Die Vier Weisen im Garten der Philosophie: Anfangsgründe eines globalen Humanismus 9783495998359, 9783495998373


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Table of contents :
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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo
Zur Einführung
Aufbau des Buches und Danksagung
II. Im Horizont eines globalen Humanismus
I. Die Diesseitigkeit der Humanität
2. Antike Rollenethik in China und Europa
Familie und Politik
Etikette und Vorbildlichkeit
3. Buddhas Religion der Selbsterlösung
4. Vergeltung und Gewissen
Vergeltung und Wiedergeburt
Kants Lehre vom inneren Gericht
Karma und Schuld
Buddhas Vergeltungslehre
Das reine Gewissen
Kausalität und Erkenntnis
III. Die Vier Weisen
Konfuzius
Die Welt der konfuzianischen Gespräche
Einleitung
1. Die Besonderheit der »Gespräche«
2. Ein Lernender – Die Selbsteinschätzung des Konfuzius
3. Gemeinsames Lernen und gemeinsames Leben
4. Vielerlei Schüler und vielerlei Lehren
5. Worüber Konfuzius schwieg
Sokrates
Das epochale Exempel des Sokrates
1. Der welthistorische Auftritt des Sokrates
2. Die Moderne beginnt mit Sokrates
3. Kant als Zeuge
4. Die Größe des Sokrates
5. Der Übergang zur individuellen Tugend
6. Selbsterkenntnis als erstes Gebot
7. Selbst- und Weltbegriff des Sokrates im Wandel
Buddha
Buddhas wahre Bedeutung als Handlungstheoretiker
Einleitung: Der zeitgeschichtliche Hintergrund
1. Was bedeutet das Erwachen Buddhas?
2. Die Besonderheit der Lehre Buddhas
3. Handlungstheorie und Bedingtes Entstehen
4. Das gute Handeln
Schluss
Kant
Freiheit und Wechselseitigkeit in Kants Ethik
Einleitung: Von der Goldenen Regel zum Kategorischen Imperativ
Wechselseitige Freiheitsgewährung
Die Pflicht der Hilfeleistung
Gesetz und Verallgemeinerung
Position und Rolle
Schluss: Pflichten gegen sich selbst
IV. Epilog: Achsenzeit und Humanismus
0. Einführung
1. Kantische Vorzeichen
2. Zeit und Achse
3. Fortschritt und Transzendenz
4. Kritik der Achsenzeit-Theorie
a. Entzauberung der Welt
b. Moralisierung der Religion
5. Historizität der Achsenzeit
6. Bildungshumanismus
Anhang
Kanonische Quellen und digitale Ressourcen
Literaturverzeichnis
Personenindex
Sachindex
Bild- und Textnachweise
Über die Autoren
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Die Vier Weisen im Garten der Philosophie: Anfangsgründe eines globalen Humanismus
 9783495998359, 9783495998373

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Rainer Schulzer

Die Vier Weisen im Garten der Philosophie Anfangsgründe eines globalen Humanismus Mit Beiträgen von Kōhei Yoshida, Makio Takemura und Volker Gerhardt

https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

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Rainer Schulzer

Die Vier Weisen im Garten der Philosophie Anfangsgründe eines globalen Humanismus Mit Beiträgen von Kōhei Yoshida, Makio Takemura und Volker Gerhardt

https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99837-3 (Print) ISBN 978-3-495-99835-9 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

Philosophie ist wirklich nichts anderes als eine praktische Menschenkenntnis. (I. Kant, Nachlass 1776–78)

In einer pragmatischen Anthropologie [sucht] man den Menschen nach dem zu kennen, was aus ihm zu machen ist. (I. Kant, Anthropologie, 1798)

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https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

Inhaltsverzeichnis

Der Garten der Philosophie in Tokyo . . . . . . . . .

9

II. Im Horizont eines globalen Humanismus . . . . . .

23

I. Die Diesseitigkeit der Humanität . . . . . . . . . .

25

2. Antike Rollenethik in China und Europa . . . . . . .

34

3. Buddhas Religion der Selbsterlösung . . . . . . . .

52

4. Vergeltung und Gewissen . . . . . . . . . . . . . .

67

III. Die Vier Weisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Yoshida Kōhei Die Welt der konfuzianischen Gespräche . . . . . . . .

99

Volker Gerhardt Das epochale Exempel des Sokrates . . . . . . . . . . .

119

Takemura Makio Buddhas wahre Bedeutung als Handlungstheoretiker .

141

Rainer Schulzer Freiheit und Wechselseitigkeit in Kants Ethik . . . . . .

169

IV. Epilog: Achsenzeit und Humanismus . . . . . . . .

195

I.

7 https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

Inhaltsverzeichnis

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

Kanonische Quellen und digitale Ressourcen . . . . . .

247

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Bild- und Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

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Zur Einführung

Verglichen mit den gezupften Moosflächen und den linearen Kiestextu­ ren der viel bestaunten Zen-Gärten des Landes macht dieser öffentliche Park in Tokyo einen verlassenen, geradezu verwunschenen Eindruck. Abseits der geschäftigen Einkaufsstraßen und Touristenpfade der Haupt­ stadt gewährt der Tempelgarten der Philosophie Eintritt in die hinter­ gründige Welt der Metaphysik. Auf verzweigten Lehrpfaden können die Besucher hier durch den »Hain des Endlosen Seins« wandeln, auf der »Insel der Vernunft« den festen Boden unter den Füßen spüren oder im luftigen Schatten des »Pavillons der Subjektivität« dem Wehen des Geistes nachsinnen. Wem der labyrinthische Anstieg durch den »Bezirk der Logik« zu beschwerlich ist, kann die »Abkürzung der Intuition« direkt zum »Bestimmungsort des Bewusstseins« nehmen. Oben auf dem »Hügel von Raum und Zeit« steht zwischen einer roten Pagode, dem kleinen Auditorium und einer Bibliothek der »Schrein der Vier Weisen« – der Nukleus dieses gartenarchitektonischen Universums der Philosophie. Gemäß dem Willen seines Schöpfers, Inoue Enryō (1858– 1919), wird hier jedes Jahr im November reihum einer der Vier Weisen durch einen Vortrag geehrt. Veranstalter der Zeremonie im Tempelgarten der Philosophie ist die Toyo Universität, die »Universität des Ostens«, welche 1887 als »Akademie der Philosophie« ebenfalls von Inoue Enryō gegründet worden war.1 Die Zusammenstellung der Vier Weisen ist jedoch älter als ihr Garten. Im Jahr 1881 wurde an der 1877 gegründeten Tokyo Universität, an der ersten modernen Forschungsuniversität Ostasiens auch der Stu­ diengang Philosophie eingerichtet. Im darauffolgenden Jahr findet sich im Lehrverzeichnis der Universität folgende Spezifikation: »Die Philoso­ phie wird in östliche und westliche Philosophie unterteilt [...]. Um die Entwicklung der Philosophie des Ostens zu behandeln, sind die chinesi­ 1 R. Schulzer, Guide to the Temple Garden of Philosophy (2019). Die Street View von Google Maps ermöglicht einen virtuellen Spaziergang durch den Garten. Die Webseite des Parks bietet eine Reihe einführender Videos in englischer Sprache. www.tetsugak udo.jp/en/movie2.

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

sche und die indische Philosophie maßgeblich.«2 Meines Wissens wurde hier zum ersten Mal in Japan das Paradigma der westlichen Philosophie auf die östlichen Traditionen übertragen und damit ein seinem Anspruch nach globales philosophisches Kurrikulum geschaffen. Der einzige Stu­ dent dieser ersten Generation japanischer Fachphilosophen war der dreiundzwanzigjährige buddhistische Priester Inoue Enryō. Anlässlich seiner Graduierung im Jahr 1885 gestaltete er eine Gedenkstunde, die er »Zeremonie der Philosophie« nannte. Zwecks dieser Feierlichkeit hatte er eine Bildrolle anfertigen lassen, auf der die Porträts der Philosophen Buddha, Konfuzius, Sokrates und Kant zu sehen waren (Abbildung 1). Enryō wählte jeweils zwei Vertreter für Okzident und Orient. Dass er dem Inder Buddha und dem Chinesen Konfuzius Sokrates als Repräsentant der abendländischen Philosophie an die Seite stellte, wird nicht weiter verwundern. Der Name Kants im Kreis der antiken Weisen ist dagegen erklärungsbedürftig. Sein Porträt auf der Bildrolle gilt außerdem als die erste Abbildung Kants ostasiatischen Ursprungs. Enryōs philosophischer Lehrer, der US-Amerikaner und HarvardAbsolvent Ernest F. Fenollosa (1853–1908) folgte in seinen Vorlesungen den gängigen Lehrbüchern der Zeit in der Einteilung der Geschichte des europäischen Denkens in antike und neuzeitliche Philosophie. Ins­ besondere die englische Übersetzung der Geschichte der Philosophie im Umriss (1848) von Albert Schwegler wurde an der Tokyo Universität als Grundlage für den Philosophieunterricht viel verwendet. Fenollosa, der sich dem idealistischen Trend seiner Zeit folgend zur Aufgabe gemacht hatte, Hegels Entwicklungsdenken mit der Evolutionstheorie Herbert Spencers zusammenzudenken, würdigte in seinen Vorlesungen Kant als »den Weisen von Königsberg« und betonte die Unabdingbarkeit, welche der Kritik der reinen Vernunft für das Verständnis des deutschen und auch des britischen Idealismus zukäme.3 Ohne dass Enryō zum Zeitpunkt seines Studienabschlusses ein eingehendes Verständnis der kantischen Philosophie bescheinigt werden könnte, hat er sich unter dem Einfluss seines amerikanischen Lehrers nicht etwa für Descartes, mit dem nach allgemeiner Auffassung die Philosophie der Neuzeit eingesetzt hat, aber auch nicht für Hegel entschieden, sondern als Angelpunkt der neueren europäischen Philosophie Immanuel Kant ausgezeichnet.

2 Tokyo Daigaku (Hrsg.), Ichiran 1882–1883, 113. 3 R. Schulzer, »Fenollosa on Kant« (2017), 25.

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

Abbildung 1: Watanabe Bunsaburō, 1885

13 https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

Abbildung 2: Hashimoto Gahō, 1895

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

Nachdem Enryō im Jahr 1887 die Philosophische Akademie in Tokyo gegründet hatte, wurde die jährliche Feierlichkeit zu Ehren der vier Weltweisen von 1891 bis 1895 jährlich im Hörsaal der Akademie abge­ halten. Im Jahr 1904 bekam die Zeremonie dann ein neues Zuhause, als Enryō auf einem damals noch außerhalb der Stadtgrenzen Tokyos liegenden Grundstück den Schrein der Vier Weisen errichten ließ. Im Jahr 1906 zog Enryō sich aus der von ihm gegründeten Philosophischen Akademie zurück und widmete sich bis zu seinem Tod im Jahr 1919 der Gestaltung seines Gartens, in dessen Zentrum bis heute der Schrein der Vier Weisen steht. Gemäß seines letzten Willens obliegt es der von ihm gegründeten Toyo Universität, die Tradition der Zeremonie der Philosophie fortzuführen. Die heute »Schreinfest der Philosophie« genannte Feierlichkeit wird seit 1919 mit Ausnahme weniger Jahre bis in die Gegenwart fortgeführt.4 Im Jahr 1956 enthüllte die Toyo Universität auf ihrem Hauptcampus ferner Reliefs der vier Philosophen, deren Kopien heute an allen Standorten der Universität zu sehen sind. Die Vier Weisen wurden so zu einem wichtigen Symbol der Universität. Die Toyo Universität gehört heute nicht nur zu den zehn größten privaten Forschungsuniversitäten Japans, sie ist die einzige Hochschule, die mit Recht als ihre Gründungsidee und ihren Markenkern die Philosophie geltend machen kann. Im Fall des zweiten von Enryō in Auftrag gegebenen »Porträts der Vier Weisen« von Hashimoto Gahō (Abbildung 2) aus dem Jahr 1895 sind die Vorbilder in der ostasiatischen Kunstgeschichte deutlicher. Die Vorstellung, dass die drei großen chinesischen Traditionen des Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus zwar jeweils in anderen Worten, letztendlich aber die gleiche ewige Wahrheit ausdrücken, hat im China der Sòng-Dynastie (960–1279) ein Bildgenre hervorgebracht, das Buddha, Lǎozǐ und Konfuzius (oft scherzend) im Gespräch miteinander zeigt.5 Enryōs Idee, die Situation des modernen Japans durch eine neue Konstellation von Gründerfiguren zu versinnbildlichen, war also keineswegs abwegig. Tatsächlich hatte bereits vor Enryō der japanische Aufklärer Tsuda Mamichi im Jahr 1874 Buddha, Konfuzius und Jesus als neue Trias ins Gespräch gebracht. Er begründete dies damit, dass alle drei 4 Satō A. auf Japanisch »Hundert Jahre (1919–2018) Vorträge am Schreinfest der Philosophie« (2020). 5 Siehe den Artikel von Tanaka J. in japanischer Sprache »Betrachtungen über das Porträt der Vier Weisen von Hashimoto Gahō« (2018). Zur Einheit der Drei Lehren vgl. J. Gentz. »Religious Diversity in Three Teachings Discourses« (2013).

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

Weisen den Weg des Humanen (jindō) zu ihrer Grundlage gemacht und die höchste Tugend gelehrt hätten. Denn die Barmherzigkeit Buddhas, Konfuzius' Humanität und die Liebe Jesu unterschieden sich nur dem Namen nach.6 Die erste mir bekannte gemeinsame Nennung der Namen Konfu­ zius, Buddha, Sokrates und Jesus in Japan stammt aus dem Jahr 1893 von dem Philosophen Miyake Setsurei.7 Inoue Tetsujirō (Inoue Enryōs zwei Jahre älterer Namensvetter) schloss sich 1910 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Ex Oriente Lux dieser Zusammenstellung an, woraufhin 1912 eine Sonderausgabe mit zahlreichen Artikeln über die vier Kulturheroen erschien. In einer weiteren Sonderausgabe mit dem Titel »Die Sieben Weisen« im Jahr 1914 wurde die Gruppe um Zoroaster, Immanuel Kant und Charles Darwin ergänzt.8 Im Jahr 1938 publizierte der heute noch viel gelesene Ethiker Watsuji Tetsurō ein Buch über Konfuzius, in dessen Einleitung er neben seiner Hauptfigur die Weisen Sokrates, Jesus und Buddha als die »Lehrer der Menschheit« (jinrui no kyōshi) auszeichnete.9 Das Viergestirn Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus war in Japan also bereits etabliert, als im Jahr 1957 der erste Band von Karl Jaspers' unvollendetem Spätwerk über Die großen Philosophen erschien. Der unter dem Titel Die maßgebenden Menschen (1964) ausgegliederte erste Teil über Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus ist heute aus dem deutschen Buchhandel kaum noch wegzudenken. Enryō, der sich als Intellektueller insbesondere durch seine wirk­ same Kritik am Christentum früh einen Namen gemacht hatte, blieb bei seiner ursprünglichen Wahl: Kant statt Jesus. Philosophie statt Monothe­ ismus. Beim Ausbau seines Gartens begnügte sich Enryō jedoch nicht mit seinen Vier Weisen, sondern er baute seinen Park zu einem veritablen Pantheon der Weltphilosophie aus. In dem Park finden sich außer dem Schrein der Vier Weisen die »Pagode der Sechs Denker des Ostens«, die »Stelen der Drei Gründerväter« und die »Laube der Drei Japanischen 6 Tsuda M., »The Three Sages« (1874). Zwar wurden an der Tokyo Universität früh auch Thomas Carlyle (On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History, 1841) und Ralph W. Emerson (Representative Men, 1850) gelesen. Die Annahme, dass es für die Idee der Weltweisen eines Anstoßes aus dem Westen bedurfte, scheint aber unbegründet. 7 Miyake S. im Nachwort zu dem Buch Sokuratesu von Chikami K. (1893), 117. 8 Inoue T. in japanischer Sprache »Über Weise« in Ex Oriente Lux, Jg. 5, Nr. 9 (1910). Der Sonderband über die Vier Weisen in derselben Zeitschrift erschien 1912 (Jg. 7, Nr. 1). Der über die Sieben Weisen 1914 (Jg. 9, Nr. 1). 9 Watsuji T. Kōshi [Konfuzius] in Gesammelte Werke, Bd. 6.

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

Gelehrten«.10 In die Reihe der Weltweisen sind hierdurch auch Nāgār­ juna, Zhū Xī und Thales aufgenommen. Der ohnehin naheliegende Vergleich mit Jaspers drängt sich von daher noch weiter auf. Dieser hat ja in seinem »Lehrbuch« der großen Philosophen den vier »maßgebenden Menschen« in Gestalt der »fortzeugenden Gründer des Philosophie­ rens« und den »aus dem Ursprung denkenden Metaphysikern« ebenfalls weitere Gruppen angereiht.11 Insofern Enryōs Selektion ein östliches Übergewicht aufweist und im Fall Jaspers' zahlenmäßig ein europäisches, verhalten sich die beiden Vorschläge für ein Pantheon der kanonischen Denker der Weltphilosophie sogar auf glückliche Weise komplementär. Neben der anlässlich des Schreinfests der Philosophie gezeigten Bildrolle der Vier Weisen finden sich im Tempelgarten der Philosophie auch Abbildungen und Reliefs der anderen Denker und Philosophen. Nicht jedoch im zentralen Schrein der Vier Weisen. Obwohl Enryō seinen Vier Weisen in Form eines Sakralbaus und einer Zeremonie nicht nur ein religiöses Ambiente geschaffen hatte, sondern auch selbst von der »Religion der Philosophie auf dem Berg der Moral« sprach, hat er im zentralen Gebäude seines philosophischen Gartens bewusst auf Statuen und Abbilder verzichtet. Seine aufklärerische Ablehnung von Bittgebeten und Heiligenverehrung (durchaus mit anti-christlicher Spitze) blieb also in Geltung. Die Weltweisen Buddha, Konfuzius, Sokrates und Kant sind im Schrein der Vier Weisen nur durch ihre Namen auf großen hölzernen Tafeln präsent. Die Tafeln hängen unter dem Dach an den vier Seiten einer das Absolute symbolisierenden Skulptur. Die anti-theistische Ausrichtung des Tempelgartens der Philosophie ist durch den Ausschluss Jesu kenntlich gemacht. Angesichts der Versinn­ bildlichung des Absoluten nach Art eines Heiligtums lässt sich jedoch durchaus fragen, ob hier die philosophische Idee hinter dem religiösen 10 Die Sechs Orientalischen Denker: Shōtoku Taishi, Sugawara no Michizane, Zhuāngzǐ, Zhū Xī, Nāgārjuna, Kapila. Die Drei Gründerväter: Der Gelbe Kaiser, Akṣapāda, Thales. Die Drei Japanischen Gelehrten: Hirata Atsutane, Hayashi Razan, Shaku Gyōnen. Weiterführende Literatur in englischer Sprache zu den genannten Denkern in meinem Guide to the Temple Garden of Philosophy (2019). 11 Die fortzeugenden Gründer des Philosophierens: Platon, Augustin, Kant. Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker: Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin, Anselm, Spinoza, Lǎozǐ, Nāgārjuna. K. Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1 (2003). In Jaspers unvollendetem Spätwerk waren außerdem die Gruppe der »entwerfenden Metaphysiker« und die »Gebäude der schöpferischen Ordner« (Aristoteles, Thomas, Hegel) vorgesehen. Außer Zhuāngzǐ, den Jaspers als »Literaten der Weisheit« berück­ sichtigten wollte, enthält sein Entwurf allerdings keine weiteren außereuropäischen Denker (Bd. 1, S. 48).

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

Charakter nicht zurückgetreten ist. Außerdem kann man diskutieren, ob die Installation nicht demselben Synkretismus Vorschub leistet, den auch die Trias Buddha, Lǎozǐ und Konfuzius von jeher zum Ausdruck brachte: Genauso wie die »Drei Lehren« Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus letztendlich als Einheit gedacht wurden, so treffen sich auch die Lehren der vier Weltphilosophen im Fluchtpunkt des Ununter­ scheidbaren. Tatsächlich wurde Enryō schon seit der Meiji-Zeit (1868–1912) wegen seines Synkretismus kritisiert. Seine Annahme, dass alles Den­ ken im Absoluten konvergiere, war inspiriert durch seine Entdeckung vager Parallelen zwischen hegelianischer Dialektik und buddhistischer Metaphysik.12 Die im Zuge des Aufstiegs zum Absoluten postulierte Aufhebung aller Differenzierungen führte jedoch zu aus heutiger Sicht unübersehbaren Unschärfen in seinem Denken. Verzichtet man dage­ gen auf die hegelianische Interpretation und nimmt eine kantische Perspektive ein, ist das Absolute nicht als solches erkennbar, sondern dient der philosophischen Forschung lediglich als regulative Idee. Die Idee der universellen Wahrheit ist der Leitstern, in dessen Licht es das philosophische Erbe der Menschheit auszuwerten gilt. Wahrheit liegt niemals in Vollkommenheit vor. Übereinstimmung mit den Tatsachen, logische Widerspruchsfreiheit und Kohärenz mit etabliertem Wissen sind die Kriterien, anhand der das Gedankengut der einzelnen Traditio­ nen hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche geprüft werden muss. In dieser Interpretation handelt es sich bei Enryōs philosophischem Tempel also nicht um eine Hermeneutik des Synkretismus, sondern um eine Aufforderung zum philosophischen Eklektizismus. Der Synkre­ tismus kompromitiert seine Elemente um der Synthese willen. Der philosophische Eklektizismus hingegen prüft allseitig, um abzusichern, durch seine Wahl das Richtige zu treffen. Er ist a priori inklusiv, a posteriori jedoch kritisch und selektiv. Die Philosophie sollte demnach immer komparativ arbeiten. Sie kann es aber weder beim Vergleich noch beim hermeneutischen Wandel zwischen den Kulturen belassen, sondern sie muss am Ende die Geltungsfrage stellen. In der Ethik, von der dieses Buch hauptsächlich handelt, ist dies existenziell ohnehin evident: Moralphilosophische Überlegungen können ihre Funktion, Orientierung zu geben, nur erfüllen, wenn sie zu Ergebnissen gelangen. Neutralität bietet keine Grundlage für eine Entscheidung. Am Ende der 12 R. Schulzer, Inoue Enryō (2018). Zum Synkretismus-Vorwurf siehe 291f. Zu Hegel und Buddhismus siehe Kap. 13.

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

philosophischen Untersuchung muss deshalb eine Wertung stehen, die Anhaltspunkte für die eigene Lebenspraxis gibt. Es lässt sich deshalb a priori auch nicht ausschließen, dass wir nach unseren Wanderungen durch die antiken Kulturen des eurasischen Kontinents am Ende doch in der kantischen Philosophie unsere Heimat finden.

Aufbau des Buches und Danksagung Die Aufsätze über die Vier Weisen bilden das Zentrum des Buches. Ich bin den drei distinguierten Professoren von Herzen dankbar, dass sie meinen Vorschlag, die antiken Weisen als Denker der Humanität zu exponieren, aufgenommen und unter Einsatz ihrer durch eine Vielzahl von Büchern verbürgten Expertise umgesetzt haben.13 Durch die Auswahl jeweils zwei japanischer und zwei deutscher Autoren für die Einzeldarstellun­ gen der vier Weisen sollte nicht nur dem eurasischen Horizont der Thematik Rechnung getragen werden. Insofern es sich bei den beiden japanischen Wissenschaftlern zudem um emeritierte Professoren der Toyo Universität handelt, versteht sich das Buch auch als Beitrag zur Explikation und Fortführung des einzigartigen philosophischen Geistes der als Philosophische Akademie gegründeten Hochschule. Dies wird durch die Integration einer Reihe teils von Inoue Enryō selbst verfasster chinesischer Gedichte unterstrichen, die im Kontext der Vier Weisen entstanden sind.14 Yoshida Kōheis Text macht deutlich, dass sich der Konfuzianis­ mus nicht auf seinen oft überbetonten Charakter des Konservatismus reduzieren lässt. Yoshida zeichnet Konfuzius als einen Lehrer, dessen innerstes Anliegen es war, die individuellen Charaktere seiner Schüler zur Humanität zu bilden. Indem Takemura Makio uns Buddha als Hand­ lungstheoretiker (d.h. als Theoretiker der altindischen Karmalehre) vorstellt, macht er den Blick frei für die dem Buddhismus inhärente ethische Dimension, hinsichtlich der auch der ostasiatische Buddhismus Kontinuität gewahrt hat. Mein philosophischer Lehrer Volker Gerhardt entspricht dem Existentialismus des Sokrates durch Einblicke in seine intellektuelle Autobiographie. Im Weiteren zeigt er, weshalb Sokrates aufgrund seines individuellen Strebens nach der Tugend sowie der sich 13 Biographische Angaben zu den drei Autoren finden sich am Ende des Buches. 14 Zu den Gedichten und ihren Bezügen zu den Bildrollen der Vier Weisen siehe im Anhang unter »Bild- und Textnachweise«.

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

in wechselseitiger Selbst- und Menschenkenntnis entfaltenden Liebe ein bis heute wirksames Beispiel geblieben ist. Der zu erwartenden Heterogenität der drei Porträts einen Rahmen zu geben, der sie im Horizont eines globalen Humanismus vermittelt, war kein leichtes Unterfangen. Das erste Kapitel des zweiten Teils arbei­ tet deshalb zunächst die Gemeinsamkeit der drei antiken Weisen als diesseitige Lehrer von Weisheit und Tugend heraus. Das zweite Kapitel über Antike Rollenethik leistet anhand der zwei welthistorisch paradigma­ tischen Beispiele humaner Bildungstraditionen (d.i. der Konfuzianismus und die alteuropäische Ethik) einen weiteren Beitrag zur Konstitution des Humanismusbegriffs. Um einerseits der Assoziation individueller Freiheit und Autonomie mit Eigennutz und andererseits dem Vorurteil willenlosen ostasiatischen Gruppen- und Rollenverhaltens entgegenzu­ wirken, wurden beide Traditionen anhand rollenethischer Überlegungen unter der Prämisse vermittelt, dass die Normativität sozialer Rollen der Selbstbestimmung nicht nur nicht entgegensteht, sondern dass ein Selbstbegriff ohne die Integration der je eigenen sozialen Funktionen, Positionen und Relationen eine fehlgeleitete Eigenständigkeit des Indivi­ duums bedeutet.15 Die nicht nur im Konfuzianismus betonte, sondern auch von Cicero her begründbare Vorbildfunktion jedes Individuums (nicht zuletzt in seiner Rolle als Mensch) erlaubt die Deutung des konfuzianischen Denkens als einer Ethik des exemplarischen Handelns.16 Im Kontrast zu den verschiedenen Formen des religiösen Theismus den humanistischen Charakter des Buddhismus nachzuweisen, bereitet geringere Schwierigkeiten, als die dem Buddhismus nachgesagte Weltab­ wendung mit dem stets auf Mitmenschlichkeit angelegten Humanismus zu vereinbaren. Das Kapitel über Buddhas Religion der Selbsterlösung ist deshalb darauf konzentriert zu zeigen, dass die von Buddha empfohlene Selbstkultivierung in der Stille keine Jenseitsorientierung impliziert. Das von Takemura Makio angesprochene, komplexe Ineinander­ greifen von Karma und Kausalität in der Lehre Buddhas gab Anlass, den Buddhismus hinsichtlich des Themas Vergeltung und Gewissen mit Kant ins Gespräch zu bringen. Die anhand reichhaltigen ethnographi­ schen Materials, aber ohne Bezugnahme auf den indischen Kulturkreis durchgeführte Studie über Vergeltung und Kausalität (1941) von Hans Kelsen bot hierfür den idealen Rahmen. Kelsen erbringt nicht nur den Nachweis, dass sich hinter magischen und mythologischen Vorstellungen 15 Vgl. V. Gerhardt, Selbstbestimmung (1999), Kap. 8.6 und 9.3. 16 Dazu V. Gerhardt, »Menschheit in meiner Person« (2006).

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

der Vergeltung im Grunde das strafjuristische Prinzip verbirgt. Sondern er zeigt auch, dass die bei den Vorsokratikern erstmals formulierte Theorie der Kausalität ihren Ursprung in der Vergeltungslogik hat. Die weitestgehende Abwesenheit einer der Strafjustiz analogen belohn­ enden Rechtsprechung hat ihren positiven Grund in der kantischen Unterscheidung uneingeschränkt geltender Verbote und eingeschränkt schuldiger Gebote. Wie Kant zeigt, spiegelt sich diese Asymmetrie in der emotionalen Logik des Gewissen, welches den Menschen zwar aufgrund seiner Verfehlungen in Gestalt der Reue belastet bzw. quält, ihn bei Wohl­ verhalten aber schwerlich in moralische Ekstase versetzt. Im Zentrum des langen vierten Kapitels des zweiten Teils steht deshalb nicht nur der Befund, dass auch die buddhistische Karmalehre Aspekte aufweist, die in Richtung des Begriffs des reinen Gewissens weisen, sondern auch dass Buddhas intensives Nachdenken über die Vergeltungslogik ihn zu einem Theoretiker der Kausalität werden ließ. Mein eigener Beitrag zu Kant ist einerseits bemüht, die GesetzesFormel des Kategorischen Imperativs, deren Interpretation die Kantfor­ schung bis heute nicht unerheblich beschäftigt, in erträglichem Maß zu vereinfachen. Andererseits wird den Lesern die Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs als Anwendung der Goldenen Regel auf den Freiheitsbegriff nahegebracht. Im Zuge der auf den Begriff der Wechselseitigkeit in der kantischen Ethik abhebenden Darstellung kom­ men als Korrelat der Reziprozität erneut die Vergeltung (Talionsprinzip) und im Zusammenhang mit dem von der Goldenen Regel geforderten imaginären Standpunktwechsel auch rollenethische Erwägungen wieder zur Sprache. Die in den Epigraphen angedeutete kantische Prägung des Buchpro­ jekts sowie meines Philosophierens kommt im Epilog über Achsenzeit und Humanismus deutlich zum Tragen. Der persönliche Reiz, mich der in Japan entstandenen Zusammenstellung der Vier Weisen in Gestalt dieses Buches zu widmen, verdankt sich nicht zuletzt der Anwesenheit Kants im Kreis der drei antiken Gründerfiguren. Eine umfassende Behandlung der Achsenzeit-Thematik wäre allerdings nicht nur wegen der kaum zu bewältigenden Fülle der Literatur, sondern insbesondere aufgrund des welthistorischen Horizonts auch in Buchlänge kaum zu verwirklichen gewesen. Die Aufnahme der von Karl Jaspers angestoßenen Überlegun­ gen zu einer eurasischen Achsenzeit schien mir dennoch nicht allein deshalb lohnend, weil sich das Thema dem Sujet des Buches geradezu aufdrängt. Sondern auch weil die philosophische Reflexion aufgrund der breiten Forschungsdiskussion in der Geschichtswissenschaft und

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I. Der Garten der Philosophie in Tokyo

der historischen Religionssoziologie (trotz der Rezeption durch Jürgen Habermas) in den Hintergrund zu treten droht. Die kantischen Züge des jaspersschen Denkens gaben hierbei Gelegenheit, unter Rückgang auf Kant den spezifischen, auf Geltungsansprüche fokussierten Blick der Philosophie zu konturieren. Damit wird dem Missverständnis von Seiten der historischen Wissenschaften vorgebeugt, die durch die Philosophie in praktischer Absicht beleuchtete Vergangenheit als rein deskriptive Narrative des Fortschritts zu verkennen. Neben den drei Professoren, deren Beiträge diesen Band erst ermög­ licht haben, möchte ich ausdrücklich Lukas Trabert (Verlag Karl Alber) meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Trotz der jahrelangen Verzöge­ rung bis zur Fertigstellung des Manuskripts hat er das Buch lektoriert und mich in allen Fragen bis zur Publikation geduldig betreut. Für Korrekturen und Kommentare bin ich meinen Freunden Professor Franz Janecek und Michael Malm sowie meiner Mutter Ursula Schulzer herz­ lich dankbar. Des Weiteren gilt mein inniger Dank den beiden Philologen Iwai Shōgo (Pāli) und Nishi Yasutomo (Sanskrit) für ihre ausdauernde Hilfsbereitschaft. Für seine Flexibilität und sein Entgegenkommen bei der Umsetzung meiner satztechnischen Sonderwünsche richtet sich mein Dank nicht zuletzt an Fabian Wahl (Nomos Verlagsgruppe).

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II. Im Horizont eines globalen Humanismus

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I. Die Diesseitigkeit der Humanität

Am Ende seiner Abhandlungen über Die maßgebenden Menschen dis­ kutiert Karl Jaspers die Gemeinsamkeiten seiner vier Weisen. Hierbei kommt er auf den Punkt des Schweigens und Nichtwissens zu sprechen: Die vier kennen und betonen das Schweigen. [...] Sie alle haben kein Interesse für metaphysische Spekulation, keines für Naturwissen. [...] Dazu kommt an entscheidender Grenze ihr betontes Nichtwissen. Wo ein Wissen nicht erreichbar ist, soll die Zeit nicht mit ergebnislosen Gedanken vergeudet werden. Auch in großen Fragen ist das Wissen nicht notwendig, wenn das Heil der Seele nicht davon abhängt.1

Diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt der in diesem Buch zusam­ mengeführten Überlegungen: Die drei Gestalten Sokrates, Konfuzius und Buddha richten durch ihr metaphysisches und theologisches Schweigen den Blick auf die conditio humana. Obwohl Jaspers Jesus in dem Zitat nicht ausnimmt, trifft die Konzentration auf die menschli­ chen Dinge auf den prophetischen Typus Jesus in offenkundiger Weise nicht zu. Dass Konfuzius nicht über die kosmische Ordnung (»Weg des Himmels«), Geister und Übernatürliches sprach, ist nicht nur aufgrund der Abwesenheit der Themen in seinen Gesprächen evident, der Umstand wird auch explizit berichtet (Lúnyǔ 5.13, 7.21). Yoshida Kōhei belegt in seinem Beitrag die weltzugewandte Haltung des Konfuzius durch die folgende berühmte Passage: Angesprochen auf den Tod, erwidert Konfuzius, dass er noch nicht zu leben wüsste. Wie sollte er da über das Sterben Auskunft geben? (Lúnyǔ 11.12) Sokrates, der sich wie Konfuzius hinsichtlich Naturphilosophie und Metaphysik weitestgehend zurückhielt, wurde später von Cicero dafür gewürdigt, die Philosophie zuerst vom Himmel auf den Boden der menschlichen Dinge geholt zu haben.2 Wie Konfuzius machte auch Sokrates seine agnostische Haltung in der Konfrontation mit dem Tod 1 K. Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1 (2007), 225. 2 Cicero, Tusculanae disputationes, 5.4.10.

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ausdrücklich. In seiner Verteidigungsrede erklärte er, nicht zu wissen, was die Seele im Augenblick des Todes erwarte. Da er sich deshalb nicht vor dem Tod fürchte, mag er in diesem Punkt tatsächlich weiser sein als seine Zeitgenossen. Denn Todesangst setze das Wissen voraus, dass der Tod für den Menschen etwas Schreckliches sei. Über dieses Wissen verfüge er jedoch nicht. Es sei deshalb auch zwecklos, ihn unter Androhung der Todesstrafe dazu zu bewegen, auf das Philosophieren zu verzichten. Da er sich nicht vor dem Tod fürchte und kein höheres Gut als die Sorge um die menschliche Tugend kenne, werde er weder schweigen noch ins Exil gehen (Apologie 28). Sokrates' sprichwörtlich gewordenes Wissen seines Nicht-Wissens erhält in seiner unerschrockenen Haltung im Angesicht des Todes sein volles existentielles Gewicht. Es liegt jedoch auch der sokratischen Gesprächsführung zugrunde: Sokrates tritt nicht als Lehrer auf, sondern gibt als Fragender seine stete Lernbereitschaft zu verstehen. Auch in dieser Bedeutung korrespondiert das sokratische Motiv mit Konfuzius' Lehre. In den Gesprächen heißt es: Wissen bedeute, das Wissen als Wissen und das Nicht-Wissen als Nicht-Wissen zu erkennen (Lúnyǔ 2.17). Das Bewusstsein der Unvollkommenheit der eigenen Einsicht impliziert ferner jene Lernoffenheit und Unabgeschlossenheit, die das Merkmal der humanen Bildung ist. Zwar wird das Bewusstsein der Grenzen der eigenen Einsicht auch in den buddhistischen Schriften gelobt (Dhammapada 63). Der Buddha selbst aber, wie er uns in den ältesten Schriften (d.i. der Pāli-Kanon) begegnet, ist der Möglichkeit bereits entzogen, seine Erkenntnis hätte unvollkommen sein können. Da der Buddha zudem eine Lebensform geschaffen hat, die familiär, ökonomisch und politisch eine Gegenkultur bedeutete, mag es auf den ersten Blick nicht überzeugen, Buddha in eine Reihe mit den lebenspraktischen Weisen Sokrates und Konfuzius zu stellen. Auf die möglichen Einwände gegen die Charakterisierung des Buddhismus als Humanismus wird im Kapitel über »Buddhas Religion der Selbsterlösung« ausführlich eingegangen. Ob der historische Buddha tatsächlich Allwissenheit beansprucht hat, gilt zwar manchen Buddho­ logen keineswegs als ausgemacht.3 In den Pāli-Schriften stellt sich die Enthaltsamkeit des Buddha gegenüber transzendenten Fragen jedenfalls nicht als Eingeständnis seiner Unwissenheit, sondern als Schweigen dar. Verglichen mit den bereits diskutierten Zeugnissen von Sokrates 3 Nakamura H. Gotama Buddha (2005), Bd. 2, 203–211. R. Gombrich, What the Buddha Thought (2009), Kap. 11.

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und Konfuzius findet sich in den buddhistischen Predigten sogar die eindrucksvollste Stellungnahme gegen unfruchtbare metaphysische Spe­ kulation. Auf das Drängen eines Schülers, der Buddha möge sich auch zu den noch unbeantworteten Fragen nach der Unendlichkeit des Kosmos, der Abtrennbarkeit der Seele vom Körper und der Fortexistenz nach dem Tod in definitiver Weise äußern, reagiert der Erwachte mit einem Gleichnis: Er vergleicht die Ungeduld des menschlichen Fragens mit einem Mann, der durch einen vergifteten Pfeil verwundet wurde. Als ihm seine Verwandten und Freunde medizinisch helfen wollen, weigert sich dieser jedoch, den Pfeil herausziehen zu lassen, bevor er nicht wisse, welches Standes der Schütze ist, welche Farbe seine Haut hat, woher er kommt, welche Art von Bogen er verwendete, wie dieser gearbeitet sei usw. Die Absurdität, den eigenen Tod aufgrund solcher Fragen in Kauf zu nehmen, vergleicht Buddha mit der Ablenkung durch metaphysische Probleme. Derartige Spekulation habe keinen Bezug zu seiner Lehre, die einzig und allein beansprucht, den Weg aus dem Leid zu weisen.4 Dass die Erkenntnistheorie Immanuel Kants die agnostische Hal­ tung der antiken Weisen in ihrer neuzeitlichen Gestalt ist, mag zunächst überraschen. Jedoch beruft sich Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) sogar ausdrücklich auf Sokrates (B xxxi). Wenn man ferner weiß, dass Kant keineswegs der verkopfte Scholastiker war, für den manche ihn noch immer halten,5 sondern seine Philosophie bei aller Abstraktion und Systemwillen aus den unab­ weisbaren existentiellen Fragen der Menschheit entwickelt hat, erscheint es in hohem Maße folgerichtig, dass Kant in seiner epochemachende Ersten Kritik mit höchstem theoretischen Anspruch zeigte, dass über das Problem der menschlichen Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes keine wissenschaftlichen Aussagen getroffen werden können. Erst diese erkenntnistheoretische Begründung des Agnostizis­ mus erlaubte es Kant, in seiner praktischen Philosophie neu anzusetzen und sich in der Entwicklung seiner Moralphilosophie den zunächst zurückgewiesenen Fragen in praktischer Perspektive wieder anzunähern. Bei allen Unterschieden, die sich leicht zwischen den vier Philoso­ phen Konfuzius, Sokrates, Buddha und Kant aufweisen lassen, sind doch die Weigerung, metaphysische Standpunkte zu beziehen, und die 4 Cūḷamālukya-sutta (Kurze Unterweisung von Māluṅkya, MN 63). Vgl. Ṭhānissaro, Skill in Questions (2010), Kap. 8. 5 Zum Ursprung dieses Kantbildes M. Kühn, Kant: Eine Biographie (2003), 15–30.

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wenigstens zeitweilige Hintanstellung religiöser Fragestellungen für den Humanismus einzig entscheidend. Humanismus ist diejenige Lebens­ form, die nicht durch transzendente Bezugnahme, nicht unter Verweis auf einen göttlichen Willen, nicht durch religiöse Dogmen begründet ist. Dort, wo nur Glauben möglich ist, findet die menschliche Existenz keinen ausreichenden Halt. Humanismus bedeutet die Überzeugung, dass auch ohne Glaube, ohne Gott und ohne Transzendenz ein nur auf die menschliche Vernunft gestütztes humanes Leben möglich ist. Die einstweilige Zurückstellung religiöser Fragen schließt jedoch nicht aus, dass man sich nach Durchgang des vernünftig Begründba­ ren gewissermaßen im Auslauf des Denkens dem Glauben wieder annähert. In unterschiedlichen Formen trifft dies auf alle in diesem Buch vorgestellten Weisen auch zu. Entscheidend ist jedoch der allen Menschen zugängliche Ausgangspunkt in Vernunft und Humanität. Die im diesseitig Menschlichen ansetzende, aber bis zu den letzten Dingen ausgreifende Denkbewegung bringt das folgende Wort des Konfuzius auf konzentrierteste Weise zum Ausdruck: »Hienieden lerne ich dem Himmel entgegen.« (Lúnyǔ 14.35) Die Zurückweisung der Spekulation begründet das Primat lebens­ praktischer Fragestellungen. Entgegen der nicht nur im Westen, sondern auch in Japan und, wie zu befürchten steht, weltweit verbreiteten Vorstel­ lung, Philosophie würde sich als theoretische Disziplin auch primär mit rein theoretischen Fragen beschäftigen, entstand das Philosophieren in den Kulturkreisen Europa, Indien und Ostasien als Nachdenken über das richtige Leben. Das bedauerliche Vorurteil, zu philosophieren bedeute, sich in einer ruhigen Minute den Luxus zu erlauben, einmal alles in Frage zu stellen, ist ein mit dem Namen Descartes verbundenes neuzeitliches Missverständnis. Weit davon entfernt, im Müßiggang zu entstehen, hebt das Denken angesichts existenzieller Problemlagen an. In den Persönlichkeiten Konfuzius, Sokrates und Buddha ist die Philosophie als praktische entstanden. Und die Philosophie in ihrer praktischen Gestalt ist Humanismus. Oder anders: Humanismus ist die Philosophie als Selbstbildung zur Humanität. Konfuzius, Buddha, Sokrates und Kant sind deshalb Weltweise in zweifacher Hinsicht. Sie sind einerseits Repräsentanten des globalen Erbes der Philosophie, andererseits waren sie Denker der Weltweisheit im ursprünglichen Sinn. Insofern sie nicht zuerst Metaphysiker oder Theologen waren, stehen sie für ein Denken, das in der Welt des Menschen seinen Ausgang nimmt. Aufgrund ihrer Verkörperung des Primats der conditio humana können Buddha, Konfuzius und Sokrates

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zu Recht als die »drei Quellen des eurasischen Humanismus« (Volker Zotz) gelten. Die Frage nach der richtigen Lebensführung führt von sich aus auf die Frage nach dem guten Menschsein. Die Einsicht, dass der Mensch sich während seines ganzen Lebens verändert, wirft unausweichlich die Frage auf, welche charakterlichen Eigenschaften im Ergebnis dieser Ent­ wicklung wünschenswert sind. Und Kultivierung des Charakters verlangt nach der Bestimmung der Tugend. Erst die Tugenden konkretisieren die Humanität, sie bilden ihren »materialen Bestand.«6 Natürlich unter­ scheiden sich die antiken Weisen nicht nur in der Gewichtung, sondern auch der Sache nach hinsichtlich der von ihnen empfohlenen Tugenden. So betont etwa Sokrates Mut, Besonnenheit und Gerechtigkeit, während für Konfuzius neben der Gerechtigkeit die Glaubwürdigkeit und die kindliche Ehrerbietung eine zentrale Rolle spielen. Wenngleich im Falle der Ethik des Sokrates und des Konfuzius kein Zweifel besteht, dass die Tugenden im Zentrum stehen, ist der Befund im Falle Buddhas erneut nicht so eindeutig. Die Frage, welchen Charakter die reichhaltige Ethik des Buddhismus hat, ist eine anhaltende Forschungsdiskussion.7 Da aber der im Pāli-Kanon gelehrte buddhistische Heilsweg unverkennbar den Charakter der Übung bzw. Selbstkultivierung (pāli sikkhā oder bhāvanā) aufweist, ist auch hier ein tugendethischer Zug kaum zu bestreiten. Im frühen Buddhismus gelten vor allem Mitgefühl, Großzügigkeit und Strebsamkeit als die zu kultivierenden Geisteshaltungen. Das Befolgen von Regeln mag aufgrund von bloßem Gehorsam geschehen. Die Bildung zur Tugend aber setzt Eigeninitiative voraus. Dies bietet Gelegenheit, einem Missverständnis vorzubeugen, das leider allzu oft den Blick auf außereuropäisches Denken verstellt. Da die soge­ nannte Theorie des Nicht-Selbst unbestreitbar zum Grundbestand der buddhistischen Lehren zählt, ist die Erwartung eines von der abendländ­ ischen Tradition gänzlich verschiedenen Subjektbegriffs durchaus ver­ ständlich. Wie die Lehre des Nicht-Selbst harmonisiert werden kann mit einem Tod und Wiedergeburt überdauernden Subjekt der karmischen Vergeltung, ist eines der großen theoretischen Probleme, dem sich jede buddhistische Dogmatik mit systematischen Anspruch gegenübersieht. Ohne hier auf die scholastischen Details eingehen zu wollen, soll auf eine mögliche Interpretation der Nicht-Selbst-Lehre hingewiesen werden, die besagt, dass Buddha – ähnlich wie Kant in der Kritik der reinen 6 V. Gerhardt, Selbstbestimmung (1999), 406f. 7 J. H. Davis (Hrsg.), A Mirror is for Reflection: Understanding Buddhist Ethics (2017).

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Vernunft (A 341–406, B 399–432) – nur die Vorstellung der Seele als Substanz zurückwies. Diese metaphysikkritische Pointe vermeidet einen Widerspruch mit der Tatsache, dass der von Buddha gelehrte Pfad ein aus eigenem Antrieb zu begehender Heilsweg ist. Als solcher kam auch Buddha nicht umhin, wenigstens in praktischer Hinsicht ein nominales Selbst anzunehmen. In den folgenden Sentenzen des Dhammapada (Lehrverse, Abk. Dhp) kommt dies ausreichend deutlich zum Ausdruck: Wem das eigene Selbst teuer ist, der hüte es sorgsam. (157) Das Selbst ist der eigene Retter. Wer könnte sonst der Retter sein? (160) [Geistig] rein und unrein ist man selbst. Niemand kann den anderen reinigen. (165)

Hinsichtlich der konfuzianisch geprägten Gesellschaften Ostasiens ver­ stellt oft die Vorstellung den Blick, dass sich hier, anders als der angeblich zum Egoismus tendierende westliche Mensch, die Einzelperson der Gruppe gegenüber »selbstloser« verhalte. Die Wertschätzung uneigen­ nützigen Verhaltens mag von Kultur zu Kultur oder von Tradition zu Tradition natürlich variieren. Aber man sollte nicht den Fehler begehen, in der Fremde Menschen zu suchen, die nicht den Anspruch haben, aus eigener Einsicht und Initiative zu handeln. Für Konfuzius war der Umstand, dass seine Schüler mit eigenen Fragen zu ihm kamen, Voraus­ setzung seiner Lehrtätigkeit (vgl. Lúnyǔ 15.16). Der Beitrag von Yoshida Kōhei in diesem Band macht deutlich, wie sehr Konfuzius auf den Willen seiner Schüler zum Lernen setzte. Dass Lernen im konfuzianischen Sinn nichts anderes als die Selbstbildung zur Tugend meint und von der sokratischen Sorge um das Selbst kaum zu unterscheiden ist, wird in einem Gespräch deutlich, das im Buch Xúnzǐ überliefert ist. Es nimmt seinerseits Bezug auf eine Stelle in den Gesprächen. Gefragt nach Weisheit und Humanität, bestimmt Konfuzius die erste als Menschenkenntnis und die zweite als Menschenliebe (Lúnyǔ 12.22). Auf diese den konfuzianischen Humanismus auf die einfachste wie schöne Weise zusammenfassende Formel bezieht sich das von Xúnzǐ überlieferte Gespräch. Dort ist es Konfuzius, der seine drei Lieblings­ schüler nach der Bedeutung von Humanität und Weisheit fragt. Der tatkräftige Schüler Zǐlù antwortet: »Weisheit bedeutet, den Menschen zu helfen, sich selbst zu erkennen und sich selbst zu lieben.« Der intelli­ gente Zǐgòng antwortet der Lehre des Meisters entsprechend: »Weisheit bedeutet, die Menschen zu kennen. Humanität bedeutet, die Menschen zu lieben.« Als letztes antwortet der mehr als alle gepriesene Schüler Yán Huí: »Weisheit bedeutet, sich selbst zu kennen. Humanität bedeutet, sich selbst zu lieben.« (Xúnzǐ 29.143)

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Ob es sich um ein authentisches oder apokryphes Gespräch handelt, ist hier nicht entscheidend. Die Auszeichnung der Selbsterkenntnis und Selbstsorge erfolgt im konfuzianischen Geist und steht in keinem Gegen­ satz zur Menschenliebe. Die Ausbildung der letzteren setzt vielmehr die Selbstliebe voraus. Es ist deshalb nicht nur der insbesondere in interkulturellen Diskur­ sen Verwirrung stiftende Begriff der »Selbstlosigkeit«, vor dem man sich hüten sollte. Auch die Assoziation der Selbstliebe oder Selbstsorge mit Eigensucht oder Eigennutz ist kritisch zu betrachten. Aristoteles spricht im Unterschied zu der sokratischen »Sorge um die Seele« (gr. epimeleia tēs psychēs) noch pointierter von der »Freundschaft zu sich selbst« (gr. philia pros hauton). Im Umkehrschluss zu Platons Beobachtung, dass der sich selbst gegenüber Feindselige zu keiner Handlung fähig sei (Politeia 352b), kommt Aristoteles zu dem Ergebnis, dass der Tugendhafte und zur Freundschaft Fähige notwendig auch mit sich selbst befreundet sein müsse.8 Diesem psychologischen Umstand wird auch im buddhistischen Übungsweg Rechnung getragen. Die Kultivierung von Mitgefühl und Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen setzt voraus, dass man sich selbst mitfühlend und wohlwollend gegenübertritt. Die Selbstannahme »Ich möge glücklich und frei von Leid sein« steht deshalb am Anfang der Kultur der Barmherzigkeit. Der an sich selbst leidende Mensch neigt zur Egozentrik, während »die sich selbst Liebenden niemandem Schaden zufügen.«9 Neben der lange etablierten Achtsamkeitsmeditation zeichnet sich seit der Jahrtausendwende ein auf Selbstannahme gerichteter Thera­ pieansatz als zweiter wichtiger Anstoß des Buddhismus für die westliche Psychologie ab.10 Es soll nicht bezweifelt werden, dass sich über die Begriffe Selbst, Seele, Person und Subjekt gerade in interkultureller Perspektive auf vielfältige Weise nachdenken lässt. Die elementare Bedeutung, welche dieser Begrifflichkeit in praktischen Zusammenhängen als Grundlage von Autonomie und Freiheit des Einzelnen zukommt, sollte dabei aber nicht übersehen werden. Welche Lebensentwürfe und Moralvorstellun­ gen auch immer vertreten werden, wir brauchen eine Begrifflichkeit, in 8 Nikomachische Ethik 1166a-b. Vgl. V. Gerhardt, Humanität (2019), 224f. 9 Buddhagosa, The Path of Purification (Visuddhimagga) (2010), Pt. 2, Kap. 9, § 8–10. 10 J. Leaviss and L. Uttley, »Psychotherapeutic benefits of compassion-focused ther­ apy« (2015). J. N. Kirby, »Compassion interventions« (2017). J. N. Kirby et al. »A Meta-Analysis of Compassion-Based Interventions« (2017).

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der wir zum Ausdruck bringen, dass wir von uns selbst aus so handeln, wie wir es für richtig halten. In dem konfuzianischen Zitat wird nicht nur die Humanität als Selbst- und Menschenliebe, sondern auch die Weisheit als Selbst- und Menschenkenntnis charakterisiert. Die Weisheit fehlt tatsächlich in kei­ nem antiken Tugendkatalog. Wie wir gesehen haben, rangiert sie im kon­ fuzianischen Denken gleich neben der Humanität, die Philosophie führt sie im Namen und im Buddhismus ist sie in ihrer vollendeten Form nichts anderes als das Erwachen selbst. Das Paar der Weisheit und Tugend ist die Dualität von Theorie und Praxis in ihrer existenziellen Gestalt. Weisheit meint zum einen die vernünftige Einsicht in die Richtigkeit moralischer Normen. Gleichzeitig ist Weisheit die kommunikative Intelligenz, eigene Einsichten mitzuteilen. Weisheit ist damit auch die in Sprache verfasste Lehre der Tugend. In dieser Bedeutung liegt der Zweiheit von Weisheit und Tugend die anthropologische Unterscheidung von Reden und Han­ deln bzw. von Mund und Hand zugrunde. Schließlich ist die Weisheit als Urteilskraft unabdingbar, um die stets allgemein formulierte Ethik im Horizont der eigenen Selbst- und Menschenkenntnis auf konkrete sozialen Situationen anzuwenden. Konfuzius, Buddha und Sokrates lehrten Einsicht und Tugend. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass auch das Prinzip der Konsequenz zum Kernbestand der Traditionen zählt, als deren Gründerfiguren sie gelten. Den aus eigener Einsicht gewonnenen Überzeugungen gilt es im individuellen Handeln gerecht zu werden.11 Die Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln ist die formale Bedingung, dass überhaupt von der Moralität einer Person gesprochen werden kann. Wir können einen Menschen respektieren, auch wenn wir dessen Werte nicht teilen. Wenn eine Person jedoch selbst im Widerspruch zu den von ihr vertrete­ nen Werten agiert, ist sie diskreditiert. Genau diese Integrität erwarten wir jedoch von Menschen, die als weise gelten. Und genau hierin liegt auch unser nicht verblassendes Interesse an den Persönlichkeiten der antiken Philosophen begründet. Wir setzen voraus, dass die Vordenker des guten Menschen beispielhaft vorangingen. Wir treten an sie mit der Erwartung heran, dass sie die von ihnen gelehrte Moral in ihrem Wandel exemplarisch zum Ausdruck brachten. Philosophen interessieren nicht als Heilige oder Wundertäter, d.h. als Ausnahmen der Regel, sondern als Beispiele derjenigen Regeln, die prinzipiell jeder befolgen können muss. Von daher ist der Blick auf die historischen Persönlichkeiten, auf 11 Lúnyǔ 2.13, 14.27; Dhammapada 52, 159; Laches 188.

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Gestalt und Verkörperung im Wandel der einzelnen Denker ein durchaus ursprüngliches Interesse der Philosophie. Wir möchten wissen, ob und wie die jeweils hochgehaltenen Tugen­ den in der Gestalt des moralischen Lehrers zu einer Einheit gebracht sind. Denn die jeweilige Kombination der vertretenen Tugenden evoziert einen Charakter, der uns unabhängig von den mehr oder weniger zuverlässigen biographischen Zeugnissen vor Augen treten kann. Man kann hierin das Prinzip einer über die Methoden der Philologie hinaus­ gehenden philosophischen Hermeneutik erkennen. Da weite Teile der philologischen Forschung zum Teil mit guten Gründen dazu tendieren, sich über klare Evidenzen hinausgehender Hypothesen zu enthalten, ist es eine Aufgabe der Philosophie, Vorschläge zur hermeneutischen Aus­ deutung der antiken Weisen zu machen, die unter der Annahme stehen, dass diese nicht nur aufgrund ihres Denkens, sondern auch aufgrund ihrer moralischen Integrität wirkmächtige Lehrer waren. Rationalität und praktische Konsequenz vorausgesetzt, erzeugt die Rekonstruktion ihrer Philosophie zugleich das Bild einer in Übereinstimmung mit dieser Philosophie lebenden Persönlichkeit. Positivistisch gesinnte Historiker wird dies nicht überzeugen, aber es ist eine vertretbare Methode, die es erlaubt, die Zeugnisse der antiken Weisen in einer Weise auszuwerten, dass wir uns ihnen auch heute noch nahe fühlen können. Konfuzius, Buddha und Sokrates gehören zum Kernbestand des menschheitlichen Erbes der Philosophie, weil wir in ihnen Persönlichkeiten sehen, die in ihrer Lebensweise ein Beispiel für Humanität gegeben haben. Der als Repräsentant der neuzeitlichen Philosophie in die Reihe der Weltweisen aufgenommene Immanuel Kant macht hier keine Ausnahme.12

12 M. Kühn, Kant: Eine Biographie (2003). »Nur verhältnismäßig wenige Menschen hätten bestritten, dass Kant die Tugenden ›Treue, Wohlwollen, Rechtschaffenheit, Umgänglichkeit‹ [...] in der Tat besaß.« (19) Aufmerksame Kant-Leserinnen und Leser bestreiten es im Allgemeinen ebenfalls nicht.

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2. Antike Rollenethik in China und Europa

Der Sache nach ist die Idee, dass soziale Rollen normativ gehaltvoll sind, alt. Der Ägyptologe Jan Assmann weist sie in Texten nach, die um das 20. Jahrhundert vor Chr. entstanden sind.1 Der moderne soziologische Rollenbegriff im Ausgang von George H. Mead (1863–1931) wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar verschiedentlich in die Ethik eingeführt, eine zunehmende Verwendung des Begriffs »role ethics« zeichnet sich aber erst seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ab.2 Zu dem wachsenden Interesse an rollenethischen Fragestellungen haben nicht zuletzt die Arbeiten der beiden Sinologen Henry Rosemont Jr. und Roger T. Ames beigetragen.3 Leider kranken die wegweisenden Studien der beiden Autoren an dem meiner Ansicht nach verfehlten Versuch, einen Gegensatz zwischen konfuzianischer Rollenethik und westlichem Indi­ vidualismus zu konstruieren. Dass Vergleiche der antiken Philosophie Chinas und der Europas unter dem Aspekt der Normativität sozialer Rollen dennoch fruchtbar sind, soll in der folgenden Untersuchung gezeigt werden.

Familie und Politik Platons Dialog Menon handelt von der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend. Um sich dem Problem zu nähern, müsse jedoch, so Sokrates, zuerst der Begriff der Tugend geklärt werden. Auf diese Frage zitiert 1 J. Assmann, Ma'at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (1990), 71f. 2 Erwähnenswert D. Emmet, Rules, Roles and Relations (1966). In deutscher Sprache und für das Problembewusstsein des Autors maßgeblich V. Gerhardt, Selbstbestimmung (1999), Kap. 8.6 und 9.3. Zuletzt T. Dare und C. Swanton (Hrsg.), Perspectives in Role Ethics (2020). 3 H. Rosemont Jr. und R. T. Ames haben eine Reihe ihrer Arbeiten neu herausgegeben in Confucian Role Ethics (2016). Maßgeblich ist weiterhin die Monographie von R. T. Ames, Confucian Role Ethics (2011). Einen hilfreichen Überblick bietet J. Ram­ sey, »Confucian Role Ethics: A Critical Survey« (2016).

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2. Antike Rollenethik in China und Europa

Sokrates' Gesprächspartner Menon zustimmend eine Definition, die er von dem Sophisten Gorgias gelernt habe: Das ist ja gar nicht schwer zu sagen, Sokrates. Zuerst, wenn du willst die Tugend des Mannes: so ist es leicht, daß dieses des Mannes Tugend ist, daß er vermöge, die Angelegenheiten des Staates zu verwalten und in seiner Verwaltung seinen Freunden wohlzutun und seinen Feinden weh, sich selber aber zu hüten, daß ihm nichts dergleichen begegne. Willst du die Tugend des Weibes, so ist auch nicht schwer zu beschreiben, daß sie das Hauswesen gut verwalten muß, alles im Hause gut im Stande haltend und dem Manne gehorchend. Eine andere wiederum ist die Tugend eines Kindes, sowohl eines Knaben als eines Mädchens, und eines Alten, sei er ein Freier, wenn du willst, oder ein Knecht. Und so gibt es noch gar viele andere Tugenden, so daß man nicht in Verlegenheit sein kann, von der Tugend zu sagen, was sie ist. Denn nach jeder Handlungsweise (praxis) und jedem Alter hat für jedes Geschäft (ergon) jeder von uns seine Tugend, und eben so auch, Sokrates, glaube ich seine Schlechtigkeit.4

Sokrates gibt sich zwar erfreut über die Vielzahl der Tugenden und lobenswerten Tätigkeiten, die Menon aufzählt. Hinsichtlich der Haupt­ frage nach der Lehrbarkeit der Tugend sei aber zu bestimmen, was das tugendhafte Betragen insgesamt ausmache. Das hiermit aufgeworfene Problem der Einheit der Tugend führt das Gespräch von einer genaueren Prüfung der Ethik des Gorgias ab. Im Charmides, dem Definitionsdialog über die Besonnenheit (sōphrosynē), ist Sokrates scheinbar mit der gleichen Bestimmung der Tugend konfrontiert; allerdings in stark verkürzter Form. Der gleicher­ maßen talentierte wie hübsche Jüngling Charmides versucht auf Sokrates' Fragen vergeblich, die Besonnenheit auf treffende Weise zu bestimmen. Schließlich zitiert er eine weitere Definition, die er zwar nur gehört habe und selbst nicht gut verstünde, aber Sokrates doch bitte prüfen möge: »Besonnenheit sei, wenn man das Seinige tue (to ta heautou prattein)« (161b). In wenigen Sätzen zeigt Sokrates, dass die sogenannte Idiopragie­ formel (das Tun des Seinen) sinnlos wird, wenn sie als Aufhebung der Arbeitsteilung gedeutet wird.5 Es kann kaum wünschenswert sein, dass in einer Stadt jeder seine eigenen Schuhe schustert und seine eigenen Kleider webt. Gastgeber Kritias, der zwar bestritten hatte, Charmides 4 Menon 71e-72a. Den Zitaten der Werke Platons (mit Ausnahme der Nomoi) wer­ den hier und im Folgenden die Übersetzungen von Friedrich Schleiermacher zugrunde gelegt. 5 Gr. idiopragia. C. Horn et al. (Hrsg.), Platon Handbuch (2009), 278–280.

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in diesem Punkt unterrichtet zu haben, sah sich nun doch genötigt, die Verteidigung der Definition zu übernehmen. Doch obwohl Sokrates bereits die Medizin und verschiedene andere Handwerksberufe ins Spiel gebracht hatte, vermag Kritias die Definition nicht dahingehend zu verteidigen, dass eben die Hingabe an den jeweils eigenen Beruf oder das eigene Amt die Besonnenheit ausmache. Man kann dies so deuten, dass Kritias, der es ja von sich gewiesen hatte, in dieser Frage Charmides' Lehrer gewesen zu sein, tatsächlich nicht der Urheber der Formel ist. Da nach einer Überlieferung des Philostratus von Athen (ca. 170 bis ca. 250) Kritias von Gorgias während dessen Aufenthalt in Athen sehr eingenommen gewesen sein soll, kann man aufgrund der Ähnlichkeit der These im Menon auch im Charmides dieselbe Lehre des Gorgias vermuten.6 Tatsächlich begegnet uns in dem nach Gorgias benannten Dialog ein die Idiopragieformel ergänzendes Theoriestück, welches dessen Schüler Polos vorträgt: »[V ]iele Künste (technē) wurden unter den Menschen aufgrund Erfahrung (empeiria) bewandert erfunden. [...] Von allen diesen nun ergreift je ein anderer eine andere [Kunst] und auf andere Weise, die Besten aber auch die besten [Künste]« (448c). Hier lässt sich problemlos hinzufügen, dass es deshalb auch tugendhaft ist, sich der selbst gewählten Kunst ganz zu widmen.7 Alle bisher genannten Aspekte der Idiopragieformel werden in Pla­ tons Politeia wieder aufgenommen. Nicht nur wird in kritischer Absicht die Absurdität des Verzichts auf Arbeitsteilung wiederholt, sondern es wird unter Verweis auf die Verschiedenheit der natürlichen Anlagen der Menschen auch zustimmend die Interpretation als individuelle Berufswahl plausibel gemacht (369e-370c). Im Vierten Buch schließlich gibt Sokrates sein Erstaunen zum Ausdruck, als er in der – wie er sagt – weithin bekannten und oft wiederholten Formel nun die lange gesuchte Definition der politischen Gerechtigkeit erkennt (433a). Wenn alle Teile der Polis ihrer jeweiligen Aufgabe derart nachkommen, dass sie zum Gemeinwohl zusammenstimmen, ist der Staat am besten eingerichtet und somit gerecht. Im Rahmen der folgenden Überlegungen werden jedoch nicht nur die einzelnen Berufe und die sozialen Stände der funktionalen Betrachtungsweise unterworfen. In Platons berühmtem 6 Philostratus von Athen, Das Leben der Sophisten (Vitae Sophistarum). Übers. W. C. Wright (1921), 31. Vgl. M. Vickers, »Alcibiades and Critias in the Gor­ gias« (1994): 100. 7 Wenn M. Vickers' These (»Alcibiades and Critias in the Gorgias«, 1994) zutrifft, verbirgt sich hinter Polos im Dialog Gorgias ebenfalls Kritias.

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Gedankenexperiment entwirft Sokrates der für den Schutz der Polis ver­ antwortlichen Kriegerkaste eine ideale Sozialstruktur. Hierbei wird auch die Familie rückhaltlos Objekt technokratischer Überlegungen. Nicht nur soll durch Selektion der Fortpflanzungspartner die Höherzüchtung des Militärs sichergestellt werden. Die vollständige Geheimhaltung der biologischen Elternschaft soll zudem bewirken, dass sich die Familien­ bande auf den inneren Zusammenhalt der gesamten Kaste ausweitet. Da sich auf diese Weise alle Individuen je nach Alter untereinander als Eltern, Kinder oder Geschwister betrachten, entstehe eine Armee von maximaler sozialer Kohäsion (449a-473c). Hiergegen lässt sich natürlich leicht polemisieren. Die Unterord­ nung von Familie und Erziehung unter das Primat der Politik in der griechischen Philosophie ist aber hinsichtlich des hier anvisierten Ver­ gleichs mit der konfuzianischen Rollenethik überaus signifikant. In den konfuzianischen Klassikern finden sich an verschiedenen Stellen Formu­ lierungen, die der Idiopragieformel nahekommen; allerdings nicht in derselben durch Wortarten und satzinterne, grammatikalische Bezüge präzisierten Form, wie wir sie von den indoeuropäischen Sprachen gewohnt sind. In den Gesprächen des Konfuzius fragt der Herzog von Qí nach der rechten Politik. Konfuzius' Antwort lautet Wort für Wort bzw. Schriftzeichen für Schriftzeichen wiedergegeben: »Fürst Fürst Untertan Untertan Vater Vater Sohn Sohn« (Lúnyǔ 12.11). Die implizite Grammatik des hier vorliegenden Satzes besteht aus vier Subjekten mit jeweils imperativischem Prädikat. Dem Übersetzer stehen verschiedene Varianten zur Auswahl: »Der Fürst [sei] fürstlich«, »Der Untertan [sei ein wahrhafter] Untertan« oder »Der Vater [verhalte sich wie ein] Vater.« Paraphrasierend ist es ebenso treffend, dass die Söhne ihrer Rolle als Söhne gerecht werden sollen. Konfuzius bedeutet dem Herzog, dass ein Staat politisch gut einge­ richtet ist, wenn alle Individuen in Politik und Familie den normativen Ansprüchen ihrer Rollen Genüge tun. Xúnzǐ (ca. 298–238) konnte diese Idee später mühelos auf Bauern, Handwerker und Händler ausweiten (9.18). Xúnzǐ hatte zudem ein Wort, welches dem Begriff der sozialen Rolle bereits nahekommt. Wörtlich »Teil«, korrespondiert fēn mit dem englischen Wort part. Im Theaterkontext bedeutet part einerseits Rolle, andererseits hat es wie in der deutschen Wendung »seinen Teil zu etwas beitragen« auch die Bedeutung von »Aufgabe«. Das konfuzianische fēn bedeutete zuerst soziale Stellung, bevor es metonymisch zur Bezeichnung der einer sozialen Stellung entsprechenden »Aufgabe« bzw. des beizutra­ genden »Teils« wurde.

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Einen dem heutigen abstrakten Begriff der sozialen Rolle gleich umfänglichen Ausdruck hatten jedoch die frühen Konfuzianer genauso wenig wie Platon und Aristoteles. Im Vergleich mit dem griechischen Denken ist jedoch von Interesse, dass die Rollenkonformität im Konfu­ zianismus neben ihrer politischen Dimension im Rahmen einer anthro­ pologischen Theorie grundlegender »menschlicher Bindungen« (lún) formuliert wurde. In Konfuzius' Antwort an den Herzog bilden Fürst und Untertan sowie Vater und Sohn jeweils ein Paar. Im Buch Menzius treten hierzu das Verhältnis von Mann und Frau, Alter und Jugend sowie die Freundschaft (5.4). Konfuzianisch ist ferner die Betonung der Beziehung zwischen älteren und jüngeren Geschwistern. Diese Theorie eines natür­ lichen sozialen Bindegewebes macht deutlich, dass insbesondere fami­ liäre Rollen eine relationale Struktur aufweisen: Die Rolle des Ehemanns ergibt sich primär aus seinem Verhältnis zur Ehefrau. Schwester zu sein, bedeutet einen natürlichen Bezug zu seinen Geschwistern zu haben. Und als Elternteil ist man in der Fürsorge zuerst seinen Kindern verpflichtet. Die Mitverantwortung für die Reproduktion des Staatsvolkes ist dagegen zweitrangig. Damit ist die Familie der direkten Vereinnahmung durch die Politik ein Stück weit entzogen. Das Primat der familiären Bindungen im Konfuzianismus legt ferner nahe, den normativen Gehalt der einzelnen Rollen weniger in der Begrifflichkeit von Aufgaben und Pflichten, sondern durch Tugenden zu spezifizieren. Sīmǎ Qiān schreibt einem legendären Herrscher der Frühgeschichte zu, er habe im ganzen Reich verbreiten lassen: »Der Vater sei gerecht, die Mutter liebevoll, der große Bruder freundlich, der jüngere Bruder respektvoll und die Kinder ehrerbietig.«8 Insbesondere die Pietät gegenüber den Eltern wird überall in den konfuzianischen Texten als Wurzel der Tugend und Grund der sozialen Harmonie herausgestellt. Zwar wissen auch Platon und Aristoteles vom prägenden Einfluss des Säuglings- und Kleinkindalters für die Entwicklung des Menschen, Hinweise auf die Bedeutung elterlicher Fürsorge sucht man in ihren pädagogischen Überlegungen jedoch vergeblich.9 Ganz anders im Buch

8 Sīmǎ Qiān, Shǐjì [Aufzeichnungen des Chronisten], Kap. 1.22. 9 Platon, Nomoi 792e. Aristoteles, Politik 1336a; Nikomachische Ethik 1105a. Verschwie­ gen werden soll jedoch nicht, dass sich in Platons Nomoi ein Loblied auf die Ehrerbietung der Eltern findet, die jeden Konfuzianer in Entzücken versetzen muss (717b-718a). Diese Passage allein macht ausreichend deutlich, dass das aus heutiger Sicht totalitäre Modell der Politeia in der Hauptsache als Gedankenexperiment verstanden werden sollte.

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Menzius. Dort heißt es in der für die neokonfuzianische Theorie des moralischen Sinns wegweisenden Passage: Was der Mensch ohne zu lernen vermag, ist das Vermögen des Guten. Was er ohne zu denken weiß, ist das Wissen des Guten. Jedes Kind, das in den Armen gehalten wird, weiß seine Eltern zu lieben. Und wächst es heran, weiß es seine älteren Bruder zu respektieren. Die Innigkeit mit den Eltern ist [der Grund der] Humanität (rén). Der Respekt gegenüber den Älteren ist [der Grund der] Gerechtigkeit (yì). Nichts anderes gilt es auf Erden zu verbreiten. (13.15)

Hier ist die grundlegende Erkenntnis der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts formulierten und empirisch gut belegten Bindungstheorie vorweggenommen: Ohne frühkindliche Bindung an die Eltern (bzw. einer Bezugsperson an Eltern Stelle) ist eine gesunde Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit unmöglich.10 Im Buch Menzius ist aber nicht nur erkannt, dass die Bindungssicherheit des Kindes Vorausset­ zung für die gesunde Entwicklung der Menschlichkeit ist, sondern es wird auch moralpsychologisch spezifiziert, dass die Humanität in dem elementaren Vermögen der Empathie ihren Grund hat (11.6). Dass das Mitgefühl ihren evolutionären Ursprung in der Kinderfürsorge hat und sich bereits im Kleinkindalter zeigt, wird durch die neuere Human­ wissenschaft ebenfalls bestätigt.11 Sollte jedoch der Respekt gegenüber den älteren Geschwistern tatsächlich für die Ausbildung des Gerechtig­ keitssinnes unerlässlich sein, stellt sich natürlich die Frage, wie eine Erstgeborene oder ein Erstgeborener diese Tugend erwerben kann. Da es aber ohnehin wenig plausibel erscheint, nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die in Menzius der Gerechtigkeit unterlegten moralischen Emotionen der »Scham und Schuld« allein an der Anerkennung des Senioritätsprinzips festzumachen, kann man dieses Problem auf sich beruhen lassen.12 Weitet man jedoch die im Buch Menzius formulierte Einsicht auf das Verhältnis der Geschwister im Allgemeinen sowie auf die Beziehungen innerhalb der Peergruppe aus, zeigt sich erneut eine über­ raschend aktuelle Theorie. Während sich Urvertrauen und Anteilnahme im Rahmen der frühkindlichen Bindung an elterliche Bezugspersonen 10 T. E. Sutton, »Review of Attachment Theory« (2019). E. Cline, »Confucian Ethics, Public Policy, and the Nurse-Family Partnership« (2012). 11 M. Tomasello, Mensch werden (2020), 315-317. 12 Zu alternativen Übersetzungsmöglichkeiten des hier mit »Scham und Schuld« wiedergegebenen Terms xiūwù (Mèngzǐ 11.6) siehe Seok B., Moral Psychology of Confucian Shame (2017), 90–92.

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festigen, sind es in den Modellen der modernen Entwicklungspsycholo­ gie ebenfalls die Bezugsgruppen der Geschwister und der Peergruppe, innerhalb der sich mit Beginn des Kleinkindalters unsere Intuitionen der Fairness ausbilden.13 »Das Private ist politisch!«, lautete ein Schlagwort der Frauenbewe­ gung der 60er Jahre des 20. Jahrhundert. Da im Konfuzianismus die Familie von jeher thematisch war, brauchte es einen derartigen Slogan nicht, um die kritikwürdigen patriarchalen Prämissen der konfuziani­ schen Gesellschaftsordnung offenzulegen. Bei Platon und Aristoteles dagegen drängt sich im Vergleich mit Ostasien der Eindruck auf, dass elterliche Bindung und familiärer Zusammenhalt aufgrund des explizit politischen Zugangs der beiden Philosophen nicht richtig gewichtet werden. Dass Bildung nicht nur eine familiäre, sondern auch eine politische Aufgabe ist, wird man natürlich nicht bestreiten. Platon scheint interessanterweise in der Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit gerade ein Argument für die Notwendigkeit einer politischen Ordnung der Erziehung gesehen zu haben. Denn im Privatleben und im Inneren des Hauses kommen mancherlei geringfügige (smikra) und von den Meisten ganz übersehene Dinge vor, welche sich aber doch, eben weil in ihnen Jedermann sich von seiner eigenen Begierde und von dem was ihm Schmerz oder Lust bereitet leiten lässt, leicht ganz anders gestalten als es die Absichten des Gesetzgebers mit sich bringen [...]. Indessen wegen der Geringfügigkeit und Häufigkeit dieser Fälle würde es unangemessen und unziemlich sein Gesetze, welche Strafen hiergegen androhen, deshalb zu geben.14

Obwohl Platon die strafrechtliche Dimension der nur allzu oft sexuali­ sierten Gewalt gegen Frauen und Kinder im häuslichen Umfeld zweifellos unterschätzt hat, ist die Tendenz zum Laster im Privaten doch sein Argument, die Erziehung, wenn möglich noch im Säuglingsalter, unter staatlicher Aufsicht in die Hände von Ammen (trophoi) zu geben.15 So reformbedürftig die patriarchale Anlage des Konfuzianismus auch war, die Gefahr mangelnder Gewichtung des Familiären oder die Aus­ blendung häuslicher Laster bestand in Ostasien weniger, da selbstver­

13 Zu Jean Piagets Annahmen aus evolutionsbiologischer Perspektive siehe M. Toma­ sello, Mensch werden (2020), 431–468. 14 Nomoi 788a-b; Übers. Franz Susemihl. 15 Nomoi 789e; 794ab. Zur Haushaltslehre des Aristoteles vgl. M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste (1986), 221–229.

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ständlich angenommen wurde, dass alle Tugenden in der Familie ihren Anfang nehmen. Im Konfuzianismus war das Private aber noch in einem ganz anderen, direkten Sinn politisch. Die in dem eingangs zitierten Kon­ fuzius-Wort angesprochenen Beziehungen zwischen Herrscher und Untertan sowie Vater und Sohn wurden nämlich analog gedacht. Im Buch der Riten (Lǐjì) heißt es: »Mit Loyalität dient der Untertan seinem Herrscher. Mit Pietät dient das Kind seinen Eltern. Ihrem Ursprung nach sind sie eins« (25.2). Hierbei handelt es sich um ein die gesamte vormoderne Politikgeschichte Ostasiens dominierendes Ideologem. Es verlor seine Überzeugungskraft jedoch nicht schon mit dem Ende der chinesischen Kaiserzeit im Jahr 1912, sondern erst mit Japans Kapitula­ tion im September 1945. Die Loyalität gegenüber dem die göttlichen Ahnen Japans verkörpernden Kaiser wurde als die ins Große gerechnete den Eltern schuldige Ehrfurcht propagiert. Der kindliche Gehorsam in der Nachfolge des Gottkaisers war das ideologische Kernstück des japanischen Totalitarismus. Den Abstand, den die griechischen Philosophen zu ihren chinesi­ schen Zeitgenossen in der politischen Theorie hatten, lässt sich wohl kaum besser verdeutlichen als durch die Tatsache, dass Aristoteles genau wie die Konfuzianer die monarchische Staatsform mit der väterli­ chen Hausherrenschaft assoziierte, allerdings ohne diese Verfassung für natürlich oder alternativlos zu halten (Politik I, 1259a). Im Gegenteil beginnt Aristoteles seine politischen Überlegungen mit der Feststellung, dass alle Herrschaftsverhältnisse der Art nach verschieden sind: Das Eigentumsverhältnis zwischen Herr und Sklave unterscheide sich von dem Machtgefälle zwischen Mann und Frau genauso wie von der Vor­ mundschaft der Eltern für ihre Kinder. In derselben Weise müssten auch die verschiedenen politischen Herrschaftsformen ihrer Art nach differenziert werden (Politik I, 1252a). Man erkennt hier, dass Aristoteles, der in seiner Ethik keine rollenspezifischen Tugenden annahm, sich in seinen politischen Überlegungen durchaus mit Problemen rollenethi­ schen Charakters konfrontiert sah. Zum einen wirft er die Frage auf, ob je nach Herrschaftsverhältnis dem Herrschenden und dem Gehorchenden (dem Grad oder der Art nach) verschiedene Tugenden angemessen sind (Politik I, 1259a-1260b). Hinsichtlich des von Aristoteles bevorzugten Staates ließ sich diese Frage befriedigend beantworten: Da jeder freie Bürger potentiell auch Amtsträger ist, müssen alle Bürger wechselseitig Herrschende und Gehorchende sein können. Hierin und in der For­

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derung, sich auf das Gemeinwohl zu beziehen, besteht der Kern der bürgerlichen Tugend (Politik III, 1277b). Die Frage jedoch, ob die Tugend des freien Mannes identisch ist mit der des guten Bürgers, schien Aristoteles größere Probleme zu bereiten (Politik III, 1276b-1277b). Ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass Aristoteles den Tugendbegriff (aretē) nicht nur im ethischen Sinn als Charaktereigenschaft, sondern in der Politik auch in der Bedeutung von Tüchtigkeit oder exzellenter Fähigkeit verwendete.16 Im dritten Buch vergleicht er die Polis mit einer Schiffsmannschaft, in der zwar jedes Crewmitglied entsprechend seiner Fähigkeit (dynamis) eine andere Funktion erfüllt, jedoch alle insofern an einem Strang ziehen, als die gelungene Überfahrt ihr gemeinsames Ziel ist. Genauso müsse offenbar auch jeder Bürger für das Gemeinwohl sein Werk (ergon) vermöge seiner Tugend verrichten. Die Fähigkeit, ein Segel zu hissen, ist aber keine Charaktereigenschaft. Die Funktionsanalyse in politischer Absicht führt aus dem Feld der Charaktertugenden hinaus. Aufgaben, Pflichten und Verantwortung treten in den Vordergrund. Die Rollenethik fungiert in diesem Kontext als begrifflicher Rahmen für die Ausdifferenzierung der Berufsethiken.17 Dass auch im Bereich beruflicher und öffentlicher Auf­ gaben charakterliche Eignung unabdingbar ist, wird selbstverständlich niemand bestreiten. Festgehalten werden soll jedoch, dass je nach sozialer Rolle der normative Gehalt unterschiedlich zu spezifizieren ist. Nach Anerkennung der unvergleichlichen Wichtigkeit der elterlichen Liebe weiter auf die materielle Fürsorgepflicht hinzuweisen, ist tendenziell überflüssig, da Liebe in der Praxis Fürsorge nach sich zieht. Ob jedoch ein gewissenhafter Beamter auch kompetent ist, seine Aufgabe zu erfüllen, ist eine ganz andere Frage und für die richtige Besetzung eines Amtes von entscheidender Bedeutung. Im Kontext seiner rollenethischen Überlegungen avant la lettre fragte sich Aristoteles interessanterweise auch, ob nicht Gorgias recht hatte, die Tugenden separat aufzuführen (Politik I, 1260a). Wie Martha Nussbaum hilfreich gezeigt hat, lassen sich die aristotelischen Tugenden einzelnen »menschlichen Erfahrungsbereichen« zuordnen.18 Von einem System (wie der kantischen Tugendethik) kann aber trotzdem keine Rede sein. Letztlich handelt auch Aristoteles die Tugenden in arbiträrer 16 Zum Verhältnis von technē und aretē bei Aristoteles vgl. C. Horn und C. Rapp (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie (2002), 424–426. 17 Mit Hinweisen auf weitere Literatur, Role Ethics Network, https://roleethics.org. 18 M. Nussbaum, »Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz« (1998).

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Reihenfolge ab. Warum schien ihm also der Hinweis auf Gorgias in der Politik erwähnenswert? Aristoteles' Tugendethik ist eine Ethik für freie griechische Männer. In seiner politischen Theorie sah er sich aber mit der Frage konfrontiert, ob dem Mann als Bürger, Sklave, Amtsträger oder Handwerker dieselben oder andere Tugenden angemes­ sen sind. Möglicherweise schien Aristoteles in diesem Kontext eine Position bedenkenswert, die von vornherein jede Rolle durch besondere Tugenden zu spezifizieren sucht.19 Das Seine zu tun bzw. das eigene Leben richtig zu leben, bestünde demnach darin, den verschiedenen Rollen gerecht zu werden, die dem Individuum natürlicherweise oder durch Wahl zukommen. In der Eigenschaft als Amtsträger sind andere Tugenden wichtig als in der Rolle eines Freundes. Als Gutsverwalterin sind andere Charaktereigenschaften gefragt denn als Mutter. Dasselbe gilt für die Jugend, das Alter, für Knechte, Handwerker oder Priester. Dass es aus Sicht des Staates wünschenswert ist, Bürger zu haben, die ihre Rol­ len reflektiert und gewissenhaft erfüllen, ist offenkundig. Das bedeutet aber nicht, dass die den jeweiligen Rollen inhärente Normativität sich ausschließlich aus ihrer Funktionalität hinsichtlich des Gemeinwohls ableiten lässt.

Etikette und Vorbildlichkeit Der Begriff der Rolle, wie er in der europäischen Geistesgeschichte wirk­ sam wurde, geht auf Cicero zurück. In seiner Ethik (De officiis) orientiert sich Cicero an den platonischen Kardinaltugenden der Politeia: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. Die Abschnitte, in denen Cicero den Rollenbegriff entwickelt, sind Teil der Abhandlung über die Besonnenheit. Wir erinnern uns, dass im Charmides die Ideopragie­ formel ebenfalls als Definition der Besonnenheit angesprochen wurde. Der Zusammenhang wurde aber im Rahmen des Dialogs weder geklärt, noch ist er offenkundig. Besonnenheit bedeutet bei Platon primär, sich gegenüber Lüsten und Leidenschaften im Griff zu haben, weswegen sōphrosynē oft auch mit Selbstbeherrschung wiedergegeben wird (Poli­ teia, 430e-432a). Die etwas harte Konnotation des Selbstzwangs dürfte aber im Griechischen nicht nur aufgrund der Etymologie abgeschwächt 19 S. Consignys Rekonstruktion der Morallehre des Gorgias (2001) ist mit dieser Deutung nicht unvereinbar. Siehe Kap. »The Agonistic Community«, 119–145.

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sein,20 sondern auch wegen Platons Bestimmung der Besonnenheit als Ordnung (kosmos) und Zusammenklang (harmonia) der Seele zurück­ treten. Es sollen die verschiedenen Teile der Psyche nämlich nicht einfach unterdrückt, sondern jeweils zu ihrem Recht kommen bzw. ihre natürliche Funktion erfüllen. Hierin besteht die Analogie zwischen der Besonnenheit im Selbstverhältnis zur Gerechtigkeit im Staat. Bei Aristoteles meint Besonnenheit eine maßvolle Haltung insbe­ sondere gegenüber den körperlichen Lüsten. Beherrschtheit angesichts von Rachegefühlen oder Ruhmsucht fällt nicht darunter.21 Von dieser Spezifikation abgesehen, kommt in aristotelischer Begrifflichkeit die Besonnenheit als Einhaltung des vernünftigen Maßes gegenüber den nicht-rationalen mentalen Impulsen der Definition der ethischen (im Gegensatz zu den intellektuellen) Tugenden insgesamt trotzdem nahe. Zur Gewohnheit geworden bedeutet die Besonnenheit einen maßvol­ len, ausgewogenen Charakter. Dieser Bedeutung der Besonnenheit ent­ spricht Cicero durch seine Übersetzung der sōphrosynē als Mäßigung (temperantia, moderatio), Bescheidenheit (modestia) und Charakterfes­ tigkeit (constantia) (De officiis, 93–98). Als vernünftige Haltung gegen­ über den vielfältigen Regungen der menschlichen Seele scheint sich demnach die Besonnenheit bei Platon und Aristoteles genauso wie bei Cicero durch ein wohltemperiertes Selbstverhältnis auszuzeichnen. Zu der hierfür unabdingbaren Selbstreflexion passt auch die schwerpunkt­ mäßige Erörterung der Selbsterkenntnis im Charmides. Die spezifische Wendung, welche die Diskussion der Besonnenheit bei Cicero nimmt, zeigt sich in einem anderen Punkt. Cicero, der sich der Besonnenheit unter den vier Kardinaltugenden als letzter und am ausführlichsten widmet, richtet sein Hauptaugenmerk nicht auf die unterschiedlichen Formen der Lust, der Gefühle, Leidenschaften oder Triebe, hinsichtlich der es sich zu mäßigen gilt, sondern analysiert den Ausdruck der Besonnenheit im menschlichen Verhalten. Ciceros Diskussion ist in der Hauptsache eine Erörterung über Schicklichkeit und Anstand. Diese Verschiebung des Augenmerks auf den sichtbaren Vollzug der Tugend ist im Hinblick auf die Anlage seines Werkes nicht überraschend. Die officii bezeichnen nämlich nicht nur das im engeren Sinn gerechte und tugendhafte Verhalten, sondern auch das pragmatisch kluge Handeln hinsichtlich des Nützlichen. De officiis ist keine reine 20 Gr. sōphrōn (besonnen) von sōs-phrēn, etwa »gesundes Gemüt«. C. Horn und C. Rapp (Hrsg.), Wörterbuch der antiken Philosophie (2002). 21 Nikomachische Ethik III, 1117b–1119b.

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Pflichtenlehre, sondern ein Handbuch, mit dem Cicero seinem Sohn eine rechtschaffene Lebensführung möglichst konkret nahebringen wollte. Das die Tugenden konstituierende ethische Ideal, welches Cicero von dem nur Nützlichen unterscheidet, dürfte jedoch für die Anstands­ lehre, die Cicero entfaltet, von noch entscheidenderer Bedeutung gewe­ sen sein. In den platonischen Dialogen kommt bekanntlich die Intuition, dass das sittliche Gute schön (kalos), das moralische Verwerfliche jedoch hässlich (aischros) ist, in verschiedenen Variationen argumentativ zum Tragen. Die platonische Sublimierung der körperlichen Schönheit zur seelischen Schönheit ging mit der Bedeutungserweiterung des Hässli­ chen zu dem im sittlichen Kontext Schändlichen einher. Ciceros latein­ isches Wort für den Inbegriff der Tugend reflektiert diesen Umstand bereits: Nicht nur gehört honestum (Ehrbarkeit, Ehrwürdigkeit) in dieselbe Wortfamilie wie die Begriffe Ehre, Ehrung und Ansehen (honor, honestas usw.), Cicero kontrastiert die Ehrbarkeit auch klarerweise mit Schande und Schmach (turpe, turpitudo). Damit ist die Perspektive des Anderen, das heißt, das Ansehen der Person, begrifflich ins Zentrum der Ethik gerückt. Die hierin liegende Gefahr – der sich Cicero ohnehin bewusst war –, den falschen Applaus der Menge zum alleinigen Kriterium des Guten zu machen, muss uns hier nicht interessieren. Es sollte zunächst plausibel werden, weshalb Cicero die Besonnenheit vor allem unter dem Gesichtspunkt interessiert, welche Verhaltensweisen einem ehrwürdigen Charakter anständig sind. Der Inbegriff von Taktgefühl und Anmut im Verhalten, den Cicero decor nennt, ist ihm nämlich nicht allein der spezifische Ausdruck der Besonnenheit, sondern die sichtbare Seite der Ehrwürdigkeit selbst (94). Cicero macht sehr deutlich, dass mit Anstand bzw. Schicklichkeit (decor) nicht etwa nur gebotene Handlungen oder zweckmäßige Ver­ richtungen, sondern das gesamte Verhaltensspektrum des Menschen angesprochen ist: Die Haltung, das Gehen, das Sitzen, das Mienenspiel, Augenbewegungen, Gestik und natürlich die Stimme und das Sprechen; kurzum das gesamte Verhaltensrepertoire des Menschen, welches im weitesten Sinn kommunikativen Charakter hat (128, 133). Um diese umfassende Relevanz des Betragens zu verdeutlichen, verweist Cicero auf das Theater, welches zeige, dass bei schlechtem Spiel zwischen dem Charakter einer Rolle (persona) und ihrer Darstellung Dissonanzen möglich sind. Die Übereinstimmung zwischen Rolle und Ausdruck sei dagegen jene Angemessenheit und Schicklichkeit des Betragens, die wir in unseren eigenen Umgangsformen anzustreben hätten (97).

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Hier schließt sich die Frage an, welches die Bezugspunkte sind, hinsichtlich derer die Modi unseres Verhaltens als angemessen oder unangemessen beurteilt werden können. Um diese Frage zu beantworten, überträgt Cicero den zuerst zwecks Illustration eingeführten theater-the­ oretischen Begriff der Rolle (persona) auf die menschliche Existenz. Dem Menschen kämen nämlich von Natur aus zwei Rollen (persona) zu: eine allgemeine, die Cicero wenige Seiten später die Menschlichkeit (humanitas) nennt (145), und eine besondere, welche mit den natürlichen Anlagen, dem Charakter und dem Temperament des Individuums in eins fällt (107). Im Folgenden differenziert Cicero zwei weitere Rollen, die wir im Unterschied zu den beiden natürlichen Rollen der Menschlichkeit und der charakterlichen Anlage soziale Rollen nennen können. Und zwar sei einerseits mit dem Umstand zu rechnen, dass wir in eine soziale Stellung oder Umfeld hineingeboren werden, das uns ohne unser Zutun bestimmte Zwänge auferlegt. Hiervon ist andererseits diejenige Rolle zu unterscheiden, die wir selbst wählen, indem wir uns für eine Kunst, einen Beruf bzw. einen Lebensweg entscheiden (115). Unserer Rolle bloß als Mensch werden wir nach Cicero primär dadurch gerecht, dass wir uns von der Vernunft (ratio) leiten lassen und Kontrollverlust durch die Laster vermeiden. Die erhabene Stellung und Würde (dignitas) des Menschen zeigt sich aber nicht nur in seinem überlegten und besonnenen Verhalten, sondern auch darin, dass Lernen und Denken seinen Geist stets weiterbilden (105–106). Stoisch ist ferner Ciceros Hinweis, dass die Orientierung an der Natur nicht nur hinsicht­ lich Körperpflege und Gesundheit zweckmäßig (106), sondern auch mit Blick auf die Verrichtungen der Notdurft und der Sexualität angebracht ist. Im Gegensatz zum öffentlichen Antlitz des Menschen verhalte man sich deshalb hinsichtlich der von Natur aus verborgenen Körperteile (d.i. Genitalien und Ausscheidungsorgane) jederzeit dezent und mit Taktgefühl (verecundia) (126–127). Die Ausrichtung am Ideal der Humanität wird modifiziert durch eine Lebensführung gemäß des eigenen Charakters. Unter Berücksich­ tigung zwar der allgemeinen Natur – und keinesfalls gegen diese – sei es doch richtig, in erster Linie seiner individuellen Natur zu folgen. Das Spektrum, welches sich zwischen den Geboten der Humanität und den individuellen Charakterzügen (wie z. B. Offenherzigkeit, Humor, Verspieltheit, Strenge, Duldsamkeit usw.) aufspannt, hielt Cicero für derart breit, dass sogar die situative Angemessenheit des Selbstmordes nicht notwendig für zwei Personen gleich zu beurteilen sei. Cicero warnt deshalb davor, über der Nachahmung anderer die eigene Natur außer

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Acht zu lassen. Im Rahmen dieser Diskussion begegnen wir nun Ciceros Version der Idiopragieformel: »Jedem steht nämlich am meisten an, was jedem am meisten eigen ist.«22 Deshalb sei es auch notwendig, sich selbst richtig zu beurteilen. Anderenfalls, so Cicero weiter, wären wir der Urteilskraft der Schauspieler unterlegen, die ja stets diejenigen Rollen auswählen, die sie aufgrund ihres Typs gut zu spielen in der Lage sind (110–114). Die referierten Abschnitte machen sehr deutlich, dass Cicero nicht viel von einer frohen Natur gehalten hätte, die versuchte den stoischen Weisen zu mimen. Die individuellen Anlagen und Talente sollen natürlich nicht nur im Betragen, sondern auch bei der Wahl des eigenen Lebenswegs ausschlag­ gebend sein. Hierbei sind Zeit und Umstände, allen voran die Geburt, nicht außer Acht zu lassen; weswegen den Eltern oder Vorfahren in vorgezeichneten Bahnen nachzufolgen eine respektable Option sei. Die Sympathien Ciceros liegen allerdings bei denjenigen, die sich aufgrund der Erkenntnis ihrer Natur und ihrer Talente für einen Lebensplan eigenständig entscheiden. Die nicht mehr im Satzformat wiederholte, jedoch dem Sinn nach präsente Idiopragieformel nimmt in diesem Zusammenhang den modernen Sinn der vernünftigen Selbstverwirkli­ chung an (118–120). Bevor Cicero fortfährt, zwischen dem adäquaten Rollenverhalten als Privatperson und dem als Beamter sowie zwischen dem Betragen des Bürgers und des Fremden zu differenzieren (123), diskutiert er das der Jugend und dem Alter angemessene Verhalten. Die Älteren hätten in besonderem Maße auf Selbstdisziplin und Gravität zu achten, da sie als Vorbilder der Jugend anderenfalls deren Schamlosigkeit mitzuverant­ worten hätten. Die Jugend fordert Cicero auf, gegenüber den Älteren Ehrfurcht zu zeigen und sich unter diesen an den Besten zu orientieren (122). Überhaupt käme viel auf das Nachahmen (imitari) des richtigen Beispiels (exemplum) an (140). Cicero war mit der verantwortungsvollen Position vertraut, in der Öffentlichkeit als role model zu fungieren. In den Belehrungen seines in Athen weilenden 21-jährigen Sohnes steht jedoch naturgemäß nicht dessen Vorbildsein, sondern die Wahl des richtigen Vorbilds sowie die Aneignung des angemessenen Rollenverhaltens im Vordergrund. Im antiken Konfuzianismus sind die Vorzeichen umgekehrt. Eine der 22 »Id enim maxime quemque decet, quod es cuiusque maxime [suum].« (113) Wobei decet (es ist angebracht, es gehört sich) das Verb zu dem thematischen Nomen decor (Schicklichkeit, Anstand) ist.

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Rollen, in der wir Konfuzius in seinen Gesprächen erleben, ist die des gelehrten Beamten bzw. des schriftkundigen Edelmanns im Dienst eines Fürsten. Konfuzius' Selbstverständnis als Staatsrat prädestinierte seine Lehre zur Standesethik der imperialen Bürokratie und ihn selbst zum Idealbild des Beamten werden zu lassen. Dies erklärt auch, weshalb die antiken Klassiker des Konfuzianismus über weite Strecken den Charakter von Fürstenspiegeln haben. Die Texte enthalten keine Verfassungstheo­ rien oder Typologien politischer Systeme, wie wir sie bei den alten Griechen finden. Sie sind aber dennoch in hohem Maß politisch, insofern sie genaue Vorstellungen der Tugenden des Herrschers und der Kunst der moralischen Regierung vermitteln. Die Kernidee der rechten Herrschaft im Konfuzianismus ist das Charisma (míng) der Tugend (dé). Der Führung durch Exekutive sowie der Ordnung durch Strafen wird das Volk ausweichen und [es wird] ohne Scham sein. Die Führung durch Tugend sowie die Ordnung durch Riten (lǐ) [dagegen] erzeugen Scham und Mäßigung [im Volk]. (Lúnyǔ 2.3)

Die Strahlkraft der Herrscher in mythischer Vorzeit sei von derart kosmischer Tragweite gewesen, dass diese nur durch ihr Vorbild »ohne einzugreifen« (wú-wéi) Frieden auf Erden zu stiften vermochten.23 Hie­ raus leitet sich die nicht verhandelbare Prämisse der Konfuzianer ab, dass die richtige Politik bei der Selbstkultivierung des Herrschenden anheben muss. »Ist sein Gebaren recht, wird [seine Politik] vollzogen ohne Befehle. Ist sein Gebaren unrecht, wird ihm trotz Befehle nicht gehorcht« (Lúnyǔ 13.6). Da aber nicht nur der Weltfriede und die Ordnung im Reich, sondern auch die familiäre Harmonie ohne die Kraft des Vorbilds nicht zu verwirklichen sind, gilt für den Fürst genauso wie für alle Individuen, dass in der Selbstkultivierung alle Bemühungen ihren Anfang haben. Konfuzianische Politik und Ethik haben in der Selbstbildung zur Tugend ein und denselben Ausgangspunkt. In dem obigen Zitat werden einerseits politische Maßnahmen der charismatischen Führung und andererseits gesetzliche Strafen den Riten (lǐ) gegenübergestellt. Das Bedeutungsspektrum des durch das deutsche Wort Riten nur unzureichend wiedergegebenen Begriffs lǐ reicht von musikalischen Thronritualen, kaiserlichem Ahnenkult, Hofzeremoniell und diplomatischer Etikette bis hin zu Begräbnisriten, Jahreszeitfesten, Hochzeitsbräuchen und rollenspezifischen Benimmregeln. Der Fürst soll nicht durch Androhung von Strafen sein Volk beherrschen, sondern 23 Lúnyǔ 15.5. Zu dem schwierigen Begriff wú-wéi (nicht-handeln) in der klassischen chinesischen Philosophie siehe E. Slingerland, Effortless Action (2003).

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er soll als oberster Zeremonienmeister durch die Pflege der rituellen Harmonie sein Volk kultivieren. »Wenn die Oberen den Riten zugetan sind, werden die Untergebenen bereitwillig dienen.« (Lúnyǔ 14.41) Das Tugendcharisma des Herrschers verdankt sich seiner zeremoniellen Strahlkraft. Seine Tugend leuchtet erst aufgrund des rituellen Dekors seines Auftritts. Für die Konfuzianer bedeutete dies, dass jede Person in herausgeho­ bener Stellung nicht nur in der Erfüllung ihrer sachhaltigen Funktion, sondern in ihrem ganzen Betragen als gutes Beispiel zu dienen hat. Das Ziel einer durch die Riten gestifteten sozialen Harmonie gebietet schließ­ lich, dass in der Öffentlichkeit in allen Umgangsformen der zeremonielle Ernst gewahrt bleibt. Betrage dich jederzeit so, dass dein Verhalten als vorbildlich wahrgenommen werden kann! So wie für Cicero der Anstand der genuine Ausdruck der Ehrwürdigkeit war, ist für den Konfuzianer die Etikette letztlich die Repräsentation der Tugend. »Ohne die Kenntnis der Etikette (lǐ) gibt es kein Auftreten«, heißt ein weiteres Konfuzius-Wort.24 Der Punkt, auf den diese vergleichende Untersuchung zugespitzt ist, kann nun formuliert werden: Ist die für Ciceros Diskussion der Schick­ lichkeit begrifflich konstitutive Theatermetaphorik der Grund, weshalb Anstand und Höflichkeit in Europa spätestens seit den französischen Moralisten regelmäßig in Verdacht geraten, nicht authentisch und nur oberflächlich zu sein? Cicero selbst warnte ja bereits, dass einstudierte Manieren leicht affektiert wirken (130). Auch Kant glaubte: »Die Men­ schen sind insgesammt, je civilisirter, desto mehr Schauspieler«.25 Im Faust lässt Goethe den Baccalaureus gar sagen: »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«26 Was bedeuten diese kulturellen Vorzeichen für unser Verhältnis zum konfuzianisch geprägten Ostasien und insbe­ sondere zu Japan, in dem die Anstandskultur ein »weltgeschichtliches Maximum« erreicht zu haben scheint?27 In den Gesprächen erleben wir Konfuzius in einer ganzen Reihe verschiedener Rollen als Vater, Lehrer, Beamter, Nachbar, Nachfahre und Traditionalist.28 Insbesondere im zehnten Buch der Gespräche lernen 24 Lúnyǔ 20.3. Was hier mit »Auftreten« übersetzt wurde, bedeutet primär »stehen« (lì). Möglich wäre deshalb auch: »Ohne die Kenntnis des rituellen Anstands ist [sozialer] Status unerreichbar« oder »Ohne die Kenntnis des rituellen Anstands ist Eigenständigkeit unmöglich«. 25 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], AA 7:151. 26 J. W. von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil (1832), 2. Akt. 27 K. Kracht, »Anstand und Etikette in Japan« (1998), 23. 28 R. T. Ames, Confucian Role Ethics (2020), 95.

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wir im Detail die distinguierten Manieren des Meisters kennen. Seine Körperhaltung beim Überreichen von Geschenken, seine ernste Miene in Erwartung eines Gastes, das Anheben seines Gewandes auf der Treppe zur Audienz, die Wahl seiner Hauskleidung, sein Geleit der Alten nach dem Dorffest, die Ordentlichkeit seines Sitzkissens, seine Schweig­ samkeit im Dorf usw. Dass das Erlernen der rechten Etikette durch Imitation erfolgt, liegt auf der Hand. Dennoch haben die Konfuzianer die Nachahmung höfischen Betragens oder das Nachstellen zeremonieller Details nicht als Oberflächlichkeit oder gar leere Theatralik empfunden. Der konfuzianische Ernst im rituellen Betragen hat mit einem Gesichtspunkt zu tun, der bei Cicero tatsächlich fehlt. Es geht um die Einsicht, dass das Üben der Riten selbst eine die Emotionen kultivierende Funktion erfüllt. »Ehrfurcht ohne Etikette ist eine Bürde. Rücksicht ohne Etikette macht scheu. Mut ohne Etikette ist Aufbegehren. Aufrich­ tigkeit ohne Etikette ist Zudringlichkeit« (Lúnyǔ 8.2). Konfuzius geht an einer Stelle sogar so weit zu sagen: »Die Humanität besteht im selbst-disziplinierten Rückgang auf den rituellen Anstand« (Lúnyǔ 12.1). Theoretisch deutlicher wird dieser Aspekt bei Xúnzǐ. So umfassend die Anforderungen des rituellen Anstands an die Lebensführung des Einzelnen sind, genauso umfassend vermögen die Riten die Gefühle und Bedürfnisse des Menschen in die richtigen Bahnen zu lenken.29 Mit einer Kant entlehnten Wendung kann man sagen, dass sich die rituellen Verhaltensmuster »nach und nach auch im Inneren abdrücken und Dispositionen begründen«.30 Die Übung des rituellen Anstands ist eine Form der Selbstkultivierung, die dem Umstand Rechnung trägt, dass wir in unsere sozialen Rollen erst hineinwachsen müssen. Um den im Zuge dieses Vergleichs aufgebauten Kontrast zwischen Ostasien und Europa abzuschwächen, soll eine Passage aus dem Buch Zhuāngzǐ das Kapitel abrunden. Die in China sprichwörtlich gewordene Episode verdeutlicht auf humorvolle Weise, dass im taoistischen Denken der Unterschied zwischen authentischem und artifiziellem Verhalten durchaus als Spannung wahrgenommen wurde. Hast du nicht von dem jungen Mann aus [dem Dorf ] Shòulíng [im Reich Yān] gehört? Er reiste nach Hándān [der Hauptstadt des Reiches Zhào], um dort den Gang [der Großstädter] zu erlernen. Doch noch ehe er die

29 Xúnzǐ, Kap 2.2; 19.16. A. Stalnaker, »Xunzi on Self-Cultivation« (2016). H. Rose­ mont Jr. »State and Society in the Xunzi« (2000). 30 Vgl. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], AA 7:265.

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Kunst des Landes erworben hatte, vergaß er seine ursprüngliche Gangart, so dass er auf allen Vieren nach Hause kriechen musste.31

31 Zhuāngzǐ, Kap. Qiūshuǐ [Herbstwasser], Absatz 10. Japanische Übers. und Komm. Mori M. (1974), Bd. 2, 223–225. Zum Sprichwort kondensiert lautet die Episode chinesisch Hándān xué bù.

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Über Buddha und den Buddhismus einführende Worte zu finden, ohne ein verengendes Vorverständnis zu erzeugen, ist intellektuell eine höchst anspruchsvolle Aufgabe. Aufgrund seiner religiösen, philosophischen und humanistischen Aspekte entzieht sich der Buddhismus einer klaren Einordnung. Im Westen konzentrierte sich die außerakademische Rezep­ tion genauso wie das philosophische Interesse anfangs natürlicherweise auf diejenigen Elemente des Buddhismus, die nicht einfach fremd, sondern vielmehr glaubwürdig und relevant erschienen. Die im 20. Jahrhundert etablierte Buddhismuskunde erachtet diese frühe Phase der Rezeption nach bestimmten Relevanzkriterien als voreingenommen. Um die »Buddhismus« genannte komplexe kulturelle Formation in allen ihren Facetten in den Blick zu bekommen, gilt gegenwärtig nahezu jeder Aspekt des Buddhismus als forschungsrelevant. Bevor in diesem Kapitel aus philosophischer Perspektive der huma­ nistische Kern des Buddhismus herausgearbeitet werden soll, mag es hilfreich sein, sich die Ausmaße der von Buddha gestifteten Tradition hinsichtlich Schrifttum, Geschichte und Verbreitung zu vergegenwärti­ gen. Angesichts Monastizismus, sakraler Architektur und Kunst, Altären und Pantheon, elaborierter Rituale und Priesterstand sowie Kosmologie und Weltzeitalter kann es keinen Zweifel geben, dass der Buddhismus soziologisch als Religion einzuordnen ist. Da die Gemeinschaft der Mönche und Nonnen seit den Zeiten des Stifters die Lebensader der Tradition gewesen ist und sich der Buddhismus wenigstens hinsicht­ lich der monastischen Regeln als relative Einheit darstellt, kann der buddhistische Orden (gemeinsam mit dem außerhalb Indiens kaum verbreiteten Jainismus) als die älteste, seit ca. 2500 Jahren durchgängig existierende Organisation gelten. Der Monastizismus erlaubte es dem Buddhismus (ähnlich wie im Mittelalter der christlichen Mission Euro­ pas) sich in Form von Klosternetzwerken bis zum achten Jahrhundert über Zentralasien nach Ostasien sowie über Sri Lanka nach Südostasien

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auszubreiten.1 Insbesondere durch seine Akkulturation an die gänzlich andersgeartete chinesische Zivilisation wurde der Buddhismus noch vor der Jahrtausendwende zur ersten Weltreligion. Eine vergleichbare Verbreitung erreichte der Islam erst im 15. Jahrhundert. Das Christentum überflügelte den Buddhismus geographisch im Verlauf des Kolonialzei­ talters. Im Vergleich der Weltreligionen sind jedoch historische Superlative weniger interessant als ihre divergierenden Wesenszüge. Die großen innerbuddhistischen Erneuerungsbewegungen des seit der christlichen Zeitenwende in Nordindien aufkommenden Mahāyāna-Buddhismus sowie der sich während des achten Jahrhunderts herausbildende tantri­ sche Buddhismus haben sich nicht als Bruch mit der Tradition generiert. Obwohl insbesondere der frühe Mahāyāna-Buddhismus (»das große Fahrzeug«) gegen die von ihm abschätzig Hīnayāna (»das kleine Fahr­ zeug«) genannte ältere Tradition eine erhebliche Polemik aufwandte, war kein Schisma nach Orthodoxie und Häresie beabsichtigt.2 Es liegt nahe, diesen Umstand den historisch weitestgehend gleichzeitig verlaufenden Entwicklungen im monotheistischen Kulturkreis gegenüberzustellen. Obwohl sich Christentum und Islam beide als Monotheismen in jüdi­ scher bzw. abrahamitischer Tradition verstanden, beanspruchten sie die religiöse Wahrheit jeweils exklusiv. Prophetische Offenbarungen des einen Gottes ziehen eine Linie zwischen Glaube und Unglaube, Bekennt­ nis und Ketzerei, die eine inklusive bzw. tolerante Haltung erschwert.3 Um sich eine adäquate Vorstellung der Vielfalt der kanonischen Texte sowie der hierin gründenden heterogenen Glaubensinhalte und Andachtsformen des Buddhismus zu machen, ist es m. E. heuristisch ratsam, den Buddhismus nicht einfach mit dem Christentum oder dem Islam zu vergleichen. Nur indem man das gesamte Spektrum monotheis­ tischer Religiosität in den Blick nimmt, wird man der Vielgestaltigkeit 1 Ein Einfluss des Buddhismus auf das christliche Mönchstum ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nachgewiesen. Es ist aber davon auszugehen, dass im ersten und zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Alexandria ausreichend Kunde von dem zur selben Zeit in Indien blühenden buddhistischen Klosterwesen bestand. E. Selde­ slachts, »Greece, the Final Frontier?« (2007): 131–166. D. Turner, »Christianity: Overview« in Encyclopedia of Monasticism (2015), 286–290. 2 P. M. Harrison, »Who Gets to Ride in the Great Vehicle?« (1987). 3 J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung (2003), 23–37. Auch verglichen mit dem von Jan Assmann in Totale Religion (2016, 21–32 und 131–157) im Unterschied zum »Monotheismus der Wahrheit« herausgearbeiteten »Monotheismus der Treue« verhält sich der Buddhismus weniger rigoros. Weder verlangt der Buddhismus ein unwiderrufliches Bekenntnis, noch ist die Rückkehr in den Laienstand eine Sünde.

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des Buddhismus gerecht. Erst wenn beginnend mit dem orthodoxen Judentum nicht nur der vatikanische Katholizismus und der sunnitische Sufismus, sondern auch die Vielfalt der christlichen Protestantismen sowie die Kirche der Mormonen als die den Monotheismus repräsentie­ rende kulturelle Formation zusammengenommen werden, erhalten wir das dem Buddhismus geeignete Vergleichsobjekt. Diese Behauptung, deren Nachweis sich allenfalls im Rahmen eines großangelegten For­ schungsprojekts erbringen ließe, sei dabei ausdrücklich als Arbeitshypo­ these gekennzeichnet. Der Autor ist dennoch überzeugt, dass wenigstens hinsichtlich der literarischen Vielfalt des kanonischen Schrifttums nur auf diesem Weg ein verengtes Vorverständnis des Buddhismus vermieden werden kann. Der Buddhismus ist die einzige große Alternative zur monotheisti­ schen Religiosität. Ein nicht theistisch voreingenommener Begriff von Weltreligion konstituiert sich überhaupt erst unter Berücksichtigung des Buddhismus. Und wenn wir versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, was eine Religion sei, in deren Zentrum nicht der Menschen vor Gott steht, so lautet die Antwort, dass der Kristallisationspunkt des Buddhismus die Erlösung des Menschen ist. Als Religion hat er im Lauf seiner Geschichte ein reichhaltiges Pantheon entwickelt, sich mit den verschiedensten Formen des Aberglaubens gepaart, wurde durch elaborierte Rituale überformt und brachte auch Formen institutionellen Ablasshandels hervor. Die sich im Vergleich zur prophetischen Rigorosi­ tät tolerant ausnehmende Heilspragmatik des Buddhismus ließ diesen zu einem wüsten Konglomerat von Volksfrömmigkeiten anwachsen.4 In dieser Rumpelkammer historisch gewordener Religionsformen das humanistische Initial intellektuell freizulegen, ist m. E. eine genuine Aufgabe philosophischer Forschung. In seinem Ausgangspunkt nicht als Religion, sondern als Lebensform handelte der Buddhismus von der Möglichkeit der Selbsterlösung des Menschen. Trotz aller philologischer Schwierigkeiten, die ursprünglichen Lehrinhalte des historischen Buddha zu bestimmen, herrscht doch weitestgehend Einigkeit, dass er einen Erlösungsweg lehrte, der auf die Initiative und Einsicht des Individuums setzte. Dies bedeutete jedoch 4 Die seelischen Leiden der Menschen verlangen spezifische Erlösungswege, genauso wie seine Krankheiten spezifische Medizin erfordern. Auch die Metapher einer Mehr­ zahl von Fortbewegungsmitteln (einem »großen« und einem »kleinen Fahrzeug«) verweist auf die Möglichkeit, dass verschiedene Wege zum Ziel führen. Zum soterio­ logischen Pragmatismus im Buddhismus siehe M. Pye, Skillful Means (2003).

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nicht, dass der Weg selbst uneingeschränkt der Kritik offenstand. Zwar hat Buddha zweifellos seine Methode der Selbsterlösung argumentativ vertreten. Auch ist gewiss, dass die Komplexität seiner Lehre eine reich­ haltige philosophische Tradition stimulierte. Dennoch ist der Zug zur Orthodoxie im Buddhismus – wenn auch schwächer als im propheti­ schen Monotheismus – verglichen mit der abendländischen Philosophie und dem chinesischen Konfuzianismus stärker ausgeprägt. In der abend­ ländischen Tradition erkennen wir den Glücksfall, dass im Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles die Philosophie von Beginn an als offene Diskussionskultur angelegt war. Auch Konfuzius' Wirken hätte nicht notwendig in einen Schulzusammenhang münden müssen, in dem die Berufung auf den Meister Geltungsansprüche begründet. Wie Yoshida Kōhei in seinem Beitrag zeigt, zielte Konfuzius' Unterrichtung primär auf individuelle Charakterbildung. Zwar kann als sicher gelten, dass der konfuzianischen Schule viel an der Bewahrung der Kultur der ZhōuDynastie (ca. 1050–256) gelegen war und ihr von daher ein konservativer Zug von Beginn an innewohnte. Zur Ausbildung einer konfuzianischen Orthodoxie jedoch kam es erst im Zuge der institutionellen Erneuerung des Staatsexamens für die Beamtenlaufbahn während der Sòng-Dynastie (960–1279). Dem Beispiel des Konfuzius als Staatsrat folgend wurde der Neokonfuzianismus schließlich zum verbindlichen Bildungskanon der imperialen Bürokratie.5 Zwar gibt es auch im Pāli-Kanon Predigten, in denen Buddha ausdrücklich zum selbstständigen, kritischen Urteil auffordert. In der »Predigt zu Kesaputta« (Kesamuttisutta, AN 3.65) zum Beispiel rät er den Bürgern der gleichnamigen Stadt, sich nicht auf Tradition, nicht auf die Autorität einzelner Meister oder heiliger Schriften und auch nicht allein auf abstrakte Theorie zu verlassen, sondern ihre Lebensform aufgrund eigener Erfahrung zu entwickeln. Dennoch tritt uns der Buddha in den ältesten Schriften bereits als vollendeter Weiser entgegen, und es steht zu vermuten, dass ihm schon zu Lebzeiten religiöse Verehrung zukam. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich seine Gestalt in verschiedenen Manifestationen zum Gott, um schließlich im tantrischen Buddhismus als großer Sonnenbuddha (Vairocana) nicht weniger als den Urgrund der kosmischen Wahrheit zu verkörpern.6 Solange man seinen Standpunkt mit Argumenten vertritt, ent­ kommt man dem Paradigma der Philosophie nicht, selbst wenn man 5 T. H. Lee, Education in Traditional China (2000), 77–86. 6 Zu anderen Facetten der Götter und des Göttlichen im Buddhismus siehe P. Harvey, Buddhismus und Monotheismus (2019).

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es wollte. Es ist aber nicht möglich, die im nächsten Kapitel darzustel­ lende Vergeltungslehre prinzipiell zu verwerfen, ohne damit das im Rahmen des Buddhismus Denkbare zu sprengen. In diesem Punkt ist der Buddhismus nicht in derselben Weise voraussetzungslos wie die grie­ chische Philosophie. Hinsichtlich der Frage, inwieweit der Buddhismus als wissenschaftliche Tradition gelten kann, ist dieser Unterschied zwar nicht unwichtig. Für den hier verfolgten Versuch, den Buddhismus als Humanismus aufzuweisen, aber zweitrangig. Der Buddha hat einen Weg gewiesen, der prinzipiell jedem Men­ schen offensteht. Diese Idee einer selbst bewirkten Erlösung ist insbe­ sondere in den Klöstern, die von jeher das Rückgrat des Buddhismus bildeten, immer wach geblieben. Schließlich hatte der Buddha die zöli­ batäre Lebensform als den Ort geschaffen, an dem sein Erlösungsweg praktiziert werden kann. In seinem Beitrag formuliert Takemura Makio, dass in Buddha, indem er sich aus seinen familiären Bezügen und den zweckgebundenen Zusammenhängen der Gesellschaft löste, die »Gestalt eines absoluten Subjekts« sichtbar wurde (S. 153). Ähnlich spricht Peter Sloterdijk von der »Geburt des Individuums aus dem Geist der Rezes­ sion«.7 Der sich von seinen Mitmenschen absondernde Asket oder Ein­ siedler mag tatsächlich als eine Art demonstrativer Freigeist vorgestellt werden. Die Befreiung von sozialen Rollenzwängen haben in Ostasien insbesondere die Zen-Meister auch als Narrenfreiheit zur Schau getra­ gen.8 Die von Buddha gegründete Gemeinschaft der Praktizierenden war aber natürlich alles andere als eine lose Ansammlung von Außenseitern, Exzentrikern und Eremiten. Obwohl der schon zu Lebzeiten des Buddha ständig zunehmende Komplexitätsgrad des Ordens seinerseits interne Rollendifferenzierungen generierte, war durch die neue Organisations­ form doch ein den familiären, ökonomischen und politischen Zwängen des Lebens äußerlicher Standpunkt gewonnen. Die dem Menschen mögliche Distanznahme zu sich und der Welt wurde durch die Schaf­ fung einer Gegenkultur soziologisch manifest. Ihre Anti-Struktur zum funktionalen Rollengefüge der primären Gesellschaft wird insbesondere 7 P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (2009), 353. 8 B. Faure, The Rhetoric of Immediacy (1994), Kap 6. Línjì, den Takemura Makio in seinem Beitrag an gleicher Stelle zitiert, ist vielleicht das berühmteste Beispiel. Wohlgemerkt war es auch der Zen-Buddhismus, der die befreiende Distanz nicht ausschließlich im meditativen Rückzug suchte, sondern als eine zu jedem Zeitpunkt mögliche, auch im Alltag des Laien zu bewahrende Geisteshaltung empfahl.

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durch ihren egalitären Zugang markiert.9 Nebenbei bemerkt beweist Buddhas Ablehnung von Standesunterschieden und Geburtsrecht, dass es nicht erst die Idee einer einzigen Gottheit braucht, dem der Mensch als Individuum gegenübertritt, um die Idee der menschlichen Gleichheit in die Welt zu bringen. Gegen die monastische Lebensweise wird in Ostasien von alters her der Wert der Familie und in Europa seit dem 19. Jahrhundert zunehmend der Wert des Lebens ins Feld geführt. Der Vorwurf richtet sich dabei insbesondere gegen das die klösterliche Lebensform fundierende Zölibat: »Der Einzelne […] mag entschuldigt werden, wenn er sich dem Kloster zuwendet. […] Was aber für den Einzelnen eine entschuldbare Ausnahme ist, kann nicht zur allgemeinen Doctrin werden, ohne den Charakter eines intellectualen Verbrechens anzunehmen.«10 Kants Kategorischer Imperativ, der in dem Zitat Eugen Dührings anklingt, lässt sich tatsächlich aufschlussreich anhand der Frage des Zölibats diskutieren. Obwohl Kant der Ansicht war, dass »mystische Schwärmereien im Eremiten- und Mönchsleben und Hochpreisung der Heiligkeit des ehelosen Standes eine große Menschenzahl für die Welt unnütz« machen,11 können wir den nachgelassenen Reflexionen zur Rechtsphilosophie entnehmen, dass Kant, der es selbst vorzog unverhei­ ratet zu bleiben, das Zölibat (wenigstens in vorkritischer Zeit) nicht als pflichtwidrig erachtete.12 Anders etwa als der Talmud (Gebot 212) und Platons Nomoi (774), die eine Pflicht zur Verehelichung kennen, kann es bei Kant keine Heiratspflicht geben, da Sollen stets Können voraussetzt. Eine rechtliche Pflicht zur Verehelichung würde die Befugnis zur Zwangsverheiratung nachsichziehen, deren Opfer nahezu immer Frauen und Kinder sind. Das Zölibat als dem Abschwören der Verehelichung aus Prinzip scheint auf den ersten Blick jedoch durchaus dem Kategorischen Impe­ rativ zu widersprechen: Kann ich wollen, dass meine Maxime, mich nicht fortzupflanzen, ein allgemeines Gesetz werde? Würde dies nicht bedeu­ ten, dass es nach Maßgabe eines solchen Gesetzes gar nicht zu meiner eigenen Geburt gekommen wäre? Lässt sich ein solches Gesetz ohne einen Selbstwiderspruch denken? Noch weniger scheint sich die Maxime als »Naturgesetz« zu qualifizieren, wie der Kategorische Imperativ ja auch fordert. Das Beispiel verlangt eine ausführlichere Diskussion, als sie 9 10 11 12

P. Harvey, An Introduction to Buddhist Ethics (2000), 109–112. E. Dühring, Der Werth des Lebens (1865), 19. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793], AA 6:130. I. Kant, »Reflexionen zur Rechtsphilosophie«, AA 19:461 (ca. 1769).

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hier durchgeführt werden kann. Wie ich in meinem eigenen Beitrag zu Kant argumentiere, hält man sich in diesem wie in vielen anderen Fällen besser an die Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs. Man mache sich bloß klar, dass die individuelle Maxime zölibatär zu leben als ein Recht bzw. eine Befugnis zweifellos legitim ist, da hierdurch niemands Freiheit eingeschränkt und auch die Würde der Menschheit in jeder Person gewahrt bleibt. Ganz anders als im Fall der Zwangsheirat lässt sich nur schwer argumentieren, dass durch die monastische Lebensform die Menschheit »bloß als Mittel« zu eigenen Zwecken herabgewürdigt wird. In einer liberalen Gesellschaft, wie sie Kant vorschwebte, steht zölibatär zu leben deshalb jedem Menschen frei. Die oben zitierte Kritik Eugen Dührings an der zölibatären Lebens­ form stammt aus seinem Buch Der Werth des Lebens von 1865. Das Buch richtet sich in weiten Passagen gegen Arthur Schopenhauer, den ersten ernsthaften philosophischen Rezipienten des Buddhismus im Westen.13 In diesem Zusammenhang ist interessant zu lesen, wie ein junger Professor von gerade einmal dreißig Jahren sich über die »unver­ schämte Schimpferei« Dührings empörte, da dieser in der asketischen Lebensform den raffinierten Versuch ausmachen wollte, »das Wesen der Gattung selber zu ertödten«. Jener Verehrer Schopenhauers – der junge Friedrich Nietzsche – notierte sich 1875 zu seiner Dühring-Lektüre: Er meint also in allem Ernste, daß ein Leben in der Einsamkeit nie ein Leben für die Menschen sein könne, und daß Abwendung vom Leben Abwendung von den Menschen sei. [...] Nun denke man dabei einmal an Buddha und Christus usw. [...] Da ist nun alles verkehrt! Erstens nimmt er überall an, daß die Asketen gerade als Egoisten Asketen sind, daß nur das individuelle Loos sie zum Haß gegen das Dasein bringt. Zweitens fühlt er nichts von dem allgemein helfenden und für Alle wirksamen Pathos des Asketenthums; in seiner höchsten Gestalt ist es ja gerade der Tod und das Leiden für Alle.14

Der junge Professor Nietzsche, der hier den Lebenswandel des religiösen Außenseiters insofern gerechtfertigt sieht, als dieser exemplarisch etwas zu durchleben bereit ist, zu welchem den meisten Menschen die Kraft fehlt, eben jener Nietzsche wird sich etwas mehr als zehn Jahre später im Namen des Lebens selbst in den ausfälligsten Beschimpfungen gegen den 13 H. Dumoulin. »Das Buddhismusbild deutscher Philosophen des 19. Jahrhunderts« (1979). V. Zotz, Auf den glückseligen Inseln (2000). 14 Nietzsches Rezension von »E. Dühring: Der Werth des Lebens (1865)« findet sich in Nachgelassene Fragmente 1875–1879, Sommer 1875; KSA 8:131–179. Zitat auf Seite 139.

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»asketischen Priester« ergießen: Hier ist von des Geistes »widriger und düsterer Raupenform« die Rede; von »Parasiten«, vom »Vampirismus« und gar von der »Giftspinne des Lebens«. Oder schlicht von der »Wider­ natur«, gegen die »man nicht Gründe«, sondern nur »das Zuchthaus« hat.15 Dem Christentum warf Nietzsche insbesondere sein Verhältnis zur Sexualität vor: Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens… 16

Man muss mit der katholischen Sexuallehre nicht einverstanden sein. Insbesondere in der Verquickung von Koitus und Sündenfall bei den Kirchenvätern und in der augustinischen Identifikation von Wollust und Erbsünde mag man ein besonders ärgerliches theologisches Kon­ strukt mit Recht erkennen.17 Für den Umstand aber, dass der ursprüng­ liche Bauplan des Wirbeltierstammes nur eine Körperöffnung für Ver­ dauungssystem und Urogenitaltrakt aufwies und deshalb auch beim Menschen Rektum und Urogenitalapparat benachbart sind, dafür wird man das Christentum kaum verantwortlich machen können.18 Dass aufgrund der Gleichlagerung von Ausscheidungs- und Fortpflanzungs­ organen beim Menschen eine emotionale Verwandtschaft zwischen hygienischer und sexueller Scham feststellbar ist, wird vom Buddha im Suttanipāta (Anthologie der Predigten) mit geradezu anthropologischer Präzision ausgesprochen:

15 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 10 [1887], KSA 5:361. Der Antichrist 38 [1888], KSA 6:210. Ebd. 49 [1888], KSA 6:228. 16 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung. Was ich den Alten verdanke 4 [1889], KSA 6:160. 17 M. Foucault, Die Geständnisse des Fleisches (2019). Fairerweise muss man hinzufü­ gen, dass auch Buddha seiner späteren Hagiographie zufolge nicht etwa natürlich gezeugt wurde, sondern in der Königin Gebärmutter geisterhaft Einzug hielt. Bei seiner Geburt war der angehende Weltenherrscher zudem dezent genug, sich aus der Lende seiner Mutter herauszuschälen, um ihr Schmerzen und, wie zu vermuten steht, sich selbst Verunreinigungen zu ersparen. Buddhacarita verfasst von Aśvaghoṣa (ca. 1–2 Jh.) ist die wohl einflussreichste Fassung der Buddha-Legende. Übers. von P. Olivelle, Ashvaghosa: Life of the Buddha (2008). 18 C. Houillon, Sexualität (1969), 119–121. V. Blüm, Vergleichende Reproduktionsbiolo­ gie der Wirbeltiere (1985), Kap. 2.3.

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Gesehen hab' ich Begierde, Unzufriedenheit und Wollust, Doch nicht kam dabei Wunsch mir nach Begattung. Wie sollt' ich dies Harn- und Kot-Gefüllte Auch mit dem Fuß nur zu berühren wünschen! (835) Wie man sich zu der nicht nur mit dem Geschlechtsakt, sondern auch mit der Geburt notwendig einhergehenden Vermischung von Körperflüssig­ keiten und Sekreten positioniert, ist eine Frage der Kultur der Scham- und Ekelgefühle, mithin eine Sache individueller Präferenz. Ich persönlich sehe keinen Grund, die menschliche Sexualität aus hygienischen Grün­ den prinzipiell zu verdächtigen. Soziologisch gesprochen begründet zwar das Zölibat die von Bud­ dha geschaffene Lebensform. Der Orden ist aber nicht Selbstzweck, sondern er ermöglicht jene neue Art von Distanz, die den Menschen frei macht, sich zu üben. Diese von Buddha empfohlenen Übungen sind als solche jedoch ebenfalls nicht Selbstzweck, sondern Mittel der Kultivie­ rung von Einsicht, Tugend und mentalem Wohlergehen. In der Systema­ tik der vier Lebensstadien (skt. āśrama) im klassischen Hinduismus ist die spirituelle Übung den auf die Phasen des Lernens und des Familien­ lebens folgenden Stadien der Seniorität und des Rückzugs im hohen Alter zugeordnet.19 In Thailand besteht noch aus vormoderner Zeit die Praxis einer Ordination junger Männer auf Zeit. Es entspricht durchaus der Logik der Pluralisierung und Individualisierung der Lebensformen unter modernen Bedingungen, die Option der Distanznahme heute situativ zu deuten. Auch Nietzsche hat in seinem Zarathustra schließlich einen Weisen gezeichnet, der in seinem Alternieren zwischen Berg und Tal, zwischen Hinauf- und Hinabsteigen zeigt, dass zeitweilige »Einsamkeit« und »ein Leben für die Menschen« sich nicht ausschließen müssen. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass Inoue Enryō, der selbst als Jüngling zum buddhistischen Priester geweiht worden war, aufgrund eben desselben Zeitgeistes, an dem auch Dühring und Nietzsche partizipierten, Priesterheirat und Laizismus im Buddhismus befürwortete. Enryōs buddhistische Philosophie ist der erste moderne Versuch, den Buddhismus gegen den Vorwurf der Jenseitigkeit, des Pessimismus und der Lebensfeindlichkeit in Schutz zu nehmen und als eine der Welt zugewandte »lebendige« Religion zu rechtfertigen.20

19 H. Zimmer, Philosophie und Religion Indiens [eng. 1951] (1973), 146–154. 20 R. Schulzer, Inoue Enryō (2019), 237–243.

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Die jedem Menschen erlaubte sexuelle Enthaltsamkeit ist aber nicht der einzige und auch nicht der schwerwiegendste Vorwurf gegen den Monastizismus. Weniger im Verzicht auf Fortpflanzung, sondern in der Kasteiung des Leibes wird der Hass auf das Leben ausgemacht. Bereits Kant hatte jeglichen positiven Wert der »Aufopferung seiner eigenen Person« durch »Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung« mit Recht bestritten.21 Da zu Lebzeiten des Buddha selbst der Tod durch unterlas­ sene Nahrungsaufnahme und Aussetzen des Atems als Erlösungsweg in Betracht gezogen wurden, wissen wir, dass der Buddha qualvolle Formen der Askese ablehnte. Selbst zugefügtes Leid ist nicht der buddhistische Weg.22 Der orthodoxen Biographie des Buddha zufolge hatte dieser selbst vor seiner Erleuchtung mit asketischen Praktiken experimentiert, die ihn durch Auszehrung an den Rand des Todes brachten. Eine Pointe der Weigerung des Buddha, sich hinsichtlich der Existenz eines Selbst oder einer vom Körper abtrennbaren Seele philosophisch festzulegen, besteht darin, die Befreiung der Seele durch Abtötung des Fleisches als Heilsweg verwerfen zu können. Die Seele durch Vergeistigung und Askese vom Fleisch zu reinigen, ist nicht buddhistisch.23 Damit ist auch die religiöse Zuspitzung der Meditation zur Leibfeindlichkeit unmöglich gemacht. Nietzsches Vorwurf, »dass man eine »Seele«, einen »Geist« erlog, um den Leib zu Schanden zu machen«, war als Gefahr im Buddhismus von Anfang an überwunden!24 Man mag zwar mit dem jungen Nietzsche »von dem allgemein helfenden und für Alle wirksamen Pathos des Aske­ tenthums« sprechen. Schließlich hat der Buddha in der Tat ein bis heute wirksames Beispiel gegeben. Aber es ist ein von Paulus her gedachtes Missverständnis, das Asketentum sei »in seiner höchsten Gestalt […] ja gerade der Tod und das Leiden für Alle.« Der Priester (wenigstens nicht der buddhistische) ist kein »Menschenopfer«,25 wie Nietzsche glaubte; und zwar deswegen, weil die buddhistische Klausur schlicht nicht den Zweck hat, sich Leid zuzufügen, sondern das Gegenteil der Fall ist. Das erklärte Ziel buddhistischer Askese ist mentales Wohlergehen. Es kann deshalb weder stellvertretendes Leiden noch Aufsichnehmen fremder Schuld im Buddhismus geben. Um den Vorwurf der Körperfeindlichkeit 21 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre [1797], AA 6:485. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793], AA 6:172. 22 J. Bronkhorst, Two Traditions of Meditation in Ancient India (1993), 4–26. 23 J. Bronkhorst, Greater Magadha (2007), 49–34. 24 F. Nietzsche, Ecce homo. Warum ich ein Schicksal bin 7 [1889], KSA 6:372. 25 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 351 [1887], KSA 3:587.

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zu begegnen, mag man außerdem darauf hinweisen, dass die Medizin ein seit frühester Zeit in der buddhistischen Gemeinschaft der Mönche und Nonnen kultiviertes Wissen war.26 Auch Nietzsches Vorwurf des Parasitismus (bzw. »Vampirismus«) läuft ins Leere, wenn wir die von Takemura Makio referierte Priester­ kritik im Suttanipāta mit ins Bild nehmen (S. 153–157). Der wahre Pries­ ter lässt sich nicht für Gebete oder Rituale entschädigen (obwohl derar­ tige Praktiken etwa im japanischen Buddhismus noch heute Alltag sind). Er ist nicht Verwalter göttlichen Segens oder magischen Heils. Der Bud­ dhismus des Pāli-Kanons ist tatsächlich ein strikt individueller Erlö­ sungsweg. Buddhistische Selbstkultivierung wird zum Dienst am Men­ schen nur dann und nur insoweit die erworbene Tugend in Form der Wohltätigkeit und die erlangte Einsicht in Form der Seelsorge den Mit­ menschen zugutekommt. Der Advokat des vollen Lebens, Eugen Dühring, polemisierte gegen den Buddhismus aber nicht nur wegen Zölibat und vermeintlicher Körperfeindlichkeit, sondern auch wegen dessen angeblicher Gering­ schätzung der Gefühle: »Gemüthsbewegungen nicht wollen, heißt das Leben selbst verachten«. Dies sei der »raffinierte geistige Tod« einer »sich selbst zum Ekel gewordenen Existenz«.27 In der zweiten, erweiterten Auflage seines Werkes aus dem Jahr 1877 wird Dühring in seiner Kritik der westlichen Rezipienten des Buddhismus und deren, wie er es nennt, »mystischen Opiumfreuden der Nichtsverhimmelung«28 noch polemi­ scher: Indessen glaube man nur nicht, es habe das buddhistische Nichts für die Volksmasse in der mystisch ungereimten Weise existiren können, in welcher es die neusten bei uns hausenden Adepten für die üppigsten und verkommensten Elemente der höhern Gesellschaft zugerichtet haben. (14) Die komische Seite der Sache ist aber hiebei die, dass es den Romantikern neusten Schlages auch wirklich mit ihrer tod- und nichtssucherischen Erlösungsmanier nie rechter Ernst ist. Sie brauchen vielmehr ein ihrem 26 K. G. Zysk, »Medicine« in Encyclopedia of Buddhism (2004), 518–520. 27 E. Dühring. 1. Aufl., S. 17–19. Für die an Nietzsche interessierten Leserinnen und Leser sei noch folgendes Zitat aus demselben Nachlass nachgereicht: »Der Advokat des Pathos nimmt sich als Lebens-Verherrlicher übel aus. Wenn nichts Großes ohne Pathos entsteht (woran zu zweifeln ist —), so fällt ein unheimliches Licht auf das Leben« (KSA 8.140). 28 2. Aufl. (1877) zitiert nach 3. Aufl. Leipzig (1881), 29. In der zweiten Auflage brach auch Dührings Antisemitismus unverhohlen durch. Er spricht nun von der »Judenna­ tur«, die »keiner eigentlichen Besserung zugänglich« und »nur durch Ertödtung und Ausrottung bezwingbar« sei (6).

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Wesen entsprechendes, zwitterhaftes Balanciren zwischen Leben und Tod, und sie finden nur in einer unklaren Mischung von beiden Elementen den Anknüpfungspunkt für ihre zerfahrenen, bald mit dem Leben bald mit dem Tode coquettirenden Velleitäten. Thatkraft und Entschlossenheit bleiben dem verrenkten und durch abseits gerathene Kunstgenüsse auch geistig ausgemergelten Dasein natürlich fern. (16)

Viel beißender hätte es wahrscheinlich auch Nietzsche nicht formulieren können. Und es ist fraglich, ob der Esoterik-Bewegung und IndienBegeisterung des 20. Jahrhunderts Dekadenz und Koketterie ähnlich drastisch zum Vorwurf gemacht wurden. Im selben Geiste mögen man­ che zeitgenössische Publizisten Relax-Yoga und Wellness-Zen urbaner Teilzeitasketen als Moden des 21. Jahrhundert abtun. Inhaltlich ist hier jedoch kaum noch ein Argument ausfindig zu machen. Gemütsbewegun­ gen für den Moment nicht zu wollen, ist weder selbst-widersprüchlich noch inkonsequent. Die aufrechte und durch gekreuzte Beine stabilisierte Sitzhaltung wurde von Buddha nicht empfohlen, um in einen sanften Tod zu gleiten. Abgesehen davon, dass auch Buddha der Tradition nach im Liegen starb, ist die senkrechte Wirbelsäule die der wachen Achtsam­ keit gemäße Haltung. Ohne Bezug auf ein Jenseits bleibt die situative Verneinung des Wollens notwendig auf dessen Bejahung bezogen.29 Der Moment, in dem mit erfrischtem Geist die Beine gelöst werden, wird in manchen Texten sogar ausdrücklich beschrieben.30 Die um die Zeiten­ wende in Nordindien entstandene Ikonographie des aufrecht sitzenden Buddha versinnbildlicht den Menschen als das Tier, welches in der Lage ist innezuhalten, Distanz zu nehmen und in voller Geistesgegenwart still zu werden. Meditation ist die Kultur des Innehaltens, der ruhende Kontrapunkt zur Lebenspraxis. Der Buddhismus mag zwar auf den ersten Blick als eine Lebensform der Abwendung und Entsagung erscheinen, ursprünglich geht es ihm aber weder um Weltabwendung noch um Lebensverneinung, sondern allenfalls um einen Rückzug auf Zeit zwecks mentalen Wohlergehens. Dührings sarkastische Rede vom »zwitterhaften Balanciren« trifft dabei unbeabsichtigt etwas Richtiges. Denn eine Balance zwischen Dis­ tanz und Hingabe, Ruhe und Bewegung, Beschaulichkeit und Tatkraft muss tatsächlich jedes Individuum für sich selbst finden. Anstatt in 29 Zu Negation und Distanz aus anthropologischer Sicht erhellend V. Gerhardt, Humanität (2019), 167–174. 30 Therīgāthā (Verse der Nonnen), 42–45. Zitiert in S. Shaw, Buddhist Meditation (2006), 22.

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den Yoga-Studios und Meditationszentren der Metropolen weltweit nur erfundene Traditionen oder »esoterisches Geflöte«31 auszumachen, ist meines Erachtens gerade die Tatsache, dass sich die auch im Yoga elementare Praxis der Meditation im Sitzen aus ihrem religiösen Kontext herauslösen lässt, der Beweis für den im Kern humanistischen Kristal­ lisationspunkt des Buddhismus. In dem sich seit dem 11. Jahrhundert in Ostasien ausbreitenden Neokonfuzianismus war dies lange vor der westlichen Moderne bereits erkannt.32 Die säkularen Anthropotechniken des Yoga und der Meditation gehören zu den großen Beiträge Indiens zur globalen Zivilisation.33 Meditation bedeutet in seiner einfachsten – und vielleicht auch besten – Form nicht mehr als die mentale Übung, Entspannung und Aufmerksamkeit, Gelassenheit und Konzentration in Balance zu halten. Dass diese geistige Übung therapeutische Wirkung entfalten und dem mentalen Wohlergehen förderlich sein kann, ist heute durch empirische Forschung vielfach belegt.34 Wenn allerdings die durch das Innehalten erlangte Selbstdistanz keine Erkenntnis ermöglichen würde, hätten wir heute keinen Grund, im Zusammenhang mit dem Buddhismus von einer philosophischen Tradition zu sprechen. Die durch Achtsamkeit stimulierte Reflexion führte aber zu einem weltgeschichtlich eindrucksvollen Auftritt der Psychologie und Epistemologie. Ein zentrales Theoriestück, auf wel­ ches große Teile der späteren buddhistischen Scholastik aufsetzen, ist eine Liste fünf phänomenologischer Kategorien. Die in Pāli khandha genannten Erfahrungselemente sind (1) rūpa (Körper, Gestalt, Materie), (2) vedanā (Sinnlichkeit, Gefühle), (3) saññā (Auffassung, Begreifen, Vorstellung), (4) saṅkhāra (Intention, Motivation, Aktivität) und (5) viññāṇa (Bewusstsein). Nicht nur die Bedeutung des Wortes khandha 31 P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (2009), 339. 32 R. L. Taylor, The Confucian Way of Contemplation (1988), 31–52. 33 Ich halte »Anthropotechnik« für eine gelungene Begriffsbildung. P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern: Über Anthropotechnik (2009). Der Umstand, der seinerzeit für einige Aufregung sorgte, dass Peter Sloterdijk die Thematik in seinem Text »Regeln für den Menschenpark« (1999) mit Platon zuerst als eine politische Problemstellung ansprach, interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Die ethische Rede von einer Mehrzahl von »Anthropotechniken« bewegt sich im Rahmen des alteuropäischen, meist im Singular gebrauchten Ausdrucks »Lebenskunst« bzw. »Lebenstechnik« (technē tou biou). 34 Einen Einstieg in die Forschungsliteratur bietet die Homepage der American Mind­ fulness Research Association.

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ist allerdings schwer fassbar,35 sondern auch hinsichtlich der ersten Kategorie rūpa herrschte offenbar in der Tradition früh Uneinigkeit. Je nachdem ob rūpa als Materie im Allgemeinen oder als Körperlichkeit des wahrnehmenden Subjekts interpretiert wird, erscheint die Liste der Kategorien entweder mehr ontologisch oder mehr phänomenologisch. Auch steht die sinnliche Wahrnehmung quer zu den fünf Kategorien. Es vermittelt bereits eine Vorstellung davon, welche Zergliederungsdynamik die spätere Scholastik auszeichnet, wenn man weiß, dass die Kategorien zwei bis fünf jeweils hinsichtlich aller sechs Sinnesorgane ausdifferenziert wurden.36 Eine weitere Dimension erhalten spätere Klassifikationssys­ teme, indem die Erfahrungselemente jeweils als wohltuend, leidvoll oder neutral taxiert wurden. Im Fall der vierten Kategorie, zu der auch das Wollen (cetanā) zählt, unterscheidet die Scholastik bereits fünfzig mentale Phänomene.37 Damit war ein psychologisches Vokabular zur Verfügung gestellt, das in seiner Differenziertheit in der antiken Welt ein Alleinstellungsmerkmal ist.38 Peter Sloterdijk spricht vermutlich zu Recht vom Buddhismus als dem »verzweigtesten scholastischen Phänomen der Zivilisationsgeschichte«.39 Der Buddha hat zwar durch die fünf Kategorien der menschlichen Erfahrung ein durchaus tragfähiges Fundament für die spätere buddhis­ tische Psychologie und Ontologie geschaffen. Sein primäres Ziel war aber nicht die Zergliederung der Wirklichkeit, sondern die subjektive Schau der Wahrheit. Das distanzierte Gewahrwerden der Faktoren der Wirklichkeit erlaubt die Beobachtung der Unbeständigkeit der Welt. Dieser gilt es ins Auge zu sehen, da es Leid mit sich bringt, sein Lebens­ glück von Unbeständigem abhängig zu machen bzw. seine Hoffnung auf Vergängliches zu gründen. Wer in der Lage ist, die eigene Vergänglichkeit sowie die der Welt anzunehmen, der wird nicht unter Verlust leiden, auch nicht unter dem Verlust des eigenen Lebens. Sobald das Entstehen und Vergehen der Phänomene [khandha] eingese­ hen ist, wird [dem Menschen] Freude und Glück zuteil. [Dies ist] die Todesfreiheit der Wissenden. (Dhp 374)

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M. Boisvert, The Five Aggregates (1995), 16f. R. Gethin, »The Five Khandhas« (1986). M. Boisvert, The Five Aggregates (1995), 107. M. Heim, The Forerunner of All Things (2014), 83. P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern (2009), 440.

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Die Vergegenwärtigung der Vergänglichkeit der Welt mag die Furcht vor dem Tod nehmen. Die Bereitschaft zu sterben bedeutet die Spanne zwischen Geburt und Tod zu jedem Zeitpunkt als vollendet annehmen zu können.40 Es bleibt selbstverständlich der Einzelperson überlassen, zu welchem Zeitpunkt auf der eigenen Lebenskurve sie diese Haltung zu kul­ tivieren sucht oder ob sie einen derartigen Gemütszustand überhaupt für erstrebenswert hält. Es gibt hier keinen missionarischen Eifer, sondern nur die Empfehlung, von Zeit zu Zeit innezuhalten und Achtsamkeit zu üben. Die vorstehende Überlegung sollte trotzdem deutlich machen, dass ohne zusätzliche die Transzendenz betreffende Annahmen und je nach religiöser Resonanz des Individuums die Meditation Katalysator spiritueller Sensibilisierung sein kann. Nietzsche hat etwas Richtiges getroffen, als er den Buddhismus »positivistisch« nannte. 41 Die im Innehalten erfahrbare absolute Wahr­ heit der Unbeständigkeit der Welt steht jedoch der konkreten Rede über Lebensfragen nicht im Weg. Mit Nāgārjuna (ca. 130–250), der in der Nachfolge Buddhas einflussreichste Denker der Tradition, ist es üblich, zwischen einer absoluten Wahrheit der Vergänglichkeit und Substanzlo­ sigkeit der Welt und einer »provisorischen« oder »konventionellen« Wahrheit der Rede über Sachverhalte und menschliche Dinge zu unter­ scheiden. Im weitesten Sinne kann die erste Wahrheit als theoretische gelten und die zweite Wahrheit mit dem gleichgesetzt werden, was Kant Denken »in praktischer Absicht« nannte.

40 Eine derart vollendete Gelassenheit mag die in Takemura Makios Beitrag in verschiedenen Wendungen vorkommende Rede von der »Geburt- und Todlosigkeit« existentiell plausibel machen. Die orthodoxe Exegese deutet den Ausdruck allerdings im Kontext des Austritts aus dem Kreislauf der Wiedergeburten: Das Eingehen in das Nirwana ist kein echter Tod, weil keine weitere Geburt auf ihn folgt. 41 F. Nietzsche, Der Antichrist 20 [1888], KSA 6:186.

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Vergeltung und Wiedergeburt »Der Tugend geziemt eine Belohnung, dem Laster eine Strafe.« Diese Notiz Kants aus den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten (1797) for­ muliert eine elementare Gerechtigkeitsintuition des Menschen.1 Das Prinzip der moralischen Vergeltung ist von überragender Bedeutung nicht nur im Buddhismus, sondern auch Kant hielt in seiner Moralphi­ losophie an ihm fest. In seinem großen Buch Vergeltung und Kausalität (1941) spürte Hans Kelsen dem Prinzip der Vergeltung in animistischen Naturvorstellungen, Magie und Mythologie sowie in der vorklassischen (homerischen) Religion der Griechen nach. Insbesondere aber in der Seelenwanderungslehre der Orphiker und Pythagoreer sieht Kelsen die Vergeltungsidee in ganzer Konsequenz durchgestaltet: Das letzte Ziel der Orphiker wie der Pythagoreer ist [...] die Gerechtigkeit des menschlichen Schicksals nachzuweisen. Der Erreichung dieses Ziels stehen zwei Hindernisse im Wege: das schuldlose Leid und die Straflosig­ keit des Bösen. [...] [D]ie Lehre von der Seelenwanderung [beseitigt] mit einem Schlage alle beide. Denn das im Diesseits sichtbare Leid ist Strafe für unbekannte Schuld eines unserem Bewusstsein entschwundenen früheren Lebens; und einer in diesem Leben sichtbaren, aber ungesühnten Schuld ist Strafe in einem künftigen Leben sicher. Wie gewaltig muss der Wunsch nach Vergeltung sein, wenn er die Phantasie so weit über die Grenzen aller durch den Verstand kontrollierbaren Erfahrung zu treiben vermag! Die orphische wie die pythagoreische Lehre ist der grandiose Versuch, die Welt, in deren Mittelpunkt das menschliche Leben steht, dadurch als gerecht zu erkennen, dass man sie als Realisierung des Vergeltungsprinzips begreift.2

Kelsens Charakterisierung der griechischen Seelenwanderungslehre stimmt nicht mit der buddhistischen Vorstellung der Reinkarnation 1 I. Kant, »Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre,“ AA 23:247. 2 H. Kelsen, Vergeltung und Kausalität [1941] (1982), 226.

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überein. Sie trifft aber auf die religiöse Kultur, auf deren Boden der Buddhismus in Indien entstand, bemerkenswert exakt zu.3 Dass diese ideengeschichtliche Koinzidenz mit der Ausbreitung der indoeuropäi­ schen Sprachen seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. nach Europa und seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. nach Nordindien in Verbindung steht, wird in der Forschung nicht vertreten.4 Die These von Johannes Bronkhorst, dass die Idee der karmischen Vergeltung nicht ursprünglich vedisches Gedankengut ist, wie man lange annahm, macht einen historischen Zusammenhang noch unwahrscheinlicher. Die vielleicht bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückreichende orale Tradition der Hym­ nen im sogenannten vedischen Sanskrit hätten möglicherweise einen Anhaltspunkt gegeben. Bronkhorst geht in seiner Forschung jedoch davon aus, dass die Vergeltungsidee und die Seelenwanderungslehre, die wir erst durch die im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung einsetzende buddhistische und jainistische Überlieferung kennen, einer eigenständigen oralen Kultur angehörten, die er im Gangesbecken östlich des Zusammenflusses mit dem Junma verortet und »Größer Magadha« nennt.5 Die in der Region Magadha gesprochene Sprache, die auch diejenige Buddhas gewesen sein dürfte, war zwar ebenfalls indoeuropä­ isch, also dem vedischen Sanskrit verwandt. Aufgrund der Lage im östlichen Gangesbecken wird aber angenommen, dass ihre Sprecher einer Einwanderungswelle noch vor den vedischen Ariern angehörten.6 Dass es in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends vor Christus durch Kontakte mit zentralasiatischen Nomaden und Reitervölkern zu einem Transfer religiöser Ideen in das östliche Gangesbecken gekommen ist, lässt sich nicht vollkommen ausschließen. Es wird sogar darauf hingewiesen, dass die Namen der hierfür in Frage kommenden Stämme der Saka bzw. Skythen verwandt sind mit dem Namen des Geschlechts der Śākya, dem der Buddha entstammte.7 Da das Gebiet der Skythen im Westen an Thrakien heranreichte, das in der Antike als Ursprungsland 3 J. Bronkhorst, Karma (2011), 1–5. 4 J. Krause mit T. Trappe, Die Reise unserer Gene (2019), Kap. 6. V. M. Narasimhan et al. »The formation of human populations in South and Central Asia« (2019). J. Bronkhorst, »Does Buddhism have Central Eurasian roots?« (2010). 5 J. Bronkhorst, Greater Magadha (2007), 1–9. 6 A. Parpola, »Pre-Proto-Iranians of Afghanistan as initiators of Śākta Tan­ trism« (2002), 25. 7 C. I. Beckwith, Empires of the Silk Road (2009), Kap. 1 und 2. A. Parpola, The Roots of Hinduism (2015), 152 und Kap. 7. Eine kritische Auseinandersetzung bietet J. Attwood, »Possible Iranian Origins for the Śākyas and Aspects of Buddhism« (2013).

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der Orphik galt, könnte man zwar einen Zusammenhang vermuten. Ohne archäologische Anhaltspunkte bleibt das aber Spekulation. Die Lektüre der materialreichen Studie von Hans Kelsen verdeut­ licht außerdem, dass sich das Prinzip der Vergeltung in vielfältigen religiösen Einkleidungen in den unterschiedlichsten Kulturen identifizie­ ren lässt. Nicht nur in Gestalt eines jenseitigen Seelengerichts hatte es im alten Ägypten spätestens im Neuen Reich (ab ca. 1500 v. Chr.) konkrete Gestalt angenommen. Jan Assmann nennt die Idee der Vergeltung sogar den »Kern der altorientalischen Weisheit«.8 Schon im Jahr 1916 hat Inoue Enryō darauf hingewiesen, dass das Vergeltungsprinzip auch dem vorbuddhistischen China nicht fremd war. Im Buch der Urkunden heißt es, »Der Weg des Himmels bringt Glück den Guten und Übel den Lasterhaften.«9 Ferner zeigte Gananath Obeyesekere in seinem Buch Imagining Karma (2002), dass die Vorstellung der Wiedergeburt auch in westafri­ kanischen und nordamerikanischen Völkern anzutreffen ist, ohne aller­ dings mit der Vergeltungsidee assoziiert zu sein. Obeyesekere ist deshalb zu Recht der Auffassung, dass die Frage eines frühen Kulturkontakts zwischen Griechenland und Indien in diesem Punkt obsolet ist.10 Es ist ausreichend vorstellbar, dass die hier in Frage kommende Verbindung von Vergeltung und Wiedergeburt sich in verschiedenen Weltgegenden unabhängig voneinander entwickelt hat. Trotz dieses Befundes weist noch ein anderes von Kelsen hervorge­ hobenes Merkmal der griechischen Seelenwanderungslehre eine bemer­ kenswerte Parallele mit altindischen Vorstellungen auf. Die Idee einer je nach moralischem Wert der Handlung belohnende oder bestrafende Vergeltung ist nämlich nur scheinbar symmetrisch: [I]n der Seelewanderungslehre der Orphiker und Pythagoreer ist das Strafmoment überbetont. Schon darum, weil hier das ganze irdische Leben als Strafe gedeutet wird. [...] [D]ie Seele bleibt ja nicht in der Unterwelt, sie muss wiedergeboren werden, um wieder Strafe zu leiden. Ihr eigentlicher Lohn besteht in der Ausscheidung aus der Kette der Geburten. (476)

8 J. Assmann, Ma'at [1990] (2006), Kap. 5. Ders. Das kulturelle Gedächtnis [1992] (2013), 232. 9 Buch der Urkunden (Shūjīng), Kap. 12: »Die Urkunden der Shāng [Dynastie]: Die Ansprache des [Königs] Tāng« (Shāngshū: Tāng gào). Inoue E., Meishin to shūkyō [Religion und Aberglauben] [1916], Werke, Bd. 20, 265f. 10 G. Obeyesekere, Imagining Karma (2002), Kap. 2.

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Da Kelsen dasselbe Ungleichgewicht auch in anderen kulturellen Forma­ tionen entdeckt, diskutiert er in einem Exkurs »Das Überwiegen des Strafmoments in der Vergeltungsidee« (474–478): Was bedeutet aber dieses offenkundige Übergewicht der strafenden gegenüber der belohnenden Vergeltung in dem Bilde der göttlichen Gerechtigkeit? Der Idee nach stehen beide einander durchaus gleichwertig gegenüber, ist die eine ohne die andere gar nicht möglich, die eine nur die Konsequenz, nur die Kehrseite der anderen. [...] [W]arum [ist] dann nur Strafe für Sünde, nicht Lohn für Tugend, ein schlechthin unverzichtbares Postulat der Religion? (476)

Die Antwort des Rechtsphilosophen Kelsen auf diese Frage formuliert ein wesentliches Beweisziel seines Buches: Da die Vergeltungsidee ein Gerechtigkeitsprinzip ist, kann sie »nur als geistiger Überbau über einer sozialen Wirklichkeit verstanden werden«. Die transzendente »Gerech­ tigkeit verklärt das positive Recht«. Das Recht aber ist »ursprünglich Strafrecht«. Es ist darauf »beschränkt, die Bürger negativ gegen Übel zu schützen, indem es dem rechtswidrig Handelnden Leben, Freiheit, Vermögen zwangsweise entzieht«. (477)

Kants Lehre vom inneren Gericht Wie eingangs erwähnt, wird auch Kant in seiner Moralphilosophie dem Prinzip der Vergeltung gerecht. Kant war aber in der Lage, das Problem im Rahmen seiner Philosophie einer Lösung zuzuführen, die über Kelsens Einsichten hinausgeht. In Übereinstimmung mit Kelsens These, dass das Recht ursprünglich Strafrecht sei, gibt es auch in dem von Kant gedachten liberalen Verfassungsstaat keine Zwecke, deren Beförderung eine juridische Belohnung verdient. Die staatliche Gesetzgebung, so heißt es in der Rechtslehre (1797), schränkt nur die erlaubten Handlungen derart ein, dass »die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit [...] zusammen bestehen kann« (6:230). Diesen Gesetzen Folge zu leisten ist Schuldigkeit, Verstoß gegen dieselben ist Verschuldung. Der »rechtliche Effect einer Verschuldung ist die Strafe (poena)« (6:227). Gebote, deren Befolgung verdienstlich wären, haben in der kantischen Rechtslehre also keinen Platz. Der Standpunkt einer Moralphilosophie, welche die Freiheit glei­ chermaßen als anthropologische Gegebenheit wie als Prinzip der Ethik begreift, macht verständlich, warum sich insbesondere Verbote als moral­

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ischer Minimalkonsens im Kulturvergleich herauskristallisieren. Dass Gewalt, Mord, Diebstahl und Lüge zu unterlassen sind, darüber herrscht relative Einigkeit. Dagegen ist es ungleich schwieriger, mit der gleichen Allgemeingültigkeit anzugeben, welche Handlungen geboten sind. Wel­ chen Gebrauch sollen wir von unserer Freiheit machen, der über die Sicherung unserer eigenen und die Freiheit der anderen hinausgeht? Mit derselben Deutlichkeit also, mit dem das Verbotene gegenüber dem Gebotenen in der Ethik hervortritt, überwiegt auch das Strafmoment gegenüber der Belohnung in der Vergeltungsidee. Solange das Individuum die Rechte seiner Mitmenschen wahrt, ist es prima facie frei, sein Glück suchen. Es ist deshalb plausibel, in der Sicherstellung der wechselseitigen Freiheitsgewährung durch das Strafrecht ein Kerngebiet des Rechts überhaupt anzunehmen. Die Asymmetrie der Verbote von uneingeschränkter Verbindlichkeit und der Gebote von relativer Verbindlichkeit charakterisiert aber nicht nur das Recht, sondern die Moral insgesamt.11 Kant entdeckt sie deshalb auch in der moralischen Psychologie des Menschen. Wenn Kant das Gewissen in seiner Tugendlehre (1797) als »inneren Gerichtshof« und den Menschen als »angeborenen Richter über sich selbst« versteht, handelt es sich begriffsgeschichtlich zweifellos um eine Metapher. Evolutionär und sys­ tematisch geht aber die Moral ihrer Verrechtlichung voraus. Es ist deshalb verständlich, warum sich die benannte Asymmetrie auch im Selbstver­ hältnis des Menschen emotional asymmetrisch äußert. Während sich Schuldgefühle bzw. Gewissensnöte vermutlich im Kulturvergleich als universelles Phänomen aufweisen lassen,12 ist das »subjektive Prinzip« einer »ethischen Belohnung«, d.i. eine »moralische Lust«, eine weniger greifbare Emotion. Der Analogie mit dem Gericht folgend lehnte Kant die Existenz eines solchen Gefühls denn auch ab und betonte, dass der »Spruch des Gewissens« nie eine Belohnung (praemium) [...], sondern nur ein Frohsein, der Gefahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein, enthalte und daher die Seligkeit in dem trostreichen Zuspruch seines Gewissens nicht positiv (als Freude), sondern nur negativ (Beruhigung nach vorherge­ gangener Bangigkeit) ist. (6:440)

11 Hierzu mein eigener Beitrag zu Kant in diesem Band. 12 H. Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit (1992), 271–273. J. Assmann und T. Sundermeier (Hrsg.), Schuld, Gewissen und Person (1997). Zum Phänomen des Gewissens im Buddhismus siehe unten.

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Kant leugnete aber die Existenz eines Glücksgefühls, von dem »man rühmt, dass die Tugend [...] ihr eigener Lohn sei«, nicht gänzlich (6:391). Die Zusammenschau der Passagen in Religions- und Tugendlehre, in denen Kant die moralische Seligkeit diskutiert, lässt dennoch Kants Unbehagen erkennen, die Existenz eines subjektiven Tugendlohns einzu­ räumen.13 Als positive Freude liefe die emotionale Belohnung der Tugend immer Gefahr, als Motivation bzw. Anreiz für das Gute missverstanden zu verwenden. Dies widerspräche jedoch der gesamten Anlage der kantischen Ethik, in welcher sich der Mensch nicht um einer Belohnung willen, sondern allein aus Pflicht, d.h. uneigennützig, für das Gute entscheiden soll. Es überwiegen deshalb die Stellen, an denen Kant dem »Tugendstolz« die »Demut« entgegenhält (6:435); und zwar nicht nur, weil Heiligkeit dem Menschen versagt ist, sondern auch angesichts der Unmöglichkeit, den Reinheitsgrad des eigenen Willens ganz einzusehen. Die höchste dem Menschen mögliche Selbstschätzung ist deshalb eine Form der Zufriedenheit mit sich selbst, die nur als die relative Abwesen­ heit von Selbstvorwürfen fühlbar wird.14 Die Glückseligkeit ist jedoch nicht nur psychologisch kein Effekt der Moralität, sondern sie geht auch empirisch nicht notwendig mit dem Guten einher. Schuldloses Leid ist, wie Kant anhand des Buches Hiob verdeutlicht, unabweisbarer Teil der Realität.15 Da wir also einerseits unser Glück weder psychisch noch empirisch sicherstellen, andererseits aber die Intuition, dass die Tugend das Glück verdient, nicht abweisen können, bleibt nur der Versuch, uns durch einen moralischen Lebens­ wandel des Glücks wenigstens würdig zu erweisen. Dieser Versuch lässt in uns mit Blick auf eine unendliche Annäherung an das Ideal die Hoffnung entstehen, dass uns die Austeilung einer angemessenen Seligkeit wenigstens nach dem Tod beschieden sein wird.16 Kant legte jedoch bezeichnenderweise Wert darauf, dass die ver­ geltende Gerechtigkeit nicht »personifiziert«, also einem transzenden­ ten Subjekt nach »überschwänglichen Prinzipien« angedacht werde. Da es die Ethik nur mit den »wechselseitigen Menschenpflichten« zu tun hat und von einer Schuld gegen Gott nichts weiß, postuliert sie 13 I. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793], AA 6:45 (Anm. 2), 66–78. Ders. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre [1797], AA 6:376–378. 14 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft [1788], AA 5:88. 15 I. Kant, »Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee« [1791], AA 8:255–271. 16 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft [1788], AA 5:128–130.

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keine Strafgerechtigkeit im Jenseits.17 Als Konsequenz der menschlichen Moral kommt das Jenseits nur subjektiv in den Blick, insofern dem ernsthaft und kontinuierlich nach dem Guten strebenden Individuum aus dem Bewusstsein, sich des Glücks wenigstens im Fluchtpunkt der Unendlichkeit würdig zu erweisen, die Hoffnung erwächst, dass ihm ein »proportioniertes Wohl« nach dem Tod beschieden sein wird. Angst vor Bestrafung im Jenseits ist dagegen gerade der Ausweis, dass der Pflicht nicht um ihrer selbst willen, sondern nur mit Blick auf das eigene Wohlbefinden nachgekommen wird. Das Postulat einer Hölle hat deshalb in Kants Philosophie keinen Platz. Um die kantische Lösung des Vergeltungsprinzips schematisch nachzuzeichnen, kann man zusammenfassen, dass der strafenden Vergel­ tung ausschließlich im staatlichen Recht und im moralischen Gefühl, der belohnenden Vergeltung aber ausschließlich im Jenseits Rechnung getragen wird. Die beiden Formen der Vergeltung sind gewissermaßen punktsymmetrisch bezüglich des Todes des Individuums gelagert. Eine kausale Vorstellung der Vergeltung im Sinne eines der Welt oder dem menschlichen Zusammenleben immanenten Mechanismus ist der kanti­ schen Philosophie fremd.

Karma und Schuld Im Buddhismus verhalten sich die Dinge anders. Mit Kelsen und Kant lässt sich sagen, dass die Vorstellung der Vergeltung als das dem Kreislauf der Wiedergeburten immanente Prinzip die Projektion der Strafgerech­ tigkeit in eine den menschlichen Erfahrungsbereich übersteigende Rea­ lität ist. Diese Weltsicht beseitigt in den präzisen Worten Hans Kelsen zwei Skandale: »das schuldlose Leid und die Straflosigkeit des Bösen«. Die unbefriedigende irdische Existenz wird als Resultat vergangener Handlungen (skt. karma) interpretiert. Diesseitiges Leid wird als Frucht (skt. phala, vipāka) vergangener Verfehlungen gerechtfertigt. Wer weiter Unrecht tut, bleibt Teil des unerfreulichen Kreislaufs. Erlösung dagegen tritt erst mit dem vollständigen Verlöschen aller Handlungskonsequen­ zen ein. Dieses religiöse Weltbild, mit dem sich Buddha konfrontiert sah, legte den Schluss nahe, dass bis zum Ausbrennen des eigenen Karmas die Duldsamkeit des Leids sowie die Enthaltsamkeit von weiteren Taten 17 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre [1797], AA 6:489–491.

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der Weg zur endgültigen Erlösung ist. Dieser Logik folgend warteten sich die Asketen regungslos zu Tode. Es mag ein Zerrbild sein, das hier von den Anhängern Mahāvīras, dem Gründer des Jainismus, gezeichnet wird, aber genau hiergegen wandte sich Buddha. Buddhas Lehre reagiert auf dieses Problem in erster Linie durch Verinnerlichung.18 In seiner Lehre steht fest, dass Schuld ihren Ursprung in der Gesinnung des Menschen hat. Dies kommt in den berühmten Eingangsversen des Dhammapada klar zum Ausdruck: Wer mit unreinem Geist redet oder handelt, dem folgt das Leid wie das Wagenrad dem Fuß des Ochsen. [...] Wer mit reinem Geist redet oder handelt, dem folgt die Freude fortwährend wie sein Schatten. (Dhp 1–2)

Dass für die ethische Qualität des Verhaltens die Motivation maßgeblich ist, lässt sich am leichtesten am Fall der Lüge verdeutlichen: Eine unwissentlich falsche Behauptung unterscheidet sich in nichts von einer Lüge als allein durch die ihr zugrunde liegende Intention. In den Ordens­ regeln des Buddhismus wird dem Unterschied zwischen Absicht und Versehen nicht nur im Falle der Falschaussage, sondern hinsichtlich aller Verfehlungen Rechnung getragen.19 Der viel zitierten Gleichsetzung von kamma und cetanā, d.h. von Handlung und Motivation bzw. Tat und Intention kommt deshalb hohe systematische Bedeutung zu.20 Das Wollen ist das mentale Ereignis, in dem die Moralität anhebt. Die Psychologisierung der Verschuldung führte zu dem bereits im vorherigen Kapitel hervorgehobenen grandiosen Auftritt der morali­ schen Psychologie im Buddhismus.21 Insbesondere die Grundformen des Bösen werden detailliert auf ihre seelischen Antriebe zurückgeführt. Die Asymmetrie des Pflichtbegriffs, nämlich die vornehmliche Forderung, sich Raub, Mord und Vergewaltigung zu enthalten, veranlasste die Bud­ dhisten zu dem primären Ziel, die Seele von Gier, Hass und Wollust zu 18 J. Bronkhorst, Karma (2011), 21. 19 Ṭhānissaro, The Buddhist Monastic Code (2013), Bd. 1, 30–31. Zur Lüge Bd. 1, 296–299. Dass eine erfolgte Handlung ohne Berücksichtigung der Absicht nicht voll zurechenbar ist, fasst Kelsen in der Unterscheidung von Erfolgs- und Schuldhaftung. Diese Einsicht sieht er im griechischen Denken erstmals in Sophokles' Oedipus klar erkannt. H. Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1982), 201f. 20 J. P. McDermott, Development in the Early Buddhist Concept of Kamma/Karma (1984), 26–29. M. Heim, The Forerunner of All Things (2014), 132–136. R. Gombrich, What the Buddha Thought (2009), 123. 21 C. A. F. Rhys Davids, A Buddhist Manual of Psychological Ethics Being a Translation of the Dhamma-Sangaṇi (1900). Hierzu M. Heim, »Recent Comparative Work in Buddhist Ethics« (2007).

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reinigen. Sicherlich ist es nicht falsch, in dem Streben, den Geist von negativen Regungen frei zu halten, das psychische Korrelat der monas­ tischen Lebensform zu sehen. Materielle und sexuelle Enthaltsamkeit sind der Kultur einer von Lastern freien Gesinnung zweifellos zuträglich. Das vorrangige Ziel der Abwesenheit seelischer Grundübel entspricht aber auch den in Unterlassungspflichten bestehenden Hauptsätzen der menschlichen Moral. Die Konzentration auf die Überwindung der Laster ist also nicht einfach eine Moral der Entsagung, sondern hat seinen Grund in der Verinnerlichung der Asymmetrie der absoluten Pflicht, sich des Bösen zu enthalten, und der situationsabhängigen Pflicht, das Gute zu fördern. Anthropologisch kann noch ein weiteres Argument zugunsten des buddhistischen Ansatzes angeführt werden: Lasterhaftes Verhalten lässt sich durch Selbstbeherrschung im Zaum halten. Und dem Buddhis­ mus fehlt es sicher nicht an der Betonung der Willenskraft (viriya). Aber Freundlichkeit, Milde und Anteilnahme entwickeln sich nicht auf Kommando. Hingegen haben wir Grund zu dem Optimismus, dass einem harmonischen, weder durch Hass noch durch Begierde verzerrten Herzen die menschliche Schönheit von selbst erwächst. Die Gelassenheit führt ein sanftes Lächeln in den Mundwinkeln; ein leider oft überzeichnetes Detail, das aber zum Grundbestand der Ikonographie des Buddha gehört. Nur eine naive Romantik der Lebensunmittelbarkeit, die zwischen guten und schlechten Emotionen zu unterscheiden vergisst, kann im Buddhismus eine Kultur der Gefühllosigkeit entdecken. Es geht nicht um saure Sündenvermeidung, sondern darum den Geist zu entgiften, um der Entwicklung von Anteilnahme, Barmherzigkeit und Lebensfreude Luft zum Atmen zu geben. Oder in Kants Worten: »Das fröhliche Herz allein ist fähig, Wohlgefallen am Guten zu empfinden. Eine Religion, die den Menschen finster macht, ist falsch«.22 Richtig ist aber auch, dass die Konzentration auf die Schuldvermei­ dung in der durch Buddha modifizierten Reinkarnationslehre angelegt war. Schließlich galt es die Ursachen der als leidvoll erlebten Existenz zu vermeiden. Das unbestreitbar letzte Ziel der Lehre Buddhas ist ja die Überwindung des menschlichen Leids. Das primäre Ziel der Vermei­ dung schlechten Karmas bzw. moralischer Schuld blieb deshalb von diesen Überlegungen unberührt. Dennoch hat die geistige Durchdrin­ gung der Frage, worin überhaupt die in der Reinkarnationslehre nur vorausgesetzte, aber nicht explizierte Schuld besteht, in den buddhisti­ 22 I. Kant, Über Pädagogik [1803], AA 9:485.

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schen Schriften in einer Ethik Ausdruck gefunden, die das Belohnung verdienende Gute und das Strafe verdienende Böse parallelisiert. Auf die hieraus resultierende Spannung zwischen einer soteriologischen und einer ethischen Interpretation der Karmalehre werde ich unten zurückgekommen.23 Festzustellen ist zunächst, dass der Buddhismus neben einer negativen Ethik der Schuldvermeidung durchaus über eine positive Ethik verfügt. Die in Liebenswürdigkeit (metta) und Barmher­ zigkeit (karuṇā) gründende schenkende Tugend (dāna) ist in Form der Hilfsbereitschaft, Freigiebigkeit und Fürsorge ein unbestreitbares Kennzeichen der buddhistischen Ökumene. Wir mögen zwar nicht zu jedem Zeitpunkt zu allen guten Handlungen verpflichtet sein, dennoch geht es auch in der buddhistischen Ethik nicht nur darum, negativ das Böse zu vermeiden, sondern auch positiv das Gute zu tun (Dhp 116–118). Der Buddhismus setzt zwar in der Kultur der Gesinnung beim Laster an, allerdings nicht, weil darüber hinaus nichts gefordert wäre, sondern im Gegenteil, weil sich nur in einem guten Herzen wahres Mitgefühl und die Bereitschaft zu konkreter Wohltätigkeit ausbilden.

Buddhas Vergeltungslehre Für die Einsicht, dass es der gute Wille ist, der zählt, musste die Welt also nicht auf Augustinus oder Kant warten. Und obwohl auch die buddhistische Ethik weiß, dass gute Handlungen ohne Rücksicht auf Belohnung reiner (d.h. moralisch höherstehend) sind als solche, für die das nicht gilt,24 bleibt doch das Prinzip, dass Vergehen durch Leid und Wohltat durch Glück vergolten wird, in voller Geltung. Man kann das Postulat der karmischen Vergeltung das eigentliche Dogma des Buddhismus nennen. Dass die Karmalehre eine die Ethik stabilisierende Funktion erfüllt bzw. ein Anreizsystem für moralisches Handeln darstellt, ist offenkundig. Wie aber macht der Buddhismus sein kontrafaktisches Dogma plausibel? Und wie entgeht er den bekannten Gefahren, die diese Vorstellung auch in sich birgt? Die grundlegende Einsicht, dass ein und dieselbe Handlung oder ein und derselbe Sprechakt je nach Intention eine grundverschiedene 23 In großer Klarheit herausgearbeitet von M. Heim, The Forerunner of All Things (2014), 59–65. Meine Diskussion verdankt diesem Buch mehr, als die wenigen Fußnoten zu erkennen geben. 24 P. Harvey, An Introduction to Buddhist Ethics (2000), 19–21.

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moralische Qualität annimmt, bedeutet, dass die gesetzmäßige Folge von böser Absicht und leidvoller Erfahrung (d.i. Strafe) sowie guter Absicht und freudvoller Erfahrung (d.i. Belohnung) kein ausschließlich empirisch-kausaler Zusammenhang sein kann. Handlungen mit guter Absicht können Scheitern. Böse Absichten können Erfolg haben. Die Kongruenz von karmischer Vergeltung und Naturkausalität ist damit im Ansatz bereits eingerissen. Oder anders gesagt: Es ist zwar möglich, aber keineswegs sichergestellt, dass sich karmische Vergeltung als kausaler Zusammenhang nachvollziehen lässt. Nicht alle Lügen haben so kurze Beine, wie das Sprichwort uns glauben machen will. Von jeder Handlung gehen also zwei kausale Linien ab: eine natürliche Kausalkette, die, sofern die Handlung erfolgreich ist, den Zweck der Handlung herbeiführt. Und eine unsichtbare Kette karmischer Verursachung, die eine Erfahrung des Handelnden entsprechend der moralischen Qualität seiner Intention bewirkt. Die zwei Kausalketten können, aber müssen nicht deckungs­ gleich sein. Eine wohlbekannte Schwierigkeit der karmischen Gesetzmäßig­ keit ist der problematische logische sowie zeitliche Umkehrschluss. Rückblickend (ex post) behauptet dieser, dass alles Leid Bestrafung und alles Glück Belohnung für vergangene Taten ist. Man kann diese Interpretation karmischen Determinismus nennen, der ja in seiner Funk­ tion als Rechtfertigung irdischen Leids (im Sinne einer Theodizee) tatsächlich vorausgesetzt werden muss. Gegen diese Auffassung bezieht der Buddha in den Lehrreden des Pāli-Kanon ausdrücklich Stellung. Zunächst durch die Berufung auf den empirischen Menschenverstand, der davon weiß, dass Leid, insbesondere körperliches, seine Ursache in Krankheit, Klima, Unachtsamkeit oder äußerlicher Gewaltanwendung haben kann.25 Wenn aber rückblickend nicht einwandfrei festgestellt werden kann, ob Unglück das Resultat von Verschuldung (in diesem oder früheren Leben) ist, weil Unglück auch natürliche Ursachen haben kann, dann ist auch die Legitimation sozialer Ungleichheit bzw. die Dis­ kriminierung wie im späteren Kastensystem unter Verweis auf karmische Gerechtigkeit unmöglich gemacht. Arme und Benachteiligte leiden nicht notwendig aufgrund ihres schlechten Karmas. Ein anderes Argument, das sich in den Predigten findet, richtet sich sowohl gegen den karmischen Determinismus als auch gegen sein Gegenteil: die Kontingenz. Das Argument besagt, dass beide Standpunkte Untätigkeit bzw. Passivität bewirken. Wenn alles Freud 25 Sīvaka-sutta (Belehrung des Sīvaka), SN 36.21.

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und Leid vorherbestimmt ist entweder aufgrund vergangener Taten oder durch einen allmächtigen Gott, fehlte den Menschen der Antrieb, ihre Situation zu verbessern. Dasselbe pragmatische Argument wird auch gegen die Kontingenz gewendet: Sollten die Ursachen unserer Empfindungen, da kontingent, vollständig unergründlich sein, gäbe es keinerlei Anhaltspunkte, wie die Befreiung vom Leid zu bewerkstelligen ist. Die Annahme absoluter Kontingenz resultiert deshalb ebenfalls in Ohnmacht bzw. Untätigkeit.26 Aus den beiden obigen Argumenten gegen den karmischen Deter­ minismus ergibt sich, dass Freud und Leid zwar Ursachen haben, diese Ursachen aber nicht notwendig gute bzw. schlechte Handlungen sind. Das unbedingt gültige Prinzip, dass gutgemeinte Handlungen Heil, übelwollende Handlungen Unheil verursachen, wird aber noch durch eine weitere wichtige Annahme spezifiziert: Diese Annahme besagt, dass die kausalen Zusammenhänge der moralischen Vergeltung nicht in allen Fällen erkennbar sind.27 Hieraus ergibt sich die entscheidende Frage, in welchen Fällen oder auf welchen Ebenen karmische Vergeltung als Erkenntnisprinzip fungiert und in welchen Fällen oder auf welchen Ebenen es lediglich ein die Moralität stützender Glaubenssatz ist. Buddha lehnte den Glauben an Reinkarnation zweifellos nicht ab. Einige Lehrreden des Pāli-Kanons lassen sich jedoch so lesen, dass Buddha Aussagen über Wiedergeburt kategorisch von Aussagen seiner eigentlichen Lehre getrennt wissen wollte. Im zweiten Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, dass Buddha sich weigerte, hinsichtlich der Fragen Stellung zu beziehen, ob es eine vom Körper abtrennbare Seele gibt und ob der Erwachte nach dem Tod weiter existiert. Einer anderen Predigt mit dem Titel »Große Analyse des Karma« (Mahākam­ mavibhaṅgasutta, MN 136) kann als Versuch interpretiert werden, eine gegenüber transzendenten Dingen pragmatisch ausgewogene Haltung einzunehmen. Die Predigt lässt sich wie folgt zusammenfassen: A. Sollte irgendein Asket in Anspruch nehmen, Wissen darüber erlangt zu haben, (1) dass ein guter Mensch vorteilhaft wiedergeboren oder ein böser Mensch nachteilhaft wiedergeboren wurde, dann sei dem Asketen dies zugestanden. Wenn derselbe weiterhin behauptet, (2) dass deshalb Vergel­ tung stattfindet, dann sei ihm das ebenfalls zugestanden. Wenn derselbe Asket allerdings weiterhin behauptet, (3) dass es sich mit Reinkarnation 26 Titthāyatana-sutta (Predigt über [falsche] Dogmen), AN 3.61. Vgl. P. Har­ vey, »Karma« in The Oxford Handbook of Buddhist Ethics (2018): 7–28. 27 Acinteyya-sutta (Predigt über Unbegreifliches), AN 4.77.

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immer so verhalte und (4) dass dies die alleinige Wahrheit sei, dann wird der Buddha ihm widersprechen. B. Sollte irgendein Asket in Anspruch nehmen, Wissen darüber erlangt zu haben, (1) dass ein böser Mensch vorteilhaft wiedergeboren oder ein guter Mensch nachteilhaft wiedergeboren wurde, dann sei dem Asketen dies zugestanden. Wenn derselbe allerdings weiterhin behauptet, (2) dass demnach keine Vergeltung stattfindet, (3) dass es sich mit Reinkarnation immer so verhalte und (4) dass dies die alleinige Wahrheit sei, dann wird der Buddha ihm widersprechen.

Demnach lehnte Buddha den Glauben an Wiedergeburt nicht nur nicht ab, er sah auch keinen Grund, den Geistersehern ihre Einsichten zu bestreiten. Insbesondere nicht, wenn sie das Prinzip der karmischen Vergeltung bestätigten. Generalisierende Behauptungen hinsichtlich des menschlichen Schicksals nach dem Tod wies er jedoch zurück. Dass Buddha zwischen Wissen und Glauben differenzierte und Wert darauf legte, dass seine Lehre unabhängig von Glaubenssätzen Geltung beanspruchen kann, lässt sich auch durch eine andere Stelle belegen.28 Dort empfiehlt Buddha eine moralische Lebensform, weil ein von Laster und Bosheit befreiter Geist ein freudvolles Leben ermöglicht. Für eine moralische Lebensführung gäbe es deshalb zwei Argumente: Im Fall der Existenz eines Jenseits wird es durch Wiedergeburt in einer himmlischen Welt belohnt. Existiert aber kein Jenseits, ist man wenigstens im Diesseits durch ein glückliches Leben gesegnet. Entfernt erinnert dieses Argument an die so genannte Pascalsche Wette. Blaise Pascal empfahl, sich für den Glauben an Gott zu entscheiden, da man nichts zu verlieren, die Seligkeit aber zu gewinnen habe.29 Diese Lektüre ausgewählter Passagen der Lehrreden soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Idee der Vergeltung nach dem Tod in den Sutren des Pāli-Kanons nahezu allgegenwärtig ist. Kaum eine Aufzählung der Nachteile des Lasters, die nicht in der Warnung vor schier unendlichen Höllenqualen gipfelt. Das Leben nach dem Tod ist aber nicht die einzige Ebene, hinsicht­ lich der die Richtigkeit des Prinzips der Vergeltung behauptet wird. Auch im sozialen Bereich wird es unentwegt veranschlagt. Der moralischen Person wird etwa in Aussicht gestellt, vermögend zu werden und einen guten Ruf zu genießen; der unmoralischen das Gegenteil.30 Spätestens 28 Kesamutti-sutta (Predigt zu Kesaputta), AN 3.65. 29 B. Pascal, Pensées [1670], Frag. 397. Übers. von K. A. Blech (1840), Teil II, Kap. 3, § 5. 30 Sīla-sutta (Predigt der Gebote), AN 5.213.

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hier ist der Gegensatz zu Kant unüberbrückbar. Sittliches Verhalten durch Inaussichtstellung ökonomischer Vorteile zu empfehlen, kann es in einer Ethik, die alles auf den Reinheitsgrad des guten Willens abstellt, nicht geben. Aber nicht nur hinsichtlich der Motivation ist eine derartiger sozialer Vergeltungsmechanismus fragwürdig, auch sein Realitätsgrad ist zweifelhaft. Sich nichts zuschulden kommen zu lassen, ist den Geschäften sicher nicht abträglich. Ob sie deshalb aber gelingen, steht auf einem anderen Blatt. Noch viel weniger lässt sich ein kausa­ ler Zusammenhang zwischen superrogatorischen (d.i. verdienstlichen) Handlungen und ökonomischem Erfolg plausibel machen. Da aber zum einen die karmischen Wirkmechanismen nicht immer erkennbar sind und zum anderen die Früchte der Handlungen zu verschiedenen Zeiten reifen, sind Gegenbeispiele keine Gefahr für die Geltung des Dogmas. Sollte dagegen doch einmal ein Wohltäter schon Wohltäter gewesen sein, bevor er reich wurde, kann sein Reichtum problemlos als das karmische Resultat seiner Wohltaten interpretiert werden. Was hinsichtlich der Visionen der Geisterseher als pragmatischer Umgang mit der religiösen Wahrheit erschien, nimmt hinsichtlich der sozialen Wirklichkeit den Charakter der Willkürlichkeit an. Man mag zwar hoffen, dass Schenkenden ihr Schenken durch Geschenke vergolten wird,31 versprechen kann man es nicht. Wie steht es aber im Gegensatz zu sozialer Interaktion und Transaktion mit den kommunikativen Zusammenhängen der Menschen? Lässt sich hier vielleicht ein der menschlichen Gesellschaft immanenter Mechanismus behaupten, der die Tugend belohnt und das Laster bestraft? Sprich nie etwas Grobes. Die Angesprochenen könnten darauf antworten. Zornige Rede ist wahrlich unheilvoll, [denn] sie könnte vergolten werden. (Dhp 133)

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, heißt das deutsche Sprichwort. Wenn also Garstigkeit mit Garstigkeit quittiert wird, können wir dann hoffen, dass Freundlichkeit stets Freundlichkeit entgegenge­ bracht wird? Glaubt man den Lehrreden des Pāli-Kanons, dann ist das der Fall. Man wird sogar sagen, dass die Gemeinschaft der Nonnen und Mönche auf dem Zutrauen beruht, dass Wohlverhalten gegeneinander Freundschaft und Harmonie entstehen lässt.32 Dass »die Liebe, die man gibt, am Ende gleich der Liebe ist, die man empfängt«, wie die 31 Manāpadāyī-sutta (Predigt über Spender des Angenehmen), AN 5.44. 32 Dutiyasāraṇīya-sutta (Zweite Predigt über Herzlichkeit) AN 6.12.

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Beatles 1969 nach ihrem Indien-Aufenthalt sangen, wird man zwar nicht mit mathematischer Exaktheit behaupten können.33 Aber selbst wenn es keinen Automatismus gibt, der sicherstellt, dass Liebenswürdigkeit stets Zuneigung erfährt, kann man gegen Kant doch festhalten, dass es keine die Moral zersetzende Wirkung hat, wenn man aufgrund eines opti­ mistischen Menschenbildes daran erinnert, dass Freundlichkeit beliebt macht; selbst dann, wenn man wie Sokrates nicht durch ein schönes Antlitz bestechen kann. Angesichts der Tatsache, dass karmische Vergeltung nicht nur als kosmische Gesetzmäßigkeit behauptet wird, sondern (wenigstens eingeschränkt) auch im zwischenmenschlichen Bereich beobachtbar ist, stellt sich die Frage, ob es menschliche Pflicht ist, dem Prinzip der Vergeltung zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Einsicht, dass die Strafe im Jenseits ein Analogon juridischer Strafen im Diesseits ist, kommt auch in den Predigten zum Ausdruck. Eine angemessene Strafe, die etwa ein rechtsprechender Fürst einem Verbrecher zukommen ließ, konnte deshalb als karmische Frucht der begangenen Übeltat interpretiert wer­ den.34 Ein individuelles Vergeltungsrecht oder gar Selbstjustiz lehnt die buddhistische Ethik dagegen in aller Deutlichkeit ab. Böses mit Bösem zu vergelten, führt in einen karmischen Teufelskreis. Hass wird niemals befriedet durch Hass. Einzig Nicht-Hass befriedet. Dies ist ein ewiges Gesetz. (Dhp 5) Die Abwesenheit von Zorn soll Zorn bezwingen. Gutes soll Schlechtes bezwingen. Bezwinge den Geiz durch Geben und die Lüge durch Wahrheit. (Dhp 223)

Angesichts solch hochstehender moralischer Grundsätze wird verständ­ lich, warum Richard Gombrich Buddha den »großen Ethisierer der indischen Religion« nennt.35 Diese Würdigung gründet nicht zuletzt auch auf dem noch im 20. Jahrhundert in Gestalt Mahatma Gandhis wirksamen Ideal der Gewaltlosigkeit: Die Schüler des Gotama [Buddha] sind stets wach und achtsam. Ihr Geist widmet sich Tag und Nacht der Gewaltlosigkeit (ahiṁsā). (Dhp 300)

33 The Beatles, »The End« Abbey Road (1969). »And in the end, the love you take, is equal to the love you make.« 34 Vajja-sutta (Predigt über Fehlverhalten), AN 2.1. 35 R. F. Gombrich, »Kindness and Compassion as a Means to Nirvāṇa« (2005). »I feel confident that he was the great ethiciser of Indian religion and hence of a large part of the world, and that he preached an ethic not only of self-restraint but also of love.« (152).

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Obwohl die Vergeltung als strafrechtliches Prinzip der säkularen Recht­ sprechung akzeptiert wurde, wird nicht nur auf individueller Ebene das Talionsprinzip (Gleiches mit Gleichem) überwunden, sondern es lässt sich sogar argumentieren, dass die in der monastischen Gemeinschaft veranschlagten Formen der Sanktion neuzeitliche Vorbehalte gegenüber der vergeltenden Strafgerechtigkeit vorwegnehmen. Die in den Ordens­ regeln vorgesehenen Sanktionen sind keine Strafen im Sinn einer Zufü­ gung proportionierten Leids. Zuerst gilt, dass auf einen Regelverstoß ein Bekenntnis erfolgen soll. Falls das Vergehen materielle Dinge betrifft, kann es Beschlagnahmungen geben. Grobe Verstöße können mit dem Entzug von Privilegien bis hin zur Exkommunikation geahndet werden. Insgesamt dienen alle Maßnahmen ausschließlich der Besserung des Individuums und dem Schutz der Gemeinschaft.36 Man kann fragen, ob hier der Begriff Strafe überhaupt zutreffend ist. Der Buddhismus, der in der karmischen Vergeltung ein kosmi­ sches Gerechtigkeitsprinzip postuliert, verlangt also nicht, dass wir diesem Prinzip folgend das Böse bestrafen. Wie verhält es sich aber mit der belohnenden Vergeltung? Sollen wir uns zu den Vollstreckern des karmischen Ausgleichs machen, indem wir jeder Wohltat durch eine Gegenleistung entsprechen? Zwar finden sich im buddhistischen Kanon hellsichtige Überlegungen zu wechselseitigen Verpflichtungen in asymmetrischen Rollenbeziehungen; als Beispiele hierfür werden das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, Vater und Sohn, Ehefrau und Ehemann, Herr und Diener sowie Haushälter und Mönch angeführt.37 Die auf Ausgleich angelegten sozialen Interaktionen werden jedoch nicht (wenigstens nicht ausdrücklich) normativ im Sinne eines Gebots der positiven Wiedervergeltung, sondern deskriptiv dargelegt.38 36 Ṭhānissaro, The Buddhist Monastic Code (2013), Bd. 1, 29–31. 37 Siṅgālovāda-suttanta (Lehrstück des Rats an Sigālaka) DN 31, Abschnitt 13. Dazu P. Harvey, An Introduction to Buddhist Ethics (2000), 100. 38 In seinem Buch über die altägyptische Ma'at (2006) erhellt Jan Assmann eine Soziallehre des Mittleren Reiches (ca. 2100 bis 1780), welche die Wechselseitigkeit als soziales Bindegewebe normativ affirmiert (60–85). Das Prinzip der Vergeltung gilt nicht nur deskriptiv: »Der Lohn des Handelnden liegt darin, dass für ihn gehandelt wird.« (65) Sondern auch normativ: »Handle für den, der für dich handelt!« (64). Assmann rückt das hierin erkennbare Prinzip der Wechselseitigkeit in die Nähe der Goldenen Regel (178f, 286f ). Hiergegen lässt sich einwenden, dass für die normative Geltung der Goldenen Regel der Unterschied zwischen direkter und indirekter Reziprozität entscheidend ist. Direkte Reziprozität ist die positive Vergeltung, für den zu handeln, der für dich gehandelt hat. Dieses Verhalten wurde unlängst auch bei Ratten nachgewiesen (N. Kettler et al.: »Rats show direct

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Im Kreislauf der Wiedergeburten sowie im natürlichen Lauf der Welt ist das Gesetz des Karma unserer Verfügung entzogen. Im sozialen Kontext, wo wir frei wären, zu seiner Durchsetzung beizutragen, wird es jedoch als handlungsanleitende Regel verworfen. Weder angemessene Strafen noch proportionierte Gegenleistungen sind normative Prinzipien der buddhistischen Ethik.

Das reine Gewissen Ob das Dogma der karmischen Vergeltung in Kosmos, Natur und Gesell­ schaft tatsächlich gilt, ist unserer Kenntnis entzogen. Uneingeschränkt in seiner Wirksamkeit spürbar ist es nur in derjenigen Dimension, die jetzt noch zur Untersuchung ansteht. Diese Dimension ist der mensch­ liche Geist. Dass es sich bei der emotionalen Logik des Gewissens um nichts anderes als dem Prinzip der karmischen Vergeltung handelt, steht aufgrund der Parallelisierung mit der jenseitigen Vergeltung außer Frage: Der Übeltäter grämt sich im Diesseits und grämt sich im Jenseits. Er grämt sich in jedem Fall. Er grämt sich, er leidet eingedenk seiner schlechten Taten. Der Wohltäter ist freudvoll im Diesseits und ist freudvoll im Jenseits. reciprocity when interacting with multiple partners«, 2021). Indirekte Reziprozität bedeutet jedoch die Bereitschaft, bei jeder Erstbegegnung (d.h. ohne vorher selbst einen Vorteil genossen zu haben) in »Vorleistung« zu gehen (M. Bauschke, Die Goldene Regel (2010), 95–103). Ohne zu wissen, ob unser Vertrauen missbraucht oder erwidert wird, fordert die Goldene Regel, einen Vertrauensvorschuss zu leisten, weil wir uns selbst Vertrauen entgegengebracht wünschen. Durch ihre Forderung eines imaginären Rollentausches geht die Golden Regel deshalb über die einfache Logik des Tausches (direkte Reziprozität) einen Schritt hinaus. Hierzu mein eigener Beitrag zu Kant in diesem Band. – Assmann konkretisiert die im Begriff Ma'at konzentrierte altägyptische Gerechtigkeitslehre jedoch weiter, indem er den Impera­ tiv dieser Ethik folgendermaßen formuliert: »Handle stets so, dass du das Netz des Füreinander-Handelns nicht zerreißt oder kürzer: Handle solidarisch. Solidarisch handeln heißt: das Vertrauen rechtfertigen, das die Gesellschaft einem Handelnden entgegenbringt« (77). Assmann nennt das Prinzip dieser Sozialethik treffend »kon­ nektive Gerechtigkeit«. Konnektive Gerechtigkeit wäre demnach das Ergebnis der allseitig befolgten Pflicht, belohnende Vergeltung zu üben. Assmann zeigt ferner, dass dieser Pflicht nicht nur aus persönlicher Dankbarkeit oder individueller Fairness nachgekommen, sondern mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche »Verfugung allen Handelns« (61) auch begründet wurde. Das Füreinander-Handeln ist moralisch geboten, weil die Verallgemeinerung des Zuwiderhandelns die Gesellschaft aus den Fugen geraten ließe.

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Er freut sich in jedem Fall. Er freut sich, er ist heiter eingedenk seiner guten Taten. (Dhp 15–16)

Wie wir oben gesehen haben, bemisst sich die Qualität einer Handlung nicht nach den empirischen Konsequenzen, sondern ist wie in der kantischen Philosophie abhängig von der Intention. Dieser Verlagerung des karmisch wirksamen Geschehens in das Innere des Menschen kor­ respondiert die Interpretation der Früchte des Karmas als emotionaler Wirkung. Nicht nur die Verschuldung wurde also verinnerlicht, sondern auch deren Vergeltung. Die Beobachtung, dass aufgrund der Psycholo­ gisierung von Schuld und Unschuld die karmischen Handlungsfolgen nicht notwendig mit den empirischen Handlungsfolgen deckungsgleich sind, also die karmische Wirkung keineswegs immer in den naturkausa­ len Resultaten erkennbar ist, entfällt hier. Denn der Zusammenhang von Verschuldung und Schuldgefühl in der Psyche ist unmittelbar. Obwohl das Gesetz der karmischen Vergeltung auf allen Ebenen behauptet wird, kommt deshalb dem Gewissen gegenüber dem Glauben an Reinkarna­ tion und den gemischten sozialen Befunden eine hervorgehobene Bedeu­ tung zu. Eine die humanistischen Aspekte des Buddhismus betonende Interpretation wird hierauf das Hauptaugenmerk legen. In den oben zitierten Versen des Dhammapada kommt erneut unmissverständlich die Symmetrie der Vergeltung von Gut und Böse zum Ausdruck. Die psychischen Leiden aufgrund von Verfehlungen sind den meisten Menschen als Gewissensnöte aus eigener Erfahrung bekannt. Dies gilt jedoch nicht in demselben Maß für die emotionale Reaktion auf moralisches Wohlverhalten. Wie wir bereits im Zusammenhang mit der kantischen Gewissenslehre bemerkt haben, sind wir mit dem Gefühl einer moralischen Freude als positives Gegenstück der Gewissensqua­ len weniger vertraut. Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass die Symmetrie eines qualvollen schlechten Gewissens und eines freudvollen guten Gewissens auch im Pāli-Buddhismus nicht systematisch durchge­ halten ist. Buddhagosa (5 Jh.), der Verfasser der kanonischen Kommentar­ werke zum Pāli-Kanon, führt in seiner Summa Der Pfad der Läuterung am Ende des Teils über die moralische Disziplin den Lehrsatz an, dass Ziel und Lohn der Tugend das »Freisein von Reue« (a-vippatisāra) ist.39 Neben der unverneinten Form desselben Begriffs (d.i. vippatisāra) 39 Buddhaghosa, The Path of Purification (Visuddhimagga) (2010), 12 (Teil 1, § 23). Buddhaghosa verweist auf das Kimatthiya-sutta (Predigt über die Frage nach dem Zweck), AN 10.1.

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gibt es mit kukkucca, anutāpa und tapanīya (reumütig, schuldbewusst, etc.) weitere Wörter, welche die moralische Reue bzw. das Empfinden eines schlechten Gewissens ausdrücken.40 Wobei auch im Fall tapaniyā die Negation (d.i. a-tapanīya) den sich aufgrund der Tugend einstellen­ den Gemütszustand bezeichnet.41 Das bedeutet ganz offenbar, dass die Tugend sich primär in der Abwesenheit der Reue zeigt. Dieser Befund lässt sich noch an einer anderen Stelle bestätigen, in der die Vor- und Nachteile der Moral aufgelistet werden. Begonnen wird erneut mit den Nachteilen des Lasters, deren erster die Tatsache ist, dass »man selbst sich selbst beschuldigt« (attāpi attānaṃ upavadati). Als Vorteil der Tugend wird durch die Negation derselben Wendung die Abwesenheit der Selbstanklage bezeichnet.42 Hier lässt sich durchaus eine Nähe zu Kants Bild des »inneren Gerichtshofes« konstatieren. Dass auch der Buddhismus trotz der Symmetrie, welche seine ethi­ sche Karmalehre nahelegt, primär auf ein reines Gewissen abzielt, kann noch durch einen weiteren bemerkenswerten Umstand untermauert werden. Da der Wert einer moralischen Handlung von der Intention abhängt, ist moralische Selbsterkenntnis eine unabdingbare Vorausset­ zung der Ethik. Wer die eigene Gesinnung nicht unvoreingenommen wahrnimmt, kann sich nicht zur Tugend bekehren. Ganz im Sinn der neutestamentlichen Mahnung, den Balken im eigenen Auge nicht zu übersehen (Matthäus 7,1–5), wird auch im Dhammapada der Vorrang der kritischen Selbstprüfung gegenüber der Bewertung anderer hervorgeho­ ben (Dhp 50, 252, 379). Aber nicht nur Gewissensprüfung und Einsicht der eigenen Fehler, sondern auch das Bekennen bzw. Beichten ging als wichtiges Element in die monastische Lebensform ein.43 Das Beichten vor der Gemeinschaft oder das Sichanvertrauen an eine nahestehende Ordensperson veranlasst das Individuum zur Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Das Institut der Beichte unterstützt somit die für die Tugend unabdingbare Selbsterkenntnis. Das Herausstellen eigener Verdienste 40 C. A. F. Rhys Davids, A Buddhist Manual of Psychological Ethics Being a Translation of the Dhamma-Sangaṇi (1900), 312–313. Nakamura H. Genshi bukkyō no seikatsu rinri [Die Lebensmoral des ursprünglichen Buddhismus] (1995), 131. I. B. Horner, Übers. The Book of the Discipline: Vinayapiṭakaṁ [1938–1966] (2014), 238. M. Heim. »Shame and Apprehension« (2012), 245. 41 Itivuttaka (Dies wurde gesprochen), 30–31. 42 Duccarita-vagga (Sektion über unheilvolles Tun), AN 5.241–248. 43 M. Heim, The Forerunner of All Things (2014), Kap. 3. J. D. M. Derrett, »Confession in Early Buddhism« (1997). Ṭhānissaro, The Buddhist Monastic Code (2013), Bd. 1, 30–31.

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oder Ordensverleihungen für gute Taten sind der monastischen Praxis dagegen fremd. Dass eine Religion der geistigen Läuterung in der Kultur des Gewissens ein vorrangiges Ziel erkennt, sollte nicht weiter verwundern. Ohne ein reines Gewissen ist spirituelle Entwicklung nicht vorstellbar. Zwar hält der Weg der Ruhe und Achtsamkeit für das sich in Meditation übende Individuum Momente der Freude und Heiterkeit bereit. Diese werden aber primär als Stationen der mentalen Übung begriffen und sind daher nur indirekte Folgen des den Heilsweg erst ermöglichenden moralischen Lebenswandels. Fassen wir zusammen: Der Buddha erwuchs einer religiösen Kul­ tur, welche Erlösung in dem Austritt aus dem endlosen Prozess der Seelenwanderung erblickte. Dieser Austritt ist nur möglich aufgrund des Ausbrennens der Konsequenzen vergangener Handlungen. Weil Karma jene Existenzen bedingt, von denen man erlöst zu werden hofft, war Karma seiner ursprünglichen Bedeutung nach etwas Negatives. Im Buddhismus wurde die Idee der Vergeltung begrifflich Durch­ drungen und in allen Daseinsbereichen durchdekliniert. Darüber hinaus wurde eine Ethik formuliert, die überhaupt erst die Kriterien für Schuld und Unschuld explizit machte. Im Rahmen dieser Ethik wird karmische Vergeltung symmetrisch als Anreiz genauso wie als Abschreckungsmo­ ment veranschlagt. Es ist folglich von gutem genauso wie von schlechtem Karma, von himmlischen genauso wie von höllischen Wiedergeburten die Rede. Dies geriet jedoch in Konflikt mit der Vorstellung, dass erst nach Ausbrennen bzw. Verlöschen (skt. nirvāṇa, pāli nibbāna) aller karmischer Konsequenzen der Austritt aus dem Kreislauf der Wiederge­ burten erfolgt. Wenn man nicht annehmen will, dass der nach Befreiung strebende Mensch sich nicht nur der schlechten, sondern auch der guten Taten zu enthalten hat, entsteht die oben angesprochene Spannung zwischen einer ethischen und einer soteriologischen Interpretation der Karmalehre. Lösbar wäre dieses Problem etwa dadurch, dass man das Nirvana nach Art eines Himmels als Belohnung für gutes Karma aus­ schreibt. Diese Idee findet sich zwar in den Pāli-Schriften, blieb jedoch abseits des Hauptstroms des buddhistischen Denkens.44 Eine einflussreichere, allerdings kaum befriedigendere Lösung des Problems ist die Einführung einer vierfachen Klassifikation des Karma: Neben gutem (hellem), schlechtem (dunklen) und ambivalen­ tem (grauem) Karma wird als vierte Klasse eine neutrale (farblose) Art 44 J. P. McDermott, »Nibbāna as a Reward for Kamma« (1973).

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des Karma angenommen.45 Da der Wandel eines vollendeten Menschen von dieser letzten, unsichtbaren Art sei, verursacht sein Handeln keine weitere Reinkarnation. Damit fiele aber das ohnehin oft spukhaft anmu­ tende karmische Geschehen als Analysekategorie zwischenmenschlicher Beziehungen endgültig aus: Moralische Handlungen bewirken ein hohes Ansehen unter den Menschen. Unmoralische Handlungen bewirken ein niedriges Ansehen unter den Menschen. Der Wandel des in seiner Vorbildlichkeit vollendeten Menschen jedoch bewirkt überhaupt kein Ansehen unter den Menschen? Philosophisch wird man sich hiermit kaum zufriedengeben können.46 Eine attraktive und zugleich humanistische Lösung dieses dogmati­ schen Dilemmas ist, die durch den Buddha vollzogene Verinnerlichung auch im Hinblick auf die Erlösung konsequent zu denken: Erlösung bedeutet im Buddhismus nicht mehr primär den Austritt aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, sondern einen bereits zu Lebzeiten von Leid und Todesangst befreiten Geist. Hoffen, einen solchen Geist zu verwirklichen, kann nur eine Person mit reinem Gewissen. Diese Interpretation holt die ursprüngliche Bedeutung von Karma als primär negative Handlungsfolge ein, geht aber zulasten der orthodo­ xen Symmetrie von belohnender und bestrafender Vergeltung. Wie wir aber im Zusammenhang mit der kantischen Moralphilosophie beobach­ tet haben, liegt die Asymmetrie der unbedingten Unterlassungspflichten und der bedingten Begehungspflichten in der Natur der menschlichen Moral. Primär sind wir gegeneinander verpflichtet, Freiheit, Eigentum und körperliche Unversehrtheit aller zu wahren. Dass wir darüber hinaus aufgefordert sind, menschliches Leid zu verringern, steht ebenfalls außer Frage. In welchem Ausmaß wir jedoch verpflichtet sind, unser Leben auf die Wohltätigkeit zu verwenden, lässt sich nicht genau angeben. Schon aus zeitlichen Gründen muss auch eine Ordensperson Meditation und Wohltätigkeit gegeneinander abwägen. Gegen die Symmetrieeigenschaften von Verdienst und Schuld sowie Lohn und Strafe sprachen aber auch zentrale Merkmale der Ethik und der moralischen Psychologie des Buddhismus. Wie wir gesehen haben, setzt die buddhistische Ethik bei der Überwindung des Lasters an. Die Reinigung des Geistes von Hass, Gier und Wollust ist die Voraussetzung für die harmonische Ausbildung der Tugend. Die Laster sind aber nicht 45 M. Heim, The Forerunner of All Things (2014), 60–63. 46 Das Lehrstück hat denn auch der späteren Scholastik entsprechende Probleme bereitet. J. P. McDermott, Development in the Early Buddhist Concept of Kamma/ Karma (1984), 131–138.

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nur unmittelbar Gift für den Geist, sondern verursachen als triebhafte Impulse des Verbrechens auch jene Schuldgefühle, die sich tief in die Seele einbrennen. Selbst wenn also kein dem schlechten Gewissen entgegengesetztes moralisches Frohlocken als karmischer Lohn der Tugend postuliert wird, spricht dennoch nichts dagegen, aus buddhistischer Sicht daran festzuhalten, dass sich mit der Tugend auch die Lebensfreude einstellen wird. In einer bemerkenswerten Predigt mit dem Titel »Lehrrede über die Entbehrlichkeit des Wollens«47 wird die Tugend nicht nur als notwen­ dige Voraussetzung, sondern sogar als einzig zureichender Grund der Erlösung ausgezeichnet. Wohlgemerkt wird nicht gelehrt, dass ein moral­ ischer Lebenswandel keine Willenskraft verlangt. Aber für die wahrhaft moralische Person bedarf es keiner weiteren Anstrengung, um frei von Reue zu sein. Und eine Person mit reinem Gewissen wird, so heißt es weiter, mit derselben Leichtigkeit schrittweise auch Lebensfreude, Konzentration, Einsicht, Gelassenheit und zuletzt Erlösung erlangen.

Kausalität und Erkenntnis An dieser Stelle soll auf das Buch von Hans Kelsen zurückgekom­ men werden. Das Beweisziel seiner Studie ist im Titel Vergeltung und Kausalität angesprochen. Kelsen beabsichtigte, »Die Entstehung des Kausalgesetzes aus dem Vergeltungsprinzip« (Kap. 5) nachzuzeichnen. Trotz der von Kelsen konstatierten Allgegenwärtigkeit der Idee der Vergeltung in Naturreligionen, Mythen, Magie und Götterwelten sieht er diesen Übergang nur in der griechischen Philosophie verwirklicht. Philosophiegeschichtlich repräsentiere diesen Übergang der Satz des Anaximander, da hier die Aspekte der Kausalität und der Vergeltung ineinander verschlungen sind: »Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe (dikē) und Buße (tisis) für ihre 47 Nacetanākaraṇīya-suttaṃ, AN 11.2. So der Titel in der Edition der Pali Text Society (PTS, vol. v, 312). Die negierende Partikel na findet sich allerdings nicht in allen Parallelstellen (z.B. PTS, vol. v, 2). Vgl. M. Heim, The Forerunner of All Things (2014), 78. Die Tatsache, dass der Titel im Text zehn Mal mit und nie ohne die Verneinung wiederholt wird, lässt jedoch keinen Zweifel aufkommen, dass die Negation den Sinn der Lehrrede reflektiert. Die im chinesischen Kanon erhaltene Übersetzung des Textes Bùsī-jīng enthält mit bù ebenfalls eine Negation (T 26, vol. 1, p. 485).

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Ungerechtigkeit (adikia) nach der Zeit Anordnung.«48 Bei Parmenides wurde die schicksalhafte Notwendigkeit (anankē) der Vergeltung dann zur Notwendigkeit des Naturgesetzes (246). Die Atomisten schließlich deuteten die den Kosmos durchwaltende Vernunft (logos) zur kausalen Mechanik allen Geschehens um (253). Aristoteles' Paraphrase des Kau­ salgesetzes der Atomisten lautet, dass nichts »von selber oder aus Zufall« geschehe, sondern alles »eine bestimmte Ursache« habe. Kelsen weist ferner darauf hin, dass der von Demokrit verwandte Begriff für Ursa­ che (aitia) ursprünglich so viel wie Schuld bedeutete. Dem deutschen Sprachgebrauch entsprechend, der einen Vorfall »schuld« an einem Missgeschick nennt, hätten die alten Griechen das juristische Prinzip »keine Strafe ohne Schuld (aitia)« in das naturphilosophische Prinzip »keine Wirkung ohne Ursache (aitia)« überführt (256). Kelsens Überlegungen sind deshalb von Interesse, weil sich für den Buddhismus Ähnliches konstatieren lässt. Der Buddhismus zeichnet sich nicht nur durch seine vielschichtige Vergeltungslehre aus, sondern sein Auftritt war ebenfalls von einer etwas anders gelagerten, aber nicht weni­ ger klaren Formel des Kausalprinzips begleitet: »Wenn dieses existiert, existiert jenes. Wenn dieses entsteht, entsteht jenes. Wenn dieses nicht existiert, existiert jenes nicht. Wenn dieses vergeht, vergeht jenes.«49 Mit anderen Worten: Existenz unterliegt kausalen Bedingungen. Es scheint plausibel, dass der Stifter der Tradition dieses in den Predigten vielerorts zitierte Grundgesetz seiner Metaphysik in der Auseinandersetzung mit dem ebenfalls Universalität beanspruchenden Prinzip der karmischen Vergeltung entwickelt hat. Es zog in der Folge ein reiches, teils hoch rationales, teils obskures Denken der Kausalität in der buddhistischen Scholastik nach sich.50 Wie die ontologische Fassung des mutmaßlich von Buddha selbst formulierten Kausalprinzips bereits andeutet, hat die buddhistische Kausalitätstheorie im Gegensatz zur abendländischen Metaphysik allerdings die Stoßrichtung, die Vorstellung einer zugrunde­ liegenden Substanz zu unterlaufen. Der enormen Komplexität der Kausalitätstheorie kann hier nicht Rechnung getragen werden.51 Hinweise auf die Logik des kausalen 48 H. Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1982), 241. Übers. H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker [1903] (1960), Bd. 1, 89. 49 Z.B. Bahudhātuka-sutta (Predigt über die Vielzahl der Entitäten), MN 115. 50 T. Skorupski, »Buddhist Theories of Causality« Oxford Bibliographies (2016). D. J. Kalupahana, Causality: The Central Philosophy of Buddhism (1975). 51 G. Keil, Handeln und Verursachen (2005).

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Schließens und die Theorie der Akteurskausalität in der buddhistischen Philosophie müssen genügen, um die Möglichkeit eines fruchtbaren Dialogs mit der abendländischen Metaphysik glaubhaft zu machen.52 Die buddhistische Scholastik mit ihren ontologischen, phänomenologischen und kausal-theoretischen Fragestellungen zeichnet den Buddhismus als eine Tradition mit indigenem systematischen und begründungsorientier­ ten Denken aus. Dies hat sie in der Folgezeit zu einer »Art Motor für die indische Philosophie im allgemeinen« werden lassen.53 Es ist dabei zwar nicht ganz ausgeschlossen, dass die sich seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert in Nordindien entwickelnden systematischen Studien der buddhistischen Lehre auch Impulse durch den Hellenismus erhalten haben. Etwas Vergleichbares wie die Übernahme des Aristoteles im Katholizismus hat dabei jedoch nicht stattgefunden. Der Kontakt mit griechischen Gelehrten im hellenistisch geprägten Königreich Gandhāra mag Buddhisten aber zur weiteren Rationalisierung ihrer Argumentati­ ons- und Diskussionskultur veranlasst haben.54 Dass nicht nur die buddhistische, sondern auch die hinduistische Philosophie den Dialog mit der theoretischen Philosophie Europas nicht zu scheuen braucht, dürfte heute den meisten westlichen Philosophen ebenfalls bereits zu Ohren gekommen sein. Sollte die analytische Denk­ schule erst einmal das Sanskrit für sich entdeckt haben, ist eine in ihrem Ausmaß kaum absehbare Publikationswelle zu erwarten. – Damit sollte deutlich geworden sein, dass nicht nur der Begriff der Religion und der des Humanismus, sondern auch der der Metaphysik im besten akademischen Sinn auf den Buddhismus anwendbar ist. Obwohl es heute bisweilen wie ein Gemeinplatz klingt, den Buddhismus sowohl eine Religion als auch eine Philosophie zu nennen, war es in Japan tatsächlich Inoue Enryō, der um das Jahr 1887 durch ebendiese Neubestimmung der

52 In der durch Dignāga (480–540) und Dharmakīrti (7. Jh.) vertretenen epistemo­ logischen Schule des Buddhismus gilt die als Wirkung in Erscheinung tretende »Aktivität« (skt. kriyā) als Kriterium des Realen. »Whatever is causally efficient is real.« Th. Stcherbatsky, Buddhist Logic (1930/1932), Bd. 1, 69. Hier ließe sich möglicherweise ein weiterer Bezug zu Kant herstellen, der das Verhältnis von Ursache und Wirkung ebenfalls nach dem Modell der Handlung fasste. V. Gerhardt, »Handlung als Verhältnis von Ursache und Wirkung« (1986). Zur Akteurskausalität allgemein siehe G. Keil, Handeln und Verursachen (2005), Kap 3. 53 J. Bronkhorst, »Die buddhistische Lehre« (2000), 115. 54 J. Bronkhorst, »Die buddhistische Lehre« (2000), 124–127.

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Modernisierung des Buddhismus entscheidende Impulse zu geben ver­ mochte.55 Nachdem nun neben dem Dogma der karmischen Vergeltung auch die kausale Metaphysik des Buddhismus ins Blickfeld gerückt wurde, kann jetzt noch ein weiterer auf Kausalität beruhender Aspekt der bud­ dhistischen Lehre aufgegriffen werden. Hierbei handelt es sich um einen konsequentialistischen Zug der buddhistischen Ethik. Bisher wurden der Erwerb von Weisheit und Tugend, die Kultur der Gesinnung sowie die Einhaltung der Gebote und Ordensregeln als Momente der von Buddha gelehrten Moral angesprochen. Schon in den frühen Schriften gibt es aber auch Passagen, die eine konsequentialistische Interpretation der buddhistischen Ethik erlauben.56 Nach dieser Auffassung bemisst sich der Wert einer Handlung danach, ob die Konsequenzen der Handlung Wohlergehen fördern oder Leid vermehren. Bedenkt man, dass es das ultimative Ziel des Buddhismus ist, das menschliche Leiden zu beenden, überrascht es nicht, dass hierbei nicht nur das Wohlergehen des handel­ nden Individuums selbst, sondern das aller fühlenden Lebewesen in Betracht kommt. Die Wendung ins Allgemeine vollzieht sich durch einen einfachen Standpunktwechsel: ›Wie ich bin, so sind diese auch; wie diese sind, so bin auch ich‹, Wenn so dem anderen er sich gleichsetzt, Mag er nicht töten oder töten lassen. (Sn 705) Diese Verse sind zugleich diejenigen, welche die nächste Verwandtschaft mit der Goldenen Regel in den Pāli-Schriften aufweisen. Parallele Stellen finden sich auch im Dhammapada (129–132), wo ebenfalls aus der Gleichheit der Menschen das Tötungsverbot gefolgert wird. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt, das Verbot auf die Verursachung jeglichen Leids auszuweiten. Da wir von uns selbst her wissen, dass niemand Leid zu erfahren wünscht, sind wir verpflichtet, durch verantwortliches Handeln kein Leid in der Welt zu verursachen. Sobald wir unser moralisches Handeln insgesamt unter die Maß­ gabe stellen, Leid zu vermindern und das Wohlergehen unserer Mitmen­ schen zu fördern, müssen wir vor jeder einzelnen Tat die Konsequenzen unseres Handelns sorgfältig prüfen. Jetzt zeigt sich, dass die insgesamt auf Kausalität beruhende buddhistische Weltsicht in ethischer Hinsicht 55 R. Schulzer, Inoue Enryō (2019), 91–95 und 245–247. 56 C. Goodman, Consequences of Compassion (2009), Kap. 3.

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Tugenden der Sorgfalt, Behutsamkeit und Vorsicht verlangt. Nicht not­ wendig aufgrund undurchsichtiger Vergeltungsmechanismen, sondern aus Rücksicht auf unsere Mitmenschen ist ein mit Blick auf die Konse­ quenzen verantwortliches Handeln geboten. Allerdings ergibt sich aus der konsequentialistischen Lesart der bud­ dhistischen Ethik eine unter Umständen verwirrende Wechselbeziehung mit der Karmalehre: Das Gebot, anderen Lebewesen kein Leid zuzufü­ gen, gilt prinzipiell und ist von primärer Bedeutung. Die Karmalehre verleiht dem Gebot nur Nachdruck, indem sie bei Zuwiderhandlung negative Konsequenzen für den Täter vorhersagt. Im Gegensatz zu den unmittelbaren Folgen für das verletzte Lebewesen ist die Strafe für den Übeltäter nur vermittels des nicht immer durchschaubaren karmischen Geschehens das zu erwartende Resultat des Vergehens. Genau diese Unterscheidung lässt sich aber im Fall der Regeln der Selbstkultivierung (wie etwa der Pflege der eigenen Gesundheit) nicht treffen. Hinsichtlich des Vorhabens, das eigene Wohlergehen zu fördern, ist die Vernachläs­ sigung des eigenen Körpers nicht zielführend. Krankheit ist also das zu vermeidende Übel, zugleich aber auch die karmische Quittung. Das gleiche gilt für Laster wie Neid oder Eitelkeit, die primär dem Individuum selbst die Seelenruhe rauben. In einer auf Zufriedenheit angelegten Lebenskunst buddhistischer Prägung fallen also Erfolg und Misserfolg mit Vergeltung in eins. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man den Buddhismus eine Lehre nennt, deren Wahrheitsanspruch auf der kausalen Analyse der Wirk­ lichkeit beruht. Nicht nur das karmische Geschehen, sondern auch die vorhersehbaren Handlungskonsequenzen werden unter kausalen Gesichtspunkten betrachtet. Es wird deshalb nicht überraschen, dass der Buddha auch die Entstehung des menschlichen Leids kausal erklärte. Da er zudem die religiöse Weltanschauung des Determinismus sowie die der vollständigen Kontingenz ablehnte, war seine kausale Theorie der Lei­ dentstehung vermutlich ein wichtiges Charakteristikum der buddhisti­ schen Lehre. Da die Theorie zudem mit dem Versprechen einherging, das Leid durch die Erkenntnis seiner Ursachen auch zu beenden, erkannte sein Orden in Buddhas Lehre von der Entstehung des menschlichen Leids sein zentrales Lehrstück überhaupt. Die kausalen Faktoren des Leids werden in der Tradition in Form der so genannten Zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens gegeben. In seiner standardisierten Form, wie sie auch in dem Beitrag von Takemura Makio zur Sprache kommt, lautet die Kausalkette mit zwölf Gliedern in Pāli wie folgt: I. avijjā (Unwissenheit), II. saṅkhāra (Aktivität), III. viññāṇa (Bewusstsein),

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IV. nāma-rūpa (Name und Gestalt), V. saḷāyatana (sechs Sinne), VI. phassa (Kontakt), VII. vedanā (Gefühl), VIII. taṇhā (Gier), IX. upādāna (Abhängigkeit), X. bhava (Werden), XI. jāti (Geburt), XII. jarāmaraṇa (Alter und Tod). Jedes Glied der Kette verursacht monokausal die Entstehung des folgenden. Die in buddhistischen Schriften allgegenwärtigen, dem Denken jedoch leider abträglichen Aufzählungen sind ein Erbe der oralen Früh­ geschichte des Buddhismus. Neben der Versform war Listenförmigkeit die wichtigste Mnemotechnik während der ersten ca. drei Jahrhunderte nach Buddhas Tod. In Gestalt der fünf phänomenologischen Kategorien (khandha) wurde eine der prominentesten Listen im vorangegangenen Kapitel bereits vorgestellt (siehe S. 64). Hierbei wurde festgestellt, dass die Kategorien, aus deren Zusammenspiel unsere Wirklichkeit hervor­ geht, einen philosophisch durchaus diskussionswürdigen Vorschlag dar­ stellen. Vier der fünf Kategorien sind auch Teil der Zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens: (II), (III), (VII) und das Element »Gestalt« in (IV ). Allein dieser Befund weckt erhebliche Zweifel an der Sinnhaf­ tigkeit der Zwölfgliedrigen Kausalkette. Die Plausibilität der fünf Kate­ gorien besteht ja gerade darin, dass es ihr Zusammenwirken ist, das unsere Erfahrung konstituiert. Wie sollten sie dann gleichzeitig Elemente einer linearen Kausalkette sein? Was soll es ferner bedeuten, dass Unwis­ senheit dem Bewusstsein vorausgeht, wo doch Unwissenheit offenbar bereits ein Bewusstsein impliziert? Und in welchem Sinn geht die Gier der Geburt voraus, der wiederum das Werden vorgeordnet ist? Es ist unschwer zu erkennen, dass die Zwölfgliedrige Kette des Bedingten Entstehens in ihrer orthodoxen Form eine philosophische Zumutung ist, der man den Status einer sinnvollen Theorie nicht zugeste­ hen wird. Glücklicherweise konnte die philologische Forschung bereits zeigen, dass es sich bei der Standardformel um das Kondensat einer Vielzahl früherer Varianten handelt.57 Was ursprünglich vielleicht das zentrale Lehrstück des Buddha war, ist in seiner erstarrten Form ein Fabrikat der Orthodoxie, über dessen eigentlichen Sinn sich heute nur spekulieren lässt. Einigermaßen gesichert ist, dass die ursprüngliche Theorie kausale Wechselwirkungen und Verzweigungen beinhaltete. Auf­ 57 R. S. Bucknell, »Conditioned Arising Evolves« (1999). Nakamura H. »The Theory of ›Dependent Origination‹ in its Incipient Stage« (1980), 165–172. Eine wichtige Quelle sind die thematisch gruppierten Texte Nidāna-saṃyutta (Zusammengestellte [Texte] zum Kausalnexus) SN 12–21. Übers. mit einer Verteidigung der orthodoxen Interpretation von Bhikkhu Bodhi, The Connected Discourses of the Buddha (2000), Bd. 1, 515–620.

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grund der Listenförmigkeit, welche die Theorie im Laufe der Zeit zwecks Gedächtnis und Rezitation annahm, ging ihre Komplexität aber verloren und degenerierte zu einer einfachen Voraussetzungsfolge. Aber nicht nur der kausale Zusammenhang, sondern auch Begrifflichkeit und Anzahl der Glieder sind aus philologischer Sicht kein Datum. Die mühsamen (orthodoxen und modernen) Interpretationsversuche einer ohnehin obskuren Theorie müssen die Philosophie jedoch nicht interessieren. Das Einzige, das sich mit einiger Gewissheit sagen lässt, ist, dass die kausale Erklärung der Entstehung menschlichen Leids nicht bei kosmo­ logischen oder empirischen Bedingungen ansetzt, sondern den Ursprung des Leids im menschlichen Geist verortet. Im weitesten Sinn handelt es sich also um eine psychologische Erklärung der mentalen Dynamik, deren Ergebnis das Anhaften oder Klammern an Vergänglichem ist. Und obwohl selbst in diesem Punkt die Quellen nicht eindeutig sind, soll noch auf die Tatsache eingegangen werden, dass an erster Stelle sowohl der Standardformel als auch älterer Varianten die Unwissenheit steht. Ähnlich rangiert auch der Irrtum oder die Uneinsichtigkeit in anderen Zusammenhängen neben Hass und Gier als eines der mensch­ lichen Grundübel. Die Unwissenheit ist das Gegenstück der vollendeten Weisheit, die im Bild des Erwachens (bodhi) dem Stifter und seiner Tradition ihre Namen gegeben hat. Wir haben gesehen, dass Moralität die unerlässliche Voraussetzung der Kultivierung eines vom Leid befreiten Geistes ist. Meditation ist die Übung, welche den Krampf der Laster löst und dem Geist Klarheit verschafft. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Gangbarkeit dieses Weges eingesehen wird. Von daher blockiert das Nichtwissen bzw. die Uneinsichtigkeit jedwede Selbstkultivierung und ist die erste Ursache menschlichen Leids. Die Einsicht ist aber nicht nur als Initial entscheidend, sie ist auch als moralische Selbster­ kenntnis unerlässlich. Ferner erlaubt erst die Pflege der Achtsamkeit die Erkenntnis der Wirklichkeit unter kausalen Gesichtspunkten. Die Einsicht ist deshalb initialisierend, leitend und erlösend. Als Weisheit ist sie das Medium, in dem sich die selbstbewusste Entwicklung des Individuums zu vollziehen hat. Die Lehre vom kausalen Ursprung des Leids in der Unwissenheit hat aber noch eine weitere Pointe: Sie legt nahe, dass es nur der Erkenntnis des kausalen Zusammenhangs zwischen Unwissenheit und Leid bedürfe, um eben denselben kausalen Nexus zu durchbrechen. Die Lehre verspricht, dass sie einzusehen hinreicht, um den leidvollen Mechanismus außer Kraft zu setzen. Die Erkenntnis des Bedingten Entstehens wird deshalb in den Schriften oft mit dem Erwachen selbst identifiziert.

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III. Die Vier Weisen

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KONFUZIUS

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Yoshida Kōhei

Die Welt der konfuzianischen Gespräche

Einleitung Konfuzius lebte von 552 bis 479 vor Chr. in China. Über sein Leben berichtet zum Beispiel das Kapitel »Familie und Genealogie des Konfu­ zius« in den Aufzeichnungen des Chronisten (Shǐjì, Kap. 47), verfasst von Sīmǎ Qiān (2. Jh. v. Chr.). Darüber hinaus existieren vielerlei weitere Quellen über sein Denken und Wirken. Allerdings ist die Glaubwür­ digkeit dieser Quellen problematisch und der unsicheren Punkte sind zweifellos viele. Auch die Gespräche (Lúnyǔ), die als Bericht seiner Worte und Taten gelten, wurden durch spätere Generationen redigiert, weshalb auch hier die Tendenz besteht, ihre historische Glaubwürdigkeit zu problematisieren. In diesem Aufsatz soll jedoch der geschichtlichen Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Gespräche eine sehr lange Zeit als authentisches Zeugnis der Worte und Taten des Konfuzius gelesen wurden. Ich werde hier ausschließlich basierend auf dieser Quelle die von Konfuzius gedachte Lebensform vorstellen.

1. Die Besonderheit der »Gespräche« Der geschichtlich überkommene Text der Gespräche ist in zwanzig Kapi­ tel unterteilt. Unter diesen erläutert das zehnte Kapitel ausschließlich die musikalischen und zeremoniellen Normen der Heimat des Konfuzius. Das neunzehnte Kapitel enthält Berichte über Reden und Taten nicht des Konfuzius selbst, sondern zwei seiner Schüler mit Namen Zǐzhāng und Zǐxià. Im zwanzigsten Kapitel sind Dialoge gesammelt, die einen Ausspruch des legendären Herrschers Yáo betreffen. Insofern das ganze Buch jedoch in der Hauptsache eine Dokumentation der Person des Konfuzius ist, handelt es sich hierbei um Ausnahmen, die ebenfalls Anlass für Diskussionen über die Entstehungsgeschichte der Gespräche gegeben haben.

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Yoshida Kōhei

Eine besonders auffällige Eigenart der Gespräche besteht darin, dass in sehr vielen der aufgezeichneten Unterredungen zwischen Leh­ rer und Schülern bestimmte Personen bewertet werden. Ungefähr die Hälfte aller Dialoge drehen sich darum, wie Konfuzius seine Schüler einschätzte. Zum Beispiel enthält der achte Eintrag des fünften Kapitels (5.8) Bewertungen der Schüler Zǐlù, Rǎn Qiú und Gōngxī Chì.1 Der folgende Eintrag (5.9) gibt ein Gespräch wieder, in welchem Zǐgòng, Yán Huí und Konfuzius selbst verglichen werden. Dialog 11.26 enthält Einschätzungen der Schüler Zǐlù, Zēng Xī, Rǎn Qiú und Gōngxī Chì.2 Es ist unmöglich, hier alle Beispiele aufzuzählen. Allerdings ist es nicht nur Konfuzius, der seine Einschätzungen zu bestimmten Themen oder Schülern äußert. In seiner Schule kam es auch häufig vor, dass sich Schüler untereinander bewerteten. Und es gibt Beispiele, in denen ein Schüler von sich aus eine Bewertung seiner selbst von Konfuzius erbittet; so zum Beispiel der zu den exzellenten Schülern zählende Zǐgòng in Kapitel 5, Abschnitt 4. Dialoge, in denen Konfuzius von seinen Schülern zu antworten gedrängt wird, sind ebenfalls nicht wenige. Absätze, die keine Wertungen von Personen enthalten, beschreiben die Lebens- und Denkgewohnheiten eines bestimmten Menschen. Und es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Beschreibungen wiederum nur als Grundlage für die Bewertung desselben Menschen angeführt werden. In dieser Weise sind die Gespräche voll mit Charakteristiken. Man kann dies als die Besonderheit des Werkes herausstellen. Aber warum sind in der Schule des Konfuzius Gespräche, in denen Personen beurteilt werden, in dieser Fülle aufgezeichnet worden? Der Schlüssel zur Antwort auf diese Frage liegt in der Problemstellung, die in der Schule des Konfuzius verfolgt wurde. Die Idee der Verehrung eines transzendenten Absoluten, dessen Urteil man sich unterwirft und um dessen Erlösung gebeten wird, ist in Konfuzius' Schule vollständig abwesend. Das in den Gesprächen erörterte Transzendente ist zunächst der Himmel. Aber da dieser Himmel kein persönlicher Gott ist, spricht er nicht. Deshalb gibt es auch keine Propheten, denen die Offenbarung des 1 Alle Textstellen der Gespräche des Konfuzius (Lúnyǔ) folgen der ICS Konkordanz. Siehe »Kanonische Quellen und digitale Ressourcen« im Anhang. — Anm. R.S. 2 Die meisten der in den Gesprächen erwähnten Schüler werden mit mehr als einem Namen genannt. In der deutschen Übersetzung des Textes von Yoshida Kōhei werden einheitlich die gebräuchlichsten Namen verwendet. Im Fall abweichender Nennungen in den Zitaten ist jeweils der im Haupttext verwandte Name in eckigen Klammern ergänzt. Zu den Schülern des Konfuzius im Detail siehe, E. B. Brooks und A. T. Brooks, The Original Analects (1998), 272–294. — Anm. R.S.

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Die Welt der konfuzianischen Gespräche

Himmels anvertraut wäre. Obwohl dem Himmel Verehrung zukommt, existieren keine Lehrsätze, die durch Propheten in Form einer heiligen Schrift bezeugt sind. Ein Himmel, der nicht spricht, kann keine Urteile fällen. Noch viel weniger ist von einer himmlischen Erlösung die Rede. Wenn also keine im Glauben offenbarte, transzendente Richtschnur für das eigene Leben und Denken erwartet, weder eines Urteils geharrt, noch eine endgültige Erlösung erhofft wird, sondern nur der Wunsch besteht, als Mensch gemeinsam mit Anderen richtig zu leben, was kann hierfür als letzte Grundlage dienen? Zwar gibt es auch den Ansatz, das profane Glück oder den sozialen Status als Grundlage der eigenen Lebensführung zu nehmen. Aber »gut zu leben« ist schwierig, wenn man der umgebenden Gesellschaft nur Folge leistet.3 Der Weg, eine seiner selbst angemessene Lebens- und Denkweise sorgsam zu erwägen und souverän auszuwählen, ist dann verstellt. Konfuzius und seine Schüler haben sich gegen einen Weg entschie­ den, der sie zum Spielball der sozialen Umstände gemacht hätte. Sie suchten und strebten nach einer durch und durch selbstbestimmten Denkweise und Lebensform. Was kann als Grundlage einer solchen Existenz dienen? In der Schule des Konfuzius glaubte man an die allen Menschen von Geburt an mitgegebene Fähigkeit, richtig zu leben. Kon­ fuzius nannte diese Fähigkeit »Tugend« (dé), ihren Gehalt bestimmte er als die »Humanität« (rén). Humanität ist der zentrale, unentwegt als Maßstab des Menschen veranschlagte Schlüsselbegriff der Gespräche. Formulierungen, die als Urteil dienen, sind etwa »Dieser Mensch besitzt Humanität« oder »Jene Person ist inhuman«. Generell werden in den Gesprächen für die Schätzung von Menschen wertende Begriffe verwen­ det, die in Beziehung zu »human« und »inhuman« stehen.4 Konfuzius und seine Schule kannten keinen Glauben an eine trans­ zendente Kraft, deren Gnade Dankbarkeit verlangt, deren Offenbarung Verehrung zukommt oder deren finalem Urteil es sich zu überantworten gilt. Nur die Beobachtung, ob ein Mensch das Wesen der humanen Persönlichkeit richtig versteht und in seinem Alltag tatsächlich zum Ausdruck bringt, erlaubt das Urteil, ob der Lebenswandel eines Men­ schen gut ist oder nicht. Dies führte unter Lehrer und Schülern zu 3 Das liáng (jap. ryō) gelesene Schriftzeichen wird im Folgenden mit »gut«, »gelungen« oder »richtig« übersetzt. — Anm. R.S. 4 Hierbei ist vor allem an die Vielzahl der in der Humanität gipfelnden Tugenden zu denken, die in den Gesprächen hochgehalten werden. Unter diesen zählen Integrität (xìn), kindliche Ehrerbietung (xiào), Gerechtigkeit (yì) und Etikette (lǐ) zu den wichtigsten. — Anm. R.S.

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einer intensiven Praxis der gegenseitigen Bewertung; weswegen die Gespräche voll sind mit Dialogen, in denen bestimmte Personen gelobt oder getadelt werden. Dieses Denken hat als Grundton der chinesischen Geistesgeschichte stark gewirkt. Zum Beispiel heißt es im Zen-Buddhismus, dass die Lehre von Geist zu Geist weitergegeben wird. Was hier Geist (bzw. Herz) heißt, ist das Subjekt selbst, welches zum richtigen Leben erwacht ist. Von einer solchen erwachten Person (d.i. der Lehrer) wird das Erwachen auf die nachfolgende Person (d.i. der Schüler) übertragen. Zur Vergewisserung, dass die Übertragung tatsächlich stattgefunden hat, bescheinigt der Leh­ rer das Erwachen (bzw. die Erleuchtung) seines Schülers durch ein Siegel. Dies nennt man die Übertragung von Geist zu Geist. Die umfangreiche Literatur zen-buddhistischer Dialoge ist das Sediment dieser Tradition. Der Zen-Buddhismus ist ähnlich wie der Konfuzianismus ein religiöses Denken der Selbsterlösung. Das Urteil einer transzendenten Instanz kommt hierbei überhaupt nicht in Betracht. Das schriftliche Fixieren der Dialoge, in denen Konfuzius und seine Schüler ihre Werturteile austauschten, war letztendlich der einzige Weg, sich gegenseitig zu versichern, dass der richtige »Weg« (dào) (d.i. das richtige Denken und das gelungene Leben) von Mensch zu Mensch übertragen und die Lehre tatsächlich verstanden wurde.5 Der Lehrer Konfuzius hat von sich aus die Lehre erläutert und seinen suchenden Schülern übermittelt. Die Schüler haben die Lehre erbeten, sie gelernt und im realen Leben praktiziert. Lehrinhalte wurden auch explizit niedergeschrieben, aber die Besonderheit der Gespräche sind eher die Aufzeichnungen, die bezeugen, auf welche Weise Konfuzius in seinen Belehrungen der Individualität seiner Schüler gerecht wurde, auf welche Art die Schüler lernten und welche Ergebnisse ihr Lernen zeitigte.

2. Ein Lernender – Die Selbsteinschätzung des Konfuzius Zwar können die Gespräche als Bericht der Worte und Taten des Konfu­ zius verstanden werden, ihr Hauptzweck ist jedoch, die Lehre vom richti­ gen Weg schriftlich festzuhalten. Zwar wird auch von Konfuzius' Verhal­ 5 Im Folgenden steht das Wort »Weg« nur in Anführungszeichen, wenn es in nicht idio­ matischen Formulierungen auftritt. In Wendungen wie »den Weg weisen«, »Abwege«, »seinen Weg finden«, »der Lebensweg« etc. sind die Anführungszeichen weggelassen, stehen aber für das dasselbe chinesische Schriftzeichen. — Anm. R.S.

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ten und den Anlass gebenden Umständen mancher Aussprüche berichtet. Da aber in der Hauptsache seine belehrenden Worte aufgezeichnet wurden, sind solche Erläuterungen auf ein Minimum beschränkt. Aus diesem Grund stößt man bei dem Versuch, alle Textteile der Gespräche im Einzelnen zu verstehen, auf erhebliche Schwierigkeiten. Im Fall des Buches Menzius sind genaue Erläuterungen der Bege­ benheiten der jeweiligen Dialoge verhältnismäßig häufig. Unter anderem deswegen gehen die Interpretationen dieses Textes nicht so weit ausei­ nander. Umstände und Umfeld der in den Gesprächen niedergeschriebe­ nen Dialoge sind dagegen nicht spezifiziert. Ohne weitere Erklärungen ist nur das Kernstück eines Dialogs möglichst bündig wiedergegeben. Die kurzen Textstücke sind von daher extrem viele. Dieser Umstand führte dazu, dass hinsichtlich der Interpretation der Gespräche die Herangehensweisen sehr vielfältig sind. Ich möchte mich allerdings nicht zu sehr mit den alten Auslegungen aufhalten. Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, durch meine Interpreta­ tion der Welt des Konfuzius und seiner Gespräche ihre Reichtümer zu entlocken. – Ich werde meine Darstellung im Folgenden am Leitfaden der Selbstbewertung des Konfuzius entwickeln. Es gibt einen Abschnitt, in dem Konfuzius seinen eigenen Lebensweg offenbart: Mit fünfzehn Jahren beschloss ich zu lernen. Mit dreißig Jahren [lernte] ich selbstständig. Mit vierzig Jahren hatte ich [hinsichtlich Lernen und Leben] keine Zweifel mehr. Mit fünfzig Jahren erkannte ich [diese Lebensweise als] mein Schicksal. Mit sechzig Jahren lernte ich das [unvoreingenom­ mene] Zuhören. Mit siebzig Jahren konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu verlieren. (2.4)

Konfuzius war ein Lehrer. Doch bevor er zu lehren begann, war er selbst ein Lernender. Das Zitat enthält die Zusammenfassung seines Lebens als Lernender. Konfuzius ist im Alter von vierundsiebzig Jahren gestorben. Um den »Weg« zu verwirklichen, hat er als Gelehrter ein Wanderleben geführt. Nachdem er schmerzlich einsehen musste, dass er seinen Traum, politisch wirksam zu werden, nicht in die Tat umsetzen konnte, kehrte er in seine Heimat zurück und widmete sich im Kreis seiner Vertrauten ganz der Bildung. Wenn man Konfuzius als jemanden begreift, der ein Leben des Lernens geführt hat, werden seine das Lernen betreffenden Aussagen verständlicher. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Art abstrakter Bildungstheorie, sondern um Thesen, die sich auf Konfuzius' eigene intensive Erfahrungen stützen. Man kann den in dem Zitat ausgedrückten Lernprozess zwar als die Geschichte seiner Reifung interpretieren, die sich zwischen dem fünfzehnten und dem siebzigsten

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Lebensjahr vollzog. Aber erlauben wir uns auch zwischen den Zeilen zu lesen, was in diesem Bekenntnis nicht gesagt ist: Mit fünfzehn Jahren machte sich Konfuzius das Lernen zur Aufgabe. Er bekennt jedoch, dass er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr als Lernender nicht selbstständig war. Bis zu einem Alter von vierzig Jahren war Konfuzius nicht frei von Zweifeln an seiner dem eigenen Lernen gewidmeten Lebensform. Diese Zweifel verflogen endgültig erst, als er in seinem vierzigsten Lebensjahr einsah, dass es für ihn zu dieser Lebens­ weise keine Alternative gab. Obwohl Konfuzius das Lernen nicht nur keinen Augenblick vergessen, sondern sich vielmehr darin verausgabt hat, wusste er doch auch um die Grenzen dieses Lebensweges. Mit sechzig Jahren wurde ihm dieses selbst gewählte Leben als sein Schicksal bewusst. Bis in die Zeit dieser Überlegungen hatte Konfuzius die Neigung, ego­ zentrisch zu reagieren und mit Ermahnungen und Kritik zu antworten, wenn ihm die Reden anderer zu Ohren kamen. Erst im Alter von sechzig Jahren hatte er gelernt, den Ausführungen anderer einfach und unvoreingenommen zuzuhören. Als Konfuzius, nachdem er während seines Wanderlebens durch die Fürstentümer viele bittere Erfahrungen machen musste, schließlich in seine Heimat zurückkehrte, war er seinem Betragen nach befreit, aber auch keineswegs aus der Bahn geworfen. Im Rückblick erkannte er, dass sein von Höhen und Tiefen geprägtes Leben in jeder Hinsicht das eines Lernenden gewesen war. Offenbar wurden die Beschwernisse, die er zusammen mit seinen Schülern durchmachen musste, nunmehr zum Katalysator einer reichhaltigen Ernte. In diesem Sinn kann Konfuzius, der ein solches Resümee seines Lebens ziehen konnte, als ein erfüllter Mensch gelten. – Die Worte, die den Anfang des Buches schmücken, stellen uns Konfuzius als Mensch des Lernens klar vor Augen: Der Meister sprach: »Lernen und das Gelernte zu üben, ist das nicht ein Glück? Freunde zu haben, die aus der Ferne [zu Besuch] kommen, ist das nicht eine Freude? Den Menschen unbekannt zu bleiben ohne Groll, bedeutet das nicht edel zu sein?« (1.1)

Viele weitere Worte des Konfuzius zeugen davon, wie sehr er das Lernen schätzte: »Wer [das richtige Leben] praktiziert und Kraft erübrigt, der sollte diese auf das Studium der Schriften verwenden« (1.6). »Lernen befreit« (1.8). Noch mehr als das Lernen selbst würdigte Konfuzius die Vorliebe für das Lernen (1.14), weswegen er große Achtung vor seinem Schüler Yán Huí hatte (6.3). Er lehrte außerdem, dass »lernen ohne zu denken vergebens und denken ohne zu lernen gefährlich« sei (2.15), und

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hielt dazu an, unentwegt das eigene Lernen zu verfeinern (»zu schneiden und zu feilen, zu schnitzen und zu polieren«; 1.15).

3. Gemeinsames Lernen und gemeinsames Leben Dieses Bewusstsein der Bedeutung des Lernens übersetzte sich direkt in die Hingabe an das Unterrichten seiner Schüler. Konfuzius sagt von sich selbst: Der Meister sprach: »Ich exponiere [die Alten], ich schaffe nicht. Ich vertraue [den Alten] und liebe das Altertum. Im Geheimen vergleiche ich mich mit dem ehrwürdigen Péng.« (7.1)6

Die Menschen neigen zu dem Stolz, sich für Schöpfer oder Pioniere zu halten. Diese Tendenz sehen wir bei Konfuzius allerdings nicht. Er konnte eine durchwegs bescheidene Haltung einnehmen, weil die Vorväter in einer reichen Überlieferung die Grundlagen des Lebens und Denkens bereits hinterlassen hatten. – In den folgenden Worten ist Konfuzius' Leitbild des Lehrers idealtypisch formuliert: Der Meister sprach: »Wer das Altertum reiflich studiert, wird Neues erkennen. Ein solcher kann als Lehrer gelten.« (2.11)

Wenn man eine Vorliebe für die Kultur des Altertums hat, bedeutet das nicht, dass man die Klassik unkritisch übernimmt. Nur wenn die Essenz der durch die Alten hinterlassenen klassischen Kultur begriffen wird, ist es möglich, ihren Wert in der Gegenwart lebendig werden zu lassen. Konfuzius ließ höchste Vorsicht walten, nicht in die Fehler seines Zeitalters zu verfallen. Er war ein Erzieher und Praktiker, der immer nach einer den Menschen seiner Zeit angemessenen »Neuigkeit« gesucht hat. – Konfuzius' suchende Grundeinstellung kommt in folgendem Ausspruch zum Ausdruck: Der Meister sprach: »Schweigen und Verstehen. Lernen ohne Abnei­ gung. Belehren ohne Ermüdung. Welche [Schwierigkeit] sollte mir das machen?« (7.2)

6 Legendärer Hofgelehrter der Shāng-Dynastie (Hauptstadt Yīn, ca. 17 Jh. bis 11 Jh.). — Anm. R.S.

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Konfuzius war von Grund auf Pädagoge. Sein Gemüt als Pädagoge fasst er wie folgt zusammen: Der Meister sprach: »Die Tugend nicht üben. Lernen ohne [das Gelernte] zu prüfen. Von der Gerechtigkeit hören, aber sie nicht praktizieren. Fehler zu haben, aber nicht im Stande sein sie zu verbessern. Das sind die Dinge, die mir Kummer machen.« (7.3)

Bevor Konfuzius zum Lehrer wurde, war er selbst ein Mensch, der ernsthaft nach dem ihm selbst angemessenen Weg suchte, um diesen im praktischen Leben umzusetzen. Warum nahm er seine eigene Suche der­ art ernst? Die Umstände, unter denen seine Schüler zu ihm kamen, um den richtigen Weg zu lernen, waren tatsächlich sehr vielfältig. Veranlasst durch die Verschiedenartigkeit seiner Schüler verwendete er zahlreiche Ausdrücke, um Menschen und ihr Suchen zu typologisieren: überdurch­ schnittliche und unterdurchschnittliche, edle und geringe, kluge und dumme, impulsive und vorsichtige. Es ist weiterhin charakteristisch für die Gespräche, dass häufig historische Figuren für die vergleichende Bewertung herangezogen werden. In diesem Zusammenhang taucht ebenfalls eine Fülle kritischer Begriffe auf. Dass man bei all diesen Urteilen trotzdem nichts Negatives spürt, liegt wohl daran, dass es die ihren Meister verehrenden Schüler waren, welche die Aufzeichnungen hinterlassen haben. Es gibt auch Dialoge, in denen mehrere Schüler miteinander vergli­ chen werden, was für die Zuhörenden geradezu beklemmend gewesen sein muss. Betrachten wir folgendes Beispiel: Der Meister sprach zu Zǐgòng: »Du oder [Yán] Huí, wer von euch beiden ist vortrefflicher?« Dieser erwiderte: »Wie könnte jemand wie ich hoffen [Yán] Huí [gleichzukommen]? Wenn [Yán] Huí von einem [Sachverhalt] hört, erkennt er zehn weitere. Wenn ich dagegen einen [Sachverhalt] höre, so weiß ich zwei.« Darauf sagte der Meister: »Du kommst ihm nicht gleich. Wir beide kommen ihm nicht gleich.« (5.9)

Hier fragt also der Lehrer den Betreffenden direkt: »Wen hältst Du für tugendhafter, Dich selbst oder Yán Huí?« Woraufhin Konfuzius und Zǐgòng beide den nicht anwesenden Yán Huí in den höchsten Tönen loben. Ein ungewöhnlicher Wortwechsel. Derjenige, der diesen Dialog aufgezeichnet hat, war wahrscheinlich ein mit Zǐgòng vertrauter weiterer Zuhörer. Man kann dies vermuten, weil er Zǐgòng, der sich bewusst war, Yán Huí keinesfalls gleichzukommen, in den Mund legt, er könne von einem Sachverhalt auf einen anderen schließen. Auch wenn Zǐgòng die Bescheidenheit hat, Yán Huí den Vorrang einzuräumen, war er doch

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in seiner Art eine Person mit Selbstvertrauen. Wir haben es hier mit einem der wirklich interessanten Dialoge zu tun. Konfuzius wusste wohl um Zǐgòngs Charakter und Fähigkeiten und hat ihm deshalb diese Frage gestellt. Zǐgòng stach unter Konfuzius' Schülern durch seine hohe Intelligenz hervor. Er war ein Praktiker mit großem kaufmännischem Talent, der auch Expertenwissen besaß. Eine Zeitlang half er der Schule des Konfu­ zius in finanzieller und administrativer Hinsicht. Nach Konfuzius' Tod baute er sich neben dessen Grab eine Hütte, um dort zu trauern. Er war ein aufrichtiger Schüler. Yán Huí andererseits war der brillanteste unter Konfuzius' Schülern. Er brachte die Fähigkeit mit, Konfuzius' Lehre lauter in sich aufzunehmen und über den Wortsinn hinaus zu begreifen. Seine reiche situative Auffassungsgabe setzte er ein, um den Worten seines Lehrers Leben zu verleihen. Es ist überliefert, dass Konfuzius, als Yán Huí mit zweiunddreißig Jahren starb, entmutigt und in tiefer Trauer bittere Tränen weinte. Yán Huí hatte unter den Schülern des Konfuzius also eine Sonderstellung. Im Vergleich mit Yán Huí zu fragen: »Wen hältst du für hervorragender?«, war auch etwas verschmitzt von Konfuzius. Die Frequenz, mit der Zǐgòng in den Gesprächen auftritt, ist der Yán Huís ebenbürtig. Yán Huí ist die positive Kontrastfigur unter den Schülern. Der obige Dialog mag sich erst nach Yán Huís Tod zugetragen haben. In diesem Fall hätte Konfuzius Zǐgòng unter Bezug auf den bereits verstorbenen Yán Huí befragt. Die Gespräche sind ohne Frage in der Hauptsache das Zeugnis des Denkens und Handelns des Menschen Konfuzius. Aber wenn man genau liest und jeden einzelnen Schüler in den Fokus nimmt, ist es auch interessant, wie das Bild der Schule des Konfuzius Kontur gewinnt. Generell wird Konfuzius' Theorie des Lernens und der Bildung von seinen Schülern in den Gesprächen ohne Beiwerk berichtet. In manchen Dialogen steht gar nichts über den Fragenden oder Zuhörer geschrieben. In diesen Fällen scheint es, als würde Konfuzius einen Monolog führen. Wahrscheinlich aber gab es jemanden, der eine Frage gestellt hat. Und weil sich einem der anwesenden Schüler die Antwort ins Gedächtnis eingeprägt hat, schrieb dieser sie vermutlich auf. Jedenfalls kam jeder Einzelne der Schüler als Individuum zu Konfu­ zius' Schule. Ob sich die folgenden Worte auf diesen Umstand beziehen, ist nicht sicher, aber die Sentenz hat einen tiefen Sinn: Der Meister sprach: »Die Tugend vereinsamt nicht. Sie braucht die Nähe [anderer Menschen].« (4.25)

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Da die Gemeinschaft eines Wegbereiters notwendig nur eine Rand­ gruppe ist, neigt sie zur Isolation. Es ist deshalb bezeichnend, dass die Gespräche mit den Worten beginnen: »Freunde zu haben, die aus der Ferne [zu Besuch] kommen, ist das nicht eine Freude!« (1.1) Die durch einen Einzelnen begonnene Erweckungsbewegung bleibt eine Minderheit, auch wenn sie einen weiteren Sympathisanten dazugewinnt. Unter solchen Umständen ist es wichtig, sich nicht zu isolieren und Ver­ bindungen nicht abzubrechen. Dass der zitierte Satz diese Überzeugung ausspricht, ist die gewöhnliche Interpretation. Eine gültige Interpreta­ tion. Aber die folgende Lesart ist ebenfalls möglich: Der tugendhafte [Mensch] lässt [seinen Nächsten] nicht vereinsamen, sondern wird ihm ein Gefährte. (4.25)

Eine reizvolle Alternative. In jedem Fall liegt dem Spruch die Behauptung zugrunde, dass das humane Leben eines in Gemeinschaft ist. Anders gewendet bedeutet dies, dass nicht etwa eine Lebensform vertreten wird, die der Gesellschaft den Rücken zuwendet, weil es genügt, als Einzelner glücklich zu werden. Stellvertretend für diese Auffassung ist der Dialog 18.6. Da es ein langes Gespräch ist, werde ich erst die Umstände der Kon­ versation schildern und dann Konfuzius' abschließende Einsicht zitieren. Konfuzius und sein Gefolge bedauerten die Abwege, auf denen sich die Welt befand, weshalb sie durch die Fürstentümer und König­ reiche wanderten, um in Diensten eines verständnisvollen Regenten irgendwie den Lauf der Welt zu ändern. Unterwegs kam es zu folgender Begebenheit: Zwei Einsiedler genannt Cháng Jǔ [Langsumpf ] und Jié Nì [Hochwasser] arbeiteten gerade auf dem Acker, als Konfuzius' Schüler Zǐlù sie nach einer Furt fragte. Die beiden Eremiten antworteten, indem sie sich über Konfuzius und sein Gefolge lustig machten: ›Lebt lieber und lasst den Dingen ihren Lauf ! Das ist erfreulicher als zu versuchen die Welt zu verbessern.‹ Als Zǐlù nach seiner Rückkehr Konfuzius davon berichtete, sprach dieser verdrießlich: Mit Vögel und Getier kann man nicht in Gemeinschaft leben. Wem sollte ich Gefährte sein, wenn nicht den Menschen? Existierte der [richtige] Weg [bereits] auf Erden, würde Qiū [=Konfuzius] keinen Einfluss neh­ men. (18.6)

Konfuzius hat die Versuchung eines Eremitendaseins klar zurückgewie­ sen. Wäre es ihm möglich gewesen, als Einsiedler selbstgenügsam zu leben, so wäre dies bequemer. Dessen war sich Konfuzius wohl bewusst. Aber er konnte über die Menschen nicht hinwegsehen, die vor seinen Augen im Unglück wandelten. Konfuzius war tatsächlich ein »mitfüh­

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lender« (shù) Mensch. Er war ein Erwachter, der von der Berufung erfüllt war, sich in der Welt des Profanen aufzureiben, um eine ideale Gesellschaft zu verwirklichen. Ich will einen weiteren Dialog betrachten, der in diesem Zusam­ menhang signifikant ist. Um was zu lernen, sind überhaupt Schüler zu Konfuzius gekommen? Einfach gesagt wollten sie, dass Konfuzius ihnen den Weg (d.h. die richtige Art zu leben und zu denken) weist. Tatsächlich suchte auch der Mensch Konfuzius den Weg in eigener Sache. Er sagte: »Wenn ich morgens vom [richtigen] Weg erführe, möchte ich abends wohl sterben« (4.8). Die Suche nach dem Weg war Konfuzius' dringlichs­ tes Anliegen. Dass er in dieser Haltung als Suchender konsequent war, bezeugt der folgende Dialog mit Zēngzǐ: Der Meister sprach: »Cān [=Zēngzǐ], mein Weg ist geradlinig, oder?« Zēngzǐ bejahte dies und der Meister verließ den Raum. Ein Schüler fragte: »Was meinte er?« Zēngzǐ antwortete: »Der Weg des ehrwürdigen Meisters besteht in nichts als Aufrichtigkeit [zhōng] und Mitgefühl [shù].« (4.15)

Für Konfuzius bedeutete Lernen immer auch zu fragen (3.15). Der Ertrag des Fragens und Lernens ist zunächst das Wissen. Im Wissen ist die Vergewisserung des Nicht-Wissens bereits impliziert. Dementsprechend erklärte Konfuzius seinem geliebten Schüler Zǐlù, dass auch das Wissen des Nicht-Wissens wichtig ist. Der Meister sprach: »Yóu [=Zǐlù], soll ich dir lehren, was Wissen ist? Wissen ist, sich des Wissens sowie des Nicht-Wissens als solches zu vergewissern.« (2.17)

Der Hochmut, zu meinen, bereits alles zu wissen, ist ein Laster. Erst aus der Selbsterkenntnis der eigenen Existenz als eine des Unwissens oder der Unkenntnis entspringt das Bedürfnis, in Bescheidenheit zu lernen. Dieselbe Selbsterkenntnis ist auch der Anlass, die eigenen Einsichten immer wieder zu hinterfragen. Ein Mensch, der das Lernen liebt, ist jemand, der auch seine bereits erworbenen Kenntnisse relativiert und bescheiden weiter lernt.

4. Vielerlei Schüler und vielerlei Lehren Aber Wissen ist kein Selbstzweck. Alle Weisheit wird erst in Absicht auf das gute Leben für das Individuum unverzichtbar. Doch ist es auch trostlos, sich widerwillig zum Streben nach Einsicht zu zwingen. Um

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die richtige Lebensform und das richtige Denken zu verwirklichen, ist es in jeder Hinsicht zu bevorzugen, den Weg des guten Lebens von sich aus gerne zu lernen und diesen Weg freudvoll zu gehen. Dies kommt in folgender Sentenz zum Ausdruck: Der Meister sprach: »Derjenige [Mensch], der [den Weg] kennt, kommt nicht demjenigen gleich, der [dem Weg] zugeneigt ist. Derjenige, der [dem Weg] zugeneigt ist, kommt nicht demjenigen gleich, der sich [am Weg] erfreut.« (6.20)

Es ist aufgrund dieser Überzeugung, dass Konfuzius Yán Huí als den Menschen schätzte, der das Lernen am meisten liebte. Aber welche Lebensweise ist nun die freudvolle? Konfuzius hat die Essenz dieser Lebensform ebenfalls in einer Bewertung des Yán Huí offenbart: Der Meister sprach: »Wie weise war doch [Yán] Huí! Von einer Schale Reis und einem Schöpfer Wasser lebte er in einer Armengasse. Andere Menschen ertragen solche Not nicht. [Yán] Huí aber ließ sich seine Lebensfreude nicht nehmen. Wie weise er doch war.« (6.11)

Das Bekenntnis zu Anfang der Gespräche (»Freunde zu haben, die aus der Ferne [zu Besuch] kommen, ist das nicht eine Freude!«; 1.1) deutet an, dass es zwar auch alleine freudvoll ist, den »Weg« zu leben, aber mit Freunden doch um vieles freudvoller. Sich des Weges zu freuen, bedeutet das dem Weg gemäße Leben zum Alltag werden zu lassen. Die Mühen des alltäglichen Lebens geben dann keinen Anlass zur Sorge mehr. Ein Leben, das einfache Mahlzeiten bereithält, ist dann schon ausreichend. Das bedeutet, dass in der dem rechten Weg gemäßen Lebensform gerade das freudvolle Leben besteht. Konfuzius, der selbst ein solches Leben führte, hat es auf Yán Huí projiziert und auf diese Weise zum Ausdruck gebracht. Vordenker oder Wegbereiter sind immer in der Minderheit und werden von Schwierigkeiten verfolgt. Gleichwohl haben der Meister und seine Schüler sich am »Weg des guten Lebens« erfreut. Diese Anschauung des Konfuzius, der ein Leben unter Verfolgungen durch die Freude am rechten Weg bewältigt hat, ist die eigentlich konfuzianische. – Aber es gab unter seinen Schülern auch welche wie Rǎn Qiú: Rǎn Qiú sagte: »Nicht dass mich des Meisters Weg nicht erbaut. Allein ich habe nicht genug Kraft [ihm zu folgen].« Der Meister sprach: »Menschen, denen es an Kraft mangelt, verlassen den Weg auf halber Strecke. Du aber beschränkst dich schon jetzt.« (6.12)

In den Gesprächen treten viele verschiedene Schüler auf. Wie bereits erwähnt, werden sie auf vielfache Weise als edel, gering, human, oppor­

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tunistisch, maßvoll, impulsiv oder klug charakterisiert. Konfuzius' Beur­ teilungen seiner Schüler sind hochinteressant, weil sie sein eigenes Menschenverständnis beinhalten. Sie sind ein Grund der Faszination, welche die Leser beim Studieren der Gespräche nicht ermüden lässt. Der Absatz, den ich als nächstes vorstelle, enthält die Beurteilung einer Gruppe von insgesamt zehn Schülern. Sie werden gewöhnlich die »Zehn Verständigen der Schule des Konfuzius« genannt; was so viel bedeutet, wie dass es sich um zehn herausragende Schüler handelt. Tugendhaft waren Yán Yuān [=Yán Huí], Mǐn Zǐqiān, Rǎn Bóniú und Zhònggōng; rhetorisch begabt waren Zǎi Wǒ und Zǐgòng; politisch talentiert waren Rǎn Yǒu [=Rǎn Qiú] und Jìlù [=Zǐlù]; literarisch begabt waren Zǐxià und Zǐyóu. (11.3)

In den Gesprächen treten auch Menschen auf, die vor dem Lehrer verstorben sind. Ein Beispiel ist der auch zu den Zehn Verständigen zählende Zǐlù. Er wurde von Konfuzius wegen seines spontanen Tempe­ raments und seines impulsiven Handelns gescholten. Aber er war auch ein Dickschädel, der sich ehrlich freute, wenn er von Konfuzius gelobt wurde, weil er sich wie nur wenige in dessen Persönlichkeit verliebt hatte. Zǐlù starb, als er in politische Kämpfe verwickelt wurde. Auch gab es einen Schüler, der an einer schweren Krankheit litt. Hierbei handelt es sich um den wegen seines tugendhaften Verhaltens gelobten Rǎn Bóniú. Folgende Worte von Konfuzius' Krankenbesuch sind bezeugt: [Rǎn] Bóniú war krank. Konfuzius sprach bei ihm vor. Er ergriff durch den Spalt die Hand [des Kranken] und sprach: »Es tötet ihn. Es ist Schicksal. Solch ein [vortrefflicher] Mensch und hat solch eine Krankheit! Solch ein [vortrefflicher] Mensch und hat solch eine Krankheit!« (6.10)

Ob Schüler oder nur Zuhörer, die Menschen, die sich in der Schule des Konfuzius versammelten, waren von vielerlei Art. Eine Besonderheit bestand allerdings darin, dass seine Schüler fast ausschließlich zweitoder drittgeborene Männer waren. Im Gegensatz zu den Erstgeborenen, denen eine Zukunft als Nachfolger des Familienoberhaupts bestimmt war, hatten die nachgeborenen Söhne keine andere Wahl, als selbststän­ dig zu werden. Ein Grund, dass man sich in der Schule des Konfuzius einfand, war deshalb auch der Erwerb der notwendigen Fähigkeiten für das Nachgehen eines Berufes. Das folgende Gespräch zeugt von diesem Umstand:

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Zǐcháng lernte zwecks eines Einkommens. Der Meister sagte: »Höre viel zu, verwirf das Zweifelhafte und spreche über das Andere sorgsam. So werden dir wenig Fehler unterlaufen. Betrachte vieles, verwirf das Gefährliche und setze das Verbliebene sorgsam in die Tat um. So wirst du wenig bereuen. Reden ohne viele Fehler und Handeln ohne viel Reue: darin besteht [der Weg zu einem] Einkommen.« (2.18)

Diese Worte sind abgestimmt auf den Beweggrund, mit dem einige Schüler in der Schule des Konfuzius lernten. Da sie nachgeborene Söhne waren, wollten sie Fähigkeiten erwerben, die für das Überleben in der Gesellschaft notwendig waren. Der Rat, mit dem Konfuzius diesem Anliegen entsprach, ist höchst interessant: ›Sammle viele Informatio­ nen und verwirf das Unglaubwürdige. Betrachte viele Möglichkeiten und verwirf die riskanten.‹ Hinsichtlich der Überlebenskunst treffen diese Maximen den Kern der Sache. Aber ihre Bedeutung ist nicht auf diese Dimension beschränkt. Es sind goldene Devisen gerade für edle Menschen, die aufrichtig danach streben, den richtigen Weg und das gute Leben zu lernen. Konfuzius' Rat sei insbesondere in der heutigen Informationsgesellschaft zur gründlichen Überlegung empfohlen. Der Begriff des Weges umfasst unsere Fragen nach dem richtigen Denken und dem gelungenen Leben. In dem Gespräch mit den Eremiten haben wir gesehen, dass es Konfuzius unmöglich war, in einem rein privaten Leben den Weg in Vollendung zu erkennen, ihn zu mögen und sich an ihm zu erfreuen. Um eine Gesellschaft zu verwirklichen, in der alle glücklich leben können, muss sich jeder Einzelne seiner Rolle als Mitglied der Gesellschaft bewusst werden. Der Inhalt des Lernens ist der Weg. Aber was ist der Inhalt des Weges? Leben und Denken als Individuum implizieren von Beginn an, als Mitglied der Gesellschaft seine jeweilige Rolle zu erfüllen.7 Konfuzius' Selbstverständnis als ehrenhafter Staatsmann beinhaltete unter anderem eine den Regierten zugewandte Haltung und die Prinzipien der konkre­ ten Staatsgeschäfte. Mit anderen Worten: Konfuzius sah seine Rolle darin, als Bürger human zu leben und gleichzeitig seine Aufgabe als Staatsmann zu erfüllen. Seine Politik der Humanität bedeutete, sich im Betreiben einer von Menschenliebe erfüllten Politik zu verausgaben.

7 Zur konfuzianischen Rollenethik siehe meine Ausführungen im Kapitel »Antike Rollenethik«. — Anm. R. S.

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Die Welt der konfuzianischen Gespräche

5. Worüber Konfuzius schwieg Die Interessen, derentwegen Schüler an den Toren des Konfuzius vor­ sprachen, waren vielfältig. Konfuzius antwortete seinen Schülern meist im Sinn der ihm vorgetragenen Fragen. Es gab aber auch Themen, hinsichtlich der er den Interessen seiner Schüler nicht entgegenkam. Zum Beispiel hatte Zǐgòng, der auf der Höhe seiner Zeit lebte und gesellschaftliche Entwicklungen vorhersah, ein abweichendes Problem­ bewusstsein. Ihn schmerzte es, dass das Erlernen der Humanität, wie Konfuzius es lehrte, zwar situativ eine wirksame Lebenskunst war, aber der sich ausbreitenden Schriftkultur nicht gerecht wurde. Es war schwer für ihn, sein inniges Bedürfnis zu unterdrücken, einen Schritt weiter auch etwas über universelle Prinzipen zu erfahren, die dem menschlichen Wesen, der Gesellschaft und der Natur zugrunde liegen. Zǐgòng war zwar voll der Dankbarkeit für die Gunst seines Lehrers, aber sein Willen, in einer turbulenten Gesellschaft den richtigen Weg zu gehen, war auch um ein Vielfaches stärker als der seiner Mitmenschen. Das zweifellos unter Tränen gemachte Geständnis seiner Enttäuschung nach dem Tod des Konfuzius lautet wie folgt: Zǐgòng sagte: »Über Kultur und Normen des ehrwürdigen Meisters konnte man etwas hören. Worte des ehrwürdigen Meisters über das Wesen des Menschen und den Weg des Himmels hat man nicht gehört.« (5.13)

Zǐgòng, der den gesellschaftlichen Wandel seiner Zeit sensibel zur Kenntnis nahm, wünschte von seinem Lehrer Konfuzius zu erfahren, was das Wesen des Menschen sei und wie die Bewegungsprinzipen von Gesellschaft und Natur, sofern es sie gäbe, aufzufassen sind. Der Meister konnte diesem Wunsch seines ihn ehrfürchtig liebenden Schülers nicht entsprechen. Das war gewiss bitter. Über die von Zǐgòng angesprochenen Fragen entfachte während der Zeit des Menzius (ca. 372–289 v. Chr.) die Debatte über die Natur des menschlichen Wesens. Menzius entwickelte in der Auseinandersetzung mit Gàozǐ seine Theorie der Gutartigkeit des Menschen. Eine Generation später präsentierte Xúnzǐ seine Theorie der Schlechtigkeit der menschlichen Natur.8 Menzius' Standpunkt wurde im 12. Jahrhundert von Zhū Xī (1130–1200) systematisiert und danach zum 8 Dies gibt allerdings nur die innerkonfuzianischen Differenzen wieder. Xúnzǐ war weit davon entfernt, ein negatives oder pessimistisches Menschenbild zu vertreten. Vielmehr erkennt man in seinen Ausführungen eine Kant nahestehende Skepsis gegenüber den Neigungen, die jeder Mensch gleichermaßen zu kultivieren hat (Kap. 23). Einen echten Gegensatz zu Menzius vertraten dagegen Legalisten wie Hán Fēi

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Yoshida Kōhei

vorherrschenden Menschenbild in den durch die chinesische Schriftkul­ tur geprägten Zivilisationen Ostasiens. Das letzte verbleibende Problem ist der Tod. Konfuzius legte Wert auf den Sinn für Balance zwischen dem, was gewusst, und dem, was nicht gewusst werden kann. Wie wir gesehen haben, sagte er zu Zǐlù, dass gerade im Wissen des Nicht-Wissens das Wissen bestehe. Manche Schüler wagten es dennoch, ihrem Meister Fragen zu stellen, die das Nicht-Erkannte oder Nicht-Erkennbare berühren. Konfuzius hat diese Fragen nicht positiv beantwortet. Er sprach nicht über Geheimnisvolles (7.21) und sagte: »Wenn man die Seelen der Toten respektiert, hält man sie fern. Das kann man wissen« (6.22). Als Dialog, der vom Sterbenlernen handelt, ist das folgende Gespräch mit Zǐlù stellvertretend: Jìlù [= Zǐlù] fragte, wie den Geistern zu dienen sei. Der Meister sprach: »Ich kann noch nicht den Menschen dienen. Wie sollte ich den Geistern dienen können?« Couragiert fragte [Zǐlù] nach dem Tod. [Der Meister] sprach: »Ich kenne das Leben noch nicht. Wie sollte ich den Tod kennen?« (11.12)

Konfuzius war ein Mensch, der bis zuletzt nicht aufhörte, das Wissen und dessen Anwendung im Leben des Individuums zu studieren. Aber selbst wenn man immer fortfährt zu lernen, das menschliche Wissen hat doch seine Grenzen. Konfuzius wies diese Grenzen in Bescheidenheit aus und machte sein Unwissen derjenigen Welt, die wir nicht oder noch nicht ken­ nen, unmissverständlich klar. In der schulischen Tradition des Konfuzius wird nicht über die Welt nach dem Tod gesprochen. Die Zeremonien und Rituale, durch welche die hinterbliebenen Familien die Seelen ihrer verstorbenen Vorfahren ehren, werden zwar im Konfuzianismus bis ins Feinste erwogen und praktiziert. Aber über das Jenseits, welches uns nach dem Tod erwartet, wird geschwiegen. Während Buddhisten viel über die Welt nach dem Tod schwadronieren, halten Konfuzianer sich hinsichtlich der nicht-erkennbaren Welt am Ende schweigsam zurück. Sie folgen damit dem Ratschluss des Konfuzius. Konfuzius war ein treff­ licher Wegbereiter, indem er bis zum Schluss nur das Leben im Diesseits thematisierte, um es gemeinsam mit seinen Schülern zu erlernen. Ein Lernender ist jemand, der im Leben stehend lernt. Im 12. Jahrhundert wurde Konfuzius zum allgemeinen Vorbild des Lernens und der Bildung. Die wichtigste Rolle in dieser Entwicklung hatte Zhū Xī, der Begründer des Neokonfuzianismus. Zhū Xī nannte Konfuzius einen Weisen. Ein Weiser ist ein Vorbild im Lernen. Wenn Konfuzius von (281–233), die in der Politik ganz auf das Strafrecht setzten. Wong Y. »Han Feizi« in Encyclopedia of Chinese Philosophy, hrsg. von S. A. CUA (2003). — Anm. R.S.

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einem Schüler auf einen eigenen Fehler hingewiesen wurde, bedankte er sich von Herzen und verbesserte seinen Fehler (vgl. 7.31). Ein Weiser ist kein vollkommener Mensch. Sondern ein Mensch, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Einsicht und Leben durch Versuch und Irrtum zu erlernen. Die Nachwelt hat Konfuzius zum Muster und Maß der Lebensführung gemacht, weshalb man ihn auch den Lehrer zahlloser Generationen nennt.

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SOKRATES

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Volker Gerhardt

Das epochale Exempel des Sokrates

1. Der welthistorische Auftritt des Sokrates Die ersten beiden Jahrhunderte der europäischen Philosophie werden heute immer noch gern als vorsokratisch bezeichnet. Anders als man erwarten könnte, findet sich für die nachfolgende Epoche keine Bezeich­ nung, die einen Bezug zu Sokrates herstellt. Man hätte sokratisch oder nachsokratisch erwarten können. Doch dazu ist es nicht gekommen. Für die Zeit nach Sokrates spricht man nur von antiker Philosophie, auf die dann in der Regel die mittelalterliche und, in der Neuzeit, die moderne Philosophie folgt. Mir wäre es lieber, wenn die ganze auf Sokrates folgende Philosophie als nachsokratisch bezeichnet worden wäre. Denn Sokrates hat den entscheidenden Anstoß für alles gegeben, was nach ihm den Namen der Philosophie verdient. Noch besser wäre es gewesen, wenn alles Philosophieren nach Sokrates sich das Attribut verdient hätte, einfach sokratisch genannt zu werden. Doch damit hätte man der Philosophie als Ganzer gewiss zu viel der Ehre angetan. Denn es ist leider nicht so, dass alles Philosophieren in den nahezu zwei Jahrtausenden nach Sokrates den Ansprüchen genügt, für die Sokrates ein Beispiel gegeben hat. Ein Nachteil der Unterscheidung zwischen vor- und nachsokrati­ scher Philosophie wäre auch gewesen, dass wir nur zwei Jahrhunderte vor und nahezu zwei Jahrtausende nach Sokrates hinter uns haben. Doch das hätte ich nicht als störend empfunden. Denn es ist ohnehin problematisch, die Epoche des Philosophierens vor Sokrates auf zwei Jahrhunderte zu beschränken. Denn die noch davor, sagen wir: vor 700 v. Chr. liegende Zeit ist philosophisch kein leerer Raum! Es genügt nämlich nicht, sich nur auf Anaxagoras und Demokrit, auf Heraklit, Xenophanes, Parmenides, Anaximander oder Thales zu beschränken, von denen selbst auch nur Bruchstücke aus den Zitaten in Texten späterer Autoren bekannt sind. Denn wenn wir die von ihnen überlieferten Textstücke als Zeugnisse des Philosophierens anerkennen, wäre es nur konsequent, wenn wir

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das auch bereits mit weitreichen Erkenntnis- und Erklärungsabsichten verbundene Denken in älteren Zeiten als Philosophieren anzuerkennen bereit wären. Wir wissen inzwischen, dass in den beiden vorangehenden Jahr­ tausenden in den ägyptischen, babylonischen und persischen Kulturen Weisheitsbücher, große Epen und religiöse Schöpfungsmythen entstan­ den sind. Aus Indien und China hat man ebenfalls Kenntnis von Bemühungen um Deutung, die sich auf die Herkunft aller Dinge, das Wirken aller menschlichen und göttlichen Kräfte sowie auf das Verhältnis von Leben und Tod beziehen. Die oft auch hier nur in Bruchstücken überlieferten Einsichten des vor-vor-sokratischen Philosophierens sind in Anlage und Reichweite mit den Sprüchen der vorsokratischen Denker vergleichbar. Also wäre es durchaus zu rechtfertigen, den historischen Vorlauf der vorsokratischen Denker wesentlich zu erweitern. Und damit könnten wir, wenn wir denn wollen, von einer Äquivalenz zwischen den Zeiträumen für die vorsokratische und die nachsokratische Philoso­ phie sprechen. Es liegt mir fern, aus dieser Erwägung eine verbindliche Korrektur der Terminologie zur geschichtlichen Klassifikation der philosophischen Epochen abzuleiten. Es genügt, mit dem Hinweis auf den größeren kulturhistorischen Zeithorizont der Philosophie ein weiteres Indiz für die Zentralstellung des Sokrates in Rahmen der Genealogie des philoso­ phischen Denkens zu gewinnen. Sein Auftritt führt zu einer Wende im philosophischen Denken, die nicht nur für die Entwicklung der griechi­ schen Wissenschaften, sondern überhaupt für die Kulturgeschichte der Menschheit von eminenter Bedeutung ist. Die singuläre Bedeutung des Sokrates liegt vor allem darin, dass er allem, wonach er fragt und worauf er zu antworten sucht, eine existenzielle Bedeutung gibt. Folgen wir den Schriften seines Schülers Platon, dann gibt es wenige Themen, mit denen er sich nicht befasst hat. Aber nicht nur die Vielfalt seiner Interessen ist bemerkenswert. Ein­ zigartig sind die innovativen und durchgängig zur Geltung gebrachten begrifflichen Standards, die unerhörte persönliche Konsequenz und die in allen moralischen, politischen, ästhetischen und theologischen Fragen durchdringende Mitmenschlichkeit. Und völlig neu ist die gleichermaßen individuelle und gleichwohl alle Menschen betreffende Anteilnahme, die es Sokrates erlaubt, ohne Selbstwiderspruch ironisch zu sein. Es wäre schon zu wenig, Sokrates im Vergleich mit den »Vorsokra­ tikern« als einen neuen Typus von Philosophen zu bezeichnen. Genau genommen ist er der erste historisch datierbare Mensch, der uns in

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leibhaftiger Statur, mit vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Bezügen vor Augen steht – im Erleben und Erkennen, in Glauben und Wissen, in der Einheit der Menschheit – auch zwischen den Geschlech­ tern – sowie im Streben nach dem Erfassen der göttlichen Einheit des Ganzen. Und schließlich ist er der erste, der vor einem Kreis von Anhän­ gern durch ein Todesurteil gezwungen und dennoch freiwillig und, mit seinem Einverständnis, auch öffentlich gestorben ist. Durch den Bericht Platons haben wir noch heute eine Darstellung von seinem exemplari­ schen Sterben, die auch im Rückblick seiner einzigartigen philosophi­ schen Existenz eine Ausnahme ist, die dennoch etwas Verbindliches für jeden Menschen hat, der selbst einen Sinn für sein eigenes Dasein hat. Sokrates führt uns vor, was es heißt, dass die Philosophie zum Menschen gehört und was sie damit jedem Menschen bedeuten kann. Mit ihm hat die Philosophie ihren ersten durch und durch humanen Auftritt im geschichtlichen Leben der Menschen.

2. Die Moderne beginnt mit Sokrates Ich hatte das Glück, dass mir Sokrates schon nahekam, als ich noch als Schüler auf der Suche nach philosophischen Anregungen war. Philo­ sophieunterricht gab es nicht auf dem mathematisch-naturwissenschaft­ lichen Gymnasium der Kleinstadt, in der ich aufwuchs, und so hatte ich, von einem humanistisch gebildeten Lehrer beraten, nach geeigneter Lektüre zu suchen. Er nannte eine Reihe zeitgenössischer Autoren, zu denen auch Karl Jaspers gehörte. Dessen Darstellung im ersten Band der Großen Philosophen machte mich nicht nur auf Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus, sondern auch auf Platon aufmerksam. Und dank des Zufalls, dass es Ende der fünfziger Jahre in einer preiswerten Taschen­ buchausgabe alle verfügbaren Werke Platons in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher gab, wurde ich schon in meiner Schulzeit zum Platon-Leser. Ich arbeitete mich an Sokrates ab, dessen Ironie ich nicht nur befremdlich, sondern in vielen Fällen sogar verletzend fand. Ich hätte keine Neigung gehabt, von Sokrates ins Gespräch gezogen zu werden. Erst später lernte ich, das vollkommen anders zu sehen. Im Studium befasste ich mich mit der Kritischen Theorie und mit Hegel, fand aber sehr rasch zu Kant, der noch heute im Zentrum meiner philosophischen Interessen steht. Aber da die Habilitationsordnung die Bedingung enthielt, die zweite Qualifikationsschrift müsse deutlich von

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den Schwerpunkten der Dissertation unterschieden sein, legte ich die schon weitgehend konzipierte Arbeit über Recht und Herrschaft bei Kant zur Seite1 und schrieb meine Habilitationsschrift über den Machtbegriff bei Friedrich Nietzsche.2 Bei Nietzsche irritierte mich sein ambivalentes Verhältnis zu Sokra­ tes. Schon in Nietzsches erster philosophischer Schrift, der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) verstand ich nicht, warum Sokrates alle Schuld am Niedergang der griechischen Tragödie tragen sollte, nur weil er durch sein Beharren auf logischer Begründung und stringenter Argumentation den Griechen die Vorliebe am Theater verdor­ ben haben soll. Noch schwerer fiel es mir, Nietzsches Behauptung zu verstehen, die Menschheit sei in der Zeit nach Sokrates durch die von ihm geförderte maßlose Wissensgier derart von Verzweiflung erfasst worden, dass ihr ein kollektiver »Völkermord aus Mitleid« als einziger Ausweg erschien. Doch hier habe es ausgerechnet der Optimismus, mit dem Sokrates vorher für den Tod der Tragödie gesorgt haben soll, vermocht, den »Pesthauch« der Wissenschaft abzuwehren und so die Fortexistenz der Menschheit zu retten. Das passte zwar nicht zum Realismus der Griechen und Römer; aber Nietzsche blieb einmal mehr auf Sokrates fixiert. So dass er der Verführung nicht widerstehen konnte, sich selbst (und nicht Richard Wagner, wie man meinen könnte) zum kommenden »Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte« zu erklären.3 Die Diagnose überrascht nicht nur durch ihren fragwürdigen historischen Gehalt. Sie ist auch verdächtig, weil Nietzsche hier dem Sokrates eine einst angeblich erbrachte weltgeschichtliche Menschheits­ rettung zuschreibt, die er in der Zukunft selbst zu erbringen suchte. In der Vorrede an Richard Wagner, mit der Nietzsche seine Tragödien-Schrift eröffnet, erklärt er mit denselben Worten, in denen er von Sokrates spricht, was er sich selbst für seine eigene Zukunft vorgenommen hat: Nietzsche möchte selbst als »Wirbel und Wendepunkt« in die »Mitte der deutschen Hoffnungen« einziehen und den Menschen eine neue Zukunft geben.4 1 Zu einem Aufsatz verdichtet: »Recht und Herrschaft. Zur gesellschaftlichen Funktion des Rechts in der Philosophie Kants« (1981), 53–94. 2 V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht [1984] (1996). 3 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 15 [1872], KSA 1:100. 4 F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 15 [1872], KSA 1:24. Die Stelle ist oft so verstanden worden, als sei hier von Richard Wagner die Rede. Aber tatsächlich meint Nietzsche sich selbst.

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Nietzsches maßloses Urteil über Sokrates und über sich selbst wird eher verständlich, wenn wir es im Licht einer drei Jahre später niedergeschriebenen Notiz lesen, die sich erst im Nachlass gefunden hat: »Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.«5 Dieses Geständnis lässt uns augenblicklich verstehen, was im Hintergrund der zahlreichen Aussagen Nietzsches zu Sokrates steht: Er kämpft seinen persönlichen Kampf mit Sokrates – und schwankt dabei von einem Extrem ins andere. Er lobt ihn rückhaltlos, er schmäht und beschimpft ihn maßlos, schreckt auch vor massiven Beleidigungen nicht zurück – und bleibt ihm dennoch in seinem Verlangen nach Erkenntnis, Belehrung und Kritik auf das Engste verbunden. Nietzsche möchte so wirksam sein wie Sokrates, von dem er überzeugt ist, dass er bereits in der Antike eine beispiellose Zeitenwende eingeleitet hat. In der Folge war es die in einem einzigen Satz komprimierte Ambi­ valenz zwischen maßloser Überschätzung und nicht weniger maßloser Verurteilung des Sokrates, die ihn am Ende selbst zerrissen hat. Seine inneren Gegensätze trägt er öffentlich in seinen Schriften aus, und dabei gelingt es ihm, seiner Gegenwart, also der bis heute dominierenden Moderne, einen Spiegel vorzuhalten. Auch von Sokrates kann man sagen, dass er seiner Gegenwart einen Spiegel vorhält und sie auf Probleme aufmerksam macht, die sich mit den tradierten Mitteln nicht mehr lösen lassen. Sokrates schreibt nichts, aber er führt seiner Gesellschaft in zahllosen Debatten öffentlich vor, dass sie derart uneins mit sich selbst nicht weiterleben kann. Dabei wird er tatsächlich den Athenern so sehr zum Ärgernis, dass er vor dem Volksgericht angeklagt und zum Tode verurteilt wird. Sokrates reagiert unerschrocken und selbstbewusst. Er zeigt den Unverstand der fünfhundert Richter auf, weist die Vorwürfe furchtlos und voller Spott zurück, kann aber das rechtmäßig ergangene Urteil nicht abwenden. Es ist rechtmäßig erfolgt; Widerspruch ist im griechischen Rechtssystem nicht vorgesehen. Also nimmt er es mit einer weit in die Zukunft weisenden politischen Begründung hin, lehnt das Angebot einer Flucht aus dem Gefängnis ab und lässt das Todesurteil so an sich vollstrecken, dass der Opfertod wie ein eigenständiger Lebensakt erscheint. Sokrates verhält sich hier so souverän, wie man es von einem modernen Menschen erwarten möchte. Er stirbt öffentlich im Kreis seiner philosophischen Anhänger. So wie er gestorben ist – und wie 5 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1875–1879: Sommer 1875, 6[3], KSA 8:97.

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Platon es im Phaidon berichtet hat – ist vor Sokrates noch nie ein Mensch gestorben. Doch auch Nietzsche, der vorzeitig durch eine Krankheit aus dem Leben gerissen wird, nimmt auf spektakuläre Weise Abschied: Sein philosophisches Ende vor Augen schreibt er einen kleinen und dennoch monumentalen Text mit einem Rückblick auf sein Schaffen, in dem er seiner Nachwelt erklärt, wie er in seinem Lebenswerk verstanden werden will. Als Titel wählt Nietzsche jenen den Christen zur göttlichen Wahr­ sagung gewordenen Ausspruch des römischen Statthalters in Jerusalem, der auf Verlangen der jüdischen Priesterschaft das Todesurteil gegen den Gründer des christlichen Glaubens verhängt hat: Ecce homo. »Sehet, ein Mensch«. So sehr Nietzsche das Christentum verurteilt und bekämpft hat: in seiner kurz zuvor noch abgeschlossenen Abhandlung Der Antichrist lässt er keinen Zweifel daran, dass er den Gründer Jesus von seiner Kritik ausnimmt. Mit dem Zitat Ecce homo sucht Nietzsche somit den Vergleich mit dem Ausnahmemenschen Jesus, der ebenfalls eine Zeitenwende gebracht hat. Es war für Nietzsche von hoher symbolischer Bedeutung, dass die Geburt dieses Religionsgründers zur Stunde null der weltweiten Zeitrechnung geworden ist. Nietzsches Ehrgeiz war es bekanntlich, mit Also sprach Zarathustra die Weltgeschichte in »zwei Hälften« zu teilen. Nun brauchen wir nur noch zu erwähnen, dass Nietzsche biogra­ phische Parallelen zwischen Jesus und Sokrates sieht, um ein letztes Indiz dafür zu haben, dass er stets dabei geblieben ist, sich Sokrates so »nahe« gefühlt zu haben, dass er »fast immer einen Kampf mit ihm kämpfen« musste. Dieses sich von Nietzsche eingestandene existenzielle Ringen ist nur zwischen Zeitgenossen möglich. Das bestätigen auch die großen Themen, um die Nietzsche mit Sokrates ringt. Es geht um die Frage der Selbsterkenntnis, um Moral und Tugend, um die Frage nach der Wahrheit, um das Miteinander von Wissenschaft und Kunst, um das Gottesproblem und den Umgang mit dem Tod. Alle diese Fragen bedrängen Nietzsche und Sokrates durchaus in vergleichbarer Weise. Und um das kenntlich zu machen, spreche ich davon, dass Sokrates ein »moderner Denker« ist, ja, dass schon mit ihm die Moderne beginnt.6

6 V. Gerhardt, »Die Moderne beginnt mit Sokrates«, in Aufklärung als praktische Philosophie (1998). – Vgl. außerdem von V. Gerhardt, »Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz« (2003). Anm. R.S.

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3. Kant als Zeuge Wer Nietzsche weniger schätzt als ich, wird die biographisch getönte Herleitung meines Urteils über die Modernität des Sokrates vermutlich als wenig überzeugend ansehen. Vielleicht kann hier Immanuel Kant nachhelfen, der Sokrates als den »Weisen« schlechthin begreift, von dem der entscheidende Impuls zum Philosophieren ausgegangen ist. Keinen anderen Denker der Antike erwähnt der sich mit Bezügen auf die Geschichte des Denkens stets zurückhaltende Kant so häufig wie Sokrates. Und dies geschieht nie in distanzierender Absicht. Er beruft sich auf ihn, um deutlich zu machen, dass hier jemand einen Weg eröffnet hat, auf dem auch er selbst voranzukommen gedenkt. Am deutlichsten wird das in einer Ankündigung, mit der er Königs­ berger Studenten für seine Vorlesungen im Wintersemester 1765/66 zu interessieren sucht.7 Dabei ist mit Bedacht nicht vom akademischen Fach der »Philosophie« die Rede, sondern vom »Philosophieren«. Schon damit tut Kant einen Schritt aus der Universität heraus und bezieht das Nachdenken ein, in das man auch unabhängig von einer wissenschaft­ lichen Beschäftigung jederzeit verfallen kann. Bemerkenswert ist die Selbstverständlichkeit, mit der Kant dabei für seine Veranstaltungen an der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Weisheit festhält und damit trotz des Aufkommens der von ihm geschätzten empirischen Wis­ senschaften keinen Anlass sieht, einen Epochenbruch zwischen Antike und Moderne anzunehmen. In seiner Ankündigung bereitet der mit gerade einmal vierzig Lebensjahren noch recht junge »Weltweise« Immanuel Kant die »Jüng­ linge«, die seine Vorlesungen hören, darauf vor, »nicht Gedanken, sondern denken [zu] lernen«. Die dazu erforderliche »Lehrart« der »Weltweisheit« lasse sich zwar erst im »Mannesalter« erreichen; doch im wissenschaftlichen Studium sei die Zeit der Schule, in der man gewohnt sei, bloß zu »lernen«, definitiv vorbei. Deshalb könne es auch nicht darum gehen, »Philosophie [zu] lernen«, was ohnehin »unmöglich« sei. Nunmehr komme es darauf an, »philosophiren [zu] lernen«. Und das heiße, dass »ein jeder nach seinem eigenen […] Maßstab« denken könne (306). Es geht also um das »Selbstdenken«, das der zum Vernunftkritiker gewordene Immanuel Kant zwanzig Jahre später von jedem aufgeklärten 7 I. Kant. »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalben­ jahre von 1765/66«, AA 2:303–313.

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Bürger fordert. Dabei tritt ganz beiläufig die Nähe zwischen politischer Eigenständigkeit und der Methode des Philosophierens hervor. Doch in der Nachricht von 1765 konzentriert sich Kant auf das Philosophieren, das in der philosophischen Lehre selbst anzuwenden ist, ganz so, wie es ein Denker in seinem eigenen Vorgehen einzuhalten hat. Lehre und Forschung fallen hier in eins. Das klingt in den Worten Kants so: »Die eigenthümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit ist zetetisch, wie sie einige Alte nannten (von ζητειν)8, d.i. forschend, und wird nur bei schon geübter Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d.i. entschieden« (307). Zur Erläuterung des zetetischen Verfahrens fügt Kant hinzu, dass es eigentlich nur »Veranlassung« zu eigenen Urteilen bieten soll, zu denen jeder im eigenen Denken finden muss. Dabei hat er immer bereit zu sein, auch dagegen zu urteilen (307). Der wahrhaft philosophierende Mensch gibt in allem lediglich Anregungen zum Denken, er verfährt auch im Denken, wie Kant später gerne sagen wird, nach dem Vorbild eines »Experiments« und sucht den Widerspruch, mit dem er bei sich selbst wie auch bei anderen das eigene Nachdenken fördert.9 Der Name des Sokrates fällt in dieser Vorlesungsankündigung nicht, wohl aber der des Weisen, von dem es in späteren Äußerungen mehrfach heißt, Sokrates sei der vorzüglichste von allen gewesen. Wer hier nicht erkennt, dass sich Kant nicht nur am Vorbild des antiken Denkens, sondern an der von Sokrates praktizierten Form des problembezogenen Dialogs orientiert, der muss sich den Hinweis auf die Stellen gefallen lassen, in denen Kant sich namentlich auf Sokrates bezieht. Es kann nicht wundern, dass sich die größte Nähe zum Topos des philosophierden Lernens auch in Kants Pädagogik findet: Und hier steht auch nicht in Zweifel, an welches generelle Vorbild er denkt: »Bei der Ausbildung der Vernunft«, so heißt es hier, »muß man sokratisch verfahren. Sokrates nämlich, der sich die Hebamme der Kenntnisse seiner Zuhörer nannte, giebt in seinen Dialogen, die uns Plato gewisssermaßen aufbewahrt hat, Beispiele, wie man selbst bei alten Leuten manches aus ihrer eigenen Vernunft hervorziehen kann.«10 Was bei »alten Leuten« 8 In seiner wörtlichen Berufung auf das Verb verwendet Kant selbst die griechi­ schen Buchstaben. 9 In der ersten Kritik spricht Kant vom »Experiment der Vernunft« als einer »Gegen­ probe der Wahrheit« (Vorrede, S. 14) und meint dabei das zetetische Verfahren, das er als Anleitung zum Philosophieren also schon 1765 empfiehlt. 10 I. Kant, Über Pädagogik, hrsg. von. F. Th. Rink, AA 9:477.

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möglich ist, wie sie sich in den Platonischen Dialogen finden, darf bei jungen Menschen ohnehin vorausgesetzt werden. Den weiteren Ausführungen zur Pädagogik ist zu entnehmen, dass Kant die auch später noch einmal so genannte »sokratische Methode« für die Anleitung zu vernünftigen Einsichten bevorzugt und zugleich weiß, dass sie sich nur schwer zu einem definitiven Abschluss bringen lässt. Denn sie kann dazu verführen, »über Alles [zu] vernünfteln«, was den systematischen Ertrag aus dem Blick geraten lässt. So ist es in den Dialogen Platons oft genug. Im Interesse gesicherter Ergebnisse empfiehlt der Systematiker Kant zur Ergänzung die historisch fundierte »mechanisch-katechetische Methode (9:477). Doch eben diese Ergän­ zung unterstreicht, dass Kant ein auf das fortgesetzte Fragen gegründetes und sich Zug um Zug dem Allgemeinen näherndes Denken als das genuine Verfahren des Philosophierens zur Bedingung macht. In seinem Selbstverständnis als Philosophierender bleibt Kant somit ein Sokratiker. Der Inaugurator der »kopernikanischen Wende« in der Philosophie, von der viele bis heute meinen, dass durch sie das »moderne«, das »kritische« Denken erst auf den Weg gebracht worden ist, knüpft in seinem die Philosophie begründenden Verfahren unmittelbar bei Sokrates an.

4. Die Größe des Sokrates Das Problem einer gerechten Bewertung des Sokrates ist, dass wir aufs Ganze gesehen wohl keinen anderen antiken Menschen haben, über dessen Taten und Ansichten es mehr Berichte gibt. Das meiste wissen wir natürlich von Platon und einiges auch von Xenophon. Einiges Wenige kann man als historisch verbürgt ansehen, so dass heute wohl niemanden mehr ernsthaft bezweifelt, dass es Sokrates überhaupt gegeben hat. Doch wir haben wenig, das als aktenkundig gelten kann. Noch nicht einmal der Prozess, der mit dem Todesurteil und seiner Vollstre­ ckung endete, ist sicher verbürgt. Wohl aber gibt es unter den ihm von Platon zugerechneten philosophischen Einsichten solche, die wir mit hoher Wahrscheinlichkeit als genuine Leistungen des Sokrates ansehen können. Sie fallen durch ihren hohen Innovationswert auf und machen mit einiger Anschaulichkeit klar, dass sowohl sein Verhalten und wie auch seine Meinung eine völlig neue Sicht auf das menschliche Dasein freigeben. Sie lassen verstehen, warum sich mit Blick auf Sokrates das

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Urteil aufdrängt, dass hier etwas historisch Neues und sachlich Unerhör­ tes geschieht. Das ist, mit einem Begriff gesagt, den es damals noch gar nicht gab: ein existenzielles Weltverhältnis verbunden mit einer unaufdringli­ chen persönlichen Sicherheit, die Sokrates mit der denkbar größten Selbstverständlichkeit seinen Zeitgenossen vor Augen führt. Hier wird ein philosophischer Paradigmenwechsel offenbar, dessen Dimensionen erst sehr viel später bewusst geworden sind und dessen systematische Konsequenzen bis heute nicht wirklich ausgedacht sind. Gewiss: Platon hatte mehr als bloß eine Ahnung von dem Rang der Einsichten, um die sich Sokrates bemühte. Unter deren Einfluss hat er sein Leben vollkommen umgestellt; er hat sich zum Schritt vom Tragödiendichter zum Philosophen entschlossen. Er hat sich gegen den hoch angesehenen Beruf des Dichters entschieden und eine Lebensform gewählt, die es so vorher noch gar nicht gab. Als Philosoph konnte er vieles noch gar nicht in die Form prägnanter Begriffe bringen, so dass er sein Talent als Dichter einsetzen musste, um das Neue in der Form des Mythos zu sagen. So verdanken wir ihm ein philosophisch-poetisches Lebenswerk, das für sich selbst einzigartig und eine weltgeschichtliche Großtat ist. Auch sie verdankt sich mittelbar dem Genie des Sokrates, nicht nur, weil sie von ihm und seiner Leistung Zeugnis ablegen soll: Platon hat den existenziellen Impuls des Sokrates überhaupt erst so bewahrt, dass er weitergegeben werden konnte. Nur in der Form großer Literatur gab es die Chance, etwas von dem Eindruck zu sichern, den Sokrates auf seine Zeitgenossen gemacht hat. So haben wir, nahezu zweitausendfünfhundert Jahre nach Sokrates, das Glück, die Innovation, die dieser Mensch für die Menschheit bedeutet, nachvollziehen und so verstehen zu können, dass sie auch für uns persönliche Bedeutung erhält. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, das Neue, das unzwei­ felhaft Individuelle und das weit über seine Zeit Hinausweisende im Philosophieren des Sokrates kenntlich zu machen: Zunächst soll an einem Beispiel deutlich werden, dass Sokrates eine Wendung von der feudalen Ständeethik zur moralischen Selbstbestimmung des Einzelnen vollzieht, die in der demokratischen Ordnung unabdingbar ist. Dann soll an einem weiteren Beispiel deutlich werden, was zum Übergang zu einer individuellen Lebensführung auch gehört, nämlich Selbsterkenntnis mit einem sachlich zutreffenden Weltbezug in Verbin­ dung mit einer innigen Beziehung zu einem geliebten Anderen, der einen zugleich die unmittelbare Gegenwart von etwas Größerem erfahren lässt, das Sokrates als göttlich bezeichnet.

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Und an dritter Stelle weise ich auf einige Punkte hin, die anzeigen, wie sich durch die Äußerungen und das exemplarische Verhalten des Sokrates die Sicht auf die vormals so hierarchisch geordnete Welt grund­ legend ändert und damit zugleich das Moderne im Selbst- und Weltbegriff des Sokrates hervortritt.

5. Der Übergang zur individuellen Tugend Im Dialog Laches wird der in einfachen Verhältnissen lebende Weise von zwei wohlhabenden Athener Bürgern herbeigerufen, die ihn um Klärung in einer ganz einfach erscheinenden Frage bitten, in deren Beantwortung zwei der bedeutendsten Militärstrategen ihrer Zeit gleichwohl uneinig sind: Die beiden Athener wollen ihre Söhne zu tapferen Männern erziehen und möchten von den beiden zu ihrer Zeit hoch angesehenen Generälen, Nikias und Laches, wissen, worin die Tugend der Tapferkeit besteht. Da die beiden Militärs schon bald nicht mehr weiterwissen, wird auf Drängen der beiden Söhne Sokrates hinzugezogen. Er gilt der Jugend als Garant einer besseren Zukunft. Sokrates, dessen Tapferkeit in der Schlacht bei Delion (424 v. Chr.) gerühmt wird,11 spricht in seiner Antwort gar nicht erst vom Krieg, sondern von der Tapferkeit, die ein Bürger braucht, wenn er in einer Versammlung seine Meinung zur Geltung bringt. Tapfer, so Sokrates, ist, wer in der Lage sei, die eigene Auffassung auch gegen Widerspruch zu vertreten. Das wirkt so überzeugend, dass auch die beiden Strategen keinen Einspruch wagen. Die Szene wird auf das Jahr 423 datiert. Jeder Interessierte kann heute wissen, was den ersten Lesern des Dialogs ohnehin klar war: Dass Sokrates hier ein Beispiel aus dem politischen Leben im demokratischen Athen heranzieht. Er macht bewusst, dass die Demokratie notfalls nicht nur im militärischen Kampf gegen äußere Gegner verteidigt werden muss; man hat vielmehr schon in der alltäglichen Praxis für sie einzuste­ hen. Und dazu bedarf es des Mutes, sich auch mit Worten gegenüber einer Mehrheit zu behaupten. Der demokratische Alltag bedarf, wie wir heute sagen, der »Zivilcourage« und kann ohne das moralische Eintreten für das, was man für richtig hält, nicht bestehen. Schon hier ist offenkundig, dass im Einsatz für die eigene Freiheit ein Dienst an der Freiheit aller liegt. Darin besteht die auch existenziell 11 Obgleich die Schlacht gegen die Truppen Thebens verloren ging.

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beglaubigte Dialektik der Demokratie, die einen Einsatz des Einzelnen für seine eigenen Belange braucht, um als Ganze Bestand zu haben. Da es heute immer noch Zeitgenossen gibt, die meinen, es ergebe nur noch einen Sinn, von einer »negativen Dialektik« zu sprechen, muss man betonen, wie offenkundig hier das Positive einer Dialektik ist, ohne die eine demokratische Ordnung keinen Bestand haben kann. Wer daher meint, eine Demokratie bestehe wesentlich aus der juridischen Geltung ihrer Verfassung, der hat weder verstanden, dass sie mit Leben erfüllt sein muss, noch weshalb man sie gerade auch in den alltäglichen Dingen des Lebens braucht. Sokrates plädiert für ein weites, auch das alltägliche Handeln einbe­ ziehendes Verständnis von Politik und Demokratie. Und da wir erst in den letzten beiden Jahrhunderten begonnen haben, ein solches Handeln weltweit einzuüben, fällt hier die Modernität des Sokrates auch ohne philosophische Vorbildung in die Augen. Gleichzeitig haben wir ein Beispiel für das unmittelbar auf seine Gegenwart bezogene Denken des Sokrates. Die Philosophie bezieht ihre Probleme aus der Gegenwart und hat sich in ihren Antworten zunächst auf die Lebenslage ihrer Zeitgenossen zu beziehen. Doch damit hat sie ihren konstitutiven Bezug auf das Kommende nicht preisgegeben; und sie braucht auch das historisch Überwundene nicht zu vergessen. Wenn sie den Handlungsanspruch ihrer eigenen Zeit ernst nimmt, hat sie die vorausliegenden Erfahrungen und die auf die Zukunft gerichteten Erwartungen im Blick zu halten. Der Dialog macht das durch den Bezug auf die Wünsche der Väter für die Erziehung der Söhne offenkundig. Und Sokrates hat die Zeichen der Zeit erkannt, wenn er die zivilisatorische Bedeutung der Kriege nun durch den kulturellen Rang der Demokratie ersetzt. Zwar ist er darin der politischen Gegenwart weit voraus; umso deutlicher wird seine prognostische Weitsicht. In seiner politischen Gegenwart nimmt er einen epochalen Umbruch wahr. Für das Neue in seiner Zeit hat er eine Definition des Politischen, die noch zu Beginn der Neuzeit als unerhörte Innovation zitiert werden kann: Politik sei die »Herrschaft [von Freien] über Freie«.12

12 So zitiert Erasmus von Rotterdam in seiner erstmals 1515 erschienenen Schrift Die Erziehung des chrsitlichen Fürsten das sowohl bei Platon (im Alkibiades) wie auch bei Xenophon (in den Memorabilien) wiedergegebene Sokrates-Wort »Herrschen über Freiwillige« (imperium in homines liberos).

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6. Selbsterkenntnis als erstes Gebot Der Eindruck, dass Sokrates für die Erkenntnis des Neuen auch neue Begriffe hat, verstärkt sich im zweiten Punkt unserer Illustration. Der Dialog Alkibiades gehört zu den großen Werken Platons.13 In einer Weise, die dem Leser noch heute den Atem verschlagen kann, führt er vor Augen, wie nüchtern Sokrates das Problem der bis in unsere Gegenwart umstrittenen personalen Identität und der in der Moderne als abwegig angesehenen Gegenwart Gottes in der Gewissheit wechselseitiger Liebe zu fassen vermag. In der Eröffnung des Gesprächs spielt Sokrates auf die Zukunft des Alkibiades an, der überzeugt ist, dass er in Athen zum führenden Politiker aufsteigen wird. Er fügt jedoch sogleich hinzu, dass ihm die Herrschaft über Athen nicht genügt. Sein Ziel sei es, über ganz Griechenland zu herrschen. Nur kann auch das den Ehrgeiz des Alkibiades nicht befriedigen. Wer an Griechenland denke, so meint er, dürfe Ionien nicht vergessen; folglich habe er seinen Machtanspruch über ganz Kleinasien auszudehnen. Und dann, so darf man ergänzen, folge der Rest der ihm bekannten Welt. Offenkundig kann auch das Scheitern des persischen Königs Darius, der sich hundert Jahre früher daran machte, die Welt zu erobern, und schließlich am Widerstand Athens gescheitert war, den ehrgeizigen Alkibiades nicht daran hindern, sich seinen eigenen politischen Wunsch­ träumen hinzugeben: Er meint, wie hundert Jahre später auch Alexander der Große und nicht lange danach die römischen Cäsaren, es müsse mindestens der ganze mediterrane Raum zusammen mit dem damals bekannten Asien sein, der sich ihm unterwerfen müsse. Und dann folgt der Punkt, auf den es ankommt: Alkibiades meint, letztlich müsse es die ganze Menschheit sein, die es zu beherrschen gelte (105). Es formiert sich der globale Machtanspruch auf eine Weltregierung, der so, wie Alkibiades ihn stellt, notwendig in eine Diktatur umschlagen muss. Sokrates, der durch seine Nachfragen im Dialog den jungen Mann dazu bringt, die maßlosen Konsequenzen seiner Wunschträume zu benennen, nimmt den Größenwahn des Alkibiades ohne Verwunderung hin und ermahnt ihn lediglich, die große Aufgabe auf keinen Fall ohne die Beratung mit einem Philosophen in Angriff zu nehmen. Die vermessene 13 Wir sprechen vom Dialog Alkibiades maior (Alk. m.), den F. Schleiermacher übersetzt hat, obgleich er Zweifel an der Echtheit hatte. Die Zweifel gelten inzwischen als behoben.

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Menschheitsperspektive scheint Sokrates, in Kenntnis der Maßlosigkeit des Jünglings, nicht zu befremden; schließlich hat ja auch die Philosophie den Anspruch, Einsichten zu eröffnen, die Bedeutung für alle Menschen haben. Deshalb aber legt er umso größeren Wert darauf, dass Alkibiades den Weg dorthin nicht allein zu gehen versucht. Der junge Mann brauche in jedem Fall das begleitende Urteil der Philosophie. Alkibiades fällt die Zusage leicht; sie ist ja auf eine vorerst noch ferne Zukunft bezogen. Im weiteren Gang des Gesprächs aber muss ihm klar werden, dass es Sokrates gar nicht um die Beteiligung am letzten Schritt: der Vollendung einer alle Menschen umfassenden Weltherrschaft geht. Sokrates liegt in diesem Gespräch daran, Alkibiades selbst – bevor der sich an die Umsetzung seiner verwegenen Pläne macht – auf die Probe zu stellen. Und schon dabei zeigt sich, dass die Philosophie in der Erörterung politischer Fragen der Gegenwart Vorrang vor der Vision einer fernen Zukunft gibt. Mit Blick auf die gegebenen Kräfte zieht Sokrates das Begründete und das tatsächlich Machbare vor. Und eben das bestimmt auch später Platons Urteil über die Tauglichkeit der Demokratie. Es ist kein unwesentliches Detail, dass die globale Perspektive politi­ scher Herrschaft schon hier in einem Gespräch mit Sokrates Erwähnung findet. Man weiß also, dass sich eine neue Dimension der Politik eröffnet, der sich Sokrates nicht grundsätzlich verschließt. Mehr noch: Er scheint das Vorhaben einer Politik für alle Menschen nicht zu verwerfen. Doch er bezweifelt, ob Alkibiades, so begabt er auch sein mag, über die Voraussetzungen für die Realisierung dieses Zieles verfügt. Deshalb ist Sokrates vorrangig an der Eignung des jungen Mannes interessiert; und so geht es ihm im weiteren Gespräch darum, dessen Befähigung zur Politik zu prüfen. Eine solche Prüfung hat für Sokrates immer auch eine Selbstprüfung des Betroffenen zu sein. Also gilt es, den Gesprächspartner selbst zu einem Urteil über sein Wissen und seine Fähigkeiten zu bringen. Alkibiades willigt ein, ohne zu ahnen, auf was er sich einlässt. Tatsächlich wird schon wenige Sätze später offenkundig, dass Alki­ biades noch nicht einmal die Mindestanforderung an einen Politiker erfüllt. Denn ihm fehlt das, was ein Staatsmann vor allem anderen braucht, wenn er seiner Aufgabe gerecht werden will: ein Minimum an Kenntnis seiner selbst. Alkibiades kann noch nicht einmal sagen, was das Selbst ist und wie sehr es auf den verständigen Umgang mit seinesgleichen angewiesen ist. Erst damit findet das Gespräch zu seinem Thema, das

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reiche Einsichten bietet, aber für Alkibiades einen Ausgang nimmt, der für seine politische Karriere nur das Schlimmste befürchten lässt.14 Die philosophische Reichweite der persönlichen Selbstprüfung tritt hervor, als Sokrates erläutert, worauf sich die Selbsterkenntnis des Menschen bezieht: Sie ist nämlich nicht auf die Analyse eines sich selbst gleichbleibenden Kerns im Inneren der menschlichen Seele bezogen. Im ersten Schritt besteht sie in einer Beschreibung dessen, was der Mensch tatsächlich tut und was ihm dabei, auch mit Blick auf seine Mitmenschen, selbst wichtig ist. Und das wird nicht am Beispiel eines überragend begabten Politikers beschrieben, sondern mit Blick auf einen Schuster, der sich auf sein Handwerk, wenn er denn Erfolg haben möchte, auch verstehen muss. Die Auskunft erscheint trivial: Der einzelne Mensch hat seine Identität in dem, was er kann und tut! Zur Beantwortung der Frage nach dem Selbst eines Menschen genügt Sokrates der Hinweis auf seinen Beruf oder seine vorrangige Tätigkeit. Damit kommt er der Position nahe, die wir heute als Funktionalismus beargwöhnen. Das aber würde Sokrates nicht treffen: Wer wirklich kann und weiß, was er tut, der hat schon darin einen Begriff von sich selbst. Wer das für zu dürftig hält, muss sich nur eines klar machen: Zu die­ ser beschränkt erscheinenden Selbstkenntnis gehört es, dass der Mensch auch der Beziehung zwischen seinem Können und seiner humanen Existenz Beachtung schenkt. Damit kommt die ihn tragende Verbindung zu seinesgleichen in den Blick. Also muss der von seinen Leistungen überzeugte Mensch eine Vorstellung davon haben, wie sehr er stets auf die Menschen in seiner Nähe und in seinem Umfeld angewiesen ist. Ohne dieses Bewusstsein von seinen familiären und politischen Relationen verliert er auch vor sich selbst jede individuelle Bedeutung. Fügt man das hinzu, erscheint die Überzeugung des Sokrates, dass ich wesentlich der bin, der etwas mit hinreichenden Kenntnissen und mit dem erforderlichen Geschick tut, gar nicht mehr so trivial. Sie ist vor allem nicht so äußerlich, wie sie in der modernen Fassung eines empirischen Funktionalismus erscheint. Denn schon das Wissen von der gelingenden Verknüpfung des handwerklichen Könnens mit den jeweils gegebenen menschlichen Anforderungen muss sich in den Lebenskontext mit seinesgleichen einfügen. Also gehört auch ein sich

14 Hier ist anzumerken, dass Platon, als er den Dialog verfasste, das traurige Ende der politischen Karriere des Alkibiades kannte.

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praktisch bewährendes Können und Wissen von den Leistungen anderer Menschen und von deren Selbstverständnis hinzu. Doch das ist nicht alles: Zum gesellschaftlichen Wissen von der Vielzahl der Tätigkeiten und der Einstellungen anderer Menschen gehört ein Minimum an Kenntnissen von den natürlichen Voraussetzungen der menschlichen Leistungen. Davon lässt Platon seinen Sokrates später im 2. Buch der Politeia ausführlich sprechen. Umso wichtiger ist ihm hier, Alki­ biades nach dem zu fragen, was zu den entscheidenden Konditionen des menschlichen Selbstverständnisses gehört: Das ist erstens sein Verhältnis zu seinen Nächsten, und zweitens, wie er sich im Verhältnis zum Ganzen begreift, zu dem er als liebender und sterblicher Mensch gehört. Es liegt auf der Hand, dass ein Politiker, der über alle Menschen herrschen will, auch ein menschliches Verhältnis zu seinesgleichen pflegt und dass er sich über sein Verhältnis zum Ganzen seines Daseins Rechenschaft geben kann. Hier versagt Alkibiades auf ganzer Linie. Er hat weder zu irgendjemand eine persönliche Beziehung noch zu dem Ganzen, zu dem er selbst gehört. So ist ihm auch völlig neu, was Sokrates zur Erkenntnis des Göttlichen sagt: Dass man es erfährt, wenn man den Blick eines anderen in Liebe erwidern kann. Denn darin wird auch die Gegenwart des Göttlichen erfahren. Hier deutet Sokrates an, was ihm die Liebe bedeutet und wie zwang­ los sie zur Erfahrung des Göttlichen überleitet. Aus anderen Werken Platons wissen wir mehr über diese die Erfahrung des Schönen, des Guten und Wahren verbindende Theologie. Dass sie schon bei Sokrates angelegt ist, können wir aus dieser Stelle des Alkibiades sowie aus seinen Ausführungen im Symposion und in der Apologie schließen. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass ich Platons bereits alles Gegenständliche und jede Real-Transzendenz hinter sich lassende, letztlich nicht auf ein Wis­ sen, sondern auf einen Glauben gestützte Gotteslehre für unüberbietbar modern halte.15 In der Schlusspassage des Alkibiades hören wir Sokrates sprechen. Sie belegt die unerhörte Kühnheit dieses Denkers: Das Selbst des ein­ zelnen Menschen kommt nicht schon in der individuellen Leistung zum Ausdruck. Das seiner selbst gewisse Ich bedarf der liebenden Versicherung durch seinesgleichen. Und in der erwiderten Liebe zu einem nahen Menschen wird der Grund bewusst, auf dem ein Mensch in der Offenheit seines alltäglichen Daseins so sicher ist, dass er auch seinesgleichen versichern und leiten kann. Nur ein solcher Mensch kann 15 Vgl. V. Gerhardt, Der Sinn des Sinns (2014), Kap 2.

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die Zuversicht haben, auch anderen Menschen das Vertrauen in die gemeinsame Zukunft zu geben. Davon ist Alkibiades weit entfernt.

7. Selbst- und Weltbegriff des Sokrates im Wandel Es wäre Platon unmöglich gewesen, Sokrates in derart vielen Situationen an so vielen verschiedenen Schauplätzen auftreten zu lassen, wenn er damit nicht ein typisches Merkmal im Lebenswandel des Lehrers wieder­ gegeben hätte. Platon hätte Sokrates in den Dialogen nicht ausgerechnet in Athen, wo die Erinnerung an den hingerichteten Weisen noch lebendig war, so darstellen können, wenn der Lehrer in der Zeit seines Wirkens nicht tatsächlich an so vielen Plätzen anzutreffen gewesen wäre: auf dem Markt, auf Sportplätzen, in Häusern der wohlhabenden Athener, bei Trinkgelagen, vor den Toren der Stadt, in Piräus, vor Gericht oder im Gefängnis. Ich greife nur zwei Szenen aus Platons Werken heraus, die sich, einmal mit Blick auf das Leben und zum anderen im Bezug auf den Tod, auf die Stellung des Menschen im Lauf der natürlichen Dinge beziehen. Die erste schildert Platon im Symposion, wo Sokrates in illustrer Runde an einer Siegesfeier des Tragödiendichters Agathon teilnimmt und sich als letzter Redner an einer Lobrede auf den Eros beteiligt. Und der zweite Hinweis ist dem Phaidon entnommen, in dem das Sterben des Sokrates beschrieben ist. Das Symposion führt vor, wie angesehen Sokrates in der Runde namhafter Athener ist. In der vereinbarten Abfolge der Reden kommt ihm die Ehre zu, mit seinem Vortrag für einen krönenden Abschluss zu sorgen. Diese Rede ist ein Kulturbruch in einer nur den Männern vorbehaltenen Kultur der Griechen, denn Sokrates trägt die Lehre einer Frau vor, die zum Symposion gar nicht zugelassen worden wäre. Es soll die Rede der weisen Seherin Diotima gewesen sein, von der Sokrates als von seiner Lehrmeisterin spricht. Was sie ihn über den Eros gelehrt hat, gibt er aus dem Gedächtnis in freier Rede wieder. Vieles ist hier bemerkenswert, nicht zuletzt, dass ausgerechnet eine Frau über die Liebe spricht und das, nachdem in der Runde zuvor vorrangig von der gleichgeschlechtlichen Liebe die Rede war. Doch ich beschränke mich auf den Punkt, der den in der Liebe entscheidenden Zusammenhang von Natur und Geist betrifft. Hier stellt Sokrates alles in Frage, was bis heute über den angeblich platonischen Gegensatz zwischen beiden zur üblichen Auffassung gehört:

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Diotima setzt damit ein, dass Eros eine göttliche Kraft ist, die alles Lebendige bewegt. Schon bei den Tieren sei Eros ein unentbehrlicher und alles beherrschender Trieb, der seine Wirksamkeit bei den Menschen fortsetze und hier in allen Lebensbereichen zur Geltung komme. Hier also ist und bleibt der Mensch dem Tier so nahe, dass man gar nicht umhinkann, ihn auch als Tier – und damit als Lebewesen – zu bezeich­ nen, das er in allen seinen Lebensregungen zwischen Geburt und Tod auch bleibt. Das Göttliche im Eros wirkt ohnehin in beiden – also in der Natur und im Geist. Das Besondere – und das den Menschen deutlich von den anderen Tieren Unterscheidende – aber zeigt sich darin, dass der Mensch nicht nur zur Vereinigung mit seinesgleichen und zur Zeugung neuen Lebens strebt. Sein Lebensimpuls geht darüber hinaus und zielt auf alles, was ihn belebt und begeistert. So kommt der Mensch zum Schönen, das er wie etwas Eigenständiges und für sich Seiendes erlebt. Und so wie sich das Schöne im Urteil der Menschen verselbständigt, kann der Mensch auch das Richtige und Tugendhafte, zu dem er ebenfalls unter dem Antrieb des Eros strebt, als das Wahre und Gute ansehen. Und wenn er darüber hinauszugehen sucht und das Ganze des Daseins in seinem nach Vollständigkeit und Vollendung strebenden Verlangen ebenfalls wie etwas Seiendes anspricht, dann ist er beim Göttlichen. Ein Lebenstrieb wie der Eros, der alles Lebendige bewegt, führt beim Menschen zur Steigerung aller geistigen Kräfte und damit zum Höchsten, in dem er sich mit dem Ganzen verbunden, ja, vereinigt glaubt. Diese Auffassung von einer die Natur und den Geist gleichermaßen durchwirkenden und zugleich in ihrer grundlegenden Einheit bewahr­ enden Kraft ist eine sokratische Erbschaft, die Platon aufnimmt und philosophisch vertieft. Das gelingt ihm, um nur ein Beispiel zu nennen, in seiner Theorie des Erkennens und Wissens: In dieser im Höhlengleich­ nis anschaulich gemachten Lehre zeigt Platon, wie sich das mit der Sinnlichkeit aufgeladene Vorstellungsvermögen des Menschen mit den auf Sachverhalte und gemeinsames Handeln bezogenen Begriffen auf den gemeinsamen Lebensraum des Menschen bezieht. Sie ermöglichen es dem Menschen, außerhalb der »Höhle« in einer vom Sonnenlicht erhellten, allen frei zugänglichen Außenwelt zu leben, hier sogar Staaten zu gründen, sich gemeinsam um Erkenntnis und Wissen zu bemühen und durch Erziehung und Tugend zu einer dem Menschen angemessenen Lebensform zu finden. Diese naturale Einbindung aller spezifisch menschlichen Leistun­ gen würde man nach dem üblichen Verständnis von Platons angeblichem

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»Idealismus« nicht erwarten. Wer aber das Höhlengleichnis aufmerksam liest, der weiß, dass ihm eine ins Transzendente übergreifende »Ideen­ lehre« gewiss vollkommen fremd gewesen wäre. Und an der Art, in der Sokrates im Symposion die Seherin Diotima für sich sprechen lässt, kön­ nen wir schließen, dass hier eine ursprüngliche sokratische Einsicht gege­ ben ist, deren philosophische Pointe für die Philosophie der Moderne geradezu wegweisend ist. Kant auf dessen Bewunderung für Sokrates wir verwiesen haben, kann hier sowohl in seiner Naturgeschichte und Theorie des Lebens sowie in seiner theoretisch und praktisch fundierten Metaphysik ein Sokratiker bleiben. Und auch Nietzsche könnte das Feld für seinen existenziellen Kampf mit Sokrates erweitern, denn die Verbindung von Natur und Geist tritt auch für Sokrates sowohl in den elementaren Triebkräften von Mensch und Tier wie auch in den sublimen Leistungen der Kunst hervor. Außerdem dürfte es Nietzsche besonders schwergefallen sein, den Gott, von dem Sokrates Diotima berichten lässt, für tot erklären zu lassen. Welchen praktischen Ertrag diese Einsicht in die naturale Bindung selbst höchster Erkenntnisse hat, stellt Sokrates in seinem Sterben unter Beweis. Am Tag der Vollstreckung des Todesurteils hat sich eine größere Zahl seiner Anhänger und Bewunderer im Gefängnis versammelt. Die Freunde finden Sokrates in einer beinahe heiter zu nennenden Verfas­ sung vor, in der er ihnen den Schmerz und die Trauer angesichts seines nun bevorstehenden Todes auszureden versucht. Sein Argument, der Tod sei doch eine Befreiung der Seele vom Körper und insofern nichts, das zu beklagen sich lohnt, findet Widerspruch in der Runde. In der Verteidigung seiner Ansicht klingt Sokrates zunächst wie der Vertreter einer überlieferten Zwei-Welten-Lehre, von der er doch wissen müsste, dass von ihr ernsthaft keine Rede sein kann. Aber in den nachfolgenden Ausführungen über die Seelenwanderung und über die Eigenart der Seele wird deutlich, dass in dem von ihm angenommenen Kreisen aller Elemente der Natur nicht von einer festen Aufteilung zweier wie für sich bestehender Welten gesprochen werden kann. Alles wird gemischt und verteilt und die Seele ist von allem Materiellen befreit – und hat doch durch ihre Leistungen bleibenden Bestand. Das, was die Seele als Wirkungszentrum ausmacht und was sie selbst als ihr Wesentliches ansieht, das bleibt für sie und für jede andere Seele, die dafür empfänglich ist, bestehen. Denn alles, was die Seele in ihrer Eigenart durch Teilnahme, Mitteilung und Mitwirkung zum Dasein beiträgt, wird Bestand haben und wiederkehren – auch wenn wir nicht sagen können, wie das möglich

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ist. Hier tritt das sokratische Nicht-Wissen in sein Recht. Aber die Seele kann aus ihren nur von ihr selbst aufzubringenden Leistungen das Selbstvertrauen schöpfen, das zu einem festen Glauben wird. Um das zu verstehen, muss man nur die von Sokrates wiederholt herangezogene Unterscheidung zwischen Wissen (episteme) und Glauben (pistis) zu Hilfe nehmen. Sie gehört zum Erbe, das die Antike zunächst dem christlichen Bekenntnis und später auch der Moderne hinterlassen hat. Und mit ihr im Hintergrund können wir verstehen, wie das auf einen einzigen Weltzusammenhang gegründete Vertrauen des Sokrates möglich ist. Diese in seinem Sterben belegte Zuversicht ist wie ein »Beweis« seiner Überzeugung, wenn wir aus der Schilderung Platons erfahren, wie sich dieser Mann dann von den Anwesenden, insbesondere auch von seiner Frau und seinen Kindern, verabschiedet, den Giftbecher leert und sich zum Sterben niederlegt. Und in der letzten von ihm überlieferten Äußerung, nachdem sein Angesicht schon von den Wärtern mit einem Tuch bedeckt ist, hört man, wie er seinen Freund Kriton darum bittet, eine letzte religiöse Pflicht für ihn zu erfüllen: »O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig.« Hier stirbt jemand in dem Bewusstsein, spätestens durch diesen Tod unsterblich zu sein. Leben und Tod des Mannes sind exemplarisch für ein Leben, das nach einer in sich stimmigen philosophischen Einsicht geführt wird. Das ist ein hohes und gewiss nicht in jeder Hinsicht zu erfüllendes Ziel. Aber Sokrates, der, soweit wir wissen, als erster dieses Ziel mit in sich stimmigen Gründen dargelegt hat, ist ihm, wie kein anderer Mensch, von dem wir wissen, nahekommen. Und da dieses Leben von Platon in einer Weise überliefert ist, für die es in der Geschichte der Philosophie kein anderes Beispiel gibt, kann Sokrates als singulär und exemplarisch gelten. Daher ist es angemessen, die Geschichte der Philosophie mit dem Maß zu messen, das er in seinem Wirken vorgegeben hat. Also empfiehlt es sich, die Philosophiegeschichte vor ihm und nach ihm auch mit Bezug auf ihn zu benennen. Sie also kann im Ganzen entweder als vorsokratisch oder als nachsokratisch bezeichnet werden – auch wenn wir wissen und respektieren, dass nicht jeder den Anspruch hat, sich sein eigenes Maß durch Sokrates vorgeben zu lassen. Auch das sind wir der individuellen Größe dieses Philosophen schuldig.

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BUDDHA

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Takemura Makio

Buddhas wahre Bedeutung als Handlungstheoretiker

Einleitung: Der zeitgeschichtliche Hintergrund Der Begründer des Buddhismus war Gotama Buddha; auch genannt Shakyamuni. Letzteres bedeutet so viel wie »der Ehrwürdige [aus dem Geschlecht] der Shakya«. Der Titel »Buddha« bedeutet hingegen »der Erwachte«. Als junger Mann verließ Gotama seine Familie und übte sich in vielfältigen religiösen Praktiken, bis er schließlich jenes Erwachen erlangte, das eine vollkommene Loslösung vom menschlichen Leid bedeutete. Über die Lebensdaten Buddhas gibt es verschiedene Theorien. In der japanischen Forschung werden unter anderem aufgrund der Inschriften des Königs Ashoka (reg. 268–232) die Jahre 463 bis 383 vor Chr. angenommen. Traditionell werden aber zum Teil noch ältere Daten vertreten. In jedem Fall handelt es sich um einen bedeutenden religiösen Lehrer des antiken Indiens. Das Indien zu Lebzeiten des Buddha war eine Zeit des sozialen Wandels. Die Herstellung von Keramik und die Entstehung einfacher Manufakturen intensivierten die wirtschaftliche Aktivität, so dass bis zu einem gewissen Grad ein Leben über die Befriedigung der Grund­ bedürfnisse hinaus möglich wurde. Den regionalen Gemeinschaften bereits entbunden, traten während dieser Zeit Freidenker auf, die sich den überkommenen Werten gegenüber skeptisch verhielten und mutig ein neues Denken verkündeten. Obwohl es sich vermutlich eher um das Konzert einer Vielzahl konkurrierender Stimmen handelte, werden in der buddhistischen Schrift »Predigt über die Früchte der Askese« (Sāmañña-phala-sutta, DN 2) sechs typische Vertreter vorgestellt. Knapp zusammengefasst beinhaltete das Denken dieser sechs Meister (pāli satthar) ungefähr Folgendes:

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1. 2.

3. 4. 5. 6.

Pūraṇa Kassapa vertrat einen Amoralismus, demzufolge keine Vergeltung statthat, welche guten oder schlechten Taten auch began­ gen werden. Pakudha Kaccāyana vertrat eine Ontologie bestehend aus sieben Elementen, als deren eines zwar das Leben bzw. die Seele zählte. Dennoch hatte er eine materialistische Sicht auf den Menschen, die ihn behaupten ließ, dass das Zerschneiden eines Menschen nicht mehr Bedeutung habe als die einer Klinge, die zwischen den sieben Elementen hindurchfahre. Makkhali Gosāla vertrat einen Fatalismus, demgemäß Wiederge­ burt und Befreiung aller Lebewesen unabhängig jeglicher kausaler Bedingungen ausschließlich durch das Schicksal bestimmt seien. Ajita Kesakambala war ein Materialist, der mit seiner Leugnung einer Welt nach dem Tod auch die Vergeltung für gute und schlechte Taten verwarf. Sañjaya Belaṭṭhiputta vertrat einen konsequenten Skeptizismus, der metaphysische Probleme für unentscheidbar erachtet. Nigaṇṭha Nātaputta (oder Mahāvīra, wie er als Begründer des Jainismus genannt wird) lehrte einen grundsätzlichen Relativismus bzw. eine prinzipielle Unbestimmtheit, derzufolge alle Urteile not­ wendig einseitig und ein absoluter Standpunkt unmöglich sei.1

In dem philosophischen Klima, an dem Buddha teilhatte, herrschte aufgrund der Lehren des Materialismus, Amoralismus, Fatalismus, Skep­ tizismus und Relativismus eine tiefgreifende Unsicherheit hinsichtlich der Wertvorstellungen. Insbesondere wegen der Leugnung der Existenz von Gut und Böse kann wohl von einer Tendenz zum Nihilismus gesprochen werden. In dieser Zeit der Unsicherheit darüber, wie als Mensch zu leben sei, trat Buddha als einer unter vielen freien Denkern auf und wies den Menschen den Weg, indem er auf der Grundlage seines Erwachens unter dem Lindenbaum die Bedeutung des Handelns hervorhob.2 Was aber war die Besonderheit seines Denkens? Buddhas Kindheit und Lebenslauf sollen hier nicht noch einmal wiederholt werden. Hierfür gibt es bereits ausreichend Literatur. Buddha 1 Hayashima K. et al. Indo shisō shi [Indische Geistesgeschichte] (1982), 28–36. — Für seine Hilfe mit der Transkription von Pāli- und Sanskrit-Begriffen sei an dieser Stelle Nishi Yasutomo (Chūō Academic Research Institute of Risshō Kōsei-kai) mein herzlicher Dank ausgesprochen. Anm. R.S. 2 Es mag hilfreich sein, bereits hier darauf hinzuweisen, dass die im Titel angesprochene »Handlungstheorie« Buddhas seine Karmalehre (pāli kamma) meint. — Anm. R.S.

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Buddhas wahre Bedeutung als Handlungstheoretiker

verließ mit neunundzwanzig Jahren seine Familie und verbrachte nach seinem Erwachen im Alter von fünfunddreißig Jahren bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr das Leben eines Lehrers und Predigers. Seine Lehre wurde zu seinen Lebzeiten nicht schriftlich fixiert. In den Nikāya genannten »Sammlungen« des Pāli-Kanons und in den Āgama (Kanon) genannten chinesischen Übersetzungen seiner Predigten ist seine Lehre zwar tradiert. Allerdings handelt es sich hierbei bereits um beträchtlich systematisierte Fassungen, die nicht als das authentische Wort Buddhas, sondern als von der Nachwelt bearbeitete Texte betrachtet werden müs­ sen. Unter diesen Texten findet sich in der »Gruppe der kurzen [Lehrre­ den]« (Khuddaka-nikāya) des Pāli-Kanons das Suttanipāta (Anthologie der Predigten, Abk. Sn), die Lehren Buddhas in philosophisch wenig raffinierter Form enthält. Aus diesem Grund wird vermutet, dass diese Schrift den tatsächlichen Predigten Buddhas näher steht als die anderen Nikāya und Āgama. Die folgende Darstellung des Denkens Buddhas stützt sich deshalb im Wesentlichen auf die Inhalte des Suttanipāta.3

1. Was bedeutet das Erwachen Buddhas? Das Wort Buddhismus bezeichnet die Lehre Buddhas. Buddha bedeutet der Erwachte. Aber was bedeutet dieses Erwachen? Zu was ist Shakya­ muni erwacht? Zunächst wenden wir uns dieser Frage zu. Unter Verweis auf die Beschreibung des Erwachens in der Biographie Buddhas, die am Anfang der »Großen Gruppe« (Mahāvagga) der Ordensregeln des Pāli-Kanons steht, wird meist gesagt, der Buddha wäre sich des Bedingten Entstehens (pāli paṭicca samuppāda) bzw. des Gesetzes des Bedingten Entstehens bewusst geworden. Tatsächlich heißt es dort, dass Buddha im Moment seiner Vollendung zu dieser Einsicht gelangte: Am Beginn des ersten Nachtabschnittes durchdachte der Erhabene im Geist vorwärts und rückwärts das Bedingte Entstehen. [...] Als nun der Erhabene diesen Sachverhalt erkannt hatte, sprach er diese Verse:

Wenn einem Eifrigen, Meditierenden, Edlen [brāhmaṇa], die Faktoren [dhamma] [der Wirklichkeit] klar werden, 3 Der wichtigste Vertreter dieser Auffassung ist der japanische Buddhologe Nakamura Hajime. Siehe ders. Gotama Buddha, 2 Bde. (2000/2005) [jap. 1992], Bd. 1, 19. — Anm. R.S.

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dann schwinden ihm die Zweifel alle, denn er erkennt, dass Phänomene Ursachen haben.4 Die Kontemplation »im mittleren Abschnitt der Nacht« und »im letzten Abschnitt der Nacht« wird nahezu in den selben Worten geschildert. Nur der zweite Teil der abschließenden Verse weicht jeweils leicht ab. In der Mitte der Nacht »schwinden ihm die Zweifel alle, denn er durchdringt die Ursache der Vergänglichkeit« und am Ende der Nacht »des Teufels Heere zerstreuend steht er da, gleich der Sonne, die den Himmel erhellt.«5 Das hier angesprochene Bedingte Entstehen ist auch als die Zwölf­ gliedrige Kette des Bedingten Entstehens bekannt. Dieses Lehrstück kann nicht ohne weiteres mit der Erkenntnis, dass alle Dinge in kausaler Relation zueinander stehen, gleichgesetzt werden. Im Fall der Kette des Bedingten Entstehens geht es um die Einsicht, dass die Unwissenheit der eigentliche Grund unserer leidvollen Existenz ist. Auf dieser Grundlage wird erklärt, dass das Leiden im Kreislauf der Wiedergeburten entlang einer Kette von Bedingungen entsteht, deren zwölf Glieder Unwissenheit, Handeln, Bewusstsein, Name und Form, die Sechs Sinnesorgane, Berüh­ rung, Gefühle, Gier, Befangenheit, Werden, Geburt, Alter und Tod sind. Diese Beobachtung und das hieraus entstehende Wissen werden in der zitierten Passage detailliert erläutert. Deshalb wird gesagt, dass Buddhas Erwachen mit der Einsicht in die Tatsache des Bedingten Entstehens in eins fällt.6 Liest man allerdings den gesamten Bericht über die Vollendung sei­ nes Weges genau, wird klar, dass Buddha sich bereits vor der Erkenntnis des Bedingten Entstehens seiner Befreiung bewusst geworden war. Erst nachdem er sich seines Erwachens eine Woche erfreut hatte, schaute 4 Übers. Santuṭṭho, Vinaya-Piṭaka I. (2017). Für die hier und im folgenden zitierten Übersetzungen gilt: (1) Sprachliche Modifikationen geschahen entweder (a) nach Maßgabe der von Takemura verwendeten japanischen Übersetzungen von Naka­ mura Hajime (1992), (b) wurden abgeglichen mit englischsprachigen Übertragungen und/oder (c) erfolgten nach Rücksprache mit dem Pāli-Philologen Prof. Iwai Shōgo (Toyo Universität), dem ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. An den modifizierten Stellen wurde jeweils das relevante Pāli-Wort in eckigen Klammern angegeben. (2) Übersetzte und eingedeutschte originalsprachliche Ausdrücke wurden vereinheitlicht. Z.B. wurde das Pāli-Wort nibbāna überall durch das eingedeutschte Nirwana ersetzt. Statt māra steht das deutsche Wort Teufel. (3) Vorsichtige sprachliche Anpassungen und kleinere Korrekturen veralteter deutscher Formulierungen wurden auf ein Minimum beschränkt. — Anm. R.S. 5 Nakamura H. Gotama Buddha (2000/2005), Bd. 1, 198–201. 6 Vgl. hierzu meine Ausführungen im Abschnitt »Kausalität und Erkenntnis« des Kapi­ tels »Vergeltung und Gewissen« (S. 94). — Anm. R.S.

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er die Tatsache des Bedingten Entstehens. Ganz zu Beginn des oben zitierten Berichts heißt es nämlich: Zu jener Zeit weilte der Erhabene gerade eben vollkommen erwacht am Fuß des Bodhi-Baumes in Uruvelā am Ufer des Flusses Nerañjarā. Sieben Tage saß der Erhabene so mit verschränkten Beinen am Fuß des Bodhi-Baumes und erlebte das Glück der Erlösung. [Hiernach] [a]m Beginn des ersten Nachtabschnittes durchdachte der Erhabene im Geist vorwärts und rückwärts das Bedingte Entstehen.7

Demgemäß stellte Buddha die Beobachtungen über das Bedingte Ent­ stehen erst an, nachdem er die auf sein Erwachen folgenden sieben Tage in Glückseligkeit verharrt hatte. Folglich ging das Bewusstsein seiner Erlösung (d.i. sein Erwachen) der Erkenntnis der Zwölfgliedri­ gen Kette des Bedingten Entstehens voraus. Erst mit den Augen des Erwachten ergründete er die Ursachen des menschlichen Leids und entdeckte den Mechanismus des Bedingten Entstehens. Der Ausdruck »die Faktoren [der Wirklichkeit] werden klar« bezieht sich vermutlich auf diesen Umstand. Übrigens bemerkt Nakamura Hajime (Bd. 1, 202) in diesem Zusam­ menhang, dass auch die tibetischen Ordensregeln (skt. vinaya) und der (in chinesischer Übersetzung überlieferte) letzte Teil der Ordensregel (skt. Saṅghabhedavastu; chin. Pò sēng shì) der Schule der All-Existenz (skt. Mūla-sarvāsti-vāda) keinen unmittelbaren Zusammenhang herstel­ len zwischen dem Erwachen Buddhas und der Lehre des Bedingten Entstehens. Vielmehr heißt es dort, dass bereits eine Weile vergan­ gen sei, bevor Buddha die Zwölfgliedrige Kette des Bedingten Entste­ hens erkannte. Nakamura (Bd. 1, 204) verweist außerdem auf den einleitenden Text (pāli Nidānakathā) der »Geschichten über die [früheren] Geburten« (pāli Jātaka) Buddhas. Auch dort wird der Augenblick des Erwachens ohne Bezug zur Erkenntnis des Bedingten Entstehens geschildert: Nachdem so, während die Sonne noch am Himmel stand, der Held das Heer des Teufels [māra] gebändigt hatte und von den auf sein Gewand herabfallenden Sprossen des Bodhi-Baums wie mit roten Korallenblättern geehrt wurde, erlangte er in der ersten Nachtwache klar die Erkenntnis seiner früheren Existenzen, in der mittleren Nachtwache das göttliche 7 Der Bodhi-Baum, wörtlich »Baum des Erwachens«, ist eine Linde. Die Einfügung »Hiernach« in eckigen Klammern folgt der Parallelstelle Udāna (Hymnen) 1.1. Vgl. Nakamura H. Gotama Buddha (2000/2005), Bd. 1, 198.

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Auge und in der dritten Nachtwache erreichte er die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung [d.i. das Bedingte Ent­ stehen].8

Nakamura kommentiert diese Passage wie folgt: »In dieser Tradition ereignet sich das Erwachen nicht nach der Abwehr des Teufels, sondern Buddhas Überwindung des Teufels und sein Erwachen sind die zwei Seiten desselben Sachverhalts« (Bd. 1, 204). Auch in dieser Deutung kommt es also erst nach dem Erwachen bzw. der Abwehr des Teufels zu weiteren gedanklichen Einsichten. Gemäß einer Passage in der »Gruppierten Sammlung« (Saṃyuttanikāya; Abk. SN) des Pāli-Kanons ist es sogar so, dass Buddha die Zwölfgliedrige Kette des Bedingten Entstehens vor seinem Erwachen vorwärts und rückwärts reflektierte. Und erst »aufgrund dieses unerhör­ ten Gedankens, ihr Mönche, erlangte ich Einsicht, Weisheit, Wissen und Erleuchtung.«9 Die Überlieferungen sind also keineswegs einheitlich. Deshalb spricht nichts dagegen, den Bericht zu Beginn der Pāli-Ordensregel als die offizielle Lehrmeinung des orthodoxen Theravāda (Weg der Alten) als solche zu respektieren. Wenn man also annimmt, dass das endgültige Erwachen Buddhas der Erkenntnis des Bedingten Entstehens vorausging, wie ist dann das Erwachen selbst näher zu verstehen? In der Gruppierten Sammlung ist beispielsweise überliefert, Buddha habe das höchste Erwachen erlangt, indem er den mit den Sechs Sinnen (d.i. Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist) verbundenen Ausschweifungen und Leiden entronnen ist.10 Es ist allerdings nicht leicht zu sagen, was die Rede vom Entrinnen hier genau besagt. Als Quelle, die hierüber etwas aufzuklären vermag, möchte ich den folgenden Abschnitt aus der »Predigt über die edle Suche« (Ariyapariyesana-sutta, MN 26) heranziehen. Ihr Mönche, selbst der Geburt unterworfen und gewahr der hieraus resultierenden Not, suchte und erlangte ich die ungeborene höchste Erlösung des Nirwana. Selbst Alter [...] Krankheit [...] Sterben [...] Kummer [...] Befleckung unterworfen und gewahr der hieraus resultierenden Not, 8 Jātakam: Wiedergeburtsgeschichten, übers. von J. Dutoit, 7 Bde. (1908–1921), Bd. 7, §B2.10. 9 Gotama-sutta (Sutra des Gotama), SN 12.10. Vgl. Nakamura H. Gotama Buddha (2000/2005), Bd. 1, 203. 10 Erste und zweite »Predigt über [die Zeit] vor dem Erwachen« (Pubbesambodhasutta), SN 35.13–14; vgl. Nakamura H. Gotama Buddha (2000/2005), Bd. 1, S. 205.

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suchte und erlangte ich die nicht alternde, nicht kranke, unsterbliche, unbekümmerte und unbefleckte höchste Erlösung des Nirwana. Das Wissen und die Einsicht erwuchs mir: Meine Befreiung ist unerschütterlich. Dies ist meine letzte Geburt. Es wird kein erneutes Werden mehr sein.11

Hier wird das Erwachen charakterisiert als der Moment des Erlangens des nicht mehr zu steigernden Nirwana, welches frei von jedwedem Leid (aufgrund von Geburt, Alter, Krankheit und Tod) und ohne Kummer und Befleckung ist. Es ist diese geistige Sphäre – so meine ich – jenseits von Leben und Tod, die noch vor aller Spekulation über die kausalen Faktoren der Wirklichkeit dem Erwachen entspricht. Es finden sich jedoch auch im Suttanipāta, von der (wie bereits erwähnt) angenommen wird, dass sie der Lehre Buddhas historisch besonders nahesteht, einige Verse, die vom Erwachen sprechen: Die Welt erkennend, schauend höchste Wahrheit [paramattha], Hinübersetzend über Flut und Meer, vollkommen, Ihn, der die Ketten brach, der hanglos, triebbefreit, Diesen, wahrlich, wissen Weise als den Ehrwürdigen [muni]. (219) Versiegung und Entsüchtung, Tod-Befreiung kostbar, Erreicht vom Sakya-Weisen, innerlich gesammelt, Nicht gibt es etwas solcher Lehre Gleiches! Dies köstliche Juwel, es leuchtet in der Lehre! Durch die Wahrheit möge Glück entstehen! (225) In dem kein Gieren mehr sich findet, der wissend sich vom Zweifel löste, Der in das Todlose getaucht, den nenne einen Priester [brāhmaṇa] ich. (635)12 In der ersten Strophe wird das Erwachen in Bezug zur Erkenntnis der Wahrheit gesetzt. Die hier angesprochene höchste Wahrheit sollte als eine die Einsicht des Bedingten Entstehens noch transzendierende, letzte Erkenntnis verstanden werden. In den beiden anderen Strophen ist von der Überwindung des Todes die Rede. »Todlos« bedeutet hier 11 Die Neuübersetzung entstand mit Hilfe von Prof. Iwai Shōgo (Toyo Universität) und ist abgeglichen mit Nakamura H. Gotama Buddha (2000/2005, Bd. 1, 204) und Ñānamoli und Bodhi, The Middle Length Discourses of Buddha (1995), 259– 206. Wie üblich wurden in der Übersetzung die der Mnemotechnik dienenden Redundanzen gekürzt. 12 Zitierte Übersetzung hier und im Folgenden Sutta-Nipāta, übers. von Nyanaponika, 3. Aufl. (1993) [1949].

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aber nicht Unsterblichkeit im Sinn eines unendlichen Lebens. Der hier umschriebene Zustand ist eine Welt, die dem Gegensatz von Leben und Tod vorausliegt, eine Sphäre, die ungeboren und deshalb ohne Tod ist. Diese Interpretation kann durch weitere Reden Buddhas im Suttanipāta gestützt werden: In dem es keine Ausgeburten der Verstrickung gibt, Die Ursach' sind für Bindung an das Dasein, Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf, Wie eine Schlange alte abgenutzte Haut. (16) Wer Hemmung fünffach überwand und unverstört, Von Zweifel und von innerem Stachel frei, Ein solcher Mönch gibt beide Seiten auf, Wie eine Schlange alte abgenutzte Haut. (17) Die völlig der Geburt, dem Tod entkamen, Die jeder Ungewissheit sind entronnen, Die Opferspende mag er solchen reichen, Der Priester, der Verdienst begehrend opfern will. (500) Auf einem Wege, von ihm selbst geschaffen, Wer, frei von Zweifel, zum Nirwana hingelangt, Wer Sein und Nichtsein hinter sich gelassen, Sein Werk vollbracht hat und das Wiedersein getilgt, der ist ein ›Mönch‹ [bhikkhu]. (514) Der, still geworden, Gutes ließ und Schlechtes, Vom Welten-Staube frei, erkennend diese Welt und jene, Der überwunden hat Geburt und Sterben, Er wird ›Asket‹ [samaṇa] genannt in Wahrheit. (520) Die Wendungen »beide Seiten [d.i. Diesseits und Jenseits] aufgeben«, »Geburt und Tod entkommen« oder »überwinden« und »Sein und Nichtsein hinter sich lassen« machen deutlich, dass die von Buddha erlangte Sphäre der Todlosigkeit nicht mit dem ewigen Leben identisch ist. Vielmehr sollte Todlosigkeit als endgültiges Abstreifen von Geburt und Tod verstanden werden. Es handelt sich also um keinen anderen Zustand als den, welchen wir oben in der Predigt über die edle Suche kennengelernt haben: die »ungeborene, nicht alternde, nicht kranke, unsterbliche, unbekümmerte und unbefleckte, höchste Erlösung des Nir­ wana«.

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Aus dem Obigen geht hervor, dass Buddhas Erwachen nicht mit der Erkenntnis des Bedingten Entstehens in eins zu setzen ist, sondern viel­ mehr mit dem Erlangen einer Dimension jenseits von Geburt und Tod. Diese Auffassung des Erwachens stimmt auch mit späteren Lehren des Mahāyāna-Buddhismus überein. Im Kapitel über »Die Lebensspanne des Tathāgata« des Lotos-Sutra, eine der maßgeblichen Schriften des Mahāyāna-Buddhismus, heißt es, der Tathāgata besitze die Weisheit der Nicht-Existenz des Entstehens und Vergehens. Edle Söhne! Die vom Tathāgata gesprochenen Predigten dienen der Erlösung aller Lebewesen. Ob er sich selbst erklärt oder andere, ob er seine Gestalt offenbart oder die anderer, ob er seine Taten darlegt oder die anderer, seine Worte sind alle wahr und niemals falsch. Weshalb? Weil der Tathāgata die Attribute der Drei Bereiche [d.i. Begierde, Gestalt, Geist] in ihrer wahren Gestalt erkennt: Es existiert keine Geburt und kein Tod, kein Kommen und Gehen. Auch gibt es kein Sein oder Vergehen. Nicht Wahrheit, nicht Falschheit, weder Gleichheit noch Unterschied. Er sieht die Drei Bereiche nicht als Drei Bereiche. Derart erkennt der Tathāgata die Sachverhalte klar und ohne Irrtum.13

Auch die Achtfache Verneinung in der berühmten Anrufung Buddhas, die Nāgārjuna (ca. 150–250) seinen »Grundlegenden Versen über den Mittleren Weg« (skt. Mūla-madhyamaka-kārikā) vorangestellt hat, weist Übereinstimmungen mit der »Predigt über die edle Suche« auf: Kein Entstehen und kein Vergehen; keine Dauer, kein Ende; Keine Identität und auch keine Verschiedenheit; weder Kommen noch Gehen. Er lehrte Bedingtes Entstehen, das alles Räsonieren beilegt. Ich verneige mein Haupt vor Buddha, dem Ersten unter den Lehrern.14 Aus den Versen geht hervor, dass Nāgārjuna seinen Mittleren Weg der Achtfachen Verneinung als Konsequenz der kausalen Bedingtheit allen Entstehens begriff und hierin die ultimative Wahrheit erkannte.15 13 T 262, Bd. 9, S. 42. Übers. aus dem Chinesischen von R.S. Eine eindeutige Interpre­ tation des Pāli- und Sanskrit-Wortes tathāgata existiert nicht. Etymologisch kann es als der »So-Gekommene« oder der »So-Gegangene« gelesen werden. Da es in der Gestalt Buddha einen Menschen bezeichnet, der seinen Weg zu Ende gegangen ist, liegt die Bedeutung »der Vollendete« nahe. — Anm. R.S. 14 T 1564, Bd. 30. Übers. aus dem Chinesischen von R.S. abgeglichen mit J. L. Garfield, The Fundamental Wisdom of the Middle Path (1995). 15 Siehe auch Kap. 25 »Nirwana« im selben Werk.

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Nach Maßgabe der Lehre des Mahāyāna-Buddhismus bedeutet das Erwachen demnach sicher nicht die Einsicht in die Bedingtheit allen Entstehens im Sinne einer Erkenntnis des differenzierenden Intellekts. Im Gegenteil wird die Vollendung des buddhistischen Wegs in einer intuitiven Dimension ohne Unterscheidungen gesehen. Die YogācāraPhilosophie verwendet für diese Intuition den Begriff der »nicht-diffe­ renzierenden Kognition« (skt. nirvikalpa-jñāna). Und es wird weiter angenommen, dass die nicht-differenzierende Kognition der »sekundä­ ren« (skt. pṛṣṭha-labdha) »analytischen Kognition« (skt. kalpanā-jñāna) vorausgeht. Erst vor dem Hintergrund der nicht-differenzierenden Intu­ ition kann der Intellekt die vielfältigen Ereignisse und Gegenstände der Welt richtig erkennen und beurteilen. Meiner Ansicht nach zeichnet der Übergang von der primären nicht-differenzierenden Kognition zur sekundären analytischen Kognition genau die innere Logik nach, welche der zeitlichen Abfolge zwischen dem Erwachen Buddhas und seiner Ana­ lyse der Zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens zugrunde liegt.

2. Die Besonderheit der Lehre Buddhas Im Horizont des Buddha existierten weder Geburt noch Tod. Die folgen­ den Strophen des Suttanipāta sind diesbezüglich von großem Interesse: Gleichwie den Lotus voller Schönheit Das Wasser nicht beflecken kann, So auch von Gutem wie von Bösem, Von beidem bleibst du unbefleckt! Die Füße strecke aus, o Held! Dem Meister huldigt [der Asket] Sabhiya! (547) Kein Maß gibt es für ihn, der hin zum Ende ging. Nicht gibt's ein Wort, durch das man ihn erfasst. Wenn alle Dinge völlig abgetan, Sind abgetan auch aller Rede Pfade. (1076) Es ist dieser Standpunkt, dessentwegen der Buddha, wie er uns im Suttanipāta begegnet, unentwegt warnt, sich nicht in dichotomischem Denken zu verfangen.

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Auf Grund von Ansicht nicht, von Wissen und Erkenntnis, Nicht kann man wegen Regeln und Gelübden von der ›Reinheit‹ sprechen. Doch auch nicht ohne Ansicht, Wissen und Erkenntnis, Nicht ohne Regeln und Gelübde, auch nicht ohne diese. Abwerfend jene, nicht sich klammernd, Wird man, gestillt und stützenlos, kein Dasein mehr ersehen. (839) Wer hier den guten Werken und den schlechten, wer beiden Bindungen entging, Den Kummerlosen, Lauteren und Reinen, den nenne einen Priester ich. (636) Von Regeln und Gelübden gänzlich lassend, Und auch vom Wirken, schlechtem und gutem. Nach ›rein‹ und ›unrein‹ kein Verlangen tragend, Entziehe man sich dem und suche nicht darin den Frieden. (900) Begrenzung überschritten hat der wahre Priester. Wenn er erkannt hat, klar geschaut die Dinge, Dogmen ergreifen gibt es nicht für ihn. Er ist nicht gierentbrannt und nicht erregt durch Abscheu. Nicht gibt es das für ihn: nach einem Jenseits greifen! (795) Der kein Verlangen hat nach beiden Enden, Nach Daseinsformen hier und drüben, Kein geistig Eingewöhnen gibt es mehr für ihn, Kein Dogma, unter Lehren ausgesucht. (801) Der Alternativlosigkeit aller Dualismen (Wissen und Unwissen, Heil und Unheil, Schuld und Unschuld, Reinheit und Unreinheit, Gier und Abscheu, Diesseits und Jenseits usw.) nicht verhaftet bleiben und jedwede Befangenheit zu transzendieren, das ist der hier gepriesene Geisteszu­ stand. Die folgende Rede bringt diese Lehre in vollendeter Konsequenz zum Ausdruck: Wer beide Enden klar durchschaut, Bleibt in der Mitte unberührt als Denker. Ihn nenn' ich einen Großen Mann. er überwand die Näherin [des Netzes der Begierden]. (1042)

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Tatsächlich ist der wahrhaft »Große Mann« (mahāpurisoti) nicht derje­ nige, der nur die Extreme meidet, sondern jemand, der auch gegenüber der Mitte unbefangen zu sein vermag. Man soll sich weder an das Sein noch an das Nichts, noch an die Negation von Sein und Nichts klammern. Es wird also gepriesen, sich von jedweden Differenzierungen frei­ zumachen. Dies heißt jedoch keinesfalls, man solle in einem Zustand der Dumpfheit und Selbstvergessenheit verharren oder in einer Welt der Starre und Passivität versinken. Sich des Unterscheidens und Urteilens zu enthalten, bedeutet, dass Befangenheit und Irreführung aufgrund von Gegenstandsbezügen enden und sich so das Wirken echter Subjektivität entfalten kann. Über den Wandel in der Welt ohne Befangenheit wird deshalb auch Folgendes gelehrt: Von denen abgelöst der Erhabene [nāga] durch die Welt dahinzieht, Nicht lerne er und lehr' er [deren Theorien]. Gleichwie Lotusblüten, die im Wasser wachsen, Vom Wasser und vom Schlamme bleiben unbefleckt, So auch ein Ehrwürdiger [muni], gierlos, Künder inneren Friedens, Wird nicht befleckt von Sinnen-Wünschen in der Welt. (845) Wer üblen Denkens sich entledigt, für den gibt's keine Fesseln. Und wer befreit in Weisheit, für den gibt es kein Wähnen. Die aber übles Denken und Ansicht in sich aufgenommen, Im Streit zusammenstoßend gehen sie durch die Welt. (847) Der in der Welt nicht irgendwelche Schuld begeht, Entledigt aller Fesseln, aller Banden, Der als ein Freier nirgendwo mehr haftet, Einen ›Erhabenen‹ [nāga] nenn man ihn in Wahrheit. (522) Die durch die Welt ziehen ohne anzuhängen, Entledigt, als Vollkommene, selbstbeherrscht, Die Opferspende mag er solchen reichen, Der Priester, der Verdienst begehrend opfern will. (490) Sich selber Leuchte, ziehn sie durch die Welt, Entledigt [akiñcana] und von allem ganz erlöst, Die Opferspende mag er solchen reichen, Der Priester, der Verdienst begehrend opfern will. (501)

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Ein Mensch, der auf diese Weise der Abhängigkeit von allem Dinglichen entkommen ist, wird sich deshalb aber nicht von dieser Welt lösen. Sondern er wird im Gegenteil in dieser Welt seinen Weg gehen. In der zuletzt zitierten Strophe heißt es, so ein Mensch habe sich allem »entledigt« (pāli. akiñcana). Dies bedeutet aber wohl nicht, dass er keinen einzigen materiellen Gegenstand besäße, sondern dass sein Geist nichts verdinglicht und deshalb mental ungebunden ist. In folgender Strophe wird ferner ersichtlich, dass Buddha selbst in diesem Sinn mental »entledigt« war und ohne die Welt zu transzendieren doch ein Dasein im Diesseits führte. Kein Priester bin ich, und kein Königssohn, Kein Bürger und nicht irgend anderer. Der Menge-Menschen Stamm hab' ich durchschaut, Besitzlos [akiñcana] geh' ich, wissend, durch die Welt! (455) Allem entledigt im Diesseits zu wandeln, bedeutet geistig ungebunden zu sein und doch in dieser Welt zu leben. Man könnte von der Verwirk­ lichung eines Lebenswandels als absolut freier Existenz sprechen. Von einer solchen Existenz ist auch in den folgenden Versen die Rede: Kein Löhnling bin ich irgendwem. Von dem Erdienten lebend zieh ich durch die Welt. Da dies erreicht, tut nun kein Lohndienst not: Wohlan, o Wolke, regne, wenn du willst! (25) In der Verszeile, »Kein Löhnling bin ich irgendwem« kann man die auf­ rechte Gestalt eines absoluten Subjekts erkennen. Der chinesische ZenMeister Línjì (gest. 867; jap. Rinzai) hat dieselbe Idee in einer ausdrucks­ starken Sentenz zusammengefasst: »Allerorts souverän stets in der Wahrheit weilend« (T 1985, Bd. 47, S. 498).

3. Handlungstheorie und Bedingtes Entstehen Als Shakyamuni der Buddha wurde und das Selbstvertrauen eines wahrhaft religiösen Menschen gewann, gelangte er zu der Überzeugung, dass der Lebenswandel des die damalige Gesellschaft dominierenden Priestertums (die Brahmanen) echter Religiosität nicht gerecht wurde. Die Predigten des Suttanipāta enthalten eine scharfe Kritik an diesem Priesterstand. Dies ist in der oben zitierten Strophe bereits angeklungen, in der Buddha die einem Priester angemessene Art zu opfern lehrt (490).

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Einerseits also spricht Buddha die Priester als religiöse Menschen an. Andererseits kritisiert er, dass das tatsächliche Verhalten des Priestertums der Lebensform echter Religiosität nicht gerecht wird. Besonders im siebten Kapitel (Strophen 284 bis 315) des zweiten Buchs des Suttanipāta wird der Lebenswandel des echten Priesters und die verkommene Lebensweise der tatsächlichen Brahmanen eingehend behandelt: »Allmählich sahen sie den Glanz des Herrschers und die schön geschmückten Frauen« (299). Auch die glanzvollen Wägen und Wohnhäuser des Adels machten Eindruck auf sie (300). »Solch reichen menschlichen Besitz begehrten diese Priester dann« (301). Deshalb empfahlen sie dem König Opfer darzubringen (302). Dieser machte die Priester durch seine vielfältigen Opfergaben wohlhabend (303–305). Aber »als diesen Reichtum sie erhalten, ihn aufzuspeichern Gefallen fanden, / Von ihren Wünschen gänzlich eingesponnen, wuchs mehr noch ihr Begehren an« (306). Deshalb forderten die Brahmanen den König zu weiteren rituellen Gaben auf und verlangten sogar Kühe zu opfern. Dies, so legt die Predigt Buddhas nahe, stürzte die Gesellschaft in großes Chaos. Vermutlich versprachen die Priester nicht nur der reichen Adels­ klasse, sondern auch dem gemeinen Volk, dass sie in einer seligen Welt wiedergeboren würden, wenn sie sich durch gute Taten in diesem Leben verdient machten. ›Da ihr aber nicht wie wir in strenger Askese leben könnt, solltet ihr uns um den Dienst an den Göttern bitten, und auf diese Weise Verdienste erwerben.‹ Indem die Priester Gegenleistungen für Gebete und Rituale nahmen und den derart erlangten Reichtum allmäh­ lich monopolisierten, entstand eine privilegierte Klasse. Naturgemäß bemühte diese sich zusehends weniger um wahre Religiosität als vielmehr darum, auf welche Weise sie ihre erworbenen Privilegien bewahren und ihr luxuriöses Leben erhalten konnten. Es war dieses Priestertum, welches Buddha wegen seines üblen Lebenswandels als falsche Hüter der Religion anklagte. Der die Verkleidung Tugendhafter annimmt, Sich vordrängt, dreist, Verderber der Familien, ein Gleißner, und wer zügellos und schwatzhaft, Verkappt einhergeht, der ist Pfad-Verderber. (89) Auch diese Strophe intendiert wahrscheinlich eine Kritik der tatsächli­ chen Priesterschaft. Demgegenüber wird im neunten Kapitel (Strophen 594 bis 656) des zweiten Buchs die Seinsweise des echten Priesters detail­

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liert dargelegt. Hier wird die verkommene Lebensform des Priestertums mit ihrem Gegenteil, d.h. mit ihrem Ideal konfrontiert. Den Zornesledigen und den Pflichtentreuen, den Tugendhaften, der von Aufwallungen frei, Ihn den Bezähmten, Träger letzten Leibes, den nenne einen Priester ich. (624) Wer beiden sich nicht zugesellt, den Hausnern nicht und auch nicht den Hauslosen, Den heimatlosen Wanderer, frei von Wünschen, den nenne einen Priester ich. (628) Wer ohne Feindlichkeit ist unter Feinden, inmitten von Gewalttat friedlich ist, Wer nicht mehr greift, wo andere gierig raffen, den nenne einen Priester ich. (630) Von dem da abgeglitten Gier und Hass, auch Dünkel und die Heuchelei, Wie's Senfkorn von der Nadelspitze fällt, den nenne einen Priester ich. (631) Milde, belehrende und wahre Worte, wer nur solche spricht, Durch die er niemanden verletzt, den nenne einen Priester ich. (632) In demselben Kontext finden wir die ultimative Kritik am tatsächlichen Priesterstand auf den Punkt gebracht: Nicht nenne jemand ›Priester‹ ich auf Grund von fleischlicher Geburt. Als Überheblicher nur gilt er, ist weltlich er und mit Besitz beschwert. Doch wer besitz-entledigt [akiñcana], frei von Hang, den nenne einen Priester ich. (620) Geburt in den Priesterstand bedeutet noch nicht ein Brahmane zu sein. Sondern wer sich der gegenständlichen Welt »entledigt [akiñcana] und frei von Hang« ist, erst der kann Priester heißen. Der Mensch ist, wer er ist, nicht kraft seiner Geburt, sondern kraft seiner tatsächlichen Lebens­ weise. Diese Idee wird in der folgenden Strophe auf den Begriff gebracht: Nicht durch Geburt ist man Verworfener, nicht durch Geburt ist Priester man!

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Durch seine Tat [kamma] ist man Verworfener, durch seine Tat ist Priester man! (136) Hier wird also geltend gemacht, dass das Wesentliche des menschlichen Daseins nicht die Geburt, sondern das Handeln ist. Die Tatsache, dass Buddha diesen Punkt im Indien der Antike klar formuliert hat, zeigt nicht nur, wie durchdringend seine Betrachtungen waren, sondern auch wie wenig er Autorität fürchtete. Diese Klarstellung Buddhas wird durch eine beispielhafte Erzählung erläutert, an deren Ende die prägnante Formulierung wiederholt wird: Auch hieraus könnt ihr es verstehen, ich gebe euch dies Beispiel hier: Ein Sohn von Ausgestoßenen, Hunde-Esser, der als ›Mātanga‹ weit bekannt, (137) Er hatte höchsten Ruhm erreicht, wie ein Mātanga kaum ihn je erlangt. Um aufzuwarten ihm, gar viele Adlige und auch Priester kamen. (138) Der Götter Fährte hatte er erklommen, den makellosen hohen Pfad. Von Sinnengier entsüchtet, sagt man, ist er zur Brahma-Welt [Himmel] gelangt. Nicht hielt ihn Abkunft davon ab, die Brahma-Welt sich zu gewinnen. (139) Brahmanen aus gelehrtem Haus, die mit den Veden wohl vertraut, Auch sie sogar kann häufig man mit üblem Tun befasst erblicken. (140) In diesem Leben schon wird ihnen Tadel, und künftig gehen sie zu niederer Welt. Nicht hielt von ihnen Abkunft fern die niedere Fährte oder Tadel. (141) Nicht durch Geburt ist man Verworfener, nicht durch Geburt ist Priester man! Durch seine Tat ist man Verworfener, durch seine Tat ist Priester man! (142)

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Indem Buddha klarstellte, dass es keineswegs die Geburt, sondern allein die Taten sind, welche die Zukunft eines Menschen bestimmen, entwi­ ckelte er eine mutige Kritik nicht nur an der damals üblichen Lebensweise der Priester, sondern auch an dem auf Erbfolge beruhenden Statussys­ tem als solchem. Obwohl Buddha annahm, dass vergangene Taten die Wiedergeburt als Mensch bestimmen, glaubte er vermutlich nicht, dass hierdurch die Verortung des einzelnen Menschen innerhalb einer Klassengesellschaft determiniert ist.16 Generell lehnte er ein Statussystem wie eine Kastengesellschaft ab. Hinsichtlich des menschlichen Wesens war es Buddhas Ansicht, dass alle Menschen ursprünglich gleich sind. Im neunten Kapitel des zweiten Buches lehrt Buddha also nicht nur die echte Lebensform des Priesters. Sondern er legt auch dar, dass alle Menschen nicht kraft Geburt, sondern aufgrund von Taten zu den Menschen werden, die sie sind. Nicht durch Geburt ist man ein Priester, Nicht-Priester auch wird man nicht durch Geburt; Durch die Tat [kamma] ist man ein Priester, Nicht-Priester auch wird man durch die Tat.(650) Durch die Tat ist man ein Bauer, durch die Tat ein Handwerksmann; Durch die Tat ist man ein Händler, durch die Tat wird Diener man. (651) Durch die Tat ist man ein Räuber, durch die Tat ein Krieger auch; Durch die Tat wird man ein Opferer, auch König wird man durch die Tat. (652) So eben sehen die Weisen der Wirklichkeit gemäß die Tat. Bedingtheit des Entstehens [paṭicca samuppāda] schauen sie, als Kundige der Tat und ihrer Folge. (653) Durch ihre Taten wird die Welt bewegt, Das eigene Tun bestimmt der Menschheit Lauf; Die Tat schafft den Zusammenhang der Wesen, Wie's Rad am Wagen durch den Achsennagel hängt. (654) Buddha hat klar gesehen, dass die Welt aufgrund der Handlungen der Menschen Gestalt annimmt und dass die Existenz der Menschen 16 Siehe hierzu S. 77–79 im Kapitel »Vergeltung und Gewissen«. — Anm. R.S.

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sich nach deren Taten bestimmt. Die hier angesprochenen Handlun­ gen bzw. Taten sind das sogenannte Karma (pāli kamma), von dem man annahm, dass ihm eine in die Zukunft reichende Wirksamkeit innewohnt. In Indien dachte man, dass jedes Handeln unausweichlich eine entsprechende Vergeltung nach sich ziehe. Buddha hat diese Theorie des Karma anerkannt. Für die Kausalbeziehung der Handlung steht in der oben zitierten Strophe 653 des Suttanipāta der Begriff des Bedingten Entstehens (pāli. paṭicca samuppāda). Ob man Bauer, Händler, Räuber oder Krieger wird, entscheidet sich aufgrund seiner Taten. Bedingtes Entstehen bezeichnet also den Umstand, dass Handlungen entsprechende Resultate bedingen. Im Suttanipāta kommt der Ausdruck nur an dieser einzigen Stelle vor. Der Begriff bezeichnet dort also nicht die kausale Relationalität alles Sei­ enden im Allgemeinen, sondern die Handlungskausalität. Insofern steht seine Verwendung hier der späteren Zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens nahe. Diese erklärt ausgehend von der Unwissenheit in zwölf Schritten, dass Handlungen, die auf falschen Annahmen beruhen, eine leidvolle Existenz nach sich ziehen und den Kreislauf der Wiedergeburten in Gang halten. Es ist deshalb von Interesse, dass im zwölften Kapitel des zweiten Buches des Suttanipāta eine Urform der Zwölfgliedrigen Kette des Bedingten Entstehens gelehrt wird: Bedingt durch Abhängigkeiten [upadhi] bilden sich die Leiden, Die in der Welt so mannig fach gestaltet. Unwissend wer sich Abhängigkeiten schafft, Stets neu gerät in Leid solch Tor. Daher soll, wer erkennt, nicht Abhängigkeiten schaffen, Er, der des Leids Geburt und Ursprung sieht. (728) Die Lehre vom Bedingten Entstehen, wie sie uns hier begegnet, nimmt genauso wie die Zwölfgliedrige Kette des Bedingten Entstehens ihren Ausgangspunkt in der latenten Gestaltungskraft des aus der Unwissenheit resultierenden Karmas. Insofern ist auch hier nicht der allgemeine Umstand der Kausalität, sondern das Problem der Praxis angesprochen. Die in dieselbe Epoche datierten und in der Einleitung vorgestellten sechs nicht-buddhistischen Denker vertraten im Großen und Ganzen Standpunkte, die dem Handeln keine Bedeutung beimessen. Vor die­ sem Hintergrund wird die Sonderstellung Buddhas deutlich, der einen moralischen Lebenswandel für unverzichtbar hielt. Die These, dass jede Handlung notwendig eine ihr gemäße Wirkung nach sich zieht, unterscheidet Buddha zwar auf der einen Seite von zeitgenössischen

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philosophischen Strömungen. Auf der anderen Seite stand er in diesem Punkt auf dem Boden der Tradition. Tatsächlich lehrte auch das vedi­ sche Denken moralische Vergeltung im Kreislauf der Wiedergeburten.17 Während der Brahmanismus aber die Erlösung aus dem leidvollen Kreislauf von Geburt und Tod in der Vereinigung der Individualseele (skt. ātman) und der Weltseele (skt. brahman) erblickte, lehnte Buddha eine substanzielle Auffassung der Seele ab und vertrat dagegen die Idee des Nicht-Selbst. In diesem Punkt ist der Buddhismus aus Sicht des hinduistischen Denkens zweifellos eine Form der Heterodoxie. Die Idee der karmischen Vergeltung hat der Buddhismus dagegen nicht nur nicht abgelehnt, sondern eher noch betont. Denn keinem kann sein Werk [kamma] verloren gehen, Der Eigner, wahrlich, er erlangt es eben. In anderer Welt ja wird gar schweres Leiden Der Tor erfahren an sich selbst, der Übeltäter. (666) Diese und andere Stellen sind der Grund dafür, dass der Buddha auch als Handlungstheoretiker oder Vertreter der Karmalehre (pāli kamma-vadin) bezeichnet wird. – Der Buddhismus lehrt also die uneingeschränkte Geltung des Gesetzes der karmischen Vergeltung. Das bedeutet, dass gute Taten in diesem Leben und nach dem Tod erfreuliche Wirkungen, schlechte Taten aber in diesem Leben und nach dem Tod leidvolle Wirkungen zeitigen. Wer dieses Kausalgesetz leugnet, verfällt aus buddhistischer Sicht einer schlechten Anschauung. In der späteren »Abhandlung über die Vollendung des NurBewusstseins« (chin. Chéng wéishí lùn) werden Gut und Böse [entspre­ chend der Idee der Handlungskausalität] wie folgt definiert: »In dieser und der nächsten Welt [sich und anderen] dienlich sein, wird gut genannt. [...] In dieser und der nächsten Welt [sich und anderen] Schaden zufügen, wird schlecht genannt« (T 1585, Bd. 31, S. 26). Auf diese Weise hat der Mahāyāna-Buddhismus die Handlungstheorie Buddhas aufge­ nommen und die Karma-Idee [konsequentialistisch] weitergedacht.18

17 Wie im Kapitel »Vergeltung und Gewissen« (S. 68) dargestellt, ist etwa J. Bronk­ horst (Karma, 2011, 1–5) nicht dieser Auffassung. — Anm. R.S. 18 Vgl. meine Ausführungen zum Konsequentialismus im Kapitel »Vergeltung und Gewissen« auf den S. 91–92. — Anm. R.S.

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4. Das gute Handeln Der im Pāli-Buddhismus überaus beliebte Text Dhammapada (Lehr­ verse), dessen Entstehung ähnlich früh angesetzt wird wie die des Suttanipāta, enthält folgende berühmte Verse: Das Unterlassen allen Übels, das Aufsichnehmen des Guten, die Reinigung des Geistes: dies lehren die Erwachten. (Dhp 183) Dieser Zweizeiler wird im Mahāyāna-Buddhismus das »Gemeinsame Gebot der Sieben Buddhas« genannt. Es wird angenommen, dass der Vers die übereinstimmende Lehre aller Erwachten der Vergangenheit bis Shakyamuni Buddha zusammenfasst. Wir haben hier also die Lehre Buddhas in besonders konzentrierter Form vor uns. Alles erdenklich Gute zu tun, ist demnach der Schlüssel, den Pfad Buddhas zu vollenden und von menschlichem Leid befreit zu werden. Aber welche Handlungen zählen nun als gute Handlungen? Wir wollen dieser Frage wieder anhand des Suttanipāta nachgehen, in der sich die folgenden Strophen finden: Stets in Tugend fest, wer weise und gesammelt ist, Verinnerlicht und achtsam lebt, der kreuzt die Flut, Die wahrlich schwer ist zu durchkreuzen. (174) Die Weisheitsstarken, Tugendfesten, Regeltreuen, Geeint im Geiste, Schauung liebend, achtsam, Vom Fesselwerk gelöst, der unverschlackt und triebfrei, Auch diesen, wahrlich, wissen Weise als den Ehrwürdigen. (212) In diesen beiden Strophen wird dargelegt, was auch als die »Drei Formen des Lernens« oder die »Drei Schulungen« (skt. śikṣā-traya) bekannt ist. Diese sind Moral (pāli sīla, skt. śīla), Meditation (pāli / skt. samādhi) und Weisheit (pāli pañña, skt. prajñā). Die Meditation als Übung der geistigen Sammlung und die hierdurch zu verwirklichende Weisheit sind essentielle, für den buddhistischen Pfad unverzichtbare Disziplinen. Unter den Drei Schulungen ist es aber natürlich die Moral, welche die konkrete Praxis des Individuums betrifft. Im Suttanipāta wird im dreizehnten Kapitel des zweiten Buches die richtige Lebensweise des Wanderasketen gelehrt (359–375). Auch im vierzehnten Kapitel des achten Buches wird das vorbildliche Verhalten des Übenden in Tat, Wort und Geist erklärt (915–934). Anderenorts finden sich im Suttanipāta außerdem auch folgende Strophen:

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Nicht lüstern und nicht listig, nichts erdürstend, Nicht schroff, von Leidenschaft geläutert und vom Wahn, Sehnsucht nach irgend etwas in der Welt nicht hegend, Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich. (56) Spiel und Vergnügen, weltlich Glück der Sinne, Als unbefriedigend sehend, nicht mehr danach trachtend, Den Prunk vermeidend und die Wahrheit sprechend, Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich. (59) Keiner soll den anderen hintergehen; Weshalb auch immer, keinen möge man verachten! Aus Ärger und aus feindlicher Gesinnung Soll Übles man einander nimmer wünschen! (148) Vor dem Zerfall [des Körpers] schon begehrensfrei, Hängt nicht sein Geist an dem, was früher war. Unergründlich in der Mitte [der Gegenwart], Kennt nicht Erwartung er [und Zukunftswünsche]. (849) Wer zornlos, ohne Furcht und Prahlsucht, ruhigen Gewissens [a-kukkucca], Besonnen sprechend, unerregt, – er ist ein Ehrwürdiger, der im Wort gezügelt. (850) Nicht hängt er an die Zukunft sich, und der Vergangenheit klagt er nicht nach. Im Sinnen-Eindruck dessen Leerheit schauend, lässt er von Ansicht sich nicht mehr verleiten. (851) Abgelöst und ohne Trug, von Habsucht frei und ohne Neid, Bescheiden, unanstößig lebt er, Verleumdung sprechen wird er nicht. (852) Nicht ist er zugetan den angenehmen Dingen, von Überheblichkeit hält er sich frei. Milde ist er, scharf ist seine Einsicht; nicht ist er gläubig, und hegt nicht Abscheu. (853) Hier zu den Dingen, welche lieb gehalten, Ob sie gesehen, gehört, gefühlt, erkannt, Zu ihnen jede Willensgier verwinden, Ist die Nirwana-Stätte unvergänglich. (1086)

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Die achtsam und besonnen dies erkannt, In dieser Sichtbarkeit schon ganz gestillt, Für immer sind im Frieden sie, Entgangen jedem Haften an der Welt. (1087) Es ließen sich noch viele weitere Stellen anführen, in denen Normen für den Alltag gegeben werden; natürlich vor allem für den Asketen, aber auch für den Laien. In den zitierten Strophen handelt es sich in erster Linie um Ermahnungen hinsichtlich der mannigfaltigen dem menschli­ chen Herzen innewohnenden Unreinheiten (skt. kleśa). Diese zu über­ windenden Geisteszustände wurden in der späteren Scholastik und im Mahāyāna-Buddhismus als separate Gruppen in die bis zu hundert Ele­ mente oder Faktoren (pāli dhamma; skt. dharma) umfassenden Onto­ logien integriert. Von den häufig genannten Sechs Unreinheiten (Gier, Zorn, Stolz, Unwissenheit, Zweifel, Irrtum) wird ferner angenommen, dass sie die Ursache von bis zu zwanzig weiteren, sekundären Lastern sind (z.B. Faulheit, Schamlosigkeit, Eifersucht, Niedergeschlagenheit, Vergesslichkeit, Unaufrichtigkeit usw.). Neben der Katalogisierung von Lastern und mentalen Befleckungen wurden die Handlungsnormen der Übenden auch in Form von Regeln systematisiert. Die der rechten Praxis zugrunde liegenden Zehn Gebote des frühen Mahāyāna-Buddhismus sind hierfür ein Beispiel: 1 bis 3 Das körperliche Verhalten betreffen die Verbote des Tötens, Stehlens und des sexuellen Fehlverhaltens. 4 bis 7 Die Kommunikation betreffen die Gebote, nicht zu lügen, nicht eitel zu sprechen, keine Hassreden zu führen und keine Zwie­ tracht zu sähen. 8 bis 10 Die mentale Einstellung betrifft das Gebot, den Geist von Gier, Zorn und Unwissenheit zu befreien.19 Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, das wahrhaft Gute zu verfehlen, weil man innerhalb der Dichotomie von Gut und Böse durch das Gute befangen ist. Die Vorschrift der Reinigung des Geistes im Gemeinsamen Gebot der Sieben Buddhas kann so ausgelegt werden, dass man zwar das Gute üben, aber nicht aufgrund desselben voreingenom­ men sein soll. Das heißt, es kommt darauf an, unnötiges Räsonieren und Verurteilen zu vermeiden, obwohl man tatsächlich das Gute tut. Man könnte sogar sagen, dass das Gute gerade darin besteht, sich nicht an 19 Eine weitestgehend übereinstimmende Liste von zehn Geboten existiert auch im Pāli-Buddhismus. D. Keown, The Nature of Buddhist Ethics (1992), 30. — Anm. R.S.

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objektive Urteile zu klammern. Das bedeutet letztlich, dass man keine dogmatischen Ansichten über die Dinge hegen soll. Dieser Punkt wird in den folgenden Versen dargelegt: Gewohnte Ansicht, schwer ist sie zu lassen, Ein Dogma, unter Lehren ausgesucht. Daher aus allen den Gewohnheiten des Denkens, Verwirft man eine Lehre, nimmt die andere an. (785) Wer abgeschüttelt hat, hegt nicht erdachte Ansicht, Von irgendeinem Sein aus dieser ganzen Welt. Wer Schein und Dünkel lassend, alles abgeschüttelt, Womit sollt' man ihn angehn? Nahe geht's ihm nimmer. (786) Wer nahe geht den Dingen, nah' ist er dem Meinungsstreit. Wem nichts mehr nahe geht, wodurch und wie sollt' Rede je ihn treffen? Aufgreifen und Verwerfen gibt es nicht für ihn, Der hier schon abgeschüttelt alle Ansicht. (787) Es ist also wichtig, jegliche Voreingenommenheit und Befangenheit zu überwinden. Und dieses Überwinden gelingt nur, indem man tatsächlich nichts begehrt und nichts verabscheut. Selbst wenn man nur das Gute will und nur diesen Weg verfolgt, ist es ohne einen solchen erhabenen Standpunkt wahrscheinlich unmöglich, das letzte Problem zu lösen und auf den Grund der Todlosigkeit vorzustoßen. Obwohl paradox, besteht das Gute gerade darin, noch den Dualismus von Gut und Böse zu transzendieren. Erst die Erhabenheit noch gegen die Negation von Gut und Böse bedeutet das ultimativ Gute. Um dieses endgültig Gute zu verwirklichen, ist die mentale Schulung der Konzentration bzw. Meditation wahrscheinlich unverzichtbar. In diesem Zusammenhang hat die folgende Strophe ihren tieferen Sinn: Kein Maß gibt es für ihn, der hin zum Ende ging. Nicht gibt's ein Wort, durch das man ihn erfasst. Wenn alle Dinge völlig abgetan, Sind abgetan auch aller Rede Pfade. (1076) Auf dieser Grundlage wird an anderer Stelle weiter Folgendes gelehrt: Stets achtsam tilgend jeden Glauben an ein Ich, Betrachte, [Asket] Mogharāja, diese Welt als leer [suñña]! Zum Todbesieger werde so! Wer so die Welt betrachten kann, Vom Todesfürsten wird er nicht erspäht. (1119)

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In dieser Strophe wird nicht nur das Selbst als leer (pāli suñña, skt. śūnya) zu betrachten gelehrt. Sondern kein anderer als der Standpunkt des Mahāyāna-Buddhismus wird hier vertreten: Es wird die Leerheit oder Substanzlosigkeit aller Faktoren der Wirklichkeit, d.h. von Selbst und Welt behauptet. Wie wir oben gesehen haben, predigte Buddha durchs Leben zu gehen, ohne den Dingen verhaftet zu sein. Er lehrte keineswegs, einfach in der Dimension des Erwachtseins zu verharren. Die Tatsache, dass er sogar dazu aufrief, gegenüber allen Mitmenschen unbegrenzte Barmher­ zigkeit zu üben, muss meines Erachtens im Zusammenhang mit dieser [erhabenen] Haltung gedeutet werden. Die nun folgenden Strophen des Suttanipāta sind besonders berühmt: Wie eine Mutter ihren eigenen Sohn, Ihr einzig Kind mit ihrem Leben schützt, So möge man zu allen Lebewesen Entfalten ohne Schranken seinen Geist! (149) Voll Güte zu der ganzen Welt Entfalte ohne Schranken man den Geist: Nach oben hin, nach unten, quer inmitten, Von Herzens-Enge, Hass und Feindschaft frei! (150) Ob stehend, gehend, sitzend oder liegend, Solange man von Schlaffheit frei, Auf diese Achtsamkeit soll man sich gründen. Als göttlich Weilen gilt dies schon hienieden. (151) Die gedankliche Grundlage dieses universellen Mitgefühls ist in folgen­ der Strophe enthalten. Man spricht hier vom sogenannten »Mitgefühl der Gleichheit« (chin. tóngtǐ cíbēi): ›Wie ich bin, so sind diese auch; wie diese sind, so bin auch ich‹, Wenn so dem anderen er sich gleichsetzt, Mag er nicht töten oder töten lassen. (705) Die Barmherzigkeit nach Art der Liebe zum einzigen Kind wird auch in den Schriften des Mahāyāna-Buddhismus gelehrt. Die Geschichte im vierten Kapitel des Lotos-Sutra (Fǎhuá jīng, chin. T 262, Bd. 9, S. 16–19) erzählt von ihr. Sie wird auch in der Abhandlung über die Juwelnatur (Bǎoxìng lùn, chin. T 1611, Bd. 31, S. 834) zitiert und im chinesischen Nirwana-Sutra als erster Schritt auf dem Pfad der Bodhisattva-Praxis angeführt (Nièpán jīng, chin. T 374, Bd. 12, S. 459). Das im Mahāyāna-

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Buddhismus betonte Mitfühlen nach Art einer Mutter mit ihrem einzigen Kind kommt demnach bereits in den ältesten Schichten des buddhisti­ schen Schrifttums vor. Die Barmherzigkeit wird also seit der Zeit des historischen Buddha betont. Das Ziel dieses Abschnittes war es eigentlich zu bestimmen, welche Art von Handlungen moralisch gut sind. Dabei hat sich unerwarteter­ weise gezeigt, wie direkt die Traditionslinie zwischen dem Buddha des Suttanipāta und dem Mahāyāna-Buddhismus tatsächlich ist.

Schluss Buddha lehrte, dass der einzelne Mensch durch nichts anderes als seine Handlungen bestimmt ist. Und da jede Handlung entsprechende Wir­ kungen zeitigt, sind wir zu gutem Handeln verpflichtet. Das moralische Handeln besteht zum einen in der Loslösung von leidvollen Gemütszu­ ständen wie Begierde, Zorn und Unwissenheit und zum anderen im unentwegten Lernen von Moral, Meditation und Weisheit. Auf diesem Weg erfolgt schließlich die Erkenntnis der Leere bzw. der Substanzlosig­ keit von Selbst und Welt. Allerdings muss zu diesem Zweck ein Stand­ punkt erreicht werden, der alle auf dualistische Begrifflichkeit gründende Urteile überwunden hat. Letztendlich besteht hierin der Durchbruch zum Grund der Todlosigkeit bzw. zu dem weder entstehenden noch vergehenden Nirwana. Diese Dimension des Erwachens ist der Kern des Buddhismus. Allerdings soll in diesem Zustand nicht innegehalten werden. Die ungebundene Seinsweise einmal verwirklicht, gilt es im Diesseits tätig zu bleiben. Nicht zuletzt, um die in dieser Welt leidenden Menschen zu bekehren und zu retten. Die Grundlage hierfür ist ein aus der Tiefe des Herzens sprudelndes Mitgefühl für alle Lebewesen. Buddhas Betonung eines aktiven Lebens beinhaltete nicht nur eine scharfe Kritik an der Lebensweise der Priester, sondern erlaubte auch eine klare Zurückweisung des das Priestertum privilegierenden Kastensystems. Auf diesen nachhaltig kritischen Geist gegenüber der gesellschaftlichen Realität sollte sich der Buddhismus heute wieder besinnen. Buddha vertrat einen Standpunkt, der den hoffnungslosen, die Sinnlosigkeit alles Handelns lehrenden Nihilismus seiner Zeitgenossen überwunden hatte. Nur deshalb konnte sich der Buddhismus in der Folge zu einer Weltreligion entwickeln. Aus diesem Grund sollte der

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großen Bedeutung Buddhas als Theoretiker des Karma mehr Beachtung geschenkt werden. Es ist weiterhin ein bemerkenswerter Umstand, dass die Leere bzw. Substanzlosigkeit von Selbst und Welt sowie die Barmherzigkeit gegenüber allen Lebewesen, die Buddha im Suttanipāta lehrt, mit dem späteren Mahāyāna-Buddhismus durchaus übereinstimmen.

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Freiheit und Wechselseitigkeit in Kants Ethik

Einleitung: Von der Goldenen Regel zum Kategorischen Imperativ Den zweiten Teil seiner 1785 publizierten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) hat Kant unter den Titel gestellt »Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten«.1 Tatsäch­ lich aber lässt sich in den entsprechenden Passagen nur mit Mühe ein »Übergang« erkennen. Was Kant hingegen möchte, ist die Metaphysik der Sitten von der herkömmlichen Moral »lieber ganz absondern [...] und das Publikum, das Popularität verlangt, bis zum Ausgange dieses Unternehmens [...] vertrösten« (4:410). Zwar sei die »Herablassung zu Volksbegriffen [...] sehr rühmlich«, allerdings nur unter der Bedin­ gung, dass »die Erhebung zu den Prinzipien der reinen Vernunft zuvor geschehen« ist. Das Projekt der Grundlegung der Ethik musste also dem Versuch, dieser »durch Popularität Eingang [zu] verschaffen«, vorausgehen (4:409). Wie wenig Kant in der Grundlegung darum bemüht war, die Anschlussfähigkeit seines Kategorischen Imperativs an bisherige Moral­ vorstellungen offenzulegen, kommt insbesondere im Zusammenhang mit den unbedingten Unterlassungspflichten gegenüber unseren Mit­ menschen zum Ausdruck. Diese sind allen voran die Verbote, andere Menschen zu belügen, ihnen Gewalt anzutun oder sie zu bestehlen; also jene Elemente der Moral, hinsichtlich derer sich sowohl im Kulturver­ gleich als auch mit Blick auf die Weltreligionen verhältnismäßig leicht ein

1 Mit Ausnahme der Vorlesung zur Moralphilosophie (V-Mo) nach Paul Menzer (siehe Fn. 10) beziehen sich alle Seitenzahlen auf die sogenannte Akademieausgabe (AA) Gesammelte Schriften (Berlin 1900ff). Die Abkürzungen folgen dem Siglenverzeichnis der Kant-Gesellschaft. Siehe im Anhang »Kanonische Quellen und digitale Ressour­ cen«.

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Minimalkonsens erzielen lässt.2 Im Anschluss an seine Diskussion dieser ethischen Grundregeln macht Kant in einer Fußnote folgende wenig präzise und zu einem gewissen Grad irreführende Bemerkung: Man denke ja nicht, dass hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. [d.i. die Goldene Regel] zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem [Prinzip, d.i. der Kategorische Imperativ] abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u.s.w. (4:430, Fn.)

Die Gründe, welche Kant für seine Zurückweisung der Goldenen Regel (Was du nicht willst, das dir die anderen tun, das füge auch keinem anderen zu!) anführt, werden unten im Einzelnen diskutiert. Festgehalten werden soll zunächst nur, dass Kant die Goldene Regel trotz ihrer angeblichen Trivialität mit Einschränkungen durchaus als eine Konsequenz seines Kategorischen Imperativs gelten ließ. Wenig präzise ist Kants Bemerkung deshalb, weil er damit auch zugab, dass die Goldene Regel, wenn auch nicht als »Prinzip« der ganzen Ethik, doch als »Richtschnur« in bestimmten moralischen Fragen dienen kann. Irreführend ist die Bemerkung insofern, als Kant sich in seiner in Rechtslehre (RL) und Tugendlehre (TL) ausgearbeiteten Ethik selbst Argumentationsfiguren bediente, die eine schwer zu leugnende Ähnlichkeit mit der Goldenen Regel aufweisen.3 Um nun in die kantische Ethik einzuführen, oder wie Kant sagen würde, ihr »Eingang« und »Popularität« zu verschaffen, scheint es sinnvoll, die Reihenfolge von Grundlegung und Darstellung seiner Ethik umzukehren. Kants Moralphilosophie soll hier gewissermaßen von hinten aufgerollt werden. Denn Plausibilität wird Kants Ethik für nicht fachphilosophisch gebildete Leser nur dann gewinnen, wenn sich zeigen lässt, dass Kant in seiner gänzlich aus dem Kategorischen Imperativ abgeleiteten praktischen Philosophie tatsächlich Grundüberzeugungen 2 Vgl. »Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen« (1993), in H. Küng, Handbuch Weltethos (2012). 3 Metaphysik der Sitten [1797]. Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechts­ lehre [RL]. Zweiter Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre [TL], AA 6.

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der Alltagsmoral einholen konnte. Es soll also genau das versucht werden, was Kant entgegen der gewählten Überschrift im zweiten Teil der Grund­ legung gar nicht leisten wollte, nämlich ein »Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten«. Hierbei wird vor allem auf zwei verbreitete moralische Grundsätze Bezug genommen. Erstens, die bereits angesprochene Goldene Regel, und zweitens, das Prinzip der Verallgemeinerung (Welche Folgen hätte es, wenn alle so handeln würden?). Dieser Ansatz scheint umso mehr gerechtfertigt, als in der Forschung bereits gezeigt wurde, dass »die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ« gelten kann.4

Wechselseitige Freiheitsgewährung Während in der europäischen und chinesischen Antike die philoso­ phische Frage nach der richtigen Lebensführung primär als Problem der Selbstkultivierung zur Tugend und des Strebens nach der Glück­ seligkeit thematisiert wurde,5 rückte in der neuzeitlichen Philosophie ‒ nicht zuletzt in der Folge Kants ‒ die Frage nach den Regeln des menschlichen Zusammenlebens ins Zentrum der Moralphilosophie. Für zeitgenössische Leser ist es deshalb umso erstaunlicher, dass die elementare Bedingung, unter der sich dieses Problem überhaupt stellt, nämlich die Tatsache, dass der Mensch ein soziales Lebewesen ist, in Kants Grundlegung nicht klar herausgestellt wird. Der Grund hierfür liegt darin, dass Kant sich in der Grundlegung zum Ziel gesetzt hatte, das Prinzip der Moral a priori, d.h. frei von empirischen Prämissen auf­ zuweisen. Empirisches Wissen, insbesondere das der »Anthropologie«, bedarf die Moral erst »zu ihrer Anwendung auf Menschen« (4:412), so Kant. Leserinnen müssen sich deshalb weit in den moralphilosophischen Schriften Kants vorarbeiten, um den elementaren anthropologischen Sachverhalt der Sozialität des Menschen in der wünschenswerten Klar­ heit ausgesprochen zu finden. In den Paragraphen der Tugendlehre über 4 J. Hruschka, »Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeine­ rung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ« (1987). 5 C. Horn, Antike Lebenskunst (1998). H. Roetz, Die chinesische Ethik der Achsen­ zeit (1992).

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die »Pflicht der Wohltätigkeit« formuliert Kant schließlich, dass die Menschen als »bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zu wechselseitiger Beihilfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind« (6:453). Die Tatsache, dass wir von Natur aus soziale, genauer gesagt kooperierende Lebewesen sind, lässt sich in kantischer Terminologie auch so ausdrücken, dass sich die Menschen in »wechselseitigem Eigen­ nutz« stets als Mittel zu ihren Zwecken gebrauchen.6 Diese Zwecke können gemeinsame oder verschiedene Zwecke sein. In der kooperativen Kinderfürsorge oder der kooperativen Nahrungsbe­ schaffung sind die beteiligten Personen einander Mittel zur Erreichung gemeinsamer Zwecke. Wohingegen zum Beispiel im Gewerbe die Zwecke der interagierenden Personen verschiedene sind: Dem Verkäufer dient der Käufer als Mittel zum Zweck des Gelderwerbs. Umgekehrt dient der Verkäufer dem Käufer als Mittel zum Zweck des Erwerbs etwa eines Gegenstands. Aber nicht nur Interaktionen, auch die zwischen­ menschliche Kommunikation lässt sich in dieser Terminologie fassen: Die Gesprächspartner einer zwanglosen Unterhaltung zum Beispiel gebrauchen sich wechselseitig zwecks der Zerstreuung. Ebenso lässt sich sagen, dass der Informant dem Informierten als Mittel zum Zweck der Informationsbeschaffung dient. Die in der kooperativen Lebensform des Menschen bereits ange­ legte Wechselseitigkeit liegt nicht nur der Goldenen Regel, sondern auch dem sogenannten Talions- oder Vergeltungsprinzip zugrunde, das im Deutschen durch die Wendung wie du mir, so ich dir und im Englischen durch den Ausdruck tit for tat wiedergegeben wird. Das Vergeltungsprinzip setzt zunächst nur ein bilaterales Verhältnis, also eine Interaktion zwischen genau zwei Akteuren voraus. Zeigen sich beide Individuen in der ersten Interaktion kooperationsbereit, beantworten beide Individuen in der zweiten Interaktion die Kooperationsbereitschaft des Gegenübers erneut mit Kooperationsbereitschaft. Es entsteht also eine Reihe gelungener Interaktionen, die der ursprünglich positiven Redewendung die eine Hand wäscht die andere gehorcht. Verweigert einer der beiden Akteure im ersten Aufeinandertreffen die Kooperation, wird diese Verweigerung in der zweiten Interaktion durch den anderen Akteur seinerseits durch Weigerung vergolten. Hieraus ergibt sich eine Reihe misslungener Interaktionen, die dem alttestamentarischen Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn entspricht. Aus diesem elementaren Modell leitet sich die ethische Minimalforderung ab, in jeder Erstbegeg­ 6 I. Kant, Zum ewigen Frieden (ZeF) [1795], AA 8:368.

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nung dem Interaktionspartner einen Vertrauensvorschuss zu geben.7 Man spricht hier auch von indirekter im Unterschied zur bloß ausgleich­ enden direkten Reziprozität. Unter mehreren Individuen kann dies im Sinne der Goldenen Regel als die Forderung formuliert werden, jedem Mitmenschen stets so zu begegnen, wie du willst, dass er dir begegnet, nämlich kooperationsbereit. Wird diese Regel von allen Akteuren befolgt, entsteht eine Gemeinschaft, in der alle Individuen einander wechselseitig als Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke dienen können.8 Es gehört nun zu den bedeutenden begrifflichen Leistungen Kants, dass er das Vermögen der Zwecksetzung mit der Freiheit des Menschen identifizierte. Die Freiheit unserer Mitmenschen zu achten, bedeutet nichts anderes als zu respektieren, dass jeder Mensch in seinem natürli­ chen Streben nach Glück seine eigenen Zwecke verfolgt. Welche das sind, ist individuell verschieden. Nur die Tatsache, dass der Mensch Zwecke verfolgt, kann mit Sicherheit, oder in Kants Worten, a priori ausgesagt werden. Hieraus leitet sich die in der breiten Öffentlichkeit leider weniger bekannte Forderung der sogenannten Selbstzweck-Formel des Kategori­ schen Imperativs ab, die lautet: Gebrauche deine Mitmenschen niemals bloß als Mittel zu deinen Zwecken! Der Umstand, dass wir unsere Inter­ aktionspartner immer auch als Mittel zu unseren Zwecken gebrauchen, ist ‒ wie oben dargelegt ‒ in den kooperativen Lebenszusammenhängen des Menschen ursprünglich vorausgesetzt. Die Tatsache, dass wir a priori nicht wissen, welche Zwecke das einzelne Individuum verfolgt, der Mensch aber aufgrund seiner Freiheit in der Lage ist, den unterschiedlichsten Zielen nachzugehen, drückt Kant so aus, dass der Mensch seinen Zweck an sich selbst hat. Nur die menschliche Freiheit ist deshalb nach Kant als Bedingung der Zwecksetzung überhaupt Selbstzweck. Und genau hierin liegt in Kants Begrifflichkeit die Würde des Menschen begründet. Die Forderung der Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs, den Menschen »jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel« zu behandeln, ist deshalb ganz im kantischen Sinne zur Auslegung des ersten Satzes des deutschen 7 Vgl. M. Bauschke, Die Goldene Regel (2010), 95–103. B. Brülisauer, »Die Goldene Regel« (1980). 8 Die Anklänge an die Diktion der Spieltheorie sind beabsichtigt. Tatsächlich konnte die moderne Spieltheorie anhand von Computersimulationen zeigen, dass sich in gemischten Populationen von unkooperativen Individuen und genau einmal in Vorleistung gehenden kooperationsbereiten Individuen zwischen den letzteren stabile Muster der Kooperation herausbilden. M. Nowak mit R. Highfield, Kooperative Intelligenz (2013).

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Grundgesetzes herangezogen worden. Die Unantastbarkeit der Men­ schenwürde bedeutet demnach, dass der einzelne Mensch niemals bloß als Mittel missbraucht werden darf. Hierdurch ist nicht nur untersagt, dass Privat- und Rechtspersonen sich untereinander ausnutzen, sondern auch verfassungsmäßig zugesichert, dass von Seiten des Staates kein Mensch gegen seinen Willen für das Gemeinwohl geopfert werden darf. Als Grundformen des Missbrauchs eines Menschen können körper­ liche Gewalt, Freiheitsberaubung, betrügerische Täuschung, sexuelle Nötigung oder Entwendung von Eigentum genannt werden. In all diesen Fällen wird einem Menschen ohne sein Einverständnis durch Zwang oder Täuschung die Freiheit genommen, eigene Zwecke zu verfolgen.9 Derartige Handlungen zu unterlassen, gehört zu jenen »schuldigen Pflichten gegen einander«, die Kant in der eingangs zitierten Kritik der Goldenen Regel angesprochenen hat. Sie sind in der nur billigen Minimalforderung enthalten, die Freiheit und Würde unserer Mitmen­ schen zu achten. »Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden« (TL 6:462). Im Sinne der Gol­ denen Regel bedeutet dies, dass der von uns erhobene Anspruch auf Freiheit uns verbindet, die Freiheit der anderen gleichermaßen zu achten. Anderenfalls geraten wir in einen Widerspruch zu uns selbst. Dass Kant ausgerechnet im Zusammenhang mit dieser Kernforderung der Ethik darauf hinweist, »man denke ja nicht«, dass die Goldene Regel »hier« als »Richtschnur« dienen könne, ist für den unbedarften Kant-Leser wenig hilfreich. Denn die »Richtschnur« oder der Grundsatz, niemanden zu töten, weil ich selbst nicht getötet werden will, ist zweifelsfrei auch gemäß der bekannteren Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs eine Maxime, von der ich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Die bisherige Diskussion sollte verdeutlichen, dass der Kategorische Imperativ in seiner rudimentärsten Form nicht mehr und nicht weniger als die wechselseitige Freiheitsgewährung gebietet. Alle Regeln, die dieses gewährleisten, sind nicht nur moralisch legitim, sondern auch denkbare Gesetze des liberalen Rechtsstaats. »Das Recht«, so formuliert Kant, »ist [...] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (RL 6:230). Nach Kant gibt es des­ halb im strengen Sinne auch nur genau ein Menschenrecht: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie 9 Vgl. C. M. Koorsgaard, »The Right to Lie. Kant on Dealing with Evil« (1986).

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Freiheit und Wechselseitigkeit in Kants Ethik

mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht« (RL 6:237). Dieses Recht sich wechselseitig zu gewähren, gebietet die Goldene Regel nicht weniger als der Kategorische Imperativ.

Die Pflicht der Hilfeleistung In seiner in Nachschriften überlieferten Ethik-Vorlesung, die Kant wahrscheinlich mindestens bis zur Erscheinung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Jahr 1785 gehalten hat,10 behauptet Kant, dass jedermanns gewissenhafte Beobachtung seiner schuldigen Pflichten genügen würde, dass es keine Armut in der Welt gäbe: »wenn alle keine Handlungen der Liebe und Gütigkeit ausüben möchten, aber das Recht jedes Menschen unverletzt ließen, dann wäre kein Elend in der Welt [...]« (209). »Wären die Menschen [also] pünktlich gerecht, so möchte es keine Armen geben [...]« (251). Während der Abfassung der Metaphysik der Sitten im Jahr 1797 war Kant sich seines Optimismus nicht mehr so sicher, dass unter rechtlichen Bedingungen das Glücksstreben allein Wohlstand für alle nach sich zieht: Würde es mit dem Wohl der Welt überhaupt nicht besser stehen, wenn alle Moralität der Menschen nur auf Rechtspflichten, doch mit der größten Gewissenhaftigkeit eingeschränkt, das Wohlwollen aber unter die Adia­ phora [d.i. moralisch neutrale Handlungen] gezählt würde? Es ist nicht so leicht zu übersehen, welche Folge es auf die Glückseligkeit der Menschen haben dürfte. (TL 6:458)

Obwohl die Freiheit seiner Mitmenschen zu achten, eigentlich nur billig ist, machte sich Kant ohnehin keine Illusionen über die Pünktlichkeit des Menschen in der Befolgung seiner Pflicht. Deshalb müssen ‒ ob nun als Ergebnis moralischer Übertretungen oder von Natur aus ‒ Not und Elend als empirische Tatsachen der menschlichen Welt Rechnung getragen werden. Und da nun »mancher«, wie Kant in seiner Kritik der Goldenen Regel formulierte, »es gerne eingehen [würde], daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen«, war Kant der Ansicht, dass die nur negativ, d.h. als 10 G. Gerhardt, »Zur Neuausgabe [der Edition Paul Menzer]« in I. Kant, Eine Vorlesung über Ethik (1990), 292. Vorlesung zur Moralphilosophie (V-Mo) zitiert nach dieser Ausgabe.

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Verbot formulierte Rechtspflicht, keines Menschen Freiheit einzuschrän­ ken, durch eine positive Pflicht, d.h. ein Gebot ergänzt werden muss. Kant nennt dieses Gebot an derselben Stelle und in Übereinstimmung mit der Begrifflichkeit der Metaphysik der Sitten die »Liebespflicht gegen andere«. Nun ist es nicht nur innerhalb der kantischen Philosophie, sondern auch im alltäglichen Verständnis unmöglich, ein Gefühl zu wollen. Deshalb kann es auch keine Pflicht geben, bestimmte Gefühle zu haben. Kant weist hierauf auch selbst hin und erklärt, dass mit der Liebespflicht eigentlich das Gebot, seinen Mitmenschen wohl zu wollen (mit der Folge ihnen wohlzutun), angesprochen ist (TL 6:449). Dass Kant, der für die deutsche Terminologie zweifellos von epochaler Bedeutung war, durch den widersprüchlichen Begriff einer »Pflicht zu lieben« das christliche Gebot der »Nächstenliebe« einzuholen bemüht war (TL 6:450), ist vor dem Hintergrund seiner Überzeugung, dass »alle moralische Vorschrift des Evangelii [...] die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommen­ heit« enthalte, vielleicht nicht vollkommen überraschend.11 Umso mehr muss aber Kants abschätzige Meinung von der Golden Regel verwun­ dern, die ja ebenfalls im Neuen Testament (in ihrer positiven Form: Was du willst, das dir die anderen tun...) gelehrt wird (Matthäus 6,12). Die Herleitung der Pflicht des Wohlwollens (wie sie also korrekter­ weise genannt werden muss und Kant selbst auch nannte) aus dem Kate­ gorischen Imperativ lässt sich erneut am besten anhand eines bilateralen Verhältnisses verständlich machen. Eine Interaktion, in der zwei Akteure sich freiwillig wechselseitig als Mittel zu ihren Zwecken gebrauchen, heißt Kooperation. Da es in einer bilateralen Kooperation nur die Zwecke der beiden Kooperationspartner gibt, kann dem Verbot, meinen Interak­ tionspartner ausschließlich als Mittel zu gebrauchen, nur nachgekommen werden, indem ich mir auch den Zweck meines Interaktionspartners zu eigen mache. Dasselbe gilt in multilateralen Beziehungen. Aus der Sicht des Individuums gibt es a priori nur eigene und fremde Zwecke. Um sicherzustellen, dass ich meine Mitmenschen nicht ausschließlich für meine eigenen Zwecke missbrauche, bleibt also nur ein Weg: Ich muss es mir zum Grundsatz bzw. zur Maxime machen, immer auch fremde Zwecke zu berücksichtigen. Entsprechend formuliert Kant: Die Pflicht der Nächstenliebe [d.i. des Wohlwollens] kann also auch so ausgedrückt werden: sie ist die Pflicht Anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die 11 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft [1788], AA 5:83.

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Pflicht der Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen blos als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen [...] (TL 6:450).

Da wir prinzipiell bzw. a priori nur wissen, dass jeder Mensch von Natur aus sein eigenes Glück verfolgt, kann die Pflicht des Wohlwollens auch so formuliert werden, dass die Maxime, fremde Glückseligkeit zu befördern, anzunehmen Pflicht ist. Die Achtung der Freiheit und Würde unserer Mitmenschen ist nur eine Minimalforderung. Sie ist nur »negativ«, das heißt, sie ist das »Verbot des Widerspiels«, fremde Glückseligkeit über­ haupt zu befördern (TL 6:465). In welchem Ausmaß die positive Pflicht des Wohlwollens gegenüber fremdem Glück nachgekommen werden soll, lässt sich aber nicht prinzipiell angeben. Sie ist deshalb von »wei­ ter« Verbindlichkeit und ihre Befolgung »verdienstlich«. Wohingegen das Verbot der Freiheitsberaubung und Würdeverletzung von »enger« Verbindlichkeit ist und seine Befolgung »schuldig« (TL 6:488, 450). Es ist nun in seiner Diskussion der Pflicht des Wohlwollens gegen­ über fremder Glückseligkeit, dass Kant sich in ganz offenkundiger Weise der Argumentationsfigur der Goldenen Regel bedient: »Ich will jedes Anderen Wohlwollen [...] gegen mich; ich soll also auch gegen jeden Anderen wohlwollend sein.« Kant spricht in diesem Zusammenhang auch treffend von der »Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens nach dem Princip der Gleichheit« (TL 6:451f ). Da wir nun ‒ wie zu Eingang dieses Kapitels ausgeführt ‒ nicht notwendig davon ausgehen können, dass das Streben nach Glück unter den Bedingungen wechselseitiger Frei­ heitsgewährung gleichsam wie durch eine »unsichtbare Hand« (Adam Smith) den Wohlstand der Menschheit nach sich zieht, muss die Ethik der empirischen Tatsache von Armut und Notleiden in der Welt Rechnung tragen. Kant sagt deshalb in den Paragraphen über die Wohltätigkeit: Wohlthätig, d.i. anderen Menschen in Nöthen [...] nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht. Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, d.i. sie zum allgemeinen Erlaubnißgesetz machte: so würde ihm, wenn er selbst in Noth ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand [...] zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, d.i. sie ist pflichtwidrig[.] [F]olglich [ist] die gemeinnützige [Maxime] des Wohlthuns gegen Bedürftige allge­ meine Pflicht der Menschen und zwar darum: weil sie als Mitmenschen,

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d.i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen, anzusehen sind. (TL 6:453)

Diese Passage ist hinsichtlich allem bisher Gesagten signifikant. Sie zeigt, dass Kant das Gebot der Nothilfe nur unter Hinzunahme anthropolo­ gischer Bedingungen (»durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigt«) herleiten konnte. Jene egoistische Maxime, die Kant gegen die Goldene Regel angeführt hat (»mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen«), wird also unter Berufung auf den Umstand widerlegt, dass prinzipiell jeder Mensch (wenigstens in Kindheit und Alter) die Hilfe anderer Menschen benötigt. Aufgrund dieser Tatsache argumentiert Kant mit Hilfe der Goldenen Regel (»Wohltätig [...] zu sein ist jedes Menschen Pflicht. Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet, wünscht, daß ihm von anderen geholfen wird.«), dass die egoistische Maxime nicht als »allgemeines Erlaubnißgesetz« denkbar ist und also dem Kategorischen Imperativ widerspricht. Noch pointierter lässt sich sagen: Kant wendet gegen die Goldene Regel ein, dass sich aus ihr die Pflicht der Wohltätigkeit nicht ableiten lässt. Die Pflicht der Wohltätigkeit folgt aber ohne anthropologische Annahmen auch aus dem Kategorischen Imperativ nicht. Dass sie aber unter anthropologischen Annahmen aus dem Kategorischen Imperativ folgt, beweist er mithilfe der Goldenen Regel. Nun lässt sich einwenden, dass Kant in der Grundlegung die Gol­ dene Regel nur in ihrer negativen Form kritisiert, sich ihrer aber in der Metaphysik der Sitten explizit nur in der positiven Form bedient hat. Diese Beobachtung ist zwar richtig, wird der Sache aber nicht gerecht. Vielmehr verhalten sich die negative und die positive Formel der Goldenen Regel analog zu Kants Unterscheidung zwischen Verboten von enger Verbindlichkeit (d.i. schuldige Pflichten) und Geboten von weiter Verbindlichkeit (d.i. verdienstliche Pflichten). Die negative Form der Goldenen Regel führt nur auf Verbote, die positive hingegen auf Gebote. Und für die aus der positiven Form der Goldenen Regel gewonnenen Gebote gilt das Gleiche wie für diejenigen, die aus dem Kategorischen Imperativ ableitbar sind. Sie sind von weiter Verbindlichkeit, da nicht genau angegeben werden kann, in welchem Ausmaß ihnen nachgekom­ men werden soll. Aber nicht nur hinsichtlich ihrer bindenden Kraft, sondern auch hinsichtlich ihrer Formalität besteht Ähnlichkeit: Da a priori nur das Glücksstreben des Menschen gewiss ist, gilt: Weil es wünschenswert ist, dass meine Mitmenschen mein Glück fördern, soll ich meinerseits auch

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das Glück meiner Mitmenschen fördern. Für jede Bestimmung, wann und wie ich fremdes Glück fördern soll, verlangt der Kategorische Impe­ rativ genauso wie die Goldene Regel entweder zusätzliche anthropologi­ sche Annahmen oder die Konkretisierung der empirischen Umstände. Da Kant sowohl die negative als auch die positive Formel der Golde­ nen Regel nicht nur aus der Bibel, sondern auch aus der zeitgenössischen Diskussion kannte, kann man sich über seine Motive wundern, nicht wenigstens in seinem späten Werk Die Metaphysik der Sitten (1793) klar herausgestellt zu haben, dass die Goldene Regel und der Kategorische Imperativ im Prinzip der Wechselseitigkeit eine gemeinsame Argumen­ tationsfigur haben. Rückblickend muss man konstatieren, dass er damit wohl nicht zur Verständlichkeit und Verbreitung seiner Ethik beigetragen hat. Dieses nachzuholen ist ein wesentliches Ziel dieser Abhandlung. Die Erörterung soll zeigen, dass Kants epochale Leistung auch darin gesehen werden kann, durch die Verbindung von Freiheitsbegriff und Goldener Regel die begrifflichen Grundlagen des modernen Liberalismus gelegt zu haben: Weil wir das unbedingte Recht auf Achtung unserer Freiheit haben, sind wir unsererseits zur unbedingten Achtung der Freiheit unse­ rer Mitmenschen verpflichtet. Und weil wir (in unbestimmtem Grad) Anspruch auf die Hilfe unserer Mitmenschen haben, sind wir unsererseits (in unbestimmtem Grad) zur Hilfe gegenüber unseren Mitmenschen verpflichtet. Kant spricht deshalb ganz im Sinn der Goldenen Regel auch von der »Reciprocität der Verbindlichkeit« (RL 6:256).

Gesetz und Verallgemeinerung Der hier gewählte Ansatz, in Kants Moralphilosophie von ihren Ergeb­ nissen her einzuführen, erlaubt es nun auch, die Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs näher zu erläutern. Diese bereitet nicht nur der breiten Öffentlichkeit, sondern auch den Experten die größeren Schwie­ rigkeiten. Die Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs (Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!) kann zunächst als Testverfahren für persönliche Grundsätze bzw. Maximen verstanden werden. Sie fordert uns auf, die individuellen Richtlinien unseres Verhaltens daraufhin zu überprüfen, ob sie zu einem Gesetz verallgemeinert werden könnten. Die Gesetzes-Formel gibt nur an, ob sich unsere persönlichen Grundsätze

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»zu einer allgemeinen Gesetzgebung [...] qualificiren; welches nur ein negatives Princip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist« (TL 6:389). Eine Maxime, die den Test der Verallgemeinerung zu einem Gesetz besteht, ist deshalb »erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt« (GMS 4:439). Eine systematische Ableitung der gebotenen Maximen leistet die Gesetzes-Formel dagegen nicht. So widerspricht etwa der Vorsatz, meine Freizeitgestaltung der Arbeit unterzuordnen, nicht dem Kategorischen Imperativ. Die Maxime ist erlaubt, deshalb aber noch keineswegs geboten. Denn der umgekehrte Vorsatz, die Pflege meiner Hobbys nicht der Karriere zu opfern, ist nicht weniger legitim. Hieraus folgt, dass die Maximen der sogenannten Work-life balance keine im engeren Sinn moralischen sind.12 Zugegebenermaßen herrscht über diesen Punkt unter Kant-Exper­ ten aber keine Einigkeit. Dies liegt vor allem daran, dass Kant selbst sei­ nen Kategorischen Imperativ in der Grundlegung anhand von Maximen diskutiert, die bereits in hohem Maß moralisch zugespitzt sind. Wie wir bereits gesehen haben, widerspricht die Maxime, unseren Mitmenschen gar keine Hilfe zu leisten, dem Kategorischen Imperativ. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass wir bis zu einem gewissen Grad zur Wohltätigkeit verpflichtet sind. Ebenso folgt aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit der Erlaubnis zur Gewalt das Gebot des Gewaltverzichts. Und da es, wie Kant selbst sagt, »zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge [...] kein Mittleres« (TL 6:434, Fn.) gibt, folgt aus der nicht Verallgemeinerbarkeit der Erlaubnis zu lügen, notwendig die Pflicht zur Aufrichtigkeit. Überhaupt gilt nicht nur den Interpreten, sondern galt auch Kant das Lügenverbot als paradigmatisches Beispiel der Anwendbarkeit der Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs. Da die Erlaubnis zur Lüge mit sich brächte, dass die Menschen sich wechselseitig keinen Glauben mehr schenkten, wäre damit auch die Wirksamkeit der Handhabe, zu bestimmten Zwe­ cken zu lügen, zunichte gemacht. Die Erlaubnis zur Lüge kann deshalb als allgemeines Gesetz nicht nur nicht gewollt, sondern nicht einmal gedacht 12 Logisch verhalten sich geboten – erlaubt – verboten zueinander wie tautologisch – erfüllbar – widersprüchlich. Die Erfüllbarkeit einer logischen Formel schließt zwar ihre Widersprüchlichkeit aus, besagt aber nichts über ihren möglicherweise tautologischen Charakter. Eine Tautologie erhält man durch die Negation einer widersprüchlichen Formel. Dies entspricht in der juristischen Logik der Aussage: Das Verbotene zu unterlassen, ist geboten. Kant wählt deshalb in der Grundlegung ausschließlich unerlaubte Maximen als Beispiele, deren Widersprüchlichkeit nach der Gesetzes-Formel das Gebot des Gegenteils beweisen. Eine Methode, wie unter den prinzipiell unendlich vielen erlaubten Maximen die gebotenen ausfindig zu machen sind, gibt Kant nicht.

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werden. Aus diesem Grund insistierte Kant in seinem Aufsatz »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« (1797) ‒ der viel zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf des Rigorismus beigetragen hat ‒, dass es ein solches Recht aufgrund seiner Selbstwidersprüchlichkeit niemals geben könne. Es scheint also, dass aus der Selbstwidersprüchlichkeit bestimmter Regeln ohne Rücksicht auf die Zwecke ihrer Anwendung auf ihr Verbot geschlossen werden kann. Lügen verhalten sich zu dem auf Informati­ onsweitergabe angelegten System der Kommunikation parasitär. Ihre Verallgemeinerung zerstört dieses System und macht damit auch sie selbst unmöglich. Dagegen wurde eingewandt, dass dasselbe auch für den Vorsatz gilt, keine Bestechungen anzunehmen. Das Verbot, Beste­ chungen anzunehmen, würde zur Folge haben, dass niemand mehr Bestechung versucht. Damit wäre aber nicht nur Korruption, sondern auch die Durchführung des Vorsatzes, keine Bestechungen anzuneh­ men, unmöglich gemacht. Der Vorsatz lässt sich demnach nicht ohne Selbstwiderspruch als allgemeines Gesetz denken. Aus der Abwegigkeit dieser Schlussfolgerung wurde gefolgert, dass Maximen immer bereits Zwecke enthalten müssen, damit sie sinnvoll anhand des Kategorischen Imperativs auf Verallgemeinerbarkeit geprüft werden können. Erweitere ich meine Maxime, keine Bestechungen anzunehmen, um den Zweck, Korruption zu bekämpfen, löst sich dieser Widerspruch auf.13 Dieses Beispiel illustriert nicht nur gut, in welche Komplexitäten Kants Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs die Diskussion stürzen kann, sondern auch, dass sehr viel davon abhängt, welche Maximen diskutiert und wie diese formuliert sind. Da einerseits die Allgemeinheit der Maximen (wie etwa im Fall der Work-life balance) nicht sicherstellt, dass das Prüfverfahren des Kategorischen Imperativs auf moralische Gebote führt, und andererseits nicht einzusehen ist, auf welche Weise vergleichsweise triviale Vorsätze (wie der eines geregel­ ten Tagesablaufs) von ethisch relevanten Grundsätzen unterschieden werden können, ohne dabei bereits in irgendeiner Weise moralische Kriterien zu veranschlagen, ist es m. E. sinnvoll davon auszugehen, dass 13 M. G. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens [eng. 1961] (1975), Kap. 9, § 6. Otfried Höffe, dem ich dankbar bin, mich zur Präzi­ sierung meines Textes gezwungen zu haben, vertritt in seinem unbedingt empfeh­ lenswerten Buch Lebenskunst und Moral: oder Macht Tugend glücklich? (2007) eine anspruchsvollere Rekonstruktion der Gesetzes-Formel, der ich zwar nicht vollstän­ dig zu folgen bereit bin, die der hier referierte Einwand aber nicht trifft. Siehe dort Kap. 21.

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tatsächlich alle individuellen Vorsätze ‒ subjektive Zwecke genauso wie private Vorlieben ‒ als Maximen anhand des Kategorischen Imperativs auf ihre Berechtigung geprüft werden können. Diese Interpretation hat den Vorteil, gut zu zeigen, dass die Menge der bloß erlaubten, aber keineswegs moralisch gebotenen Maximen prinzipiell unendlich groß ist. Dieses Spektrum der moralisch neutralen Maximen (die auch Adiaphora genannt werden) entspricht dem breiten Spielraum, in dem der Mensch tatsächlich frei ist zu tun, was ihm beliebt. Zwar finden wir auch zu der Frage, wie dieser Spielraum durch einen klugen, auf das Glück gerichteten Lebenswandel gefüllt werden kann, bei Kant substanzielle Ratschläge,14 hinsichtlich des im engeren Sinn moralisch Gebotenen bietet zumindest die Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs wenig Anhaltspunkte. Sie ist das bloß for­ male Kriterium des Unterschiedes zwischen erlaubt und verboten. Um Orientierung hinsichtlich des konkreten Guten zu erhalten, hält man sich besser an die Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs. Denn Kant hat doch wenigstens eine Maxime formuliert, von der wir sicher sein können, dass sie anzunehmen Pflicht ist: Behandle deine Mitmenschen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel! Obwohl auch unter Kant-Forschern ein wenig beachteter Umstand, kommt der Begriff der Maxime in der Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs nämlich nicht vor. Im Gegensatz zur Gesetzes-Formel bezieht sie sich nicht auf Maximen, sondern auf Handlungen. Dem Prinzip der wechselseitigen Rücksichtnahme auf individuelle Zwecke Folge zu leisten, stellt deshalb auch sicher, eine Maxime zu befolgen, die sich zu einem gesetzlichen Gebot qualifiziert. Anderenfalls würden die beiden Formeln des Kategorischen Imperativs nicht übereinstimmen. Wer sich also beispielsweise fragt, ob es erlaubt sei, in einer bestimmten Situation weder die Wahrheit noch die Unwahrheit zu sagen, sondern einfach zu schweigen, der prüfe, ob er dabei mit der jedem Menschen gebührenden Achtung seiner Freiheit und Würde in Konflikt gerät. Je nach Inhalt, Situation und Gesprächspartner (ob Richter, Journalist oder Freund) wird man zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Trotz dieses Plädoyers für die Selbstzweck-Formel des Kategori­ schen Imperativs soll nicht verschwiegen werden, dass es Handlungsfel­ der gibt, in denen die Gesetzes-Formel ihre besondere Berechtigung hat und das aussagekräftigere Prinzip ist. Hierbei handelt es sich um solche Handlungen, die unsere Mitmenschen nur indirekt betreffen. Ein gutes 14 B. Himmelmann, Kants Begriff des Glücks (2003).

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Beispiel hierfür sind die in den Wirtschaftswissenschaften sogenannten öffentlichen Güter. Für diese gilt, dass ihr Zugang nicht, oder nur mit großem Aufwand, beschränkt werden kann. Ein öffentliches Gut ist zum Beispiel die vom Staat in Form von Straßen und Verkehrsmitteln bereit­ gestellte Infrastruktur. Sich solcher Gemeingüter innerhalb der Kapazi­ tätsgrenzen zu bedienen, betrifft meine Mitmenschen nicht unmittelbar. Es kann von daher auch nur über Umwege argumentiert werden, dass es sich um einen Fall von Freiheitsberaubung handelt, wenn ich diese Gemeingüter nutze, ohne in Form von Steuern oder Busfahrkarten einen Beitrag zu leisten. Die einfachste Argumentationsfigur, um die Illegitimi­ tät solchen Verhaltens aufzuzeigen, ist die Frage: Welche Folgen hätte dein Verhalten, wenn alle so handeln würden? Wenn niemand einen Beitrag für seine Nutzung leistet, wäre auch die Bereitstellung der Gemeingüter unmöglich. Das Verhalten sogenannter Trittbrettfahrer lässt sich von daher nicht verallgemeinern und ist unerlaubt. Das gleiche Argument ist auch auf die zahlreichen Varianten der Urheberrechtsverletzung im digitalen Zeitalter anwendbar. Es lässt sich aber auch leicht zeigen, dass die Formulierung »wenn alle so handeln würden« nicht ausreichend präzise ist. So würde etwa mein Vorsatz, jeden Tag um 13 Uhr zu essen, nicht nur zu einer Überlas­ tung der Stromnetze um die Mittagszeit führen, sondern das öffentliche Leben würde ganz zusammenbrechen, wenn tatsächlich alle Menschen jeden Tag um 13 Uhr essen. Hieraus würde aber niemand schließen, dass ein regelmäßiger Tagesablauf unmoralisch ist. Es ist deshalb sinnvoll, das Argument der Verallgemeinerung wie folgt zu modifizieren: Welche Folgen hätte es, wenn dein Verhalten allen erlaubt wäre? Hiermit ist zugleich eine Formel gegeben, in welcher die Gesetzes-Formel des Kate­ gorischen Imperativs gewissermaßen für den Hausgebrauch empfohlen werden kann. Denn wenn es richtig ist, dass die Gesetzes-Formel nur das Kriterium zwischen erlaubt und verboten angibt, dann kann auch formuliert werden: Handle nur nach solchen Maximen, von denen du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines »Erlaubnisgesetz« (TL 6:453) werden! Auf diese Weise sollte auch die Verwandtschaft des Kategorischen Imperativs mit dem Argument der Verallgemeinerung plausibel geworden sein. Da niemand freiwillig Geld zu geben bereit ist, kann man davon ausgehen, dass Gemeingüter nicht bereitgestellt werden können, wenn jeder sie kostenlos nutzen darf. Dass alle Menschen tatsächlich um Punkt 13 Uhr essen, ist dagegen unwahrscheinlich. Die Frage, ob eine Regel als Erlaubnisgesetz oder allgemeine Befugnis wünschenswert ist oder

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nicht, lässt sich daher ohne gewisse Annahmen über das tatsächliche Verhalten der Menschen oft nicht beantworten. Dies kann anhand eines weiteren Typs öffentlicher Güter verdeutlicht werden: den sogenannten Allmendegütern. Das paradigmatische Beispiel dieses Gütertyps sind natürliche Ressourcen. Die Frage, ob es erlaubt ist, einer persönlichen Vorliebe für Wildschweinfleisch regelmäßig nachzugeben, kann nicht unabhängig von der die Bestände determinierenden Nachfrage beant­ wortet werden. Ist die Nachfrage zu hoch, droht Ausrottung, ist sie zu niedrig, drohen Schäden für die Forstwirtschaft. Individuelle Konsum­ entscheidungen sind von daher nicht geeignet die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen sicherzustellen. Im Fall von Wildtierbeständen kann dies durch einen zentral festgelegten Abschussplan bzw. durch Fangquoten geschehen. Die Wirtschaftswissenschaften kennen eine Viel­ zahl ähnlicher Phänomene des Marktversagens, die zentrale Steuerung notwendig machen. Das Beispiel der Allmendegüter wurde aber nicht als Einwand gegen Kants Kategorischen Imperativ angeführt. Im Gegenteil zeigt sich die Überlegenheit der praktischen Philosophie Kants gerade darin, Indivi­ dualmoral und Rechtslehre aus einem Prinzip abzuleiten. Moralische Konflikte, die auf individueller Ebene nicht zu bewältigen sind, können durch Institutionen gelöst werden, die auf zentraler Ebene für einen rechtlichen Interessensausgleich sorgen. Zum Beispiel können berufliche Flugreisen aus ökologischen Gründen fragwürdig erscheinen. Durch Verzicht mit gutem Beispiel voranzugehen, würde aber bedeuten, nicht nur die eigene Verlässlichkeit als Angestellter zu opfern, sondern durch Arbeitslosigkeit möglicherweise sogar die eigene Familie zu gefährden. Daher kann es geboten sein, sich politisch für rechtliche Regelungen zu engagieren, die sicherstellen, dass unsere Freiheit, Flugreisen zu unternehmen, mit dem Recht unserer Kinder auf eine gesunde Umwelt nach Gesetzen zusammen bestehen kann. Da nämlich im Zustand »gesetzloser Freiheit« gar nicht von Recht und Unrecht gesprochen werden kann, gibt es nach Kant auch die Pflicht, diese Situation durch Übergang in einen »rechtlichen Zustand« zu überwinden (RL 6:307f ). Man kann also mit Kant auch von einer situationsabhängigen Pflicht zum politischen Engagement sprechen. Die Kontinuität von Individualmoral und Rechtslehre innerhalb der praktischen Philosophie Kants erlaubt es, den Gesetzesbegriff des Kategorischen Imperativs im konkreten juristischen Sinn auszulegen. Um zu verdeutlichen, dass dies jedoch nicht die ganze Dimension des Gesetzesbegriffs bei Kant erfasst, soll zum Abschluss dieses Kapitels noch

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ein Wort zu der dritten wichtigen Formel des Kategorischen Imperativs gesagt werden. Sie kann als eine Kombination der Selbstzweck-Formel und der Gesetzes-Formel verstanden werden, durch die allerdings Kant die Vorstellungskraft seiner Leser in noch höherem Maß beansprucht hat. Sie lautet: Handle so, als ob du durch deine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wärst! Wie wir gesehen haben, gebietet die Selbstzweck-Formel, dass die Menschen sich wechselseitig »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« gebrauchen. Wird dieses Gesetz von allen vernünftigen Wesen befolgt, entsteht ein Zusammenhang, der sich durch eine durchgängige »Beziehung dieser Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel« (GMS 4:433) auszeichnet. Eben diesen Zusammenhang aller Menschen nennt Kant »Reich der Zwecke«. Eifrige Kant-Leser wissen, dass Kant in seiner Theorie des Organischen in der Kritik der Urteilskraft (1790) eine ganz ähnliche Definition verwendet: »Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« (5:376). In einer Fußnote desselben Werks bemerkt Kant entsprechend, dass man sich »neuerlich« des Begriffs der »Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient« (5:376, Fn.). Die dritte Formel des Kategorischen Imperativs kann deshalb auch so gedeutet werden, dass wir uns jederzeit nach Regeln verhalten sollen, die sich als Gesetze zur Freiheitssicherung aller Menschen innerhalb einer die Gattung Mensch umfassenden Orga­ nisation qualifizieren. Damit ist über jedes realpolitische Maß hinaus »nach der Analogie mit einem Reiche der Natur« (GMS 4:438) die Idee einer der »Naturordnung ähnlichen Gesetzmäßigkeit« (4:431) ausgedrückt. Dem Einzelnen wird es zweifellos schwerfallen, der For­ derung konkreten Sinn abzugewinnen, jederzeit so zu handeln, als ob die Maxime seiner Handlungen durch seinen Willen zum »allgemeinen Naturgesetz« (4:421) werden sollte, wie Kant auch formuliert. Es gehört jedoch zur Größe dieses Denkers, dass er aus der Idee einer die Gattung umfassenden Organisation noch das kosmopolitische Postulat ableitete, die Verwirklichung des »ewigen Friedens« durch Vereinigung aller Menschen »als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats« (ZeF 8:349) »in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung« wenigstens zu versuchen.15 Auch wenn damit den komplexen Ableitungsbeziehungen der unterschiedlichen Formeln des Kategorischen Imperativs, wie sie Kant 15 I. Kant, Zum ewigen Frieden (ZeF) [1795], AA 8:386.

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vorgestellt hat, nicht in vollem Umfang Rechnung getragen wird, kann doch vereinfachend gesagt werden, dass die Selbstzweck-Formel primär auf konkrete Interaktionen der Menschen anwendbar ist und so die individuelle Moral begründet. Die Gesetzes-Formel erweitert die unter moralischen Ansprüchen stehende Sphäre des menschlichen Zusam­ menlebens, indem sie nicht nur die direkten, sondern auch die indirekten Verhältnisse der Menschen untereinander in eine verfassungsmäßige Ordnung zu bringen gebietet. Sie begründet damit die Rechtslehre. Die Idee einer menschheitlichen Organisation verlangt nun, nicht nur in synchroner Perspektive alle lebenden Menschen unter Gesetzen zu ver­ einigen, sondern auch in diachroner Perspektive, d.h. für alle zukünftigen Generationen planetarische Verantwortung zu übernehmen.16 Es sei noch darauf hingewiesen, dass sich in kantischer Termino­ logie zwar durchaus formulieren lässt, dass Naturzwecke, wie z.B. die Existenz einzelner Gattungen oder das Ökosystem als Ganzes, niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit auch als Zweck an sich selbst zu behandeln sind. Eine solche umweltethische Forderung verbliebe aber nicht im Rahmen der kantischen Philosophie. Das Prinzip derselben ist die Sicherung der Bedingung, unter der allein Verantwortung für den Pla­ neten übernommen werden kann, und das ist die menschliche Freiheit.

Position und Rolle Wie eingangs zitiert, begründete Kant seinen Einwand, dass die Goldene Regel keine Rechtspflichten begründen könne, mit der angehängten Bemerkung, »denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren, u.s.w.« Das Argument, die Geltung der Goldenen Regel würde bedeuten, dass der Richter den Verbrecher nicht richten dürfe, weil er selbst vom Verbrecher nicht gerichtet werden will, entnahm Kant der zeitgenössischen Diskussion.17 Mit »u.s.w.« wollte er offenbar andeuten, dass sich mühelos weitere Beispiele finden lassen, für die das Gleiche gilt. So ließe sich etwa sagen, dass der Gläubiger vom Schuldner kein Geld fordern darf, weil er selbst keines zu geben bereit ist. Oder aber, Eltern dürfen ihre Kinder nicht bevormunden, weil sie selbst nicht bevormundet werden wollen. ‒ An diese Problematik lassen sich einige die kantische Ethik erhellende Überlegungen anschließen. 16 Hier schließt das Buch Das Prinzip Verantwortung (1984) von Hans Jonas an. 17 J. Hruschka, »Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeine­ rung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts« (1987).

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Freiheit und Wechselseitigkeit in Kants Ethik

Zunächst soll auf das Beispiel des Verhältnisses von Richter und Angeklagtem genauer eingegangen werden. Es handelt sich hierbei um einen Sonderfall, dessen Eigenart Kants »u.s.w.« zu verwischen droht. Zwar kann die Goldene Regel mit dem Verbot der Wiedervergeltung kombiniert werden, prima facie beinhaltet sie dieses jedoch nicht. Die Goldene Regel verlangt nicht, »wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin« (Matthäus 5,39). Wie oben argumentiert, wird die Goldene Regel am besten verstanden als die Forderung, seinen Mitmenschen in jeder Erstbegegnung mit demselben Wohlwollen zu begegnen, das wir uns selbst entgegengebracht wünschen. Wird dieses Vertrauen missbraucht, gebietet die Goldene Regel, weder sich ein weiteres Mal ausnutzen zu lassen noch den erlittenen Schaden heimzuzahlen. Die Frage, wie mit moralischen Verstößen umgegangen werden soll, lässt die Goldene Regel zunächst schlicht unbeantwortet. Wie weit auch Kant vom christlichen Gebot der Feindesliebe ent­ fernt war, gibt weitere Hinweise darauf, wie tief dagegen das Prinzip der Wechselseitigkeit in seiner Ethik verwurzelt ist. Ferner zeigt sich in die­ sem Zusammenhang die Überlegenheit seines Moralprinzips gegenüber der einfachen Goldenen Regel erneut darin, durch die Hereinnahme des Gesetzesbegriffs auch die Rechtslehre begründen zu können. In seiner Ethik-Vorlesung sagt Kant: »Wer mich betrogen oder belogen hat, dem tue ich kein Unrecht, wenn ich ihn wieder betrüge oder etwas vorlüge; aber ich habe überhaupt nach dem allgemeinen Rechte der Menschheit Unrecht getan« (V-Mo 229). Unter den Voraussetzungen, dass dieses Recht in Form einer rechtsstaatlichen Verfassung bereits etabliert ist, gilt deshalb: »Eine jede das Recht eines Menschen kränkende That verdient Strafe [...]. Nun ist aber Strafe nicht ein Act der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes« (TL 6:460). Kant bestreitet die prinzipielle Geltung des »Wiedervergeltungs­ rechts« deshalb keineswegs, es sei aber »zu verstehen vor den Schranken des Gerichts«. Kant nennt das »Princip der Wiedervergeltung: Gleiches mit Gleichem« (RL 6:332) sogar den »kategorischen Imperativ der Strafgerechtigkeit« (6:336). »Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es giebt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit« (6:333). Die Strafgerechtigkeit stellt also sicher, dass im Rechtsstaat jederzeit gilt: »was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst« (6:332).

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Das Vergeltungsprinzip der Strafgerechtigkeit ist bei Kant deshalb nur die Kehrseite der »Reciprocität der Verbindlichkeit« (6:256). Wech­ selseitige Freiheitsgewährung ist Gesetz. Und Freiheitsberaubung wird mit Freiheitsentzug geahndet. Eine plausible Antwort, wie im Sinne der Goldenen Regel auf Verstöße zu reagieren ist, wird deshalb nicht anders lauten können als die, welche auch im Rahmen der kantischen Ethik gegeben werden kann: Mein Gegenüber hat sein Recht auf meine Koope­ rationsbereitschaft (wenigstens für dieses Mal) verwirkt. Entweder gehe ich ihm in Zukunft aus dem Weg oder ich verklage ihn. Eine andere Option gibt es nicht. Was Kant suggeriert, nämlich dass der Verbrecher nach der Goldenen Regel Anspruch auf Wechselseitigkeit gegenüber dem Richter gelten machen könne, ist ein schiefes Argument. Durch seinen Verstoß gegen das Prinzip der Wechselseitigkeit hat der Schuldige seinen Anspruch auf Gleichbehandlung für dieses Mal gerade verwirkt. Es ist durchaus bezeichnend, dass sich in den Schriften Kants sogar ein einfaches »u.s.w.« noch gehaltvoll diskutieren lässt. Obwohl das Verhältnis von Richter und Gerichtetem einen Sonderfall darstellt, hat Kant damit doch die Frage aufgeworfen, wie im Fall gegebener Ungleichheit das auf Gleichheit beruhende Prinzip der Wechselseitigkeit verstanden werden kann. Der systematische Ort dieser Frage innerhalb der kantischen Moralphilosophie ist das zweite Hauptstück des die Pflichten gegen andere abhandelnden Teils seiner Ethik. Das erste Haupt­ stück behandelt unter dem Titel »Von den Pflichten gegen andere, blos als Menschen« die bereits erläuterten Pflichten der Achtung und Liebe. Das zweite Hauptstück trägt den Titel »Von den ethischen Pflichten der Menschen gegen einander in Ansehung ihres Zustandes«. Dieses besteht nur aus einem einzigen Paragraphen, an dessen Ende es heißt: Welches Verhalten also [gegen] Menschen, z.B. in der moralischen Reinig­ keit ihres Zustandes, oder in ihrer Verdorbenheit; welches im cultivirten, oder rohen Zustande; [...] welches nach Verschiedenheit der Stände, des Alters, des Geschlechts, des Gesundheitszustandes, des der Wohlhaben­ heit oder Armuth u.s.w. zukomme: das giebt nicht so vielerlei Arten der ethischen Verpflichtung [...], sondern nur Arten der Anwendung [...] ab; die also nicht, als Abschnitte der Ethik und Glieder der Eintheilung eines Systems [...], aufgeführt, sondern nur angehängt werden können. ‒ Aber eben diese Anwendung gehört zur Vollständigkeit der Darstellung desselben. (TL 6:468f )

Kant war also der Ansicht, dass sich hier systematisch wenig sagen lässt, gleichwohl wenigstens eine Kasuistik zur Vollständigkeit der Darstellung gehört. Es muss daher überraschen, dass das zweite Hauptstück hier

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abbricht und Kant keinerlei Anwendungsbeispiele gegeben hat. Die Interpretation kann deshalb an dieser Stelle nur versuchen, Kant mit Kant weiterzudenken. Das Prinzip der Wechselseitigkeit setzt Gleichheit voraus. Und wir wissen, dass derjenige Aspekt, hinsichtlich dem die Menschen nach Kant als gleich zu betrachten sind, die menschliche Freiheit ist. Diese jederzeit zu achten ist Pflicht. Was bedeutet Freiheitsgewährung aber, wenn ein Individuum aufgrund seines Zustands nicht frei ist? Wie soll mit Menschen umgegangen werden, deren Zurechnungsfähigkeit aufgrund ihrer Kindheit, ihrer Altersschwäche oder einer Krankheit nicht gegeben ist? An dieser Stelle ist zunächst herauszustellen, dass nach Kant die Würde nicht dem Einzelnen qua seiner Freiheit, sondern der Menschheit qua ihres Vermögens der Freiheit zukommt. »Die Menschheit selbst ist eine Würde« (TL 6:462), wie Kant sagt. Die (hier immer noch nicht vollständig zitierte) Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs verlangt deshalb nicht, dass der einzelne Mensch, sondern dass die Menschheit in jeder Person jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel behandelt werden soll. Die Frage lässt sich deshalb auch so formulieren: Was bedeutet es, die Würde eines noch nicht, zeitweise nicht, nicht mehr oder vielleicht auch niemals zurechnungsfähigen Menschen zu wahren? Einen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage gibt der Hin­ weis Kants, dass Verallgemeinerung bedeutet, »seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen« zu denken (GMS 4:438). Seine Lebensführung auf Moralität zu prüfen, impliziert von daher immer auch, sich in die Position seiner Mitmen­ schen hineinzuversetzen. Verallgemeinerung der eigenen Maximen zu Gesetzen setzt die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel voraus. Oder wie Kant auch sagt: Der »allgemeine Standpunkt« ist nur auffindbar, indem man sich »in den Standpunkt anderer versetzt«.18 Die Antwort, wie in einer konkreten Situation mit einem unzurechnungsfähigen Menschen umzugehen ist, kann deshalb nur lauten, den betreffenden Menschen so zu behandeln, wie wir selbst behandelt zu werden wünschten, wenn wir in seiner Lage wären. Von einer anderen Art der Behandlung kann ich nicht wollen, dass sie zur Richtlinie im Umgang mit unzurechnungsfähi­ gen Menschen werde. Die Menschheit in jeder Person zu achten, bedeutet

18 I. Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], AA 5:295.

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demnach, die Würde meiner Mitmenschen zu wahren, als ob dadurch zugleich meine eigene Würde gewahrt werde.19 Ohne die Zusatzbedingung eines Perspektivenwechsels kann auch die Goldene Regel nicht konsistent gedacht werden. Individuelle Vorlie­ ben, private Gewohnheiten oder kulturelle Unterschiede stellen Eigen­ heiten dar, auf die sich die Maxime der Wechselseitigkeit nicht unmittel­ bar anwenden lässt.20 Nur weil mich selbst laute Musik nicht stört, bin ich nicht befugt, selbst meine Nachbarn durch laute Musik zu behelligen. Nur weil ich selbst gerne Rindfleisch esse, ist es nicht angebracht, einem gläubigen Hindu solches anzubieten. Erst wenn wir in unseren Überle­ gungen zu der Einsicht gelangen, dass Vorlieben, Gewohnheiten und Kultur zum Menschsein gehören, können wir der jeweiligen Situation nach dem Prinzip der Wechselseitigkeit Rechnung tragen. Dann zeigt sich, dass es geboten ist, die individuellen und kulturellen Eigenheiten unserer Mitmenschen zu respektieren, in derselben Weise, wie wir uns Respekt vor den unsrigen wünschen. Man sieht hieran auch, dass die Ethik sich immer auf dem Weg der Verallgemeinerung befindet. Um nach dem Prinzip der Wechselseitigkeit moralisch zu handeln, ist ein über individuelle Unterschiede hinausgehender Gesichtspunkt der Gleichheit notwendig. Nicht die Tatsache, dass ich eine Vorliebe für Rindfleisch habe, sondern die Tatsache, dass ich wie alle Menschen Vorlieben habe; nicht die Tatsache, dass ich kein Kind mehr bin, sondern dass ich wie alle Menschen einmal Kind war, ist ausschlaggebend. Um den in einer konkreten Situation relevanten Gesichtspunkt der Gleichheit auf den Begriff zu bringen, muss ich mir klar machen, dass ich nicht tatsächlich, aber als Mensch prinzipiell in der Lage meines Gegenübers sein könnte; und umgekehrt mein Gegenüber nicht tatsächlich, aber als Mensch prinzipiell in meiner Lage sein könnte. Wenn Kant sagt, dass Nothilfe eines jeden Menschen Pflicht ist, weil »der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung bedarf« (GMS 4:423), argumentiert er auf dieser Linie. Die Würde der Menschheit zu achten, ist jederzeit geboten. Aber auf welche Weise dies angesichts einer konkreten Eigenschaft (z.B. Geschmack), eines konkreten Zustands (z.B. Krankheit) oder einer konkreten Situation (z.B. Not) anständig ist, erkenne ich nur, indem ich 19 Die Als-ob-Formulierung ist auch Teil der bereits zitierten Reich-der-Zwecke-Formel des Kategorischen Imperativs. Verwendungen im Sinn eines Standortwechsels bzw. der Stellvertretung finden sich in Kants Schriften ebenfalls. Siehe H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob [1911] (1922), 642, 694, 699. 20 Vgl. M. Bauschke, Die Goldene Regel (2010), Kap. 5.5.

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mich in die Position des anderen versetze. Das kantische Prinzip der Wechselseitigkeit verlangt dann, mein Gegenüber so zu behandeln, wie ich selbst behandelt zu werden wünschte, wäre ich an seiner Stelle. Ande­ renfalls kann ich meine Maxime nicht als allgemeines Gesetz wollen. Neben Eigenschaften, Zuständen und Situationen kann noch ein weiterer möglicher Gesichtspunkt der Gleichheit angegeben werden, hinsichtlich dem ein konkreter Fall durch Positionswechsel abstrahiert werden kann. Dies ist der im Beispiel des Richters und des Angeklagten bereits angeklungene Begriff der sozialen Rolle. Tatsächlich wurde in der chinesischen Philosophie die Goldene Regel seit der Antike mit der kon­ fuzianischen Rollenethik harmonisiert. In einer Passage des Klassikers Mitte und Maß gesteht Konfuzius seine anhaltende Unzulänglichkeit in der Befolgung der Goldenen Regel: Noch nicht kann ich meinem Vater dienen, wie ich es von meinem Sohn erwarte; noch nicht meinem Herrn dienen, wie ich es von einem Untertanen erwarte; noch nicht meinem großen Bruder dienen, wie ich es von meinem jüngeren erwarte; noch nicht meinem Freund schenken, wie ich es von einem Freund erwarte.21

Das durch Seniorität und Patriarchat strukturierte konfuzianische Rol­ lengefüge muss hier nicht interessieren. Entscheidend ist, dass in dem Zitat das Gebot der Wechselseitigkeit unter dem Gesichtspunkt sozialer Rollen ausgesprochen wird. Als erwachsenes Kind soll ich mich gegen­ über meinen Eltern so verhalten, wie ich es selbst als Elternteil von meinen Kindern wollen könnte. Umgekehrt soll ich als Elternteil mich gegenüber meinen Kindern so verhalten, wie ich es selbst als Kind von meinen Eltern gewollt hätte. Und obwohl es unter Wettbewerbsbedin­ gungen abwegig wäre, meinen Gegner gewinnen zu lassen, nur weil ich selbst gewinnen möchte, kann jetzt doch gesagt werden, dass ich als Spieler meinem Gegner einen fairen Wettkampf liefern soll, weil ich mir 21 Zhōngyōng 3.13. Zu Kants Lebzeiten existierten bereits drei lateinische Übersetzun­ gen dieses bedeutenden Textes in Europa. I. Kern, »Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa« (1998), Primärtexte 9, 13, 18. Keine der lateinischen Publi­ kationen findet sich im Verzeichnis Immanuel Kants Bücher (1922) herausgegeben von A. Warda. Auch C. Wolff zitiert in seiner Prorektoratsrede Rede über die praktische Philosophie der Chinesen von 1721 (1985) die Passage nicht. In seinem Buch Kant und die Religionen des Ostens (1954) resümiert H. v. Glasenapp: »Von der chinesischen Morallehre hatte Kant eine sehr geringe Meinung« (103). Glasenapp zitiert aus einer Nachschrift der Geographie-Vorlesungen des Jahres 1781 (Ms 2599, Adickes Q, 305): »ein Begriff von Tugend und Sittlichkeit ist den Chinesen nie in den Kopf gekommen«.

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selbst als Spieler einen fairen Wettkampf wünsche. Es wäre von daher auch eine Maxime, die im kantischen Sinne verallgemeinerbar ist, als Richter einen Schuldigen in der Art zu behandeln, wie der Richter selbst als Schuldiger behandelt zu werden wünschte. Und für den Fall, dass der Schuldige einsichtig ist, kann er nicht anders wollen, als dass der Richter so urteilt, wie er an Richters Stelle urteilen würde.

Schluss: Pflichten gegen sich selbst In seiner Kritik der Goldenen Regel formulierte Kant, dass diese nicht als Prinzip der Ethik dienen könne, da sie weder den »Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere [...], endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander« enthalte. Dies würde innerhalb der kantischen Moralphilosophie bedeuten, dass sich die Gol­ dene Regel als Prinzip zur Begründung überhaupt keiner Pflichten eignet. Denn die Pflichten gegen sich selbst und die Pflichten gegen andere (unterteilt in enge und weite) bilden das gesamte System der Pflichten in Kants Ethik ab. Dagegen wurde argumentiert, dass die Goldene Regel, wenn schon nicht als Prinzip, doch wenigstens als Maxime und als solche mit Kant sogar in ausgezeichneter Weise zur Aufweisung der Pflichten gegen andere geeignet ist. In vollem Umfang richtig ist deshalb nur Kants Aussage, dass die Goldene Regel keine Pflichten gegen sich selbst begründen kann. Die Goldene Regel hebt ganz auf das Prinzip der Wechselseitigkeit ab und enthält keinen Hinweis darauf, wie wir uns zu uns selbst verhalten sollen. Kant war jedoch der Ansicht, dass Verallgemeinerung im strengen Sinne bedeutet, dass die Maximen meiner Handlung auch im Selbstver­ hältnis Geltung haben. Weil »alle Andere außer mir nicht Alle sein« würden, »wird das Pflichtgesetz [...] mich als Object desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen« (TL 6:451). Erst nach dieser Erklärung kann jetzt auch die Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs in vollem Wortlaut zitiert werden: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst! Aus dem Kategorischen Imperativ, die Menschheit in der eigenen Person zu wahren, folgerte Kant, dass der Selbstmord moralisch mit derselben Strenge verworfen werden muss wie das Töten überhaupt; und sich in einen rechtlosen Zustand zu fügen, genauso unzulässig ist, wie einen anderen Menschen zu entrechten. Die obigen Ausführungen sollten

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zeigen, dass wir Kant in diesem Punkt nicht folgen müssen, um die weit­ reichende Geltung seiner in Freiheit und Wechselseitigkeit fundierten Ethik anzuerkennen.

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IV. Epilog: Achsenzeit und Humanismus

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0. Einführung Die Nennung der Namen Buddha, Konfuzius und Sokrates ruft heute nahezu unweigerlich die Assoziation des von Karl Jaspers 1949 in seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte geprägten Begriffs der »Achsenzeit« hervor. Da es in diesem Band aber primär um den Nach­ weis der Fruchtbarkeit des Einbezugs außereuropäischer humanistischer Ethikansätze in die philosophische Forschung ging, wurden historische Fragestellungen bewusst hintangestellt. Angesichts des in der Tat frap­ pierenden Sachverhalts, dass die drei in diesem Buch vorgestellten antiken Weisen annähernd Zeitgenossen waren, soll im abschließenden Teil auf die in verschiedener Hinsicht umstrittene These der Achsenzeit dennoch eingegangen und deren Relevanz für die vergleichende Philoso­ phie geprüft werden. Konfuzius starb 479 v. Chr. mit ungefähr 70 Jahren. Sokrates starb 399 v. Chr. ebenfalls mit 70 Jahren. Buddha starb mit 80 Jahren vermutlich zwischen 400 und 350 v. Chr.1 Inoue Enryō, dem wir die Konstellation der Vier Weisen verdanken, schreibt zu deren zeitlichen Verhältnis Folgendes: Es war im Osten wie im Westen ungefähr zur selben Zeit, dass zahlreiche Lehren und divergierende Theorien zeitgleich miteinander konkurrierten und das philosophische Denken einen großen Aufschwung nahm. Drei­ hundert bis vierhundert Jahre vor dem Beginn der [westlichen] Zeitrech­ nung lebten in Griechenland Sokrates, Platon und Aristoteles. Während dieser Zeit traten in China Konfuzius, Menzius, Lǎozǐ, Zhuāngzǐ, Yáng Zhū, Mòzǐ, Xúnzǐ und Hán Fēi auf. In Indien entspricht diese Epoche der Zeit von Aśvaghoṣa, Nāgārjuna, Asaṅga und Vasubandhu.2

Enryō, der zur letzten Generation buddhistischer Gelehrter vor dem Aufblühen der kritischen Sanskrit-Studien in Japan gehörte, war noch der Auffassung, dass Indien die älteste Tradition des Denkens besäße. Von den berüchtigten philologischen Schwierigkeiten, überhaupt irgend­ welche Datierungen in der indischen Geistesgeschichte vorzunehmen, ahnte er noch nichts. Die von Enryō durch die Namen der vier bud­ dhistischen Denker umrissene Zeitspanne entspricht nach heutigem 1 Die traditionell angenommenen Lebensdaten von Konfuzius sind 552–479. E. B. Brooks und A. T. Brooks (The Original Analects, 1998, 10) veranschlagen 549–479. Nakamura H. (Gotama Buddha, 2005, Bd. 2, 197) vermutet Buddhas Tod im Jahr 383. H. Bechert (»The Date of the Buddha Reconsidered«, 1982) nimmt für den Tod Buddhas einen Zeitraum zwischen 373 und 353 an. 2 Inoue E., Tetsugaku yōryō [Abriss der Philosophie] [1886], 93f.

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Achsenzeit und Humanismus

Forschungsstand ungefähr den ersten 500 Jahren der christlichen Zeit­ rechnung,3 die als das Goldene Zeitalter der buddhistischen sowie der nicht-buddhistischen indischen Philosophie gelten.4 Auch wenn sich Enryō hinsichtlich der Datierung der von ihm angeführten indischen Denker getäuscht hat, ist die Blütephase der indischen Philosophie im Medium des klassischen Sanskrit für den Vergleich mit den antiken Philosophien Europas und Chinas methodisch nicht unplausibel. Dagegen mag es fragwürdig erscheinen, ob etwa die Bücher Zhuāngzǐ und Xúnzǐ sowie die Werke Platons und Aristoteles', die in ihren jeweiligen Kulturen bereits auf mehrere Jahrhunderte lite­ rarischer Tradition aufsetzten, gut mit der oralen Religiosität der eisen­ zeitlichen Zivilisation der Gangesebene zur Zeit des Buddha verglichen werden können. Überhaupt lässt das gänzlich abweichende Verhältnis zur Geschichte in den drei Kulturen Zweifel an einem gemeinsamen Geist der Epoche der Achsenzeit aufkommen: Während die chinesischen Denker der Achsenzeit sich als die Erben der in die Urzeit zurückreich­ enden einzig maßgeblichen Zivilisation wähnten, wussten die Griechen und Römer um ihr »Spätsein« und dachten bereits im Bewusstsein fremder Hochkultur und Urgeschichte. Die bis ins dritte vorchristliche Jahrhundert schriftlose Zivilisation der Gangesebene hatte dagegen aller

3 Nach R. E. Buswell, Encyclopedia of Buddhism (2004) ist Aśvaghoṣa um ca. 100 n. Chr., Nāgārjuna im ca. 2. Jh. n. Chr., Asaṅga zwischen ca. 320 und ca. 390 und Vasubandhu zwischen ca. 350 und ca. 450 zeitlich zu verorten. Der buddhistische Poet Aśvaghoṣa (Autor des Buddhacarita) wurde von Enryō angeführt, weil diesem die in der chinesischen Tradition einflussreiche, aber apokryphe »Abhandlung über das Erwachen des Mahayana-Glaubens« (chin. Dàshèng qǐxìn lùn) zugeschrieben wurde. 4 J. Westerhoff (The Golden Age of Indian Buddhist Philosophy, 2018, 5) verans­ chlagt »the golden age of Buddhist philosophy in India, from the composition of the Abhidharma texts (about the beginning of the first millennium CE) up to time of Dharmakīrti (sixth or seventh century CE).« P. Adamson and J. Ganeri (Classical Indian Philosophy, 2020, 102) sprechen von den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende als dem »Zeitalter des Sūtra« (Age of the Sūtra). In die erste Phase der viele Jahrhunderte währenden Dominanz des klassischen Sanskrit als Gelehrtenspra­ che fällt auch die Endredaktion der grundlegenden Texte der nicht-buddhistischen indischen Philosophie. Die klassischen Systeme der indischen Philosophie sind im Tempelgarten der Philosophie in Gestalt von Kapila (Sāṅkhya) und Akṣapāda (Nyāya) repräsentiert. Nicht nur ideengeschichtlich, sondern für die indische Antike insgesamt wird ferner das Gupta-Reich (ca. 320–550) als Goldenes Zeitalter betrachtet. R.S. Sharma, India's Ancient Past (2005), 245.

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Achsenzeit und Humanismus

Wahrscheinlichkeit nach keine Kenntnis der zwei- bis dreitausend Jahre älteren, bereits untergegangenen Indus-Kultur (3300–1300).5 Karl Jaspers, der diesen Sachverhalt ebenfalls gesehen hatte, war dies jedoch kein Einwand, sondern eher ein Beleg für den letztlich nicht vollständig erklärbaren Charakter des weltgeschichtlichen Durchbruchs, den er in der Achsenzeit erkennen wollte.6 In der um das Jahr 1975 einsetzenden historischen Beschäftigung mit dem Thema ist Jaspers' exis­ tenzphilosophisches Pathos zu Recht einer nüchternen Betrachtungs­ weise gewichen.7 Für die Frage nach der philosophischen Bedeutung der Achsenzeit blieb Jaspers' Text jedoch ein wichtiger Bezugspunkt. Aus der Reihe der zahlreichen in jüngerer Zeit zu dem Thema erschienenen Beiträge werde ich mich im Folgenden insbesondere mit zwei Büchern auseinandersetzen8: Zuletzt hat Jürgen Habermas in sei­ nem monumentalen Alterswerk Auch eine Geschichte der Philosophie (2019) die Herausbildung der Weltbilder der Achsenzeit auf hohem the­ oretischen Niveau nachzuzeichnen versucht. Einerseits folgt Habermas bedauerlicherweise der Forschungsdiskussion darin, die ideengeschicht­ liche Bedeutung der Achsenzeit im Wesentlichen in religionssoziologi­ schen Kategorien zu denken. Andererseits ist seine Rekonstruktion unter dem Gesichtspunkt von Lernprozessen nicht nur eine genuin philoso­ phische Betrachtungsweise, sondern scheint mir auch hinsichtlich der Entstehungsbedingungen der Achsenzeit historisch plausibel. Das zweite Buch, an dessen Thesen ich mich orientieren werde, stammt von dem Ägyptologen und Kulturtheoretiker Jan Assmann, der sich nicht erst in seinem 2018 erschienenen Buch Achsenzeit mit der Thematik kritisch auseinandersetzt. Wie der Untertitel Eine Archäologie der Moderne andeutet, rückt Assmann Jaspers' Konzept der Achsenzeit in die Nähe modernisierungstheoretischer Debatten. Eine Lesart, der ich mich nicht anschließen möchte, die aber Anlass gibt, den seinerseits problematischen Fortschrittsbegriff Karl Jaspers' zu thematisieren. In 5 H. Falk, Schrift im alten Indien (1993), 337–340. Die Abwesenheit der Indus-Kultur im kulturellen Gedächtnis der späteren Zivilisation der Gangesebene bedeutet natürlich nicht notwendig, dass die kulturelle und technologische Tradition vollkommen abge­ rissen war. H. Kulke, »Die historischen Ursprünge der indischen Achsenzeit« (1987). 6 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (2017), 57, 31. 7 Ausgabe der Zeitschrift Daedalus (Bd. 104, Nr. 2), »Wisdom, Revelation, and Doubt: Perspectives on the First Millennium B.C.« (1975). 8 Außer den zwei im Folgenden diskutierten Büchern wären hier zu nennen: R. N. Bellah, Religion in Human Evolution (2011) (dt. Der Ursprung der Religion, 2021). R. N. Bellah und H. Joas (Hrsg.), The Axial Age and Its Consequences (2012). D. Hoyer und J. Reddish (Hrsg.), Seshat History of the Axial Age (2019).

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Achsenzeit und Humanismus

anderer Hinsicht wird Assmann Jaspers' Intention meines Erachtens jedoch sehr wohl gerecht, wenn er dessen Buch als Plädoyer für einen »kosmopolitischen Humanismus« (282) würdigt und die Achsenzeit als einen »mit den Werten und Normen des Klassischen besetzten Vergan­ genheitshorizont« (290) deutet. Aufgrund der implizierten Geltungsan­ sprüche interpretiert Assmann die Achsenzeit als »normative Vergan­ genheit« und spricht von der Achsenzeit als Jaspers' »regulativer Idee« (280–283). Die hierdurch ins Spiel gebrachte kantische Terminologie dankbar aufnehmend, werde ich in den ersten drei Abschnitten des Epi­ logs Jaspers' genuin philosophisches Interesse unter Aufweis seiner kan­ tischen Voraussetzungen konturieren. Andererseits werde ich aufzeigen, wo sich Jaspers von Kant entfernt. Das vierte Kapitel versucht unter Ver­ weis auf die irreduzible (insbesondere auch den Humanismus einschlie­ ßende) Fülle des achsenzeitlichen Denkens eine Kritik der monotheisti­ schen Verzerrung der bisherigen Achsenzeit-Theorie. Als Alternative zu einem geistesgeschichtlichen oder religionssoziologischen Epochenbe­ griff der Achsenzeit schlage ich fünftens vor, die intellektuelle Frucht­ barkeit der Achsenzeit als Kehrseite des fortgeschrittenen Eisenzeitalters und der hierdurch in Gang gesetzten Urbanisierungsprozesse zu deuten. Unter Aufnahme des von Jan Assmann (im Licht seiner Theorie des »kulturellen Gedächtnisses«) entwickelten Verständnisses achsenzeitli­ cher Phänomene als »Durchbruch zur fortlaufenden Exegese [der] kano­ nischen Texte« (291) komme ich zum Schluss auf den Bildungshumanis­ mus zu sprechen.

1. Kantische Vorzeichen Das unverändert lesenswerte Buch von Karl Jaspers Vom Ursprung und Ziel der Geschichte exemplifiziert durch seinen an Anregungen reichen und deutungsoffenen Stil das Geschichtsverständnis seines Autors als eine »der Interpretation offene unendliche Welt von Sinnbeziehungen« (242). Jaspers leuchtet im Rahmen seines Entwurfs einer Struktur der Weltgeschichte den Sinn von Ursprung und Ziel der Menschheit existenz­ philosophisch aus. Wobei sein Duktus nicht nur pastorale Anklänge hat, sondern mit dem religionsphilosophischen Charakter seiner Philosophie überhaupt harmoniert. Die »kantianisierenden« (Habermas) Elemente der Existenzphilosophie von Karl Jaspers sind dagegen nicht ohne Wei­

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Achsenzeit und Humanismus

teres greifbar.9 Jaspers' Kant-Darstellung in seinem Lesebuch über Die Großen Philosophen (1957) lässt jedoch keinen Zweifel an der Tiefe seines Verständnisses der kantischen Philosophie und dem Bewusstsein seiner Verpflichtung gegenüber Kant. Der 1975 auch selbstständig verlegte Text ist mit mehr als zweihundert Seiten doppelt so lang wie die Darstellungen der vier Maßgebenden Menschen (Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus) zusammen. Jaspers' intensive Auseinandersetzung mit Kants Werk geht auf die zehn Jahre nach Antritt seines philosophischen Lehrstuhls in Heidelberg im Jahr 1921 bis zum Erscheinen seines dreibändigen Haupt­ werks Philosophie im Jahr 1932 zurück. Bezogen auf diesen Zeitraum erinnert sich Jaspers: »Kant wurde mir zum Philosophen schlechthin und blieb es mir.«10 Im Vorwort des ersten Bandes seines Hauptwerks mit dem Titel Philosophische Weltorientierung nennt Jaspers Kant »den Philosophen schlechthin, keinem anderen vergleichbar in dem Adel seiner besonnenen Menschlichkeit, die sich offenbart als die Reinheit und Schärfe seines unendlich bewegten Denkens [...]« (viii). Tatsächlich gibt es aber auch Hinweise, dass es insbesondere die von Jan Assmann angesprochene kantische Ideenlehre war, die Jaspers als Philosophen nachhaltig beeinflusst hat. Der im Anhang der Psychologie der Weltanschauungen im Jahr 1919 erschienene Text »Kants Ideenlehre« ist Jaspers' erste im engeren Sinne fachphilosophische Veröffentlichung. Vermutlich geht die beim Wiederabdruck angegebene Datierung 1913/14 auf Jaspers selbst zurück.11 In seiner Philosophischen Autobiographie (1953) schreibt Jaspers nämlich, dass er als Assistent während seiner »psychiatrischen Arbeit« in Heidelberg in den Jahren 1909 bis 1915 »in gelegentlichen Seminaren bei [Emil] Lask Kant gelesen« und »die Kantische Ideenlehre« begriffen habe.12 Kants Ideen treten in Jaspers' Philosophie nicht nur in vielerlei Gestalt auf, sondern scheinen den Hintergrund nahezu seines ganzen Philosophierens zu bilden: Jedwede Ganzheit, Einheit oder Totalität existiert nur als Idee und weist kraft ihrer Idealität dem philosophischen Transzendieren den Weg.13 Hinsichtlich der Frage, ob die Achsenzeit für Jaspers eine »regulative Idee« im kantischen Sinn war, gilt zunächst Folgendes: Jede Behauptung des kanonischen Status eines Werks oder des klassischen Charakters 9 10 11 12 13

J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie (2019), Bd. 1, 100. K. Jaspers, »Über meine Philosophie« [1941], 399. K. Jaspers, Aneignung und Polemik (1968). Siehe Anm. S. 512. K. Jaspers, »Philosophische Autobiographie« [1956], 118. K. Jaspers, Philosophische Weltorientierung (1932), 53.

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einer Epoche muss sich der kritischen Prüfung, d.h. der philosophischen Frage nach Gründen stellen. Diese Begründung geschieht hinsichtlich der Idee der Geltung, entweder theoretische Geltung, d. i. Wahrheit, oder normative Geltung. Die in der Geltungsfrage gemeinsam angesproche­ nen Ideen des Wahren und Guten sind die »Regeln unseres Fortschrei­ tens in der Erkenntnis«. Sie konstituieren keine Erkenntnis, sondern sie sind die »Gesichtspunkte, die wir an die Erfahrung heranbringen. […] Wir betrachten die Erfahrung, »als ob« in ihr etwas den Ideen Entsprechendes wirklich wäre«, wie Jaspers in seiner Kant-Darstellung formuliert.14 Von daher ist es missverständlich, die Achsenzeit aufgrund ihres normativen Gehalts selbst eine »regulative Idee« zu nennen. Die Achsenzeit erhält eine besondere Stellung nur insoweit etwas in ihr auffindbar ist, das Geltung beanspruchen kann. Die Achsenzeit kann aus demselben Grund im kantischen Sinn auch nicht qua Vergangenheit normativ sein. Allenfalls hilft uns die Idee der Normativität, in der Vergangenheit etwas Wertvolles zu entdecken. Das mag zunächst spitzfindig klingen, hilft aber Missverständnissen zwischen Philosophen und Historikern vorzubeugen. Geltung ist per definitionem nicht in der Zeit. Die in der Philosophie immer versuchte, aber nie vollständig einlösbare Universalität der Geltung ist weder im Raum noch in der Zeit, sondern eben ideell. In der abendländischen Philosophie wird dies vorzugsweise und einleuchtend am Beispiel mathe­ matischer oder logischer Richtigkeit erläutert: Die Richtigkeit einer Gleichung oder Formel ist nicht relativ zu Raum und Zeit. Empirische Wahrheit dagegen, definiert als Korrespondenz zwischen Behauptung und Sachverhalt, bezieht sich immer auf Raum und Zeit. Dies betrifft aber nur den Inhalt der Behauptung, nicht aber den Geltungsanspruch. Geltungsansprüche gehen der wissenschaftlichen Logik folgend immer auf die maximal mögliche Richtigkeit. Universelle Geltung ist die regulative Idee deshalb nicht nur der Mathematik und der Philosophie. Einem historischen Narrativ, einer These der empirischen Wissenschaft oder einer soziologischen Theorie kommen Geltung in derselben Weise niemals im Sinne einer Eigenschaft zu. Sondern die Idee der Geltung ist der Gesichtspunkt, hinsichtlich dessen wissenschaftliche Aussagen formuliert werden und als solche überhaupt erkennbar sind. Der Geltungsanspruch zielt also seinem Wesen nach immer auf das Maximum, d.h. auf Universalität. Der Geltungsbereich hingegen betrifft 14 K. Jaspers, Die großen Philosophen (2007), 467–468.

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den Grad der Allgemeinheit bzw. den Umfang des Gegenstandsbereichs einer akademischen Aussage oder Theorie. Wie Kant ausführt, ist »die durchgängige Bestimmung« sogar eines Einzeldings »nach allen mögli­ chen Prädikaten«, ob sie jenem zukommen oder nicht, ebenfalls nur eine »Idee«.15 Selbst bei minimalem Umfang unseres Gegenstandsbereichs bleibt also Wahrheit nur eine richtungsweisende, niemals vollständig einlösbare Idee. Dieser Unterschied ist deshalb wichtig, weil der von Jaspers benannte »Schritt ins Universale« (18) zu einem oft angeführten Merkmal der Achsenzeit wurde. Hierbei handelt es sich eben nicht um die allen deskriptiven und normativen Aussagen stets implizite Idee der Geltung, sondern um die philosophische Entgrenzung des Geltungsbe­ reichs. Philosophische Theorien in Metaphysik und Moral unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs von anderen geisteswis­ senschaftlichen Aussagen, sondern sind durch die Abwesenheit eines historisch oder soziologisch verorteten Gegenstandsbereichs charakter­ isiert. Eingedenk der Tatsache, dass alles, worauf Ideen den Blick lenken, mit diesen niemals identisch ist, weiß die Philosophie deshalb so gut wie jede andere Wissenschaft, dass ihre Aussagen unter dem Vorbehalt der Widerlegung stehen. Karl Jaspers hat diesen kritischen Vorbehalt in seiner Geschichtsphilosophie ebenfalls klar formuliert: »Die Philosophie ist unvollendet und muß sich dessen bewußt bleiben, wenn sie nicht falsch werden will.« (212) Die des Öfteren zu hörende Kritik, die Philo­ sophie müsse ihre universalen oder gar totalitären Phantasien aufgeben, beruht auf Unkenntnis eben jenes wichtigen Theoriestücks der Kritik der reinen Vernunft. Universelle Geltung ist uns nie gegeben, sondern allen Wissenschaften gleichermaßen aufgegeben.16 Im Rahmen einer Geschichtsphilosophie war die Identifikation und historische Verortung der Achsenzeit notwendig. Systematisch geht der geschichtlichen Beschreibung jedoch Jaspers' Entdeckung der philoso­ phisch wertvollen Gehalte der Achsenzeit voraus. Das genuine Interesse der Philosophie an der Ideengeschichte ist nicht historisch, sondern der Gesichtspunkt der Geltung. Der viel zitierte, die Charakteristik der Achsenzeit einleitende Paragraph bringt dies klar zum Ausdruck. Er vermittelt außerdem einen Eindruck des in Jaspers' Existenzphilosophie stets mitgedachten Ineinandergreifens von Humanität und Transzen­ denz: 15 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV ) [1781/87], A 573 / B 601. Vgl. K. Jaspers, »Kants Ideenlehre« (1919), 419. 16 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [1787], B 536.

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Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten [China, Indien und Mittelmeerraum], daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung. Indem er mit Bewußtsein seine Grenzen erfaßt, steckt er sich die höchsten Ziele. Er erfährt die Unbedingt­ heit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz. (18)

Die kognitiven Operationen dieser Bewusstwerdung, die Jaspers im Folgenden nennt, sind Reflexivität, Diskussion, Begriffsbildung, Kritik, Spekulation und Vergeistigung. In Gestalt von Philosophen, Einsiedlern, Denkern und Propheten traten neue Typen starker Persönlichkeiten auf, die sich auf dem Weg der Metaphysik, in religiösen Visionen oder mittels Askese zur Transzendenz aufschwangen. Im Zuge dieser geistigen Bewegungen wurden Tradition und Sitten der Kritik unterzogen, der Übergang vom Mythos zum Logos vollzogen und die Grundlagen der moralischen Weltreligionen gelegt (18–19). Unabhängig davon, ob man in Jaspers' Charakteristik eher die philo­ sophischen oder die religiösen Aspekte hervorheben möchte, kann man festhalten, dass Jaspers die Achsenzeit als eine Epoche des Erwachens bzw. der Aufklärung verstand. Insofern macht Jaspers das, was man von der Philosophie erwarten darf: Das Wahre und Gute ins Gespräch bringen und Aufklärung kennzeichnen, wo sie sich ereignet; den Blick auf das Gültige lenken, damit es »Faktor des Kommenden« (227) wer­ den kann. Im Licht dieser genuin philosophischen Perspektive auf die Vergangenheit müssen auch die Begriffe der Moderne, der Aufklärung und des Fortschritts bei Kant und Jaspers gedeutet werden. Hinsichtlich Geltung spielt Historizität keine Rolle: »Wir über­ schreiten die Geschichte in das zeitlos Geltende, in die Wahrheit, die von aller Geschichte unabhängig ist.« (250) »Alles liegt gleichsam auf einer einzigen, zeitlosen Ebene des Giltigen [sic]«, schreibt Jaspers (215). Ein in der Vergangenheit erhobener Geltungsanspruch wird zwar durch Anerkennung notwendig auf die Gegenwart bezogen. Und insofern wir diese Gegenwart unter dem Epochenbegriff der Moderne diskutieren, wird damit für den ausgezeichneten philosophischen Gehalt in Anspruch genommen, dass er auch in der Moderne Bedeutung hat. Dies beinhal­ tet jedoch keineswegs eine Stellungnahme hinsichtlich der Debatten um Ursprung und Legitimität der Moderne. Die einzige Festlegung, die mit der philosophischen Auszeichnung einer in der Vergangenheit geäußerten Idee als einer gültigen notwendig einhergeht, ist diejenige, dass es Gründe gibt, die Idee auch heute noch anzuerkennen. Die

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rein zeitgeschichtliche Frage nach der Lage der Gegenwart ist damit nicht berührt. So beziehungslos die Idee der Geltung zum Epochenbegriff der Moderne ist, so unverzichtbar ist dagegen der Aufklärungsbegriff für den philosophischen Bezug auf die Vergangenheit. Die Philosophie geht aus methodischen Gründen, wo immer möglich, auf denjenigen Zeitpunkt in der Tradition zurück, wo eine Idee zum ersten Mal geäußert wurde. Und der Auftritt einer philosophischen Wahrheit als historisches Ereig­ nis betrachtet heißt Aufklärung. Oder anders gesagt: Jedes berechtigte Geltendmachen einer Wahrheit oder einer Norm, die in dem jeweiligen historischen Kontext weder trivial noch Konsens ist, ist ein Fall von Aufklärung. Dies gilt nicht nur für vergangene, sondern genauso für gegenwärtige Behauptungen. Richtig ist, dass dieser Umstand in der pragmatischen Logik wissenschaftlicher Aussagen überhaupt begründet liegt. Jeder Sprechakt, der in Anspruch nimmt, einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten, kann sich nicht gegen die Aufklärung wenden, ohne selbst-widersprüchlich zu sein. Als Epochenbegriff verwenden wir das Wort Aufklärung zwar für Zeitalter, in denen das Gültige signifikant gehäuft ans Licht kam. Die Wertschätzung allerdings, welche sich in dem Begriff kundgibt, hat ihren Grund in derselben Idee der Geltung, die dem akademischen Betrieb insgesamt zugrunde liegt. Das heißt nicht, dass Wissenschaftler sich nicht der Wertung enthalten dürften. Aber Philosophen legen keinen anderen Maßstab an die Vergangenheit an als denjenigen, den Wissenschaftler notwendig immer an ihre eigenen Aussagen anlegen, so objektiv und neutral der Gehalt ihrer Aussagen selbst sein mag. Dieselbe Unverzichtbarkeit des Begriffs der Aufklärung kann auch für den Begriff des Fortschritts geltend gemacht werden. Dieser bildet mit jenem ein Paar analog der paradigmatischen Opposition von Theorie und Praxis bzw. der anthropologischen Dualität von Reden und Handeln. Jede vernünftige Handlung impliziert die Annahme, dass durch sie ein Zweck erfüllt oder wenigsten auf dem Weg der Zweckerfüllung ein weiterer Schritt getan wird. Jedes Individuum gestaltet seinen Lebens­ weg vernünftigerweise nach der Maßgabe, nicht Rückschritte, sondern Fortschritte zu machen. In derselben unserer frontalen Ausrichtung geschuldeten Intuition wurzeln auch die Begriffe des Weges im Bud­ dhismus und in der chinesischen Philosophie. Die Möglichkeit des Fortschritts liegt unserem Handeln als unausgesprochenes Postulat oder als pragmatische Unterstellung zugrunde. Kant nennt den Fortschritt

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deshalb eine »moralisch-practische Vernunftidee«.17 Jaspers hat diesen Gedanken Kants vollendet formuliert: Wenn eine Gewissheit über Fortschritt im ganzen durch Erfahrung unmöglich ist, so ist doch die Fortschrittsidee für unsere Freiheit praktisch von Bedeutung als regulatives Prinzip [...]. Ich kann nicht erkennen, was werden wird, wohl aber das voraussagen, woran ich, es hervorbringend, teilnehme. Der Fortschrittsgedanke gibt keine Antwort auf die Frage nach dem, was sein wird, aber wohl auf die Frage, was ich will. Der Wille unter Führung der Ideen kann verwirklichen. [...] Der Fortschrittsgedanke [...] ist als praktische Idee die Öffnung des Raums für die Unabhängigkeit des guten Willens.18

Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der wir gewohnt sind, den Handlungsbegriff auf kommunikatives Verhalten anzuwenden, lässt sich auch der aus dem Handlungsbegriff deduzierte Fortschrittsbegriff in den theoretischen Bereich übertragen: Jeder wissenschaftliche Sprechakt, mit dem Anspruch einen Beitrag zu leisten, muss wollen, ein Fortschritt im Prozess der Aufklärung zu sein, wenn ein Selbstwiderspruch vermieden werden soll. Fortschritt gibt es von daher im praktischen genauso wie im theoretischen Streben des Menschen. Wobei Fortschritt in Wissen und Weisheit eben Aufklärung heißt. Diese Klärung der für das Verhältnis der Philosophie zur Vergan­ genheit unabdingbaren Begriffe der Aufklärung und des Fortschritts versteht sich im besten kantischen Sinn a priori, da sie sowohl philoso­ phiegeschichtlichen als auch geschichtsphilosophischen Betrachtungen vorauszugehen hat.

2. Zeit und Achse Dass sich der von Jaspers beschriebene geistige Durchbruch in drei verschiedenen Weltteilen zugetragen hat, ist für die vergleichende Phi­ losophie von konstituierender Bedeutung. Dass sich der Durchbruch aber gleichzeitig vollzogen hat, ist für dieselbe dagegen belanglos, da Gleichzeitigkeit keine Voraussetzung für Vergleichbarkeit ist. Im Rahmen 17 I. Kant, »Reflexionen zur Rechtsphilosophie« AA 19:611 (ca. 1790–1804). Dass ich mit Karl Löwiths Kritik des Fortschrittsbegriffs in Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1953) nicht einverstanden bin, geht aus dem Gesagten ebenfalls hervor. Ausführlich »Interlude on Progress« in R. Schulzer, Inoue Enryō (2019), 207–216. 18 K. Jaspers, Die großen Philosophen (2007), 543.

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der Geschichtsphilosophie Karl Jaspers' spielt die Gleichzeitigkeit jedoch eine wesentliche Rolle, die es nun im Zusammenhang mit der schwer zu deutenden Achsenmetapher zu erläutern gilt. Als Herkunft der Metapher führt Jaspers ein Diktum Hegels im folgenden Wortlaut an: »Alle Geschichte geht zu Christus hin und kommt von ihm her. Die Erscheinung des Gottessohnes ist die Achse der Weltgeschichte.« (17) Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein Zitat, sondern um die Paraphrase eines Gedankens Hegels. Die entsprechende Quelle in Hegels Schriften lautet: »Dieses neue Prinzip [der Offenbarung Gottes als Mensch und Geist] ist die Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht. Bis hierher und von daher geht die Geschichte. ›Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn‹, heißt es in der Bibel.«19 Da Jesu Geburt in unserer Zeitrechnung die Stunde null markiert, bewegt sich die Geschichte vor der Zeitenwende auf Jesus hin und nach der Zeitenwende kommt sie von Jesus her. Am Nullpunkt des Zeitstrahls verkehrt sich die Geschichte vom Negativen ins Positive. Das Ereignis der Offenbarung Gottes in Jesus ist nach christlichem Dafürhalten deshalb das Gelenk oder der Angelpunkt, an dem sich das Geschick der Welt zum Positiven wendet. Ein Dreh- bzw. Angelpunkt ist aber wenigstens technisch nicht dasselbe wie eine Achse. Hans Joas hat darauf hingewiesen, dass die beträchtlichen Abwei­ chungen im Wortlaut, und insbesondere die Ersetzung der Metapher der Angel durch die der Achse, auf die Vermengung des Hegel-Zitats mit einer weiteren Quelle zurückzuführen sein könnten.20 In einem katholischen Lehrbuch der Dogmatik, das zwischen 1902 und 1920 sieben Auflagen erfuhr, heißt es: Wie die Zeiger an der Weltuhr, legt sowohl die vor- als die nachchristliche Weltgeschichte Zeugnis ab für Christus, das Altertum als ›paedagogus ad Christum‹ vorwärts, die nachchristliche Zeit als Erfüllung rückwärts zeigend. Die Inkarnation bezeichnet den Gipfel und Kulminationspunkt der Selbstoffenbarung Gottes an die Menschheit. So ist Christus in Wahrheit die Achse der Welt und Weltgeschichte, der lebendige Beweis des Theismus.21 19 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 2. Teil. Die römische Welt, Abschnitt 3, Kap. 2. Siehe K. Salamun, »Einleitung des Herausgebers« in K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (2017), xvii. 20 H. Joas, Die Macht des Heiligen (2019), 307. 21 J. Pohle, Lehrbuch der Dogmatik (1920), 17.

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Von dem interessanten Bild einer Uhr, deren einer Zeiger vorwärts und deren anderer rückwärts geht, einmal abgesehen, beschreibt das Zitat dieselbe Bewegung der Geschichte auf Jesus hin und von Jesus her, von der auch bei Hegel und Jaspers die Rede ist. Eine schlüssige Deutung der Achsenmetapher erlaubt die Quelle jedoch ebenfalls nicht. Als Zeitstrahl mag Jesus die Achse der Weltgeschichte sein. Das Umschlagen der Zeit ins Positive geschieht jedoch an dem durch Jesu Geburt markierten Nullpunkt, der eben nur ein Punkt, aber keine Achse ist. Um Jaspers' Metapher einen Sinn abzugewinnen, mag man sich im Nullpunkt des Zeitstrahls eine weitere Achse bzw. eine weitere Dimen­ sion versuchsweise hinzudenken. Diese Mehrdimensionalität entspräche der Horizonterweiterung, die Jaspers beabsichtigt. Denn der achsenzeit­ liche Durchbruch hat sich nicht einmal in einer Person, sondern in drei Kulturkreisen gleichzeitig vollzogen. Zum Zeitpunkt null auf der vertikalen Zeitachse hat sich verteilt auf der horizontalen Achse im Raum mehrmals jene geistesgeschichtliche Wende ereignet, die sich nach Jaspers' Ansicht als globaler kulturgeschichtlicher Bezugspunkt eignet. In diesem Sinn hätte die Achsenmetapher geographische Bedeutung; ähnlich dem Ausdruck der »Achsenmächte«, der in Jaspers' Ohren noch unheilvoll nachgeklungen haben mag. Die Achsenzeit bezeichnete dann das gleichzeitige Aufblühen jener Kulturen, die wenige Jahrhunderte spä­ ter durch die Seidenstraße verbunden tatsächlich an der »Verkehrsachse« des eurasischen Kontinents lagen.22 Die Seidenstraße als Verkehrsachse Eurasiens aktiviert jedoch das Bedeutungspotential der technischen Achse, die anders als die Achsen eines Koordinatensystems ein Anfang und ein Ende hat. Das Missverständnis einer Rotationsbewegung um eine Radachse wollte Jaspers jedoch ausdrücklich vermieden wissen: Achse war nicht gemeint als das verborgene Innere, um das sich jederzeit der Vordergrund der Erscheinungen dreht, dieses selber Zeitlose durch alle Zeiten sich Erstreckende, das eingehüllt ist in die Staubwolken des nur Gegenwärtigen. (242)

Eine abschließende Deutung der Achsenmetapher scheint mir aufgrund der obigen Überlegungen nicht möglich. Entscheidend ist, dass nicht eine einzige, räumlich spezifizierte Offenbarung, sondern die Gleichzeitigkeit von Ereignissen in verschiedenen Weltgegenden auf der Zeitskala einen neuen Nullpunkt setzt. Die Bewegung »dahin und von daher« ist keine Rotationen um eine Achse, sondern meint die hermeneutische Bewegung 22 Zur philosophischen Geographie sei empfohlen E. Holenstein, PhilosophieAtlas (2004).

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hinsichtlich eines Zeitalters, »für das alles Vorhergehende wie Vorberei­ tung erscheinen kann, und auf das sich alles Folgende faktisch und oft in hellem Bewußtsein zurückbezieht.« (242) Eine Zeitrechnung ohne Nullpunkt ist unmöglich. Allerdings erscheint es widersinnig, in einem Buch, das sich als Beitrag zu einem globalen Humanismus versteht, die Lebensdaten der Weisen Konfuzius, Sokrates und Buddha in Relation zu Christi Geburt anzugeben. Im Englischen kann man eleganter als im Deutschen die Nennung des für Christen alles entscheidenden Namen vermeiden, indem man statt BC (before Christ) und AD (anno domini) respektive BCE (before the common era) und CE (common era) schreibt. Ob Kaschieren das Problem allerdings löst, ist fraglich. Auch der Hinweis, dass das Datum historisch widerlegt und somit genau genommen kontingent ist, wird den Beginn unserer Zeitrechnung kulturell nicht neutralisieren können. Wollte man tatsächlich Überlegungen anstellen, wie sich der Euro­ zentrismus unserer Zeitrechnung überwinden ließe, drängen sich in historischer Zeit zunächst zwei plausible Optionen auf: Jaspers' Idee folgend einen Nullpunkt im Mittel der Achsenzeit zu wählen oder aber jene Zeitenwende, anlässlich der Jaspers sein Buch geschrieben hat: das Ende des zweiten Weltkrieges. Ersteres ist auf Vorbehalte von Seiten der Ägyptologie und Altorientalistik gestoßen. Auf Zustimmung aus dem globalen Süden wird man jedoch für beide Vorschläge nicht hoffen dürfen. Welche anderen Einschnitte wären also denkbar? Das Aussterben der letzten Neandertalerin als Stunde null zu markieren, stünde dem Menschen schlecht zu Gesicht. Denkbar wäre ein mittels der Dendro­ chronologie bestimmtes Jahr, welches den das Neolithikum einleitenden klimatischen Übergang vom Pleistozän zum Holozän vor rund 11.000 Jahren markiert. Sollte es der Menschheit dank fortgeschrittenem Geo­ engineerings irgendwann gelingen, sich im Anthropozän heimisch zu fühlen, mag auch der Beginn desselben als neue globale Orientierung dienen. Realistischer wäre aber vermutlich ein astronomisches Ereignis, das jedoch kulturell neutraler als der Stern von Bethlehem zu sein hätte. Diese halb ironisch, halb ernst gemeinten Bemerkungen sollen Gewicht und Kühnheit der Überlegungen Jaspers' unterstreichen. Obwohl Jaspers keine Kalenderreform gefordert hat, lässt sich sein Projekt doch auch als eine Geschichtsphilosophie in der Absicht auf die Säkularisierung und Globalisierung unseres Zeitbewusstseins verstehen. Geschichte zu denken ist uns nach Jaspers existenziell aufgegeben: »Wir wollen die Geschichte als ein Ganzes verstehen, um uns selbst zu verstehen. Geschichte ist uns die Erinnerung, aus der wir leben.« Opti­

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mistische oder pessimistische Geschichtsauffassungen machen deutlich, dass unser Geschichtsbild »ein Faktor unseres Wollens« ist. »Es liegt [deshalb] der Ernst der Verantwortung in der Aufgabe, uns im Ganzen der Geschichte zu vergewissern.« (215) Die praktische Relevanz zwingt uns, die unübersehbare Vielfalt der historischen Tatbestände wenigstens versuchsweise zu einer vorübergehenden Einheit zu bringen. Die Gesamtschau ist die Aufgabe bzw. die regulative Idee der Geschichtsphi­ losophie, die uns »eine sachgemäße konstruktive Ordnung der Gesamt­ geschichte« suchen lässt. »Wenn auch jede Konstruktion der Einheit der Geschichte immer im Wissen das abgründige Nichtwissen fühlbar machen wird, so ist doch der Weg der Ordnung unter der Idee einer Einheit möglich.« (240) Es besteht also nach Jaspers eine existenzielle Notwendigkeit, uns in irgendeiner Weise in der Geschichte zu orientieren und uns zur Geschichte als Ganzer in ein Verhältnis zu setzen. Da aber Ursprung und Ziel der Geschichte der menschlichen Erkenntnis nicht zugänglich sind, sondern wir uns immer schon in ihrem Verlauf vorfinden, benötigen wir für eine Totalanschauung andere Anhaltspunkte. Genauso wie die sich in Vergangenheit und Zukunft unendlich ausdehnende Zeit uns zwingt, einen Nullpunkt zu bestimmen, um überhaupt etwas in Relation zu ihr zu setzen, benötigen wir Strukturen oder Schemata, die weltgeschichtliche Betrachtungen erlauben. Als Deutung der Einheit haben wir unsererseits ein Weltgeschichtsschema entworfen, das den Ansprüchen an Offenheit und Einheit und der empi­ rischen Realität heute am ehesten zu entsprechen scheint. Unsere Darstel­ lung der Weltgeschichte versuchte, die geschichtliche Einheit durch die der gesamten Menschheit gemeinsame Achsenzeit zu gewinnen. (241)

3. Fortschritt und Transzendenz Für ein Schema der Weltgeschichte, das mit einer neuen Zeitordnung auf­ warten will, war also die Gleichzeitigkeit der achsenzeitlichen Kulturen durchaus erheblich. Als Ersatz für die eurozentrische Zeitrechnung, die alles auf die Geburt Jesu hin denkt, sogar unerlässlich. Der Gesichtspunkt der Geltung, welcher die Achsenzeit überhaupt als ein bedeutungsvolles Geschehen auszeichnet, hat nichtsdestotrotz weder etwas mit Synchron­ izität noch mit Modernität zu tun. In diesem Punkt möchte ich der Lesart Jan Assmanns widersprechen, derzufolge die Achsenzeit für Jaspers den

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»Ursprung« oder die »Gründung« der Moderne bedeutete.23 Jaspers war sogar weniger Theoretiker des Fortschritts, als es hinsichtlich seiner kantische Denkanlage konsequent gewesen wäre. Obwohl Jaspers an keiner Stelle von der Moderne als zeitgeschicht­ licher Epoche spricht, geht es ihm im zweiten Teil seines Buches explizit um eine Diagnose der »gegenwärtigen Situation der Welt« (122). Hierbei stellt er die »moderne« Wissenschaft und Technik als das »schlechthin Neue« heraus (83). Zwischen der Achsenzeit und dem Zeitalter der Umwälzung durch Wissenschaft und Technik insinuiert Jaspers kein genealogisches Verhältnis, sondern es überwiegen im Gegenteil die aufgemachten Gegensätze. Die Achsenzeit ist als Durchbruch, als Erwa­ chen und Verwandlung der Menschheit durchwegs positiv konnotiert. Wohingegen Jaspers' Gegenwart so ambivalent ist wie Wissenschaft und Technik. Die »Dämonie der Technik« (117) eröffnete sogar erstmals den Horizont der planetarischen Vernichtung. Die Achsenzeit unterscheidet sich ferner aufgrund ihrer pluralen Ursprünge von dem zuerst in Europa entstandenen technologischen Zeitalter. Zwar dient Jaspers die Achsenzeit aufgrund ihrer Universalität und Strahlkraft als einheitsstiftendes Moment seiner Konzeption der Weltgeschichte. Ihr verbindendes Potential muss durch den interkulturel­ len Dialog aber erst gehoben werden. Die abendländische Wissenschaft und Technik hingegen bewirkten einen »historischen Bruch« (67), eine »Revolution« (97), durch welche die gesamte Menschheit »in diesen einen Strom der Zerstörung oder Erneuerung gezogen« (133) wurde. Die Eigendynamik des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts hat erstmals die irreversible, planetarischen Einheit der Menschheit geschaffen. Geistesgeschichtlich stehen sich die Achsenzeit und das technische Zeitalter wie »Fülle« und »Leere« gegenüber (134). »[D]ie Gegenwart ist keine zweite Achsenzeit. [...] Suchen wir nach einer Analogie für unser Zeitalter, so finden wir sie nicht in der Achsenzeit« (96). Jaspers diagnostiziert seiner Gegenwart Werteverlust, ideologische Verblendung und Nihilismus (126–129). In dieser Krisensituation empfiehlt Jaspers der Menschheit die Ach­ senzeit als einen kostbaren »Spiegel« (134), in dem wir das Menschsein wieder neu lernen können. Er dachte hierbei aber nicht an wiederaufzu­ nehmende Entwicklungslinien oder unvollendete Projekte, die den Weg in die Zukunft weisen. Jaspers will die Relevanz des Fortschrittsbegriffs nur in einem einzigen Feld gelten lassen: 23 J. Assmann, Achsenzeit (2018), 197, 213.

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Der Fortschrittsgedanke hat seine Wurzel in Wissenschaft und Technik und nur hier seinen wirklichen Sinn. (138) Das Menschsein selbst, das Ethos des Menschen, seine Güte und Weisheit machen keinen Fort­ schritt. (232)

Diese Beschränkung des Fortschrittsbegriff ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Japsers widerspricht ihr unmittelbar selbst, wenn er sich im Anschluss an die Feststellung der Krise und der Risiken der Gegenwart zum unbedingten Wert der Freiheit und dem Ziel einer völkerrechtlichen Ordnung im kantischen Geist bekennt. »Freiheit ist der Weg des Menschen in der Zeit. Er geht auf Freiheit zu aus dem Anspruch der Freiheit.« (148) Ziel der Geschichte ist die »Zivilisation und die Humanisierung des Menschen« innerhalb einer die »politische Freiheit« des Menschen sichernden »Weltordnung des Rechts« (236f ). Dass man einen »Weg zur Weltordnung« (188) schlecht ins Gespräch bringen kann, ohne wenigstens die Möglichkeit des Fort­ schritts einzuräumen, ist offensichtlich. Dass Jaspers die Notwendigkeit des sozialen und politischen Wiederaufbaus nicht in der Begrifflichkeit des Fortschritts, sondern als Aufruf zur »Sorge aller für die Freiheit« (159) formulierte, mag als sekundäres Problem gelten. In der Politik bleibt Jaspers trotz anderer Wortwahl Kantianer. Allerdings hat er durch seine Einschränkung der Sinnhaftigkeit des Fortschrittsbegriffs auf die Wissenschaft den Fortschritt auch aus der Philosophie verbannt. Hier unterscheidet er sich nicht nur oberflächlich von Kant. Jaspers' Oppo­ sition gegen die wissenschaftliche Auffassung der Philosophie ist die Kehrseite des religionsphilosophischen Charakters seiner Existenzphilo­ sophie. Dass er in der Religionsphilosophie nicht gewillt war, Kant zu folgen, hat Jaspers explizit festgehalten. In der kleinen Schrift »Über meine Philosophie« (1941) aus den Kriegsjahren schreibt er: Wahrheit ist mehr als was wir Wahrheit (vielmehr besser Richtigkeit) in den Wissenschaften nennen. [...] Es genügt nicht mehr, mit Kant über sich hinaus zu fragen: ›was darf ich hoffen?‹ Der Mensch drängt entschiedener als je zu der Gewissheit, die ihm fehlt, zu der Gewissheit, dass ist, was ewig ist, dass das Sein ist, durch das auch er selbst erst ist. Wenn die Gottheit ist, dann ist auch alle Hoffnung möglich. [...] Daher kommt zu der Frage, was der Mensch sei, als wesentliche Frage, ob und was Transzendenz (Gottheit) sei.24

24 K. Jaspers, »Über meine Philosophie« [1941], 405f.

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Jaspers hielt einen Humanismus ohne Glauben letztlich für unzurei­ chend. »Es ist unmöglich, daß dem Menschen die Transzendenz verloren geht, ohne daß er aufhört, Mensch zu sein« (204). Ohne »Bezug zur Transzendenz« wäre es ein Menschsein mit »Scheuklappen« (181). Jas­ pers' tiefe Überzeugung, dass echte Humanität Bezug zur Transzendenz verlangt, erklärt auch seinen weihevollen Duktus. Jaspers hoffte tatsäch­ lich auf eine Erneuerung des Glaubens durch Rückbesinnung nicht auf Christus, sondern auf den sich in drei Kulturkreisen zugetragenen Durchbruch zum eigentlichen Menschsein. »Der große Durchbruch ist wie eine Einweihung des Menschseins. Jede spätere Berührung mit ihm ist wie eine neue Einweihung.« (62) Die kulturelle Pluralität des achsenzeitlichen Geschehens war Jas­ pers eine »Aufforderung zur grenzenlosen Kommunikation« (32) in Toleranz und gegenseitigem Interesse. Genauso wenig wie an zivilisa­ torischen Fortschritt dachte Jaspers hierbei allerdings an theoretische Einsichten oder ethische Begriffsbildung. Jaspers' Pathos, mit dem er vom »Geheimnis der Menschwerdung« (32), von einem »Sprung des Menschseins« (54) und vom »Durchbruch in die Freiheit vor den Grenz­ situationen« (26) spricht, legen nahe, dass er in der Achsenzeit seinen religionsphilosophischen Begriff des Transzendierens verwirklicht sah, den er im dritten Band seines Hauptwerks entwickelt hatte. Einer unauf­ geregten Philosophie, die auf dem Weg des Vergleichs der eurasischen Traditionen des Denkens zu neuen Einsichten zu kommen hofft, sind die Diskontinuität suggerierenden Metaphern des »Durchbruchs«, der »Wende« oder des »Sprungs« eher nicht dienlich. Jaspers' Behauptung, dass der Fortschrittsgedanke nur in Wissen­ schaft und Technik Sinn hat, reizt zu der Gegenthese, dass im Gegen­ teil nur die Erkenntnis des Guten und dessen Institutionalisierung berechtigterweise Fortschritt heißen darf. Dies ist allerdings ein nur oberflächlicher Einwand. Denn die praktisch informierte Philosophie weiß natürlich, dass die Wahrheit selbst ein Gut ist und von daher die Institutionalisierung der Wahrheitssuche in Gestalt der Universität und die dort betriebenen Wissenschaften ebenfalls paradigmatische Beispiele für zivilisatorischen Fortschritt sind. Was hier aus Sicht der praktischen Philosophie angesichts der verbreiteten Skepsis gegenüber dem Fortschrittsbegriff, sogenannten Meta-Erzählungen oder Modernisierungstheorien eingewandt wurde, mag trivial erscheinen. Mut zu den Ausführungen machte dem Autor der Umstand, dass selbst Kant sich dem »ewigen Frieden in der Philoso­ phie« schon nahe wähnte, da es »bloßer Mißverstand oder Verwechse­

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lung moralisch-praktischer Principien der Sittlichkeit mit theoretischen [Prinzipien ist], [...] wenn noch ein Streit über das, was Philosophie als Weisheitslehre sagt, erhoben wird«.25 Die theoretischen Missverständ­ nisse der praktischen Philosophie erwiesen sich jedoch als hartnäckiger, als Kant vermutet hatte. Der naive Optimismus, dass jede soziale Dynamik mit evolutionärer Notwendigkeit zivilisatorischen Fortschritt herbeiführt, dürfte als Zeit­ geist in Europa mit dem Ersten Weltkrieg überwunden gewesen sein. Ob die Modernisierungstheorie berechtigterweise von Fortschritt spricht, hängt davon ab, ob sie die normativen Gehalte expliziert, hinsichtlich der Fortschritte erzielt werden. Habermas hat in seinem berühmten Aufsatz »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« (1980) den normativen, richtungsweisenden Gehalt der Moderne deutlich als den der Aufklä­ rung benannt. Um Missverständnisse hinsichtlich anders gelagerter Debatten über die Modernisierung und das Wesen der Moderne zu vermeiden, halte ich es für sinnvoller, vom Prozess der Aufklärung und zivilisatorischem Fortschritt zu sprechen. Dass wir unsere Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unter diesen Gesichtspunkten betrachten müssen, in derselben Weise wie wir umgekehrt Ignoranz und Barbarei zu benennen haben, wo sie sich zeigen, lässt sich kaum bestreiten. Karl Jaspers sprach deshalb nach meinem philosophischen Dafürhalten im Zusammenhang mit der Achsenzeit nicht zu viel von Fortschritt, sondern eher zu wenig. Statt »Sprung« und »Durchbruch« wäre Aufklärung der treffendere Ausdruck gewesen.

4. Kritik der Achsenzeit-Theorie Die durch Jaspers etablierte ideengeschichtliche Signatur der Achsen­ zeit beinhaltet die zwei Aspekte der Geburt der Philosophie und des Durchbruchs zur Transzendenz. Die um das Jahr 1975 einsetzende und bis heute anhaltende historische Auseinandersetzung mit der Thematik erfolgte ausgehend vom zweiten Merkmal weitestgehend in religionsso­ ziologischen Kategorien. Auch Jürgen Habermas' Rekonstruktion der Herausbildung der religiösen Weltbilder der Achsenzeit steht in dieser Linie der Forschung. Habermas geht in seiner Genealogie der Achsenzeit 25 I. Kant, »Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie« [1796], AA 8:419.

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von der Hypothese aus, »dass ein längerfristig akkumuliertes Weltwis­ sen die Verarbeitungskapazität der überlieferten und rituell befestigten Denkweise überfordert.«26 »In den städtischen Zentren der frühen Hochkulturen hatte sich, wie schon an den hochkomplexen Verkehrsund Organisationsformen des Staates und der Wirtschaft, an den ent­ wickelten Technologien der Kriegsführung, der Landwirtschaft, der Wasserregulierung und der Schifffahrt sowie an den großartigen Tem­ pel-, Grab- und Palastarchitektur ablesen lässt, eine Masse an erfahrungs­ kontrolliertem Weltwissen angesammelt.« (298f ) Die Kollision dieses »Profanwissens [...] mit den überlieferten mythologischen Erklärungen« erzeugte einen »kognitiven Schub«, der auf dem Weg der Distanznahme, Objektivierung und Abstraktion schließlich die Entdämonisierung der Welt bewirkte (464–465). Neben der Anhäufung technischen Erfahrungswissens rechnet Habermas außerdem mit einem zweiten Lernprozess, der Voraussetzung der »achsenzeitlichen Transformation des Bewusstseins« war: Auch »das moralische Bewusstsein [habe sich] auf dem Wege einer kognitiven Verarbeitung von alltäglichen Konflikterfahrungen in den immer kom­ plexer werdenden Verhältnissen der frühen Hochkulturen eigenständig, also unabhängig von der religiösen Vorstellungswelt fortentwickelt.« (304) Habermas geht davon aus, dass »Moral und Sittlichkeit primär in Alltagserfahrungen wurzeln und als solche erst dank der Moralisierung des Heiligen in die achsenzeitlichen Weltbilder integriert worden sind« (305).27 Habermas fasst seine Rekonstruktion dann wie folgt zusammen: Alle achsenzeitlichen Weltbilder haben die Vielfalt der sakralen Mächte aus der Verflechtung mit dem innerweltlichen Geschehen herausgelöst und zu einer singulären, die Welt als solche konstituierenden göttlichen Macht sublimiert. Während dem magischen Denken die Grundlage ent­ zogen wurde, ist das moralische Alltagsbewusstsein an Vorstellungen einer rettenden Gerechtigkeit angeschlossen und auf diese Weise sakralisiert worden. (476)

Die beiden von Habermas herausgestellten Momente der Entdämonisie­ rung der Welt und der Moralisierung des Heiligen entsprechen weitestge­ hend Jaspers' Worten vom Ende des mythischen Zeitalters und der Ethi­ 26 J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1, 295. 27 J. Habermas stützt sich hierbei auf J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung (2003), 73. »Die Gerechtigkeit ist, ihrem Ursprung nach, etwas eher Profanes oder Säkula­ res. Religion und Ethik haben verschiedene Wurzeln [...]. Erst im Monotheismus verschmelzen sie zu einer untrennbaren Einheit.«

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sierung der Religion (18). Auch Assmanns Formeln der Entsakralisierung von Welt und Herrschaft einerseits und der Sakralisierung von Recht und Moral andererseits stimmen hiermit im Wesentlichen überein (288). Die beiden Aspekte werden im Folgenden der Reihe nach unter den Titeln (a) Entzauberung der Welt und (b) Moralisierung der Religion diskutiert.

a. Entzauberung der Welt Obwohl bereits Jaspers die Schwierigkeiten angedeutet hat, welche die Rede vom Ende des mythischen Zeitalters mit sich bringt, kontrastiert auch Habermas die entdämonisierte Welt mit dem Mythos. Wenigstens in ihrer literarischen Gestalt geht die Bedeutung der Mythen aber nicht notwendig verloren. Außerdem sind mythische Weltbilder hinsichtlich Immanenz und Transzendenz unentschieden. Schöpfungsmythen und himmlische Götterwelten geraten nicht notwendig mit Alltagswissen in Konflikt. Da zudem nicht nur Habermas, sondern auch Jaspers das achsenzeitliche Denken weiterhin der »magischen Religion« (26) gegen­ überstellt, drängt sich der Begriff der Entzauberung auf, deren Anfänge Max Weber in der »altjüdischen Prophetie« erkannt haben wollte.28 Habermas vermeidet den Begriff jedoch, da er glaubt, das magische Denken setze »eine mythisch ausgestaltete und narrativ verfügbare Welt höherer Gewalten schon voraus« (214). Die Entflechtung mythischer Deutungsmuster mit der Alltagswelt impliziere deshalb auch die Ent­ machtung der Magie. Es scheint mir allerdings keineswegs ausgemacht, dass die Magierinnen und Magier aller Weltteile zwecks Erzeugung ihrer spukhaften Fernwirkungen stets auf die kommunikative Koordination mit dem Vernehmen nach oft launischen Dämonen angewiesen sind. Mit anderen Worten, der begriffliche Mehrwert erschließt sich mir nicht. Ob nun von Magie, Opferritualen, Geisterglaube, Schamanismus oder Tierorakeln die Rede ist, die Entzauberung der Welt meint den Glaubwürdigkeitsverlust einer unordentlichen Fülle irrationaler religiö­ ser Überzeugungen sowie der auf diese gestützten Praktiken. Durch die Aufnahme des prominenten Begriffs der Entzauberung soll jedoch der Unterschied zu dem weitreichenderen Begriff der Säkula­ risierung nicht verwischt werden. Es sind auch keine Vorentscheidungen 28 M. Weber, »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« [1920], 93f. Vgl. H. Joas, der den Begriff der Entmagisierung vorschlägt. Die Macht des Heiligen (2019), 207.

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hinsichtlich Subjektivierung, Privatisierung oder gar Entkirchlichung der Religion beabsichtigt. Als Bezeichnung einer von dämonischen Mächten, mythischen Verstrickungen und magischen Ritualen befreiten Alltagswelt scheint mir der Begriff der Entzauberung nach wie vor zutref­ fend. Die Überlieferung lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Alltags­ welt der drei antiken Weisen Konfuzius, Sokrates und Buddha in dem oben bestimmten Sinn eine entzauberte war. Eine Ausnahme stellt ledig­ lich die auch im Diesseits wirksame Vergeltungslogik des Buddhismus dar. Die Liste der untersagten Praktiken lässt aber die den Aberglauben ablehnende Haltung auch des frühen Buddhismus überdeutlich werden. Es werden unter anderem Traumdeutung, Blutopfer, Exorzismus, Heil­ zauber, Geomantik, Tierorakel, politische Weissagung, Astrologie, Flü­ che, Bittgebete, Numerologie, Segnungen und Schutzzauber verworfen.29 In der akademischen Philosophie und – wie zu hoffen steht – auch in allen anderen an den Universitäten unserer Zeit vertretenen Wissenschaften ist eine entzauberte Alltagswelt eine weithin geteilte Grundannahme. Wir können deshalb gar nicht anders, als die historische Entstehung dieses Weltverständnisses als ein Ereignis der Aufklärung zu benennen. Damit soll aber weder der Beginn der Moderne in die Achsenzeit zurückverlegt noch ein kontinuierliches Fortschreiten der Weltgeschichte auf diesem Weg behauptet werden. Die Auszeichnung des historischen Auftritts einer Wahrheit bleibt Aufklärung auch dann, wenn zwischen diesem Ereignis und der Gegenwart keine Bildungskontinuität (Jaspers) besteht bzw. kein durchgängiges kulturelles Gedächtnis (Ass­ mann) vorliegt. Davon unberührt gilt, dass, wo immer sich Aufklärung historisch zeigt, das Licht der Geltung die Geschichte an diesem Punkt in zwei Hälften teilt: in ein Vorher und ein Nachher, bestimmt durch das Verhältnis des Fortschritts vom Schlechteren zum Besseren. Der Grund, weshalb es dies aus Sicht der praktischen Philosophie zu betonen gilt, ist, weil wir, wie Kant sagt, zwar wissen wollen »ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?«, uns aber gleichzeitig bewusst ist, dass »durch Erfahrung unmittel­ bar die Aufgabe [bzw. die Frage] des Fortschreitens nicht aufzulösen [ist].«30 Mit anderen Worten, gerade weil wir den Ausgang der Geschichte 29 »Predigt über die Früchte der Askese« (Sāmaññaphala-sutta) DN 2.4. Dazu Naka­ mura H. Genshi bukkyō no seikatsu rinri [Die Lebensmoral des ursprünglichen Buddhismus] (1995), 640–648. 30 I. Kant, Der Streit der Fakultäten [1798], AA 7:79, 83.

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aufgrund des ambivalenten Charakters der Menschheit nicht kennen, interessieren uns Beispiele, welche wenigstens die Möglichkeit des Fort­ schritts beweisen. Deshalb werden uns selbst »schwache Spuren«31 des Fortschritts sehr wichtig, wie Kant auch sagt. Es mögen nun auch noch so viel Zweifel gegen meine Hoffnungen aus der Geschichte gemacht werden [...]; so kann ich doch, so lange dieses nur nicht ganz gewiß gemacht werden kann, die Pflicht [...] gegen die Klugheitsregel, aufs Unthunliche [das Unmögliche] nicht hinzuarbeiten [...], nicht vertauschen; und so ungewiß ich immer sein und bleiben mag, ob für das menschliche Geschlecht das Bessere zu hoffen sei, so kann dieses doch nicht der Maxime, mithin auch nicht der nothwendigen Voraussetzung derselben in praktischer Absicht, daß es thunlich sei, Abbruch thun.32

Solange also die Unmöglichkeit des Fortschritts nicht bewiesen ist, und das würde bedeuten, dass der Untergang beschlossen ist, sind wir verpflichtet, die Besserung zu versuchen. Die Philosophie wird also, selbst wenn es nur »etwas Weniges« ist,33 den Blick auf Beispiele in der Geschichte lenken, die Mut machen. Und sollten die Beispiele eine Reihe bilden, dann wird die Philosophie diese in praktischer Absicht zu einem historischen Narrativ des zivilisatorischen Fortschritts oder des philosophischen Lernprozesses verknüpfen. Und dies nicht zuletzt, weil ein philosophischer Versuch, die Geschichte derart zu bearbeiten, dieser praktischen Absicht selbst förderlich ist.34 Wie Jaspers wusste, ist es aber nicht nur Sache der Philosophie, das Augenmerk auf das zu richten, was uns wichtig ist. Die historische Forschung schafft die Voraussetzungen an realer Einsicht, durch die und an deren Grenzen uns aufgehen kann, was der Forschung selbst nicht mehr zugänglich ist, woher sie aber geführt wird in der Wahl

31 I. Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« [1784], AA 8:27. 32 I. Kant, »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« [1793], AA 8:309. 33 Im Original gesperrt. I. Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger­ licher Absicht« [1784], AA 8:27. 34 Vgl. I. Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« [1784], »Neunter Satz: Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einen Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden« (im Original gesperrt, AA 8:29).

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ihrer Themen, ihrer Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesent­ lichem. (225)

Jaspers dachte hierbei vermutlich an Max Weber, der ihm das beste Beispiel war, dass Wertfreiheit und Objektivität in der Darstellung keineswegs Blindheit in der Wahl der Themen verlangt. Wertfreiheit heißt ihm [Max Weber] schließlich nicht, dass nicht die Wahl der Probleme, an deren Erforschung herangegangen wird auf Wertung beruhe; vielmehr ist die Wertentscheidung darüber, was mich angeht, Voraussetzung der echten Leidenschaft in der Forschung.35

Eben aus diesem Grund, weil jede heute ernstzunehmende Wissenschaft­ lerin und jeder heute ernstzunehmender Wissenschaftler nicht anders kann, als die Entzauberung der Wirklichkeit als zivilisatorische Errun­ genschaft zu würdigen, sollte man in diesem Zusammenhang nicht leichtfertig von einem Wissenschaftsmythos sprechen. Zweifellos müssen die Forschungsergebnisse Max Webers heute in vielerlei Hinsicht revi­ diert werden. Wie sollte es anders sein? Aber allein aufgrund der Tatsache, dass das Relevanzkriterium seiner Themenwahl die nicht ernsthaft zu bestreitende Geltung der entzauberten Weltsicht ist, sollte man Max Weber nicht unter Ideologieverdacht stellen. Enryō, der es sich in einer beispiellosen akademischen Initiative zur Aufgabe machte, den Aberglauben in seinem Land zu entkräften, wird heute von postkolonialen bzw. postmodernen Akademikern als »Kreuzritter der Aufklärung« und »Ideologe des Fortschritts« diskredi­ tiert. Enryōs Aktivität, die er im Jahr 1886 begann und in den folgenden Jahren unter dem Namen der »Studien des Mysteriösen« (yōkai-gaku) systematisierte, hatte nichts anderes als die Entzauberung der Welt als ihr primäres Ziel. Weit entfernt jedoch, die Mannigfaltigkeit des Volks­ glaubens einfach dem Vergessen anheimzugeben, legte er nicht nur den Grundstock für eine ethnologische Sammlung, sondern dokumentierte und literarisierte seine Literatur- und Feldforschungen auf mehr als 3500 Seiten. Zu dem Projekt der schrittweisen Reinigung der Religion vom Aberglauben war Enryō vermutlich zuerst durch die Lektüre von Herbert Spencer an der Tokyo Universität angeregt worden. Bemerkenswert ist jedoch, dass er denselben aufklärerischen Impuls noch zu Studienzeiten in den chinesischen Klassikern entdeckte und in seiner Abschlussarbeit von Xúnzǐ her begründete.36 Enryō zitiert unter anderem das Kapitel 35 K. Jaspers, »Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph« (1968), 459. 36 R. Schulzer, Inoue Enryō (2018), Kap. 19.

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21, dessen Titel »Entdeckung des Verborgenen« sinngemäß auch mit »Aufklärung« übersetzt werden kann: In dem Kapitel »Aufklärung« sagt Xúnzǐ: »Der Grund, weswegen äußere Dinge nicht klar gesehen werden, ist meist, dass Zweifel und Unruhe im Herzen sind. Solange das Denken unklar ist, kann man nicht urteilen. Menschen, die in der Dunkelheit laufen, sehen einen länglichen Fels und halten ihn für einen lauernden Tiger. Sie sehen ein Gebüsch und glauben, sie werden verfolgt. Die Dunkelheit trübt die Klarheit [ihres Urteils].« Xúnzǐ sagt weiter: »Menschen, die an Geister glauben, kamen zu diesen Ansichten meist während schauriger Momente in einem aufgewühlten Zustand.« Xúnzǐ sagt, dass die Menschen an Geister und Dämonen glauben, nicht weil diese existierten, sondern weil ihre Herzen in Unruhe und ihr Blick nicht klar war. Konfuzius sprach nicht über Erscheinungen, Wundertaten, Chaos und Geister. Indem Xúnzǐ diese Dinge anspricht, scheint er sich in einen Gegensatz zu Konfuzius' Absichten zu setzen. Allerdings war der Grund, weshalb Konfuzius diese Themen mied, die Befürchtung die Irrungen der Menschen zu vermehren. Xúnzǐ wollte durch seine Erklärungen die Irrungen der Menschen auflösen. Beide stimmen also in der Absicht, die Irrungen zu mindern, überein. Ich denke allerdings, dass es bei Weitem besser ist, mysteriöse Vorkommnisse mit Gründen aufzuklären, als kein Wort darüber zu verlieren.37

Xúnzǐ dient mir als Beleg, nun meinen Einspruch gegen Jaspers und Habermas geltend zu machen: Beide weiten Max Webers These der durch die alttestamentarischen Propheten initiierten Entzauberung der Welt als Modell auf die gesamte Achsenzeit aus. Dass eine Zurückweisung der Magie mit der konsequenten Ausbildung des Monotheismus einherging, ist vollständig plausibel. Jaspers spricht auch vom »Kampf um die Trans­ zendenz des Einen Gottes gegen die Dämonen« (18). Es handelt sich hierbei aber weniger um einen Push-Effekt, der das Sakrale aufgrund der Irrationalität des Aberglaubens aus der gegenständlichen Welt verbannte. Sondern um einen Pull-Effekt, der das Heilige dem wahrnehmbaren Bereich entzieht, um es in der einzigen Gottheit zu konzentrieren. Gegen die Sonderstellung des Monotheismus argumentierend, wendet Haber­ mas dieses am Prototyp des Monotheismus entwickelte Modell auf alle achsenzeitlichen Weltbilder an, welche »die Vielfalt der sakralen Mächte aus der Verflechtung mit dem innerweltlichen Geschehen herausgelöst und zu einer singulären, die Welt als solche konstituierenden göttlichen Macht sublimiert« hätten. Das Modell suggeriert, dass die aus der Alltags­ 37 Inoue E. »Doku Junshi« [Xúnzǐ lesen] [1884], 736.

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welt vertriebenen, heimatlos schwadronierenden Schauer des Sakralen schließlich zu transzendenten Ideen des Göttlichen kondensierten. Die Notwendigkeit eines solchen religionspsychologischen Mecha­ nismus überzeugt mich nicht. Gerade Habermas' einleuchtende These, dass es den Hochkulturen endogene Lernprozesse und die Akkumulation von Erfahrungswissen waren, welche immanente Vorstellungen des Sakralen in Bedrängnis brachten, lässt es meiner Vorstellungskraft nach genauso möglich erscheinen, dass die der entzauberten Wirklichkeit entfleuchten religiösen Energien im offenen Himmel verpufften. Zumin­ dest lässt sich dies unter Verweis auf Xúnzǐ für den achsenzeitlichen Konfuzianismus behaupten. Xúnzǐs Auffassung des Himmels (tiān) ist naturalistisch. Er wendete sich explizit gegen die Vorstellung des Him­ mels als Schicksalsmacht. Wohl und Weh der Menschen hängen allein davon ab, ob sie den rechten Weg (dào) einschlagen. Der Weg aber ist der des Menschen. Die Ordnung des Himmels sind die Jahreszeiten, das Klima und die Bewegungen der Himmelskörper.38

b. Moralisierung der Religion Wenigstens das konfuzianische Beispiel zeigt, dass eine entzauberte Welt nicht notwendig durch anderweitige religiöse Surrogate kompen­ siert werden musste. Dass aber in den drei hier in Frage stehenden Kulturkreisen Ideen des Göttlichen, der Alleinheit, des Seins oder der Weltseele die Gemüter bewegten, soll natürlich nicht bezweifelt werden. Für den Humanismus ist jedoch die entscheidende Frage, in welcher systematischen Relation Metaphysik und Religion zur Moral stehen. Die »Konjunktion von Monotheismus und Metaphysik«, die nach Ansicht von Jan Assmann den von jeher wenig überzeugenden »Glutkern« des Achsenzeit-Konzepts bildete, ist hier in der Tat nicht das Entscheidende (289). Der Humanismus sucht eine Begründung der Ethik ohne Bezüge zur Transzendenz oder Metaphysik. Und es ist genau die These dieses Buches, dass nicht nur in Griechenland, sondern auch in Indien und China während der Achsenzeit Denkansätze existierten, die sich nicht in das Schema der Moralisierung des Sakralen bzw. der Sakralisierung der Moral fügen. Erneut scheint mir Habermas' Annahme der dem achsenzeitlichen Denken vorausgehenden sozialen Lernprozesse eher gegen die Verall­ 38 Xúnzǐ, Kap. 17. Übers. von H. Köster (1967), 214–222.

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gemeinerbarkeit des Schemas zu sprechen. Sollte sich die Sittlichkeit tatsächlich zuerst im Zuge lebensweltlicher Lernprozesse eigenständig ausgebildet haben, scheint eine nachträgliche Symbiose mit religiösen Heilserwartungen durchaus kontingent. Jedenfalls ist klar, dass sich Sokrates und Konfuzius hierfür nicht als Beispiele anführen lassen. Sokrates einen Gottesleugner zu nennen, hieße seinen Anklägern recht zu geben. Aber welche Religion sollte seine Tugendlehre moralisiert haben? Dass der Konfuzianismus auf den Sitten und Gebräuchen der älteren Zeit baut, ist Teil seines Selbstverständnisses. Zwar sollte man auch Konfuzius eine Vorfahren und Himmel entgegengebrachte Pietät nicht absprechen. Dennoch haben weder der Himmel noch die Ahnen im achsenzeitlichen Konfuzianismus eine Bedeutung, die den grundsätzlich humanistischen Charakter der konfuzianischen Schule in Frage stellen würde. In der Umdeutung der Riten zu Zeremoniell und Etikette ist im Gegenteil eine Tendenz zur weiteren Säkularisierung zu verzeichnen. Die Frage einer Moralisierung der Religion lässt sich eigentlich nur anhand des Buddhismus sinnvoll diskutieren. Ähnlich wie im Fall der Entzauberung der Welt ist aber auch hier der im Hintergrund stehende paradigmatische Fall des Monotheismus irreführend. Im Monotheismus ist die Ethik im denkbar stärksten Sinn durch Gott fundiert. Im Zuge der Rationalisierung, d.h. in der gedanklichen Konsequenz des Mono­ theismus wurde dem Willen des als Gesetzgeber und Richter verehrten einzigen Gott alles zugeschrieben, was als gut und richtig galt. Auf diese Weise hat auch altorientalische und altägyptische Weisheit Eingang in das Alte Testament gefunden.39 Obwohl der Buddhismus zweifelsfrei eine zutiefst moralische Reli­ gion ist, weist die Stellung der Ethik im Buddhismus doch gravierende Unterschiede zu den monotheistischen Religionen auf. Ob sich im Fall des Buddhismus von einer Moralisierung der Religion sprechen lässt, hängt davon ab, ob man annimmt, die vorbuddhistische Seelenwande­ rungslehre wäre ethisch neutral gewesen. In diesem Fall hätte Buddha die Reinkarnationsvorstellung durch seine Karmalehre sekundär moral­ isiert. Nimmt man jedoch an, dass die Vergeltungsidee bereits integraler Bestandteil des von Buddha vorgefundenen religiösen Weltbildes war, dann käme Buddha die Rolle zu, die nur implizite Vergeltungsgerechtig­ keit philosophisch ausbuchstabiert zu haben. Wie im zwiten Teil im Abschnitt über »Vergeltung und Wiedergeburt« (S. 68–69) auseinander­ 39 J. Assmann, Kulturelles Gedächtnis (1992), 298.

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gesetzt, halte ich letzteres mit Hans Kelsen und Johannes Bronkhorst für plausibler. Das Vergeltungsdogma hat zwar für die buddhistische Ethik eine stützende bzw. motivationale Funktion, die vergleichbar ist mit der­ jenigen der Strafjustiz für die Alltagsmoral. Es muss aber zwischen Vergeltungsgerechtigkeit nach der Tat und Handlungsnormen vor der Tat unterschieden werden. Die normativen Inhalte der buddhistischen Ethik konstituieren sich weder aufgrund einer heiligen Dogmatik noch durch Bezug zum Göttlichen. Buddha mag in metaphysischer Absicht tatsächlich Atheist gewesen sein. Und da Moralität die unabdingbare Voraussetzung des von Buddha gelehrten Erlösungsweges ist, kann auch das Erwachen nicht die Funktion haben, ethische Normen überhaupt erst zu offenbaren. Es sollen keineswegs alle bisherigen Theorien der achsenzeitlichen Weltbilder entwertet werden. Mein Anliegen ist nur zu zeigen, dass die Ursprünge des Humanismus eine ebenso berechtigte, aber bisher ten­ denziell vernachlässigte Fragestellung der Achsenzeitforschung waren.40 Zwar hatte Jaspers' religionsphilosophisches Pathos zweifellos großen Anteil an der Fixierung der Achsenzeitforschung auf den Topos der Transzendenz. Mit nur wenigen Zitaten lässt sich jedoch zeigen, dass Jaspers auch anders hätte gelesen werden können: Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. [...] Indem er mit Bewußtsein seine Grenzen erfaßt, steckt er sich die höchsten Ziele. [...] Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen. (18–19)

Ausgehend von Jaspers hätten mit gleichem Recht nicht nur der Durch­ bruch zur Transzendenz und die Geburt der Weltreligionen, sondern auch die humanistischen Topoi der Selbsterkenntnis und Selbstbestim­ mung erforscht werden können. Dass Jaspers mit seiner Charakteristik der Achsenzeit mindestens genauso sehr das Fragen wie das Antworten, die Grenzen wie die Transzendenz im Sinn hatte, zeigt sich auch darin, dass ihm seinerseits fern lag, die Humanität durch Rekurs auf die Transzendenz zu begründen. Sein existenzieller Ausgangspunkt lässt ihn

40 Eine großartige Ausnahme ist das Buch von H. Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit (1992).

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erst nach Durchgang der Themen der Freiheit und der Politik auf den Glauben zu sprechen kommen.41 Andererseits hat Jaspers' Widerstand gegen das aus seiner Sicht szientistische Missverständnis der Philosophie zu dem bereits angespro­ chenen Verweis des Fortschritts aus der Philosophie geführt. Jaspers erblickte im Philosophieren vor allem die Auseinandersetzung mit exis­ tentiellen Grundfragen. Das Gespräch mit den Alten ist die hermeneuti­ sche Bewegung, welche Philosophierende zu gedanklicher Tiefe führt und ihnen die Mittel der Kommunikation erwachsen lässt. An Begriffs­ bildung in der Ethik oder Differenzierung metaphysischer Probleme war Jaspers nicht gelegen. Echte Philosophie zeigt sich immer als Original, als Singularität, wohingegen es kontinuierliche Akkumulation nur in Wissenschaft und Technik gäbe. Jaspers wird in diesem Punkt Kant noch in einer ganz anderen Hin­ sicht nicht gerecht. Zwar mag man argumentieren, dass ein Durchbruch oder eine Wende als einmaliges Ereignis keinen Fortschritt darstellt, weil philosophischer Fortschritt sich erst durch eine Verbesserung über mindestens zwei Zeitpunkte in Form eines Lernprozesses konstituiert. Jaspers hätte aber einräumen müssen, bzw. hat es an anderer Stelle selbst eingeräumt, dass niemand anderes als Kant selbst der schlagende Beweis für solchen Fortschritt in der Philosophie ist. »Kant hat durch sein Werk einen Schritt im Philosophieren getan, der weltgeschichtliche Bedeutung hat.«42 Durch Kant ist der einzige neuzeitliche Philosoph in die Reihe der antiken Weisen aufgenommen, von dem sich sagen lässt, dass er als Ersatz sowohl des platonischem als auch des aristotelischen Paradigmas dienen kann. Dies ist zwar aus der westlichen Tradition heraus gesprochen. Aber die Tatsache, dass Kant diese Auszeichnung in Japan erfahren hat, mag es rechtfertigen, Kant selbst als »Geschichtszeichen« zu deuten, welches »auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge« hindeutet. »Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat«.43 Nicht zuletzt die Inklusion Kants macht Inoue Enryōs Vier Weise zu mehr als nur einem dankbaren Sujet für ein Buch. 41 In K. Jaspers' Aufsatz »Über die Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus« (1949) ist der Befund nicht so eindeutig. Der Text legt nahe, dass Jaspers Freiheit ohne Gottesbezug für missverstandene Unabhängigkeit hielt. 42 K. Jaspers, »Immanuel Kant: Zu seinem 150. Todestag« (1954), 249. 43 I. Kant, Der Streit der Fakultäten [1798], AA 7: 84, 88.

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5. Historizität der Achsenzeit Die Achsenzeit hat mit Metaphysik, Monotheismus, Buddhismus, Logik, Humanismus, politischer Theorie und Geschichtsbewusstsein ein rei­ ches ideengeschichtlichen Erbe hinterlassen, das sich m. E. einfachen Modellen der Transformation des Bewusstseins entzieht. Im Sinne der noch in ihren Anfängen steckenden vergleichenden Philosophie ist es probater, die irreduzible Fülle und das nicht ausgelotete gedankliche Potential der Achsenzeit zu betonen. Der in der westlichen Forschung wenig berücksichtigte japanische Ideenhistoriker Nakamura Hajime fasst das Erbe der Achsenzeit unter dem Titel »Götterdämmerung« wie folgt zusammen: Die Kreativität und Bedeutung der Denker, deren Werke in diesem Kapitel diskutiert wurden, kann gar nicht überschätzt werden. Die Geschichte ihrer Wirkung auf unsere gegenwärtigen Lebens- und Denkweisen ist noch nicht erzählt. Ihre Spekulationen legten den Grundstein, auf welchen die großen Religionen gebaut wurden. Und nicht zuletzt können die meisten modernen Strömungen analytischen und existentiellen Denkens sowie meditativer und kontemplativer Schulen zumindest die Anfänge ihres jeweiligen Denkens bis zu jenen [Denkern] zurückverfolgen.44

Wenn sich aber die Achsenzeit aufgrund ihrer Vielfältigkeit als geistesge­ schichtliche Epoche nicht spezifizieren lässt, stellt sich die geschichtswis­ senschaftliche Frage dringlicher, ob der Epochenbegriff hier tatsächlich anwendbar ist oder es sich nicht vielmehr um inhaltlich gänzlich dispa­ rate und in ihrer Gleichzeitigkeit zufällige Phänomene handelt. Obwohl Jan Assmann der von Jaspers aufgeworfenen Frage zugesteht, von »unendlichem Reichtum an Aufschlüssen und Anregungen« gewesen zu sein, ist er hinsichtlich des Epochencharakters der Achsenzeit skeptisch. Er bestreitet den »Tatbestand« (213), der es erlauben würde, von einem »Zeitalter« zu sprechen, und schlägt vor, »den inzwischen verfeinerten Katalog von Kriterien« des Achsenzeitlichen anhand anderer Zeiten und Kulturen zu prüfen. Die »Theorie der Achsenzeit« könne so in eine »kulturanalytische Heuristik« verwandelt werden, die Assmanns Vermu­ tung zufolge ergeben würde, dass »es weder vollständig ›axiale‹ Kulturen [gibt] noch Kulturen, die bei den Kriterien eine vollständige Fehlanzeige bieten« (283–285). Diese von Jan Assmann angeregte Forschungsrich­ 44 Nakamura H. Parallel Developments: A Comparative History of Ideas (1975), 185. Das Buch beruht auf englischen Manuskripten (xi-xiii).

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tung, die Kriterien des Axialen anhand von Kulturen und Zeitspannen zu überprüfen, die bisher außerhalb des Untersuchungsradius lagen, ist genau der Weg, den die Forschung unterdessen eingeschlagen hat. Auch die Schlussfolgerungen der involvierten Wissenschaftler bestätigen Assmanns Vermutungen.45 Allerdings zeigt sich in diesen Untersuchungen jene Verschiebung der Fragestellung, die bereits mit der durch Shmuel N. Eisenstadt initiier­ ten Forschung eingesetzt hatte. Neben der Frage nach dem Charakter des achsenzeitlichen Denkens wurde zunehmend die Institutionalisierung der neuen Ideen in den Blick genommen.46 Je nachdem, ob sich die Herausbildung universeller Religionen, die Entsakralisierung der Herr­ schaft oder die Kodifizierung universeller moralischer Prinzipien in den jeweiligen Zivilisationen als dauerhafte Merkmale aufweisen lassen, spricht man heute von axialen Kulturen. Dieser Forschungszweig hat nicht nur unseren Begriff von Zivilisation geschärft, sondern trägt in vergleichender Perspektive weiterhin viel zu unserem Verständnis der antiken Kulturen Eurasiens bei.47 Dennoch führt die Frage nach den zivilisatorischen Konsequenzen der Achsenzeit vom primären Interesse der Philosophie insofern weg, als das achsenzeitliche Denken mehr beinhaltet als die unmittelbar wirksam gewordenen Ideen. Hinsichtlich der Frage, ob es philosophiegeschichtlich sinnvoll ist, von der Achsenzeit als einer Epoche zu sprechen, sind weniger die Nachwirkungen als vielmehr die historischen Entstehungsbedingungen ausschlaggebend, wie ich argumentieren möchte. Bevor sich der Autor nun endgültig auf fachfremdes, nämlich geschichtswissenschaftliches Terrain begibt, sei eine methodologische Vorbemerkung eingeschoben: Beim Vergleich zweier oder mehrerer kultureller Formationen sind die feststellbaren Unterschiede notwendig unendlich viele. Die Übereinstimmungen, sofern sie überhaupt als echte Übereinstimmungen gelten gelassen werden, dagegen stets sehr wenige. Die Bildung eines historischen oder kulturwissenschaftlichen Begriffs ist demnach jederzeit leicht durch Verweise auf die offenkundig zahllosen 45 D. A. Mullins et al. »A Systematic Assessment of ›Axial Age‹ Proposals Using Global Comparative Historical Evidence« (2018). D. Hoyer und J. Reddish (Hrsg.), Seshat History of the Axial Age (2019). 46 S. N. Eisenstadt, »Allgemeine Einleitung: Die Bedingungen für die Entstehung und Institutionalisierung der Kulturen der Achsenzeit« in Kulturen der Achsenzeit I.1 (1987). 47 J. P. Arnason et al. (Hrsg.), Axial Civilizations and World History (2005). R. N. Bellah und H. Joas (Hrsg.), The Axial Age and Its Consequences (2012).

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Unterschiede zu dekonstruieren. Eine Vielfalt letztlich individueller historischer Phänomene auf einen einheitlichen Begriff zu bringen, ist deshalb prinzipiell nur im Sinn einer Annäherung bzw. eines Provisori­ ums möglich. Zweifellos ist die Auffassung berechtigt, dass Differenzierung und Wissenszuwachs der Weg der historischen Forschung ist. Wenn aller­ dings der zunehmende Detailreichtum dazu führt, dass sich diejenigen Begriffe, die Vergleiche erst ermöglichen, auflösen und Makro-Perspek­ tiven aufgrund der unendlichen Inkommensurabilität der Einzelheiten unmöglich werden, dann ist es angebracht, mit Jaspers darauf hinzuwei­ sen, dass erst die Denkbewegung auf Einheit hin es ermöglicht, uns in der Geschichte zu orientieren. Eine ungeordnete Masse an Einzelin­ formationen stellt keine historische Erkenntnis dar. Erst die Bildung kultur- und geschichtswissenschaftlicher Begriffe erlaubt ein sinnvolles Sprechen über die Historie. Wir sind deshalb, wie Jaspers unnachahmlich formuliert, in praktischer Absicht an historischer Begriffsbildung interes­ siert: [W]enn uns nicht die Geschichte zerfallen soll in die Zerstreutheit des Zufälligen, in das Kommen und Gehen ohne Richtung, in die Weglosigkeit vieler Scheinwege, so ist die Idee der Einheit der Geschichte unumgäng­ lich. Es ist nur die Frage, wie sie ergriffen wird. [...] Jede Entwicklungslinie, jede typische Gestalt, alle Tatbestände von Einheiten sind Vereinfachun­ gen innerhalb der Geschichte, die falsch werden, wenn sie die Geschichte in ihrer Totalität durchschauen wollen. [...] In der Alternative zwischen zerstreuter Vereinzelung und wesentlicher Zentrierung wird keines von beiden Extremen akzeptiert, aber eine sachgemäße konstruktive Ordnung der Gesamtgeschichte gesucht. (239–240)

Im Hintergrund dieser Ausführungen Jaspers' steht erneut die kantische Ideenlehre, in deren Terminologie sich die methodische Problemstellung wie folgt präzisieren lässt: Jaspers hatte gesehen, dass die regulative Idee der Einheit und Systematik des Wissens nicht nur die Forschungsrich­ tungen in den Naturwissenschaften vorgibt, sondern auch in der geistes­ wissenschaftlichen Begriffsbildung zum Tragen kommt. Begriffe sind »heuristische Fiktionen«, deren empirische Tragfähigkeit anhand der gegebenen Sachverhalte, den »Probiersteinen der Wahrheit«, überprüft werden müssen. Umgekehrt werden historische Tatsachen auf ideelle

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Einheiten »projektiert«, um Historie greifbar zu machen.48 »Unendliche Mannigfaltigkeit der Forschung und Idee der Einheit stehen in Spannung und treiben vom einen in das andere«, (87) schreibt Jaspers. Man erkennt, wie in Kants Ideenlehre auch der hermeneutische Zirkel bereits angelegt ist, innerhalb dessen Bewegung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen sich geisteswissenschaftliche Begriffsbildung vollzieht. Das Problem, ob die Rede von der Achsenzeit als eines Zeitalters sinnvoll ist oder nicht, ist deshalb keine einfache Frage nach der Gege­ benheit eines Tatbestandes. Je nach Wille zur Differenziertheit oder Bereitschaft zur Verallgemeinerung wird man zu unterschiedlichen Posi­ tionen gelangen. Es mag also sein, dass der auf Orientierung angelegte Gesichtspunkt eines Philosophen aufgrund seines niedrigen bzw. groben Auflösungsgrads dem einen Historiker oder der anderen Historikerin Bauchschmerzen bereitet. Dennoch scheinen mir gewisse historische Gegebenheiten als Entstehungsbedingungen der eurasischen Achsenzeit benennbar zu sein. Ausgehend von Jaspers' Beobachtung, dass politische Uneinigkeit und urbane Vielfalt zu den sozialen Bedingungen des ideengeschichtli­ chen Phänomens der Achsenzeit gehörten (20), hat Shmuel N. Eisenstadt den Blick auf neue städtische Bildungseliten, die als Vordenker und Exponenten der neuen Weltbilder wirkten, gelenkt. Wie Eisenstadt aber selbst festgestellt hat, sind die historischen Bedingungen, unter denen solche gelehrten Kreise entstehen, nicht systematisch in den Blick genommen worden.49 Der enge Zusammenhang mit Verstädterung wird in der Forschung zwar weitestgehend vorausgesetzt, vergleichende Untersuchungen zu Bevölkerungszunahme, wirtschaftlicher Dynamik, Urbanisierung, Technologisierung und sozialer Diversifizierung in den achsenzeitlichen Brennpunkten sind aber bisher spärlich.50 Im Folgen­ den sollen einige Eckpunkte genannten werden, welche die achsenzeit­ 48 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/87], A 647 / B 675. Bei Jaspers steht »heuristische Funktion«. »Kants Ideenlehre« (1919), 413. Vermutlich ein Druckfehler, der im Wiederabdruck 1968 in Aneignung und Polemik (134) reproduziert wurde. 49 S. N. Eisenstadt, »The Axial Conundrum between Transcendental Visions and Vicissitudes of Their Institutionalizations« (2012), 285. 50 N. Baumard et al. »Increased Affluence Explains the Emergence of Ascetic Wisdoms and Moralizing Religions« (2015). Lesenswert S. Breuer, »Kulturen der Achsenzeit. Leistung und Grenzen eines geschichtsphilosophischen Konzepts« (1994). J. P. Arnason verweist in »The Axial Age and its Interpreters: Reopening a Debate« (2005), 31 auf M. Liverani, Antico Oriente (1988). Mit seiner Rede vom »Axial Iron Age« steht auch B. Lerro, From Earth Spirits to Sky Gods (2000) dem Folgenden inhaltlich nahe, obwohl das Buch methodisch nicht überzeugt. Auch R.

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lichen Zentren in den weiteren historischen Zusammenhang des fortge­ schrittenen Eisenzeitalters stellen. Gewisse Parallelen der zivilisatorischen Entwicklung in Indien und China während des letzten Jahrtausends vor Chr. sind m. E. schwer von der Hand zu weisen: Dem Eisenzeitalter in Indien und China voraus ging um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Chr. die Ankunft des Pferdes, des Streitwagens und des Speichenrads; im Fall Chinas durch Kulturkontakt mit zentralasiatischen Nomadenvölkern. In Indien wird der Umstand mit den Einwanderungswellen der sich selbst als Arier bezeichnenden Sprecher indoeuropäischer Sprachen assoziiert.51 Vom Eisenzeitalter spricht man in der Archäologie, sobald in einer Kultur Eisen (oft meteoritischen Ursprungs) nicht mehr als Edelmetall angesehen, sondern weithin verfügbar als elementarer Rohstoff für Werkzeuge und Waffen nutzbar gemacht wird.52 Obwohl China aufgrund seiner blühenden bronzezeitlichen Kultur metallurgisch zweifellos einen Vorsprung hatte, scheint die Gusseisenherstellung in Nordindien und China jeweils um 700 bis 600 vor Chr. in Gebrauch gekommen zu sein.53 Von da an nahm die Verbreitung eiserner Gerätschaften (in Handwerk, Landwirtschaft, Viehhaltung) sowie Waffen in beiden Zivilisationen stetig zu. Während Chinas Epoche der Streitenden Reiche (ca. 500 bis 221) ist archäologisch bereits eine Produktion von Eisenwerkzeugen im proto-industriellen Ausmaß konstatiert worden. Spätestens im 2 Jh. vor Chr. war in China und in Indien auch die komplexere Technologie der Schmiedeeisenherstellung bekannt.54 In Wechselwirkung mit Bevölkerungszuwachs, Städtegründungen und fortschreitender Urbanisierung bewirkte die Verbesserung der land­ wirtschaftlichen Gerätschaften (Pflug, Hacken, Zugtiergeschirr, etc.) in

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N. Bellah berücksichtigt stellenweise technologische und ökonomische Perspekti­ ven in Religion in Human Evolution (2011), 269f (Anm. 10), 424, 427, 528. N. Di Cosmo, Ancient China and Its Enemies (2002), 29. I. Habib et al. The Vedic Age 2019, 3–4. In der Pferdezucht und Reitkunst sah ja bereits Alfred Weber einen Grund für die Gleichzeitigkeit eurasischer Entwicklungen. Siehe J. Assmann, Achsenzeit (2018), 155–161. J. C. Waldbaum, »The First Archaeological Appearance of Iron and the Transition to the Iron Age« (1980), 82. K. M. Shrimali, The Age of Iron and the Religious Revolutions (2018), 3. L. von Falkenhausen, Chinese Society in the Age of Confucius (2006), 227. J. Needham, »The Evolution of Iron and Steel Technology in East and Southeast Asia« (2018), 518. K. M. Shrimali, The Age of Iron and the Religious Revolutions (2018), 3.

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beiden Kulturkreisen Produktionssteigerungen.55 Eine weitere Schlüssel­ innovation fand seit ca. 600 vor Chr. ebenfalls relativ gleichzeitig in Indien und China Verbreitung: der Umlauf von Münzgeld.56 Zwischen den urbanen Zentren nahm der auf befestigten Fernstraßen und Binnen­ schifffahrtswegen unabhängig von staatlicher Lenkung betriebene Han­ del mit Nahrungsmitteln, Stoffen, Keramik und Luxusgütern (z.B. Seide in China und Parfums in Indien) zu.57 Spätestens seit der Eroberung des linksseitigen Industals durch das Achämenidenreich um 535 verband die nordöstliche Gangesebene Handelswege nicht nur mit Persien,58 sondern (wie schon zu Zeiten der Indus-Zivilisation) auch über das Meer mit Mesopotamien und Ägypten.59 Bis zur militärischen Einigung Chinas im Jahr 221 durch den Ersten Kaiser Qín sowie Indiens durch den ersten Maurya Herrscher Chandragupta (reg. ca. 321–297) konsoli­ dierten sich in beiden Weltgegenden Steuer erhebende Flächenstaaten bzw. Königtümer, die militärisch um die Vorherrschaft stritten. Während der Einigungskriege gaben neben gewaltigen Infanterien und durch Eisentechnologie verbesserte Waffen nun tausende oder zehntausende Reiter zählende Kavallerien den Ausschlag.60

55 K. M. Shrimali, The Age of Iron and the Religious Revolutions (2018), 18–20. L. v. Falkenhausen, Chinese Society in the Age of Confucius (2006), 405–410. Hsu C. Ancient China in Transition, 722–222 B.C. (1965), 130–139. 56 Hsu C., »The Spring and Autumn Period« (1999), 580–582. L. v. Falkenhausen, Chinese Society in the Age of Confucius (2006), 414f. K. M. Shrimali, The Age of Iron and the Religious Revolutions (2018), 28–31. 57 L. v. Falkenhausen, Chinese Society in the Age of Confucius (2006), 9, 411. Hsu C. »The Spring and Autumn Period« (1999), 580. Hsu C. Ancient China in Transition, 722–222 B.C. (1965), 119. 58 Das in den historischen Zusammenhang der Achsenzeit gehörende Achämeniden­ reich (6–3 Jh.) war das erste auf Stahl gegründete Großreich der Antike (V. C. Pigott, »Āhan (iron)« (2011) in Encyclopaedia Iranica, online). Die Achämeniden konnten hierbei nicht nur von dem metallurgischen Wissen des vorausgegange­ nen neuassyrischen Reiches (911–610) profitieren, sondern übernahmen auch die aramäische Schriftsprache als Medium für Regierung, Verwaltung und Verkehr ihres multi-ethnischen Großreiches. Zu intellektueller Kreativität im Umkreis der aramäischen Schreiber oder zu einer kanonischen Verschriftlichung zoroastrischer Ideen kam es aber in einer die Zeit überdauernden Form offenbar nicht (R. Schmitt, »Achaemid Dynasty« (2011) in Encyclopaedia Iranica, online). Zur Bedeutung der Schriftkultur für die achsenzeitliche Ideenkonjunktur siehe unten das Kapitel »Bil­ dungshumnismus«. 59 K. M. Shrimali, The Age of Iron and the Religious Revolutions (2018), 23–28. 60 M. E. Lewis »Warring States Political History« (1999), 622–624. K. M. Shrimali, The Age of Iron and the Religious Revolutions (2018), 92.

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Im Mittelmehrraum breitete sich die Eisentechnologie seit ca. 1050 vor Chr. ausgehend von Zypern in den folgenden zwei Jahrhunderten in der Levante und in der griechischen Welt aus.61 Das phönizische Alphabet wurde seit dem 8 Jh. zuerst in Griechenland und dann in Italien adaptiert. Hinsichtlich der tiefgreifenden politischen und sozialen Transformationen im Mittelmeerraum während der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends vor Chr. war der durch den neuen Rohstoff Eisen angestoßene Wandel des Handelssystems genauso von Bedeutung wie die technologischen Innovationen selbst. Die internationalen Handels­ netzwerke der späten Bronzezeit, deren Knotenpunkte die Paläste der Königtümer und Großreiche waren, wurden durch eine Handelsökono­ mie abgelöst, die sich neben der politischen Sphäre zunehmend als eigenständiges System generierte. Zwischen den die gesamte Mittelmeer­ küste säumenden phönizischen und griechischen Kolonien, indigenen Hafenstädten und blühenden Stadtstaaten entfaltete sich ein maritimer Wirtschaftsraum, dessen Handelsvolumen in Metallen, Glas, Sklaven, Wein, Öl und Getreide bis zur Mitte des Jahrtausends kontinuierlich anwuchs. Die gestiegenen Werte, die seit etwa 600 vor Chr. neben gewo­ genem Edelmetall auch mit Münzgeld verrechnet wurden, verlangten nicht zuletzt aufgrund der Expansion des neuassyrischen Reiches militär­ ische Absicherung, die ihrerseits neuen Bedarf schuf.62 Die Gemengelage aus Schriftgebrauch, Münzgeld, Handel und Bevölkerungswachstum ermöglichte während des 7 Jh. vor Chr. die rasante Expansion der Poleis und Kolonien, deren städtebaulichen Strukturen bereits die soziale und politische Realität des klassischen Griechenlands spiegelten.63 Wenigstens katalysatorisch sollte die Eisentechnologie auf die fort­ schreitende Urbanisierung und die Herausbildung neuer arbeitsteiliger Gesellschaftsformen im Mittelmeerraum, Indien und China gewirkt haben. In allen drei Weltteilen traten weitestgehend autonom agierende und durch überregionalen Handel teils großen Reichtum generierende Händler auf. Nicht nur das Schmiedehandwerk, dessen technologische Innovationen sichtbar den Weltlauf beeinflusst hatte, diversifizierte sich in Produzenten vielfältiger Gerätschaften. Ähnliche Differenzierungs­ prozesse können auch für andere Handwerksberufe (z.B. Steinmetze, 61 A. M. Snodgras, »Iron and Early Metallurgy in the Mediterranean« (1980), 335–374. 62 Vorstehendes basiert auf S. and A. Sherratt, »The growth of the Mediterranean economy in the early first millennium BC« (1993). Vgl. auch S. C. Bakhuizen, »Greek Steel« (1977). 63 A. R. Knodell, Societies in Transition in Early Greece (2021), 232–236.

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Textilhandwerker, Keramiker, Stellmacher) angenommen werden.64 Fer­ ner dürfte die Anwesenheit fremdländischer Händler sowie Söldner, Sklaven und Lohnarbeiter, Prostituierte und Dienstleister aller Art das dynamische, urbane Milieu geprägt haben. Vor diesem Hintergrund scheint eine Art intellektuelle Fermentation und die Herausbildung neuer Bildungseliten in den komplexer werdenden sozialen Ökosystemen, wie es der Ansatz von Shmuel Eisenstadt verfolgte, durchaus plausibel. Dass diese in Griechenland in Gestalt von Politikern und Lehrern (Sophisten, Philosophen), in China in der Rolle von Staatsräten und Schriftgelehrten und in Indien als Asketen und Prediger auftraten, ist unter diesen allgemeinen ökonomischen Voraussetzungen jedoch kontingent. Im Fall Griechenlands war die Innovation des Alphabets zweifellos von unschätzbarer Bedeutung für die Entstehung des wissenschaftlichen Denkens und der Philosophie. Der Fall Indiens zeigt jedoch, dass Schriftgebrauch keine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung abstrakten Denkens und intellektueller Reflexion war. Andererseits mag die in Gestalt des Münzgeldes greifbar gewordene Mathematik dem rationalen Weltzugriff der Stadtbevölkerung durchaus einen gewissen Schub gegeben haben. Allgemein dürfte jedoch gelten, dass sich jede mit Bevölkerungszuwachs einhergehende Steigerung sozialer Komplexität und jedwede technologischen Neuerungen in der Sprachentwicklung niederschlagen. Jede Differenzierung und Pluralisierung in der realen Welt wird auf dem Weg der kognitiven Verarbeitung in Gestalt neuer Lexik und Begrifflichkeit in die Sprache einfließen. Und dass die Dif­ ferenziertheit einer Sprache mit dem in der Sprache Denkmöglichen korrespondiert, dürfte ebenfalls gelten. Aufschlussreich wäre deshalb ein vergleichendes Forschungsprogramm, welches sowohl das die neue soziale Komplexität abbildende Vokabular als auch die Wortfelder der technischen Innovation hinsichtlich ihrer metaphorischen Produktivität im Denken der Achsenzeit untersucht. Dass sich die begriffliche Durch­ dringung der Gegenstandsbereiche des Menschlichen und des Techni­ 64 Hsu C. (Ancient China in Transition, 1965, 126–130) nennt als neue Berufsgruppen in China: Jäger, Seidenproduzenten, Zimmermänner, Bogenbauer, Schneider, Schu­ macher, Wagenbauer, Töpfer, Steinmetze. K. M. Shrimali (The Age of Iron, 2018, 59–62) vermerkt für Indien: Gerber, Kontoren, Schneider, Barbiere, Nadel-Herstel­ ler, Wagenbauer, Weber, Töpfer, Schmiede, Zimmermänner, Elfenbein-Schnitzer, Fischer, Ärzte, Tänzer, Schauspieler, Akrobaten, Musikanten. D. Engen (»The Economy of Ancient Greece«, 2004) nennt hinsichtlich Griechenland: Schiffbauer, Zimmermänner, Steinmetze, Bildhauer, Schmiede, Schneider, Dienstleister, Einzel­ handel.

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schen durch wechselseitige Anleihen befruchtet (Bidirektionalität), steht uns dank der kognitiven Metapherntheorie heute gut vor Augen.65 Aus offenkundigen Gründen muss sich meine Diskussion an die­ ser Stelle mit Illustrationen begnügen: Anzuführen wäre etwa das im Buddhismus allgegenwärtige Symbol des Rades. Das Rad, welches ein­ mal in Schwung gebracht »aus sich rollend«66 auch nach dem Tod seines ersten Bewegers nicht mehr stillsteht, hat Buddhas erster Predigt ihren Namen gegeben und wurde zum Sinnbild seiner Lehre.67 Der Sinologe Edward Slingerland, der bereits Elemente einer vergleichenden Metaphernforschung vorgelegt hat, konnte Teile des Diskurses über die Charakterbildung in der antiken chinesischen Philosophie überzeugend anhand der Konkurrenz von agrarischen (vgl. lat. cultura) und hand­ werklichen Metaphern rekonstruieren. Die von Xúnzǐ zur Illustration der Erziehung angeführten Techniken sind neben dem Polieren (der Jade) und dem Wetzen (des Messers) auch das Dämpfen und Biegen des Holzes zwecks der Radherstellung.68 Zu dem ursprünglich Handwerk, Kunstfertigkeit oder Herstellungswissen bezeichnenden Wort technē im Werk Platons gibt es bereits eine umfangreiche Literatur. Platons thematische Auseinandersetzung mit dem Technik-Begriff lässt eine klare Unterscheidung zwischen metaphorischer Übertragung und meto­ nymischer Erweiterung nicht zu.69 Unzweifelhaft ist jedoch, dass sich der Begriff in der sokratischen Idee der Lebenskunst (technē tou biu) weit von seinem mutmaßlichen Ursprung im Handwerk entfernt hat. Nicht zuletzt verweist Platons Vorstellung des weltenschöpfenden Demiurgen (d.i. der Handwerker) im Timaios darauf, dass keine noch so konkrete Begrifflich­ keit, sei sie biomorph, soziomorph oder technomorph, vor der Projektion in die Transzendenz gefeit ist. Jenseitige Ideen sind etymologisch immer derivativ. Dies gilt nicht nur für die gesetzgebende und richtende Gottheit des Monotheismus, sondern auch für die wesentlich ältere ägyptische 65 G. Keil, Kritik des Naturalismus (1993), Kap. 4. G. Lakoff und M. Johnson, Leben in Metaphern (2011). 66 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I.1 [1883], KSA 4:31. 67 »Predigt der Radandrehung« (Dhammacakkappavattana-sutta, SN 56.11). Siehe auch das Gedicht »Buddha«, S. 140 in diesem Buch. In dem von Takemura Makio zitierten Vers 654 der Suttanipāta wird das die Persistenz der Person konstituierende Karma mit der Funktion des »Achsennagels« verglichen (S. 157). Zu weiteren Bedeu­ tungen des Rades sowie anderen technomorphen Metaphern im Buddhismus siehe Bukkyō hiyu reiwa jiten [Lexikon buddhistischer Metaphern und Parabeln], hrsg. von Mori S. (2017). 68 E. Slingerland, Effortless Action (2003), Kap. 7. 69 C. Horn et al. (Hrsg.), Platon Handbuch (2009), Kap. 20 »technē-Analogie«.

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Vorstellung des Totengerichts. Bevor eine weltliche Rechtsprechung nicht existierte, war auch kein jenseitiges Seelengericht denkbar. Bis zu metaphorischer Rede einer »Kernschmelze des europäischen Finanzsystems«, der »Gentherapie unterhalb des Radarschirms des Immunsystems« oder »dem kantischen Betriebssystem der deutschspra­ chigen Philosophie« war es zwar noch ein langer Weg. Dennoch darf man annehmen, dass soziale und technologische Komplexitätssteigerung dem Denken in Analogien schon während der Achsenzeit neue Mög­ lichkeiten eröffnet haben. Der Niederschlag dieses Umstands müsste in den überkommenen Texten einesteils explizit und andernteils in Gestalt lexikalisierter Metaphern nachzuweisen sein. Damit wäre ein Anhaltspunkt gegeben, der es noch vor Inaugenscheinnahme konkreter religionsgeschichtlicher Entwicklungen oder der Entstehung philosophi­ scher Denkschulen erlaubt, die Achsenzeit als Epoche intellektueller Innovation zu kennzeichnen. Der hier nur umrissene metapherntheore­ tische Zugang wäre nicht zuletzt geeignet, Jürgen Habermas' Hypothese Substanz zu verleihen, dass es soziale Lernprozesse waren, welche der Achsenzeit vorausgingen. Die Achsenzeit würde somit im Mittelmeerraum, Indien und China am Übergang zur Antike die ideengeschichtliche Kehrseite eisenzeitli­ cher Innovationen und Urbanisierungsprozesse bezeichnen. Der von Jan Assmann aufgenommene Einwand Eric Voegelins, dass ein geis­ tesgeschichtlicher Epochenbegriff einen »Träger« voraussetzt, weshalb räumlich getrennte Zivilisationen prinzipiell nicht am selben Zeitgeist partizipieren können, überzeugt deshalb nicht (241–242, 281). Auch die Tatsache, dass sich die Dreiteilung in alte, mittlere und neuere Geschichte sowohl in der ostasiatischen als auch in der indischen Geschichtsschrei­ bung bewährt, verweist auf die Möglichkeit, dass Kulturkreise vergleich­ bare Stadien durchlaufen. Der japanische Indologe und Komparatist Nakamura Hajime hat gezeigt, dass sich auch ideengeschichtlich über die Achsenzeit hinaus in Antike, Mittelalter und Neuzeit »parallele Entwicklungen« aufweisen lassen.70 Trotz der im Fall der Achsenzeit gegebenen relativen Synchronizität ist Gleichzeitigkeit außerdem keine Voraussetzung, dieselbe periodische Begrifflichkeit auf verschiedene Kulturkreise anzuwenden. So spricht auch Jan Assmann aufgrund der politischen Zersplitterung und der Entstehung neuer intellektueller Strömungen von der ersten Zwischenzeit (ca. 23. bis 21. Jh.) als der Ach­ 70 Nakamura H. Parallel Developments (1975).

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senzeit des alten Ägypten.71 Wegen der durch Fernhandel und extensiver Geldwirtschaft charakterisierten Wirtschaftsweise des städtischen Bür­ gertums, Technologien wie Abakus, Papiergeld, Schießpulver, Kompass und Buchdruck sowie dem Aufschwung von Wissenschaft und Bildung veranschlagen japanische Historiker den Beginn der frühen Neuzeit in Ostasien in der chinesischen Sòng-Dynastie (960–1279).72 Auch spricht nichts dagegen, ein anhand prototypischer Beispiele geschnürtes Merkmalbündel aufzutrennen, um historische Begebenheiten zu charak­ terisieren, auf welche die Beschreibung eines Zeitalters nur teilweise zutrifft. So wird auch in der Ur- und Frühgeschichte mit den das Neolithi­ kum kennzeichnenden Merkmalen verfahren. Keramik, Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht haben sich nicht gleichmäßig revolutionierend, sondern ungleichmäßig diffundierend auf der Erde verbreitetet.73 Nachdem im zweiten Jahrtausend vor Chr. die technologischen Innovationen der Pferdezucht und des Speichenrads von zentralasia­ tischen Nomadenvölkern nach China und Indien getragen worden waren, kam es, initiiert durch die technologische Innovation der Eisenverarbeitung, um die Mitte des letzten Jahrtausends vor unserer Zeit im Mittelmeerraum, Indien und China zu vergleichbaren durch Bevölkerungswachstum, ökonomische Prosperität und Urbanisierung gekennzeichneten Dynamiken, die den Hintergrund bildeten der ide­ engeschichtlichen Entstehung von Monotheismus, Humanismus, Bud­ dhismus und Philosophie. Dieses kulturelle Erbe blieb der Nachwelt nicht zuletzt deswegen erhalten, weil mittels neuer auf Eisenwaffen und Kavallerie basierender Kriegsmaschinerie noch vor der Zeitenwende alle drei Zivilisationskreise militärisch zu Großreichen geeint wurden, deren Stabilität mithin von effizientem Schriftgebrauch abhing. Ohne damit das alte Ägypten als »das erste Großreich der Menschheitsgeschichte« oder die bereits im 2. Jahrtausend vor Chr. »die gesamte Alte Welt, Ägypten und die Ägäis« umschließende »Ökumene« ausblenden zu wollen,74 scheint mir das so verstandene Konzept der Achsenzeit, wenn doch nicht als weltgeschichtliches Schema, so wenigstens als ein in der Geschichte Eurasiens Orientierung ermöglichender Sachverhalt (etwa für den Schulunterricht) weiterhin zweckmäßig zu sein.

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J. Assmann, »Große Texte ohne eine Große Tradition« (1992). R. v. Glahn, »Imagining Pre-modern China« (2003), 54. H. Parzinger, Die Kinder des Prometheus (2014), 118. J. Assmann, Achsenzeit (2018), 252; Kulturelles Gedächtnis (1992), 230.

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6. Bildungshumanismus Durch den Verweis auf die der Achsenzeit folgenden antiken Großreiche kann einem weiteren Vorbehalt Jan Assmanns entgegengekommen wer­ den. Assmann ist skeptisch, ob die achsenzeitlichen Denker tatsächlich aufgrund ihrer Originalität, Größe oder intellektuellen Leistung ihre nie dagewesene Wirkung entfalteten oder ob sie nicht vielmehr erst in der Rückschau und gewissermaßen ohne ihr Zutun zu Kultur-Heroen stili­ siert wurden.75 Erst die in den antiken Großreichen protegierte schriftli­ che Fixierung, Archivierung und Kanonisierung der maßgeblichen Texte ermöglichte den anhaltenden klassischen Status der achsenzeitlichen Denker. Es war der »Durchbruch zur fortlaufenden Exegese«, d.h. zum unentwegten philologischen Rückbezug auf klassische, orthodoxe oder heilige Texte, welcher in den reifen Schriftkulturen jenes uns vertraute kulturelle Gedächtnis hervorbrachte.76 Die Frage, ob es Ideen, die Wirtschaftsweise, große Individuen oder technologische Innovationen waren, welche den Geschichtsverlauf bestimmten, wird heute niemand mehr einseitig beantworten wollen. Das Auftreten der achsenzeitlichen Denker in einen Zusammenhang mit technologischen Fortschritten und Urbanisierungsdynamiken des Eisenzeitalters zu stellen, ist zwar offensichtlich ein materialistischer Erklärungsansatz. Dennoch halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die hier in Frage kommenden Denker in ihren jeweiligen Kulturkreisen selbst zu Faktoren des weiteren Zivilisationsprozesses wurden und damit auch zur Kanonisierung ihres eigenen ideellen Erbes beigetragen haben. Für die Bewahrung des Erbes der griechischen Philosophie spielten die Philologen der Bibliothek von Alexandria bekanntermaßen eine zent­ rale Rolle.77 Dass der Gründer und Namensgeber der Stadt, Alexander der Große, als 14-jähriger Jüngling über drei Jahre von Sokrates' Enkel­ schüler Aristoteles unterrichtet worden war,78 bevor er zum bis dato größten Eroberer der Weltgeschichte aufstieg, ist ein biographischer Zusammenhang, zu dem man gewiss keine Parallele in Indien oder China erwarten darf. Der Zusammenhang zwischen Aristoteles und der Bibliothek von Alexandria geht sogar noch weiter. Aristoteles, der zu den größten Büchersammlern im damaligen Athen gehörte und in 75 76 77 78

J. Assmann, »Cultural Memory and the Myth of the Axial Age« (2012), 398f. J. Assmann, Achsenzeit (2018), 291. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (1992), 277–280. C. Rapp und K. Corcilius (Hrsg.), Aristoteles Handbuch (2011), 3.

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Platons Akademie der »Leser« genannt wurde,79 hatte während seines Aufenthalts in Makedonien als Lehrer des Alexander nicht nur dessen Freund, den späteren Ptolemaios I. kennengelernt. Auch Demetrios von Phaleron (ca. 350 – ca. 280), der unter Ptolemaios I. offenbar für den Aufbau der Bibliothek von Alexandria verantwortlich war, hatte im Peripatos, der Schule des Aristoteles in Athen, studiert.80 Die Einigung Chinas durch den Ersten Kaiser (221 v. Chr.) war wie der Alexanderzug und die Gründung des indischen Maurya-Reiches in erster Linie ein militärisches Ereignis. An der kulturkonservativen Kraft des Konfuzianismus hatte der Erste Kaiser nicht nur kein Interesse, sondern ließ die von der konfuzianischen Schule gepflegten Klassiker sogar in nicht geringem Umfang verbrennen.81 Die staatstragende Stel­ lung, die der Konfuzianismus erst während der folgenden Hàn-Dynastie erlangte und bis zum Ende der kaiserlichen Ära nicht verlieren sollte, wird sinnfällig in dem Umstand, dass gegen Ende der Hàn-Dynastie in den Jahren 175 bis 183 die aufgearbeiteten Klassiker inklusive der Gespräche des Konfuzius erstmals in Steinstelen gemeißelt wurden.82 Da sich in Konfuzius' Schule ernstlich um die Bewahrung des aus der Frühzeit überkommenen schriftlichen Erbes bemüht worden war, personifiziert Konfuzius als Philologe und Kommentator der Klassiker genau jenen von Jan Assmann ins Auge gefassten »Durchbruch zur fortlaufenden Exegese der kanonischen Texte«. In Indien stellt sich die Situation abermals ganz anders dar. Ashoka (reg. ca. 268–232 v. Chr.) war der dritte Herrscher der Maurya-Dynastie, die erstmals nahezu den gesamten indischen Subkontinent unter sich vereinte. Sein Großvater Chandragupta hatte Ashoka ein Reich mit starken militärischen und administrativen Grundlagen hinterlassen. Im Jahr 8 seiner Regentschaft (ca. 260 v. Chr.) führte Ashoka einen Krieg, dessen Grausamkeit und Opferzahlen ihn offenbar dazu bewegten, auf weitere Eroberungsfeldzüge zu verzichten und stattdessen den Buddhis­ mus in seinem Reich zu propagieren. Er veranlasste unter anderem die Missionierung Sri Lankas, wo ca. 100 v. Chr. der Pāli-Kanon erstmals

79 F. Dupont, »The Material Reality and the Symbolic Status of the Literary Book at Rome« (2009), 145. 80 N. L. Collins, The Library in Alexandria and the Bible in Greek (2000), 109–114. 81 D. Bodde, »The state and empire of Ch'in« (1986), 69–72. 82 Über die Xīpíng Stelen der Klassiker siehe B. J. Mansvelt Beck, »The fall of Han« (1986), 340.

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schriftlich niedergelegt wurde.83 Dies geschah aller Wahrscheinlichkeit nach in der »Brahmi« genannten Schrift, die Ashoka zur Konsolidierung seines Reiches eingeführt hatte und auf die alle späteren indischen Schriften zurückgehen. Die Frage, ob die »großen Männer« der Achsenzeit gewissermaßen nur das Glück hatten, dem Ausreifen ihrer Schriftkultur unmittelbar vorausgegangen und deshalb zum Kristallisationspunkt ihrer Traditio­ nen geworden zu sein, oder ob sie selbst diesen Prozess beeinflusst haben, scheint mir deshalb im Fall Buddha ebenso wenig eindeutig negierbar wie im Fall von Konfuzius und Sokrates. Buddha gründete eine äußerst erfolgreiche Organisationsform, die sich zuerst oral, dann schriftlich der Erinnerung und Exegese seiner Lehre widmete. Gleichzeitig scheint ebendieselbe Lehre auch auf die politischen Bedingungen, welche die Prosperität des Ordens gerade in den ersten Jahrhunderten ermöglichte, nicht ohne ideellen Einfluss gewesen zu sein. Auf der anderen Seite ist Assmann sicher recht zu geben, dass sich der Auftritt »großer Individuen« nicht auf die Achsenzeit beschränkt. Nicht alle weisen Männer und schon gar nicht alle weisen Frauen wurden im kulturellen Gedächtnis der Menschheit unsterblich. Genauso wie Assmann mit Blick auf altägyptische Schriften von »Großen Texten ohne eine Große Tradition« (1992) spricht, müssen wir in der Menschheitsge­ schichte von zahllosen großen Denkern und Denkerinnen ohne orale Tradition ausgehen. Es ist gewissermaßen Teil des hier stark gemachten universellen Humanismus, dass es in allen Kulturen immer Menschen gab, deren Weisheit sich darin zeigte, der menschlichen Güte und Tugend vor aller Augen das Primat gegenüber dem Übernatürlichen beizumes­ sen. Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses als »kritischer Intertextualität« (301) erlaubt es schließlich, auf das eigentliche Anlie­ gen dieses Buches zurückzukommen. Zwar lässt es sich durchaus als Beitrag zur Debatte über die Achsenzeit insofern verstehen, als es die religionsgeschichtliche Engführung der Forschung um den Aspekt des Humanismus ergänzt wissen möchte. Insgesamt geht es dem Buch aber mitnichten um eine historische These. Um Geschichte ging es Inoue Enryō bei der Zusammenstellung der Vier Weisen ebenfalls nicht. Auch der quasi-religiöse Rahmen, welchen Inoue Enryō seinen Vier Weisen durch die Errichtung des Schreins in seinem philosophischen Garten 83 R. S. Sharma, India's Ancient Past (2005), 173–178. É. Lamotte, History of Indian Buddhism (1988), 262, 266–271.

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gab, entspricht nicht seiner ursprünglichen Absicht. Die Metaphysik des Absoluten, in der nach Enryōs Überzeugung die philosophischen Traditionen der Welt konvergieren, zum Fokus zeremonieller Andacht zu erheben, ist eine Idee, die Inoue Enryō erst nach der Jahrhundertwende zu verfolgen begann. Unmittelbar nach dem Abschluss seines Philoso­ phie-Studiums an der Tokyo Universität im Jahr 1885 und zwei Jahre vor der Gründung seiner Philosophischen Akademie im Jahr 1887 hatten die Vier Weisen vielmehr den Sinn, den Rahmen für das Studium der Weltphilosophie symbolisch abzustecken. Die Vier Weisen versinnbild­ lichten das vermutlich weltweit erste philosophische Curriculum mit globaler Ausrichtung, das 1881 an der Tokyo Universität eingerichtet worden und dessen erster Absolvent Inoue Enryō war. Die Vier Weisen repräsentieren also diejenigen Traditionen, die für das Studium der Philosophie als kanonisch gelten sollen. In diesem Sinn sind die Vier Weisen bis heute das Wahrzeichen der einige Jahre später von Enryō selbst gegründeten Universität. In den japanischen Geisteswissenschaften wird heute die indische, die chinesische und die abendländische Philosophie auf gleichermaßen hohem philologischen Niveau erforscht. Es dürfte neben dem Englischen keine weitere moderne Sprache geben, mittels der man sich ähnlich umfassend über die Geschichte des eurasischen Kontinents informieren kann wie das Japanische. Seit jenen frühen Jahren der Tokyo Universität gilt für Japan, was Jakob Burckhardt einst über die Griechen sagte: »Ganz sicher aber haben [sie] ein Auge, womit sie die Welt um sich herum als ein Panorama schauen.«84 Der Wert der westlichen Philosophie gilt in Japan als ausgemacht und das Interesse ist ungebrochen. Die Sinologie bewegt sich selbstver­ ständlich seit der frühen Neuzeit auf höchstem philologischem Niveau. Was die Indologie betrifft, ist unbestritten, dass es heute außerhalb Indi­ ens kein Land gibt, in dem Sanskrit-Studien intensiver betrieben werden als in Japan. Wer sich einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der japanischen Philosophie machen will, kann sich mit dem Inhalt der 2020 in neun Bänden erschienenen »Weltgeschichte der Philosophie« vertraut machen.85 Der erste Band beginnt mit einem Kapitel über Weltbild und Seelenanschauungen in Mesopotamien und Ägypten, bevor unter Bezug­ 84 J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte (1898–1902), Bd. 3, Abschnitt 8, Kap. 6. 85 Itō K. et al. (Hrsg.), Sekai tetsugaku shi [Weltgeschichte der Philosophie] (2020). Die Internetseite des Koselleck-Projekt – Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive an der Universität Hildesheim bietet eine bibliographische Datenbank

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nahme auf Karl Jaspers die Darstellung mit dem achsenzeitlichen Denken des Alten Testaments, Chinas, Indiens und Griechenlands fortfährt. In einem wichtigen Punkt muss unsere Interpretation der Vier Weisen aber von der Enryōs abweichen. Enryō folgte dem Lehrplan seiner Studienjahre darin, Sokrates und Kant der westlichen Philosophie, Buddha und Konfuzius der östlichen Philosophie zuzuschlagen. Das moderne Japan hat den undifferenzierten europäischen Blick auf den Orient zu eigenen Zwecken umgedeutet. Seit der Wende zum 20. Jahrhun­ dert gefiel man sich als die mutmaßlich beste Frucht des Orients und verfiel als Vorreiter eines modernen Asiens zunehmend der imperialisti­ schen Dynamik. An dieser Stelle kann nochmals ein Verdienst Karl Jaspers' herausge­ stellt werden. Obwohl man die von Jaspers als Spezifika des Abendlands angeführten Merkmale der undogmatischen Rationalität, der bewussten Innerlichkeit oder der Weltzugewandtheit (68–69) heute nicht mehr als Alleinstellungsmerkmale des Westens gelten lassen wird, ist doch bemer­ kenswert, dass Jaspers meist von »Kulturkreisen« redet und Europa nirgends als Kontinent anspricht. Geographisch nennt er Europa eine »Totalasien« zugehörige »Halbinsel« (56). Tatsächlich gibt es keinen vernünftigen Grund, Asien und Europa Kontinente zu nennen. Die Selbstauszeichnung Europas als Kontinent ist ein Relikt des Eurozentris­ mus. Tektonisch käme allenfalls Indien und der arabischen Halbinsel der Status von Subkontinenten zu. Europa ist neben Ostasien und Indien ein in der Antike wurzelnder Kulturkreis Eurasiens. Das Problem ist aber nicht der Name »Europa«, sondern die Kategorie »Asien«. Asien ist weder Kontinent noch Kulturkreis. Es gibt schlicht keinen vernünftigen Gesichtspunkt, China und Indien im Gegensatz zu Europa unter dem Namen Asien zu subsumieren. Mit einem schmerzhaft geringen Auflö­ sungsgrad könnte man allenfalls in Süd- und Ostasien einen durch die indische Religiosität geprägten zivilisatorischen Großraum ausmachen. Das einem solchen »religiösen Asien« adäquate Vergleichsobjekt wäre dann aber doch nicht Europa, sondern der die arabische und europäische Zivilisation gleichermaßen umfassende Kulturkreis des Monotheismus. Hinsichtlich dieser gröbsten aller denkbaren Vereinfachungen dürfte allerdings in philosophischer Hinsicht die Tatsache schwerer wiegen, dass wir es im Fall von Europa und Indien mit zwei philosophischen Traditionen der indoeuropäischen Sprachfamilie zu tun haben. von »Globalen Philosophiegeschichten in verschiedenen Sprachen« mit übersetz­ ten Inhaltsverzeichnissen.

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Die offensichtliche Leerstelle der durch die Vier Weisen gekenn­ zeichneten antiken Kulturen ist der Monotheismus. Den elementaren Grund, weshalb die monotheistischen Religionen nicht zum engeren Kreis des Interessengebietes der Philosophie zählen, hat Enryō, der ein entschiedener Gegner der Rezeption des Christentums in Japan war, selbst gegeben: Das letzte Kriterium des Wahren und Guten in den mono­ theistischen Religionen ist der Wille Gottes.86 Dem Selbstverständnis der Philosophie ist aber die Konzentration auf die der menschlichen Vernunft zugänglichen Begründungsfiguren wesentlich. Dies gilt aus praktischen Gründen mit besonderem Nachdruck für die philosophische Ethik. Durch Verzicht auf Glaubensannahmen in Grundlegung, Systematik und Letztbegründung zielt der Humanismus auf eine rein menschliche und nur deshalb universalisierbare Moral. Die philosophischen Inhalte dieses Buches sollten zeigen, dass die westliche Philosophie ihrem Selbstver­ ständnis nicht gerecht wird, wenn sie hinsichtlich dieser ihr wesentlichen Fragestellung die durch Buddha und Konfuzius begründeten Traditio­ nen ignoriert. Sollen nun durch diesen spezifischen Begriff von Philosophie alle nicht durch die Vier Weisen vertretenden Kulturen des Denkens aus der akademischen Philosophie verbannt werden? Keineswegs. Ihrer Idee nach schließt die Philosophie a priori überhaupt nichts aus. Wo das Gute und Wahre aufgefunden wird, ist hinsichtlich der Geltungsfrage prinzi­ piell gleichgültig. Dass die monotheistischen Religionen ethische Wahr­ heiten enthalten, die den philosophischen Diskurs befruchten können, steht außer Frage. Dass auch orale Kulturen Weisheiten tradieren, die es verdienen, in der Philosophie Gehör zu finden, wird nicht bestritten. Philosophinnen und Philosophen seien explizit aufgefordert, die durch die Forschung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wieder zugänglich gemachten, ältesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit altorientalischen und altägyptischen Ursprungs zur Kenntnis zu neh­ men.87 Die Exklusivität, welche die hier vertretene Selektion der maßge­ blichen philosophischen Traditionen notwendig mit sich bringt, hat keine prinzipiellen Gründe. Sie geschieht allein aus einer praktischen Notwendigkeit, die es nun noch zu begründen gilt. Bisher war von Huma­ 86 R. Schulzer, Inoue Enryō (2019), 88–90. 87 J. Assmann, Ma'at (1990). H. Brunner (Hrsg. und Übers.), Die Weisheitsbücher der Ägypter (1988). B. R. Foster, Before the Muses: An Anthology of Akkadian Literature (1993). Weitere Literatur in M. V. Fox »Ancient Near Eastern Wisdom Literature (Didactic)« (2011).

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nismus als der allein auf die menschliche Vernunft gegründeten Ethik und Lebensform die Rede. Humanismus bezeichnet aber bekanntermaßen im engeren Sinn auch die im 15. Jahrhundert von Italien ausgehende europäische Bildungsbewegung, die sich den klassischen Autoren der Antike mit neuem, existentiellem Interesse zuwandte. Die studia humanitatis ersetzten die fremd gewordenen Vorbilder der mündlichen Tradition gleichsam durch literarisch überlieferte und mach­ ten die Sprache zum wichtigsten Gegenstand menschlicher Bildung. [...] Durch die Auseinandersetzung mit sprachlich geformten Zeugnissen der humanitas formt der Mensch seine eigene humanitas, bildet sich zum sprachlich mündigen, moralisch verantwortlichen Menschen. Die studia humanitatis wurden denn auch von Anfang an mit eruditio moralis [moralischer Bildung] gleichgesetzt. In den christlichen und heidnischen Autoren des Altertums, Augustin und Cicero, Aristoteles und Hieronymus entdeckten die Leser lebendige Vorbilder menschlicher Bildung und fanden im Gespräch mit ihnen eine neue Sicherheit zur Ausübung ihrer sozialen Rollen im bürgerlichen Leben.88

Mit dem Einzug des Humanismus in die philosophischen und artisti­ schen Fakultäten der europäischen Universitäten im 15. und 16. Jahrhun­ dert ging jedoch dieser »ursprüngliche Impetus« verloren. »[D]er inter­ subjektive Aspekt der Humaniora [wurde] vom Bestreben verdrängt, die Formen und Gegenstände der Antike als wissenschaftliche Objekte getreu und objektiv zu erfassen.«89 In diesem Dilemma befindet sich die akademische Philosophie bis heute. Hinsichtlich ihres doppelten Selbstverständnisses als wissenschaftlicher Disziplin auf der einen und humaner Selbstbildung auf der anderen Seite, d.h. als Forschung einer­ seits und Selbstdenken andererseits, gleicht die Philosophie keinem anderen Fach. Als wissenschaftliche Disziplin an der Universität muss die Phi­ losophie den Anspruch haben, sich mit ihren Gegenständen auf der Höhe der Einzelphilologien zu beschäftigen.90 Dieser Umstand verstärkt die paradoxe Situation, in der sich der Humanismus als klassisches Bildungsideal von jeher befand. Der Erwerb der alten Sprachen und die umfangreiche Lektüre nehmen in der humanistischen Bildung einen 88 W. Rüegg, »Das Aufkommen des Humanismus« (1993), 390. 89 W. Rüegg, »Themen, Probleme, Erkenntnisse«, 50–51 in Die Geschichte der Univer­ sität in Europa (1996). 90 Eine Forderung, die man an komparativ arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht ohne Weiteres stellen können wird. Da aber gleichwohl wünschenswert, bleibt diesen, wie dem Autor selbst, nur das Dilettieren.

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weitaus größeren Raum ein, als es ihre antiken Vorbilder für den Erwerb der Tugend für notwendig befunden hätten. Dass Sokrates, der Stammva­ ter des europäischen Humanismus, viel gelesen hätte, ist nicht überliefert. Schriften hat er bekanntermaßen nicht hinterlassen. Ähnliches gilt für den Buddhismus und den Konfuzianismus. Obwohl Buddha einer oralen Kultur entstammte und von daher Lesen und Schreiben weder selbst praktiziert noch empfohlen haben kann, hat sich der Buddhismus in der Folge zu einer Tradition des Textstudiums und Kommentars auf höchstem exegetischem Niveau entwickelt. Dank Yoshida Kōheis Bei­ trag wissen wir ferner, dass Konfuzius das Studium der alten Schriften nur als einen möglichen Bildungsweg empfahl, keineswegs aber als eine Voraussetzung für den Erwerb der Humanität erachtete. Dennoch hat der Konfuzianismus sich zu einer Kultur des Studiums und der Auslegung der Klassiker ausgeformt, die große Ähnlichkeiten mit dem europäischen Bildungshumanismus aufweist. Die Ideen der Selbstkultivierung keiner der drei antiken Weisen Sokrates, Konfuzius und Buddha beinhalteten also Sprachstudium, Lek­ türe und Exegese. In den Schriftkulturen jedoch, innerhalb derer sie ihre Wirkung entfaltete, stehen sie am Beginn einer kritischen Intertextualität, die jeweils Bibliotheken füllt. Im Zuge der Generation für Generation notwendigen Wiederaneignung dieses Erbes hat sich das Lesen als eine für die Schulung des Intellekts mächtige Kulturtechnik erwiesen. Den ebenfalls weithin anerkannten Umstand, dass sich ein tiefes Verständ­ nis der Traditionen systematisch am besten durch Rückgang auf ihre Ursprünge eröffnet, hat Enryō durch die Figur des Fächers versinnbild­ licht.91 Hierbei steht der Dorn für den jeweiligen Denker, Schulgründer oder Weisen und die Stäbe des Fächers für die Traditionslinien. Die als Griff dienenden kurzen Ende der Stäbe symbolisieren die Einflüsse, wel­ che die Denker selbst aufgenommen und zusammengeführt haben. Die sich vom Dorn aus spreizenden, das Fächerblatt tragenden langen Enden der Stäbe repräsentieren die in den Gedanken des Ideengebers angele­ gten, sich kontinuierlich ausdifferenzierenden philosophischen Inhalte. Zum Schluss: Die Idee der universellen Geltung, welcher sich die Philosophie verpflichtet weiß, verlangt eine entsprechend umfassende Bestandsaufnahme der relevanten Quellen. Nicht nur wegen ihres Reich­ tums, sondern auch aufgrund ihrer Bildungskontinuität bis in die Gegen­ wart kommt den großen Schriftkulturen gegenüber oralen Traditionen, 91 Inoue E. »Tetsugaku no yūrai« [Der Ursprung des Schreins der Philosophie] [1907], 552.

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untergegangenen Kulturen sowie nationalsprachlichen Philologien hier­ bei das Primat zu. Da die Aneignung des philosophischen Erbes der Schriftkulturen nur mittels der Kulturtechnik des Lesens möglich ist und dies dem philologischen Anspruch der akademisch betriebenen Philosophie gemäß in den jeweiligen Originalsprachen zu geschehen hat, wird eine Vorauswahl der relevanten Sprachen nach Art eines Kanons praktisch notwendig. Aufgrund des Selbstverständnisses der Philosophie als säkularer Weisheitslehre müssen hierbei die antiken Gelehrtenspra­ chen Indiens und Chinas gegenüber Hebräisch und Arabisch den Vorzug erhalten. Die Philosophie wird ihrem Anspruch nicht gerecht, wenn die Beschäftigung mit dem außereuropäischen Denken weiterhin darauf beschränkt bleibt, dass wenige große Philosophen wie etwa Karl Jaspers oder Jürgen Habermas im fortgeschrittenen Alter erkennen, dass es notwendig wäre, den Blick über Europa hinaus zu erweitern.92 Für das, was eigentlich nur als Lebensaufgabe zu bewältigen ist, ist es dann zu spät. Neben Griechisch und Latein müssen deshalb Sanskrit und Pāli sowie das klassische Chinesisch in den Kanon der klassischen Sprachen der Philosophie aufgenommen und in der institutionellen Struktur der akademischen Philosophie verankert werden.

92 Warum Peter Sloterdijk sich trotz seiner frühen Begegnung mit der indischen Kultur nicht weiter in die geistige Welt des Sanskrit vertieft hat, möchte ich ihn fragen.

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Anhang

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Kanonische Quellen und digitale Ressourcen

Chinesische Philosophie: Die Übersetzungen chinesischer Quellen basieren auf den Digitalisaten des Chinese Text Project (ctext.org). Die Gespräche des Konfuzius (Lúnyǔ) und das Buch Menzius wurden nach der auch auf der Internetseite des Chinese Text Projects einsehbaren ICS Konkordanz zitiert. Die Ancient Chinese Texts Concordance Series ICS (Institute of Chinese Studies der Chinese University of Hong Kong) und die Sinological Index Series des Harvard-Yenching Institute sind die maßgeblichen Konkordanzen der antiken chinesischen Literatur. Als bibliographisches Nachschlagewerk ist der Band Early Chinese Texts (1993) herausgegeben von Michael Loewe unentbehrlich. Die Internetseite Chinese Text Project bietet außerdem parallel zum chine­ sischen Text die immer noch zitierfähigen englischen Übersetzungen von James Legge (1815–1897); allerdings ohne dessen Kommentare. Legges Übersetzungen mit Kommentaren sind als gescannte Bücher auf der Webseite Internet Archive (archive.org) zugänglich. Die klassischen deutschen Übersetzungen von Richard Wilhelm (1873–1930) finden sich in gescannter Form auf der Internetseite des Richard-Wilhelm-Über­ setzungszentrum der Ruhr Universität Bochum. Im Fall der Gespräche des Konfuzius ist es nicht ratsam sich auf nur eine Übersetzung zu stützen. Im Deutschen steht zum Beispiel die Übertragung von Ralf Moritz (1982) zur Verfügung. In englischer Sprache ist die mit hilfreichen Kommentaren und Querverweisen versehene Übersetzung von Edward Slingerland (2003) empfehlenswert. Unbedingt erwähnenswert ist ferner die materialreiche, textkritische Rekonstruktion von E. Bruce Brooks und A. Takeo Brooks (1998). Während die Übertragungen des Buchs Menzius von Wilhelm und Legge heute noch zitiert werden, wurde Xúnzǐ von keinem der beiden klassischen Übersetzer bearbeitet. Der Hàn-zeitlichen Edition von Liú Xiàng (77 v. bis 6 n. Chr.) folgend wird das Buch Xúnzǐ bis heute in 32 Kapitel unterteilt (Knoblock 1990, Bd. 1: 106–110). In vollständiger Übertragung existiert es heute in einer deutschen und zwei englischen Fassungen. Wobei unter diesen die deutsche Übersetzung von Hermann Köster aus dem Jahr 1967 die am wenigsten verlässliche sein dürfte. Empfehlenswerter sind die neueren

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englischen Übertragungen von John Knoblock (1990) in drei und von Eric L. Hutton (2014) in einem Band.   Buddhismus: Die verwendeten Abkürzungen und Schreibweisen der Pāli-Quellen folgen dem Critical Pāli Dictionary (cpd.uni-koeln.de/ intro). Die Abkürzungen der ersten vier Sammlungen der Predigten sind: DN

Dīgha-nikāya (Gruppe langer [Lehrreden])

MN

Majjhima-nikāya (Gruppe mittellanger [Lehrreden])

SN

Saṃyutta-nikāya (Thematische Gruppen)

AN

Aṅguttara-nikāya (Nummerierte Gruppen)

Die fünfte »Gruppe kurzer [Lehrreden]« (Khuddaka-nikāya, KN) wird meist selbst nicht abgekürzt oder angegeben, sondern es wird direkt auf den entsprechenden, in der Sammlung enthaltenen Quelltext referiert. Unter diesen finden sich auch die oben vielfach zitierten Texte Dham­ mapada (Abk. Dhp; Lehrverse) und Suttanipāta (Abk. Sn; Anthologie der Predigten). Die Nummerierung der kanonischen Quellen folgt der am weitesten verbreiteten Zählung der Ausgabe der Pali Text Society (PTS), die etwa auf der Internetseite GRETIL (Göttinger Register of Electronic Texts in Indian Languages; gretil.sub.uni-goettingen.de) digi­ tal zugänglich ist. Unter den zahlreichen Digitalisierungs- und Überset­ zungsprojekten des Pāli-Kanons hat sich die Seite Sutta Central: Early Buddhist texts, translations, and parallels (suttacentral.net) aufgrund der Konkordanzen mit dem chinesischen Kanon, zahlreicher dem Vergleich dienlicher Mehrfach-Übersetzungen, einem verlinkten Pāli-Lexikon und einer ganzen Reihe weiterer hilfreicher Werkzeuge als die wichtigste Internet-Ressource etabliert. Die auf der Internetseite Tipitaka (DreiKorb), der Pali Kanon des Theravāda-Buddhismus (palikanon.com) gesammelten deutschen Übersetzungen genügen viele, aber nicht alle philologischen Standards. Der chinesische Kanon wird nach der im Japan der Taishō-Ära (1912–1926) begonnenen und während der Jahre 1924 und 1934 in 85 Bänden herausgegebenen (später auf 100 Bände erweiterten) »Taishō Neuedition des gesamten Kanons« (Taishō shinshū dai zōkyō) zitiert. Die »T« abgekürzte Edition ist auf der Internetseite SAT Daizōkyō Text Data­ base (21dzk.l.u-tokyo.ac.jp/SAT) in digitalisierter Form zugänglich. Die Textnummer steht bei der Zitation dieser Edition vor Band und Seite. T 210, Bd. 4, S. 559–574 verweist zum Beispiel auf eine der in chinesischer Übersetzung überlieferten Fassungen des Dhammapada (jap. Hokku

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Kanonische Quellen und digitale Ressourcen

gyō, chin. Fǎjù jīng). Auf der Benutzeroberfläche der SAT Database Ver­ sion 2018 werden außerdem nach und nach die englischen Übersetzun­ gen der Society for the Promotion of Buddhism (BDK) parallel einsehbar gemacht. Die bereits übersetzten Texte der BDK English Tripitaka (seit 1982) sind auf der Internetseite BDK Daizokyo Text Database (bdk.or.jp/bdk/digital) frei zugänglich.   Europäische Philosophie: Die wichtigste digitale Ressource für die euro­ päische Philosophie der Antike ist die Perseus Digital Library (www.per seus.tufts.edu), an deren Konventionen sich gehalten wurde. Neben den Originaltexten und verlinkten Lexika bietet die Internetseite auch englische Übersetzungen aller maßgeblichen philosophischen Texte. Die heute nach wie vor zitierten deutschen Übersetzungen des platonischen Korpus von Friedrich Schleiermacher sind in der überarbeiteten Fassung von 1828 als digitaler Text auf der Seite Projekt Gutenberg (www.projekt-gutenberg.org) und in gescannter Form in der Datenbank Internet Archive (archive.org) zugänglich. Die Werke Immanuel Kants werden mit Ausnahme der getrennt nach erster und zweiter Auflage (A/B) zitierten Kritik der reinen Vernunft nach den Seitenzahlen der sogenannten Akademie-Ausgabe (AA) zitiert. Die auf 29 Bände angelegte Edition von Kant's gesammelten Schriften wurde im Jahre 1900 von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften begonnen und von der Berlin-Brandenburgische Akade­ mie der Wissenschaften (kant.bbaw.de) zum 300. Geburtstag Kants im Jahr 2024 abgeschlossen. Die Bände 1 bis 23 (d.h. ausschließlich der Abteilung der Vorlesungsnachschriften) werden unter dem Namen Bon­ ner Kant-Korpus an der Universität Bonn (korpora.zim.uni-duisburgessen.de/kant) in elektronischer Form bereitgestellt. Abkürzungen folgen dem Siglenverzeichnis der von der Kant-Gesellschaft herausgegebenen Kant-Studien (www.kant-gesellschaft.de/de/ks) und sind zu finden unter »Hinweise für Autoren.« Verwendet wurden: GMS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

RL

Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre

TL

Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre

V-Mo

Vorlesungen zur Moralphilosophie

ZeF

Zum ewigen Frieden

Zuletzt sei noch auf die Textgrundlagen des Werkes des verschiedentlich zitierten Friedrich Nietzsche verwiesen. Nietzsches Schriften werden

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entweder nach der Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe (KSA) von 1988 oder der seit 1967 erscheinenden Nietzsche Werke: Kritische Gesamt­ ausgabe (KGW) zitiert. Seit 2001 ist mit der Plattform Nietzsche Source (www.nietzschesource.org) ein weiteres zitierfähiges Medium der Werke Nietzsches entstanden. Die Digitale Kritische Gesamtausgabe: Werke und Briefe (eKGWB) basiert auf der bereits genannten KSA und der seit 1975 erscheinenden Edition Nietzsche Briefwechsel: Kritische Gesamtausgabe.

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Personenindex

Adamson, Peter 198 Ajita Kesakambala (5. Jh. v. Chr.) 142, 198 Akṣapāda (leg. Autor d. Nyāya-sūtra) 17, 198 Alexander der Große (356–323) 131, 236–237 Ames, Roger T. 34, 49 Anaxagoras (geb. ca. 500–480 v. Chr.) 119 Anaximander (ca. 610–546) 17, 88, 119 Anselm von Canterbury (1033–1109) 17 Araki Kengo (1917–2017) 289 Aristoteles (384–322) 17, 31, 38, 40, 41–43, 44, 55, 89, 90, 197, 198, 236–237, 242 Aristoteles, Werke: – Politik 38, 41–42 – Nikomachische Ethik 31, 38, 44 Arnason, Johann P. 226, 228 Asaṅga (ca. 320–ca. 390) 197, 198 Ashoka (skt. Aśokaḥ; reg. 268–232) 141, 237–238 Assmann, Jan 34, 53, 69, 71, 82–83, 199– 200, 201, 210–211, 215, 216, 217, 221, 222, 225–226, 229, 234–235, 236–238, 241 Aśvaghoṣa (ca. 1–2. Jh.) 59, 197, 198 Attwood, Jayarava 68 Augustinus (354–430) 17, 59, 76, 242 Bakhuizen, S. C. 231 Baumard, Nicolas 228 Bauschke, Martin 83, 173, 190 Bechert, Heinz (1932–2005) 197 Beckwith, Christopher I. 68 Bellah, Robert N. (1927–2013) 199, 226, 229 Blech, Karl A 29 Blüm, Volker 59 Bodde, Derk 237 Bodhi Bhikkhu 93, 147

Boisvert, Mathieu 65 Breuer, Stefan 50, Bronkhorst, Johannes 61, 68, 74, 90, 159, 223 Brooks, E. Bruce und A. Taeko 100, 197, 247 Brunner, Hellmut 241 Bucknell, Roderick S. 93 Buddha (gest. ca. 400–350) 12–18, 19, 20–21, 24–33, 52, 54–57, 58, 59–61, 63, 65–66, 68, 73–74, 75, 76–83, 87, 89, 91–93, 121, 139–166, 197, 201, 209, 217, 222–223, 233, 238, 240, 241, 243 Buddhagosa (5. Jh. n. Chr.) 31, 84 Burckhardt, Jakob (1818–1897) 239 Buswell, Robert E. 198 Carlyle, Thomas (1795–1881) 16 Chandragupta (reg. ca. 321–297) 230, 237 Cicero, Marcus T. (106–43) 20, 25, 43–47, 49, 50, 242 Cline, Erin 39 Collins, Nina L. 237 Consignys, Scott 43 Corcilius, Klaus 236 Cua, Antonio S. (1935–2007) 114 Dare, Tim 34 Darius der Große (reg. 522–486) 131 Darwin, Charles (1731–1802) 16 Demetrios von Phaleron (ca. 360– 280) 237 Demokrit (geb. ca. 460) 89, 119 Derrett, Duncan M. 85 Descartes, René (1596–1650) 12, 28 Dharmakīrti (7. Jh.) 52, 198 Di Cosmo, Nicola 229 Diels, Hermann (1848–1922) 89 Dignāga (480–540) 90

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Personenindex Dühring, Eugen (1833–1921) 57–58, 60, 62–63 Dumoulin, Heinrich (1905–1995) 58 Dupont, Florence 237 Dutoit, Julius (1872–1958) 146 Eisenstadt, Shmuel N. 226, 228, 232 Emerson, Ralph W. (1803–1882) 16 Emmet, Dorothy 34 Engen, Darel 232 Falk, Harry 199 Falkenhausen, Lothar von 229, 230 Faure, Bernhard 56 Fenollosa, Ernest F. (1853–1908) 12 Foster, Benjamin R. 241 Foucault, Michel (1926–1984) 40, 59 Fox, Michael V. 241 Ganeri, Jonardon 198 Gàozǐ (4. Jh. v. Chr.) 113 Garfield, Jay L. 149 Gelbe Kaiser (Huángdì) 17 Gentz, Joachim 15, Gerhardt, Gerd 175 Gerhardt, Volker, 19, 20, 29, 31, 34, 63, 90, 119–138, 289 Gethin, Rupert 65 Gandhi (Mahātmā; 1869–1948) 81 Glahn, Richard von 235 Glasenapp, Helmuth (1891–1963) 191 Goethe, Johann W. von (1749–1932) 49 Gombrich, Richard 26, 74, 81 Goodman, Charles 91 Gorgias (ca. 485–375) 35–36, 42–43 Gotama (skt. Gautama) siehe »Buddha« Gyōnen (1240–1321) 17 Habermas, Jürgen 22, 199, 200, 201, 214– 216, 220–221, 234, 244 Habib, Irfan 229 Hán Fēi (281–233) 113, 197 Harrison, Paul M. 53 Harvey, Peter 55, 57, 76, 78, 82 Hashimoto Gahō (1835–1908) 14–15, 289 Hayashi Razan (1583–1657) 17 Hayashima Kyōshō 142 Hegel, Georg W. F. (1770–1831) 12, 17, 18, 121, 207–208

Heim, Maria 65, 74, 76, 85, 87, 88 Heraklit (ca. 500 v. Chr.) 17, 119 Hieronymus (347–420) 242 Hirata Atsutane (1776–1843) 17 Himmelmann, Beatrix 182 Höffe, Otfried 181 Holenstein, Elmar 208 Horn, Christoph 35, 42, 44, 171, 233 Horner, I[saline] B. 85 Houillon, Charles 59 Hoyer, Daniel 199, 226 Hruschka, Joachim 171, 186 Hsu Cho-Yun [Xǔ Zhuōyún] 230, 232 Hutton, Eric L. 248 Inoue Enryō (1858–1919) 11–19, 60, 69, 90, 197–198, 219–220, 224, 238–239, 240, 241, 243 Inoue Tetsujirō (1855–1944) 16 Itō Kunitake 239 Iwai Shōgo 22, 144, 147 Jaspers, Karl (1883–1969) 16–17, 21–22, 25, 121, 197, 199–220, 223–225, 227– 228, 240, 244 Jaspers, Werke: – Die großen Philosophen 16–17, 25, 201, 202, 206 – Die maßgebenden Menschen 16–17, 25, 201 – Kant: Leben, Werk, Wirkung 201 – »Kants Ideenlehre« 201, 203, 228 – »Max Weber« 219 – Philosophie (3 Bde.) 201 – »Philosophische Autobiogra­ phie« 201 – Psychologie der Weltanschauun­ gen 201 – »Über einen neuen Humanis­ mus« 224 – »Über meine Philosophie« 201, 212 – Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 197, 199, 200, 207 Jesus von Nazareth (ca. 0–30) 15–17, 25, 121, 124, 201, 207–208, 210 Joas, Hans 199, 207, 216, 226 Johnson, Mark 233

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Personenindex Jonas, Hans (1903–1993) 186 Kalupahana, David J. (1936–2014) 89 Kant, Immanuel (1724–1804) 5, 12, 16, 17, 18–19, 20–22, 24, 27–29, 33, 42, 49, 50, 57–58, 61, 66, 67, 70–73, 75, 76, 80, 81, 84–85, 87, 90, 113, 121–122, 125–127, 137, 167–193, 200–206, 211, 212–214, 217–218, 224, 227–228, 234, 240, 249 Kant, Werke: – Anthropologie in pragmatischer Hin­ sicht 5, 49, 50 – »Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« 218 – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 169–170, 175, 180, 185, 189, 190 – Kritik der praktischen Vernunft 72– 73, 176 – Kritik der reinen Vernunft 12, 27, 203, 228 – Kritik der Urteilskraft 185, 189 – Metaphysik der Sitten 67, 170, 175, 176, 178, 179 – Pädagogik 75, 126–127 – Rechtslehre 70, 170, 174–175, 179, 184, 187 – Religionsschrift 57, 61, 72 – Streit der Fakultäten 217, 224 – Theodicee-Aufsatz 72 – Tugendlehre 61, 71–72, 73, 170, 171, 174–178, 180, 183, 187, 188–189, 192 – »Über den Gemeinspruch« 218 – »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« 181 – »Verkündigung des nahen Abschlus­ ses« 214 – Zum ewigen Frieden 172, 185 Kapila (leg. Autor d. Sāṃkhya-kārikā) 17, 198 Keil, Geert 89, 90, 233 Kelsen, Hans (1881–1973) 20, 67–70, 73, 74, 88–89, 223 Keown, Damien 162 Kern, Iso 191 Kettler, Nina 82 Kirby, James N. 31

Knoblock, John 247–248 Knodell, Alex R. 231 Konfuzius (gest. 479 v. Chr.) 12, 15–19, 24–33, 37–38, 48–50, 55, 97–115, 121, 191, 197, 201, 209, 217, 220, 222, 237, 238, 240, 241, 243, 247; siehe auch im Sachregister: »Gespräche« Konfuzius, Schüler: – Cān siehe »Zēngzǐ« – Gōngxī Chì 100 – Jìlù siehe »Zǐlù« – Mǐn Zǐqiān 111 – Rǎn Bóniú 111 – Rǎn Qiú 100, 110, 111 – Rǎn Yǒu siehe »Rǎn Qiú« – Yán Huí 30, 100, 104, 106–107, 110, 111 – Yán Yuān siehe »Yán Huí« – Yóu siehe »Zǐlù« – Zǎi Wǒ 111 – Zēng Xī 100 – Zēngzǐ 109 – Zhònggōng 111 – Zǐcháng 112 – Zǐgòng 30, 100, 106–107, 111, 113 – Zǐlù 30, 100, 108, 109, 111, 114 – Zǐxià 99, 111 – Zǐyóu 111 – Zǐzhāng 99 Koorsgaard, Christine M. 174 Köster, Hermann 221, 247 Kracht, Klaus 49 Krause, Johannes 68 Kulke, Hermann 199 Küng, Hans (1928–2021) 170 Lakoff, George 233 Lamotte, Étienne (1903–1983) 238 Lǎozǐ (6. Jh. v. Chr.) 15, 17, 18, 197 Lask, Emil (1875–1915) 201 Leaviss J. 31 Lee, Thomas H. 55 Lerro, Bruce 228 Lewis, Mark E. 230 Línjì (jap. Rinzai; gest. 867) 56, 153 Liú Xiàng (77 v. –6 n. Chr.) 247 Liverani, Mario 228

267 https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

Personenindex Loewe, Michael 247 Löwith, Karl (1897–1973) 206 Mahāvīra (5. Jh. v. Chr.) 74, 142 Makkhali Gosāla (5. Jh. v. Chr.) 142 Mansvelt Beck, B. J. 237 McDermott, James P. 74, 86, 87 Mead, George H. (1863–1931) 34 Menzius (Buch und Autor; ca. 372–289) 38, 39, 103, 113, 197, 247 Miyake Setsurei (1860–1945) 16 Mori Mikisaburō 51 Mori Shōji 233 Moritz, Ralf 247 Mòzǐ (5. Jh. v. Chr.) 197 Mullins, Daniel A. 226 Nāgārjuna (ca. 150–250) 17, 66, 149, 197, 198 Nakamura Hajime (1912–1999) 26, 85, 93, 143, 144, 145–146, 147, 197, 217, 225, 234, 291 Ñānamoli Bhikkhu (1905–1960) 147 Narasimhan, Vagheesh M. 68 Needham, Joseph (1900–1995) 229 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 58–63, 66, 122–125, 137, 233, 249–250 Nietzsche, Werke: – Antichrist 59, 66, 124 – Ecce homo 61, 124 – Fröhliche Wissenschaft 61 – Geburt der Tragödie 122 – Genealogie der Moral 59 – Götzen-Dämmerung 59 – Zarathustra 60, 124, 233 Nigaṇṭha Nātaputta siehe »Mahāvīra« Nowak, Martin 173 Nussbaum, Martha 42 Nyanaponika Thera 147 Obeyesekere, Gananath 69 Olivelle, Patrick 59 Orphik 67, 69 Pakudha Kaccāyana (5. Jh. v. Chr.) 142 Parmenides (ca. 500–450) 17, 89, 119 Parpola, Asko 68 Parzinger, Hermann 235 Pascal, Blaise (1623–1662) 79

Péng (leg. Hofgelehrter d. Shāng-Dynas­ tie) 105 Philostratus von Athen (ca. 170–245) 36 Piaget, Jean (1896–1980) 40 Pigott, V. C. 230 Platon (geb. ca. 429–347) 17, 31, 34–38, 40, 43–45, 55, 57, 64, 120–121, 124, 127– 138, 197, 198, 224, 233, 237, 249 Platon, Dialoge u. Figuren: – Agathon (Symposion) 135 – Alkibiades (Dialog u. Figur) 130–135 – Apologie 26, 134 – Charmides (Dialog u. Figur) 35–36, 43, 44 – Diotima (Symposion) 135–137 – Gorgias 36; siehe auch »Gorgias« – Kritias (Charmides) 35–36 – Kriton (Phaidon) 138 – Laches (Dialog u. Figur) 32, 129 – Menon (Dialog u. Figur) 34–36 – Nikias (Laches) 129 – Nomoi 35, 38, 40, 57 – Politeia 31, 36, 38, 43, 134 – Polos (Gorgias) 36 – Phaidon 124, 135 – Sokrates siehe »Sokrates« – Symposion 134, 135–137 – Timaios 233 Plotin (204/5–270) 17 Pohle, Joseph 207 Ptolemaios I. (332–282) 237 Pūraṇa Kassapa (5. Jh. v. Chr.) 142 Pye, Michael 54 Pythagoreer 67, 69 Qí, Herzog von (reg. 685–643) 37 Qín, Erster Kaiser Chinas (reg. 221–206) 230, 237 Qiū siehe »Konfuzius« Ramsey, John 34 Rapp, Christof 42, 44, 236 Reddish, Jenny 199, 226 Rhys Davids, Caroline A. F. (1857–1942) 74, 85 Roetz, Heiner 71, 171, 223 Rosemont Jr., Henry 34

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Personenindex Rüegg, Walter 242 Salamun, Kur 207 Sañjaya Belaṭṭhiputta (5. Jh. v. Chr.) 142 Santuṭṭho Bhikkhu 144 Satō Atsushi 15 Schleiermacher, Friedrich (1768–1834) 35, 121, 131, 249 Schmitt, R. 230 Schulzer, Rainer 11, 12, 18, 60, 91, 169–193, 206, 219, 241 Schwegler, Albert (1819–1857) 12 Seldeslachts, Erik 53 Seok Bongrae 39 Shakyamuni (skt. Śākyamuni) siehe »Buddha« Sharma, R.S. 198, 238 Shaw, Sarah 63 Sherratt, Susan and Andrew 231 Shōtoku Taishi (gest. 622) 17 Shrimali, Krishna Mohan 229, 230, 232 Sīmǎ Qiān (2. Jh. v. Chr.) 38, 99 Singer, Marcus 181 Skorupski, Tadeusz 89 Slingerland, Edward 48, 233, 247 Sloterdijk, Peter 56, 64, 65, 244 Smith, Adam (1735–1790) 177 Snodgras, Anthony M. 231 Sokrates (gest. 399 v. Chr.) 12, 16–17, 19, 24–33, 34–37, 55, 91, 117–138, 197, 201, 209, 217, 222, 233, 236, 238, 240, 243 Sophokles (gest. 406 v. Chr.) 74 Spencer, Herbert (1820–1903) 12, 219 Spinoza, Baruch (1632–1677) 17 Stalnaker, Aaron 29 Stcherbatsky, Thodore F. (1866–1942) 52 Sugawara no Michizane (845–903) 17 Susemihl, Franz (1826–1901) 40 Sutton, Tara E. 39 Suzuki Daisetz T. (1870–1966) 289 Swanton, Christine 34 Takemura Makio 19, 20, 56, 62, 66, 92, 141–166, 233, 289 Tanaka Jun'ichirō 15, 286

Tathāgata 149; siehe auch »Buddha« Taylor, Rodney L. 64 Thales von Milet (geb. ca. 500 v. Chr.) 17, 119 Ṭhānissaro Bhikkhu [Geoffrey DeGraff] 27, 74, 82, 85 Thomas von Aquin (1225–1274) 17 Tomasello, Michael 39, 40 Tsuda Mamichi (1829–1903) 15 Uttley, L. 31 Vaihinger, Hans (1852–1933) 190 Vasubandhu (ca. 350–450) 197, 198 Vickers, Michael 36 Voegelin, Eric (1901–1985) 234 Wagner, Richard (1813–1883) 122 Waldbaum, Jane C. 229 Warda, Arthur 191 Watanabe Bunsaburō (1853–1936) 13, 286 Watsuji Tetsurō (1889–1960) 16 Weber, Max (1864–1920) 216, 219 Westerhoff, Jan 198 Wilhelm, Richard (1873–1930) 247 Wolff, Christian (1679–1754) 191 Wright, Wilmer C. 36 Xenophanes (ca. 565–470) 119 Xenophon (ca. 430–355) 127, 130 Xúnzǐ (Werk und Autor; ca. 298–238) 30, 37, 50, 113, 197, 198, 219–221, 233, 247–248 Yáng Zhū (ca. 3. Jh. v. Chr.) 197 Yáo (leg. Kaiser) 99 Yoshida Kōhei 19, 25, 30, 55, 99–155, 243, 289 Zarathustra siehe unter »Zoroaster« oder unter »Nietzsche, Werke« Zhū Xī (1130–1200) 17, 113, 114 Zhuāngzǐ (Werk und Autor; ca. 370– 300) 17, 50–51, 197, 198 Zimmer, Heinrich (1890–1943) 60 Zoroaster (vor 600 v. Chr.) 16, 58 Zotz, Volker 29, 58 Zysk, Kenneth G. 62

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Sachindex

Abendland, abendländisch 12, 29, 55, 89, 90, 202, 211, 239, 240 Aberglaube 54, 217, 219–220 Abhidharma, skt. 198; siehe auch »Scholastik, buddhistische« Absolute, das 17–18, 100, 239 Achämenidenreich (ca. 559–330) 230 Achse 206–210 Achsenmetapher 206–210 Achsenzeit 21, 195–244 Achtsamkeit 31, 63–64, 66, 86, 94, 160, 164 Achtung 104, 174, 177, 179, 182, 188 Adel 154 Āgama, skt. (Kanon) 143 Agnostizismus 25, 27 Ägypten 34, 69, 82–83 Fn, 120, 209, 222, 230, 233, 235, 238, 239, 241 ahiṁsā, pāli (Gewaltlosigkeit) 81 Ahnen 41, 48, 222; siehe auch »Vorfah­ ren« Akademie der Philosophie 11, 15, 19, 239 Alexandria 53, 236–267 Alleinheit 221 Allmendegütern 184 Alltagsbewusstsein 215 Alltagsmoral 171, 223 Alphabet 231, 232 Alter – hohes 43, 60, 93, 144, 146–147, 178, 189 – individuelles 35, 37, 47, 103– 104, 188 – Seniorität 38, 39, 47 Altorientalistik, altorientalisch 69, 209, 222, 241 Amoralismus 142

Analogie 21, 41, 44, 71, 81, 185, 205, 234 Angelpunkt 12, 207 Anstand 44–45, 47, 49–50; siehe auch »Etikette« Anthropologie 5, 32, 38, 59, 70, 75, 171, 178–179, 205 Anthropotechnik 64 Antisemitismus 62 Fn Arbeitsteilung 35–36, 231 aretē, gr. (Tugend, Exzellenz) 42; siehe auch »Tugend« Armut 175, 177, 188 Asien 131, 240 Askese, Asket 56, 58–59, 61, 63, 74, 78– 79, 141, 148, 154, 160, 162, 204, 232 Atheismus, Gottesleugnung 222, 223 Athen 36, 47, 123, 129, 131, 135, 236–237 ātman, skt. (pāli atta) (Selbst, Seele) 85, 159; siehe auch »Selbst« u. »Nicht-Selbst« Aufklärung 15, 17, 204–206, 214, 217, 219–220 Aufrichtigkeit 50, 109, 180 Autonomie 20, 31, 231 Axialität 225–226 Babylonien 120 Barmherzigkeit 16, 31, 75, 76, 164–166; siehe auch »Mitgefühl« Bedingtes Entstehen 143–145, 149, 153, 157–158 – als Karmalehre 158 – als Kausalgesetz 89 – Zwölfgliedrige Kette des 92–94, 143–145 Befangenheit 144, 151, 152, 162, 163 Befreiung 56, 61, 78, 86, 137, 142, 144, 147, 204

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Sachindex

Begierde, Gier 40, 60, 74–75, 87, 93–94, 144, 147, 149, 151, 155, 162, 165 Begriffsbildung 64, 204, 213, 224, 227–228 Beispiel, Beispielhaftigkeit, exempla­ risch 20, 32–33, 47, 49, 55, 58, 119, 121, 129, 138; siehe auch »Vorbild« Beruf 36, 42, 46, 111, 128, 133, 232 Fn Bescheidenheit 44, 105, 106, 109, 114, 161 Besonnenheit 29, 35–36, 43–45, 46, 161, 162, 201 Bevölkerungswachstum 228, 229, 231, 232, 235 Bibel 179, 207 Bibel, Teile: – Altes Testament 172, 220, 240 – Hiob 72 – Matthäus 85, 176 – Neues Testament 85, 176 Bildung 20, 26, 29, 40, 55, 103, 107, 114, 235 Bildungseliten 228, 232 Bildungshumanismus 200, 236–244 Bildungskontinuität 217, 243 brahman, skt. (Weltseele) 159 Brahmi 238 Bronzezeit 229, 231 Buddhismus; siehe auch unter »Philo­ sophie« u. »Ethik« – Hīnayāna, skt. (Kleines Fahrzeug) 53; siehe auch »Theravāda« u. »PāliBuddhismus« – Mahāyāna, skt. (Grosses Fahr­ zeug) 53, 149–150, 159, 160, 162, 164– 165, 166 – Pāli-Buddhismus 84, 160 – Theravāda, skt. (Schule der Alten) 146, 248 – tantrischer 53, 55 – Yogācāra, skt. 150 Buddhismus, Texte; siehe auch »PāliKanon« – Bǎoxìng lùn, chin. 164 – Buddhacarita, skt. 59, 198 – Chéng wéishí lùn, chin. 159

– Dàshèng qǐxìn lùn, chin. 198 – Lotos-Sutra 149, 164 – Mūla-madhyamaka-kārikā, skt. 149 – Nirwana-Sutra 164 Bürger 41–43, 47, 55, 70, 112, 126, 129, 153, 185, 235, 242 Buße 88 cetanā, pāli (Wollen, Intention) 65, 74, 88 Fn; siehe auch »Intention« China 50, 69, 99, 120; siehe auch unter »Philosophie« u. »Konfuzia­ nismus« – als achsenzeitliche Zivilisation 197–198, 204, 221, 229–232, 234– 235, 237 – Schriftkultur 113–114 China, Geschichte: – Shāng-Dynastie (ca. 17–11 Jh.) 69, 105 – Zhōu-Dynastie (ca. 1050–256) 55 – Epoche der Streitenden Reiche (ca. 500–221) 229 – Hàn-Dynastie (202 v. – 220 n. Chr.) 237 – Sòng-Dynastie (960–1279) 15, 55, 235 Charakter, Charakterbildung 19, 29, 33, 42–46, 55, 233; siehe auch »Tugend« und »Bildung« Christentum 16, 52–54, 59, 124, 138, 176, 187, 241, 242; siehe auch »Zeit­ rechnung« conditio humana, lat. 25, 28 dhamma, pāli (skt. dharma) (Ele­ mente, Faktoren, Entitäten) 143, 145, 162, 164 decor, lat. (Anstand) 45, 47 Fn; siehe auch »Anstand« Demokratie 128, 129–130, 132 Demut 72 Determinismus, karmischer 77–78, 92 Dialektik 18, 130 Dialog 90, 126–127, 135, 211; siehe auch im Personenindex »Platon«

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Sachindex

– konfuzianische 99–100, 102–103, 106–107, 108, 109, 114 Differenzierung 18, 152, 224, 227, 231–232 – soziale 42, 56, 231–232 dignitas, lat. (Würde) 46; siehe auch »Würde« Diskussionskultur 55, 90 Distanz 56, 60, 63, 64–65, 215 Diversifizierung, soziale 228, 231 Dogma, Dogmatik 126, 151, 163, 223, 240 – buddhistisch 29, 76, 80, 83, 87, 91 Drei Lehren, die 15, 18 Drei Schulungen (skt. śikṣā–traya) 160 Dualismus, Dichotomie 150, 151, 153, 162, 165 Durchbruch 165, 199, 206, 208, 211, 213–214, 223–224 – zur fortlaufenden Exegese 200, 236, 237 dynamis, gr. (Vermögen, Kraft) 42 Ehrerbietung / Pietät, kindliche (chin. xiào) 29, 38, 41, 101 Eigennutz 20, 30, 31, 72, 172, 177 Einheit 18, 121, 136, 201, 210–211, 221, 227–228 – der Tugenden 33, 35 Einsicht 26, 29, 30, 32, 39, 54, 60, 62, 79, 85, 88, 109, 115, 120, 127–128, 132, 137–138, 161, 190, 213, 218 – des Bedingten Entstehens 94, 143, 144, 146–147, 150 Einweihung 213 Eisenzeit 198, 200, 229–231, 235, 236 Eklektizismus 18 Elternliebe 42, 164 Entdämonisierung 215–216; siehe auch »Entzauberung« Entkirchlichung 217 Entspannung 64 Entwicklungspsychologie 40 Entzauberung 216–221, 222 episteme, gr. (Wissen) 138; siehe auch »Wissen«

Epistemologie siehe »Erkenntnistheo­ rie« Epoche, Epochenbegriff 125, 200, 211, 234 – der Achsenzeit 200, 204, 225– 226, 234 – der Moderne 204–205 – vorsokratisch 119–220 ergon, gr. (Werk, Funktion) 35, 42; siehe auch »Funktion« Erkenntnis 26, 47, 64, 78, 88, 92, 94, 120, 123, 131, 134, 136, 137, 144–147, 149, 150, 151, 202, 210, 213, 227 Erkenntnistheorie 27, 64 Erleuchtung 61, 102, 146; siehe auch »Erwachen« Erlösung 54, 56, 61, 62, 73–74, 86, 87, 88, 94, 100–101, 145–148, 149, 159, 204, 223; siehe auch »Selbster­ lösung« u. »Erwachen« Eros 135–136; siehe auch »Liebe« Erwachen (pāli bodhi) 32, 94, 102, 109, 140, 141, 142–150, 164, 165, 204, 211, 223 Erziehung 37, 40, 105, 129, 130, 136, 221, 224, 241, 242 Ethik 18, 20, 29, 197, 213, 215, 221; siehe auch »Tugendethik« u. »Rol­ lenethik« – alteuropäische 20, 34–37, 40– 47, 128 – buddhistische 19, 29, 73–76, 81–83, 85–86, 91–92, 160–165, 222–223 – kantische 21, 27, 42, 67, 70–73, 80, 87, 169–193 – konfuzianische 34, 37–40, 48–50, 101–102, 105–112 – monotheistische 222, 241 Etikette 48–50, 101 Fn, 222; siehe auch »Anstand« Eurasien 19, 21, 29, 208, 213, 226, 228, 235, 240 Europa 17, 28, 34, 57, 68, 211, 214, 240, 242 Eurozentrismus 209, 210, 240

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Sachindex

Evolution 12, 39–40, 214 Existenz, existenziell 18, 26, 27, 28, 32, 40 Fn, 46, 73, 75, 101, 109, 120, 121, 128, 144, 145, 153, 157, 209, 210, 223– 224, 225, 242, 289 Existenz, ontologisch 61, 71–72, 89, 122, 124, 129, 133, 137, 142, 145, 149, 186 Existenz, wiedergeboren 27, 62, 79, 86, 158 Existenzialismus, Existenzphiloso­ phie 19, 199, 200, 203, 212 Familie, familiär 26, 34–43, 48, 56–57, 60, 111, 114, 133, 141, 143, 154, 184 Fatalismus 142 Feindesliebe 187 Forschungsuniversität 11, 15 Fortschritt 22, 199, 204–206, 210–214, 217–218, 219, 224, 236 Freiheit 20, 21, 27, 31, 58, 70–71, 87, 129, 171–189, 193, 206, 212, 213, 224 Freude 62, 65, 71–72, 74, 75, 77–79, 83, 84, 86, 88, 104, 108, 110 Freund, Freundschaft 27, 31, 35, 38, 43, 80, 104, 108, 110, 137, 138, 182, 191 Freundlichkeit, freundlich 38, 75, 80–81 Funktion, Funktionalität 18, 20, 36, 42, 43, 44, 49, 50, 56, 76, 77, 133, 223 Fürsorge 38–39, 42, 76, 172 Gandhāra 90 Ganges 68, 198–199, 230 Ganzheit 201; siehe auch »Einheit« Garten siehe »Tempelgarten der Phi­ losophie« Gebet 17, 62, 100, 154, 217 Gebot 21, 46, 70–71, 82, 91, 92, 131, 160, 162, 176–178, 180–183, 187, 191, 192; siehe auch »Pflicht« – Zehn Gebote 162 Geburt 47, 57, 59–60, 93, 101 – Geburtsrecht, Ablehnung des 155–157 – und Tod 66, 69, 93, 136, 144–150 – Christi siehe »Zeitrechnung« Gedächtnis 94, 104, 135

Gedächtnis, kulturelles 199 Fn, 200, 217, 236, 238 Gegenwart 105, 123, 128, 130, 131, 132, 161, 204–205, 208, 211–212, 214, 217, 225, 243 Gehorsam 29, 35, 41, 48 Geist, menschlicher 19, 29, 31, 46, 59, 61, 63, 74–75, 79, 81, 83, 87–88, 94, 102, 135–137, 146, 149, 151, 153, 160, 161, 162, 164, 165 Geister 25, 79, 80, 114, 216, 220 Geistesgeschichte, -geschichtlich 43, 102, 197, 200, 208, 211, 225, 234 Geisteswissenschaft, -wissenschaftlich 203, 227–228, 239 Gelassenheit 64, 65 Fn, 75, 88 Geltung 17, 18, 22, 55, 76, 79, 80, 82 Fn, 120, 130, 136, 159, 186, 187, 192, 193, 200, 202–205, 210, 217, 219, 241, 243 Gemeingut 183 Gerechtigkeit 29, 36, 39, 43, 44, 101 Fn, 106, 215 – karmische 77, 82 – konnketive 83 Fn – vergeltende 67, 69, 70, 72, 187 Gericht 123, 135, 187 – inneres 70–71, 85 – Totengericht, Seelengericht 69, 234 Geschichte 204, 207–210, 212, 217– 218, 225, 227, 234, 235, 238, 239 – des Buddhismus 52, 54 – des Denkens u. der Philosophie 12, 125, 138 Geschichtsbewusstsein 225 Geschichtsphilosophie, -philoso­ phisch 203, 206, 207, 209–210 Geschichtswissenschaft, -wissen­ schaftlich 21, 225, 226, 227 Gesetz 40, 48, 70, 174; siehe auch »Kausalgesetz« u. unter »Kategori­ scher Imperativ« – Naturgesetz 89, 185 – Erlaubnisgesetz 177, 178, 183, 184, 187, 188

274 https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

Sachindex

Gespräche des Konfuzius (chin. Lúnyǔ) 25, 26, 28, 30, 32, 37, 48–50, 99–115, 237, 247 Gewalt 40, 71, 77, 155, 169, 174, 180 Gewaltlosigkeit (pāli ahiṁsā) 81 Gewissen 20–21, 70–73, 83–88, 161 Gewissenhaftigkeit, gewissenhaft 42, 43, 175 Gier siehe »Begierde« Glaube 28, 53, 78–79, 84, 101, 121, 124, 134, 138, 163, 213, 224, 241 Gleichheit 57, 91, 164, 177, 188–191 Globalisierung 209 Glück 65, 69, 71–73, 76, 77, 101, 104, 145, 147, 161, 171, 173, 175, 177, 178–179, 182; siehe auch »Freude« Goldene Regel 21, 82–83 Fn, 91, 169– 179, 186–188, 190–192 – negative und positive Form 178–179 – im Konfuzianismus 191 Gott, Gottheit 27–28, 53, 54, 55, 57, 72, 78, 79, 100, 124, 131, 137, 154, 156, 207, 212, 220, 233, 241 Götterwelt 88, 216 Gottkaiser 41 Göttliche, das, göttlich 28, 62, 70, 120, 121, 124, 128, 134, 136, 145, 164, 215, 220, 221, 223 Griechenland 69, 131, 194, 221, 231, 232, 240 Großreich 230 Fn, 231, 235, 236 Großzügigkeit 29 Gute, das 39, 45, 69, 72–73, 75–76, 81, 134, 136, 148, 150, 160, 162–163, 182, 202, 204, 213, 241 Güte, Gütigkeit 164, 175, 212, 238 Handel 230–231 Handeln, Handlung 20, 31, 35, 44, 82– 83 Fn, 111, 130, 136, 192; siehe auch »Reden und Handeln« – erlaubt vs. verboten 45, 69–71, 171– 186; siehe auch unter »Pflicht« – gut 76, 78, 85, 87, 160–165; siehe auch »Moral« und »Ethik«

Handlungsfolgen, -konsequenzn 73, 77, 84, 86, 87, 91–92; siehe auch »Kosequenzialismus« u. »Karma« Handwerk 36, 37, 43, 133, 157, 229, 231–233 Harmonie, Zusammenklang 38, 44, 48, 49, 80 Heil 25, 62, 78, 151 Heilige, das, heilig 215, 220, 223 – Person 17, 32, – Schrift, Text 55, 101, 236 Heiligkeit 57, 72, Heiligtum 17 Heilserwartung 222 Heilspragmatik 54 Heilsweg 29, 30, 61, 86 Hellenismus 90 Hermeneutik 18, 33, 208, 224, 228 Hīnayāna siehe unter »Buddhismus« Hinduismus 60, 159 Historie 227, 228; siehe auch »Geschichte« Historiker:in 33, 202, 228, 235 Historizität 204, 205 Hochkultur 198, 215, 221; siehe auch »Zivilisation« Hoffnung 65, 72, 73, 122, 212, 218 Höflichkeit 49 Hölle 73, 79 Humane, das, human 16, 28, 101, 108, 110, 112, 121, 133 Humanisierung 212 Humanismus, humanistisch 20–21, 26, 28–29, 30, 52, 54, 56, 64, 84, 87, 90, 121, 197, 200, 213, 221–223, 225, 235, 238, 241, 243; siehe auch »Bildungs­ humanismus« Humanität (lat. humanitas, chin. rén) 16, 19, 25, 30, 32, 33, 39, 46, 50, 101, 112, 113, 203, 209, 223, 242 Humanwissenschaft 39 Idealismus 12, 137 Ideal, ideal 37, 45, 46, 48, 72, 81, 109, 155 Idealität 201 Idee, regulative 18, 200, 201–203, 210, 227

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Sachindex

Ideengeschichte, -geschichtlich 68, 198 Fn, 199, 203, 214, 225, 228, 234, 235 Ideenlehre 137, 201, 227–228 Identität 131, 133, 149 Idiopragieformel 35–37, 47 Indien 28, 52, 53 Fn, 63, 64, 68, 69, 81, 120; siehe auch unter »Philosophie« – als achsenzeitliche Zivilisation 197–198, 204, 221, 229–232, 234– 235, 237 – geographisch 240 Indien, Geschichte: – Indus-Kultur (ca. 3300–1300) 199, 230 – Maurya-Dynastie (ca 4–2 Jh.) 230, 237 – Gupta-Reich (ca. 320–550) 198 Fn Individualität 102; siehe auch »Cha­ rakter« Individualismus 34 Indologie 234, 239 Industal 230 Integrität 32, 33, 101 Fn Intellekt, intellektuell 19, 44, 150, 200, 230 Fn, 232, 234, 236, 243 Intention 64, 74, 76–77, 84, 85 Ironie, ironisch 120, 121, 209 Irrationalität, irrational 216, 220 Islam 53 Italien 231, 242 Jainismus 52, 68, 74, 142 Japan, japanisch 12, 15, 16, 19, 21, 28, 41, 49, 62, 90, 141, 197, 224, 225, 235, 239–240, 241 Jenseits, jenseitig 20, 60, 63, 69, 73, 79, 81, 83, 114, 148–149, 151, 233–234 jindō, chin. (Weg des Humanen) 13; siehe auch »Humanität« Judentum, jüdisch 53, 54, 62 Fn, 124, 215 Jugend 38, 43, 47, 129 Junma 68 Kanon, kanonisch 17, 53, 54, 55, 143, 200, 201, 230 Fn, 237, 239, 244, 247, 248 Kanonisierung 236

Karma (pāli kamma) 19, 20, 21, 73–88, 89, 91–92, 166, 233 Fn; siehe auch »Vergeltung« u. »Handeln« – als Intention (pāli cetanā) 74, 76– 77, 84–85 – als Vergeltung 73, 77–78, 80, 84, 159 – als Handlung 156–159 Karmalehre 19, 21, 85–86, 92, 222 – ethische vs. soteriologische 76–86 – als Handlungstheorie 19, 141, 142 Fn, 153, 159 Kasuistik 188 Kategorischer Imperativ 21, 57–58, 169–171, 176, 178–179 – der Strafgerechtigkeit 187 – Gesetzes-Formel 179–186 – Naturgesetz-Formel 57, 185 – Reich-der-Zwecke-Formel 185, 190 Fn – Selbstzweck-Formel 171–175, 189, 192 Katholizismus, katholisch 54, 59, 90, 207 Kausalität, kausal 20, 21, 67, 91, 258, 92–94, 149, 158; siehe auch »Beding­ tes Entstehen« u. »Karma« – empirische, Prinzip der, Naturge­ setz der 77, 84, 88–90, 91, 144, 147 – Handlungskausalität 90, 158, 159 Keramik 141, 230, 232, 235 khandha, pāli (Kategorie, Aggregat) 64, 65, 93 Klassik, klassisch 105, 200, 201, 236 Klassiker, konfuzianische 37, 48, 191, 219, 237, 243, 247; siehe auch ein­ zelne Werke Kodifizierung 226 Kognition 150 Kommunikation, kommunikativ 32, 45, 80, 162, 172, 181, 206, 213, 216, 224 Komparatistik, komparativ 18, 234, 242 Fn; siehe auch »Vergleich« Konfuzianismus, konfuzianisch 15, 18, 19, 20, 37–41, 47–50, 55, 102, 110, 113 Fn, 114, 191, 221, 222, 237, 243

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Sachindex

– Neokonfuzianismus 39, 55, 114, 289 König:in 59 Fn, 69 Fn, 131, 140, 141, 153, 154, 157 Königsberg 12, 125 Königreich, Königtum 90, 108, 230, 231 Können 57, 133–134 Konsequentialismus 91–92, 159; siehe auch »Handlungsfolgen« Konsequenz (Tugend) 32, 33, 120 Kontinent 19, 208, 239, 240 Konzentration, mentale 64, 88, 163 Kooperation 172–173, 176, 188 Körper, körperlich 44, 45, 50, 59–60, 65, 77, 87, 137, 146, 161, 162 – und Seele 27, 61, 78 Körperfeindlichkeit 61, 62 Körperpflege 46, 92 Kosmos, Kosmologie 27, 44, 52, 83, 89 Krankheit 54 Fn, 77, 92, 111, 124, 146, 147, 189, 190 Krieg 129, 130, 209, 212, 214, 215, 230, 235, 237 Krieger 37, 157, 158 Krise 211–212 Kritik, kritisch 18, 30, 40, 55, 85, 104, 105, 123, 125, 127, 202, 203, 204, 214, 234 – der Religion 16, 58, 62, 124, 153– 157, 165, 200, 204 Kultivierung 29, 31, 60, 94; siehe auch »Selbstkultivierung« u. »Anthropo­ technik« Kulturkreis 20, 28, 53, 208, 213, 221, 230, 234, 236, 240 Kulturtechnik 243, 244 Kunst 15, 51, 52, 63, 124, 137 Kunstfertigkeit (gr. technē) 36, 46, 48, 233 Laie, Laizismus 53 Fn, 56 Fn, 60, 162 Laster 40, 46, 67, 69, 75–76, 79, 80, 85, 87, 92, 94, 109, 162 Lebensentwurf, -plan 31, 47 Lebensfeindlichkeit, -verneinung 60, 63

Lebensform 26, 28, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 63, 75, 79, 85, 99, 101, 104, 108, 110, 128, 136, 154, 155, 157, 172, 242 Lebensführung, -weise, -wandel, -pra­ xis 19, 29, 33, 45, 46, 50, 57, 58, 63, 79, 86, 88, 101, 103, 104, 110, 115, 128, 153– 155, 157, 158, 160, 165, 171, 182, 189 Lebenskunst 64 Fn, 92, 112, 113, 233 Lebenskurve 66 Lebensstadien (skt. āśrama) 60 Lebensweg 46, 47, 103, 104, 205 Lebenswerk, -aufgabe 124, 128, 244 Leere, Leerheit 140, 161, 163–164, 165, 166 Leid 27, 31, 54 Fn, 58, 61, 65, 67, 72, 73–74, 75, 76–78, 82, 84, 87, 91–94, 141, 144, 145, 146, 147, 158, 159, 160 Leidenschaft 43, 44, 161, 219 Lernen 30, 46, 60, 102–109, 110, 112, 114, 126, 160, 165 Lernprozess 103, 199, 215, 218, 221–222, 224, 234 Lesen 243–244 lǐ, chin. (Etikette, Riten) 48–50, 101 Fn, 222; siehe auch »Anstand« Liebe 16, 20, 31, 80, 131, 134, 135–136, 175, 188, 190 Liebe der Eltern 42, 164 Liebenswürdigkeit 76, 81 Liebespflicht 170, 176, 192 Lǐjì, chin. (Buch der Riten) 41 Logik 11, 21, 60, 74, 83, 89, 150, 180, 202, 205, 225 Logos 89, 204 Lohn der Tugend 72, 84, 88 Loyalität 41 Lüge 71, 74, 77, 81, 162, 169, 180–181, 187 lún, chin. (menschliche Bindungen) 38, 191 Lúnyǔ, chin. siehe »Gespräche« Lust 40, 43, 44, 71; siehe auch »Wol­ lust« Magadha 68 Magie, magisch 20, 62, 67, 88, 215– 217, 220 Mahāyāna siehe unter »Buddhismus«

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Sachindex

Makro-Perspektive 227 Materialismus, materialistisch 142, 236 Mathematik 202, 232 Meditation 31, 61, 63–64, 66, 86, 87, 94, 160, 163, 165 Meiji-Zeit (1868–1912) 18 Menschenbild 81, 113 Fn, 114 Menschenliebe 30–31, 32, 112 Menschheit 18, 27, 58, 120–121, 122, 128, 131–132, 157, 175, 177, 186, 187, 189, 190, 192, 200, 207, 209, 210, 211, 218, 235, 238, 241 Menschlichkeit 39, 201; siehe auch »Humanität« Menschsein 29, 190, 211, 212, 213 Mesopotamien 230, 239 Meta-Erzählung 213; siehe auch »Wis­ senschaftsmythos« Metapher 54 Fn, 74, 213, 233–234; siehe auch »Achsenmetapher« Metaphysik 11, 17, 18, 25–28, 30, 89– 91, 137, 142, 203, 204, 221, 223, 224, 225, 239 Mitgefühl 29, 31, 39, 76, 109, 164–165; siehe auch »Barmherzigkeit« Mitmenschlichkeit 20, 120 Mittel 58, 60, 123, 171–175, 176, 177, 182, 185, 186, 189, 192 Mittelalter 52, 119, 234 Mittelmeerraum 204, 231, 234, 235 Moderne, Modernität, modern 11, 15, 60, 64, 119, 121–124, 125, 127, 129, 130, 131, 134, 137, 138, 179, 199, 204–205, 210, 211, 214, 217, 240 Monastizismus 52, 57, 58, 61, 75, 82, 85, 86; siehe auch »Orden« Monotheismus, monotheistisch 16, 53–54, 55, 200, 215 Fn, 220–222, 225, 233, 235, 240, 241 Moral 17, 32, 71, 73, 75, 81, 85, 87, 91, 124, 160, 165, 169, 186, 203, 215–216, 221, 241; siehe auch »Ethik« – Alltagsmoral 171, 223 Moralphilosophie siehe »Ethik«

Moralität 32, 72, 74, 78, 94, 175, 189, 223; siehe auch »Tugend« u. »Ethik« Münzgeld 230–232 Mut 29, 50, 218; siehe auch »Tapfer­ keit« Mythos, Mythologie, mythisch 20, 48, 67, 88, 120, 128, 204, 215–217 Nachahmung 46, 50 Nächstenliebe 176 Narrativ 22, 202, 216, 218 Natur 46–47, 83, 113, 135–137, 172, 175, 177, 178, 185 – menschliche 113, 224 Naturphilosophie, -wissenschaft 25, 227 Neolithikum 209, 235 Nerañjarā 140, 145 Neuzeit, neuzeitlich 12, 27, 28, 33, 82, 119, 130, 171, 224, 234, 235, 239; siehe auch »Moderne« Nicht-Selbst 29, 159 Nichtwissen 25, 26, 94, 109, 114, 138, 210 Nihilismus 142, 165, 211 Nirwana (skt. nirvāṇa, pāli nibbāna) 66 Fn, 146–148, 161, 165; siehe auch »Erlösung« Nomaden 68, 229, 235 Norm, Normativität, normativ 20, 32, 34, 37, 42, 43, 82–83, 99, 113, 162, 200, 202–203, 205, 214, 223 Objektivität, objektiv 163, 205, 215, 219, 242 Offenbarung 53, 100, 101, 207, 208, 223 Okzident 12; siehe auch »Abendland« Ontologie, ontologisch 65, 89–90, 142, 162 Opfer (von Gewalt etc.) 57, 237 Opferritual 216 Opferspende 148, 152–154, 157 – Aufopferung, Opfertod 61, 123 – Blutopfer 217 – Menschenopfer 61 Oralität, oral 68, 93, 198, 238, 241, 243

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Orden 52, 56, 60, 92, 238; siehe auch »Monastizismus« Ordensperson 85, 87 Ordensregel 74, 82, 91, 143, 145, 146 Ordnung, kosmische 25, 44, 221 Ordnung, politische 40, 48, 128, 130, 186, 212 Orient 12, 240 Orthodoxie, orthodox 53, 54, 55, 61, 87, 93, 146, 236 Ostasien, ostasiatisch 11, 12, 15, 19, 20, 28, 30, 40–41, 49, 50, 52, 56, 57, 64, 114, 234, 235, 240 Pāli-Buddhismus siehe unter »Bud­ dhismus« Pāli-Kanon 26, 29, 55, 62, 77, 78, 79, 80, 82, 84, 143, 146, 237, 248 Pāli-Kanon, Teile: – Abhidhamma siehe »Scholastik« – Jātaka 145 – Nikāya 143, 146, 248 – Vinaya siehe »Ordensregel« Pāli-Kanon, Texte: – Acinteyya-sutta 78 Fn – Ariyapariyesana-sutta 146 – Bahudhātuka-sutta 89 Fn – Dhammacakkappavattana-sutta 233 Fn – Dhammapada (Dhp) 26, 30, 32 Fn, 65, 74, 76, 80, 81, 84, 85, 91, 160, 248 – Duccarita-vagga 85 Fn – Dutiyasāraṇīya-sutta 80 Fn – Gotama-sutta 146 Fn – Itivuttaka 85 Fn – Kesamutti-sutta 79 Fn – Kimatthiya-sutta 84 Fn – Mahākammavibhaṅga-sutta 78–79 – Manāpadāyī-sutta 80 Fn – Nacetanākaraṇīya-suttaṃ 88 – Nidāna-saṃyutta 93 Fn – Pubbesambodha-sutta 146 Fn – Sāmaññaphala-sutta 217 Fn – Sīla-sutta 79 Fn – Siṅgālovāda-suttanta 82 Fn

– Sīvaka-sutta 77 Fn – Suttanipāta (Sn) 59, 62, 91, 143, 147–148, 150–166, 233 Fn, 248 – Therīgāthā 63 Fn – Titthāyatana-sutta 78 Fn – Udāna 145 Fn Pantheon 16, 17, 52, 54 paṭicca samuppāda, pāli siehe »Bedingtes Entstehen« Patriarchat 40, 191 Peripatos 237 Persien, persisch 120, 131, 230 Fn Person 31, 32, 45, 49, 58, 61, 79, 87, 88, 101, 102, 189, 192, 233 Fn persona, lat. (Rolle) 45–46; siehe auch »Rolle« Perspektivenwechsel siehe »Wechsel« Pfeil-Gleichnis 27 Pferd 229, 235 Pflicht 38, 42, 45, 72–73, 74, 81, 83 Fn, 155, 182, 184, 188, 189, 190, 218 – gegen sich selbst 170, 192 – Heiratspflicht 57 – religiös 138 – schuldige, absolute, negative (Ver­ bot) 75, 170, 176–178, 180–183, 192 – verdienstliche, situative, posi­ tive (Gebot) 70, 75, 80, 176–178, 180–183 – zur Hilfeleistung, Wohltätigkeit, Wohlwollen, Liebe 170, 172, 175– 179, 192 – zur Aufrichtigkeit, Wahrhaftig­ keit 180 Philologie, philologisch 33, 54, 93–94, 197, 236, 237, 239, 242, 244 Philosophie 11, 16, 32–33, 55, 119–121, 130, 132, 138, 202–206, 212, 214, 217, 224, 226, 232, 235 – analytische 90, 225 – antike 34, 119, 198 – akademische 125, 217, 241–244 – buddhistische 18, 60, 90, 150 – chinesische 34, 191, 205, 233, 239 – europäische, abendländische 34, 55 119, 198, 202, 203, 239

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– griechische 37, 56, 88, 236 – indische 12, 90, 198, 239 – kantische 12, 19, 21, 73, 84, 169– 193, 201, 234 – komparative, vergleichende 18, 197, 206, 213, 225 – neuzeitliche, moderne 12, 33, 119, 137, 171 – östliche 11, 240 – praktische 5, 22, 25, 27, 28, 170, 184, 213–214, 217–218, 241 – theoretische 28, 90 – westliche 11–12, 55, 240, 241 Philosophieren 17, 26, 28, 119–120, 125–128, 224 Pietät 222 pistis, gr. siehe »Glaube« Pluralisierung 60, 232 Politik 34–43, 48, 112, 130–134, 212, 224 Porträt der Vier Weisen 12–15, 24, 286 Positionswechsel siehe »Wechsel« Postkolonialismus 219 Postmodernismus 219 Pragmatismus, pragmatisch 5, 44, 54, 78, 80, 205 prajñā, skt. (pāli pañña) (Weisheit) 160; siehe auch »Weisheit« Priester 12, 43, 59–62 – Brahmane, Priester (skt. brāhmaṇa) 143, 147, 148, 151–157, 159, 165 Priesterschaft, Priesterstand 52, 124, 153–157 Prophet, prophetisch 25, 53, 54, 55, 100–101, 204, 216, 220 Prosperität 235, 238 Protestantismus 54 Psychologie, psychologisch 31, 39, 40, 64–65, 71, 72, 74, 84, 87, 94, 221 Rad, Speichenrad 140, 157 Fn, 229, 233, 235 Recht 57–58, 70–73, 123, 174–175, 179, 181, 184, 187, 188, 212, 216 Rechtslehre 71, 184, 186, 187

Rechtspflicht 175–176, 186; siehe auch »Pflicht: schuldige« Rechtsprechung 21, 82, 234; siehe auch »Gericht« u. unter »Strafe« Rechtsstaat 174, 187 Reden und Handeln (Kommunika­ tion und Interaktion) 32, 76, 80, 112, 162, 172, 205–206 Reflexivität 204 Reinkarnation siehe »Wiedergeburt« Reiter 68, 230; siehe auch »Pferd« Relativismus 142 Religion, religiös 17, 20, 28, 52–54, 55, 60, 64, 66–70, 73, 75, 80, 81, 86, 88, 90, 102, 120, 124, 138, 141, 153– 154, 198, 204, 214–217, 219, 221–223, 225, 226, 234, 238, 240–241; siehe auch »Weltreligion« Religionssoziologie 22, 199, 200, 214 Religionsphilosophie 200, 212– 213, 223 rén, chin. siehe »Humanität« Reue 21, 84–85, 88, 112; siehe auch »Schuld« u. »Gewissen« Reziprozität 21, 82–83 Fn, 173; siehe auch »Wechselseitigkeit« Richtigkeit 32, 79, 202, 212 Riten (chin. lǐ) 48–50, 222 Ritual 48, 52, 54, 62, 114, 154, 216–217 Rolle 20, 56, 82, 112, 186, 191, 232, 242 Rollenethik 34–51, 191 Rollentausch 83 Fn; siehe auch »Wechsel« Romantik 62, 75 Römer 122, 198 Sakralisierung 215–216, 221, 226, Säkularisierung, säkular 64, 82, 209, 216, 222, 244 samādhi, pāli / skt. (Meditation) 160; siehe auch »Meditation« Scham 39, 48, 59–60, 162 Schamlosigkeit 47, 162 Schicklichkeit siehe »Anstand« Scholastik, buddhistische 64–65, 87, 89–90, 162

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Schönheit, das Schöne, schön 45, 75, 81, 134, 136, 150 Schrein der Vier Weisen 10, 11, 15, 16, 17, 238, 285, 286 Schreinfest der Philosophie 15, 17 Schriftgebrauch 231, 232, 235 Schriftkultur 236, 238, 243–244 – chinesische 113–114 Schuld 39, 61, 67, 70, 71, 72, 73–76, 77, 80, 84–88, 89, 151, 152, 187–188, 192 Schweigen 25, 26, 105 Seele 25, 30, 31, 44, 74, 88, 133, 137–138, 142, 159, 239 – körperlos 26, 27, 61, 69, 78, 114, 137 Seelengericht 68, 234 Seelenwanderung 137, 222; siehe auch »Wiedergeburt« Seelsorge 62 Seidenstraße 208 Selbst 30, 31, 61, 129, 132, 133, 134, 164– 166; siehe auch »Nicht-Selbst« Selbstannahme 31 Selbstbestimmung 20, 128, 223 Selbstbildung 28, 30, 48, 242 Selbsterkenntnis 20, 31, 32, 44, 85, 94, 109, 124, 128, 131, 133, 223 Selbstkultivierung 20, 29, 48, 50, 62, 92, 94, 171, 243; siehe auch »Übung« u. »Kultivierung« Selbstliebe 31 Selbstlosigkeit 30–31 Selbstprüfung 85, 132, 133 Selbstverhältnis 44, 71, 192 Selbstverständnis 48, 112, 127, 134, 222 – der Philosophie 241, 242, 244 Selbstverwirklichung 47 Selbstzweck siehe unter »Kategori­ scher Imperativ« Seniorität 39, 60, 191 Sexualität 46, 59–60 Shakya (pāli Sakya, skt. Śākya) 68, 141, 147; siehe auch »Skythen« Shǐjì, chin. (Aufzeichnungen des Chronisten) 38 Fn, 99 shù, chin. (Mitgefühl) 109; siehe auch »Mitgefühl«

Shūjīng, chin. (Buch der Urkunden) 69 sīla, pāli (skt. śīla) (Gebote, Moral) 160; siehe auch »Moral« Sinologie 34, 239 Skepsis, Skeptizismus 142, 168, 213 Skythen 68 Sophisten (5. Jh. v. Chr.) 35, 118, 232 Sorge 26, 30–31, 212 Spekulation 25, 27, 28, 147, 204, 225 Spiritualität, spirituell 60, 66, 86 Sprache 232, 242–244 – Arabisch 244 – Chinesisch 37, 244 – Griechisch 43, 244 – Hebräisch 244 – Indoeuropäisch 37, 38, 229 – Japanisch 239 – Latein 244 – Pāli 244 – Sanskrit 38, 90, 197, 198, 239, 244 Sri Lanka 52, 237 Standpunktwechsel; siehe »Wechsel« Sterben siehe »Tod« Stolz 105, 162 Strafe 40, 48, 67, 69–71, 73, 76, 77, 80– 83, 87, 88–89, 92, 170, 186 – Todesstrafe 26, 187 – Strafgerechtigkeit 73, 82, 187–188 – Strafjustiz 21, 223 – Strafrecht 40, 70, 71, 82 Streitwagen 229 Subjekt, Subjektivität, subjektiv 11, 29, 31, 56, 65, 72, 73, 102, 152–153 Subjektivierung 217 Subkontinent 237, 240 Substanz 30, 89, 159 Substanzlosigkeit 66, 164, 165–166 Synkretismus 18 Taktgefühl siehe »Anstand« Talionsprinzip 21, 82; siehe auch »Ver­ geltung« Talmud 57 Taoismus 15, 18, 50 Tapferkeit 43, 129; siehe auch »Mut« Tausch 83 Fn Täuschung 174

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technē, gr. (Kunstfertigkeit) 36, 223; siehe auch »Kunst« u. »Technik« Technik, Technologie 211–212, 213, 215, 224, 228–229, 232–233, 335 Tempelgarten der Philosophie 11, 15– 17, 198 Fn, 285 Theater 37, 45–46, 49, 122 Theodizee 77 Theologie, theologisch 25, 28, 59, 120, 134 Theravāda, skt. (Schule der Alten) 146, 248; siehe auch »Buddhismus« Thrakien 68 tit for tat, eng. 172; siehe auch »Vergel­ tung« Tod, Sterben 25–27, 58, 61, 63, 93, 159, 233 – als Übel 26, 144, 146–147 – Konfuzius' 107, 109, 113, 114 – danach 29, 65–66 Fn, 72–73, 78– 79, 107, 124, 159 – Sokrates' 120, 121, 124, 135, 136, 137–138 – Überwindung 65–66 Fn, 147– 149, 150 Tokyo Universität 11, 16 Fn, 219, 239, 286 Toleranz 53–54, 213 Totalität 201, 227 Totengericht siehe »Seelengericht« Toyo Universität 11, 15, 19, 286, 289 Tradition – abrahamitische 53; siehe auch »Monotheismus« – Autorität der 49, 53, 55, 204, 239, 241 – erfundene 63 – mündliche, orale 68, 93, 198, 238, 241, 242, 243 Tragödie 122, 128, 135 Transzendenz, transzendent 26, 28, 66, 70, 72, 78, 100–102, 134, 203– 204, 210, 212–213, 214, 216, 220, 221, 223, 233 Transzendieren 201, 213

Tugend 16, 19, 20, 26, 29–33, 34– 35, 38, 39, 41–43, 44–45, 48–49, 60, 62, 67, 70, 72, 76, 80, 84– 85, 87–88, 91, 92, 101, 106, 107– 108, 124, 129, 136, 154–155, 160, 171, 222, 238, 243; siehe auch Einzeltugenden: »Aufrichtigkeit« »Barmherzigkeit« »Bescheiden­ heit« »Besonnenheit« »Ehrerbie­ tung, kindliche« »Freundlichkeit« »Gerechtigkeit« »Integrität« »Mit­ gefühl« Tugendethik 29, 42–43 Tugendlohn 72, 84, 88 Übernatürlichkeit 25, 238 Übung 29, 50, 60, 64, 86, 94, 160; siehe auch »Selbstkultivierung« Unbeständigkeit siehe »Vergänglich­ keit« Ungleichheit 77, 188 Universalität, universell 18, 71, 89, 113, 202–203, 211, 226, 238, 243 Unwissenheit, Uneinsichtigkeit 26, 92–94, 144, 158, 162, 165; siehe auch »Nichtwissen« Unzurechnungsfähigkeit 189 Urbanisierung 200, 228–229, 231, 234– 235, 236 Urgeschichte 198 Ursache 75, 77–78, 89, 92, 94, 144–146, 162; siehe auch »Kausalität« Urteilskraft 32, 47 Uruvelā 145 Vairocana (Großer Sonnen­ buddha) 55 Veden, vedisch 68, 156, 159 Verallgemeinerung, Prinzip der 83 Fn, 171, 179–184, 189, 190, 192, 228 Verantwortung, verantwortlich 38, 42, 47, 91–92, 186, 210, 242 Verbindlichkeit 71, 177–179, 188; siehe auch »Pflicht« Verbot 21, 70–71, 91, 162, 169, 176–178, 180–183, 187; siehe auch »Pflicht« Verdienstlichkeit siehe unter »Pflicht« Vergänglichkeit 65–66, 94, 144

282 https://doi.org/10.5771/9783495998359 .

Sachindex

Vergeistigung 61, 204, Vergeltung 20–21, 29, 56, 67–70, 70–73, 76–88, 92, 142, 158–159, 172, 187–188, 217, 222–223; siehe auch »Karma« Verinnerlichung 74, 75, 84, 87 Vergleich, vergleichend 18, 34, 37, 49, 50, 53, 54, 197, 198, 206, 213, 225–227, 228, 232, 233, 240; siehe auch Komparatistik Verneinung 63, 149, Vernunft, vernünftig 11, 28, 44, 46, 89, 126–127, 169, 192, 205–206, 242 Verstädterung siehe »Urbanisierung« Vier Weisen, die 10, 11–17, 19, 21, 197, 224, 238–239, 240, 241, 286–287 Vinaya, pāli u. skt. siehe »Ordensre­ gel« Völkerrecht 212 Vorbild, Vorbildlichkeit 20, 43, 47–49, 87, 114, 126, 160, 242–243; siehe auch »Beispiel« Vorfahren 47, 114, 222; siehe auch »Ahnen« Vorsokratiker 21, 119–120 Waffen 229, 230, 235 Wahrhaftigkeit 85, 180 Wahrheit 15, 18, 65, 66, 79, 81, 92, 124, 153, 161, 182, 202–203, 204, 205, 212, 213, 217, 227, 241; siehe auch »Gel­ tung« – absolute, kosmische, höchste 55, 66, 147, 149 – empirische 18, 202 – religiöse 53, 80 Wechsel – der Perspektive 189–191 – des Standpunkts 21, 91, 189 Wechselseitigkeit 21, 41, 71, 72, 82 Fn, 131, 171–178, 180, 182, 185, 187–191 Weg 16, 125, 132, 204, 205, 210, 211, 212, 217, 227 – buddhistisch 27, 54 Fn, 55, 56, 61, 74, 86, 94, 142, 144, 150, 153, 163, 165 – der Mittlere 140, 149 – des Himmels 25, 69, 113, 221

– des Menschen 212, 221 – konfuzianisch 101–103, 106, 108– 110, 112 Weisheit 20, 30, 32, 43, 69, 91, 94, 109, 120, 125, 146, 149, 152, 160, 165, 206, 212, 214, 222, 238, 241, 244 Weltabwendung 20, 63 Weltgeschichte 122, 124, 199, 200, 206– 209, 210, 211, 217, 224, 235, 236, 239 Weltordnung 212 Weltphilosophie 16–18, 239 Weltreligion 53–54, 165, 169, 204, 223 Weltseele 159, 221 Weltweise, Weltweisheit 15, 17, 28, 33, 125–126, 169, 171 Weltwissen 215 Wert 32, 61, 141, 142, 200, 202, 205, 211, 239 – des Lebens 57–58, 62 – der Familie 57 – einer Handlung 69, 85, 91 Wertfreiheit 219 Wertung, Bewertung 19, 30, 205, 219 – in den Gesprächen 100–103, 105, 106, 110 Wettkampf 191–192 Wiedergeburt, Reinkarnation 29, 67– 73, 75, 78–79, 83, 84, 86, 87, 142, 144, 154, 157–159, 222 Wiedervergeltung siehe »Vergeltung« Wille 20, 30, 72, 161, 174, 179, 183, 185, 206 – göttlicher 28, 222, 241 – guter 76, 80, 206 – letzter 15 Willenskraft 75, 88 Willkür 70, 174 Wollen 57, 62–63, 65, 74, 88, 176, 210; siehe auch »Kategorischer Impera­ tiv: Gesetzes-Formel« Wirtschaft 215, 231, 235, 236 Wirtschaftswissenschaft 183–184 Wissen 18, 25–26, 39, 61, 78–79, 109, 114, 121, 132, 133–134, 136, 138, 144, 146–147, 151, 171, 206, 210, 227

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Sachindex

Wissenschaft 120, 122, 124, 125, 203, 205, 217, 235; siehe auch Einzelwis­ senschaften – empirische 125, 202 – und Technik 211–213, 224 Wissenschaftsmythos 219; siehe auch »Meta-Erzählung« Wohltätigkeit 62, 76, 87, 172, 177– 178, 180 Wohlwollen 31, 33 Fn, 175–177 Wollust 60, 74, 87 Wundertaten 32, 220 Würde 46, 58, 173–174, 177, 182, 190 wú-wéi, chin. (nicht-handeln) 48 xìn, chin. (Integrität) 101 Fn; siehe auch »Integrität« yì, chin. (Gerechtigkeit) 39, 101 Fn; siehe auch »Gerechtigkeit«

Yoga 63–64 Zeitalter 183, 198, 205, 211, 225 Zeitrechnung 124, 197, 207–209, 210 Zen 11, 56, 102, 153 Zeremonie der Philosophie 11, 12, 15, 17 zhōng, chin. (Aufrichtigkeit) 109; siehe auch »Aufrichtigkeit« Zhōngyōng, chin. (Mitte und Maß) 191 Fn Zivilisation 53, 64, 65, 114, 198, 212, 226, 229, 230, 234, 235, 236, 240 Zölibat 56–58, 60, 62 Zorn 51, 80, 155, 162, 165 Zufriedenheit 72, 92 Zweck siehe »Kategorischer Impera­ tiv: Selbstzweck-Formel« Zwecksetzung 173 Zypern 231

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Bild- und Textnachweise

Umschlag: Die Titelseite des Buches zeigt den Ausschnitt einer ursprüng­ lich querformatigen Zeichnung mit dem Titel »Die Acht Aussichten des Schreins der Philosophie« gemalt von Ishimoto Shūen aus dem Jahr 1904. Eine vollständige Abbildung mit Erklärungen des von Inoue Enryō in Auftrag gegebenen Werkes ist enthalten in Schulzer (1919, 111–115). Das digitale Derivat unterscheidet sich vom Original nicht nur hinsichtlich Ränder, Farben und Textur, sondern auch die Überschrift und einzelne Schriftzeichen wurden gelöscht. Das Rundmotiv auf der Buchrückseite zeigt einen mit dem Schriftzeichen für Philosophie (jap. tetsu) verzierten Endziegel der Traufe des »Tors der Metaphysik« im Tempelgarten der Philosophie. Für die digitale Modifikation des Bildma­ terials bin ich meinem ehemaligen Studenten Ridho Ahmad Pratama herzlich dankbar. Die Umsetzung und Gestaltung des Buchumschlags verdanke ich der Graphikabteilung der Nomos Verlagsgesellschaft.   Epigraph 1: Die Reflexion (ca. 1776–1778) aus dem Handschriftlichen Nachlass: Metaphysik (AA 18:30) lautet vollständig zitiert: »Philosophie ist wirklich nichts anderes als eine praktische Menschen-Kenntnis; alles andere ist die Kentnis der Natur und eine Vernunftkunst; aber die obrigkeitliche Würde über die Menschliche Vernunft und alle Krafte, so fern sie ihr unterworfen sind, kommt der Philosophie zu. O! es ist zu bedauren, daß wir diese Bedeutung schwinden lassen. Ohne solche unterscheidende Benennung ist diese Kenntnis nicht von anderen ausgesondert, und es giebt keine wirkliche Lehre der Philosophie.«   Epigraph 2: Der Satz, aus dem das zweite Epigraph herausgelöst wurde, lautet vollständig: »Ich ziehe hier nur die redenden Künste: Beredsamkeit und Dichtkunst, in Betrachtung, weil diese auf eine Stimmung des Gemüths angelegt sind, wodurch dieses unmittelbar zur Thätigkeit aufgeweckt wird und so in einer pragmatischen Anthropologie, wo man den Menschen nach dem zu kennen sucht, was aus ihm zu machen ist, ihren Platz hat.« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798, AA 7:246)

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Bild- und Textnachweise

  Abbildung 1: Die ältere der beiden gleichnamigen Bildrollen mit dem Titel »Porträt der Vier Weisen« aus dem Jahr 1885 stammt von Watanabe Bunsaburō (1853–1936). Die Kalligraphie im oberen Teil des Bildes wurde von Nakamura Masanao (1832–1891) hinzugefügt, der Inoue Enryōs Lehrer für chinesische Philosophie an der Tokyo Universität war. Der Text über dem Gedicht 2 (siehe unten) besagt: »Der Magister für Lite­ ratur Herr Inoue ließ dieses Porträt der Vier Weisen anfertigen und bat mich um die Bildverse. Die Vier Weisen sind Buddha und Konfuzius sowie Sokrates und Kant.« Unterschrieben sind die Verse: »Dezember des Jahres 8 der Aufgeklärten Regentschaft, [Hofbeamter] fünften Ranges Nakamura Masanao.« Die Photographie zeigt eine Reproduktion im Besitz des Inoue Enryo Philosophy Centers (Toyo Universität), mit des­ sen freundlicher Genehmigung die Abbildung erfolgte. Das Original gilt als verschollen. (S. 13)   Abbildung 2: Das zweite, ebenfalls von Inoue Enryō in Auftrag gegebene Bild der Vier Weisen wurde um das Jahr 1895 von Hashimoto Gahō (1835–1908) angefertigt. Eine Diskussion der Entstehungsumstände und Vorbilder des kunsthistorisch wertvoller eingeschätzten Werkes bietet Tanaka (2018). Gedicht 1 war von Inoue Enryō als Bildvers für das Werk vorgesehen. Die Kalligraphie wurde aber aus unbekannten Gründen der Bildrolle nie hinzugefügt. Das Original befindet sich im Besitz des Inoue Enryo Philosophy Centers (Toyo Universität), mit dessen freundlicher Genehmigung die Abbildung der Photographie erfolgte. (S. 14)   Gedicht 1: Das Gedicht mit dem Titel »Der Schrein der Vier Weisen« stammt aus der Feder des chinesischen Intellektuellen Kāng Yǒuwéi (1858–1927), den Inoue Enryō auf seiner zweiten Weltreise am 20. Dezember 1902 in der nordindischen Stadt Darjeeling traf. Die auf Bitte Inoue Enryōs in Darjeeling entstandene Kalligraphie Kāng Yǒuwéis wurde in der November-Ausgabe 1904 der Zeitschrift »Östliche Philosophie« (Tōyō tetsugaku) in Japan abgedruckt. Zum Verhältnis des Gedichts zur Abbildung 2 siehe oben. Die deutsche Übersetzung dieses und der folgenden Gedichte stammen vom Autor. (S. 10)   Gedicht 2: Das Gedicht wurde von Nakamura Masanao um das Jahr 1885 als Bildvers für Watanabe Bunsaburō's »Porträt der Vier Weisen« (Abbildung 1) komponiert. Genaueres siehe oben. (S. 24)

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Bild- und Textnachweise

  Gedichte 3–7: Die Gedichte 3 bis 7 sind ein Verszyklus gedichtet von Inoue Enryō im Januar 1907. In der ursprünglichen Reihenfolge der Gedichte folgt auf Buddha zuerst Konfuzius, dann Sokrates und Kant. Die chinesischen Gedichte mit japanischer Umschrift sind wiederabge­ druckt in Inoue (1907, 580–582). (S. 98/118/140/168/196)   Textbeiträge: Die drei Aufsätze zu Konfuzius, Sokrates und Buddha wurden für diesen Band verfasst. Die Texte der zwei japanischen Autoren wurden vom Buchautor ins Deutsche übertragen. Angaben zu den Autoren finden sich am Ende des Buches.

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Über die Autoren

Yoshida Kōhei (geb. 1942) ist Professor Emeritus der Toyo Universität und einer der bedeutendsten Experten für chinesische Philosophie im gegenwärtigen Japan. Als Schüler des Ausnahmegelehrten Araki Kengo (1917–2017) steht er in einer Linie konfuzianischer Denker, die bis in das frühneuzeitliche Japan zurückreicht. Seine zahlreichen Publikationen konzentrieren sich auf den Neokonfuzianismus Wáng Yángmíngs, dessen lebensnahen Charakter er vorlebt und lehrt.   Takemura Makio (geb. 1948) ist buddhistischer Gelehrter und Professor Emeritus der Toyo Universität, deren Präsident er während dreier Amts­ zeiten zwischen 2009 und 2020 war. Als Enkelschüler von Suzuki T. Dai­ setz (1870–1966) vertritt er einen systematisch interessierten Buddhismus im Dialog mit Philosophie und Wissenschaft. Er hat über vierzig Bücher zu allen wichtigen Schulen des ostasiatischen Buddhismus geschrieben. 2007 wurde ihm der Nakamura-Hajime-Preis für Orientalistik verliehen.   Volker Gerhardt (geb. 1944) ist Professor Emeritus der Humboldt-Uni­ versität zu Berlin und zählt zu den tiefgründigsten Stimmen der gegen­ wärtigen Philosophie in Deutschland. In seiner existentiellen Denkbewe­ gung hat er alle großen Problemfelder der Philosophie abgeschritten. Während der Jahre 2001 bis 2012 brachte er seine auf dem Prinzip der Selbstbestimmung (1999) gründende Ethik in die Arbeit des Nationalen bzw. Deutschen Ethikrates ein. 2022 wurde ihm der Karl-Jaspers-Preis der Universität Heidelberg verliehen.   Rainer Schulzer (geb. 1975) hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Philosophie, Japanologie und Sinologie studiert und sich bei Volker Gerhardt in Philosophie promoviert. Seine Dissertation mit dem Titel Inoue Enryō: A Philosophical Portrait erschien 2019 bei SUNY Press. Seit 2018 ist er Assoc. Professor für Philosophie an der Toyo Universität in Tokyo. Sein Arbeitsgebiet ist die vergleichende Ethik.

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