutschen Autor« zu. Vgl. A. Losev: Iz rannich proizvedenij [Aus dem Frühwerk]. Moskva 1990. S. 258-268. 31 Das nun folgende Denkexperiment geht von Einsteins spezieller Relativitätstheorie aus, wobei die in Anm. 6 genannten Voraussetzungen bestimmend sind. Das Denkexperiment ist in mindestens zwei Punkten nicht nachvollziehbar. Zum einen wird von der Annahme ausgegangen, ein Körper könne die Lichtgeschwindigkeitüberschreiten. Dies ist eine im Rahmen der Relativitätstheorie unzulässige Annahme. Zum anderen wird der so schnell bewegte Körper, dessen >>Umfang« bzw. Länge eine imaginäre Größe erreicht (aufgrund der Formel für in seiner Seinsverfassung mit einer Platoden Verkürzungsfaktor nischen Idee gleichgesetzt! Führt uns Losev hier eine ironisch gemeinte nMythologisierung((der Relativitätstheorie vor? 32 Johannes Klimakos (Climacus) lebte im 7. Jahrhundert als Eremit auf (Scala Paradisi) findet sich in der dem Berge Sinai. Seine :>Himmelsleiter« griechischen und lateinischen Fassung in: Patrologia Graeca. T. 88. S. 632-1208; vgl. dann: S. 6631661. Losev zitiert diese Textpassage in der russischen Übersetzung (Sergiev Posad 1894). 33 Das unveröffentlichte Manuskript von N.M. Tarabukin (1889-1956) „Das Problem des Raumes in der Malerei« (205 S.) befindet sich - L.A. GogotiSvili zufolge - in der Manuskriptabteilung der Staatlichen LeninBibliothek (Moskau) unter dem Sigel: F. 627.5.3. 34 Tropanon: in der byzantinischen Kirche die Bezeichnung für ein kurzes hymnisches Kirchenlied alten Ursprungs (5. Jh.) Kondakion: die Vorstrophe eines Troparions, die sich vom übrigen Hymnus in der dichterischen Ausarbeitung und Melodie unterscheidet. 35 Joh. 15, 26. 36 Dieses Gedicht der russischen Symbolistin Zinaida N. Gippius (1867-1945)findet sich in Z.N. Gippius: Sobranie stichov [Gedichtsammlung], 2.Bd. Moskau 1910. S. 21. 37 Zur Auseinandersetzung zwischen den an Hege1 orientierten »Dialektikern«um A.M. Deborin und den positivistisch eingestellten ~Mechanizisten« wie N. Bucharin vgl. 0 . Negt (Hrsg.): N. Bucharin. A. Deborin. Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. FrankfurtlMain 1974. 3 Die Schule der >)objektivenPsychologie« in der Sowjetunion der zwanziger Jahre geht auf die Reflexologie V.M. Bechterevs und I.P. Pavlovs zurück. Diese Richtung wurde in der sowjetischen Psychologie bestimmend, nachdem einer ihrer Repräsentanten, K.N. Kornilov, 1923 die Leitung des Moskauer Psychologisch~nInstituts übernommen hatte. Dieses war bis dahin von Professor G.I. Celpanov geleitet worden, einem akademischen Lehrer von Losev.

W),

Anmerkungen des Herausgebers

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39 Diese Äußerung kann natürlich nicht als Rechtfertigung der Verbrennung Giordano Brunos am 17. Februar 1600 in Rom durch die Inquisition angesehen werden. Eine solche Interpretation, die 2.B. von L.M. KaganoviC auf dem 16. Parteitag im Sommer 1930 vertreten wurde, verkennt den polyphonen Charakter der )>Dialektikdes Mythos«, in der sich ganz unterschiedliche Stimmen Gehör verschaffen, ohne mit der Stimme des Autors ohne weiteres identifiziert werden zu könnnen. 40 Losev konnte dieses Projekt nicht realisieren. 41 V.V. Rozanov: Apokalipsis naSego vremeni [Die Apokalypse unserer Zeit], Teil 3. Sergiev Posad 1918. S. 45-46. (Das Zitat wurde von V.G. Suka? identifiziert). 42 Der Titel des Gedichts von Zinaida Gippius lautet »Pereboia (»Gegenströmungen~).Vgl. Z.N. Gippius, a.a.0. (wie Anm. 36). S. 44-45. (Das Gedicht wurde von A.A. Tacho-Godi identifiziert). 43 Kant führt die Unterscheidung von bestimmmender und reflektierender Urteilskraft in der Einleitung seiner »Kritik der Urteilskraft((von 1790 durch. 44 Das Erdbeben auf der Krim ist von Losev - so L.A. GogotiSvili als »wunderbare«Reaktion auf bestimmte Ereignisse im Leben der russischorthodoxen Kirche, insbesondere auf ihre im Jahre 1927 sich verstärkende Kooperation mit dem sowjetischen Staat, interpretiert worden. 45 ES handelt sich vermutlich um das Fragment einer geistlichen Dichtung über das Jüngste Gericht. 46 Gregor d. Sinait, gest. 1346, Mönch auf dem Berge Sinai und später auf dem Berge Athos, hesychastischer Mystiker, dessen Lehre vom »Geistigen Gedicht((in Rußland einflußreich war. Seine Vita wurde vom Patriarchen Kallistos verfaßt. 47 Vgl. F.M. Dostojewskij: Die Brüder Karamazov, a.a.0. (wie Anm. 3), S. 395 ff. 48 Vgl. N.A. Rimskij-Korsakov: Skazanie o nevidimom grade Kiteie [Erzählung von der unsichtbaren Stadt Kitei] (Libretto V.I. Bel'skij). Moskau 1967. S. 11-12, 17. 49 Vgl. F.M. Dostoevskij: Die Dämonen, übertragen von E.K. Rahsin. Hamburg 1970. S. 611-12. 50 Vgl. F.M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, a.a.0. (wie Anm.5), S. 204. 51 Das Projekt wurde nicht verwirklicht. 52 Siehe Anm. 45. 53 Petr Mogila (1596-1647), seit 1633 Metropolit von Kiev. Das Gebetbuch (Trebnik), aus dem Losev zitiert, ist 1646 erschienen. 54 Siehe Anm. 51 55 Losev bezieht sich auf die kabbalistische Schöfungslehre, wie sie im Sohar, dem Hauptwerk der jüdischen Kabbala aus dem 13. Jh., expliziert ist. ))EnSoph« ist eine Bezeichnung des Absoluten als des Grenzenlosen, der sich in seinem Wort, seinem Sohn, dem Adam Kadmon offenbart. Die diesen konstituierenden Kräfte oder Intelligenzen sind die zehn Sephiroth. Vgl. dazu G. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. FrankfurtlMain 1977.

Andreev, L.N. 41, 76 Aristoteles 113 Athanasius der Gr. 103 Baratynskij, E.A. 50-52 Baudelaire, Ch. 168 Basilius d . Gr. 104 Beethoven L. 20, 97 Belyj, A. 50-52 Bel'skij, V.I. 170 Benedikt 172 Bogoraz, V.G. 85 Bruno, G. 131 Buddha 79 ~ajkovskij,P.I. 40 Cassirer E. 25, 26, 79 Chagall, M. 95 Comte, A. 11 Descartes, R. 14 Dostoevskij, F.M. 74, 169, 171, 182 Einstein, A. 19, 195 Euklid 17

Isaak d . Syrer 189 Ivanov, VjaC.1. 45 Johannes Climacus 87 Johannes der Evangelist 190 Kandinskij, V.V. 95 Kant, I. 6, 14, 55, 123, 159-160, 201 Kol'cov, A.V. 40 Konfuzius 80 Krylov, I.A. 35 Kurnakov, N.S. 196 Lazarus, M. 7 Lermontov, M.Ju. 45 Levy-Bruhl, L. 20 Lorentz, H. 195 Mafinskij. M. V. 193 Mark de Asket 77 Mogila Petr 184 Newton, I. 15, 16, 17, 18 Novalis 40

Fichte, J.G. 15, 108, 123 Florenskij, P.A. 43 f., 45 Freud, S. 78

Platon 14, 108, 113 Plotin 15, 48, 108, 113 Poe, E.A. 57 Popov, P.S. 79 PuSkin, A.S. 40, 50-52, 58

Gippius, Z.N. 119 Goethe, J.W. 42-43, 45 Gogol', N.V. 29 f., 58, 76 Gregorius Sinaiticus 169 Grimm, J. 53

Rimskij-Korsakov, N. A. 170 Rozanov, V.V. 71 ff., 136 RubinStejn, N.G. 40

Hegel, G.W.F 14, 108 Herbart, J.F. 7 Hoffmann, E.T.A. 45, 57 Homer 8, 35

Schelling, F.W.J. 33, 108 Saljapin, F.I. 98 Solov'ev, Vl .S. 45 Spencer, H. 11 Steinthal, H. 7

* Das Register bezieht sich auf den Losev-Text (S. 3-201). Die Umschrift der Namen aus dem kyrillischen Alphabet folgt dem in wissenschaftlichen Publikationen verwendeten Transliterationssystem (s. Duden).

Personenregister

Tarabukin, N.M. 93, 95 Tylor, A . 11 Tjutfev, EI. 50-52

Wagner, R. 41, 97 Worringer, W. 95 Wundt, W. 8, 150