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German Pages 361 [372] Year 2011
Regula Schmidlin Die Vielfalt des Deutschen: Standard und Variation
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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De Gruyter
Regula Schmidlin
Die Vielfalt des Deutschen: Standard und Variation Gebrauch, Einschätzung und Kodifizierung einer plurizentrischen Sprache
De Gruyter
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrats Freiburg/Fribourg.
ISBN 978-3-11-025124-1 e-ISBN 978-3-11-025125-8 ISSN 1861-5651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Schmidlin, Regula. Die Vielfalt des Deutschen, Standard und Variation : Gebrauch, Einschätzung und Kodifizierung einer plurizentrischen Sprache / by Regula Schmidlin. p. cm. -- (Studia linguistica Germanica ; 106) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-025124-1 (alk. paper) 1. German language--Standardization. 2. German language--Variation. 3. German language--Lexicology. I. Title. PF3074.7.S357 2011 437--dc23 2011027859
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Im April 2002 fand an der Universität Regensburg ein Symposion mit dem Titel Sprachidentität – Identität durch Sprache statt. Die Veranstaltung begann mit einer Podiumsdiskussion mit Experten, die verschiedene Sichtweisen auf die deutsche Sprache vertreten sollten. Darunter waren auch Peter Wiesinger aus Österreich und Heinrich Löffler aus der Schweiz, die ihre so genannte „Aussensicht des deutschsprachigen Auslands“ (Näßl 2003:19) auf die deutsche Sprache in die Diskussion einbringen sollten. Wie ist das zu verstehen? Wie kann man eine Sprache von aussen betrachten, zu deren Sprachgemeinschaft man selber gehört? Wie weit aussen an der deutschen Sprache ist man als Schweizer oder Österreicher? Die Ankündigung der Österreicher und Schweizer Perspektive als Aussenperspektive wurde im Verlauf des Gesprächs von Wiesinger und Löffler zwar moniert – schliesslich gehören Österreich und die Deutschschweiz zum gesamtdeutschen Sprachgebiet und trugen, wie in der germanistischen Sprachwissenschaft hinlänglich bekannt ist, massgeblich zur Herausbildung und Konstitution der deutschen Standardsprache bei (Näßl 2003:21).1 Dennoch bleibt die Frage, wie es zu dieser Vorstellung des Innen und Aussen einer Sprache, des Deutschen, kommen kann. Dieser Vorstellung zufolge ist die deutsche Sprache in Deutschland beheimatet und ausserhalb Deutschlands ein Fall für die Auslandsgermanistik.2 In dieser Deutlichkeit wird das heute niemand mehr behaupten wollen. Doch hinter einem harmlos erscheinenden rhetorischen Hinausschubsen von Teilen der Sprachgemeinschaft, die einer anderen Nation angehören, aus dem Zentrum einer Sprache steht, wenn
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Auch der Schweizer Literaturwissenschaftler Michael Böhler berichtet von einem Kongress, an dem sein Referat in eine Sektion mit der Bezeichnung Länderspezifische Varianten der Aussenbetrachtung eingeteilt worden war (Böhler 1985:34). Vgl. ferner den Titel der Reihe Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Ausland, in welcher die Untersuchungen von Stephan Kaiser 1969/79 zum Schweizerhochdeutschen erschienen. Ob die ostdeutsche Sicht auch als Aussensicht gehandelt worden wäre, wenn Näßls Band vor 1989 erschienen wäre, bleibt offen. Die Sicht der Vertreterin aus dem Osten wurde mit Bundesdeutsche Sicht (Ost) auf die deutsche Sprache umschrieben, diejenige der Vertreterin aus dem Westen mit Bundesdeutsche Sicht (West) auf die deutsche Sprache. (Näßl 2003:19f)
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Vorwort
nicht eine Form sprachlichen Nationalismus, so doch das Unverständnis gegenüber sprachlicher und damit kultureller Variation. Österreich und die Schweiz werden gerne rhetorisch aus dem deutschen Sprachgebiet gedrängt, weil dort ein anderer Umgang mit Standard und Dialekten – notabene deutschen Dialekten – gepflegt wird und die Standardsprache andere Wörter und andere Aussprachegewohnheiten kennt als der entdiglossierte Norden Deutschlands bzw. als entdiglossierte Sprecher aus ganz Deutschland (vielleicht mit Ausnahme Bayerns). Übrig bleibt der Besitzanspruch einer Sprache durch eine Nation – ein dem aufgeklärten Menschen des 20. und 21. Jhs. widerstrebender Gedanke. Der Sprachrealität ungleich näher als diese monozentrische normative Sicht kommt das Konzept der Plurizentrik von Standardsprachen. Es trägt dem Umstand Rechnung, dass Standardsprachen überall, wo sie National- oder Amtssprachen sind, aufgrund politischhistorischer Eigenentwicklung der Variation unterliegen. Inwiefern der Plurizentrik des Deutschen in der Lexikographie bislang Rechnung getragen worden ist, wie sie sich in öffentlichen schriftlichen Texten präsentiert und in welchem Masse sie in Spracheinstellungen von Sprecherinnen und Sprechern aus dem ganzen deutschen Sprachraum aufscheint, sind die Themen der vorliegenden Studie. Diese Studie wurde als Habilitationsschrift im Rahmen meiner Assistenz am Deutschen Seminar der Universität Basel erarbeitet. Die Konzeptualisierung der Arbeit wurde in ihren verschiedenen Phasen von Prof. Heinrich Löffler begleitet, dem ich für sein konstruktives Mitdenken und seine umfassende Unterstützung dankbar bin. Meinen langjährigen Basler Kollegen PD Dr. Hans Bickel, Dr. Markus Gasser und Dr. Lorenz Hofer des Projekts Wörterbuch der nationalen Varianten des Deutschen danke ich für eine Arbeitsatmosphäre, in der sich meine Begeisterung für die Lexikographie sowie das theoretische Interesse an der Thematik der Plurizentrik von Standardsprachen entfalten konnte. Prof. Ulrich Ammon danke ich für die theoretische Vorarbeit im Untersuchungsbereich der Plurizentrik von Standardsprachen. Ohne sie wäre weder das Variantenwörterbuch in der kurzen Bearbeitungszeit noch die vorliegende Studie entstanden. In vielen Gesprächen konnte ich ferner von meinem Gastgeber Prof. Peter Mühlhäusler an der Universität von Adelaide, Australien, wo ich ein halbes Jahr als Visiting Research Fellow verbrachte, vieles lernen, was meinem Schreiben neue Perspektiven eröffnete.3 Von grosser Wichtigkeit war ein mehrtägiges
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Der Leonardo-Stiftung, Basel, der Janggen-Pöhn-Stiftung, St. Gallen, sowie der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft, Basel, danke ich herzlich für die finanzielle Ermöglichung des Studienaufenthaltes in Australien im Jahre 2003.
Vorwort
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Treffen mit dem inzwischen leider verstorbenen Prof. Michael Clyne † an der Universität Melbourne, Australien, der die Forschung auf dem Gebiet der Plurizentrik von Standardsprachen während Jahrzehnten entscheidend prägte. Die Herzlichkeit, mit der er mich empfing, bleibt mir unvergessen. Zahlreichen Kolleginnen und Kollegen verdanke ich Kommentare zu Prototypen des Fragebogens, mit dem ich die Einschätzung des Deutschen als plurizentrische Sprache erhob.4 Sämtliche Mängel des Fragebogens fallen natürlich auf mich selbst zurück. Dankbar bin ich den über 900 Gewährspersonen, die den Fragebogen ausfüllten. Michael Mittag danke ich für die Unterstützung bei den statistischen Auswertungen (Kap. 5.2.1. und 5.3.3.). Bei der Ausarbeitung des Manuskripts habe ich von Kritik und Anregungen von Dr. Lorenz Heiligensetzer und PD Dr. Hans Bickel profitiert. Der Gutachterin und den Gutachtern, namentlich Prof. Annelies Häcki Buhofer, Prof. Heinrich Löffler, Prof. Stephan Elspaß und Prof. Beat Siebenhaar, danke ich für zahlreiche wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der vorliegenden Studie.5 Der Herausgeberin und den Herausgebern der Reihe Studia Linguistica Germanica, namentlich Prof. Christa Dürscheid, Prof. Andreas Gardt, Prof. Stefan Sonderegger und Prof. Oskar Reichmann, danke ich für die Aufnahme meines Manuskripts. Alexandra Schiesser gebührt mein Dank für die sorgfältige Durchforstung des Manuskripts nach Druckfehlern und anderen Ungereimtheiten. Für alle verbliebenen Mängel des Manuskripts trage ich selbst die Verantwortung. Dem Lektorat/Programmbereich Sprachwissenschaft/Kommunikationswissenschaften des Verlags de Gruyter, namentlich Birgitta Zeller-Ebert, Henriette Slogsnat, Cornelia Saier und Norbert Alvermann, danke ich für die Unterstützung bei der Herstellung der Druckversion. Dem Hochschulrat Freiburg/Schweiz danke ich für den grosszügigen Beitrag an den Druckkostenzuschuss. Ohne die grosse familiäre Unterstützung, die mir zuteil wurde, wäre mein Habilitationsprojekt nicht möglich gewesen. Ich danke meinem Mann Lorenz Heiligensetzer, Nonna Madeleine Perler und Nonno Werner Schmidlin sowie Oma Trees Heiligensetzer und Opa Heinrich Heiligensetzer. Meinen Kindern Menga und Linard danke ich für ihre Flexibilität. Freiburg/Fribourg und Basel, im Sommer 2011 4
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Alphabetisch nach Vornamen: Prof. Annelies Häcki Buhofer, PD Dr. Hans Bickel, Prof. Heinrich Löffler, Prof. Helen Christen, Dr. Ingrid Hove, Dr. Lorenz Heiligensetzer, Dr. Lorenz Hofer, Dr. Markus Gasser, Dr. Mirjam Egli, Dr. Ruth Esterhammer, Prof. Stephan Elspaß. Die Arbeit am Manuskript wurde Ende Dezember 2008 abgeschlossen. Später erschienene Studien zur vorliegenden Thematik konnten nur punktuell berücksichtigt werden.
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Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen A: A-mitte: A-ost: A-südost: A-west: CH: D: D-mittel: D-mittelost: D-mittelwest: D-nord: D-nordost: D-nordwest: D-ost: D-süd: D-südost: D-südwest: DUW: GP: GWDS: Jh.: ÖWB: VWB:
Österreich Oberösterreich und Salzburg Burgenland, Wien, Niederösterreich und Teile der Steiermark Teile der Steiermark, Kärnten und Osttirol Vorarlberg, Tirol und Teile Salzburgs deutschsprachige Schweiz Deutschland Mitteldeutschland (s. D-mittelwest und D-mittelost) Thüringen, Sachsen und Teile von Sachsen-Anhalt Nordrhein-Westfalen, Hessen und Teile von Rheinland-Pfalz Norddeutschland (s. D-nordost und D-nordwest) Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg und Teile von SachsenAnhalt Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen Ostdeutschland (s. D-nordost und D-mittelost) Süddeutschland (s. D-südwest und D-südost) Bayern Baden-Württemberg, Saarland und Teile von Rheinland-Pfalz Duden Deutsches Universalwörterbuch Gewährsperson(en) Duden. Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache Jahrhundert Österreichisches Wörterbuch Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon et al. 2004)
Übereinstimmend mit dem VWB erfolgt die Angabe mehrerer Geltungsareale ohne Interpunktion, z.B. Säge A CH D-süd.
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII
1. Nationalsprachen und Plurizentrik aus der Laien- und Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
2. Zur Abgrenzbarkeit von Sprachen und zur Bildung von Sprachgemeinschaften in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11
3. Variation und Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.1. Standardsprache aus linguistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung . . . . . . . . . . . . . 30 Sprachökonomie und Sprachökologie 35
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 3.4. Zur Standardisierung des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.5. Kaum gewonnen so zerronnen? Destandardisierung . . . . . . . . 63
4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache . . . . 71 4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen: Vielfalt von Asymmetrien in sprachlichen Ökosystemen . . . . . 71 4.2. Deutsch als plurizentrische Sprache der Gegenwart . . . . . . . . . 84
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Inhalt
4.2.1. Deutsch als plurizentrische Sprache in Deutschland . . . 87 Deutsch als plurizentrische Sprache in der DDR 89
4.2.2. Deutsch als plurizentrische Sprache in Österreich . . . . . 96 4.2.3. Deutsch als plurizentrische Sprache in der deutschsprachigen Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.1. Plurizentrik in Kodices: die lexikographische Demokratisierung der deutschen Standardsprache . . . . . . . . . .110 5.1.1. Plurizentrische Lexikographie in Deutschland . . . . . . . . .112 5.1.2. Plurizentrische Lexikographie in Österreich . . . . . . . . .116 5.1.3. Plurizentrische Lexikographie in der Deutschschweiz . . . 122 5.1.4. Plurizentrische Lexikographie in Allgemeinen Wörterbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.1.5. Das Variantenwörterbuch des Deutschen (VWB) . . . . 134 5.1.5.1. Aufnahmekriterien für Varianten im VWB . . .136 5.1.5.2. Aufbau der Artikel im VWB . . . . . . . . . . . . . .138 5.1.6. Fazit zur Plurizentrik in der Lexikographie . . . . . . . . .142 5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache, in Sachtexten und in literarischen Texten aus dem ganzen deutschen Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.2.1. Analyse des Textkorpus zum VWB . . . . . . . . . . . . . . . 144 Forschungsfragen und Untersuchungsvariablen 150 – Unabhängige Variablen 151 – Abhängige Variablen 151 – Statistische Auswertung 152
5.2.1.1. Regionalspezifik der Variantendichte . . . . . . . .152 Fremdheit des Schweizerhochdeutschen, Mittelposition des österreichischen Deutschen 152 – Sprachliche Einordnung der Varianten in der Erstbeurteilung 156
5.2.1.2. Textsorten- und Themenspezifik der Variantendichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 Tiefe Variantendichte in literarischen Texten im Textsortenvergleich 158 – Variantendichte in Zeitungen: Herkunftsabhängigkeit 159 – Themenabhängigkeit der Variantendichte 163
Inhalt
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5.2.1.3. Textalter und Variantendichte . . . . . . . . . . . . . .163 Kein eindeutiger Befund über eine Zunahme oder Abnahme der Variantendichte 164
5.2.1.4. Variation in literarischen Texten . . . . . . . . . . . 164 Helvetismenscheu von Schweizer Jungautoren und Teutonismenfreude von deutschen Jungautoren 165 – Genrespezifische Unterschiede: Keine höhere Variantendichte in Trivialliteratur 166 – Regionale Herkunft der Autorinnen und Autoren literarischer Werke 167 – Variantentoleranz bei Lektorinnen und Lektoren 171 – Suche nach der eigenen Sprache 173
5.2.2. Zusammenfassung der Ergebnisse aus der Analyse des VWB-Textkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177 5.3. Auf der individuellen Ebene: Verwendungs- und Einstellungsuntersuchungen zu deutschen Standardvarietäten . . .179 5.3.1. Sprachpsychologische Aspekte: Einstellungen gegenüber Sprachen und ihren Varietäten und pragmatische Unterschiede zwischen Varietäten . . . . . .179 Kognitive Aspekte von Spracheinstellungen 181 – Sprachcharakterologie 184 – Sprachhandlungsmuster 187 – Sprachhandlungsmuster bei Sprechern unterschiedlicher Varietäten 190
5.3.2. Einstellungsuntersuchungen zum Deutschen: Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Beurteilung dialektalen Sprechens 195 – Beurteilung von Standardsprachlichkeit 197 – Beurteilung von Standardvarietäten 198
5.3.3. Einstellungen gegenüber den deutschen Standardvarietäten: Vorgehen und Auswertung einer aktuellen Internetbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Datengewinnung 211 – Variablen 212 – Unabhängige Variablen (Fragenblock 5, s. Anhang) 212 – Abhängige Variablen: Übersicht 213 – Statistische Auswertung 215 – Wer hat geantwortet? 216
5.3.3.1. LOYALITÄT gegenüber Varianten . . . . . . . . . .219 Operationalisierung der Variable Loyalität und Analyseverfahren 220 – Ergebnisse zur Variable Loyalität 223 – Einfluss der regionalen Herkunft der GP auf die Variantenloyalität 223 – Einfluss des Alters der GP auf die Variantenloyalität 229 – Einfluss des Geschlechts der GP auf die Variantenloyalität 229 – Einfluss der Mobilität der GP auf die Variantenloyalität 230 – Einfluss der Bildung der GP auf die Variantenloyalität 230 – Einfluss des beruf-
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Inhalt
lichen Ehrgeizes der GP auf die Variantenloyalität 230 – Einfluss der standardsprachlichen Selbsteinschätzung auf die Variantenloyalität 231 – Einfluss der Hörbarkeit der regionalen Herkunft auf die Variantenloyalität 232 – Einfluss der Anglizsimeneinschätzung auf die Variantenloyalität 232 – Phonologische Variantenloyalität 233
5.3.3.2. KENNTNIS UND GEBRAUCH von Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Operationalisierung der Variable Kenntnis und Gebrauch und Analyseverfahren 235 – Ergebnisse zur Variable Kenntnis und Gebrauch 235 – Einfluss der regionalen Herkunft der GP auf Kenntnis und Gebrauch von Varianten 235 – Gesamtwert für Kenntnis und Gebrauch von Varianten 243 – Einfluss des Geschlechts der GP auf Kenntnis und Gebrauch von Varianten 245 – Einfluss des Alters der GP auf Kenntnis und Gebrauch von Varianten 246 – Einfluss des beruflichen Ehrgeizes der GP auf Kenntnis und Gebrauch von Varianten 246 – Einfluss der Hörbarkeit der regionalen Herkunft auf Kenntnis und Gebrauch 246 – Einfluss des Dialektgebrauchs der GP auf Kenntnis und Gebrauch 247
5.3.3.3. EINSCHÄTZUNG von Varianten . . . . . . . . . . 247 Operationalisierung der Variable Einschätzung und Analyseverfahren 248 – Ergebnisse zur Variable Einschätzung 249 – Einfluss der regionalen Herkunft der GP auf die Einschätzung von Varianten 249 – Gesamtwert für die Einschätzung der Dialektalität/Standardsprachlichkeit von Varianten 257 – Einfluss der Hörbarkeit der regionalen Herkunft, des Dialektgebrauchs und des Standardgebrauchs auf die Einschätzung von Varianten 259
5.3.3.4. REGIONALE BESTIMMUNG von Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Operationalisierung der Variable regionale Bestimmung und Analyseverfahren 262 – Ergebnisse zur Variable regionale Bestimmung 263 – Einfluss der regionalen Herkunft der GP auf die regionale Bestimmung von Varianten 263 – Einfluss des Alters der GP auf die regionale Bestimmung von Varianten 266 – Einfluss der Mobilität der GP auf die regionale Bestimmung von Varianten 266 – Einfluss der Bildung und der Standardkompetenz der GP auf die regionale Bestimmung von Varianten 266 – Einfluss der Hörbarkeit der regionalen Herkunft auf die regionale Bestimmung von Varianten 267 – Einfluss der Anglizismeneinschätzung auf die regionale Bestimmung von Varianten 267
5.3.3.5. Geographische und soziale Lokalisierung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 „WO wird Ihrer Meinung nach das beste Hochdeutsch/Standarddeutsch GESPROCHEN?“ 268 – „VON WEM (von welchen Be-
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völkerungs- und Berufsgruppen) wird Ihrer Meinung nach das beste Hochdeutsch/Standarddeutsch GESPROCHEN?“ 272 – „WO wird Ihrer Meinung nach das beste Hochdeutsch/Standarddeutsch GESCHRIEBEN?“ 275 – „VON WEM (von welchen Bevölkerungs- und Berufsgruppen) wird Ihrer Meinung nach das beste Hochdeutsch/ Standarddeutsch GESCHRIEBEN?“ 278
5.3.4. Zusammenfassung der Ergebnisse der Internetbefragung zu den Einstellungen gegenüber den deutschen Standardvarietäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
6. Die plurizentrische Variation der deutschen Standardsprache in Wörterbüchern, in Texten und beim Individuum: Bilanz und Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Standardsprache als Nationalsprache 289 – Inhomogenität der Varietäten 290 – Geschichte der plurizentrischen Lexikographie 292 – Plurizentrische Lexikographie als Sprachplanung? 293 – Plurizentrik in Kodices, Texten und Kognition 295 – Plurizentrik – ein linguistisch-lexikographisches Konstrukt? 296 – Regionale Abhängigkeit der Spracheinstellungen 297 – Landesgrenze als pragmatische und kognitive Grenze 297 – Plurizentrik der deutschen Standardsprache: eine Realität der geschriebenen Gegenwartssprache 300 – Prognose für die Entwicklung der Plurizentrik der deutschen Standardsprache 301
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Anhang: Fragebogen zu Kapitel 5.3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
1. Nationalsprachen und Plurizentrik aus der Laien- und Forschungsperspektive Das im Europa des 19. Jhs. formierte Konzept der Nation unterliegt heute, zu Beginn des 21. Jhs., einer doppelten Herausforderung. Diese ist einerseits durch die ökonomische Globalisierung und andererseits durch den politischen Regionalisierungprozess begründet. Obwohl wirtschaftliche Zentralisierungsvorgänge in grossem Stil stattfinden, wie etwa die Aufgabe nationaler Währungen, bleiben historisch national geprägte sprachliche Identitäten weiterhin klar erkennbar. Es sind zwei gegenläufige Trends, die die postmoderne europäische Gesellschaft charakterisieren. Auf der einen Seite steht das Streben nach einem geeinten Europa, begleitet von der Phantasie des kommunikativen Zusammenwachsens zu einem globalen Dorf (Mc Luhan 1962), auf der anderen Seite die „Sehnsucht nach heimatlicher Verwurzelung und dem Bestreben der Bewahrung des ‚Typischen‘“ (Markhardt 2005:349).1 In dieser Ambivalenz wird ein neues Konzept der Regionen auch das ehemalige Konzept der Nationen abdecken müssen (vgl. Haarmann 2002:27f). In der vorliegenden Arbeit wird thematisiert, wie sich das Deutsche als plurinationale bzw. plurizentrische Standardsprache in diesem Spannungsfeld präsentiert.2
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„… ob das nun in Norwegen ist, wo den zahlreichen regionalen Dialekten gleich zwei offizielle Schriftsprachen gegenüberstehen, oder Frankreich, wo die Bretonen im Norden, die Okzitanen im Süden und die Elsässer im Osten ihre Identität mehr und mehr mit der Regionalsprache verbinden. Die Emanzipation des Katalanischen gegenüber dem Kastilischen in Spanien oder die Aufwertung des Letzeburgischen im Grossherzogtum Luxemburg zur dritten Staatssprache: dies alles sind Beispiele für die Emanzipation von Regionalsprachen oder Minderheitensprachen gegenüber einer etablierten und übermächtigen nationalen Einheitssprache.“ (Löffler 1991:122) Mit Standardsprache wird die Sprachform bezeichnet, die in einer Sprachgemeinschaft überregional und von allen Gesellschaftsschichten akzeptiert ist. „Zuweilen wird so getan, als ob man genauso gut ‚Einheitssprache‘, ‚Nationalsprache‘, ‚Hochsprache‘, ‚Hochdeutsch‘, ‚Literatursprache‘ u. a. sagen könne. Diese Bezeichnungen sind jedoch entweder mehrdeutig (wie ‚Hochdeutsch‘, ‚Literatursprache‘) oder ideologisch aufgeladen (wie ‚Nationalsprache‘, ‚Einheitssprache‘), so dass sie als neutrale, unmissverständliche Termini für unseren Gegenstand nicht taugen“. (Elspaß 2005b:294, vgl. Löffler 2005)
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1. Nationalsprachen und Plurizentrik aus der Laien- und Forschungsperspektive
Die Vorstellung, dass Kulturräume durch eine einheitliche Standardsprache zusammengehalten und gegeneinander abgegrenzt werden sowie im schlimmsten Falle sogar militärisch verteidigt werden müssen, hat ihre Wurzeln im 19. Jh., in dem sich die Nationalstaaten Europas herausbildeten. Diese Vorstellung betrifft nicht nur europäische Grosssprachen, die sich in der Folge teilweise kolonial auf der ganzen Welt verbreitet haben, sondern auch kleinere Sprachgemeinschaften in Europa, in denen seit dem 16. und verstärkt seit dem 19. Jh. ein Schriftstandard geschaffen wurde, „der über den praktischen Nutzwert hinaus Symbolcharakter besitzt, und zwar als Resistenzpotential der kulturellen Identität gegen die Dominanz einer Mehrheitssprache in der jeweiligen Region“ (Haarmann 1997:284 – als Beispiel dafür gibt Haarmann das Sorbische gegenüber dem Deutschen als Mehrheitssprache an). Dem Nationalsprachenkonzept wohnt die Idee inne, dass die Grenzen von Staaten und Nationen kongruent sind oder es zumindest sein sollten und in diesen Gebieten eine einzige, in sich einheitliche Sprache verwendet und weiter entwickelt wird oder, wo nicht, dies als Ziel der sprachpolitischen Entwicklung angestrebt wird. Damit einher geht eine oft repressive Sprachpolitik, die Minderheitensprachen zu verdrängen sucht (Kloss 1978:69, 79), so z. B. in Spanien, Irland, Iran, aber auch in Frankreich, wo die zentralistische Staatssprachenideologie mit einem breiten Spektrum chauvinistischer Stereotypen über die Kulturiertheit des Französischen und die Unkulturiertheit der Regionalsprachen unterlegt ist (Haarmann 1997:279). Die Kontroverse Einheitssprache vs. Regionalsprache war auch in der Sowjetunion ein grosses Politikum. Sie kennzeichnet bis heute die Sprachpolitik der Nachfolgestaaten. Gerade im Falle so genannter Kultursprachen (ehemaliger) Kolonialmächte – Französisch, Spanisch, Englisch, Italienisch – wird die Doppelrolle des Nationalsprachenkonzepts deutlich; auf der einen Seite wird die Verbreitung der Standardsprache Mittel der Nationalbildung und Ausdruck der sozialen Befreiung und Demokratisierung. Auf der anderen Seite wird dieselbe Sprache zum Mittel der Unterdrückung von Minderheiten sowohl innerhalb des Mutterlandes als auch in den Kolonien; der Glaube an die nationalitätsbildende Kraft der Sprache scheint die Unterdrückung von Minderheitensprachen zu rechtfertigen. Kultursprachen sind also nur bei gleichzeitigem sprachlichem Imperialismus möglich, welcher Mehrsprachigkeit und sprachliche Variation zu verdrängen sucht. Somit ist für die Nationalsprachenideologie das ideologische Gegensatzpaar Humanismus vs. Kolonialismus kennzeichnend (Coulmas 1991:20). Sprachsoziologisch gesehen geht die Idee der Sprachnation, die durch eine einzige und dazu eine einheitliche Sprache zusammengehalten wird,
1. Nationalsprachen und Plurizentrik aus der Laien- und Forschungsperspektive
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bekanntlich an der Realität vorbei. Erstens sind die meisten Gemeinschaften, die eine politische Einheit bilden, mehrsprachig, sei dies gesellschaftlich (wie in Belgien oder der Schweiz) oder individuell (wie im Falle von Migrantengemeinschaften oder anderen in unterschiedlicher Weise und Graden mehrsprachigen Menschen) (vgl. Haarmann 1997:278, Coulmas 1991:27). Zweitens bedeutet die Ablösung von Kleinsprachen durch Kolonialsprachen nicht notwendigerweise den Verlust jeglicher Form von Gruppenidentität.3 Drittens ist die Standardsprache, entgegen der Bezeichnung, die sie trägt, nichts Einheitliches. Die Vorstellung von einer Einheitlichkeit der Standardsprache kann auch dort, wo offiziell nur eine einzige Standardsprache Amtssprache ist, keiner empirischen Überprüfung standhalten. Eine regional definierte Sprache im Zustand absoluter Homogenität hat es nie gegeben: „Dem Sprachhistoriker ist die Vielfalt des Althochdeutschen/ Mittelhochdeutschen ebenso bekannt wie die Problematik eines angeblichen ‚Urdeutsch‘, eines einheitlichen Westgermanisch, ja sogar eines in sich homogenen Protoindoeuropäisch.“ (Freudenberg 1983:9) Der Erkenntnis des Konstruktcharakters sprachlicher Standards zum Trotz können Mechanismen der Negierung von kultureller und sprachlicher Diversität beobachtet werden, und zwar nicht nur als totalitäre Symptome zwischen disparaten Sprachen, sondern, in sehr abgemilderter Form, auch in Bezug auf die innersprachliche Variation. Die Erwartungen der Sprachgemeinde an die klar beschreibbare und kodifizierte Einheitlichkeit einer funktionstüchtigen Standardsprache, die gegenüber anderen Standardsprachen konkurrenzfähig ist, bleiben hoch und ungebrochen. Der Idee einer sich in Varietäten verästelnden Standardsprache wird mit Argwohn begegnet.4 Mit dem Begriff der Varietät müsste die Vorstellung der Statik des Systems aufgegeben werden. Und es ist die Statik, gepaart mit einer Tendenz zur Mythenbildung und zur hierarchisierenden Bewertung verschiedener Existenzformen von Sprache, die laienlinguistische Vorstellungen prägen, und zwar sowohl bezogen auf das Sprachsystem und seine postulierte Einheit-
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Wardhaugh (1987:20) führt als Beispiele für Sprachverlust bei gleichzeitiger Identitätsbeibehaltung die irischen, walisischen und jüdischen Sprachgemeinschaften an. Der analog zum engl. variety (Vielfältigkeit) verwendete Begriff Varietät (urspr. ein Begriff aus der Biologie für die geringfügig abweichende Form einer Art) ist eine wertfreie Bezeichnung für eine Sprachgebrauchsform, die sich als Summe spezifischer sprachlicher Charakteristika (= Varianten) beschreiben lässt. Die Varianten können phonologisch, lexikalisch, syntaktisch, morphologisch oder pragmatisch erfasst werden. Die Sprachgebrauchsform erscheint als typisch für bestimmte kommunikative Situationen oder für bestimmte Gruppen, die sich z. B. sozial oder regional fassen lassen. Im Folgenden geht es vor allem um die Varietät im Sinne der national- und regionalspezifischen Sprachverwendung.
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1. Nationalsprachen und Plurizentrik aus der Laien- und Forschungsperspektive
lichkeit wie auch bezogen auf eine fixe Position in einem hierarchischen Sprachensystem.5 Allerdings ist es nicht nur der laienlinguistische Blick, der sich von der fixed-code-fallacy (Harris 1981) verführen lässt (s. Kap. 2 der vorliegenden Studie). Der Mythos der sprachlichen Einheitlichkeit ist in teilweise nationalistisch motivierten Sprachkonzepten des 19. Jhs. ebenso zu finden wie in neo-darwinistischen Ansätzen zur Erklärung der Sprachstandardisierung (Bichakjian 2002, Nettle 1999). Die Standardvariation, wie sie in der vorliegenden Arbeit empirisch sowohl pragmatisch (in Bezug auf die schriftliche Verwendung) als auch lexikographisch in Bezug auf das Deutsche als plurizentrische Sprache nachweisbar ist, bleibt ein schwer aufzulösendes Oxymoron, das bei den Sprachverwendern und -verwenderinnen im Verhältnis zur empirischen Nachweisbarkeit wenig Akzeptanz findet. Inwiefern diese Haltung von aussersprachlichen Variablen wie z. B. dem Alter von befragten Personen, ihrer regionalen und sozialen Herkunft und weiteren sprachbiographischen Daten beeinflusst wird, ist u. a. Gegenstand eines Kapitels im empirischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 5.3.). Um die Variation der deutschen Standardsprache geht es also in dieser Studie. Die Variation der deutschen Standardsprache wird seit mehreren Jahrzehnten unter dem Aspekt ihrer Plurizentrik bzw. Pluriarealität diskutiert.6 Auch in laienlinguistischen Publikationen (vgl. z. B. Scholz 1998) oder sprachpolitischen und sprachpflegerischen Foren wird das Thema zur Kenntnis genommen und bearbeitet. Zu seiner Popularität mag seine Nähe zur Möglichkeit beitragen, nationale und regionale Stereotype unterhaltsam gegeneinander auszuspielen. Sprachwissenschaftlich bezeichnet die Plurizentrik (auch: Plurizentrizität) den Umstand, dass eine Standardsprache nicht überall, wo sie Nationalsprache oder Amtsprache ist, identisch ist, sondern der Variation unterliegt, so auch die deutsche Standardsprache. Die oft zitierten Beispiele aus der Kulinarik (Möhre, Karotte, Fleischhauer, Metzger) und dem Gebiet der Berufsbezeichnungen (Schreiner, Tischler), die u. a. 5
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Laienlinguistik wird hier verstanden als Sprachbetrachtung von sprachwissenschaftlich nicht ausgebildeten Menschen, die insbesondere auf Sprachnormen und sprachliche Ästhetik fokussiert und auf unhinterfragten Einstellungen gegenüber Sprachen oder Varietäten beruht. Einen guten Überblick über die junge Disziplin der Laienlinguistik liefert Antos 1996. Vgl. Preston 1999, Anders et al. 2010. Angesichts der regionalen Unterschiede innerhalb der verschiedenen nationalen Standardvarietäten wird oft der Begriff pluriareal als Alternative zu plurizentrisch vorgeschlagen. Gerade für die oberdeutschen Regionen, die sich über deutsche und österreichische Gebiete erstrecken, ist dieser Einwand nachvollziehbar. (Elspaß 2005b:305) M.E. ist die Plurizentrik so lange kein Widerspruch zur Pluriarealität, als man nicht nur nationale Varianten, sondern auch regionale Varianten berücksichtigt, deren Geltungsareale über nationale Grenzen hinausgehen. Zur Kontroverse Plurizentrik vs. Pluriarealität s. z. B. Scheuringer 1996 und Glauninger 2008.
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aus Eichhoffs Kartendarstellungen (1977–2000) hervorgingen, erwecken den ersten Eindruck, dass es sich bei der plurizentrischen Variation, neben schnell auffallenden Ausspracheunterschieden, lediglich um lexikalische Varianten und dazu lediglich um solche ganz bestimmter alltagssprachlicher Domänen handelt, dazu vor allem um Sachspezifika.7 Die Variation geht jedoch weit darüber hinaus, wie das 2004 erschienene VWB deutlich belegt und wie in Kap. 5.2. der vorliegenden Studie für verschiedene Textsorten nachgewiesen werden kann. Es bedarf in der Regel der Betrachtung aus der Aussenperspektive, also eines Sprechers aus einem anderen (staatlichen) Zentrum der betreffenden Standardsprache, um die Variation auf den übrigen Sprachebenen zu entdecken – ein Verfahren, wie es auch bei der Erarbeitung des VWB 1997–2003 zur Anwendung kam. Andernfalls bleibt ein grosser Teil der Variation unerkannt, darunter zahlreiche unauffällige Varianten mit eher grossem Bedeutungsumfang (und, daraus folgend, eher kleinem Bedeutungsinhalt), so z. B. Einsprache, allfällig, eindrücklich oder beiziehen – um Beispiele gut verbuchter, aber möglicherweise im Bewusstsein der Sprecher mehrheitlich nicht als solche repräsentierter Helvetismen zu nennen (Bickel/Schmidlin 2004:120) –, oder der Austriazismus sich ausgehen oder der Teutonismus aussen vor bleiben/lassen. Unter Helvetismus wird eine nur in der Deutschschweiz übliche, unter Austriazismus eine nur in Österreich übliche und unter Teutonismus eine nur in Deutschland übliche, in schriftlichen Texten vorkommende Ausdrucksweise verstanden.8 Helvetismen, Austriazismen und Teutonismen sind somit nationale oder regionale Varianten des Standarddeutschen. Wenn sie über die Landesgrenzen hinaus verwendet werden, spricht man von unspezifischen Varianten. Ein Beispiel dafür wäre der Austro-Helvetismus allfällig. Diese sind häufiger als die spezifischen Varianten, deren Verwendung nur in einem Zentrum (d. h. einem Land) belegt werden kann. Umstritten sind die theoretische Einordnung dieser Variation und ihre praktischen Konsequenzen. Auf der einen Seite wird die Variation der deutschen Standardsprache zum Anlass genommen, von eigenen Sprachsystemen, bzw. dem Österreichischen (im sodann präsupponierten Deutsch als Sprache Deutschlands), zu sprechen, auf der anderen Seite wird die Variation, wenn nicht als Störung und Gefährdung der sprachlichen und
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Variante wird hier im Sinne eines regional oder national variierenden sprachlichen Phänomens verstanden. Varianten sind konstitutiv für die Bildung von Varietäten im Sinne von sprachlichen Subsystemen. Der Begriff Varietät wurde von der angelsächsischen Sprachwissenschaft übernommen. Vgl. dazu Korlén 1983:61. Zur Diskussion des Begriffs Teutonismus s. Kap. 4.1.
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kulturellen Kohäsion, dann höchstens als dialektale Färbung des ansonsten als einheitlich betrachteten Standards gesehen. Nicht nur in Kreisen der Laienlinguisitk, sondern auch in Fachkreisen ist das Spektrum der Positionen gegenüber der Variation der deutschen Standardsprache gross. Auf der einen Seite steht zum Beispiel Muhr, der sich in zahlreichen Publikationen für die Eigenständigkeit des österreichischen Deutschen stark macht (z. B. Muhr 1993), auf der anderen Seite zum Beispiel Besch 1990, der die Schrifteinheit stärker bewertet als die aus seiner Perspektive mehrheitlich auf die gesprochene Sprache beschränkte Variation (s. auch Koller 1999). Dazwischen gibt es zahlreiche Mittelpositionen, von denen in Kapitel 4.1. die Rede sein wird. Geprägt wird dieses Meinungsspektrum durch den gegenseitigen Vorwurf der Ideologielastigkeit. Es kommt zu Überzeichnungen, in denen jemand, der von der Existenz nationaler und regionaler Sprachvarietäten überzeugt ist – meist selbst Angehöriger oder Angehörige eines kleineren, aus monozentrischer Perspektive peripheren Zentrums –, als patriotisch (vgl. Hägi 2000:5) und rückwärtsgewandt eingestuft wird, währenddem Versuche, die Variation zu relativieren, als arrogant und imperialistisch getadelt werden. Unnötig zu erwähnen ist, dass solche Überzeichnungen eine differenzierte Auseinandersetzung zwar anregen, einen Dialog aber auch behindern können. Die gegenseitigen Vorwürfe gehen weit über die nationalen und regionalen Varianten hinaus. Das liegt an der Verbindung des Themas Sprachvariation mit grundsätzlichen Auffassungen des Nebeneinanders von Sprach- und also Sprechergemeinschaften und von bestimmten Vorstellungen über die Herausbildung von Standardsprachen: „Die Theorien über den Formierungsprozess des Sprachstandards illustrieren wie kaum ein anderes Teilgebiet der Sprachwissenschaft, wie Wahl und Akzentuierung des Forschungsthemas vom Verhältnis zwischen wissenschaftsinternen und externen Faktoren bestimmt wird.“ (Schmidt-Regener 1989:164) Nun ist die Plurizentrik des Deutschen bereits ein gut erforschtes Thema. Erwähnt seien hier vorerst Kretschmer 1918, Kaiser 1969, 1970, die Marburger Germanistik (Reiffenstein et al. 1983), Meyer 1989, 2006, Eichhoff 1977–2000, Clyne 1992c, Ammon 1995 (der die theoretische Grundlegung zum Variantenwörterbuch 2004 schuf [Ammon et al. 2004]), Ebner 1998 und 2009, Polenz 1999, Wiesinger 2000, Koller 2000, Hove 2002 und Löffler 2005.9 Die Perspektiven, aus denen die Plurizentrik des Deutschen bisher erforscht worden ist, können eingeteilt werden in die historische Perspektive (damit verbunden sind Fragen zum Normierungs- und Standar9
S. Kap. 4.2. und 5.1. der vorliegenden Arbeit für einen Forschungsüberblick zum Deutschen als plurizentrische Sprache.
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disierungsprozess und seinen treibenden Kräften wie Bevölkerungsdichte oder durch andere Faktoren bedingte Hegemonie), eine strukturalistische Sichtweise (zur Überdachung und zum Überdachtsein von Sprache, zur Asymmetrie von Sprachsystemen, dazu gehören auch Destandardisierungsmodelle, vgl. dazu etwa Mattheier/Radtke 1997) und die Perspektive der angewandten Linguistik, dort an erster Stelle die lexikographische und didaktische. Zu diesem Buch: Trotz der ausgezeichneten vorliegenden Grundlagenforschung bestehen zahlreiche Forschungsdesiderata. Zwar beobachtet die Lexikographie sich selber mit Argusaugen und kann auf eine Tradition der standardsprachlichen Variationsforschung zurückblicken, die teilweise in einer Berücksichtigung des plurizentrischen Ansatzes mündet und sich ganz konkret in der Mikrostruktur von Wörterbuchartikeln niederschlägt (so gesehen z. B. in Langenscheidts Wörterbuch für Deutsch als Fremdsprache 1998, 2003, vgl. Kapitel 5.1.4.); es bestehen jedoch Forschungslücken auf der Ebene der Sprachverwendung und der sprecherindividuellen Repräsentation der Standardvariation und somit hinsichtlich der psycholinguistisch-kognitiven Perspektive. Die Lücken betreffen insbesondere die empirische Erforschung des Variationsbewusstseins beim individuellen Sprecher in Abhängigkeit aussersprachlicher Variablen, die Einstellungsforschung hinsichtlich der Plurizentrik des Deutschen sowie die Erforschung der Bekanntheit und des Gebrauchs nationaler und regionaler Varianten in den verschiedenen Zentren und Regionen des deutschen Sprachraumes (Ammon 1995:423, Häcki Buhofer/Studer 1993).10 Auf das Schliessen dieser Lücken wird in Kap. 5.3. hingearbeitet. In Kapitel 2 geht es zunächst um die definitorische Abgrenzung von (Kultur-)Sprachen und ihren verschiedenen Existenzformen im Zusammenhang mit der Herausbildung von Nationalsprachen. Unter dem Einbezug der aktuellen internationalen Forschung (z. B. Bex/Watts 1999, Crowley 2003 etc., Davis 2002, Deumert/Vandenbussche 2003, Joseph/Taylor 1990, Milroy/Milroy 1991), die unter dem Schlagwort Standardology zahlreiche neue überdenkenswerte Fragen und Antworten zum Standardisierungsprozess sowie zum Umgang mit sprachlicher Variation hervorgebracht hat, werden sodann in Kapitel 3 diskursive Muster, die hinter der Standardfrage stehen, beleuchtet. In Kapitel 3.4. kommen Zusammenhänge zwischen der Variation 10
Weitere wichtige Lücken in der Erforschung des Deutschen als plurizentrische Sprache nennt Ammon 1995:512–520.
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der deutschen Standardsprache, wie sie sich heute zeigt, und ihrer historischen Entwicklung zur Sprache. Schon früh kristallisierte sich nämlich die Frage heraus, wem die Standardsprache denn eigentlich gehört (Clyne 1993a) und wer sie macht (Harris 1980). Sind es Nationalstaaten, Politiker, Linguisten, Sprachplaner, die Bevölkerungsmehrheit, das Bildungsbürgertum? Wo ist die Variation von Standardsprachen im Kräftefeld von sprachlicher Diversität und Vereinheitlichung zu sehen (vgl. Joseph 1987:125)? Kapitel 3.1. stellt aktuelle theoretische Modellierungen des Zusammenspiels von Standard- und Non-Standardsprache vor (z. B. Löffler 2005) und beleuchtet Diskurse, welche die Diskussion von Sprachstandards in der Sprachwissenschaft und der (sprachpolitischen) Öffentlichkeit prägen. Dazu gehört die Opposition eines ökonomischen Diskurses (Coulmas 1992), der Sprachen auf ihren Marktwert und ihre innere Effizienz hin analysiert und ihre Koexistenz als Wettbewerb auffasst, mit dem ökologischen Diskurs, der in der sprachlichen Diversität nicht einfach nur ein Hindernis für reibungslose Kommunikation sieht, sondern ein strukturiertes und empfindliches System innerhalb anderer sozialer und natürlicher Systeme (Mühlhäusler 2005) (Kapitel 3.2.). Ausgehend von der Annahme, dass Sprachstandardisierung stets mit der Möglichkeit beginnt, aus einer Reihe von sprachlichen Varianten eine wählen zu können, werden in Kapitel 3.3. die bei der Standardisierung beteiligten Prozesse thematisiert, wobei zwischen dem Schwerpunkt Interaktion und dem Schwerpunkt Sprachplanung unterschieden werden kann. Der Rolle der Kodifizierung bei der Standardisierung wird besondere Bedeutung beigemessen (s. auch Kapitel 5.1.) Kapitel 3.5 bringt die Standardvariation in Zusammenhang mit neueren Studien zur Destandardisierung, wie sie in jüngerer Zeit kontrovers diskutiert wird (Elspaß 2005, 2005a, Spiekermann 2005, Mattheier/Radtke 1997, Gilles 1997), wobei die Plurizentrik des Deutschen nicht als Nachweis für die Destandardisierung und Schwächung der Standardsprache, sondern als eine Dezentralisierung von Normen unter Beibehaltung des durch die deutsche Standardsprache definierten, den standardsprachlichen Zentren gemeinsamen Kulturraumes verstanden wird. In Kapitel 4 wird auf die Entwicklung des Deutschen als plurizentrische Sprache fokussiert. Kapitel 4.1. überblickt die Forschungsgeschichte der Plurizentrik des Deutschen. In Kapitel 4.2. werden die deutschen Standardvarietäten der Gegenwart charakterisiert. Der empirische Teil beginnt mit der lexikographischen Entwicklung hinsichtlich der Plurizentrik des Deutschen (Kapitel 5.1.), wofür eine Reihe von Wörterbüchern auf die Darstellung plurizentrischer Variation hin geprüft wird. Teilweise kann die Aufwertung regionaler und nationaler Normen in
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aktuellen Wörterbüchern nachgewiesen werden. Für die weiteren Kapitel des empirischen Teils profitiere ich vom Ende 2004 abgeschlossenen VWB, das 12‘000 nationale und regionale Varianten des Standarddeutschen enthält und als lexikographisches Pionierprojekt für sich in Anspruch nehmen darf, den theoretischen plurizentrischen Ansatz weltweit erstmals empirisch und praktisch umgesetzt zu haben. Es erschien im Dezember 2004 bei de Gruyter. Das Projekt wurde 1997–2003 als trinationales Forschungsprojekt an den Universitäten Duisburg, Innsbruck und Basel realisiert. Initiiert worden war es von Ulrich Ammon (Duisburg) und geleitet von ihm selbst sowie von Robert Schläpfer† (Basel), Hans Bickel (Basel), Heinrich Löffler (Basel), Hans Moser (Innsbruck) und Jakob Ebner (Linz). Ich selbst wirkte bei der Erarbeitung dieses Wörterbuchs mit. Aus den Vorarbeiten für das VWB, die in den Kapiteln 5.1.5. und 5.2.1. näher erläutert werden, ging ein grosses Textkorpus hervor, in dem nationale und regionale Varianten ermittelt wurden: 150 Tages- und Wochenzeitungen, über 150 Zeitschriften, Illustrierte und Magazine, 120 populäre Sachbücher, 120 gehobene Romane, 30 Kriminalromane, 30 Trivialromane, 30 Kinder- und Jugendbücher und über 4500 Seiten Prosatexte aus literarischen Anthologien. Dazu kamen Broschüren, Werbetexte, Formulare, Gesetzestexte sowie Quellen aus dem Internet (s. VWB:911). Die in diesen Texten in mehrjähriger Lese- und Exzerptionsarbeit ermittelten Varianten wurden in einer Datenbank erfasst, welche die Grundlage der Lemma-Auswahl des VWB bildete. In Ergänzung dazu wurden in elektronischen Zeitungsarchiven automatisch Belege erhoben. In der Datenbank wurden neben der Quellenerfassung der Varianten ihre sprachlichen Variationsebenen in Bezug auf die einzelnen Aussenperspektiven genau beschrieben (lexikalisch, orthophonisch, grammatisch, pragmatisch, orthographisch, semantisch).11 Für die vorliegende Studie wird dieses umfangreiche Material einer Nachanalyse unterzogen. Diese ermöglicht Aussagen über die Repräsentation standardsprachlicher Variation in Textkorpora, dies beispielsweise in Abhängigkeit von der regionalen Herkunft der Texte oder in Abhängigkeit von ihrer Entstehungszeit und ihrer Textsorte (Kapitel 5.2.). Die Repräsentation der standardsprachlichen Variation wird aber nicht nur in Wörterbüchern (Kapitel 5.1.) und Texten (5.2.), sondern auch beim individuellen Sprecher empirisch erhoben und analysiert (Kapitel 5.3.). Für den Einbezug der sprecherindividuellen Perspektive wurde für den empirischen Kern der vorliegenden Studie ein Fragebogen entwickelt, der anhand 11
Für eine Überblicksdarstellung über die nationalen Varianten nach Sprachebenen s. Hägi 2006:67.
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von Beispielen aus dem VWB der Erhebung von Kenntnis und Gebrauch nationaler und regionaler Varianten dient. Im Gegensatz zu bestehenden Untersuchungen (z. B. Wiesinger 1988a, Pollak 1992, Huesmann 1998, Scharloth 2004) werden Personen aus dem ganzen deutschen Sprachraum zur Variationsbreite des Deutschen befragt, z. B. zur Kenntnis und Verwendung von Varianten, zu Aussprachegewohnheiten, zur regionalen Zuordnung und zur Einschätzung der Normebene.12 Eine der durch diese Erhebung zu beantwortenden Forschungsfragen ist, wie stark die Plurizentrik als akzeptiertes sprachwissenschaftliches Konzept im Sprachbewusstsein von Sprechern und Sprecherinnen unterschiedlicher Herkunft verankert ist. Weitere Fragen betreffen den Wandel der Normtoleranz, deren Beantwortung durch die altersspezifische Streuung der Gewährspersonen möglich ist, sowie die Erwartungen an Modellsprecher und -schreiber. Die Daten wurden von Dezember 2004 bis März 2006 mithilfe einer Internetbefragung gesammelt. Es liegen 908 Antworten auf 85 Fragen vor. Ausgehend vom Fragebogen wird die sozial verankerte Norm mit der individuell praktizierten Norm und den damit verbundenen Vorstellungen über den Kodex verglichen. Solche Vorstellungen sind für die Herausbildung der individuellen sprachlichen Identität wichtig, die im Falle der europäischen Standardsprachen eng mit der nationalen Identität verbunden sind. Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wird also ein deskriptiver, variationslinguistischer Ansatz mit Fragen zur kognitiven Repräsentation der Plurizentrik beim Einzelsprecher kombiniert, wobei kognitiv hier nicht im streng psycholinguistischen Sinn verstanden wird – kognitive Fähigkeiten und sprachliche Herkunft stehen ja bekanntlich in keiner korrelativen Beziehung zueinander –, sondern individualsprecherbezogen.
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Scharloth 2004 untersucht die Bewertung plurizentrischer Variation bei Schweizer Gewährspersonen. Aus seinen Ergebnissen geht eine klare Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach sprachlicher Eigenständigkeit und der negativen Bewertung von Varianten, die für diese Eigenständigkeit gerade konstitutiv sein könnten, hervor. Auch in der Fragebogenuntersuchung der vorliegenden Studie wird dieser Diskrepanz nachgegangen (Kapitel 5.3.3.). S. auch Scharloth 2006.
2. Zur Abgrenzbarkeit von Sprachen und zur Bildung von Sprachgemeinschaften in Europa Wenn es zur Kategorisierung von Sprachsystemen kommt, kennt das Alltagsverständnis zunächst die Unterscheidung zwischen Sprache als Trägerin der schriftlich überlieferten und schulisch tradierten Kultur und Dialekten als ihren für die informelle Unterhaltung verwendeten Existenzformen. Diese prinzipiell extralinguistischen, funktionalen Kriterien sind nicht mehr pertinent, sobald die kommunikativen Funktionen sozial und situativ feiner differenziert werden und über den Unterschied formell vs. informell hinausgehen sollen. Auch wenn es bekannt und nachvollziehbar ist, dass der Status von Sprechern und die Funktionstypen von Sprache zwei korrelierende Grössen sind, sind einzelne Typen von Status und Funktion schwierig zu differenzieren.1 Es kommt zu Einschätzungen der populär-relativistischen Art, wie z. B. derjenigen, dass bestimmte Dialekte, so das Schwäbische, für die Besprechung bestimmter Themen, so der Quantenphysik, ungeeignet seien. In Bezug auf die europäischen Nationalsprachen haben solche Einschätzungen eine lange Tradition. Es verbreiteten sich Vorstellungen über herausragende Qualitäten oder Mängel in Bezug auf bestimmte Standardsprachen. Einige erscheinen besonders logisch aufgebaut, andere besonders ausdrucksfähig, wieder andere stächen ästhetisch hervor (Downes 1998:36). So wurden europäische Nationalsprachen auf zahlreiche Stereotypen festgelegt. Griechisch und Latein sollen zum Beten am geeignetsten sein, Französisch für die Konversation, Italienisch für das Singen und Deutsch für Gespräche über Metaphysik und Theologie (Higginson 1864:207). Englisch
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„It has been notoriously difficult to characterize different status types and functional types of language.“ (Bartsch 1989:205) Bartsch charakterisiert Status von Sprechern und Funktionstypen von Sprache nach sozialen und situativen Domänen der Praxis, der Verbreitung, der Akzeptanz und der Geltung (Bartsch 1989:210). Zur Geltung des Standards beobachtet Bartsch: „The practice (or existence) domain of the standard variety is much smaller than its validity domain, this means that there are less people who in fact use the standard than there are people for whom the standard is valid.“ (Bartsch 1989:201)
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wurde für seine Gastfreundlichkeit fremden Wortguts gegenüber gelobt (Crowley 2003:64).2 Auf den ersten Blick objektivierbarer ist das Kriterium der messbaren Unterscheidbarkeit von Sprachen, die sich auf intralinguistische Ebenen bezieht. Um nicht als Dialekt zu gelten, muss sich eine Sprache klar genug von anderen Sprachen unterscheiden, als deren Verwandte sie möglicherweise betrachtet werden könnte (Joseph 1987:2, s. auch Kloss 1978:24). Es werden empirisch operationalisierbare linguistische Kriterien für die Abgrenzung von Sprachen und Varietäten voneinander verwendet – neben der Intelligibilität werden typologische und genealogische Kriterien herangezogen, es wird Lexikostatistik betrieben und das sprachliche Erbe durch Messung von Kognaten auf seine Gemeinsamkeiten hin untersucht. Im Falle des Englischen und seiner nationalen Varietäten stösst man jedoch auch mit diesem Verfahren an Grenzen. Während Englisch sich von Deutsch und anderen Sprachen desselben kulturellen Prestiges in den genannten Kriterien genügend unterscheidet, unterscheiden sich das britische, amerikanische, kanadische und australische Englisch nicht genug voneinander, um als unterschiedliche Sprachen zu gelten. Trotzdem handelt es sich bei diesen Existenzformen nicht um Dialekte – dies auch im Gegenzug zur in der Anglistik vielfach vertretenen Ansicht, Standard sei ein Dialekt unter vielen (s. z. B. Trudgill 1999) –, sondern um Standardsprachen. Unterschiede zwischen sprachlichen Systemen entziehen sich also bis zu einem gewissen Grad der Messbarkeit linguistischer Distanz. Damit kommen wir zu einer weiteren, auch im Alltagsverständnis verankerten Dimension der definitorischen Abgrenzung von (Kultur-)Sprachen und ihren verschiedenen Existenzformen: dem Potenzial von Sprachen, Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren. Zunächst einmal ist die Bildung von Gemeinschaften überlebenswichtig: „Das Bedürfnis, sich auch auf einer sprachlichen Ebene repräsentiert zu fühlen, das Bedürfnis nach Identität durch Sprache und Sprachidentität, ist ein genuin menschliches, das sich im Zusammenleben mit anderen ergibt.“ (Thim-Mabrey 2003:5) Typischerweise, so Smith (1986:192), gibt es in der Geschichte aller nationalen Gemeinschaften eine Reihe von Mythen. Dazu gehört der Mythos der Geburt einer Gemeinschaft, der Mythos ihres Entstehungsorts, der Mythos gemeinsa2
S. auch Baldwin (1926:59f). Baldwin macht sich in einer antikommunistischen Rede lustig über das pentasyllabische französische Wort proletariat und fügt hinzu, die englische Sprache sei „the richest in the world in thought.“ Als Begründung führt er an, dass das Englische mehr einsilbige Wörter besitzt: „Four words, of one syllable each, are words which contain salvation for this country and for the whole world, and they are ‚Faith‘, ‚Hope‘, ‚Love‘, and ‚Work‘“.
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mer Vorfahren, der Mythos der gemeinsamen Migration, der Mythos der Befreiung, der Mythos des Goldenen Zeitalters, des Untergangs und der Wiedergeburt. Die Gemeinschaft gibt sich der Illusion der gemeinsamen Herkunft mit der Teleologie einer nationalen Einheit hin, deren Bildung nur so und nicht anders hätte verlaufen können und die anders nicht funktionieren könnte. Bereits Buck wies auf diesen kollektiv-psychologischen Mechanismus hin: „The notion of physical kinship, inherent in the word ‚nation‘ by derivation, and fitting the romantic idea of the evolution of family to nation, is perhaps the most conspicuous element in the popular conception of nationality, and at the same time the least real factor.“ (Buck 1916:46) Bis heute geht es bei Sprach- und Nationalbewusstsein um die Illusion, dass Sprache und Nation korrelieren, dass Sprachgrenzen und politische Grenzen sich decken und dass Ethnien und Kulturen klar voneinander abgrenzbar sind. Wie setzt sich nationales Zusammengehörigkeitsgefühl zusammen? Ethnisch versteht sich eine Gemeinschaft als Gruppe von Menschen, deren Mitglieder sich selber bestimmte distinktive Eigenschaften zuschreiben bzw. denen von anderen solche Eigenschaften zugeschrieben werden (Reichmann 2000:421). Dazu kommen eine irgendwie verstandene Abstammung, Religion, Konfession, Kultur, Geschichte, Staatszugehörigkeit, Verfassungszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einem Wirtschaftstraum, Sprache und ein Schriftsystem (Reichmann 2000:421f). Reichmann stellt diese identitätsstiftenden Faktoren in einem Kreismodell dar (Reichmann 2000:424). Der Sprache kommt darin die zentrale Rolle zu, während die anderen Faktoren, in konzentrischen Kreisen verschiedener Grösse um die Sprache herum gelagert, unterschiedlich gewichtet sein können. Neben den ethnischen, kulturellen und politischen Komponenten, welche den Begriff der Nation in thematisch einschlägigen Texten fassen, stellt Gardt (2004:197) zudem die voluntative Komponente heraus; während eine Nation politisch verstanden ein Staat oder Reich sein kann, kulturell verstanden Resultat gemeinsamer Traditionen, ethnisch verstanden eine Abstammungsgemeinschaft, bezieht sich die voluntative Komponente auf die Nation als Ausdruck eines gemeinsamen Willens, dem Anderson (1999) zusätzlich den Aspekt der gemeinsamen Vorstellung einer Nation hinzufügt. Bei der Entwicklung einer Gemeinschaft zur Nation kommt das Bewusstsein oder die Vorstellung dazu, eine kohärente Gemeinschaft in politischer Einheit und mit bestimmten gemeinsamen Interessen und Pflichten zu sein (Smith 1991:14). Ähnlich sieht dies Alter: „A nation is constituted by the social group’s (the people’s) consciousness of being a nation, or of wanting to be one, and by their demand for political self-determination.“ (Alter 1994:11) Der Begriff Nationalsprache ist gleichzeitig eine Erklärung der Benützer,
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willens zu sein, eine kulturelle und politische Einheit zu bilden, indem sie nämlich eine Sprache zu ihrer Nationalsprache erklären. Solche Erklärungen werden z. B. in Staatsverfassungen festgehalten. Unterschiedliche politische Interessen und Differenzen zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Sprachgemeinschaft können zu divergierenden Auffassungen über die Gleichheit und Ungleichheit von Sprachen und Dialekten führen, wie die Beispiele Mazedonisch, Serbisch, Slowenisch, Kroatisch (Clyne 1989a:360), Tschechisch und Slowakisch zeigen, aber auch Alemannisch, Plattdeutsch, Westniederdeutsch und Ostniederländisch. Als Sprachen mit hoher gegenseitiger Verständigungsmöglichkeit und naher Verwandtschaft werden Tschechisch und Slowakisch oder Westniederdeutsch und Ostniederländisch aufgrund nationaler Grenzen als verschieden erklärt. Gleichzeitig werden Sprachen mit nicht oder nicht mehr vorhandenem gegenseitigem Verständigungsfluss als zum gleichen Sprachsystem gehörig gesehen, z. B. Niederdeutsch, wie es in Ostfriesland gesprochen wird, und Alemannisch, die als zur selben Sprache gehörig angesehen werden. In einigen Fällen haben Regierungen systematisch versucht, den ihrer sprachlichen Sonderart bewussten, um einen Ausbau ihrer Muttersprache bemühten Trägern einer mit der Amtssprache nah verwandten Abstandsprache – zum Begriff Abstand und Ausbau (Kloss 1978) s. unten – die Überzeugung einzutrichtern, ihre Muttersprache sei in Wirklichkeit nur ein Dialekt der Staatssprache, z. B. im Zarenreich gegenüber der Ukraine, im Spanien Francos gegenüber den Katalanen, im Iran und in der Türkei gegenüber den Kurden (Kloss 1978:69). In anderen Fällen ist es die Kraft bestehender nationaler Grenzen allein, die auf mentale Modelle von Sprachgrenzen wirkt, wie Hofer 2004 für die Sprachregion Basels zeigt. Auch wenn Basel nicht an einer Dialektgrenze liegt – das (Nieder-)Alemannische wird in der Dreiländer-Region Frankreich/Schweiz/Deutschland gesprochen –, bilden Nationalgrenzen in Sprachkarten, die von Versuchspersonen aus der betreffenden Region ohne weitere Angaben und auswendig skizziert werden, wichtige Demarkationslinien in einer autozentristischen Wahrnehmung (vgl. hiezu auch Preston 1989). Ein weiteres innersprachliches Beispiel, bei dem der gruppenidentitätsstiftende Faktor andere Unterscheidungsdimensionen von Sprachen überdeckt, nennt Ammon (1995:7) mit Schwäbisch, das lexikostatistisch vom Standarddeutschen gleich weit entfernt ist wie das Standardletzeburgische (nach Ammon in mittlerer linguistischer Distanz), dennoch gehört das Schwäbische zum Deutschen und das Standardletzeburgische nicht. Ammon sieht den Grund in dieser Differenzierung in der entweder fehlenden oder vorhandenen Überdachung durch eine gemeinsame Standardvarietät (Ammon 1995:7, zum Begriff Überdachung 1995:2ff).
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Der Umgang mit sprachlicher Diversität (bezogen auf disparate Sprachen) und sprachlicher Variation (bezogen auf innersprachliche Variation) unterliegt zunächst Traditionen und Mentalitäten. So besteht nach Kloss (1978:67) im englischen Sprachraum eine grosse, im französischen Sprachraum eine geringe Bereitschaft, die Gleichberechtigung regionaler Spielarten anzuerkennen – ein Gegensatz, der nicht nur mit der im Vergleich zum Französischen grösseren plurikontinentalen Weitläufigkeit des Englischen zu tun hat, sondern auch mit den (sprach)politischen Traditionen der beiden Sprachräume. Auch der deutsche Sprachraum zeichnet sich durch eine eher grosse Variationstoleranz aus. Der Hauptgrund für die divergierenden Auffassungen von Spracheinheiten und -grenzen liegt jedoch in der Verleugnung oder Vermischung einzelner intra- und extralinguistischer Kriterien oder ihrer punktuellen Überbewertung, sei dies bezogen auf die Sprachstruktur, auf die Sprachfunktion oder die Gruppenidentität. „Unter Berücksichtigung sprachökologischer Variablen wie schriftsprachliche Überdachung von Dialekten, Verständnisbarrieren in der Kommunikation oder Separation aufgrund von Identitätskollisionen gelangt man zu einer Kategorisierung, in der intralinguistische und extralinguistische Kriterien eine komplementäre Rolle spielen.“ (Haarmann 2002:15) Gerade im national geprägten Denken wird die regionale Dimension der Variation stark bewertet, nicht aber die Variation bezüglich Fach-, Wissenschafts- oder Berufssprachen (Reichmann 2000:456). Zeitliche, soziale, fach- und gruppensprachliche Verstehbarkeitsgrenzen scheinen nicht zur Angst vor Sprachspaltung zu führen, regionale und politische Verstehbarkeitsgrenzen hingegen schon. In der Sicht von Harris 1981 sind es jedoch nicht nur Laienlinguisten, die mythischen Vorstellungen über Sprache aufsitzen, sondern auch Sprachpädagogen. In seiner modernen Form sei der Sprachmythos das kulturelle Produkt der europäischen Nach-Renaissance: „It reflects the political psychology of nationalism, and an educational system devoted to standardising the linguistic behaviour of pupils.“ (Harris 1981:9) Der Sprachmythos, so Harris, sei das Produkt von zwei miteinander verbundenen Trugschlüssen: Einerseits mit dem Trugschluss, dass Sprachwissen in seiner Essenz eine Frage des Wissens sei, welche Wörter für welche Ideen stünden, und dass in dieser Sicht Wörter von Menschen gemachte Symbole seien, um Gedanken von einem Geist in den anderen zu transportieren. Unschwer ist in dieser Sichtweise die Idee der Sprache als Artefakt zu erkennen. Die Rede ist dann eine Form der Telementation, d. h. der Informationsübermittlung, mithilfe des Codes, auf den man sich zuvor einigen muss. Damit wären wir, vereinfacht zusammengefasst, beim zweiten Trugschluss, den Harris determinacy fallacy nennt (1981:10), und somit beim Trugschluss des fixier-
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ten Codes. Was sich gemäss Harris zum Sprachmythos ausgewachsen hat, ist die Annahme, Sprache sei ein finites Set von Regeln, die infinite Sets von Paaren bilde, wobei ein Glied eine Lautsequenz sei oder eine Sequenz geschriebener Zeichen, und das andere Glied dessen Bedeutung (1981:11). Als Benützer müsse man nur die Regeln kennen. „On what basis is it possible to disengage from the incessant variability of language any clearly defined object of analysis at all? This is the basic problem for a science of language.“ (Harris 1981:31) Denn was immer variiert zwischen Sprecher und Hörer, oder zwischen der Übermittlung einer Botschaft zu einer Gelegenheit oder der Übermittlung derselben Botschaft zu einer anderen Gelegenheit, kann aufgrund der genannten Annahmen, der Annahmen der Telementation und klaren Begrenztheit, nicht mehr zur Sprache gerechnet werden. Darin sieht Harris einen grossen Missstand. Seine Kritik richtete sich primär gegen die orthodoxe (d. h. generativistische) Linguistik. Dieser hielt er den integrationalen Ansatz entgegen, der die Entstehung von Sprache als Ergebnis kontinuierlicher Interaktion von Individuen in spezifischen Kommunikationssituationen sieht. Auf diesen Konflikt innerhalb der Linguistik soll hier nicht näher eingegangen werden.3 Auch wenn Harris’ Entwurf des Sprachmythos und seine Kritik daran sich teilweise auf eine vage Begriffsauslegung stützt – bspw. wird nicht einsichtig, warum ihm die Telementation als Begriff ein Dorn im Auge ist, nicht aber die Kommunikation (weitere, teilweise harsche Kritik an Harris 1981 übt Percival 1984) –, kommt ihm dennoch das Verdienst zu, zur Selbstreflexion der Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin beigetragen zu haben. Die fixed-code-fallacy und damit die Annahme, eine Sprache sei räumlich und sozial ein homogenes Gebilde, lag freilich bereits organischen Sprachkonzepten des ausgehenden 19. Jhs. zugrunde, die mit unterschiedlicher Gewichtung Sprachentwicklung, Sprachwandel und Sprachverbreitung theoretisch zu fassen versuchten. Genannt seien bspw. Schleichers Stammbaumtheorie und Schmidts bzw. Schuchardts Wellentheorie (Freudenberg 1983:9). Aus dieser Sicht verbreiten sich neue sprachliche Formen wie Wellen, die von einem Zentrum ausgehen (z. B. die zweite Lautverschiebung vom Süden des deutschen Sprachgebiets aus) und gegen die Peripherie hin (im Falle der zweiten Lautverschiebung gegen den Norden des deutschen Sprachgebiets hin) ihre Intensität verlieren. Sprache wird hier aber nicht als
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Die generativistische Überzeugung, dass Sprache keine kulturelle Errungenschaft ist, die sozial bedingtem Sprachwandel unterliegt, sondern eine natürliche, genetisch weitergegebene Begabung (Joseph 1987:11), schliesst die Sprachstandardisierung als Studienobjekt ohnehin aus.
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von Menschen geschaffener Code gesehen, sondern als Naturphänomen. Klein ist sodann der Schritt von der Konzeptualisierung von Sprache als Naturphänomen zu einer kompetitiven, darwinistischen Sichtweise auf das Neben- und Gegeneinander von Sprachen (Schleicher 1863).4 In Sprachtheorien des 19. Jhs. sowie in darwinistisch oder neo-darwinistisch geprägten Sprachtheorien gerät der Aspekt des Artefaktischen bei
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„The formation of different languages and of distinct species, and the proof that both have been developed through a gradual process, are curiously parallel… Languages, like species, can be classed in groups under groups, either naturally according to descent, or artificially by other characters…“ (Darwin 1871:465) Soweit Darwin. Es gibt neue Versuche, die Evolutionstheorie für Sprachwandelbeschreibung wieder heranzuziehen. So vertritt bspw. Bichakjian 2002, der sich gegen die strikte Trennung von Körper und Geist und das Tabu wehrt, letzteres auch in evolutionärer Perspektive zu betrachten, die These, dass sprachliche Phänomene wie Laute, grammatikalische Markierungen oder syntaktische Strategien in neuromuskulärer Hinsicht unter Selektionsdruck ständig funktionaler und ökonomischer werden (Bichakjian 2002:X). Beispiele sind die Erosion flektierender Systeme und die Ersetzung von lang/kurz-Distinktionen durch alternative Distinktionen im Lautsystem. Laut Bichakjian würden sprachliche Diversität und Sprachwandel in der kanonischen Linguistik zwar beschrieben (2002:12), die Frage einer Entwicklungsrichtung durch Adaptionen werde jedoch vermieden. Somit werde theoretisch in Studien zum Sprachwandel Uniformitarianismus vertreten, also von zyklischen Modellen des Wandels (symbolisiert etwa durch das Rad), und nicht von einer Entwicklung (einem Vektor) ausgegangen (Bichakjian 2002:198). Man weiss, dass die Temperatur des Universums gesunken ist, dass Organismen komplexer werden, dass die Technologie unaufhaltsam fortschreitet. Nur bei der Sprache, so Bichakijan, nehmen wir einen evolutionären Stillstand und eine unvoraussagbare Diversität an (2002:40). Hinter dieser Haltung sieht Bichakijan die Verhaftung in kulturellem Relativismus (2002:80), welcher auf der Idee der Gleichrangigkeit aller Sprachen fusst. Letztere habe keine empirische Grundlage (Bichakjian 2002:89f), sei lediglich politisch motiviert und wolle der Idee der westlichen Überlegenheit Gegensteuer geben. Bichakjian (2002:109 und passim) weist darauf hin, dass bei solchen Aussagen Komplexität und Funktionalität einer Sprache verwechselt würden. Tatsächlich sei in indoeuropäischen Sprachen eine Reduktion der materialen Komplexität bei einer Zunahme der funktionalen Möglichkeiten zu beobachten (2002:130). So machen nach Bichakjian (2002:135) die französischen zwei und deutschen drei grammatischen Geschlechter das Französische und Deutsche gegenüber dem Englischen nicht höherrangig, da sie in dieser Hinsicht eben komplexer seien, sondern ganz im Gegenteil: Diese Sprachen „should be assessed in terms of the loss of efficiency their complexity is responsible for – not only useless notions have to be stored in the brain, ... but neuromuscular processes have to be activated each time to convey meaningless markers.“ Die sprachstrukturellen Beispiele, die Bichakjian nennt, und die den Spracherwerb erleichtern sollen – die Entwicklung vom flektierenden zum präpositionalen Modell, komplexere Zeitformen, die Wichtigkeit der Wortstellung, der Wechsel von head-last zu head-first-Strukturen –, weisen in die Richtung des Englischen als evolutionär durch vielfältige Adaptationen obsiegender Sprache. Das mag auf den ersten Blick einleuchten. Bichakjian unterschlägt hier jedoch, dass die Aufschlüsselbarkeit synthetischer Formen für das Verständnis den Präpositionalkonstruktionen überlegen sind, da letztere nicht herleitbar sind, sondern es für das Verstehen entscheidend ist, ob man ihnen in dieser Konstruktion in genau dieser Form schon einmal begegnet ist. S. auch Nettle 1999 für die neo-darwinistische Sicht auf Sprachentwicklung und sprachliche Diversität.
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Kultursprachen aus dem Blickfeld. Diesen Vorwurf kann man Kloss und seinem Konzept von Ausbau- und Abstandsprachen nicht machen, welches Definitionen von Sprache und Dialekt zu präzisieren sucht (Kloss 1978:23ff).5 „Die Bezeichnung ‚Abstandsprachen‘ will zum Ausdruck bringen, dass das betreffende Idiom als Sprache aufgrund seines Abstandes anerkannt wird, wobei natürlich nicht an räumlich-geographischen, sondern an sprachimmanenten, sprachkörperlichen Abstand gedacht ist. Die Bezeichnung ‚Ausbausprachen‘ könnte umschrieben werden als ‚Sprachen, die als solche gelten aufgrund ihres Ausbaus, ihres ‚Ausgebautseins‘ zu Werkzeugen für qualifizierte Anwendungszwecke und -bereiche.“ (Kloss 1978:25) Beispiele für Abstandsprachen sind das Baskische oder Albanische, die zur Sprachfamilie der umliegenden Sprachen nicht zugehörig sind – die genealogische Denkweise bei der Einteilung von Sprachen bildet also eine Voraussetzung des Klossschen Konzeptes von Abstand- und Ausbausprache. Um Ausbausprachen handelt es sich, wenn sich eine Sprache soziologisch von einer mit ihr verwandten Sprache verselbständigt, wofür Kloss das Slowakische in Bezug auf das Tschechische anführt. Die meisten Einzelsprachen sind, je nach Bezugsgrösse, sowohl Abstand- wie Ausbausprachen. Seltener sind Nur-Abstand oder Nur-Ausbausprachen. Entscheidend ist die Entwicklung der Schriftsprache und im Besonderen der Fachprosa. „Damit eine Sprachform als Ausbausprache gelten kann, muss es in ihr Bücher über sachliche Themen geben.“ (Kloss 1978:29) Zwar stellt Kloss für seine Einteilung in Ausbau- und Abstandsprachen konkrete Kriterien auf; messbar sei der Abstand am Lautstand (d. h. an gemeinsamen lautlichen Entwicklungen), morphologisch (d. h. am grammatischen Aufbau), am Wortschatz (wenn 81% des Wortschatzes Kognaten sind, ist lexikalische Ähnlichkeit gegeben) und an der Verständigungsmöglichkeit. Bei der Verständigungsmöglichkeit differenziert er nach Grad, Richtung (ob nur von Sprache A nach Sprache B oder von Sprache B nach Sprache A oder aber in beide Richtungen Verständnis gewährleistet ist) und nach Gesprächsebene (Kloss 1978:63ff). Zu einer konkreten Anwendung seines Kriteriensystems kam es jedoch nicht. Für diese mangelnde Empirie wurde Kloss vielfach kritisiert (z. B. Joseph 1987:3). Aber immerhin war Kloss einer der ersten, der eine theoretische Anordnung von Sprachen oder Idiomen, wie er sie nannte, unter Berücksichtigung ihrer sozialen Bezüge untereinander vornahm. Um der gleichzeitigen Wirkung verschiedener inner- und aussersprachlicher Parameter Rechnung zu tragen, hat sich zur Unterscheidung von Spra-
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Kloss zieht dem Begriff Dialekt den aus seiner Sicht unmarkierten Begriff Idiom vor.
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chen und Dialekten auch in der deutschsprachigen Linguistik der aus der angelsächsischen Soziolinguistik entlehnte Begriff Varietät etabliert. „Eine Varietät ist eine kohärente Gesamtheit sprachlicher Elemente, deren Distribution geographisch, nach sozialen oder nach Funktions- und Situationskriterien erfolgen kann, und die sowohl von der Gruppe ihrer Benutzer selbst, als auch von aussen als eigenständig anerkannt wird.“ (Dovalil 2003:109) Varietäten werden nicht als klar voneinander abgrenzbare Grössen gesehen, sondern in Kontinua beschrieben.6 Der Blick auf Kontinua ist nicht nur auf Lekte (z. B. Dialekte, Soziolekte, Genderlekte, Funktiolekte), sondern auch auf disparate Sprachen möglich. Das Westgermanische Dialektkontinuum hat mindestens drei grosse autonome Zentren: Standarddeutsch, Standardenglisch und Niederländisch (Downes 1998:34).7 „We are confronted with continua in every dimension, including the historical, in our attempt to discover what kind of entity ‚a language‘ is. Obviously, it is wrong-headed, on the purely linguistic level, to think of ‚The English Language‘, ‚The French Language‘ and so on, as discrete ‚things‘ with clear boundaries, internal homogeneity, or invariant rules, either in space or time.“ (Downes 1998:32) Für Kontinua hat der laienlinguistische Standpunkt jedoch nicht viel übrig. Das Spektrum von Standard und Non-Standard wird lieber als Werteskala zwischen guter und schlechter Sprache aufgefasst (Trudgill 1999).8 Auch wenn es ein linguistischer Gemeinplatz ist, dass Dialekte gegenüber der Standardsprache funktional oder strukturell keine minderwertigen Sprachsysteme sind, wird ausserhalb der Linguistik an der uralten Hierarchisierung festgehalten: „Outside of linguistics, the populace at large adheres to the age-old hierachization of languages and dialects, and to a banishmentfrom-Eden scenario: the standard represents the original, pure form of the language, relative to which all spoken dialects are degenerate and inferior.“ (Joseph 1987:88) Im Lichte dieses archetypischen Mythos des Goldenen Zeitalters sind Dialekte noch nicht vom Organismus der perfekten Sprache abgespalten und Wörter noch nicht von ihren ursprünglichen Bedeutungen abgewandert (Joseph 1987:9). Es handelt sich um eine teleologische Sicht auf Sprache, wonach sich ein Sprachsystem zum Guten und Reinen hin entwickelt, sein Goldenes Zeitalter erlebt und durch das Verschulden inkompetenter und unwissender Sprecher verfällt. Sprachbenützer werden als potenzielle Störenfriede gesehen, die die perfekte sprachliche Struktur
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S. dazu ausführlich Löffler 2005a:79f. Steinhauer (2002:36) zählt neben Deutsch Englisch, Friesisch, Jiddisch, Niederländisch und Afrikaans zu den westgermanischen Sprachen. Zu Modellen von Standard vs. Non-Standard vgl. Kapitel 3.1. der vorliegenden Studie.
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verletzen (Cameron 1995:4, Watts 2000:35). Man hält die Standardsprache für den gesunden Originalzustand einer Sprache, die Normen als inhärent, und blendet den Anteil des durch den Menschen Geschaffenen aus. Auch empirisch gestützte Gegendarstellungen konnten diesem Mythos nichts anhaben. „After two centuries the various revolts against it have not trickled down to the level of general knowledge. It is widely believed, implicitly or explicitly, that an original, correct form of the language has decayed to its present state, and that it is a cultural duty to restore it.“ (Joseph 1987:8) Diese laienlinguistische Vorstellung – sie wird in Kap. 3.4. noch einmal thematisiert – ist zwar wissenschaftlich belanglos (Kloss 1978:68), aber von überragender psychologischer Bedeutung und prägend auch für sprachpolitische Entscheide. Sie steht und fällt mit einem organischen Sprachkonzept, das in der Sprache, selbst in ihren standardisierten, verschriftlichten Formen, primär die Anteile des natürlich Gewachsenen sieht. „Standard languages are cultural constructs but perceived as natural.“ (Downes 1998:41) Um 950 nach Christus gab es in Europa sechs ausgebaute Standardsprachen, die über Grammatiken und Literaturen verfügten und als Geschäftsund Administrationssprachen verwendet wurden: Latein, Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Angelsächsisch und Kirchenslavisch. Im 13. Jh. waren bereits 17 grössere Standardsprachen in Gebrauch: Latein, Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Kirchenslavisch, Hochdeutsch, Niederdeutsch, Französisch, Isländisch, Russisch, Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch, Italienisch, Norwegisch, Schwedisch und Dänisch (Deutsch 1968:599). Als Schriftsprachen verloren einige davon bis 1800 an Bedeutung, z. B. Niederdeutsch und Katalanisch, andere kamen jedoch dazu, z. B. Polnisch und Türkisch. Deutsch (1968:599) schätzt, dass zwischen 1800 und 1900 die Zahl der in Europa verwendeten voll ausgebauten Standardsprachen als Nationalsprachen von 16 auf 30 anstieg – schneller also als in all den vorangegangenen Jahrhunderten. Von 1900 bis 1937 erhöhte sich die Zahl auf 53. „Most of these nationalistic movements, new states, and new autonomous districts have grown up from already existing language groups, among people who were already speaking some old vernacular in their families and in their simple, mostly ruraly life. These now, on becoming commercialized, industrialized, and literate, are elevating their idiom to the status of a written standard language with its own grammar, literature, and claims for social recognition.“ (Deutsch 1968:601) Deutsch schliesst seinen Überblick mit einer überraschend deutlich negativen Wertung: „So far as the language factor is concerned, the bulk of evidence shows for the years from 1800 to 1941 a steady increase in the diversity and strength of nationalistic feeling. In the long run, the peaceful unification of Europe may have to be brought
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about against this very current.“ Aus Deutschs Ausführungen geht nicht genau hervor, inwiefern er zwischen Amts- und Nationalsprachen differenziert. Heute sind in 42 europäischen Ländern 21 Amtssprachen in Gebrauch, gesprochen werden in Europa jedoch rund 100 Sprachen. Es versteht sich von selbst, dass diese Zahl je nach Kriterien, wonach Sprachen und Varietäten von anderen Sprachen unterschieden werden, schwankt. Die grosse Zahl heutiger Nationalsprachen (bzw. Standardsprachen, die in Nationen als Amtssprachen verwendet werden) lässt vergessen, dass es sich dabei historisch um ein relativ neues Phänomen handelt. Nationen im heutigen Sinn konnte es erst mit der historischen Beschleunigung durch die industriellen Gesellschaften sowie den „Print Capitalism“ geben (Anderson 1999). Eine von Andersons Annahmen ist, dass die weiträumige schriftliche Kommunikation Funktionen übernehmen konnte, die vormals Religionen innehatten, darunter Hilfe zur psychologischen Überwindung des Faktums der Sterblichkeit. Nachdem die Religionen immer weniger wichtig wurden und das gedruckte Wort aufkam, wurde es plötzlich möglich, dass sich Gemeinschaften in ihrer Unabhängigkeit und Begrenztheit selber beschreiben und diese Beschreibung vereinheitlichen, verbreiten und bewahren konnten. Die Gemeinschaft imaginiert sich selbst und erreicht dadurch Unsterblichkeit (vgl. Smith 1986:10). Populär wird die Idee des Nationalstaats mit der französischen Revolution, welche die Deckung von Nationsgrenzen, Staatsgrenzen und Sprachgrenzen anstrebt (Mühlhäusler 2005:24). Dabei war gerade die deutsche Nation bis zum 19. Jh. bekanntlich alles andere als eine kohärente Gemeinschaft in politischer Einheit mit gemeinsamen Interessen. Die Einheit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation ist eine Illusion. Gerade deshalb wird die Sprache zu einer Art Kristallisationspunkt der nationalen Identität (Haarmann 1991:103). Die Arbeit an und mit der Sprache bedeutet aus dieser Sicht Arbeit für die nationale Gemeinschaft.9 Dazu gehört auch die vermeintliche Verteidigung einer Nation durch die Abwehr von fremdsprachlichem Einfluss auf die eigene Standardsprache. „Grosse Teile der Sprachwissenschaft, Sprachpflege und Sprachpädagogik seit den Sprachgesellschaften des 17. Jhs. beruhen auf der Voraussetzung, durch kritische Arbeit insbesondere an
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So mag auch die Unternehmung des Schweizerischen Idiotikons vom schweizerischnationalen Aufbruch nach 1848 geprägt worden sein. Im Aufruf betreffend Sammlung eines Schweizerdeutschen Wörterbuchs von 1862 ist von zu bewahrenden nationalen Eigenthümlichkeiten die Rede. Im Gesuch an den Bundesrat um einen jährlichen Beitrag von 1873 wird mit der Leistung eines Wörterbuchs „für die Nutzbarkeit und Ehre unserer Nationalsprache“ geworben. Vgl. http://www.idiotikon.ch/, aufgesucht am 15.5.2008.
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Orthographie, Lexik und Grammatik zur Stärkung des Bewusstseins des nationalen Charakters der Sprache und damit zugleich zur staatlichen Einheit des Sprachvolkes beitragen zu können.“ (Reichmann 2000:426) Noch im 19.Jh. konnte allein das Verfassen einer Grammatik oder eines Wörterbuchs politische Absichten ausdrücken (Crowley 2003:56). So wollte Jacob Grimm mit dem Deutschen Wörterbuch den „ruhm unserer sprache und unseres volks, welche beide eins sind“, erhöhen (Grimm 1854:LXVIII).10 Inwiefern der Traum des 19. Jhs. von einer Staats-, Kultur- und Sprachnation in einem einzigen Gebilde für das grossdeutsche Denken wegbereitend war, ist umstritten.11
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S. dazu Kirkness 1980, Kirkness et al. 1991 und Dückert 1987. Das grossdeutsche Denken prägte schon frühere kriegerische Auseinandersetzungen: die Eroberung Schleswig-Holsteins 1846, die Annexion von Elsass und Lothringen 1871 und die Besetzung Luxemburgs im 1. Weltkrieg.
3. Variation und Standardisierung The standardization process is … one which attempts either to reduce or to eliminate diversity and variety. (Wardhaugh 1987) We do not all think alike, walk alike, dress alike, write alike, or dine alike; why should we not use our liberty in speech also…? (Murray 1895)1
3.1. Standardsprache aus linguistischer Sicht Im Laienverständnis ist Standardsprache das, was übrig bleibt, wenn die Ausdrucksweise sozial und geographisch randständiger Sprecher ausgeschlossen wird (vgl. Lesley Milroy 1999:174). Die Standardsprache erscheint als der Idealzustand einer Sprache. Der Glaube, dass Sprache idealerweise in einer konsistenten und uniformen Art verwendet wird, ist der Kern der Standardisierungsideologie (standard ideology, s. Milroy/Milroy 1991, Cameron 1995:38). Dieser Ideologie zufolge soll optionale Variation zugunsten der Herausbildung eines einheitlichen Standards unterdrückt werden.2 Hinter dieser
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S. Murray (1978:189 und 366), die sich auf folgende Quelle bezieht: James A.H. Murray to unnamed correspondent, 5 Jan. 95. In: Archives of the Oxford University Press at the Oxford English Dictionary Annexe. Oxford. Im englischen Sprachraum wird bei populären Vorstellungen über Standardsprachen ersichtlich, wie ähnlich sprachliche Glaubensfragen religiösen Glaubensfragen sind (vgl. Joseph 1987:163). Milroy/Milroy (1991:40) stellen aufgrund ihrer Analyse von zahlreichen sprachkritischen Leserbriefen ein darin als typisch erscheinendes Meinungsprofil auf. „… such complaints… share the assumptions… 1. That there is one, and only one, correct way of speaking and/or writing the English language 2. That deviations from this norm are illiteracies, are barbarisms, and that non-standard forms are irregular and perversely deviant 3. That people ought to use the standard language and that it is quite right to discriminate against non-standard users, as such usage is a sign of stupidity, ignorance, perversity, moral degeneracy, etc.“ Entsprechend werden Sprachen, die ein grosses Spektrum an nicht-hierarchisierter Variation aufweisen, sowohl von ihren eigenen Sprechern als auch aus der Aussenperspektive, als primitiv, unaufgeklärt und unelegant angesehen (Joseph 1987:117, 129. S. auch Cameron 1995:40). Die moralische Komponente darin ist die Warnung vor dem sozialen Chaos, wenn formal vom kodifizierten Standard abweichende Sprache die Klarheit von Bedeutungen beeinträchtige
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3. Variation und Standardisierung
Ideologie steht eine Reihe von Diskursen.3 Diese Diskurse, die historisch weit zurückreichen (vgl. Samuel Johnsons Plan of a dictionary von 1747), werden in neueren, besonders angelsächsischen Forschungsansätzen,4 die direkt oder indirekt auf Foucaults Diskursbegriff abstellen, hinterfragt.5 Grundlage der Standardisierungsideologie ist die Überzeugung, es handle sich bei Standardsprachen um natürliche, vor Missbrauch und Zerfall zu schützende Phänomene mit einer linearen Entstehungsgeschichte – entgegen jeder linguistischen Evidenz, dass es sich bei Standardsprachen um kulturelle Konstrukte handelt (Downes 1998:41), die dem Wandel durch sprachliches Handeln unterworfen sind. In britischen Bildungsdebatten, die hier nicht aufgerollt werden können, prallen in der Frage zur Definition von Standardsprache Standardideologie, (linguistische) Standardologie und Laienlinguistik besonders deutlich aufeinander. Honey 1997 z. B. argumentiert, dass Standardenglisch existiert, dass es etwas Gutes und einfach zu Beschreibendes ist, und dass diejenigen, die diese Sicht in Frage stellen, entweder Dummköpfe oder Scharlatane sind (Bex/Watts 1999:9).6 Im Visier von Honeys Kritik steht die sprachwissenschaftliche Doktrin der Deskriptivität und Arbitrarität (Milroy/Milroy 1991:10); strukturelle Unterschiede
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(Bex/Watts 1999:7). Wer Sprachvariation folglich toleriert, trägt aus dieser Perspektive zur Fragmentierung von Sprach- und Kulturräumen bei und gefährdet die soziale Ordnung. Sprachgebrauch wird mit sozialem Verhalten gleichgesetzt (Bex/Watts 1999:7f), korrekter Sprachgebrauch mit gutem Sozialverhalten, ja sogar mit guter Staatsbürgerschaft. Die critical discourse analysis betrachtet Sprache als Form sozialer Praxis (Stevenson 2002:7). S. auch Kress: „Discourses are systematically-organized sets of statements which give expression to the meanings and values of an institution. Beyond that, they define, describe and delimit what it is possible to say and not possible to say (and by extension – what it is possible to do or not to do) with respect to the area of concern of that institution… A discourse provides a set of statements about a given area, and organizes and gives structure to the manner in which a particular topic, object, process is to be talked about.“ (Kress 1985:6f) Für eine griffige Diskursdefinition s. schliesslich Linke et al. 2004:290. z. B. Fairclough 2003, 2003a; Wodak 1989, 1999; Crowley 2003, Watts 2000, Downes 1998, Joseph/Taylor 1990, Cameron 1995 „Foucault’s project was to understand the profoundly sociohistorical way in which ‚knowledge‘ is produced. Such conditions of knowledge production are called a discursive formation or discourse. These are rules constituting what is true or false in some domain. … Such discourses create subjects, persons made by the representations, and in so doing create, legitimate and reproduce the power relations by which a modern society controls its population. Kinds of knowledge create kinds of people. And battles about knowledge in this sense are also sites where power can be contested.“ (Downes 1998:411) Ein häufiges Argument in Grossbritannien für eine präskriptive Schultradition ist dasjenige, dass man der Arbeiterschicht damit Aufstiegsmöglichkeiten biete, was, so Honey 1997, von gewissen Linguisten vereitelt würde (vgl. Lesley Milroy 1999:188f).
3.1. Standardsprache aus linguistischer Sicht
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zwischen Sprachvarietäten, auch zwischen Standard und Nonstandard, gelten von einem rein linguistischen Standpunkt aus gesehen als neutral und willkürlich. Die Doktrin der Arbitrarität verunmöglicht Werturteile über Sprachen und Dialekte. Aus dieser Sicht ist Standard nichts anderes als die sprachliche Uniformität im Sinne einer einheitlichen Praxis. Populistische Sprachkritiker wie Honey wollen die Standardsprache hingegen als Zeichen menschlicher Exzellenz verstanden wissen. Die Etymologie des Wortes Standard ist nicht vollständig transparent. Es ist nicht bekannt, ob es sich um ein ursprünglich germanisches, altdeutsches zusammengesetztes Wort (stand-hart) handelt oder ob es auf (mittel-) lateinisch extendere zurückgeht und die Bedeutung ‚eine Flagge ausbreiten‘ tragen konnte (Joseph 1987:3, Crowley 1989:91f, Löffler 2005:12). Die Verbindung mit dem germanischen Verb stand wäre demzufolge ein Missverständnis. In der Bedeutung ‚Einheitssprache‘ wurde der Begriff Standard im 19. Jh. aus dem Englischen ins Deutsche übernommen. Trotz unterschiedlicher Konnotationen – elitär und unerreichbar, musterhaft normal, einfach (Löffler 2005:13) – und teilweise divergierender Bedeutungslinien im englischen und deutschen Sprachraum bildete sich als Bedeutungskern die Eigenschaft der Norm (Jospeh 1987:5) und Uniformität heraus.7 Uniformität ist eine sozial vereinende Kraft (Crowley 2003:77). „The function of this ‚standard‘ was to act as an authoritative focal point, as a marker and constructor of authority around which could be grouped aries, fleets, nations and cities. Thus the ‚standard‘ would be a focus of unity and under it would be all those who recognised its authority.“ (Joseph 1987:5) Wie ist der Sprachstandard konzeptuell konkreter fassbar? Es gibt, frei nach Joseph (1987), neun Gesichtspunkte, die den Begriff Standard definitorisch umreissen, wobei seine Punkte den Kernkonflikt zwischen Standardideologie und linguistischer definitorischer Vagheit umschiffen: 1. Der Standard wird als Gegensatz zum Non-Standard gesehen. 2. Dialektsprecher anerkennen die Existenz von Sprachnormen. 3. Die Standardsprache ist kodifiziert, d. h. in Grammatiken und Wörterbüchern festgeschrieben. 4. Der Standard ist verschriftet, 5. stabil und 6. mit hohem Prestige verbunden. 7. Die Bildung von Standards ist mit Sprachplanung verbunden. 8. Standards sind untereinander übersetzbar. 9. Repräsentiert wird der 7
Die Begriffe standard und dialect werden im Englischen anders verwendet als im Deutschen: „Deutsche Standardsprache scheint nicht dasselbe zu sein wie Standard English. Es ist ein anderes Wort für Hochdeutsch.“ (Löffler 2005:14) Standardenglisch kommt hingegen eher dem sozialen Dialekt der Mittel- und Oberschicht gleich. Zu verschiedenen Definitionen und zu Beobachtungen zur Geschichte des Begriffs Standard in der Linguistik s. Löffler 2005:9ff und 14ff.
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3. Variation und Standardisierung
Standard durch Personen mit etablierten kulturellen Rollen innerhalb der Gemeinschaft. Auf einige dieser Gesichtspunkte wird im Folgenden etwas näher eingegangen. Trudgill (1999 und passim) erörtert die Definition von Standardenglisch ex negativo (vgl. Löffler 2005:14, der sich auf Glinz 1980 bezieht). Die Standardsprache sei keine Sprache, sondern nur eine Varietät unter vielen.8 Sie sei kein regionaler Akzent, sondern (in Grossbritannien) ein sozialer Akzent der Mittel- und Oberklasse. Es gehe also um einen standardisierten Akzent des Englischen und nicht um Standardenglisch selber. Es sei kein Stil. „The old man was bloody knackered after his long trip“ sei Standardenglisch, auch wenn stilistisch sehr unterschiedlich von „Father was exceedingly fatigued subsequent to his extensive peregrination“, wobei, wie Trudgill einräumt, in formellen Situationen meistens Standardenglisch verwendet werde. Aber stilistisches Switchen erfolge innerhalb von Dialekten, und nicht zwischen Dialekten (Trudgill 1999:121). Standardenglisch sei aber auch kein Register. Was ist es denn? Trudgill sieht in der englischen Standardsprache den Dialekt der sozial am höchsten Eingestuften (1999:123), der primär durch grammatische Marker gekennzeichnet werde (Trudgill 1999:125), im Falle des Englischen die korrekte Verbkonjugation, keine multiple Negation, die Berücksichtung der unregelmässigen Reflexivpronomen (himself, myself) und dgl. mehr. Dass der als soziale Dialekt definierte Standard verschiedene Formen annehme (wie z. B. Schottisch, Amerikanisch, Australisch, 1999:124), sieht er als ungelöstes Problem in seinem theoretischen System, das den Standard von den Kategorien Stil und Register trennt. Trudgill räumt ein, dass es Unsicherheiten darin gebe, welche Formen nun Standard seien und welche nicht, dass dies aber eine Frage von Sprachwandel sei (1999:126). Somit wird das Kontinuum, im Gegensatz zu anderen Systematisierungsversuchen von Standard und NonStandard, zurückgewiesen. In der germanistischen Linguistik sind Modellierungen von Standard und Non-Standard (bzw. Substandard und Dialekt), die aus der der empirischen Verifizierbarkeit verpflichteten Variationslinguistik kommen, deutlicher von Kontinua geprägt als in der angelsächsischen Sprachwissenschaft.9
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Diese Ansicht teilt James Milroy (1999:18), im selben Band, nicht. Vgl. dazu auch Joseph 1987:IX. Lange Zeit wurden nur deutsche Dialekte empirisch untersucht. „Die Hochsprache war mit den Normbüchern zur Orthographie, Orthophonie und Ortho-Grammatik wenn nicht wohl definiert, so doch in allen Teilen festgeschrieben. Umgangssprache und Halbmundart galten von den Polen her gesehen als von der Wissenschaft zu vernachlässigende Mischformen.“ (Löffler 2005:147) Als wissenschaftswürdig wurden im
3.1. Standardsprache aus linguistischer Sicht
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Um das Kontinuum zwischen Hochsprache, Umgangssprache, Halbmundart und Mundart zu beschreiben, sind unterschiedliche Modelle entwickelt worden,10 wozu Löffler bemerkt: „Wie die deutsche Gemeinsprache ein Kunstprodukt ist und nicht die Sprache eines politischen und kulturellen Mittelpunktes eines Hofes oder einer Hauptstadt – so sind auch alle Einteilungsvorschläge und so genannte Definitionen zur Binnengliederung des Deutschen Kunstprodukte, allesamt an den Schreibtischen der Sprachwissenschaftler entstanden. Datengrundlage ist dabei die eigene Spracherfahrung, die Introspektion, ausnahmsweise sind [sic] es gezielte Beobachtung an Texten und ganz selten sind es empirische Grossversuche, die sich dem ‚Datensalat‘ der Sprachwirklichkeit aussetzen.“ (Löffler 2005:25) Löffler entwirft das Bild eines grossen Breis, den man mit Messern zu zerschneiden versucht oder daraus „mit terminologischen Förmchen“ Figuren aussticht. Nach jedem Schnitt zerläuft der Brei erneut. „So kommt es, dass jeder an seinem Schreibtisch den Brei etwas anders durchschneidet. Das ist nicht weiter schlimm, solange niemand behauptet, ihm sei es gelungen, klare Schnitte anzubringen und haltbare Figuren auszustechen, die ein allgemein akzeptiertes terminologisches System ergeben.“ (Löffler 2005:25) Wie können solche Schnitte, bei all ihrer eingeschränkten Aussagefähigkeit, zum Beispiel aussehen? Baßler/Spiekermann 2001 stellen das Kontinuum zwischen Dialekt und Standard in einem Dreieck dar, an dessen Basis sich die Dialekte mit geringer kommunikativer Reichweite befinden. Diesen übergeordnet sind Regionalsprachen, die zwar auf Dialekten basieren, typische Dialektmerkmale jedoch abgebaut haben. Die Regionalsprachen fassen sie weiter zu Regionalstandards zusammen. (In der Deutschschweiz haben sich weder Regionalsprachen noch Regionalstandards in diesem Sinne ausgebildet, das Modell ist also für die Deutschschweizer Sprachsituation nur von beschränktem Nutzen.) Den Regionalstandards übergeordnet sind drei real existierende nationale Standards. An der Spitze des Dreiecks befindet sich
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19. Jh. die Dialekte deshalb gesehen, weil in ihnen das Prinzip der kommunikativen Selbstregulierung uneingeschränkt zur Geltung kommt (Albrecht 2003:15). Sie wurden als Naturgegenstände gesehen, unabhängig von der Subjektivität der Sprecher. Insofern kommt der Standardisierung von Sprachen die Störung ihrer „natürlichen“ Entwicklung gleich. Das auf dem Konzept des Organismus gründende Forschungsinteresse (vgl. Besch 1982:5) ist aber mittlerweile Wissenschaftsgeschichte. Mit der Soziolinguistisierung der germanistischen Linguistik drängten sich die Fragen nach dem Verhältnis zwischen den Varietäten innerhalb des deutschen Varietätenspektrums auf. Neben dem vierstufigen Modell gibt es das alte einfache Dreiermodell (Löffler 2005:11), allgemein bekannt als die Trias Hochsprache – Umgangssprache – Mundart bzw. Standard – Substandard –Nonstandard (oder Dialekt).
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3. Variation und Standardisierung
der Standard, dessen Konstruktcharakter von den Autoren hervorgehoben wird. Hägi (2006:37) sieht die Kenntlichmachung des Konstruktcharakters eines einheitlichen Standards als Vorteil des Modells. Huesmann (1998:34) sieht das Dialekt-Standard-Kontinuum aufgespannt zwischen Standard und Basisdialekt, gebildet von diatopischen Varianten. Sie beschränkt sich explizit auf die Beschreibung des bundesdeutschen Varietätenspektrums – die plurizentrische Variation wird in ihrer Studie nicht thematisiert. Huesmann teilt ihre Definition von Standard mit zahlreichen anderen Autoren: Standardsprache wird überregional gebraucht, ist bildungsnah, besitzt maximale Ausdrucksfunktionen, ist kodifiziert und nicht variabel. Sie trägt soziales Prestige und gilt als Sprachnorm schlechthin (Huesmann 1998:10). Dabei räumt Huesmann ein, dass die definitorische Eigenschaft von Standard grössere Durchschlagskraft hat als ihre empirische (Huesmann 1998:28). Die Absenzen gewisser überregionaler Begriffe (Metzger, Fleischer, Samstag, Sonnabend) interpretiert Huesmann (1998:32) als Lücken im System, die mit Elementen besetzt würden, die der Standardsprache am nächsten kämen.11 Eine Standardsprache, so Huesmann, könne nur zu 95% standardsprachlich sein, der Rest variiere. Diese stark auf quantitative Kriterien abgestützte Sicht auf den Standard ergänzt Huesmann mit der definitorischen Bedingung, dass zwei von den drei Merkmalen kodifiziert, überregional und hohes Prestige tragend erfüllt sein müssen, wobei die Merkmale gruppenspezifisch und präskribiert die Standardsprachlichkeit eines gegebenen Elements abrunden. Aus diesen definitorischen Kompromissen geht einmal mehr der Konstruktcharakter des Begriffs Standard hervor. Dazu kommt, dass Huesmanns Bezug der definitorischen Merkmale auf die sprachliche Ebene – Aussprache, Grammatik, Syntax – nicht transparent ist. Für die soziolinguistische Beschreibung des bundesdeutschen Varietätenspektrums – wenn es nicht mehr um die Beschreibung des Systems, sondern um die Beschreibung der Verwendung des Systems, seiner Pragmatik, geht – berücksichtigt Huesmann 1998 traditionsgetreu die diatopische (primäre), diastratische (sekundäre) und diaphasische (tertiäre) Variation. Die diastratische Variation ist an die Sprecher – ihr Alter, ihr Geschlecht und ihre (wandelbare) Schichtzugehörigkeit – gebunden. Besonders herausgestrichen wird von Huesmann der Faktor Mobilität. Je höher die Mobilität der Sprecher ist, umso wahrscheinlicher verwenden sie die Varietät,
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Das Problem der Wörter, die in der Schriftlichkeit der verschiedenen Regionen verankert sind, für die es aber kein gemeindeutsches Wort gibt, ist bereits in den Sammlungen von Provinzialwörtern des 18. Jahrhunderts erkennbar. (Haas 1996:184)
3.1. Standardsprache aus linguistischer Sicht
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die in Huesmanns Modell die Schicht der Standardsprache darstellt. Als Beispiel führt sie schwäbische Studierende an, die in Berlin das Schwäbische aufgeben. Weitere diastratische Faktoren, welche nach Huesmann die Verwendung oder Nicht-Verwendung der Standardsprache beeinflussen – Ortsloyalität, Attitüden und Aufstiegsorientiertheit –, zeitigen empirisch keine einheitlichen Resultate, womit sich die Schwierigkeit, die Definition von Standard empirisch zu belegen, erneut bestätigt. Diese definitorische Vagheit wird von Huesmann (1998:10) auf intensionaler Ebene (bezogen auf die Menge der Eigenschaften, die dem Begriff Standard zugeschrieben werden) wie auf extensionaler Ebene (bezogen auf die Gegenstände, die vom Begriff Standard umfasst werden) thematisiert. „Intensionale Vagheit zeigt sich in den … schwankenden Definitionsmerkmalen (z. B. überregional, hohes Prestige, kodifiziert, gruppenspezifisch, ausgebaut), die sowohl quantitativ als auch qualitativ differieren. Die extensionale Vagheit des Begriffs macht sich dadurch bemerkbar, dass nicht bei jedem Gegenstand, d. h. weder bei einzelnen Sprachformen noch bei Sprachsystemen entschieden werden kann, ob diese zur Extension des Begriffs gehören oder nicht. … Die Gleichsetzung von standardsprachlich mit überregional oder kodifiziert usw. führt … zu Problemen. … So fällt es beispielsweise bei dem Merkmal überregional verbreitet schwer, zwischen überregionalen umgangssprachlichen und standardsprachlichen Sprachzeichen zu unterscheiden.“ (Huesmann 1998:11) Die nationalen Varietäten des Standarddeutschen sind, wie sowohl bei Trudgill 1999 als auch Huesmann 1998 hervorgeht, in intensionaler und extensionaler Hinsicht unbequeme Grössen in Definitionsmodellen der Standardsprache und werden dort daher kaum berücksichtigt.12 Ihre Subsumierung in die zugestandene fünfprozentige Restvariation (Huesmann 1998:32) ist unbefriedigend, da der Status der Varietäten nicht auf die einzelnen Zentren bezogen wird. Es muss unterschieden werden zwischen klein- und grossräumigen Varianten, zwischen sozialen und stilistischen Besonderheiten ihrer Verwendung.13 Ammon 1995 differenziert zwischen
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Eine Ausnahme ist Löffler 2005, der die grundsätzliche Frage, ob der Standard aus Varietäten bestehe oder ob es den Standard als Block gebe und die Varietäten als kleine Blöcke, die darunter oder daneben stehen, ausdrücklich thematisiert. Löffler 2005 sieht drei Zonen des Kontinuums. Als Messlatte gelten Kodifizierung/Normierung, aber auch die Mentalität der Nutzer. Diesem Aspekt wird in Kapitel 5.3.3. nachgegangen. Pointiert und die lexikographische Diskussion der Plurizentrik der 1990-er Jahre bereits vorwegnehmend meinte Hugo Loetscher aus seiner Schweizer Perspektive: „Was heisst schon ‚Besonderheiten‘? Statt ‚Perron‘ fällt es mir schwer, ‚Bahnsteig‘ zu sagen, und unvorstellbar ist es, unser gutes Trottoir durch ‚Gehsteig‘ oder gar durch ‚Bürgersteig‘ zu ersetzen. Vielleicht braucht man einen schweizerischen Duden, aber nicht unter
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3. Variation und Standardisierung
Varianten nach Bekanntheit (z. B. ist Sahne überall bekannt) vs. Varianten nach Geltung, nach situationsabhängigen und -unabhängigen Varianten (z. B. ist stimmhaftes /z/ im Anlaut in künstlerischen Darbietungen überall gültig, in der Umgangssprache aber nur in Deutschland) und der parallelen Verwendung von Varianten, gemeindeutschen Ausdrücken und deutschländischen Varianten.14 Es ist wichtig, Existenz und Gültigkeit der Norm zu unterscheiden (Ammon 2003:4).15 Insbesondere Varianten, die nur in der nichtöffentlichen Kommunikation bestimmter sozialer Gruppen verwendet werden, müssen innerhalb der nationalen Varietät differenziert werden. Eine nationale Varietät kann nicht nur in Abgrenzung zum Nonstandard definiert werden. Sie muss darüber hinaus gegen die anderen, ebenfalls standardsprachlichen Varietäten derselben Sprache abgegrenzt werden (Ammon 1997:188). Die unzureichende lexikographische Behandlung nationaler Varianten zeigt sich beispielsweise darin, dass sich die Markierung ugs. für umgangssprachlich in einschlägigen Wörterbüchern sowohl auf regionale als auch auf sozial-stilistische Verwendungsbereiche beziehen kann. In diesem Fall liegt die Unzulänglichkeit darin, dass regionale Begrenztheit mit Non-Standard gleichgesetzt wird.
3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung Der Sprachstandardisierungsprozess strebt der maximalen Elaboration der kommunikativen Funktion entgegen. Gleichzeitig wird die sprachinhärente Variation minimiert (vgl. Haugen 1966:931). Welche sozialen Kräfte treiben die Sprachstandardisierung an? Ammon (1995:80f, 2003:1, 2005) und mit ihm Dovalil (z. B. 2003:114) nennen Normautoritäten, Kodifizierer, Modellsprecher und -schreiber sowie Sprachexperten, von denen die sprachlichen Normen einer Sprachgemeinschaft gesetzt und bekräftigt werden. Diese gelten insbesondere für öffentliche Kommunikationssituationen. Im Hinblick auf ihre Implementierung ist eine Standardsprache umso erfolg-
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dem Zeichen von Besonderheiten, sondern von Üblichkeiten. Oder vielleicht könnte man eine Sonderreihe herausgeben ‚Wie sagt man in der Bundesrepublik‘ oder ‚Wie sagt man in der DDR‘ unter der jeweiligen Berücksichtigung derer Besonderheiten.“ (Loetscher 1986:32) Zum Begriff deutschländisch vgl. Polenz 1996:205ff, Ammon 1995:319. Dies kann zu Versuchen führen, den „Grad“ nationaler (und regionaler) Varianten zu bestimmen: kodifiziert – Gebrauchsstandard – nach Geltung und Bekanntheit – nur nach Geltung – situationsunabhängig – situationsabhängig – nicht austauschbar – austauschbar – Gesamtregion – Teilregion – spezifisch – unspezifisch.
3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung
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reicher, je weniger die vier Kräfte miteinander in Konflikt stehen.16 Dies kann sich sowohl auf die Herausbildung einer Standardsprache als auch auf die Herausbildung von Varietäten einer Standardsprache beziehen. Prozesse, die zu strukturellen Unterschieden zwischen Sprachvarietäten führen, also sprachliche Konvergenz und Divergenz, stehen in denselben sozialen Kräftefeldern. Im Hinblick auf die Plurizentrik wichtig ist die teilweise nationalstaatliche Gebundenheit der sozialen Kräfte, die bei der Setzung von Normen eine Rolle spielen. Dazu gehören staatlich angestellte Lehrer als Normvermittler (vgl. Ammon 1995:427 und 436 zur Wichtigkeit von Lehrerinnen und Lehrern als Normautoritäten sowie Kapitel 5.3.2. der vorliegenden Studie) und Institutionen wie z. B. die Kultusministerkonferenz in Deutschland für die Normsetzung (Scharloth 2004:2). Die allgemeine Schulpflicht, die im Verlauf des 19. Jhs. europaweit sukzessive eingeführt wurde, trug mit der Verbreitung von Schulbüchern zur Sprachstandardisierung bei. Eine indirekte Einwirkung auf Form und Setzung einer Standardvarietät sieht Ammon in der Bevölkerungsmehrheit – man müsste hier hinzufügen: in der gebildeten Bevölkerungsmehrheit. Im Allgemeinen hänge der Einfluss der Bevölkerungsmehrheit davon ab, ob einflussreiche Sprecher und Kodifizierer elitär oder populistisch denken (Ammon 2003:8). „Je nach sprachpolitischen oder -soziologischen Umständen und zum Teil je nach persönlichen Einstellungen werden die Personen, die unsere vier Komponenten bilden [Normautoritäten, Kodifizierer, Modellsprecher und -schreiber sowie Sprachexperten, RS], sich weniger oder mehr als sprachliche Interessenvertreter der Bevölkerungsmehrheit sehen und dementsprechend handeln.“ (Ammon 1995:81)17 Neuerungen des Standards gehen nicht einzeln von Normautoritäten, Kodifizierern, Modellsprechern und Experten aus, sondern können aus Rückkoppelungsprozessen zwischen diesen Kräften oder zwischen einzelnen Repräsentanten dieser Kräfte entstehen, so z. B. zwischen Modellsprechern und -schreibern. Schätzungsweise bis zur Mitte des 20. Jhs. waren dies in vielen Fällen Autoren literarischer Werke, heute sind es eher Modellschreiber und -sprecher der Medien, z. B. bekannte Journalisten. Zu den Vorbildern für die geschriebene Sprache gehören auch Sachbuchautoren und
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Die 35. Auflage des Österreichischen Wörterbuchs (ÖWB), dessen wissenschaftliche Qualität umstritten war (s. De Cillia 1996), ist ein Beispiel für eine konfliktreiche Rekodifizierung des Standards. Vgl. Kap. 5.1.2. der vorliegenden Studie. In Deutschland, ist Ammon überzeugt, gebe es einen Mangel an demokratischem Verständnis, weshalb die Normgebung eher elitär sei. Die Rolle der Bevölkerung sei also für die Standardgebung in Deutschland marginal. Lediglich in der Aussprache gebe es einen Einfluss der Mehrheit auf den Gebrauch der Standardsprache.
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3. Variation und Standardisierung
Autoren von Texten, die im Internet publiziert werden. Für die gesprochene Sprache nennt Löffler als Vorbilder Schauspieler, Berufssprecher in den Medien, Leute, die man geographisch für Repräsentanten der Standardsprache hält (vgl. auch Huesmann 1998, s. Kap. 5.3.3.5. der vorliegenden Studie), und Gebildete im Allgemeinen (Löffler 2005:23), wobei sowohl für den geschriebenen als auch den gesprochenen Standard die eigene Kompetenz als Standard-Autorität wirkt. In besonderem Masse beteiligt am Prozess der Unterdrückung optionaler Sprachvariation sind gemäss Cameron (1995) Verlagslektoren (s. Kap. 5.2.1.4. der vorliegenden Studie). Diese empfinden das Feilen an standardsprachlichen Texten vielleicht als stilistische Optimierung. Das, was Stil heisst, fällt jedoch in vielen Fällen in die Domäne der sprachlichen Restvariation, so Cameron 1995. „Thus however trivial and peripheral they may appear, the activities of copy editors are crucial, because they help to sustain the illusion of a uniform standard language.“ (Cameron 1995:40)18 Für den im Gegensatz zu Grossbritannien sprachlich föderalistischer strukturierten deutschen Sprachraum schätze ich den Einfluss der Lektoren als etwas geringer ein. Man denke hier z. B. an die Hausregeln, die sich grosse Blätter wie die Frankfurter Allgemeine oder die Neue Zürcher Zeitung im Hinblick auf die reformierte deutsche Rechtschreibung vorbehalten und so zu (zumindest orthographischer) Restvariation beitragen. Sowohl für den englischen wie auch für den deutschen Sprachraum (s. Kap. 5.3.3.5. der vorliegenden Studie) – und schätzungsweise für jede Standardsprache – stellt sich die Frage nach der historischen und gegenwärtigen Lokalisierbarkeit von Standardträgern und Standardzentren. Im Falle des Englischen enthalten populäre, laienlinguistische Definitionen von Standard19 mehrheitlich einen geographischen Indikator, wie z. B. aus folgender Aussage eines Dialektologen aus Ulster von 1891 hervorgeht: „… when I use English as referring to pronunciation …, I mean that of the average Southern Englishman, when speaking carefully in lecture-room, pulpit, stage, or platform.“ (Staples 1898:358) Ungleich vehementer und pos-
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Die Einheitlichkeit publizierter Texte sieht Cameron als Grundpfeiler der Standardideologie. „The fact that published printed text is more nearly uniform than any other kind of language underpins the ‚ideology of standardization‘ by persuading English speakers, against all evidence to the contrary, that uniformity is the normal condition whereas variation is deviant; and that any residual variation in standard English must therefore be the contingent and deplorable result of some users’ carelessness, idleness or incompetence.“ (Cameron 1995:40) Vgl. dazu FN 2 Kap. 3 der vorliegenden Studie. „Where the standard variety originated is an historically apt question to ask of any language, but where it is spoken from a synchronic point of view is often the sort of information sought only by non-linguists in the popular press.“ (Preston 1989:324)
3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung
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sessiver äusserte sich ein Leserbriefschreiber von 1927 im New Statesman, der sich nicht etwa mit dialektaler Vielfalt, sondern mit Standardvarietäten befasste, d. h. mit dem Englischen als einer plurizentrischen Sprache, wie aus seiner Bemerkung zum Englischen in Übersee zu schliessen ist: „The English language proper belongs to the people who dwell south of Hadrian’s Wall, east of the Welsh hills and north of the English channel… And on the question of what words and idioms are to be used or to be forbidden we cannot afford any kind of compromise or even discussion with the semidemi-English-speaking population of overseas. Their choice is to accept our authority or else make their own language.“ (zitiert in Bailey 1991:157) Was für das Englische das Southern British war und ist, ist für das Deutsche das Norddeutsche, oft zugespitzt auf die Stadt Hannover als Sitz der angeblich besten deutschen Hochsprache. Die anhaltende Popularität dieses Mythos lässt sich im Internet leicht nachweisen, ebenso entsprechende Gegendarstellungen.20 Aussagen zum Hannover-Mythos thematisieren jedoch fast immer die aus dieser Perspektive rückständige dialektale Vielfalt des Deutschen als Gegenpol zur guten norddeutschen Hochsprache. Sie thematisieren nicht die Standardvarietäten. Diese wären im Modell der Lokalisierbarkeit der Standardsprache an einem konkreten geographischen Ort ohnehin ein Fremdkörper.21 Die laienlinguistische Lokalisierbarkeit höchster sprachlicher Standards liegt seit langem im Widerstreit mit dem linguistischen common-sense ihrer Nicht-Lokalisierbarkeit. Schon Smart 1836 spricht in seinen Principles of the Remedy for Defects of Utterance von der Standardaussprache als einem Dialekt, der nicht an einen bestimmten Ort gehöre. Nicht einmal London. „… the common standard dialect is that in which all marks of a particular place of birth and residence are lost and nothing appears to indicate any other habits of intercourse than with the well-bred and well-informed, wherever they may be found.“ (Smart 1836:p.xl) Der Standarddialekt soll also den Herkunftsort gerade nicht erkennbar machen. Vielmehr gilt er als sozialer Indikator. Dabei, so fährt Smart fort, soll sich ein Schotte oder Ire nicht dafür schämen, dass seine sprachliche Herkunft hörbar ist; sich aber
20 Vgl. dazu die Polemik von Kiehling 2002, der den Ursprung des norddeutschen sprachlichen Überlegenheitsgefühls gegenüber dem Süden in einem längst vergangenen und sich mittlerweile umgedrehten wirtschaftlichen Gefälle des 17. Jhs. sucht. Vgl. auch Elspaß, der von einer aus dem Südwesten in eine nordwestdeutsche Universitätsstadt umgesiedelten Kollegin berichtet, deren Sohn von der Lehrerin in der Grundschule der neuen Heimatstadt korrigiert worden sei, als er das Wort Pflaster ausgesprochen habe: Es hiesse nicht Pflaschter, sondern Flaster. (Elspaß 2005b:294) 21 Zur Ausbildung der phonologischen Norm des Deutschen s. Kap. 3.3.
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3. Variation und Standardisierung
dem Standarddialekt wenigstens nähern zu wollen soll Beweis sein, dass sein kommunikativer Radius über seinen Geburtsort hinaus reiche. Eine solche soziale statt geographische Lokalisierung nimmt auch Ellis vor, der bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf den fiktionalen Charakter der englischen Standardsprache hinweist (Ellis 1869:pt. I, 13–23). In der „received pronunciation“ sieht Ellis eine Art Durchschnitt der Aussprache von respektierten, gebildeten, älteren Sprechern.22 Ähnliches liest man bei Alford 1864: Auch wenn nicht alle nobel geboren würden, könnten alle nobel sein in ihrer Offenheit, in sprachlicher Bescheidenheit und dadurch, dass sie niemandes Aufmerksamkeit durch (sprachliche) Besonderheiten auf sich zögen (Alford 1864:281).23
22 Ellis spricht von „the theoretically received pronunciation of literary English“ und meint damit, dass diese Aussprache auf der Basis der national anerkannten schriftlichen Form verbreitet wurde – received nicht in dem Sinne, dass alle Sprecher dieser Aussprache konstant ausgesetzt wären und sie dann selber praktizierten, sondern im Sinne von wahr und gut akzeptiert. 23 Eine solche Haltung ist die Basis für die Überzeugung, dass Phonetik als Hilfe zum richtigen Sprechen und gesellschaftlichen Aufstieg, im Sinne von Shaws Pygmalion, verkauft werden kann. „The dialectal peculiarities, indistinctiveness and artificialities which are unfortunately so common in the pronunciation of public speakers may be avoided by the application of the elementary principle of phonetics.“ (Jones 1909: Preface) Sehr interessant, wie Crowley 2003 bemerkt, sind Jones’ Bemerkungen im Vorwort der verschiedenen Ausgaben seiner English pronunciation zur geographischen/ personalen Lokalisierung des Standards. 1907 heisst es, die Aussprache basiere auf Jones’ eigener Aussprache mit einigen Modifikationen hin zur Aussprache der Mehrheit der südenglischen gebildeten Sprecher (Crowley 2003:141f). 1908 heisst es, die Aussprache sei diejenige der gebildeten Londoner und Umgebung. 1909 heisst es, es sei die Aussprache der gebildeten Londoner und Umgebung, und falls es Variationen gebe, richte sie sich nach der Mehrheit (Crowley 2003:142). Daraus ergibt sich natürlich ein methodisches Problem. Wer hat die Mehrheit befragt? Wo sind die Grenzen von Southern English? Wer ist gebildet? 1919 engte Jones die Herkunft der Standardsprache weiter ein: „… the pronunciation represented is that of Southern Englishmen who have been educated at the great public boarding-schools.“ (Jones 1919:4) Eine noch präzisere Angabe findet sich 1917. Jones schränkt die Aussprache auf diejenige ein, die als Alltagssprache in südenglischen Familien gehört wird, deren männliche Mitglieder an den „great public boarding schools“ gebildet worden sind. „This pronunciation is also used by a considerable proportion of those who do not come from the South of England but who have been educated at these schools. The pronunciation may also be heard, to an extent which is considerable though difficult to specify, from persons of education in the South of England who have not been educated at these schools.“ Empirische Evidenzen zitiert er keine. Stattdessen beschränkt Jones sich darauf zu behaupten: „It is probably accurate to say that a majority of those members of London society who have had a university education, use either this pronunciation or a pronunciation not differing very greatly from it.“ (Jones 1917:p.viii) Die geographische Lokalisierung wird also durch eine soziale (und geschlechtsspezifische) abgelöst, die jedoch durch den Standort der prestigeträchtigsten englischen Universitäten wiederum geographisch lokalisiert wird.
3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung
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Preston, der sich v.a. mit der Standardsprache in den USA beschäftigt hat, hält die Einschätzung, dass sich eine Standardvarietät nicht mit einer bestimmten lokalen Varietät decke,24 für gut gemeint, jedoch sei eine solche Position „clearly a confusion of sophisticated linguistic relativism“ (1989:326), die gegen die populäre Ansicht gerichtet sei, dass es primitive und nichtprimitive Sprachsysteme gebe. Jedoch, so Preston, seien es nicht Linguisten, die den Standard definierten. „What linguists believe about standards matters very little; what nonlinguists believe constitutes precisely that cognitive reality which needs to be described in a responsible sociolinguistics – one which takes speech community attitudes and perception (as well as performance) into account.“ (Preston 1989:326) Korrektheit und affektive Dimensionen der Standardsprache haben für Nichtlinguisten eine klare geographische Bedeutung (Preston 1989:352). In Kap. 5.3. der vorliegenden Studie wird eben diesen Dimensionen und ihrer Bedeutung in Bezug auf die deutsche Standardsprache theoretisch und empirisch weiter nachgegangen. In den vorangegangenen Abschnitten war vom sozialen Kräftefeld der Sprachstandardisierung und der Frage der geographischen und sozialen Lokalisierbarkeit der Standardsprache die Rede. Vom Standpunkt der sozialen Lokalisierbarkeit wird die Standardsprache von den gebildeten und für die Entwicklung der ganzen Gemeinschaft einflussreichen, ökonomisch starken Mitgliedern beherrscht und verändert. In den folgenden Abschnitten werden die Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Standardisierung und Ökonomie vertieft.
Sprachökonomie und Sprachökologie In der Sprachstandardisierung sieht Haarmann eine kulturanthropologische Konstante, deren Motor sozioökonomische Zwänge und der Drang zur Vergrösserung von Reichtum und Macht sind (Haarmann 1997:259). Zur Erreichung dieser Ziele ist eine Gemeinschaft auf ein Einverständnis darüber, was normal und was richtig ist, angewiesen. Sie braucht Normen als Handlungsanweisungen. Die soziale Standardisierung ist selbst dort wirksam, wo man dies auf Anhieb nicht unbedingt vermuten würde. Sogar der Erfolg eines Künstlers oder eines Schriftstellers, so Haarmann, hänge davon ab, wie es ihm gelinge, „die individuelle Kreativität so zu kanalisieren, dass 24 Diese Aussage ist z. B. bei Falk (1978:289) zu finden: „Each region of the country has its own standard.“
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3. Variation und Standardisierung
die Konsumenten des Werks vertraute, d. h. von der Tradition vorgegebene Elemente darin erkennen.“ (Haarmann 1997:262) Standardisierung ist eine Bedingung für die Kohärenz einer Gemeinschaft, die aber nicht nur dadurch entsteht, dass sich die Individuen nach übereingekommenen Normen richten, sondern auch durch ihren ökonomischen Erfolg. Eine Vielzahl von Metaphern verbindet Sprache mit Geld (Coulmas 1992:2f, Bourdieu 1982, Bühler 1999 [1934]). Geld und Wörter können als Reichtum und Vorrat existieren, als Leihgut verkehren, man beherrscht eine Sprache fliessend oder hat genug Bargeld und ist flüssig. Das Verhältnis zwischen Form und Bedeutung eines Wortes ist ähnlich wie das Verhältnis zwischen Geld und seinem Wert. Sowie Geld per se noch keinen Wert hat, haben Wörter per se noch keine Bedeutung. Erst die Prägung führt zum Wert innerhalb des Systems. Sprache ist kein kommunikativer Wert, sondern hat kommunikativen Wert (Coulmas 1992:55). Die Analogie von Sprache und Geld kann nicht nur innerhalb ihrer Systeme, sondern auch in ihrer historischen und sozialen Bedeutung gefunden werden. Zunächst ist Sprache innerhalb einer Gemeinschaft die konzeptuelle Währung (Gellner 1983:21), mit der die Welt beschrieben und rationalisiert wird. Sodann gibt es Parallelen zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Entwicklung einer Standardsprache. Die Standardisierung europäischer Sprachen steht in offenkundigem Zusammenhang mit dem Übergang von der feudalen zur industriellen Gesellschaft und der Entfaltung des Kapitalismus. Gross ist die Bedeutung der sprachlichen Homogenität für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gemeinschaft (Coulmas 1992:41). Die nationalen Ökonomien des 19. Jhs. geben davon ein Zeugnis ab. Sie bildeten aber auch den Nährboden für Sprachnationalismus. So genannt grosse Kultursprachen, die durch Feuer und Schwert Verbreitung fanden, wurden für herausragende Sprachsysteme gehalten, obwohl klar ist, dass ihr Erfolg nicht auf einer herausragenden Grammatik oder Phonologie oder auf Dichtung, die in dieser Sprache hervorgebracht wurde, beruht, sondern auf dem ökonomischen und politischen Erfolg ihrer Sprecher und auf der Eroberung und Unterwerfung anderer Sprachgemeinschaften durch diese Sprecher (James Milroy 1999:16). Sprachstandardisierung ist ein Sekundäreffekt anderer sozialer Entwicklungen, allen voran der wirtschaftlichen Kooperation. Die Mitglieder einer Gesellschaft, die in den ökonomischen Prozess einbezogen werden, müssen kommunikativ erreicht werden können. Die vertikale Kommunikation durch alle Gesellschaftsschichten hindurch ist also ein modernes Phänomen. Die ökonomischen Vorteile, die sich durch die Standardisierung für eine Gesellschaft ergeben, können als evolutionäre Vorteile gegenüber Gesellschaften, die mehrere Sprachen in mehreren Kontexten gebrauchen
3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung
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müssen, interpretiert werden. Tatsächlich haben Länder mit einer hohen sprachlichen Diversität25 in der Regel ein niedrigeres Bruttosozialprodukt als Länder mit geringer sprachlicher Diversität (Coulmas 1992:23f., Pool 1972:222).26 Dazu kommt, dass die 20 reichsten Länder der Welt endoglossische Schreibsprachen haben (Coulmas 1992:199). Wird sprachliche Diversität und Standardisierung in Bezug auf verschiedene Sprachen interpretiert, befindet man sich im Bereich der äusseren sprachlichen Ökonomie. Zur äusseren Ökonomie gehört der Marktwert von Einzelsprachen, deren Standardisierung gegenüber anderen Sprachen ein Wettbewerbsvorteil ist. Sprecherzahlen allein sind dabei nicht massgeblich, wie das Beispielpaar Chinesisch vs. Englisch zeigt. Der Marktwert von Einzelsprachen kann neben der Sprecherzahl nämlich auch daran gemessen werden, wie oft und von wem sie als Zweitsprachen gelernt und verwendet werden (Coulmas 1992:39, 199), was für einen kommunikativen Radius sie haben, von wie vielen Sprechern sie gesprochen werden, wie viel Kapital in ihre Übersetzung investiert wird (wobei es natürlich darauf ankommt, ob Hin- oder Rückübersetzungen gemeint sind) und, nicht unproblematisch, welchen Entwicklungsgrad sie aufweisen (Coulmas 1992:89). Ferner gehört zum Marktwert von Einzelsprachen die Summe, die sich eine Gesellschaft die Mehrsprachigkeit kosten lässt, was generell in Wörterbücher (Coulmas 1992:70, 77; s. auch Harris 1980 zur Geschichte des einsprachigen Wörterbuchs), Textverarbeitungsprogramme und Mensch-Maschine-Kommunikation investiert wird (Coulmas 1992:68) und schliesslich welchen Status sie als Wissenschaftssprachen haben. Freilich muss unterschieden werden zwischen individuellem und sozialem Mehrwert einer Sprache. Der internationale Gebrauchswert von Rätoromanisch ist Null (Coulmas 1992:59), aber für das in Rätoromanisch kompetente Individuum kann die Möglich-
25 Nettle 1999 unterscheidet primär drei Möglichkeiten sprachlicher Diversität. Im ersten Fall handelt es sich um verschiedene Sprachen. Im zweiten Fall um verschiedene Sprachfamilien. Es gibt also laut Nettle 1999:10f Sprachgebiete mit hoher sprachlicher Diversität bei niedriger phylogenetischer Diversität, wie z. B. Zentralafrika, wo eine Vielzahl von Sprachen gesprochen wird, die jedoch mehrheitlich zur Bantu Sprachfamilie gehören. Demgegenüber gibt es im tropischen Südamerika eine Vielzahl verschiedener Sprachfamilien, also eine hohe phylogenetische Diversität, bei geringer sprachlicher Diversität innerhalb dieser Familien. Die dritte Form von Diversität bezieht sich auf die strukturelle Diversität innerhalb einer Sprache. 26 Die Frage, ob es nicht doch möglich ist, eine moderne und gleichzeitig stark multilingual bleibende Gesellschaft zu haben, ist umstritten. In Indien, wo 15 Sprachen durch die Verschriftlichung getragen werden, scheint es eher möglich als in vielen afrikanischen Ländern, die hauptsächlich europäische Sprachen als schriftliche Form neben einer Vielzahl von nur mündlich verwendeten indigenen Sprachen aufweisen. (Coulmas 1992:50)
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3. Variation und Standardisierung
keit, diese seltene Ressource zu kontrollieren (Coulmas 1992:88), wiederum ökonomisch von Vorteil sein. Der äussere Wettbewerb von Sprachen führt aber auch zu einem Wettbewerb unter den optionalen Varianten innerhalb der in Konkurrenz stehenden Sprachen. Dieses Phänomen gehört zur innersprachlichen Ökonomie. Die innere sprachliche Ökonomie betrifft die Tendenz, sprachliche Mittel sparsam zu verwenden, ihre Effizienz zu steigern und regionale und soziale Normdifferenzen auszuebnen, um kommunikative Ziele besser erreichen zu können. Das Prinzip des geringsten Aufwands (vgl. Zipf 1949) in der Sprachbenutzung erklärt Coulmas 1992 in Analogie zum Handwerkeratelier. Der durchschnittliche Arbeitsaufwand soll mit der Zeit minimiert werden. Wie die Anzahl Werkzeuge, so soll auch die Anzahl Wörter klein gehalten werden: „Though a new tool can be useful for certain jobs, the addition of every new tool also has a negative effect on the work economy of the shop which must be averted or redressed; for the greater the size of n [=number of tools], the smaller the advantage of an additional tool.“ (Coulmas 1992:236f) Gemäss dem Prinzip des geringsten Aufwandes muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Reduktion der Anzahl Werkzeuge und der Aufrechterhaltung ihrer Funktionsbreite (Coulmas 1992:238). Am besten sind die kleinsten, leichtesten, am meisten gebrauchten und ältesten Werkzeuge. Viele Wörter sind selten, wenige Wörter sind häufig. Dazu sind häufige Wörter kürzer als seltene.27 Die äussere sprachliche Ökonomie bleibt auf die innere sprachliche Ökonomie nicht wirkungslos. Dass das Englische heute den grössten Kommunikationsumsatz aller Sprachen hat, bedeutet, dass auch am meisten (Formulierungs-)Arbeit in diese Sprache gesteckt wird. Englisch hat die besten Voraussetzungen, sich an gegenwärtige und zukünftige Funktionen anzupassen.28 Der globale Umgang mit dem Englischen hat auch Folgen für die innere Ökonomie der Sprachen, mit denen es in Kontakt steht oder die es (bereichsweise) verdrängt. Aus keiner anderen Sprache wird so viel entliehen wie aus dem Englischen. Die Dominanz des Englischen als Wissenschaftssprache oder als Fachsprache moderner Informationstechnologie führt dazu, dass die funktionale und lexikalische Bandbreite anderer Standardsprachen abnimmt. Dieses Phänomen ist nicht neu. Die funktionale
27 Vgl. die deutschen Häufigkeitswörterbücher von Kaeding 1898 und Ruoff 1990. 28 Wann ist eine Sprache ihren Kommunikationszwecken gut angepasst? Coulmas (1992:260) nennt dafür drei Eigenschaften: referentially adequate, sufficiently standardised und sufficiently differentiated.
3.2. Treibende Kräfte der Sprachstandardisierung
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Verdrängung von Sprachen ist auch beim Niederdeutschen zu beobachten, dessen Funktion als Schriftsprache vom Hochdeutschen verdrängt wurde, das aber weiterhin gesprochen wurde (Coulmas 1992:192). Der Wettbewerb der Sprachen erscheint in diesem Licht als eine Auslese, ein „natural process of competition between less fit and more fit ways of communication, the end of which only a few competitors will survive.“ (Mühlhäusler 2005:11)29 Weiter merkt Mühlhäusler an: „There is a very strong intellectual tradition in Western thinking about language that this is also a desirable process, that the replacement of a very large number of languages and ways of communication by a few modern standardized languages will lead to greater economic efficiencies, a decrease in human conflicts and greater human well-being. Linguistic diversity in popular perception is a reflection of the curse of Babel.“ (Mühlhäusler 2005:11) Mühlhäusler kritisiert diese Sicht in vielen seiner Schriften und schlägt als Gegenfrage zur Frage, wie grössere Effizienz durch Reduktion der Diversität erreicht werden kann, die Frage vor, wie (sprachliche) Diversität eingesetzt werden kann, um soziale, ökologische und technologische Probleme zu lösen. Vom Monokulturalismus gehen viele gerade ökonomische Gefahren aus. Im Gegenzug könnte die Erhaltung ökologischer Systeme ökonomischen Profit bedeuten. Die ökologische Sichtweise auf Sprachsysteme ist ein Gegenentwurf zur Ideologie des streamlining, von dessen Perspektive aus sprachliche Diversität nur ein Hindernis für eine reibungslose Kommunikation und für eine ökonomische Expansion der betreffenden Sprachgemeinschaft ist. Die ökologische Sichtweise plädiert für die Erhaltung der sprachlichen Diversität, die nicht nur für überflüssig und chaotisch, sondern für strukturiert und eingebunden in andere Kreisläufe des Ökosystems gehalten wird. Mühlhäusler ist überzeugt, dass sich die sprachliche Diversität heute nicht mehr selber reguliert: „… linguistic and cultural diversity, which until the advent of the modern industrial age was a self-regulating and self-sustaining system, is no longer self-sustaining and like other phenomena such as climate or biological diversity, requires management.“ (Mühlhäusler 2005:11) Sprachimperialismus wird als Störung des ökologischen Gleichgewichts empfunden, die sich längerfristig wiederum ökonomisch negativ auswirken kann, und gegen die etwas unternommen werden muss. Dazu meint Weinreich: „Erst die Herausbildung der flächendeckenden Nationalsprachen in Europa und
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Vgl. die Bemerkungen zur (neo-)darwinistischen Sichtweise auf Sprachwandel in Kap. 2. der vorliegenden Studie (FN 4 Kap. 2).
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3. Variation und Standardisierung
mehr noch in den ehemaligen Kolonialreichen Nord- und Südamerikas sowie Russlands hat einsprachige Lebensformen in grösserem Umfang möglich gemacht – ein Pyrrhussieg der ökonomischen Vernunft, wie sich heute immer deutlicher zeigt, wenn Mobilität und Flexibilität gefordert sind.“ (Weinreich 2002:32). Dabei kann nicht nur eine romantische, rückwärtsgewandte Position einer rein ökonomisch argumentierenden, fortschrittsgläubigen Position gegenüber gestellt werden. Die Kontroverse ist komplexer geworden. Sprachstandardisierung und Akkulturation werden nicht nur mit dem Obenaufschwingen starker, fortschrittlicher Nationen interpretiert und hingenommen, sondern gleichzeitig mit den negativen Folgen in Verbindung gebracht, die die ökonomische, sprachliche und kulturelle Vereinheitlichung mit sich bringt, darunter die Vergrösserung des Unterschieds zwischen Arm und Reich, das vielerorts gestörte ökologische Gleichgewicht und das Überdecken lokaler kultureller Traditionen durch eine unaufhaltsame (weltweit gesehen angelsächsische) Monokultur. Die Behebung der Kollateralschäden des streamlining ist anerkanntermassen ebenso wichtig wie der weitere technologische Fortschritt. Die Treue zu Vergangenheitswerten erscheint in diesem Licht alles andere als konservativ, nostalgisch oder gar reaktionär. „Language users want more than communicating information, they want to maintain social bonds, have a feeling of belonging and identity, to include and exclude outsiders to varying degree and to manage their environment.“ (Mühlhäusler 2005:45) Gerade weil die Funktion von Sprache über das Vermitteln von Informationen hinausgeht, haben sich trotz ökonomischer Sachzwänge, welche die Überwindung der sprachlichen Diversität als kommunikatives Hindernis gebieten würden, und trotz der Beschleunigung und Verbesserung der weiträumigen Kommunikation die Kultursprachen nicht völlig vereinheitlicht. Die Kluft zwischen dem gruppensolidarischen Streben nach der Aufrechterhaltung lokaler und regionaler Varietäten einerseits und der statusbasierten Standardideologie andererseits ist in ihrer Grösse recht stabil. Sie ist zudem nicht einfach zwischen Sprechergruppen, sondern als zwei im Widerstreit stehende Bestrebungen auch beim individuellen Sprecher lokalisierbar. Dieser Gedanke lässt sich auf die Varietäten plurizentrischer Sprachen leicht übertragen. Deren Variation ist zwar auf den ersten Blick unökonomisch. Sie ordnet aber die sprachliche Ökologie durch ihr Potenzial zur sprachlichen Identifikation und sozialen Kohäsionsbildung und erweitert das Sprachsystem um zahlreiche Ausdrucksmöglichkeiten. So sieht auch Mühlhäusler Ketten gegenseitig verständlicher Sprachen, wozu nationale und regionale Standards gerechnet werden können, als in ihrer Existenz gefährdete sprachliche Phänomene (2005:16). Jeder Sprachverlust oder Varietätenverlust reduziert die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung
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und führt zu Ideenverlust.30 Der plurizentrische Ansatz sucht dieser Gefährdung entgegenzuwirken, indem er die innersprachliche Diversität beschreibt, die, ebenso wie die äussere sprachliche Diversität, ein geordnetes System darstellt. „The key property of any ecology is structured diversity.“ (Mühlhäusler 2000:310)
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung Nachdem in den Kapiteln 3.1. und 3.2. die Standardsprache definitorisch und soziologisch umrissen worden ist, widmen sich die nächsten Abschnitte der Frage, wie der Standardisierungsprozess abläuft. Handelt es sich dabei um einen natürlichen oder einen künstlichen Prozess? Die gesprochene Sprache wird gerne als Naturprodukt gesehen, im Gegensatz zur Schriftsprache, deren künstlicher Charakter hervorgehoben wird. Jedoch stellt sich bereits für Sprache an sich, deren primäre Form die gesprochene Sprache ist, die Frage, ob es sich um etwas Natürliches oder etwas Künstliches handelt. Diese Dichotomie – Was ist natürlich gewachsen, was ist künstlich geschaffen? Was wird genetisch weiter gegeben, was wird sozial erworben? – ist im westeuropäischen Denken tief verankert. Sie ist als Natur-Kultur-Debatte oder als nature-nurture-debate in den Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften bekannt. Sie ist nicht etwa mit der Dichotomie belebt-unbelebt gleichzusetzen, wie Joseph (1987:10) anhand der Beispiele Dammbau und Säen zeigt: Wenn Biber Dämme bauen, handelt es sich um ein natürliches Ereignis, nicht aber wenn Menschen Dämme bauen. Die Aussaat durch menschliche Hände ist Agrikultur, die Aussaat von Samen durch tierische Ausscheidungen nicht. Die entscheidende Differenz, so Jospeh (1987:10), ist die An- oder Abwesenheit bewussten menschlichen Willens. Wie lassen sich diese Überlegungen nun auf die Frage übertragen, ob Sprache natürlich oder künstlich ist? Bell (1976:190) führt in diesem Zusammenhang als weitere wichtige Grösse die Bewusstheit ein. Sprache, die am wenigsten bewusst verwendet wird, d. h. spontan, müsse demnach die natürlichste sein, da sie in geringstem Masse äusseren Einflüssen unterliegt. Nun basiert aber der Erwerb der gesprochenen Sprache überaus stark auf äusseren Einflüssen. Wird diese im Erwachsenenalter spontan verwendet, so mögen aussersprachliche Faktoren, die die Sprache beeinflussen, im Gegen-
30 In Mühlhäuslers Sicht (2000:358) ist die Aufrechterhaltung der sprachlichen Diversität deshalb notwendig, weil nicht alles von einer Sprache in die andere übersetzt werden kann. Er argumentiert hier relativistisch.
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3. Variation und Standardisierung
satz zu geplanter formeller Rede oder geschriebener Sprache geringer sein, es findet aber ein Rückgriff auf frühere Einflussfaktoren statt, die den Spracherwerb begleiteten. Mit anderen Worten: Am Beispiel des Spracherwerbs wird die Untrennbarkeit von Natur und Kultur besonders deutlich. „The reference to ‚external‘ factors is entirely circular: consciousness brings external influences, external influences are what are brought through consciousness. … The fallacy begins with the supposition that nature and culture form a strict dichotomy, when in fact the two are inseparable. Nature is constituted by the entire universe, and culture is constituted by human consciousness, which is certainly part of the universe, though possessed of special status because it is the medium through which we perceive the rest of the universe.“ (Joseph 1987:11) Die Dichotomie natürlich vs. künstlich muss für die Frage nach dem Wesen von Sprache also aufgelöst werden. Diese Auflösung hat ebenfalls Tradition. Die bekannteste ist Rudi Kellers Auflösung (1994 – unter Berufung auf den schottischen Philosophen Adam Smith 1776), die hier nicht in ihrer Gänze und Wirkungsgeschichte aufgerollt werden soll.31 Nur soviel: Keller 1994 sieht in der Sprache weder ein Naturphänomen noch ein Artefakt, sondern ein Phänomen der dritten Art, eines, das aus unintentionalen Entscheidungsprozessen resultiert, geschaffen von der unsichtbaren Hand.32 Keller stellte diese Theorie in Bezug auf Sprachwandel auf. Es handelt sich dabei um einen soziopragmatischen Ansatz, Sprachwandel und -entwicklung zu erklären. Aus den Handlungsmaximen der Sprecher, die verstanden werden wollen, die sich möglichst sparsam und gleichzeitig möglichst differenziert ausdrücken wollen, die sich mit Sprache aber auch zu profilieren suchen und diese dem Kontext entsprechend variieren, ergibt sich Sprachwandel. Die sprachliche Variation, die dem Sprachwandel zugrunde liegt, ist also unintentional. Bezogen auf die Sprachstandardisierung bedeutet dies, dass es nicht grosse Geister einer Kultursprache sind, die aus der anonymen Masse von Sprechern hervorstechen und mehr oder weniger intentional ihre Muttersprache und deren Entwicklung als Standard- und Kultursprache eigenhändig (sozusagen mit sichtbaren Händen) formen, wie es die romantische Personalisierung der Kultursprachgeschichte will.
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Für einen Überblick über kritische Auseinandersetzungen mit Keller 1994 s. Ladstätter 2004. Der Begriff invisible hand wurde ursprünglich von Adam Smith 1776 verwendet, um das ökonomische Prinzip zu erklären, wonach die individuelle Verfolgung des Eigeninteresses oft der ganzen Gesellschaft nützt, ohne dass dieser allgemeine Nutzen intendiert gewesen wäre. Bei der Übertragung auf andere Prozesse der Unsichtbaren Hand ist wichtig, dass das Resultat eines Prozesses nicht intendiert ist und als Nebenprodukt eines anderen Prozesses entsteht.
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung
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Aus einer solchen Sicht hätten z. B. Chaucer, Shakespeare und Dr. Johnson das Englische oder Luther, Gottsched und Goethe das Deutsche als Kultursprachen erschaffen. Vielmehr ist die Standardisierung ein Sekundäreffekt menschlichen Handelns, das von ökonomischen Prinzipien gesteuert wird (vgl. den Abschnitt zur Sprachökonomie in Kap. 3.2.). Gemeinsames ökonomisches Handeln in der Gemeinschaft der aufstrebenden Nationen des 19. Jhs. führte zur Bündelung vormaliger Varietätenspektren, welche Kontinua mit einer Skala gegenseitiger Verständlichkeit bildeten,33 z. B. das slawische, romanische oder germanische Kontinuum. Nun soll es aber, wie der Titel dieses Kapitels besagt, um den eigentlichen Prozess der Standardisierung gehen. Aus ontogenetischer Perspektive wird die Standardsprache primär als Schriftsprache durch Instruktion, Korrektur, Imitation, Assimilation und Akkulturation gelernt (Joseph 1987:19), dies im Gegensatz zu gesprochener Sprache, die in spontaner Interaktion erworben wird. Was gibt es für Ansätze, den phylogenetischen Prozess der Standardisierung zu beschreiben? In seinem oft zitierten, später verschiedentlich modifizierten Modell (Deumert/Vandenbussche 2003:4) beschreibt Haugen (1966, 1966a) die (geplante) Sprachstandardisierung in vier Stufen: Selektion der Norm (der Standardvarietät), ihre Kodifizierung, Implementierung und Elaborierung. Die Selektion bezieht sich auf Varietäten, die die Standardnorm repräsentieren sollen. Der Selektionsprozess wird oft von Debatten über die beste Standardvarietät und deren Geltungsanspruch als nationale Norm begleitet (vgl. dazu die questione della lingua in der italienischen Sprachgeschichte.) In Haugens Modell erscheint die Sprachstandardisierung als teleologischer, durch Sprachplanung ausgelöster Prozess. Somit wird dem Umstand nicht Rechnung getragen, dass sich die Normen letztlich durch sprachliches Handeln bzw. individuelle Sprachwahlpräferenzen herausbilden (Haas 1994a:204ff), insbesondere beim technisch wissenschaftlichen und administrativen Gebrauch der Sprache. Eine Gegenüberstellung einer spontan sich entwickelnden gesprochenen Sprache einerseits und einer willentlich geplanten geschriebenen Sprache andrerseits würde allerdings zu kurz greifen, denn auch bei der letzteren sind sowohl sprachplanerische als auch eigendynamische Prozesse im Spiel.34 Gerade europä-
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A verstand B, B verstand C, C verstand D, D aber verstand A nicht. „Adjacent varieties were mutually intelligible with intelligibility declining with increasing geographical distance.“ (Mühlhäusler 2005:14) 34 Mihm differenziert zwischen formeller und informeller Standardisierung: „Für die historischen Prozesse, die zur Ausbildung der modernen Standardsprachen geführt haben, hat sich die Unterscheidung zwischen formeller Standardisierung und informeller Standardisierung bewährt, wobei unter ersterer die Regulierung durch präskriptive Normen
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3. Variation und Standardisierung
ische Standardsprachen haben sich in plurizentrischer Selektion entwickelt, also nicht aus einem einzelnen Idiom,35 sondern aus dem interaktiven Zusammenspiel zahlreicher Idiome, die in einem Kontinuum der gegenseitigen Verständlichkeit angeordnet waren, so wie z. B. das Niederdeutsche Kontinuum im 12. und 13. Jh.,36 und die durch den Standardisierungsprozess in mehreren Varietäten nationen- und regionenübergreifend gebündelt worden sind. Diese Bündelung gipfelt in der Kodifizierung sprachlicher Standards. Mit der Kodifizierung wird der Standard gefestigt und in Grammatiken, Wörterbüchern und Stilfibeln festgeschrieben. In Europa wurden die Vernakulärsprachen ab dem 16. Jh. kodifiziert und dem Latein, der Lingua Franca des Abendlandes, zunehmend entgegengesetzt.37 Seit dem 16. Jh. gibt es deutsche Grammatiken (Ickelsamer 1534, Schottelius 1663). Für das Niederländische und Englische erschienen vergleichbare Werke zum ersten Mal 1584 bzw. 1586 (Deumert/Vandenbussche 2003:6). Im 17. Jh. vergrösserte sich der Kodex nicht nur in bedeutendem Masse, sondern die Ziele der Kodifizierung machten zwischen dem 17. und 19. Jh. einen Wandel durch. „… what ‚standardizers‘ had in mind in the seventeenth century differs from their goals during the nineteenth and twentieth centuries. Broadly speaking, the focus of attention shifted from grammar and orthography to orthoepy and lexicon, from codification to diffusion, from developing a supra-regional written norm for administrative ease and literacy expression to constructing and popularizing a symbol of national and political unity.“ (Deumert/Vandenbussche 2003:10) Die Sprachstandardisierung wird zum Politikum. Selektion und Kodifizierung bilden zusammen die Voraussetzung für die Implementierung einer Standardsprache: Sie wird in der Sprachgemeinschaft als solche akzeptiert und in ihren Funktionen gefestigt. Bei der Implementierung sind aussersprachliche Faktoren wie Machtpositionen oder soziale Netzwerke beteiligt. Schliesslich erreicht der Standardisierungsprozess die Phase der Elaboration, in der die Standardsprache neuen
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und deren Kodifizierung zu verstehen ist, die in den europäischen Sprachen während der beiden letzten Jahrhunderte zum entscheidenden Motor der Entwicklung geworden ist. Unter informeller Standardisierung werden dagegen jene Vereinheitlichungsvorgänge zusammengefasst, bei denen ohne gezielte Absichten und Vorschriften eine ungesteuerte Angleichung verschiedener Gebrauchsnormen stattfindet.“ (Mihm 2003:79f) Als Gegenbeispiel nennen Deumert/Vandenbussche (2003:4) das Standarddänische mit seiner erkennbaren Kopenhagener Herkunft. „… the continuous area of Germanic dialects, mutually intelligible from village to village without a break, is now split into three standard languages, Flemish, Dutch, and German, with another offshoot in a fourth national language, Afrikaans, across the sea. It was not at first these languages that made history; it was history that made these languages.“ (Deutsch 1968:60) Vgl. bereits Dantes Abhandlung De vulgari eloquentia von 1305 (Dante 2007).
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung
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kommunikativen Bedürfnissen angepasst wird. Dazu gehört die Übereinkunft über neue Begriffe und Reformen des Kodex. Am stärksten von der Elaboration betroffen ist das Lexikon. In postkolonialen Gebieten, wo ursprünglich die Machthaber ihre Prestigesprache zur Standardsprache erhoben, läuft der Standardisierungsprozess in hohem Tempo ab und ist in der Regel mit Gewalt, Unterdrückung und Revolten assoziiert. Es handelt sich dabei um engineered emergence von Standardsprachen (Joseph 1987:55–58), die durch Missionen und sprachplanerische und -pflegerische Aktivitäten durchgesetzt wird. Im Gegensatz dazu handelt es sich in der europäischen Sprachgeschichte meistens um „circumstantial emergence“ von Standardsprachen: Die Standardvarietät entsteht, ohne bekämpft oder gewaltsam durchgesetzt zu werden, als Nebenprodukt nicht-linguistischer Prestigefaktoren (vgl. Joseph 1987:58f). Auch die Kontrolle über den Standard ist ein Nebenprodukt anderer Tätigkeiten wie öffentliches Schreiben, Lektorieren und Lehren (Joseph 1987:111). So kann also, ganz im Sinne von Rudi Kellers Sprachwandeltheorie der unsichtbaren Hand (1994), die eingangs dieses Kapitels kurz erwähnt wurde, die Standardisierung als nicht intendiertes Nebenprodukt von der kollektiven Arbeit an Texten gesehen werden, wobei einzelne Individuen eine führende Rolle übernehmen. Dies gilt, wie bereits erwähnt, nicht nur für die Schriftsprache als prototypische Realisierung von Sprachstandards, sondern auch für die gesprochene Sprache. Jeder einzelne Sprechakt ist im Hinblick auf die Konvergenz von Varietäten zum Standard (oder auf ihre Divergenz vom Standard) bedeutsam. „There is the element of habit, custom, tradition, the element of the past, and the element of innovation, of the moment, in which the future is being born. When you speak you fuse these elements in verbal creation, the outcome of your language and your personality.“ (Downes 1998:233) Das Streben nach Modernität und sozialem Aufstieg sowie die Bezeugung der Solidarität mit der sozialen Gemeinschaft, in der man lebt, können im Widerstreit stehen und sind entscheidend für den Sprachgebrauch in jedem Sprechakt. Einen weiteren Denkanstoss für solch interaktionistische Überlegungen beim Standardisierungsprozess liefert Deumert (2003:34). Sie geht von der These aus, dass bürgerliche Rituale bei der Bildung von Standardsprachen eine entscheidende Rolle spielen. Rituale – sehr starke Rituale sind religiöse Rituale, ein Beispiel für schwache Rituale wären Konversationsregeln – fördern die soziokulturelle Kohäsion, es werden kollektive Erfahrungen und Identitäten kreiert, die Überzeugungen, Ordnungen und Werte der betreffenden sozialen Gruppe werden gefestigt. Wenn rituelle Praktiken und Symbole strategisch benützt werden, um sprachlichen und sozialen Zusam-
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3. Variation und Standardisierung
menhalt zu demonstrieren, kommt es zu sprachlichem Nationalismus (Bell 1997:129, Deumert 2003:34). Die Verbindung zwischen Standardisierungsprozess und Ritual sieht Deumert in der Gewohnheit, der Routine, aber auch der Kreativität und Performance (Deumert 2003:32), vor allem aber in der normativen Dimension. Variation kann als Abweichung vom normgebenden Ritual gesehen werden. Wer über die Abweichung urteilt, kann sich hinter der Legitimität von Autoritäten verschanzen – oder hinter der Erwartung an die nationale Kohäsion. Wo zeigen sich Standardisierungsrituale, in denen Konvergenz- und Divergenzverhalten zu sozialer Sanktionierung führen können? Dazu gehören pädagogische Rituale. Diese, so Deumert, werden typischerweise an Orten durchgeführt, wo Diplome ausgegeben werden; Schulen und andere soziale Institutionen, oft in imposanten Gebäuden, wo Flaggen und Symbole des Bezugs zur Region zu sehen sind. In diesem Rahmen wird die Standardsprache als Fachsprache verwendet. Es kommt zu Kommunikationsritualen, einem weiteren Rahmen der Standardisierung, der imitatives Lernen fördert. Verstärkt wird dies durch das Versprechen auf Schulerfolg bei Befolgung der Normen und längerfristig auf sozialen Aufstieg. „Schooling itself has been interpreted as a rite of passage which leads to higher levels of status and rank.“ (Deumert 2003:39) Weiter ist das kirchliche Ritual zu nennen. Gerade die Einheit der althochdeutschen Schriftsprache geht auf die Liturgie zurück, und im 16. Jh. wurde das Ostmitteldeutsche durch Luthers Modelltexte gestärkt (vgl. Kap. 3.4.). Das wohl wichtigste Standardisierungsritual, das Deumert nennt, ist das Kodifizierungsritual. „Grammars and dictionaries … transform the idea of a uniform linguistic norm as the ‚ideal‘ type into material culture, thus symbolically objectifying and reifying the ideological concept of a standard language… Codifications (and codification agents) produce ceremonial boundary signs (books, written texts) which iconically represent the transition from spoken, variable vernaculars to written, uniform standard languages.“ (Deumert 2003:38) Darauf folgen ritualisierte Sequenzen der Elaborierung einer Standardsprache zur Kultursprache – Deumert folgt in ihren Überlegungen hierbei Haugens Standardisierungsmodell (vgl. oben). Zur Elaborierung gehören Konventionen über Fachbegriffe, das Aufkommen einer Nationalliteratur, Bibelübersetzungen und Wörterbücher. Historisch kann dies mit der Gründung von Akademien in Verbindung gebracht werden (in Frankreich und in Italien im 16. Jh.). Die Wichtigkeit der Lexikographierung von Sprachen wird auch von Harris herausgestrichen (Harris 1980:127f). Er sieht im einsprachigen Wörterbuch eine ebenso wichtige Neuerung in der Menschheitsgeschichte wie im Rad, im Dampfmotor oder im Computer. Aus dem Prinzip der inner-
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung
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sprachlichen Definition einer Sprache, die im einsprachigen Wörterbuch umgesetzt wird, leitet Harris eine neue Orthologie ab. Plötzlich genügt sich eine Sprache selbst, um sich selbst zu beschreiben. Funktional gesehen bedeutet die Entwicklung einsprachiger Wörterbücher den Ausbau und die Differenzierung der metasprachlichen Ebene, welche den Sprachbenutzern zugänglich gemacht wird. Der Schritt zum einsprachigen Wörterbuch ist aber auch entscheidend für den Rollenwechsel von Wörterbüchern in der Geschichte der Lexikographie. Aus Bildungshilfen wurden Symbole sozialen Zusammenhalts, in vielen Fällen nationale Monumente (Harris 1980:128). „Dictionaries… particularly invite questions about the nature of their authority, because that authority is so visible and so fetishized.“ (Cameron 1995:50). Dies hängt damit zusammen, dass andere normsetzende Instanzen – Modelltexte, Korrekturverhalten von Normautoritäten und Urteile von Sprachexperten (Ammon 1995:326, Ammon 2005:32ff) – weniger leicht zu identifizieren und weniger leicht greifbar sind als Wörterbücher. Die Geschichte der modernen, im ganzen Sprachraum rezipierten einsprachigen Wörterbücher der deutschen Sprache beginnt mit Adelung (1774–1786) und seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, der bis dahin umfangreichsten Bestandesaufnahme der deutschen Sprache. Ein nationalsprachliches Monument ist das Grimmsche Wörterbuch (1854–1960), das als Belegwörterbuch die Herkunft jedes deutschen Wortes – das Werk enthält keine Fremdwörter – und den Gebrauch dieser Wörter mit grosser historischer Tiefe erschliessen will. Nicht nur für Philologen, sondern für die Allgemeinheit konzipiert, erschien sodann 1880 in Leipzig der erste Duden: Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Nach den preussischen und bayerischen Regeln (Duden 1880). Bis 1949 erschienen 12 Ausgaben, anschliessend gingen im geteilten Deutschland Leipzig und Mannheim getrennte Wege.38 Für die deutschsprachigen Gebiete ausserhalb von West- und Ostdeutschland wurde fortan der Mannheimer Duden massgebend. In Deutschland bzw. der ehemaligen BRD wurde der Rechtschreibduden als einziger durch einen Beschluss der Ständigen Konferenz der Kultusminister der damaligen BRD 1955 staatlich festgelegt (Ammon 1995:326). Seine Geltung war auf Schulen beschränkt. Bis 1996 galt der Duden als massgebliches Rechtschreib-Wörterbuch, seit der Neuregelung der Rechtschreibung nicht mehr, wenn er auch immer noch
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Sachsen, Württemberg, Baden und Mecklenburg-Strelitz hatten bis 1902 eigene Rechtschreibwörterbücher, Preussen und Bayern noch bis nach dem 2. Weltkrieg (Ammon 1995:320).
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3. Variation und Standardisierung
Vorrang hat (Steinhauer 2002:36).39 „Die Kodifizierung der Rechtschreibung hatte in der ersten Hälfte des 20. Jhs. faktisch und seit einem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1955 auch offiziell in den Händen der Dudenredaktion gelegen, bis die amtliche Neuregelung 1996 sie wieder an den Staat gebunden hat.“ (Steinhauer 2002:41) Bei der Ausbildung der phonologischen Normen im 19. Jh. – bis ins 18. Jh. gab es keine überregionale Aussprache des Standarddeutschen (Gardt 2000a:169) – spielte Preussen eine wichtige Rolle, das über alle deutschsprachigen Gebiete Europas, abgesehen von der Schweiz und den Reststaaten Österreich-Ungarns, einen grossen Einfluss ausübte (Clyne 1984:7). Der Zollverein und die politische Einigung 1871 sind Zeugnisse dieser preussischen Dominanz. Der norddeutsche Aussprache-Usus wurde Grundlage der Aussprachekodifizierung. Nicht etwa, weil in Hannover das beste Deutsch gesprochen worden wäre – ein Mythos, der sich bis heute hält, vgl. Kap. 3.2. –, sondern weil der Norden, inklusive Berlin, ursprünglich niederdeutschsprachig war und Hochdeutsch als Zweitsprache benutzte, was dazu führte, dass zwischen Phonemen und Graphemen eine enge Beziehung hergestellt wurde. Bereits im 17. Jh. war im Norden die neue, auf oberdeutscher Basis fussende Schriftsprache als Kirchensprache eingeführt und nach der Schrift ausgesprochen worden (Löffler 2006:17).40 Der niederdeutsche Grammatiker Justus Georg Schottel stellte als erster (1641) die Maxime auf: „Sprich, wie du schreibst.“ (Reiffenstein 1983:16) Seither waren es vornehmlich Niederdeutsche – darunter Gottsched, Adelung und Siebs –, die die Normierung der Hochsprache und insbesondere ihre Orthophonie massgeblich beeinflussten. Aufgrund der Diglossie wurde das Hochdeutsche also „schriftnaher“ ausgedrückt, die Diglossie selber schwand im niederdeutschen Raum durch die Zurückdrängung der niederdeutschen Dialekte bekanntlich bis auf wenige Gebiete ganz. 1898 publizierte Siebs die Deutsche Bühnenaussprache aufgrund von Beobachtungen an Berliner Bühnen. Sie war geprägt von der niederdeutschen Aussprache des Hoch-
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Für einen Überblick über weitere einsprachige deutsche Wörterbücher der Gegenwart s. Ammon 1995:326ff, 137ff, 246ff. 40 Die neue Schriftsprache war grammatisch und dem Wortschatz nach eigentlich aus den süddeutschen Dialekten hervorgegangen (Löffler 2006:17). „Die Deutschen im Norden mussten bald feststellen, dass ihr heimisches Platt dem Niederländischen oder gar Englischen näherstand [sic] als dem neuen Deutschen. Sie mussten das neue Schriftdeutsch wie eine Fremdsprache lernen. Diese neue Sprache gebrauchten sie dann auch bald in der Kirche, auf der Kanzel und in den Schulen. Man ‚sprach‘ auch nach der (neuen) Schrift. Seitdem haben die Norddeutschen im Sprechen der neuen Standardsprache gegenüber dem Süden einen beträchtlichen Vorsprung.“ (Löffler 2006:17) S. auch Huesmann 1998:257f.
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deutschen, z. B. stimmhaften Lenes [b], [d], [g], der Stimmhaftigkeit in [z] für oder der [iç]-Aussprache in der Nachsilbe (Besch 2003a:18), und erschien als Aussprachewörterbuch in zahlreichen Auflagen.41 Die österreichische Aussprache des Standarddeutschen wurde 1904 erstmals in Form eines Lehrwerks erfasst, und zwar von Karl Luick. Dieser betonte die Berechtigung regionaler Ausspracheweisen in anderen Sprachdomänen als der Bühne, so zum Beispiel für Vorträge oder den schulischen Sprachgebrauch. So sollten die Lenisplosive b, d, g nicht stimmhaft ausgesprochen werden, da dies „im Munde eines Landsmannes gemacht klinge“ (Luick 1904:62). Allerdings vertrat er bei den im Vergleich zur Siebsschen Norm vertauschten Vokallängen und -kürzen (z. B. bei den Wörtern Ball, hell, Vater, dramatisch) die Ansicht, dass sich Österreicher der Siebsschen Norm anpassen sollten (Luick 1904:70). Erst in der 19. Auflage des Siebs nahmen dessen Nachfolger süddeutsche, österreichische und schweizerische Aussprachevarianten als gemässigte Hochlautung auf (Siebs 1969, s. Vorwort; vgl. Wiesinger 1995:61, Besch 2003a:20) – erst dann wurde die monozentrische Grundhaltung eines massgeblichen deutschen Aussprachekodex etwas relativiert. Die schweizerischen Vorarbeiten dazu lieferte Boesch 1957 (vgl. Kap. 5.3.1. der vorliegenden Studie). Auch wenn Deutschland politisch und vor allem wirtschaftlich schon lange nicht mehr nach Norden hin orientiert ist, ist die norddeutsche Aussprachetendenz, wie sie im 2005 zuletzt neu erschienenen Ausspracheduden dokumentiert wird, für professionelle Sprecher immer noch von grosser Bedeutung. Am deutlichsten trifft dies für die Bühnenlautung im ganzen deutschen Sprachraum zu, aber auch für die Mediensprecher in Deutschland. Mediensprecher in Österreich, Bayern und der Schweiz verwenden mehrheitlich eigene Aussprachenormen. Bestimmte Ausspracheweisen haben sich aber vom südlichen deutschsprachigen Raum im ganzen Sprachgebiet verbreitet, so z. B. die Verschlusslautaussprache bei wenig, König, übrig etc. Weitere Ausführungen zu den plurizentrischen Aussprachestandards s. Kap. 4.2. und 5.1. In Halle wurde unter der Leitung von Hans Krech seit 1964 an einem Aussprachewörterbuch gearbeitet. Das Werk basiert auf der Vorarbeit einer Kommission, die seit 1959 bestand. In der Einleitung der Ausgabe 1982, hrsg. von Eva-Maria Krech, bemerken die Autoren: „So verlief die Entwicklung [der Ausspracheformen der deutschen Standardsprache] zunächst in der Schweiz und dann auch in Österreich anders als in den Staaten, die 41
Auch auf südlichen Bühnen hielt man sich an die norddeutsche Aussprache (Löffler 2006:18).
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3. Variation und Standardisierung
1871 einen bürgerlichen deutschen Nationalstaat bildeten, der die weitere Entfaltung des Kapitalismus begünstigte und es der Bourgeoisie ermöglichte, ihre Profitinteressen stärker zur Geltung zu bringen.“ (Krech et al. 1982:11) Das Zugeständnis eigener Aussprachenormen in Österreich und der Schweiz steht neben der impliziten Kritik an der aus kapitalistischen Motiven gesteuerten Entwicklungsgeschichte der Aussprachenormen in der BRD. Die Vereinheitlichung selber wird dann durchaus als Ergebnis der Herausbildung eines Marktes gesehen, der eine einheitliche Kommunikation erforderte. Nach der „Zerschlagung des Faschismus im Zusammenhang mit den ökonomischen Umwälzungen und der sozialistischen Kulturrevolution in der DDR“ sei es darum gegangen, eine mundartfreie Ausspracheform für alle Kommunikationsaufgaben bereitzustellen, wobei Siebs als zu stark von der Sprachrealität divergierend empfunden wurde (Krech et al. 1982:12). Zugute zu halten ist Krech und seinem Forscherkollektiv in Halle, dass sie empirisch arbeiteten, indem sie die Aussprache von Radiosprechern statistisch auswerteten. Aus diesen Untersuchungen ergaben sich auch DDRVarianten, bspw. die Aussprache von abends als [a:bmts] im Gegensatz zum Siebsschen [a:b∂nts] (Polenz 1983:44, Ammon 1995:388). Eine Neuauflage des Grossen Wörterbuchs der deutschen Aussprache (5. Auflage Leipzig 1982) ist unter dem Titel Deutsches Aussprachewörterbuch 2010 bei de Gruyter erschienen (Krech et al. 2010). Es enthält ein Kapitel zur Standardaussprache in Österreich (Krech et al. 2010:229–258) und eines zur Standardaussprache in der deutschsprachigen Schweiz (Krech et al. 2010:259–277). In den vorangegangenen Abschnitten wurden Kodices der deutschen Standardsprache kurz überblickt, geordnet nach Orthogrammatik, Ortholexik und Orthophonie. Selbst wenn die Festschreibung der Normen in Kodices auf der empirischen Beschreibung sprachlicher Regeln beruht,42
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Sprachliche Regeln beschreiben zunächst Regelmässigkeiten sprachlicher Äusserungen. Während Regeln nur quantifizierbar sind, d. h. empirisch hinsichtlich ihrer Häufigkeit beobachtbar, ohne den Anspruch auf Korrektheit zu erfüllen, sind sprachliche Normen sozial akzeptierte Regeln, die als Handlungsanweisungen dienen und überindividuell befolgt werden. „Der Inhalt sprachlicher Normen ist eine sprachliche Regel unter Einbeziehung der sozialen Dimension.“ (Huesmann 1998:18) Gemäss Bartsch 1985 findet das Sprachgefühl des Bildungsbürgertums gleich dreimal Eingang in die Urteilsbasis der normierenden und kodifizierenden Institutionen, da sich Linguisten von Sprachinstituten und Akademien, die an den Identifikationen von Sprachnormen arbeiten, auf literarische Korpora der letzten 100 Jahre beziehen (auf die „grossen Autoren“ – eine Einschätzung, die heute nicht mehr ganz zutrifft, da sprachliche Vorbilder zunehmend auch in der Mediensprache gesucht werden), sich auf ihr eigenes Sprachgefühl und ihre Annahmen davon, was richtig ist, verlassen, und die Umfragen unter den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft zum Sprachgebrauch wiederum in bildungsbürger-
3.3. Prozesse der Sprachstandardisierung
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also in ihrem Ansatz deskriptiv ist, bedeuten Kodices aus der Sicht der Benutzer den materialisierten invarianten Idealzustand einer Sprache. Dieser entspricht keiner empirisch verifizierbaren Realität (James Milroy 1999:18). Die Kodifizierer selbst wissen am besten um die Vergänglichkeit von Normen und um die diachrone und synchrone Variation.43 Dennoch wird gerade an Wörterbücher die Forderung der Fixierung einer Sprache herangetragen. Wörterbuchbenützer reagieren empfindlich auf Anpassungen und Änderungen des Inhalts von Wörterbüchern. Damit wird Lexikographen der Eingriff ins Sprachsystem unterstellt. So rücken Lexikographen insbesondere dann ins Zentrum des fachlichen und auch öffentlichen Interesses, wenn der Aufstieg von umgangssprachlichem oder mundartlichem Wortgut in den Standard mit der Entfernung der entsprechenden Markierung im Wörterbuch dokumentiert wird.44 Reine Deskription wird in der
lichen Kreisen kursieren (vgl. Bartsch 1985:222). Die drei Quellen sind nicht unabhängig voneinander. Die Standardsprache ist also kein sozialer und geographischer Sprachdurchschnitt. Die sprachliche Normgebung hat einen zirkulären Charakter. Gloy charakterisiert die Zirkularität der Kodifizierung der hochsprachlichen Norm (in der Duden-Grammatik) folgendermassen: „… zunächst wird aus bestimmten Sprachgebräuchen ein Regelsystem konstruiert und dieses als System des Hochdeutschen propagiert; sodann wird all das als systemfremd ausgeschieden, was von diesem Konstrukt abweicht.“ (Gloy 1975:68) 43 So schreibt James Murray 1882 an Henry Sweet über den Beginn des Projekts des OED (Oxford English Dictionary): „I shall have to do the best I can at defining probably 80.000 words that I never knew or used or saw before… I have no ‚natural‘ pronunciation and no intuitive knowledge.“ (Murray 1978:190f und 366, die sich auf folgende Quelle bezieht: Murray Papers, in possession of K.M.E. Murray. James A.H. Murray to Henry Sweet, 29. Mar. 82). Weiter sah Murray, dass Sprache mobil und wandelbar ist, „and a very large number of words have two or more pronunciations current… a man may call a vase a vawse, a vahse, a vaze, or a vase, as he pleases. And why should he not? We do not all think alike, walk alike, dress alike, write alike, or dine alike; why should we not use our liberty in speech also…?“ (Murray 1978:189 und 366, die sich auf folgende Quelle bezieht: James A.H. Murray to unnamed correspondent, 5 Jan. 95. In: Archives of the Oxford University Press at the Oxford English Dictionary Annexe. Oxford). Murray kritisierte daher auch richtigerweise die Idee, Wörter einer Sprache zu zählen. Was sollten die Wörter der Sprache der Engländer denn umfassen? „Is it all that all Englishmen speak, or some of what some Englishmen speak? Does it include the English of Scotland and of Ireland, the speech of British Englishmen, and American Englishmen, of Australian Englishmen, South African Englishmen, and of the Englishmen in India?“ (Murray 1978:193 und 366, die sich auf folgende Quelle bezieht: Murray Papers, in possession of K.M.E. Murray. Lecture to the Ashmolean Natural History Society, p.B2, undatiert). Der Traum der Auftraggeber, dass das Verfassen eines Wörterbuchs lediglich aus dem übersichtlichen Aufschreiben der althergebrachten Standardsprache besteht, zergschlug sich. Man rief Lexikographen, die die Standardsprache in Listen giessen und zwischen Buchdeckel bringen sollten. Es kamen Sprachhistoriker, die die Standardisierung hinterfragten (vgl. De Quincey 1890:430. Weiteres zur Vorgeschichte des Oxford English Dictionary s. Crowley 1989:110). 44 Ein Beispiel ist Webster’s Third New International Dictionary von 1961 (Milroy/Milroy
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3. Variation und Standardisierung
Praxis genauso wenig zur Kenntnis genommen, wie Präskription wissenschaftlich ernst genommen wird. Dabei wird die sprachliche Norm durch Grammatiken und Wörterbücher nicht annähernd abgedeckt, wenn man von Normen das vollständige Rüstzeug für den Sprachgebrauch erwartet. Mit einer Grammatik und einem Wörterbuch in der Hand allein kann man in einer Fremdsprache nicht einmal eine korrekte Ansichtskarte schreiben (Albrecht 2003:16). Nur gerade die Orthographie ist lückenlos durch kodifizierte Norm erfasst. Ansonsten haben Kodices Lücken. Die Lücken werden durch subsistente, also nicht-kodifizierte Normen ersetzt.45 „Darüber, was ‚richtiges‘ Englisch, Französisch oder Deutsch ist, entscheidet auch heute noch in vielen Fällen lediglich das so genannte ‚Sprachgefühl‘, und das beruht ausschliesslich auf subsistenten Normen.“ (Albrecht 2003:18) Dazu gehören Vorstellungen, die man von Normen hat. Diese können von denjenigen Normen, die tatsächlich regelgeleitet und kodifiziert sind, stark divergieren.46 Auch bei der Vermittlung von Normen – im pädagogischen Ritual der Standardisierung – spielen nicht Kodices die Schlüsselrolle, sondern schulisches Vorbild und schulische Sanktion. Die Beherrschung von Normen wird als schulisches Selektionskriterium verwendet. Beim Lernen bilden sich Normen durch positive oder negative Sanktionen heraus. Die Anpassung an die vorgegebenen Normen spielt eine wichtigere Rolle als die Vermittlungsarbeit identifizierbarer Autoritäten. Diese sind jedoch für
1991:6). Diesem Wörterbuch wurde aufgrund seiner Entfernung bestimmter non-standard-Markierungen und bestimmter stilistischer Markierungen – bspw. die Markierung von ain’t als slang –, die Propagierung von Sprachmissbrauch vorgeworfen. „… behind such attitudes one can sense the view that since the language is believed to be always on a downhill path, it is up to experts (such as dictionary-makers) to arrest and reverse the decline.“ (Milroy/Milroy 1991:6). Auch in der deutschsprachigen Lexikographie gibt es Beispiele für Wörterbuchdebatten, wie Clyne (1987:129) oder Huesmann (1997:195) für die 35. Ausgabe des Österreichischen Wörterbuchs berichten. Vgl. Kap. 5.1.2. der vorliegenden Studie. 45 Für die Unterscheidung zwischen subsistenten und kodifizierten Normen s. Gloy 1987. Während die Norm von Standardsprachen sowohl kodifizierte als auch subsistente Normen umfassen, umfassen die Normen von Ortsdialekten in der Regel ausschliesslich subsistente, d. h. nicht in Kodices ausformulierte Normen (vgl. Huesmann 1998:19). 46 Das gilt auch für professionelle Sprachbenutzer, bspw. Schriftsteller. Bloch merkt an: „Für den Schriftsteller ist in seiner Auseinandersetzung mit der Sprache nämlich nicht so sehr die Norm an sich entscheidend, sondern die Vorstellung, die er von ihr hat.“ (Bloch 1971:316) Folgende Aussage Max Frischs zeigt dies sehr schön: „…wenn ich das Verb auch in einem Relativsatz nicht an den Schluss setze, es also auseinandernehme, zum Teil aus rhythmischen Bedürfnissen und auch aus dem Bedürfnis, durch das Auseinanderlegen eine grössere Klarheit zu erzielen“ – dann sei dies auf den mundartlichen Einfluss auf die Syntax zurückzuführen (Max Frisch, zitiert im Gespräch mit Bloch et al., Bloch 1971:69). Weitere Beobachtungen zu Max Frischs (irrigen) Vorstellungen von korrektem Hochdeutsch s. Schenker 1969.
3.4. Zur Standardisierung des Deutschen
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die Sanktionen entscheidend, denn diese sind nur dann wirksam, wenn sie sozialhierarchisch von oben kommen. Doch in Zweifelsfällen sind es wiederum die Kodices, von denen man Rechtssprechung erwartet – dann werden Kodices durchaus mit dem Sprachsystem gleichgesetzt. Bevor allerdings ein Sprecher in sprachlichen Zweifelsfällen einen Kodex konsultiert, orientiert er sich zunächst an Sprachgebrauch und Urteil anderer Sprecher.
3.4. Zur Standardisierung des Deutschen Von der Geschichte einer Standardsprache erwartet man, dass sie lang, ungebrochen und kontinuierlich verläuft (Milroy 2002:16). Das streamlining der Sprachgeschichtsschreibung – ihre Erzählung als sprachlich-kulturelle Ausebnung – wird dabei auf zwei Ebenen betrieben, auf der Ebene der Ursachen der Entwicklung und auf der Ebene des Endproduktes, das heisst der Entwicklung auf einen einheitlichen Standard hin. Sprachliche Entwicklungen und sprachlicher Wandel sollten demnach möglichst exogen sein und nicht Folgen von äusseren Veränderungen. Die Reinheit als Resultat einer perfektionierten inneren Entwicklung bleibt die Idealvorstellung einer Standardsprache, selbst wenn nachgewiesen werden kann, dass die Entstehung einer Standardsprache alles andere als kontinuierlich ist (Bailey 1996) und Zufällen der Realgeschichte unterworfen ist. Über den Beginn der Geschichte der Standardisierung des Deutschen herrscht Uneinigkeit. Gemäss Freudenberg (1983:9) hatte schon die fränkisch bestimmte Sprache des Mittelrheins im östlichen Frankenreich der Karolinger Prestigewert (was aber zunächst nichts mit Standard zu tun hat); gewisse lexikalische Besonderheiten hätten sich gegen südliche, östliche und nördliche Konkurrenten durchgesetzt. Gerne wird der Beginn der Standardisierung des Deutschen auch in der mittelhochdeutschen Dichtersprache der höfischen Dichtung gesehen. Dabei wird übersehen, dass die höfische Dichtung in einem Funktiolekt des Mittelhochdeutschen verfasst wurde. Dieser hatte keineswegs den Status einer mittelhochdeutschen Standardsprache, die als Vorläufer der späteren neuhochdeutschen Standardsprache betrachtet werden könnte. Dazu Polenz: „Es gab allenfalls Ansätze zu einer überregionalen Tendenz, die allmählich zu einer dt. [deutschen, R. S.] Spracheinigung von der Oberschichtssprache hätte führen können, wenn diese Ansätze nicht nach dem Ende der staufischen Kulturblüte verkümmert wären… Das höfische Mhd. [Mittelhochdeutsche, R. S.] war ein stilistisch elitärer Soziolekt bzw. ein gruppengebundener literarischer Funktiolekt mit einem erlesenen Wortschatz.“ (Polenz 2009:50f)
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3. Variation und Standardisierung
Der eigentliche Beginn der neuhochdeutschen Schriftsprache wird aber meistens in den überregionalen Ausgleichsprozessen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit gesucht.47 Einigkeit herrscht in der Geschichtsschreibung über die Wichtigkeit des Ostmitteldeutschen (als Druckersprache), die durch Luthers Modelltexte im 16. Jh. gestärkt wurde, und über die Wichtigkeit der Lexikographierung und Didaktisierung der meissnischen Schreibsprachen, wobei später Gottsched und Adelung als Schlüsselfiguren gelten, bis hin zur Festigung der obersächsischen Führungsrolle in der Zeit der Weimarer Klassik. Umstritten ist jedoch, welche Rollen die verschiedenen Zentren der kaiserlichen Macht im 14. und 15. Jh. bei der Entstehung der überregionalen Schriftsprache gespielt haben. Aus heutiger Sicht werden die Standardisierungsprozesse weniger direkt mit Prag und Wien in Verbindung gebracht, sondern eher mit einer Vielzahl wichtiger Schreib- und Druckzentren des Spätmittelalters, z. B. Augsburg, Nürnberg, Wittenberg, Erfurt und Leipzig.48 Zu konkreten Bemühungen um orthographische und orthophonische Vereinheitlichung (Siebs, Duden, vgl. Freudenberg 1983:10) kam es nach der Reichsgründung unter preussischem Vorzeichen 1871. Die Gründung des zweiten Deutschen Reiches 1871 wird gemeinhin als Voraussetzung für die spätere Durchsetzung gesamtdeutscher Sprachstandardisierungen in Orthographie und Hochlautung angesehen (Polenz 1983:41), wobei den anderen deutschsprachigen Staaten gewisse Sonderentwicklungen zugestanden werden. Aber gegen das „Hochdeutsche im niederdeutschen Munde“ hatten sowohl das Obersächsische als auch das Oberdeutsche im Süden das Rennen um die sprachliche Vormachtsstellung, insbesondere, was die Orthophonie betraf, verloren. Unterschiedliche Wertungen über die Rolle, die diese verschiedenen Zentren für die Standardisierung des Deutschen spielten, haben die Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen begleitet und begleiten sie immer noch. Exemplarisch arbeitet Scharloth (2005) für die Zeit zwischen 1766 und 1785 Diskurse und Gegendiskurse von Zeitzeugen in Bezug auf die Sprachstandardisierung heraus.49 Der damals dominierende Diskurs bestand laut
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Ab 1460 gab es das Ostoberdeutsche (Augsburg, Nürnberg), das Westoberdeutsche (Strassburg, Basel, Zürich), das Ostmitteldeutsche (welches auch Meissnisches Deutsch oder die Wettinische Kanzleisprache genannt wird) sowie das Westmitteldeutsche (Mainz, Frankfurt) als eigene Drucksprachen (Mattheier 2003:213f). 48 Weiteres dazu s. Elspaß 2005 und 2005c, Hartweg/Wegera 2005. 49 Für die vorliegende Arbeit leider nicht mehr zur Kenntnis genommen werden konnte die Studie Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert von Katja Faulstich (Faulstich 2008).
3.4. Zur Standardisierung des Deutschen
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Scharloth (2005) aus zwei möglichen Positionen. Nach der ersten seien die Regeln des Hochdeutschen aus den Werken der besten Schriftsteller abgeleitet und nach deren Vorbild weiter ausgebaut worden,50 nach der zweiten spiele bei der Formulierung und Kultivierung der hochdeutschen Norm der Dialekt einer einzigen Provinz die Rolle einer Leitvarietät (Scharloth 2005:177, 218). Die erste Position findet man z. B. bei Faber belegt. Hochdeutsch sei nach Faber „eine gewisse ausgesuchte Mundart, welche in keiner Provinz herrschet, aber aus jeder das Beste zieht; diese ist die Mundart der Gelehrten.“ (Faber 1768:1) Die Gegenposition, die im Obersächsischen den Vorrang sah,51 vertrat Braun, der jedoch Kritik an dieser Position gleich vorwegnahm: „Es ist wahr, dass kein deutsches Volk das strenge Recht habe, dem andern seine Schreibart aufzudringen.“ (Braun 1765:4) Braun beeilte sich aber hinzuzufügen: „Allein was schadet es nun einem Volke, wenn es von seinen Nachbarn dasjenige annimmt, was wirklich schön und gut ist.“ Adelung vertrat zunächst die erste Position, um sich später der zweiten zuzuwenden (Schmidt-Regener 1989:170).52 Diese erweiterte er
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Der Begriff Hochdeutsch ist seit dem 15. Jh. belegt (Grimm 1877 Bd. 10:1609). Als ursprünglich rein geographischer Begriff – Hochdeutsch im Gegensatz zu Niederdeutsch – wurde er schon im 16. Jh. für die neue Nürnbergisch-Mährische Kanzleisprache (geographisch übertragen auf überregionale Druckersprache) verwendet. Bald wurde die Bedeutung ausgeweitet und auch für gutes neues Deutsch gebraucht. Grimm zitiert Wielands Abhandlung von 1782 über die Frage „was ist hochdeutsch“, worin Grimm die Bedeutungserweiterung des Begriffs belegt sieht. „hochdeutsch in diesem sinne ward nun bezeichnung der vornehmern einheitlichen schriftsprache gegenüber den buntschillernden, manigfachen dialekten, indem man hoch in der bedeutung vornehm … empfand: das jetzt in schriften gebräuchliche teutsche, welches man in ansehen der pöbelsprach, hochteutsch nennet.“ (Grimm 1877 Bd 10:1611) Die rein geographische Bedeutung wird jedoch auch heute noch verwendet: als sprachwissenschaftlicher Begriff für die lautverschobenen südlichen deutschen Varietäten, als alltagssprachlicher Begriff für das Standarddeutsch mit norddeutscher Aussprache. Die geographische (horizontale) Bedeutung und die soziale (vertikale) Bedeutung des Begriffs Hochdeutsch haben sich also bereits früh überschnitten. Ein prominenter Vertreter der These des Vorranges des Obersächsischen war natürlich Gottsched (1700–1766). Aber bereits die Mitglieder der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts sahen das Meissnische oder Obersächsische als die dominante und normgebende Varietät für eine auszubauende Schriftsprache. Sie setzten sich während rund 200 Jahren auch in nichtliterarischen und nichtgelehrten Kreisen dafür ein, die neue Standardsprache hoffähig zu machen, u. a. durch Übersetzungstätigkeit aus dem Französischen, Lateinischen und Griechischen (Polenz 1994:119). Zu den deutschen Sprachgesellschaften s. Polenz 1994:114ff, Engels 1983, Flamm 1994, Otto 1972 und Stoll 1973. 1795 schrieb Adelung an Campe, dass er, als er mit seinem Wörterbuch begann, an Gottscheds These glaubte, „dass unsere Schriftsprache ein Werk der Schriftsteller sey, welche sie aus allen Mundarten zusammengetragen hätten, und dass Luther dazu den Anfang gemacht habe. In dieser Stimmung schrieb ich 1773 die Vorrede zu dem ersten Bande meines Wörterbuchs.“ (Adelung an Campe am 22.1.1795, zitiert in Sickel
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3. Variation und Standardisierung
jedoch, indem er zwar die Leitvarietät in der erfolgreichsten Provinz sah, aber gleichzeitig als an die oberen Klassen, nämlich das gebildete Bürgertum, gebunden erachtete (Schmidt-Regener 1989:170). Damit verschob er die regionale, horizontale Sichtweise in Richtung einer sozialen, vertikalen Sichtweise. Vertikalisierung bedeutet, dass die regionalen Varietäten nicht mehr als ebenbürtige, nebeneinander verwendete Ausdrucksmittel erachtet werden, sondern dass sie in eine soziale Schichtung gebracht werden und einer Varietät das höchste Prestige zukommt.53 Sie steht dann nicht mehr neben, sondern über den anderen Varietäten. Besonders in Gebieten, die entdiglossiert werden,54 werden Dialekte zu Unterschichtsvarietäten. Das horizontale Nebeneinander räumlich differenzierter Varietäten wird durch die Bildung nationaler Standardsprachen in ein soziales vertikales Übereinander umgeschichtet (vgl. Reichmann 2000:457). In der Forschung wird die sozial-hierarchische Dimension der Vertikalisierung teilweise relativiert und stattdessen eine stilistisch-funktionale Umschichtung der Varietäten wahrgenommen. So hatten in der Periode der Herausbildung des Neuhochdeutschen, die etwa mit dem Ende des Dreissigjährigen Krieges einsetzte,
1933 bzw. Schmidt-Regener 1989:169) Adelung kam von dieser Meinung weg und hin zur Sichtweise, wonach die Herausbildung der Standardsprache an die Entwicklung der oberen Klassen gebunden sei, an das gebildete Bürgertum, und zwar an dasjenige der erfolgreichsten Provinz: „… Nur dann können mehrere Mundarten gleiche Rechte haben, wenn ihre Provinzen, sowohl in dem Grade, als auch in dem Alter der Cultur, einander gleich sind.“ (Adelung 1781:86f) Später schrieb Adelung: „Hat nun eine Nation in einer oder der andern Provinz eine solche verfeinerte und höhere Mundart erhalten, so wird diese zugleich die National-Sprache des gebildeteren Theiles derselben, d.i., sie wird sehr oft die gesellschaftliche Sprache der obern Classen, allemahl aber die Schriftsprache der ganzen Nation.“ (Adelung 1787:43) Als aber Sachsen im Siebenjährigen Krieg die Vormachtstellung an Preussen verliert, beharrt, nach Schmidt-Regener, selbst Adelung nicht mehr auf der regionalen Bindung des Standards an Obersachsen (Schmidt-Regener 1989:171). 53 Vgl. dazu Reichmann 1988, 2003. 54 Zur Entdiglossierung s. Bellmann 1983, Auer 1997:130–135. „Ein Pyramidenmodell von Standard und Nonstandard-Varietäten (Grunddialekte als Basis, gefolgt von Regiolekten, Regionalstandards und der endoglossischen Standardvarietät als Pyramidenspitze) impliziert, dass die Entdiglossierung das Auffüllen des Zwischenbereichs zwischen dem traditionellen Standard und den traditionellen Grunddialekten bedeutet. Dies bringt eine zweifache Konvergenz mit sich: … einerseits konvergieren die beiden Pole des alten Repertoires, indem sich Zwischenformen oder sogar Zwischenvarietäten etablieren, die das Repertoire komplexer machen. Andererseits bedeutet diese ‚vertikale‘ Konvergenz immer auch eine ‚horizontale‘ Konvergenz: bildlich gesprochen wird ja die Pyramide auf dem Weg zur Standardspitze immer schmäler, d. h. die Variationsbreite zwischen den regionalen Varietäten geringer. In gewisser Weise ist die horizontale ‚Konvergenz‘ nur eine scheinbare, weil sich alle Einzelvarietäten (Grunddialekte) auf der vertikalen Achse dem Standard annähern und damit einander zwangsläufig ähnlicher werden.“ (Auer 1997:131) Auers Beobachtungen treffen nur für Nord- und Mitteldeutschland zu.
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Händler, Drucker, Wanderprediger und Vagabunden ebenso ein Bedürfnis nach überregionaler Verständigung wie der Adel und hohe Beamte (Huesmann 1998:8), wobei gerade Berufsgruppen mit überregionalem Radius eher in der Stadt als auf dem Land wohnten und somit zur sozialen und funktionalen Dimension noch die Dimension der Stadtsprachenentwicklung hinzukommt. Eine funktional-stilistische Schichtung anstatt einer sozialhierarchischen wird auch im Schweizerhochdeutschen des 17. und 18. Jhs. sichtbar, wenn sich nämlich die literarische Sprache stark am Neuhochdeutschen orientiert, während die Kanzleisprachen regional-konservativ bleiben (Pulit 2001:34). Beide Varietäten trugen ein hohes Prestige und waren Sprachen der Öffentlichkeit. Eine sozial-hierarchische Schichtung ist hier nicht möglich.55 Adelung begründete die Dominanz des Meissnischen, das aus einer durch das Niederdeutsche beeinflussten Variante des Oberdeutschen hervorgegangen sei, noch ohne nähere funktional-stilistische Differenzierung, sondern schlicht damit, dass es seit der Reformation die gelehrte Mundart von ganz Deutschland geworden sei, „weil fast alle wohlgesittete Leute sich derselben bedienen“ (Adelung 1771:66f). Wieland, der sich eine publizistische Fehde mit Adelung lieferte (Scharloth 2005:222), sprach sich gegen dessen Auffassung aus, wonach die oberen Klassen der blühendsten Provinz die Hochsprache geschaffen habe, und für die These, dass es die besten Schriftsteller der Nation seien,56 also für die erste Position des damals dominierenden Diskurses. Auch Johann Christian Christoph Rüdiger hob die Wichtigkeit der Schriftsteller hervor, die „vermöge ihrer erleuchteten Einsichten und ihres gereinigten Geschmacks überall das beste“ ausgewählt hätten (Scharloth 2005:233). Rüdiger setzte sich, ebenso wie Wieland, zu diesem Thema mit Adelung persönlich auseinander (Scharloth 2005:229). Die Mundarten seien dadurch zusammengeflossen, „dass bey Ausbildung der Sprache und Litteratur alle Provinzen bald diese bald jene mehr oder minder geschäftig war, jede ihre Mundart gebrauchte und jede von den anderen etwas annahm.“ (Rüdiger 1883:38)57 Darin kann nicht nur eine frühe Konvergenztheorie (s. unten) gesehen werden, sondern die Vorwegnahme eines soziopragmatischen Erklärungsansatzes.
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S. auch Bickel 2000a zu den Differenzen zwischen Dialekt, lokaler Schreibsprache und überregionaler Drucksprache. Wieland (1853/58, Bd. 33, S. 353) erwähnt z. B. Opitz, Fleming, Lohenstein als bedeutende Schriftsteller, die gerade keine Obersachsen waren. Ein Vorläufer der Sammlung von Teutonismen ist Rüdigers Lieferung eines obersächsischen Idiotikons – als Beleg dafür, dass die obersächsische Mundart nicht mit der Hochdeutschen gleichzusetzen sei (Scharloth 2005:237).
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3. Variation und Standardisierung
Der für die Zeit zwischen 1766 und 1785 gängige Gegendiskurs bestand hingegen darin, dass es die oberdeutschen Dialekte sind, die als Muster bei der Formulierung der Norm des Hochdeutschen dienen sollten (Scharloth 2005:242). Der Spiess wurde also umgedreht. Die angebliche Überlegenheit des Oberdeutschen wurde auf verschiedene Arten nachgewiesen. Einerseits durch die Betonung der Symbiose des Ober- und Niederdeutschen als Basis für das Obersächsische, andererseits durch ideologischen Widerstand des katholischen Südens gegen die lutherische Ausdrucksweise. Mitunter wurde das Oberdeutsche mit der Sprache des alten Reiches gleichgesetzt. Mit einer differenzierteren Argumentation stach dabei Fulda, ein prominenter Vertreter des Gegendiskurses, hervor. Zwar hatte er nichts gegen den Gedanken, dass das Meissnische die Hochsprache geprägt hätte. „Es würde aber Gewalt und Unrecht üben, wenn es eben dieses Recht andern teutschen Provinzen absprechen, und die Kraft- und Kunstwörter anderer Gegenden gegen die ihrigen verwerfen, und für provincial, das ist im niedersten Verstand, für pöbelhaft und niedrig erklären wollte.“ (Fulda 1774:82) Fulda landete schliesslich in seiner Argumentation bei einer Ablehnung einer Bevorzugung einer bestimmten Region. „Wer in der in alten Zeiten angenommenen höhern Teutschen Mundart fein und regelmäsig schreibt und spricht, der ist ein Bürger und Innsas des hochTeutschen Gemeinenwesens, er lebe übrigens, wo er wolle.“ (Fulda 1776:3f) Harscher und polemischer tönte es bei Hartmann, der sich die sprachliche Vormacht Sachsens allein durch die Leipziger Messe und das Zentrum des Verlagswesens erklärte und der Meinung war, dass „in sächsischen Landen, nach Grundregeln geschriebene Bücher gewaltsam in grammatische Schnitzer“ verbessert würden (Hartmann 1774:32). Er empfand das obersächsische Lektorieren also als Bedrohung. Provinzialwörter würden den anderen Regionen aufgebürdet, während die besten urdeutschen Wörter verdammt würden (Scharloth 2005:267). Ähnlich historisch argumentierten Bodmer und Breitinger, die Zürcher Gegenspieler Gottscheds (s. Kap. 4.2.3. und Kap. 5.2.1.4., weiterführend Rohner 1984, Haas 1994b:345ff). Sie plädierten, gegen Gottsched und die Gottschedianer, für eine südliche Variante des Hochdeutschen, weil diese näher bei den historischen Wurzeln des Deutschen (beim staufischen Mittelhochdeutschen) läge.58 58
Im Vorspann zu seinen ansehnlichsten Resten von der Sprache der Alemanen und Franken in ihrem heutigen Gebrauch, die Haas in seine Sammlung von Provinzialwörtern des 18. Jhs. aufgenommen hat (Haas 1994:540f), vermerkt Bodmer: „Ich wünschte, dass ich in den verschiedenen Provinzen, in welchen die deutsche Sprache nach so viel besondern Mundarten geredet wird, einen unschuldigen Wetteifer erwecken könnte, so dass man in jeder sich stark machete der andern zu beweisen, dass man mehr Wörter,
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Einige Vertreter des Gegendiskurses befürchteten durch die monovarietale meissnische Vorherrschaft eine Verarmung der Hochsprache und wünschten sich den Einbezug älterer Sprachstufen und sämtlicher Dialekte in den Ausbau der Standardsprache (Scharloth 2005:275). Der Nord-SüdKonflikt war natürlich auch konfessioneller und kultureller Natur, der über das Sprachliche hinausging und in gewissen Hinsichten bis heute andauert. „In den Köpfen der Journalisten, Schriftsteller und Gelehrten des 18. Jhs. war Deutschland hinsichtlich der Kultiviertheit seiner Provinzen zweigeteilt.“ (Scharloth 2005:295) Sachsen und Brandenburg galten als fortschrittlichste und kultivierteste Länder, der Süden wurde gering geschätzt und als unaufgeklärt betrachtet. Obersachsen und Schwaben waren Gegenpole. Indem die sächsische Kultur aber auch als überfeinert und durch das Französische verdorben kritisiert wurde,59 ergab sich eine neue Dichotomie in den stereotypen Vorstellungen über Nord und Süd, nämlich der natürliche Süden im Gegensatz zum gekünstelten Norden (Scharloth 2005:525). Den Diskursen in Bezug auf die Sprachstandardisierung, wie sie von Scharloth 2005 für die Zeit zwischen 1766 und 1785 herausgearbeitet werden, liegen m.E. folgende Argumentationslinien zugrunde. Eine regionale Argumentation liegt vor, wenn bestimmten Regionen, sei dies nun der ostmitteldeutsche oder der oberdeutsche Raum, die Leitvarietät zugesprochen wird. Sozial wird argumentiert, wenn die Sprache der Gebildeten, entweder einer „Nation“ oder einer bestimmten Provinz, als Leitvareität gesehen wird. Hier wird Sprachentwicklung als Vertikalisierung gesehen. Genius- oder einzelpersonenbedingt wird argumentiert, wenn die besten Schriftsteller als Urheber der Leitvarietät genannt werden. Hinter einer solchen Auffassung steht das Konzept von Sprache als Artefakt, als etwas, das von benennbaren herausragenden Individuen geschaffen worden ist. Schliesslich wird evolutionär bzw. soziopragmatisch argumentiert, wenn die Standardsprache als Produkt von Interaktionen gesehen wird (vgl. bereits die Position von
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und mehr Schwünge der Wörter, und von höherm Alter aufbehalten, und vor Änderungen bewahret hätte. Auch die Beständigkeit in einer Sprache hat ihre Verdienste, sie zeuget von der Gemüthes-Gleichheit einer Nation. Eine solche Bestrebung würde uns den Schlüssel zu tausend Wörtern und Redensarten geben, welche wir in den ältesten Überbleibseln der deutschen Literatur finden, und kein sicheres Mittel habe, sie zu entziffern. Ich habe die starke Vermuthung, dass das Land, das zwischen dem Rhein, der Aar, und der Rhone, an die Alpen geschlossen ist, die gültigste Ansprache auf das Alterthum der Sprache machen, und die ansehnlichsten Reste von der Sprache der Alemanen und Franken in ihrem heutigen Gebrauche noch aufweisen könnte.“ (Bodmer 1757:202–204, Hervorh. RS) Die Sammlung von Idiotismen bzw. Provinzialwörtern sollte hier zwei Zwecken dienen: einerseits dem Nachweis der Altehrwürdigkeit des heimischen Idioms und andererseits der Etymologie (Haas 1999:14ff). Zum Topos des französierenden Sachsendeutsch s. Scharloth 2005:403.
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3. Variation und Standardisierung
Johann Christian Christoph Rüdiger, beschrieben in Scharloth 2005:233). Mit Ausnahme der letzten Argumentationslinie sind alle monokausal. Auch ab der Mitte des 19. Jhs. dominierten monokausale Erklärungen für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache (Huesmann 1998:5). Sie begannen mit der These von der kontinuierlichen Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache seit althochdeutscher Zeit. Später sah man in der kaiserlichen Kanzlei in Prag im 14. Jh. den Ursprung des Entwicklungsprozesses, da der Schreibusus der Prager Kanzlei als Vorbild für andere Kanzleien gedient haben soll.60 Schliesslich glaubte z. B. Theodor Frings in der ersten Hälfte des 20. Jhs., der Ursprung der deutschen Schriftsprache liege in einer kolonialen Ausgleichssprache, die durch Siedlermischung seit dem 12. Jh. in der Mark Meissen entstanden war (Frings 1932). Sie sei später von der wettinischen Kanzlei als Schreibsprache übernommen worden (Huesmann 1998:5). Solch monokausale Erklärungsversuche gehen oft mit teleologisch ausgerichteter Nationengeschichtsschreibung Hand in Hand und sind an realgeschichtliche Einzelereignisse gebunden, wie die Erfindung der Druckerpresse 1450 oder Luthers Bibelübersetzung 1522– 34. Sprach- und Realgeschichte werden teleologisch interpretiert und als kontinuierliche Vorläufer des Staatsgebildes der Gegenwart gesehen. Das mittelalterliche Kaiserreich wird dabei als direkter Vorläufer des heutigen deutschen Staates hingestellt (z. B. in Hugelmann 1931, erwähnt in Ammon 1995:317). Die Sichtweise monokausaler Erklärungen kann schon allein dadurch widerlegt werden, dass das Aufkommen und Verschwinden der oberdeutschen Literatursprache diese kontinuierliche Entwicklung unterbrochen hätte. Zwischendurch gab es für die höfische Literatur des 12. und 13. Jhs. durchaus eine erste, südliche oberdeutsche Ausgleichssprache (Clyne 1984:6). Diese breitete sich dadurch aus, dass auswendig gelernte Texte vor Publikum, das einen anderen Dialekt sprach, vorgetragen wurden (Albrecht 2003:18), später aber verschriftet wurden. Ferner ist die lineare Sichtweise nur möglich, wenn die Geschichte der mittelniederdeutschen Schriftsprache, ein wichtiger Nebenschauplatz der deutschen Sprachgeschichte, ausgeblendet wird. Das Mittelniederdeutsche war vom 14. bis zum 16. Jh. im niederdeutschen Gebiet verbreitet und entfaltete sich, parallel zur hochdeutschen Schreibsprache weiter südlich, mit der Macht der Hanse im ganzen nordeuropäischen Raum, von der Nordsee bis zum Baltikum, als lingua franca (Clyne 1984:6, Kriegesmann 1990:68f). Im 15. und 16. Jh. verlor die
60 Für die vorliegende Arbeit leider nicht mehr zur Kenntnis genommen werden konnte das Handbuch Kanzleisprachenforschung von Albrecht Greule, Jörg Meier und Arne Ziegler (Greule et al. 2009).
3.4. Zur Standardisierung des Deutschen
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Hanse an Bedeutung. Schliesslich wurde die niederdeutsche Schreibsprache von den südlich und ostmitteldeutsch geprägten Schreibsprachen verdrängt, was bekanntlich zur Ausbildung einer ausgeprägten Diglossiesituation im niederdeutschen Gebiet führte. Langer (2003:296) vermutet, dass für das weitere Gedeihen des Niederdeutschen als Standardsprache der ideologische Rahmen fehlte. Es gibt keine Nachweise darüber, dass die Sprecher des Niederdeutschen an die herausragende Qualität ihrer Sprache glaubten und sie anderen Sprachen gegenüber als überlegen betrachteten. Es war eine reine Verkehrssprache (Langer 2003:298). Auch heute gibt es gegensätzliche Perspektiven auf die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Diese werden z. B. erkennbar bei der Gegenüberstellung von Beschs Sicht einerseits, wonach die deutsche Standardsprache über Jahrhunderte durch regionale und religiös verstärkte Barrieren in ihrer Entwicklung behindert worden sei (Besch 1990:91–102), mit Clynes Sicht andrerseits, wonach die föderalistische Struktur des deutschsprachigen Raums nach dem Zusammenbruch des Hl. Röm. Reiches die Festigung der regionalen Schreibsprachen förderte (Clyne 1984:6f). Monokausale Erklärungen für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache vertritt heute aber niemand mehr, auch wenn man sich über die die Standardisierung vorwärtstreibende Auswirkung bestimmter Ereignisse und geschichtlicher Strömungen, beispielsweise der Verbreitung der Druckersprachen in frühneuzeitlichen städtischen Zentren und der Wichtigkeit der ostmitteldeutschen und ostoberdeutschen Kanzleisprachen des 14. und 15. Jhs., einig ist. Vereinzelt wird Obersachsen als Ausgangspunkt der deutschen Standardsprache zwar noch propagiert (Bartsch 1985:241), aber die Geschichte der deutschen Sprachstandardisierung wird heute in der Regel als Geschichte der Konvergenz erzählt,61 und zwar nicht nur einer Konvergenz, die auf die Konkurrenz zwischen der Schreibsprache im Süden und dem Ostmitteldeutschen folgt. Die sprachliche Standardisierung wird eher als Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, dessen treibende Kraft der Ausgleich verschiedener lokaler Schreibsprachen war, gesehen (Glaser 2003:67). Dieser Ausgleich wurde freilich nie ganz erreicht. Die lokalen Schreibsprachen mit ihren ostmitteldeutschen, ostoberdeutschen,
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„In der jüngsten Auflage der Sprachgeschichte von Polenz … wird als Quintessenz aus den Forschungen der letzten Jahrzehnte zum Frühneuhochdeutschen die Pluriarealität der neuhochdeutschen Schriftsprache betont, die kontinuierliche, wenn auch nicht gleichwertige Einwirkung der meisten deutschen Sprachlandschaften auf den Herausbildungsprozess. Das ist gegenüber der älteren Vorstellung von der ostmitteldeutschen Verkehrssprache als Grundlage des Neuhochdeutschen … nunmehr ein deutlich neuer Forschungskonsens.“ (Glaser 2003:57)
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3. Variation und Standardisierung
westmitteldeutschen und niederdeutschen Elementen schlossen sich zu überregionalen Schreiblandschaften zusammen und bildeten die Basis der neuhochdeutschen Schriftsprache. Die überregionalen Schreiblandschaften blieben lange eigenständig. Die Eigenständigkeit der Schreibsprachen bis ins 16. Jh. (Clyne 1984:6) geht auf die politische Eigenständigkeit der Regionen zurück. Durch die politische und kulturelle Fragmentierung bildeten die deutschsprachigen Regionen nicht ein Zentrum, das mit London oder Paris vergleichbar gewesen wäre, und das seine Varietät als Standardsprache den übrigen Regionen hätte auferlegen können (Clyne 1984:6). Die Regionen wurden nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches vielmehr durch kleinräumigen Absolutismus regiert. Durch den Rückgang der zentralen Reichsgewalt brauchten die souveränen Territorialstaaten eine eigene Verwaltungssprache für eigene Verwaltungsstrukturen (Gardt 2000a:169). Die föderalistische Struktur im heutigen deutschen Sprachgebiet war eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung plurizentrischer Standardvarietäten. So gilt bei Berufsbezeichnungen bis heute eine grössere Vielfalt mit Anspruch auf Standardsprachlichkeit als z. B. in Frankreich (Haas 2000:102, Besch 1972). Wie kann man sich den Ausgleich bzw. die Konvergenz konkret vorstellen? Bereits in Kapitel 3.3. wurde auf die Wichtigkeit soziopragmatischer Faktoren, die in einzelnen Sprechakten wirksam werden, hingewiesen. In einzelnen Sprech- und Schreibakten und deren wiederholter Koinzidenz wird über die Variantenselektion entschieden – ein Prozess, der für Sprachwandel schlechthin gilt. Entscheidend ist die Salienz,62 d. h. die Prominenz eines Merkmals (Glaser 2003:68) bzw. die Vermutung des Sprachbenützers über die Prominenz dieses Merkmals, über seine Überregionalität und über sein Prestige. Man geht von einem Zusammenspiel der Übernahme fremder Varianten einerseits und der Vermeidung lokaler Besonderheiten andererseits aus (Glaser 2003:69) – ein empfindliches Gleichgewicht. Die Vermutungen über das Geltungsareal und die Bekanntheit bestimmter Varianten waren in den Anfängen der deutschen Standardisierung letztlich von der Belesenheit und Textkenntnis der Sprachteilhaber abhängig. Weiterer leitender Faktor bei der Variantenwahl war die Konfession. Als gut katholisch galt das Festhalten an der althergebrachten, eigenen Schreibsprache, als ketzerisch die Adoption der neueren Formen. Besch (2003:21) erwähnt als Beispiel das so genannte Lutherische -e. Dieses zeigte sich z. B. bei Name und Wölfe, wofür Nam und Wölf die südlichen, katholischen Formen 62
Dieser Begriff wird aus dem in der angelsächsischen Forschung gebräuchlichen saliency übernommen.
3.5. Kaum gewonnen so zerronnen? Destandardisierung
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waren. Haas (2003:1) vermutet, dass die Schreiber bei der Variantenselektion unterschiedlichen Maximen folgten. Die Regionalmaxime besagt, dass die Schreiber so schreiben sollten, dass man sie in ihrer eigenen Region versteht.63 Die Regionalmaxime, welcher Schweiz, Bayern und Österreich stark folgten (Besch 2003:23f), sei allerdings nur bis zum Dreissigjährigen Krieg wirksam gewesen, nachher seien Regionalismen als Relikte auf dem Weg zur Konvergenz zu sehen. Das Aufgeben der Regionalmaxime sieht Haas jedoch nicht einfach als Disloyalität der eigenen sprachlichen Herkunftsregion gegenüber. „Ich frage mich, ob die Bereitschaft zur Konvergenz nicht ganz wesentlich dadurch unterstützt wurde, dass jede Region von Anfang an in der entstehenden Gemeinsprache in einem gewissen Sinne ‚die eigene Sprache‘ sehen konnte – wenn auch aufgrund unterschiedlicher sprachlicher Realitäten.“ (Haas 2003:2) 64 Wie die individuellen Entscheidungsprozesse vor sich gingen und wie die Faktoren, die die Variantenwahl bestimmten, gegeneinander oder miteinander spielten, können wir heute nicht mehr rekonstruieren.65 Sicher ist, dass neben der Variantenkenntnis die soziolinguistische Einschätzung der Varianten eine Rolle spielte. In Kap. 5.3. wird auf diese beiden Aspekte in Bezug auf die gegenwärtige plurizentrische Variation der Standardsprache mit einer empirischen Untersuchung eingegangen.
3.5. Kaum gewonnen so zerronnen? Destandardisierung Mündet die 400-jährige Geschichte der Standardisierung des Deutschen in den Beginn seiner Destandardisierung im Sinne einer Destabilisierung? Nach Deumert/Vandenbussche (2003:10) sind Destandardisierungsprozesse in den Germanischen Standardsprachen seit den 1950-er Jahren spürbar. Schmidt sieht den Beginn dieses Prozesses bei der Durchsetzung der mas-
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Besch (2003:23) nennt folgende Differenzierungsgrössen hinsichtlich der Einschätzung von Regionen: sprachlicher Abstand, Randlage/Mittellage, Grösse der Region, anderweitige sprachliche Anschlussmöglichkeit sowie politische Selbständigkeit, territoriale Zuordnung und konfessionelle Zuordnung. 64 Solch multiple Sprachidentitäten sind auch heute noch alltäglich. Z.B. sind Dialektsprecher Mitglied einer kleinräumigen Sprachgemeinschaft, einer Sprachregion sowie einer Kulturgemeinschaft, die durch eine gemeinsame Standardsprache verbunden ist. 65 „Wir wissen inzwischen, dass der Sprachgebrauch, d. h. die konkrete Aktualisierung von Sprache, ebenfalls einem Regelkanon unterliegt wie das Sprachsystem selbst, aber einem bisher noch nicht ausreichend erforschten und beschriebenen, etwa hinsichtlich aller komplexen Steuerungsfaktoren, die im Spiel sind, wenn wir in einer bestimmten Situation, mit einer bestimmten Person oder Gruppe über ein bestimmtes Thema in einer bestimmten Absicht reden und dabei laufend sprachstrategische Auswahlentscheidungen treffen müssen, sei es halbbewusst routiniert, sei es bewusst.“ (Besch 1982:6)
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3. Variation und Standardisierung
senmedialen Verbreitung der gesprochenen Standardsprache, also bereits in den 1930-er Jahren (Schmidt 2005:285).66 Was ist unter Destandardisierung zu verstehen? Mit diesem Begriff fasst Daneš (1982) Veränderungen der Standardsprache, die durch vertikale Ausgleichsprozesse ausgelöst werden. Standardvarietät und Substandard67 nähern sich einander an, die Normtoleranz der Sprecher nimmt zu, das Prestige substandardsprachlicher Varianten steigt. Die Destandardisierung wird oft in einem Atemzug mit der regionalen Standardisierung genannt, durch welche es zu einer Umbildung einer vormaligen Standardvarietät im Sinne einer Substandardisierung kommt (vgl. Auer 1997). Gleichzeitig können vormals als substandardsprachlich empfundene Varianten in neue, regionale Standardvarietäten aufsteigen. Der Prozess der Destandardisierung findet aus dieser Sicht also an zwei Orten statt. Entweder steigen regionalspezifische Phänomene in den Standard auf und ersetzen die standardsprachlichen Entsprechungen, oder Regionalvarietäten ersetzen als ganzes System die vormalig übergeordnete Standardvarietät. Den Prozess der Destandardisierung sieht Ferguson nicht als linearen Prozess, sondern eingebettet in einen Standardisierungszyklus; „periods of focus with standardization“ folgen auf „periods of diffusion with dialect differentiation“ (Ferguson 1988:121). Der Ausbreitung und Differenzierung von Dialekten wären die Auflösung einer uniformen Standardsprache und die Bildung neuer Standardsprachen aus Dialekten dieser Standardsprache gleichzusetzen. In Bezug auf das deutsche Sprachgebiet müsste freilich zwischen Dialekt und Regionalstandard differenziert werden. Im Gegensatz zu diesem zirkulären Modell des Destandardisierungsprozesses interpretiert Greule (2002:60) den Regionalvariantenreichtum der deutschen Schriftsprache als Stillstand in ihrer Entwicklung und argumentiert somit teleologisch (s. Kap. 3.4. der vorliegenden Studie). Die Schriftsprache sei „… auf dem Weg zur ‚perfekten‘, voll normierten Standardsprache gleichsam vor dem Ziel stehen geblieben“, und vor allem in der Lexik sei „der angestrebte vollständige Variantenabbau nicht erreicht“ worden.68 Nicht nur mit dieser linearen Sichtweise, sondern auch mit der
66 Elspaß zweifelt an Schmidts These der frühen Destandardisierung (bzw. an der Destandardisierung an sich – s. weiter unten in diesem Kapitel). Wenn man behaupte, dass sich mit Hörfunk und Film/Fernsehen die gesprochene Standardsprache erst ausgebreitet hat, dann könne man nicht sagen, dass damit gleichzeitig die Destandardiseriung eingeläutet wurde (persönliche Mitteilung, 2.10.2010). 67 Maitz/Elspaß (2009:6) kritisieren zu Recht, dass der Begriff substandard standardsprachenideologisch geprägt ist. Er impliziert eine vertikale Beziehung zwischen Standard und Substandard. 68 Vgl. auch Huesmann (1998:259), die von einer Stagnierung der Hochdeutschkompetenz zwischen den letzten beiden Generationen spricht, woraus sie schliesst, dass die
3.5. Kaum gewonnen so zerronnen? Destandardisierung
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Vertretung eines zirkulären Modells, das die Sukzession von Fokussierung und Dialektdiffusion beschreibt und zentrifugale und zentripetale Kräfte in der Sprachstandardisierung hervorhebt, wird ein monozentrisches Standardkonzept mit Dialekten auf der einen Seite und der Einheitssprache auf der anderen vorausgesetzt. In einem Destandardisierungsprozess kann aus dieser Sicht eigentlich nur die Umkehrung der Standardisierung gesehen werden, die in Rückschritte zu den Vorstufen der Standardisierung mündet, also in eine Regression der Standardsprache in kommunikationsbehindernde Dialektvielfalt. Die Festigung regionaler Normen soll in der vorliegenden Studie jedoch gerade nicht als Phänomen der Destandardisierung im Sinne einer Zersplitterung von Normen und einer sprachlichen Wertekrise gesehen werden, sondern eher als grossräumige Flexibilisierung der Norm und der Erweiterung des Varietätenspektrums in Texten (Kap. 5.2.) und beim individuellen Sprecher (Kap. 5.3.3.). Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Besinnung auf Regionalvarianten in Abgrenzung zu einer dominierenden, überdachenden Varietät Ausdruck einer sprachlichen und kulturellen Abgrenzung sein kann. Dies zeigt bspw. die Neubewertung des Sächsischen für die nachträgliche Konstruktion einer Gruppenidentität in der ehemaligen DDR oder der vereinzelt zu beobachtende nationalistische Impetus in der österreichischen Sprachpflege (Kap. 4.2.2., 5.1.2.). Die Regionalität, die sich vor allem phonologisch und lexikalisch manifestiert, kann im Lichte einer gruppalen Identitätssuche interpretiert werden. Genau darin wird jedoch die drohende Auflösung des sprachlichen Standards gesehen und beklagt. Die Destandardisierung wird dann als Wertezerfall gesehen, die soziale Permissivität und linguistische Toleranz als Übel, die Varietäten als Störung des Standardisierungsprozesses. Aus dieser Perspektive blockiert bswp. die deutschsprachige Schweiz die Erstarkung der Standardsprache, in dem sie den Dialektschwund verhindert (Leopold 1968:346). Die bipolare Sicht auf Destandardisierung sieht an einem Pol die sprachliche Regionalität und am anderen Pol die sprachliche Einheitlichkeit. Über diese Sicht hinaus geht die funktionale Sicht auf den Wandel der Sprachnormen im deutschen Sprachraum, um die sich Polenz bereits 1983 bemüht. Er konstatiert in den frühen 1980-er Jahren eine Abkehr von
Entwicklung hin zum Hochdeutschen und weg vom Basisdialekt in den drei Regionen des Niederdeutschen, Mitteldeutschen und Oberdeutschen auf unterschiedlichem Niveau ein vorläufiges Ende erreichen könnte. Im niederdeutschen Raum sei man vom Basisdialekt zu einer Regionalsprache gesprungen. Im mittel- und oberdeutschen Raum finde hingegen eine langsame Akkomodation statt, die auf einem im Vergleich zum Niederdeutschen hochdeutschferneren Punkt das Bedürfnis der überregionalen Verständlichkeit erfülle und keine weiteren Anpassungen mehr notwendig mache.
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3. Variation und Standardisierung
der grossbürgerlichen Sprachnormauffassung seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (Polenz 1983:42) und beobachtet eine grössere Vielfalt im öffentlichen Sprachgebrauch, die Mässigung der Hochlautung sowie einen Rückgang der Integration von Lehnwörtern69 (Polenz 1983:47–52). Ein Stil sanft übertriebener Höflichkeit und der Abschwächung (irgendwie, faktisch, letztendlich) habe sich entwickelt (Polenz 1983:55). Gerade im Schulunterricht habe sich ein desillusionierter umgangssprachlicher Redestil durchgesetzt (z. B. motzen, schlauchen, ist nicht drin). Diese zeitgeschichtliche Interpretation des Wandels von Sprachormen zeichnet das Bild einer stilistischen Umschichtung, die z. B. zur Anwendung umgangssprachlichen Stils in Situationen führt, in denen vor dieser Entwicklungstendenz ein gehobener Stil gefordert worden wäre.70 Es bleibt die Frage offen, inwiefern diese Entwicklung als Konsequenz der in der Soziolinguistik der 1970-er Jahre diskutierten (bzw. erwünschten) Gleichwertigkeit sprachlicher Varietäten zu sehen ist. Die Varietäten, die aus der gesellschaftlichen Pluralität hervorgehen, sollen als gleichberechtigt gelten. Die Standardsprache soll nicht als Herrschaftsinstrument missbraucht werden. Allerdings wird dieser Status der Standardsprache durch die Bestrebungen der emanzipatorischen Spracherziehung indirekt bestätigt, indem sozial benachteiligten Kindern durch die Heranführung an die Standardsprache bzw. den elaborierten Code (Bernstein 1964) zu mehr Schulerfolg verholfen werden sollte. Für die Verbreitung umgangssprachlicher Merkmale gibt es neuere empirische Nachweise.71 Spiekermann 2005 untersuchte die Entwicklung der regionalen Standardvarietät im Südwesten Deutschlands. Das so genannte Pfeffer-Korpus72 von 1961 wurde mit einem aktuellen südwestdeutschen Standardkorpus verglichen, das in 10 Städten in Baden-Württemberg erhoben wurde. Es zeigt sich, dass in der untersuchten Zeitspanne dialektale Merkmale zurückgegangen sind (z. B. die /au/-Verdumpfung), dass aber gleichzeitig grossräumigere, umgangssprachliche Merkmale zugenommen haben. Es kommt gewissermassen zu einer Standardisierung regionaler Formen (Spiekermann 2005:123, s. bereits König 1989 bzw. Kap. 5.1.1. der
69 Stattdessen werden diese direkt aus der Herkunftssprache – meist dem Englischen – übernommen. 70 Für weitere Entwicklungstendenzen der deutschen Gegenwartssprache (in Deutschland) s. Braun 1993. 71 Vgl. auch König 1989, s. Kap. 5.1.1. der vorliegenden Studie. 72 Das Pfeffer-Korpus, benannt nach Alan Pfeffer, der die Texte sammelte, umfasst 398 Tonaufnahmen und Transkripte von Erzählmonologen und Dialogen über 25 ausgewählte Themen. Aufgenommen wurde in 37 Städten der BRD, 10 Städten der DDR, 6 Städten in Österreich und 4 Städten in der Schweiz. Weitere Informationen auf http:// dsav-oeff.ids-mannheim.de (Zugriff am 16.6.2011).
3.5. Kaum gewonnen so zerronnen? Destandardisierung
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vorliegenden Studie). Dazu gehören Apokopierung (ich geh für ich gehe, is für ist, nich für nicht), Proklise (ne für eine) sowie Vokalzentrierung (des für das, net für nicht) in Südwestdeutschland. Des und net werden nicht mehr als regionale (d. h. süddeutsche) Formen, sondern als nichtregionale umgangssprachliche Formen empfunden. Spiekermann schliesst aus diesem Befund einerseits den Verlust regionaler Formen zugunsten standardsprachlicher Formen und andererseits die Öffnung der Standardsprache gegenüber umgangssprachlichen Formen. In eine ähnliche Richtung weist eine andere Studie von Spiekermann, die die regionale Standardaussprache Baden-Württembergs behandelt und die Entwicklung bestimmter phonologischer Variablen in den Blick nimmt: die /s/-Palatalisierung, die /ç/-Koronalisierung, die einmorige Aussprache von Wörtern wie Sport und die Hyperkorrektion [ç] in zeitige (Spiekermann 2005a). Diese zunehmend gebräuchlichen Aussprachephänomene können nicht oder nicht mehr regional bestimmt werden. Spiekermann interpretiert diese Entwicklung mit dem hohen Stellenwert von Ökonomie, Prestige und Bequemlichkeit bei der Variantenwahl. Dies führe zu umgangssprachlichem Sprechen. Als weiterer empirischer Nachweis für den Rückgang kleinräumiger Varianten bei gleichzeitiger grossräumiger Verbreitung bestimmter regionaler Varianten sei der Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) 73 erwähnt, der seit 2002 von Elspaß und Möller auf der Grundlage der Karten von Eichhoff 1977–2000 bearbeitet und laufend erweitert wird (Elspaß 2005a, 2007). Seine Hypothese war, dass zwischen 1971–75, dem Entstehungsbeginn von Eichhoffs Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, und 2002, dem Zeitraum von Elspaß‘ Nacherhebung, kleinräumige Varianten zurückgegangen sind und sich zunehmend grossräumige Varianten im Deutschen zeigen. Zu Recht stellt Elspaß zur Diskussion, dass Veränderungen der normativen Gültigkeit von Varianten eigentlich nicht als Destandardisierung interpretiert werden dürfen, sondern eher als Veränderungen des Sprach(norm)bewusstseins. Im Projekt AdA wurden die Versuchspersonen als Experten, nicht als Repräsentanten befragt, also mit der Frage „Sagt man an Ihrem Ort xy?“ und nicht „Sagen Sie xy?“. Übereinstimmung mit Eichhoffs Daten gab es etwa bei den Variablen bin/habe gesessen und bei Diminutiven. Solche (morpho-)syntaktischen regionalen Unterschiede scheinen die untersuchte Zeitspanne also überdauert zu haben. Eine Tendenz zur Vereinheitlichung beobachtet Elspaß hingegen in bestimmten lexikalischen Bereichen, z. B. Brötchen, Senf und Klingel. Aus seiner Untersuchung geht aber auch her73
http://www.philhist.uni-augsburg.de/de/lehrstuehle/germanistik/sprachwissenschaft/ ada/ (Zugriff am 10.12.2010).
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3. Variation und Standardisierung
vor, dass nationale Grenzen auf den Sprachgebrauch eine starke Wirkung ausüben. Nicht wenige Varianten schliesslich, die vormals auf den süddeutschen Raum beschränkt waren, haben sich im ganzen deutschen Sprachgebiet verbreitet. Dazu gehören der Samstag, der den Sonnabend zunehmend verdrängt (Sonnabend ist im Osten aber immer noch recht häufig), und die Karotte, die die Möhre verdrängt hat – dies, obwohl Karotte gemäss dem Deutschen Wortatlas (Mitzka 1951–1980) so gut wie kein eigenes Verbreitungsareal aufwies. Eine Süd-Nord-Richtung des lexikalischen Wandels ist auch bei denn/weil, sowieso/eh und eben/halt zu beobachten. Diese Entwicklungsrichtung interpretiert Elspaß mit dem Anstieg des covert prestige südlicher Regionalismen. Ob dieser Aufschwung in Zusammenhang mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Überlegenheit des Südens gegenüber dem Norden und Nordosten steht, sei hier dahingestellt. Sowohl Spiekermann 2005 als auch Elspaß 2005a fokussieren auf normative Verschiebungen im Bereich der gesprochenen Sprache bzw. in der Bewertung gesprochener (Standard-)sprache. Erwähnt sei hier auch Lamelis Beitrag zur Historizität und Variabilität der deutschen Standardsprechsprache der Grossregion Mainz (Lameli 2006). Er beschreibt neue, grossregionale Prestigesprechlagen, welche frühere, kleinräumigere Oralisierungsnormen ablösen. S. dazu auch Schmidt 2005, der den Umwertungsprozess früherer grosslandschaftlicher Prestigeaussprachenormen seit den 1970-er Jahren beschreibt. „In dem Masse, in dem die durch die mündlichen Massenmedien verbreiteten neuen nationalen Oralisierungsnormen des Deutschen kommunikative Präsenz erlangten, wurden die alten Prestigenormen als regional begrenzt wahrgenommen und zunehmend in einem landschaftlich sehr differenziert verlaufenden Prozess abgewertet.“ (Schmidt 2005:278) Die neuen Prestigesprechlagen erscheinen als kolloquialstandardsprachlich. Damit werden wiederum Tendenzen beschrieben, die sowohl Züge der Standardisierung wie auch der Destandardisierung tragen. Dabei zeigen sich drei mögliche Tendenzen: Was als Destandardisierung interpretiert wird, ist je nach Perspektive das Absinken der Standardvarietät Richtung Dialekt – die Elemente kommen sowohl im Standard wie auch im Nichtstandard vor (Albrecht 2003:20) –, die Ersetzung des Standards durch standardsprachliche Regionalvarietäten oder aber die Bildung grossräumiger Regionaldialekte. Letztere Sichtweise betrifft das Aufsteigen von Non-Standard-Elementen in den Standard und also die Konvergenz von Standard und Nicht-Standard. Albrecht (2003:21) vertritt die Ansicht, dass dies nicht den Zerfall des Standards bedeutet, sondern dass dadurch die primären Non-Standard-Varietäten gestärkt werden. Letzteres Argument ist leicht auf die Beschreibung plurizentrischer Sprachvariation übertrag-
3.5. Kaum gewonnen so zerronnen? Destandardisierung
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bar. Beispielsweise kann in der Diskussion um die 35. Auflage des ÖWB argumentiert werden, es handle sich bei der Öffnung des Wörterbuchs für substandardsprachliche Lexik nicht um eine Schwächung und Verschlechterung der bundesdeutschen Varietät, wie vielfach beklagt wurde (Huesmann 1997:197; s. auch Kap. 5.1.2.), sondern um die Stärkung der nationalen österreichischen Standardvarietät. „Wenn davon ausgegangen wird, dass es nicht gerechtfertigt ist, die bundesdeutsche Standardvarietät als die eigentliche Standardvarietät zu beschreiben und die nationalen Varietäten als davon abweichend, so muss auch davon ausgegangen werden, dass der Prozess der Destandardisierung nicht im Rahmen einer Sprache untersucht werden kann, sondern auf eine Standardvarietät und damit auf einen Staat beschränkt bleiben muss.“ (Huesmann 1997:197) Somit sollen Standardvarietäten nicht als Ergebnis der Destandardisierung im Sinne einer Zersplitterung der Standardsprache oder als Vorstufe zu einer vollständigen, uns sprachhistorisch noch bevorstehenden Vereinheitlichung gesehen werden, sondern als Hinweis auf dezentralisierte Normen, die als solche schon immer existiert haben, jedoch in individuellen und sozialen Repräsentationen von Sprachnormen – allen voran Kodices – nicht immer als solche anerkannt worden sind. Über Konvergenz und Divergenz von Varietäten im Hinblick auf die Standardvarietät muss demnach nationalspezifisch individuell befunden werden. Diese Haltung bedeutet die Abkehr von der Vorstellung eines alten, monozentrischen Sprachstandards, an dessen Stelle ein neuer, plurizentrischer, d. h. national- und regionalspezifisch variierender bzw. pluriarealer, Standard rückt. Roelcke vergleicht die Plurizentrik der deutschen Standardsprache mit ihrer fachlexikalischen Dezentralisierung, die eine gesellschaftliche Entwicklung widerspiegle, die weder verhindert werden könne noch solle, auch wenn sie vom tradierten Bildungsideal abrücke und Zeichen der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung unseres Alltags sei. „Ob man dieser fachlexikalischen Dezentralisierung nun ‚positiv‘, ‚negativ‘ oder gar ‚relativ‘ gegenübersteht, der plurizentrische Sprachstandard stellt indessen in jedem Falle eine grosse Herausforderung für die Kommunikation im Alltag dar, auf welche die Mehrheit innerhalb unserer Gesellschaft nicht hinreichend vorbereitet ist (was auch die weit verbreitete Furcht vor und den oft nicht minder tief verankerten Hass auf die vermehrte Standardvariation erklärt).“ (Roelcke 2004)
4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache 4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen: Vielfalt von Asymmetrien in sprachlichen Ökosystemen Pluricentric languages are both unifiers and dividers of peoples. (Clyne 1992:1)
Von plurizentrischen Standardsprachen spricht man dann, wenn sie in mehr als einem Land als nationale oder regionale offizielle Amtssprache verwendet werden und über eigene, kodifizierte Normen verfügen. Der eigenständige Status wird in den Medien und in der Regel auch in Schulmitteln dokumentiert und gefestigt. Die daraus entstehenden plurizentrischen Varietäten weisen Unterschiede auf, die als Zeichen und Mittel zur Abgrenzung voneinander funktionieren. Das bekannteste Beispiel einer Standardsprache, die in verschiedenen Nationen besondere Formen gebildet hat, ist das Englische in seiner britischen und US-amerikanischen, aber auch in seiner kanadischen und australischen Ausprägung. Aufgrund seiner transkontinentalen Verteilung hat man schon früh die Fiktion einer einheitlichen englischen Standardsprache aufgegeben. Es wurde als nicht mehr geboten erachtet, das amerikanische oder australische Englisch als Varianten eines supranationalen Standards zu betrachten (Brandt/Freudenberg et al. 1983:6, s. auch Kloss 1978:253ff). In Bezug auf das Deutsche traten in den 1970-er Jahren Untersuchungen hervor, „die sich für die Beschreibung der deutschen Standardsprache vom Prinzip eigenständiger und eigenwertiger regionaler Varianten leiten lassen.“ (Brandt/Freudenberg et al. 1983:6, s. auch Moser 1982). Die Erforschung plurizentrischer Sprachen steht im Zeichen der Erhaltung der Sprachen- und Varietätenvielfalt, die aus dieser variationsfreundlichen Perspektive als Bedingung für die kulturelle Artenvielfalt gesehen wird. Die Auffassung der Gleichwertigkeit von Standardvarietäten richtet sich gegen eine kulturelle und sprachliche Vereinheitlichung, die mit der Ausebnung nationaler und regionaler sprachlicher Eigenheiten eine
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4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache
Ausebnung kultureller Diversität und eine Gefährdung des sprecherindividuellen Identitätsbewusstseins bedeuten würde. Der plurizentrische Ansatz betont die Ko-Existenz von Varietäten, im Gegensatz zur Standardideologie, die stattdessen die Kompetition zwischen sprachlichen Varietäten im Vordergrund sieht, die zur Überlagerung von Varietäten durch eine einzige Varietät führt. Das Aufkommen der plurizentrischen Betrachtungsweise von Standardsprachen wird oft zeitgeschichtlich interpretiert. Es wird beispielsweise der Standpunkt vertreten, dass die politische Neuordnung Europas nach 1945 die Herausbildung mehrerer nationaler Varietäten des Deutschen begünstigt hat (Reiffenstein 1983:15).1 Hinsichtlich des österreichischen Deutschen ist eine solche Wirkung durchaus nachvollziehbar. Der Ursprung des Deutschen als plurizentrische Sprache liegt jedoch weiter zurück, lange bevor es so bezeichnet wurde (vgl. Kap. 3.4). Plurizentrische Sprachen unterscheiden sich auf der grammatischen, der phonologischen, der lexikalischen, der semantischen und pragmatischen Ebene, aber nicht notwendigerweise auf allen diesen Ebenen (Clyne 1989a:361). Ein Beispiel für einen grammatischen Unterschied ist die Genusdifferenz beim Wort Salami, das gemeindeutsch feminin ist, im Schweizerhochdeutschen aber auch maskulin. Auf der phonologischen Ebene ist z. B. die fehlende Auslautverhärtung in einsilbigen Wörtern zu nennen, die auf /b/, /d/ und /g/ enden, in Österreich, der Schweiz und in Süddeutschland. Den grössten Teil plurizentrischer Unterschiede machen die lexikalischen Unterschiede aus. Was bspw. in Texten aus Deutschland als Türklinke bezeichnet wird, ist in Österreich eine Schnalle und in der Schweiz eine Türfalle. Ein semantischer Unterschied findet sich beim Wort Estrich, welches in Österreich und Deutschland ‚Fussboden‘ bedeutet, in der Schweiz dagegen den unbeheizten Dachraum bezeichnet. Lexikographisch schwer fassbar sind pragmatische Unterschiede. Diese zeigen sich z. B. in bestimmten kommunikativen Routineformeln. Bspw. ist es nur in der Deutschschweiz üblich, nach dem Unterbruch eines Telefongesprächs das Gespräch mit der Formel „Sind Sie noch da?“ wieder aufzunehmen. Auch unterschiedliche Grussformeln gehören in den pragmatischen Bereich. Selten sind unterschiedliche Schreibungen (Portmonee, Portemonnaie) und Unterschiede in der Sprach-, Stil- oder Altersschicht (z. B. lugen, das in A-west und D-süd standardsprachlich, in der Schweiz jedoch mundartlich ist). Schliesslich sind Unterschiede in der Verwendungshäufigkeit zu nennen. Die Konjunktion obschon ist in A und D selten und gehoben, in der 1
Die Diskussion, ob es ein DDR-Deutsch gegeben hat oder gar noch gibt, dauert immer noch an (s. Kap. 4.2.1., vgl. auch Lerchner 1992, Reiher 2004, Stevenson 2002).
4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen
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Schweiz wird sie oft und stilistisch unmarkiert verwendet. Insgesamt sind die Gemeinsamkeiten der Varietäten viel zahlreicher als ihre Unterschiede. Die Sprachteilhaber einer plurizentrischen Sprache werden also durch die plurizentrische Variation weniger voneinander getrennt als dass sie durch den Gebrauch der weitgehend selben Sprache vereint werden. „Pluricentric languages are both unifiers and dividers of peoples.“ (Clyne 1992:1) Plurizentrische Sprachen umspannen Kulturräume, die, wie im Falle des Englischen und Spanischen, durch imperialistische Entwicklungen und Migrationsbewegungen geographisch auf dem Globus verteilt sein können oder, wie im Falle des Deutschen, Schwedischen und Koreanischen (Clyne 1992:2), in geographisch zusammenhängenden Gebieten verwendet werden – wenn man von Namibia und Siebenbürgen absieht, wo Deutsch zumindest bis vor kurzem Amtssprache war. Einzelne plurizentrische Sprachen werden teilweise in disparaten, teilweise in zusammenhängenden Gebieten verwendet und sind somit Mischtypen. Als Beispiel für diesen Typ nennt Clyne 1992 in seinem Band, in dem 17 plurizentrische Sprachen mit vergleichbaren Parametern beschrieben werden, das Französische. Als Beispiele für monozentrische Sprachen nennt Clyne (1992:3) das Russische und das Japanische. Einen Sonderfall stellen Varietäten dar, die sich durch politische Isolation (die Abtrennung eines sozialistischen von einem kapitalistischen Block) gebildet haben, die geographisch jedoch mit dem übrigen Sprachgebiet zusammenhängen. Beispiele sind die Varietäten der ehemaligen BRD und DDR sowie die koreanischen Varietäten (Kim 1992:239). Ob man aufgrund der sprachlichen Unterschiede der politisch umgrenzten Gebiete tatsächlich von verschiedenen plurizentrischen Varietäten sprechen kann, ist allerdings umstritten (Clyne 1992b:123f, Kim 1992, s. Kap. 4.2.1. der vorliegenden Studie). Für die Variationstoleranz ist die geographische Verteilung kein Präjudiz. Die Normgebung von Standardsprachen, die geographisch disparat sind, ist nicht notwendigerweise demokratischer als diejenige von geographisch zusammenhängenden Standardsprachen, wie Joseph am Beispiel des Französischen zeigt. „French is the classic example of a language spread across the world by imperialistic expansion which nevertheless maintained a rather consistent monocentric standard. All corners of the Empire were expected to follow standard Parisian norms.“ (Joseph 1987:171) Joseph bringt dies mit der relativ frühen Standardisierung des Französischen in Zusammenhang, die zu einer Kultur der Eloquenz führte – Entwicklungen, die das Englische, Spanische, Portugiesische und Holländische ein Jh. später durchgemacht haben, so Joseph (1987:171). Das Deutsche ist ein Beispiel, das trotz geographischer Kohäsion keine zentralisierende, sondern eine va-
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4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache
riationstolerante Sprachnormpolitik aufzeigt. Dies liegt an der föderalistischen Struktur des deutschen Sprachraums und den politischen Eigenentwicklungen der deutschsprachigen Nationen. Die Forschungsgeschichte zur Plurizentrik von Standardsprachen hat zwei Stränge, einen begriffsgeschichtlich-theoretischen und einen empirischen (s. Kap. 5.1.). Letzterer war in seinen Anfängen oft mit Sprachpflege verknüpft und begann mit Sammlungen von Besonderheiten,2 sei es im Sinne von Fehlerlisten oder im Sinne von zu bewahrendem Wortschatz; ersterer, die Begriffsgeschichte der nationalen Varietäten und der Plurizentrik von Standardsprachen, wurde sowohl von der russischen Sprachwissenschaft als auch von der angelsächsischen und deutschen Soziolinguistik geprägt.3 Während in der marxistischen Sprachwissenschaft die ständig zunehmende Vereinheitlichung und Zugänglichkeit der Nationalsprache interessierte (Ammon 1995:43), interessierten in der westlichen Diskussion um englische oder deutsche Varietäten schon früh Fragen der Divergenz und des Verhältnisses zwischen den Varietäten. Ammon (1995:44) nennt Elise Riesel als eine der ersten, die 1953 auf nationale Besonderheiten des österreichischen Deutschen hinwies und den Begriff der nationalen Variante – womit sie eigentlich die Varietät meinte (Ammon 1995:44) – verbreitete. 1964 ging Riesel von drei Varietäten der deutschen Standardsprache aus: vom deut-
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Als empirische Vorläufer der Sammlungen von nationalen und regionalen Besonderheiten der deutschen Standardsprache müssen die so genannten Provinzialwörtersammlungen, auch Idiotismensammlungen genannt, angesehen werden, die seit dem ausgehenden 17. Jh. zusammengestellt wurden. Allerdings waren diese Listen mehrheitlich, wenn auch nicht durchgängig an der gesprochenen Sprache orientiert. Ein eindrückliches Zeugnis dieser Sammlungen ist die Edition der im 18. Jahrhundert unselbständig gedruckten Idiotismenlisten von Walter Haas (1994). „Mit der absehbaren Durchsetzung der deutschen Gemeinsprache in der Schrift kam zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch das Interesse an jenen Sprachbeständen auf, die der allgemeinen Schriftsprache nicht angehörten – sei es, dass sie nicht allgemein waren, sei es, dass sie mit schriftfernen Sprechergruppen oder Stilschichten konnotiert wurden“, so Haas in der Einleitung zu seiner Edition (Haas 1994:XXV). Als Verfasser der ersten deutschen Idiotismenliste (1689), eines Glossarium Bavaricum, nennt Haas (1994) Johann Ludwig von Prasch (1637–1690). Die Wörter werden teilweise auf Deutsch, teilweise auf Lateinisch erklärt, z. B. Brunnlen/urinam mittere, Fürtuch/Fürfleck/Schürtze (Prasch 1689:15–26). Konkurrierende Begriffe zu plurizentrisch sind z. B. polyzentrisch, plurinational oder multizentrisch. Vgl. Ammon 1997a (Einleitung). S. auch Domaschnew 1991. Auch bei der Begriffsgeschichte zur Plurizentrik ist darauf hinzuweisen, dass im Zuge der Erfassung von Provinzialwörtern bereits im 18. Jh. Bezeichnungen für die entsprechenden Wortschatzelemente geprägt wurden. „Zu Beginn wurden spezifische Bezeichnungen vorgezogen, etwa wenn Leibniz von vocabula Bavaris propria spricht … oder Koehler von Slesiasmi. In den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts waren geläufige Bezeichnungen Provinzialismus … oder Provinzialwort, Volkswort, Ausdrücke des gemeinen Manns u. a.m.“ (Haas 1994:XXV). Der Begriff Idiotismus, für den sich Haas in seiner Edition entscheidet, scheine eine Neuschöpfung des 18. Jhs. zu sein.
4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen
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schen, österreichischen und schweizerischen Deutschen (2. Auflage s. Riesel 1970). Das Deutsch der BRD und DDR sah sie als einheitliches Gepräge (Ammon 1995:44). Bereits hier wird die Inkongruenz zwischen dem Staatsund Nationenbegriff deutlich (vgl. den Abschnitt zum Deutschen als plurizentrische Sprache in der DDR in Kap. 4.2.1. der vorliegenden Studie). Die Idee des sprachlichen Zentrums, das den Kern einer plurizentrischen Varietät bildet, geht, so Ammon (1995:45), auf William Stewart (1968) zurück (der von polyzentrischen, nicht von plurizentrischen Varietäten sprach), und wurde von Kloss im deutschen Sprachraum verbreitet. Dieser beschrieb damit Sprachformen, die weder Abstandsprachen noch (Nur-)Ausbausprachen sind (vgl. Kap. 2) und in allen Schriftlichkeitsbereichen verwendet werden (Kloss 1978:66). Den Begriff plurizentrisch will Kloss explizit auf Schriftsprachen, und nicht auf Dialekte, verwendet wissen. Merkmale der nationalen Varietäten der deutschen Standardsprache werden heute Austriazismen, Helvetismen und Teutonismen genannt.4 Die Begriffe Austriazismus und Helvetismus für standardsprachliche typische Merkmale Österreichs und der Schweiz sind akzeptiert und gebräuchlich. Bereits 1875 verfasste Lewi in seiner Abhandlung Das österreichische Hochdeutsch. Versuch einer Darstellung seiner hervorstechendsten Fehler und fehlerhaften Eigentümlichkeiten ein Kapitel über Austriacismen. Allerdings verstand Lewi darunter, wie der Titel seiner Abhandlung bereits vermuten lässt, nicht nationale Besonderheiten im heutigen Sinn. Vielmehr sah er darin eigentliche Fehler. Nicht ganz so gebräuchlich wie Austriazismus und Helvetismus ist der Begriff Teutonismus, was primär damit zu tun hat, dass ein Bewusstsein über nationale Varianten Deutschlands kaum existiert. Aus der monozentrischen Betrachtungsweise gibt es keine Varianten des deutschen Deutschen.5 Auch die Wahl des Begriffes ist umstritten (Ammon 1995:99, Markhardt 2005:21). Polenz (1999:122, 1999a:422 und passim) hält den „Werkstatt-Terminus“ Teutonismus (Polenz 1999a:422) für problematisch, da er mit seiner Assoziation an die Teutonen vor allem politisch-polemisch „im Sinne des historischen deutschen Radikalnationalismus“ verstanden werde. Als Alternative zu Teutonismus propagiert Po-
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Als Überbegriff für nationale Varianten schlägt Hägi 2006 Zentrismus vor. Diese Sicht ist vergleichbar mit der früheren britischen Weigerung, die Existenz britischer Varianten anzuerkennen. Dazu folgende Aussage aus einem Leserbrief von 1927 aus dem New Statesman, der bereits in Kapitel 3.2. zitiert wird. „We obviously cannot admit that the English language contains ‚Anglicisms‘ – because that admission would imply that our language belongs to everybody who uses it – including negroes and Middle-Westerners and Americanised Poles and Italians. That is the fundamental point. ‚Anglicisms‘ are English tout court.“ (zitiert in Bailey 1991:157)
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lenz (zuletzt 1999:120) Deutschlandismus (für Ammons Kritik am Begriff Deutschlandismus s. Ammon 1995:319). Eine Umfrage unter Fachkolleginnen und -kollegen zu Beginn der Erarbeitung des VWB ergab, dass der Begriff Teutonismus als verbreitet eingeschätzt wird und trotz berechtigter Bedenken auf Akzeptanz stösst. Er wurde als geeigneter erachtet als die Gegenvorschläge Deutschlandismus, Germanismus oder Germanizismus – bei letzteren beiden Vorschlägen gereichte zum Nachteil, dass man für bereits existierende Begriffe neue Bedeutungen hätte prägen müssen. Ungeachtet des begrifflichen Disputs existieren Austriazismen, Helvetismen und Teutonismen auf allen sprachlichen Ebenen. Viele sind unspezifisch, das heisst nicht nur typisch für eine nationale Varietät, sondern gleichzeitig auch für (Teil-)Regionen anderer Varietäten. Bei nationalen Varianten, die nur in einem (staatlichen) Zentrum vorkommen, spricht Ammon (1995:65) von spezifischen Varianten. Schwieriger gestaltet sich die Verortung der nationalen und regionalen Varianten der Standardsprache auf dem Standard-DialektKontinuum (s. dazu auch Hägi 2000:29ff). Einerseits gilt es, bei jeder Variante die Abgrenzung zum Nonstandard innerhalb der entsprechenden Varietät zu bestimmen. Helvetismen, Teutonismen und Austriazismen können dialektnah sein, da viele Varianten von den lokalen Dialekten bezogen werden. Dies gilt v.a. für den süddeutschen, schweizerischen und österreichischen Raum.6 Inwiefern und wie lange sie als dialektal empfunden werden, ist eine Frage des Sprachwandels. Andererseits sind die dialektnahen Varianten, ebenso wie alle anderen Varianten auch, gegen die anderen Varietäten des Deutschen abzugrenzen. Das Problem, das sich hierbei ergibt, ist, dass Sprecher anderer Varietäten dazu neigen, die Varianten einer Varietät a priori als nicht-standardsprachlich einzustufen. Es wird nicht erkannt, dass nationale und regionale Varianten für kommunikative Funktionen verwendet werden können, die der Einheitssprache vorbehalten sind. Die Verortung der nationalen und regionalen Varianten sieht also anders aus je nachdem,
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Die Auffassung, sprachliche Besonderheiten Österreichs und der Schweiz seien eben Dialekt, ist in Deutschland auch heute noch vorherrschend (Ammon et al. 2001). „Darauf beruhte z. B. die kundenfreundliche Geste der Sparkasse Duisburg, bei Aushändigung von Schillingen ein Merkblatt ‚Österreichische Dialektwörter‘ zu überreichen um die Reisenden mit überlebensnotwendigem Wissen auszustatten, wie dass ‚Fisolen grüne Bohnen‘, ‚Palatschinken Pfannekuchen‘ usw. sind.“ (Ammon et al. 2001:13). Weder Fisolen noch Palatschinken sind Dialektwörter. Beides sind standardsprachliche Austriazismen. Erschwerend kommt bei der Differenzierung zwischen dialektalen und regional-standardsprachlichen Ausdrücken dazu, dass es Varianten gibt, die in Österreich und der Schweiz standardsprachlich sind, in Deutschland jedoch regionale (südliche) Geltung haben.
4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen
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ob nur die sprachmaterielle Seite oder auch sprachfunktionale und sprachpragmatische Seiten in den Blick genommen werden. Die früheren Modelle, die das Nebeneinander verschiedener Ausprägungen derselben Standardsprache fassen, gehen von nur einem Zentrum der Norm aus, deren Peripherie gleichzeitig auch an der Peripherie der normativen Gültigkeit und Richtigkeit angesiedelt ist. Diese galaktische Metapher – mit einem zentralen Gestirn, das die sprachliche Norm repräsentiert, und seinen Trabanten – wird auch sprachübergreifend gerne herangezogen. „The languages of the world together constitute a global system held together by multilingual people who can communicate with several language groups.“ (De Swaan 1998) Gemäss De Swaan ist die Position jeder Sprache innerhalb dieses Systems abhängig von ihrem Kommunikationswert, der sich aus der Anzahl ihrer Sprecher als Erst- und Zweitsprache errechnet.7 De Swaan sieht die 140 Sprachen (von ca. 4000 möglichen), die von 90% der Weltbevölkerung gesprochen werden, als Sonnen in eigenen Solarsystemen, die von einem Ring von Planeten – anderen Nationalsprachen – umgeben werden. Die Nationalsprachen ihrerseits sind Zentren in Subsystemen, die von Monden, nämlich Lokalsprachen, umkreist werden. In dieser galaktischen Metapher, die ausschliesslich auf ökonomische Aspekte der Sprachverwendung basiert (vgl. den Abschnitt zur Sprachökonomie in Kap. 3.2. der vorliegenden Studie) – de Swaan spricht von Sprachen als hypercollective goods –, ist das Englische im Zentrum der Galaxie. Der plurizentrische Ansatz nimmt diese Metapher im Prinzip auf, setzt jedoch die Grenzen der Galaxien bei den Varietäten an, nicht bei als einheitlich betrachteten Sprachsystemen. Nicht mehr der Kommunikationswert der einzelnen Varietäten führt zu einer bestimmten Position – sind doch alle Varietäten einer plurizentrischen Standardsprache gegenseitig verständlich –, sondern die Kriterien der Kodifizierung von lexikalischen und lautlichen Unterschieden, die Verwendung der Varietät von Modellsprechern (in den Medien, in der Politik) und das Identifikationspotenzial für die Sprecher der Varietät. Ähnlich wie bei der Frage der Destandardisierung hängt die Auffassung des plurizentrischen Modells vom dahinter stehenden Standardkonzept ab. Geht man von einer ursprünglichen Einheitlichkeit der Standardsprache aus, müssen plurizentrische Sprachen einer Fragmentierung gleich kommen. „Bei grossen, ‚polyzentrischen‘ Sprachen … kann es zu mangelnder Iden-
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„The position of each language in this system may be characterized by its communication value (Q), the product of its prevalence and its centrality (number of speakers, number of speakers who are competent in this language, number of multilingual speakers whose repertoire contains that language)“. (De Swaan 1998:63f)
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4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache
tifikation mit der überregionalen oder gar internationalen Standardvarietät führen; derartige Identitätskonflikte mögen schliesslich zur Aufsplitterung in mehrere Nationen führen.“ (Lüdi 1994:285) Dies sei weit fortgeschritten im Englischen, weniger im Deutschen und nur in Ansätzen im Französischen beobachtbar. Diese Beobachtung mag für den Ist-Zustand dieser Standardsprachen zutreffen, jedoch ist die Präsupponierung einer vormaligen Einheitlichkeit dieser Standardsprachen m.E. nicht korrekt. In der Geschichte der Plurizentrik von Standardsprachen der Alten und der Neuen Welt gibt es grosse Unterschiede. Die Modelle für das Englische entstanden im Forschungsumfeld von Englisch als Zweitsprache. Zur Anerkennung des Englischen als plurizentrische Sprache trug wesentlich die Emanzipation des amerikanischen Englisch bei. Diese war verbunden mit der ökonomischen und politischen amerikanischen Machtbildung. Während man für das Englische, das viel stärker denationalisiert ist, mittlerweile diskutiert, inwiefern die so genannten nativisierten englischen Varietäten (New Englishes) auch als Zentrumsvarietäten gedacht werden sollen, gibt es für das Deutsche erst den Sprung von der mono- zur plurizentrischen Sichtweise. Der Grund für diesen Forschungsrückstand liegt zunächst in der im Vergleich zum Englischen grösseren geographischen Kompaktheit des deutschen Sprachraums. „Die deutschsprachigen Länder liegen geographisch zu nahe beisammen und haben zu lange und zu intensiv eine gemeinsame Kultur- und Sprachgeschichte gehabt, als dass ein künstlicher Ozean zwischen den Staaten entstanden wäre.“ (Löffler 1986:18) Die Schweiz hat zu den anderen deutschsprachigen Staaten nicht dasselbe Verhältnis wie Brasilien zu Portugal oder Australien zu England. Dazu kommt, dass die Dominanz der deutschländischen Varietät im Lern- und Forschungsbereich Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache erst in jüngerer Zeit hinterfragt wird, dies auch im Hinblick auf das unterschiedliche Zielpublikum dieses Sprachlernmarktes, und sich Österreich und die Schweiz noch nicht lange mit eigenen Lehrmitteln auf dem Markt für Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache profilieren. Die Erkenntnis, dass die Erforschung des Deutschen als plurizentrische Sprache praxisrelevant ist und z. B. sprachdidaktische und lexikographische Konsequenzen hat, hat sich entsprechend weniger stark durchgesetzt als im englischen Sprachraum. Die dominierenden Varietäten gehen typischerweise von einem 1:1-Konzept von Sprache und Nation aus, versinnbildlicht durch eine Staatsflagge oder den Sprachnamen (Französisch den Franzosen, Englisch den Engländern, Deutsch den Deutschen). Ein solches, monozentrisches Konzept sieht auf der einen Seite die in ihrer Nation verwendete Standardsprache, den
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bon usage,8 und auf der anderen Seite andere Varietäten als Regionalsprachen oder Dialekte, die die Einheit der Standardsprache gefährden könnten. Aus der monozentrischen Perspektive betrachten die dominierenden Nationen ihre Nationalvarietäten als Standard und sich selbst als Träger der Standardnormen. Aus dieser Perspektive überdacht die Varietät einer dominierenden Nation die Varietäten der dominierten Nationen (vgl. Ammon 1995:2ff, Kloss 1978:60). Die Varietäten der anderen Nationen werden folglich als Abweichungen, Nicht-Standard, exotisch, oft auch als charmant, herzig und etwas veraltet beschrieben (Clyne 1992a:459).9 Zudem werden die Normen der anderen Nationen für weniger rigide gehalten. Die Kultureliten der überdachten Zentren der Standardsprache unterwerfen sich hingegen den Normen der überdachenden Nation und suchen sich ihnen anzupassen. So hat auch die mittel- und norddeutsche oder preussisch-reichsdeutsche Neigung zur Sprachhegemonie (Polenz 1999:117) eine lange Tradition. Bis weit über die 1950-er Jahre standen die empirischen Forschungen zu Standardvarietäten noch im Zeichen der Abweichung vom Binnendeutschen, welches damals das Deutsch der BRD war (vgl. Kap. 5.1.). Muhr kritisiert diese elitär-zentralistische Haltung als antidemokratisch: „If democracy means participation, plurality and the right to express this plurality via political participation by forming political bodies and institutions these principles seem to fail completely in respect to national languages and in particular to pluricentric languages.“ (Muhr 2005:13) Das Konzept der Plurizentrik von Standardsprachen kritisiert im Falle des Deutschen das binnendeutsche Weltbild als Niederschlag sprachimperialer Bestrebungen (Ammon 1995:479). Aus der plurizentrischen Sichtweise wird neu nicht mehr von einem regional (auf Norddeutschland) beschränkten Hochdeutsch ausgegangen, von dem insbesondere die südlichen Regionen mehr oder weniger abweichen, sondern von mehreren, gleichberechtigten Zentren. Eine gegenseitige Überdachung der deutschen Standardvarietäten ist aus dieser Sicht nicht möglich. Die Schnittmenge aller Varietäten bildet den Kern der Standardsprache. Nicht mehr ein Defizit zum Hochdeutschen, sondern die Differenzen zwischen den hochdeutschen Varietäten begannen in der Forschung zur Plurizentrik von Standardsprachen zu interessieren. Damit wurde ein Paradigmenwechsel nachvollzogen, der sich in der So8 9
Vaugelas (1585–1659) ging davon aus, dass nur die Elite über den guten und richtigen Sprachgebrauch verfüge. Die Mehrheit habe einen schlechten, sozial und regional von der Norm abweichenden Sprachgebrauch (vgl. Lüdi 1992:154). Vgl. dazu Preston: „Speakers of majority varieties have a tendency to spend the symbolic capital of their variety on a Standard dimension. Speakers of minority varieties usually spend their symbolic capital on the Friendly dimension.“ (Preston 1999a:370)
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4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache
ziolinguistik der späten 70-er Jahre bereits abzeichnete. Diese Tendenz zur Öffnung und Toleranz ist nicht nur im Kontext der zunehmenden Mobilität, sondern auch der Überwindung des Nationalismus im deutschen Sprachraum im 20. Jh. zu sehen (Polenz 1999:115). In Sprachwissenschaft und Lexikographie gehört dazu die allmähliche Herausbildung des Bewusstseins, dass es auch in Deutschland – und nicht nur in Norddeutschland – Varianten der Standardsprache gibt, die bspw. in der Schweiz und in Österreich nicht gebräuchlich sind, und dass nicht mehr vorausgesetzt wird, dass bspw. Fleischer, Randstein und Pellkartoffel gemeindeutsch sind und von allen Teilhaberinnen und Teilhabern der deutschen Sprache verstanden und selber verwendet werden, wie es die entsprechenden Einträge in Wörterbüchern wollen (vgl. Kap. 5.1.). Das Verhältnis plurizentrischer Varietäten untereinander hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Zunächst führen unterschiedliche Sprecherzahlen leicht zur Dominanz derjenigen Varietät gegenüber den anderen Varietäten, die von den meisten Sprechern verwendet wird. Die Varietät, die am meisten Sprecher hat,10 dominiert das Verlagswesen, monopolisiert tendenziell die Kodifizierung der Standardsprache und kontrolliert den Fremdsprachunterricht. Somit erklärt sich, weshalb Varietäten mit grosser Sprecherzahl endonormiert sind, während Varietäten mit kleinerer Sprecherzahl semiendonormiert oder exonormiert sind. Deutschland hat aufgrund seiner Grösse und Bedeutung die besten Mittel, seine Varietät durch Fremdsprachenunterricht zu exportieren (Clyne 1993b:2f. und 1987:129). Ein anschauliches Beispiel ist die Synchronisierung der Kinderfilmserie Biene Maya, die zwar in Wien angefertigt wurde, jedoch durch Berliner Kinder als Sprecher, da befürchtet wurde, man könne mit österreichischen Sprechern die Synchronisation nicht verkaufen (Ammon 1995:467 bzw. Wiesinger 1988:226). Als weiteres Beispiel seien schweizerische und österreichische Sprachvereine erwähnt, die sich auf die eigene Nation als ihren Wirkungskreis beschränken, während der Deutsche Sprachverein und die Gesellschaft für deutsche Sprache auswärtige Zweigvereine haben (Ammon 1995:323f). Bezeichnenderweise scheinen die DaF-Institutionen im nicht-deutschsprachigen Ausland, bedingt durch ihre Aussenperspektive auf die deutsche Sprache, stärker für die Plurizentrik der deutschen Standardsprache sensibilisiert zu sein als bspw. die Goethe-Institute im deutschsprachigen Gebiet (Ammon
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Aktuelle Bevölkerungszahlen (Brockhaus Enzyklopädie Online, konsultiert am 29. Mai 2006): Deutschland 82.5 Mio (2003), Schweiz 7.44 Mio (2005, davon 64% Deutschsprachige), Österreich 8.13 Mio (2004).
4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen
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1995:482). Nicht von ungefähr sind es viele Auslandsgermanisten, die sich mit der Erforschung der Plurizentrik des Deutschen beschäftigten und beschäftigen, so z. B. Riesel, Domaschnew, Korlén und Clyne. Die Asymmetrien zwischen den plurizentrischen Varietäten sind jedoch nicht allein durch die unterschiedlichen Sprecherzahlen, sondern auch sprachfunktional begründet. Bspw. hat die deutsche Standardsprache in Deutschland eine ungleich grössere Funktionsbreite als in Österreich, vor allem aber als in der Deutschschweiz. In Kapitel 4.2. wird noch ausführlicher davon die Rede sein. Eine weitere Begründung für die Asymmetrie bei Standardvarietäten liegt in der sozialen Dimension der Sprachverwendung. Wer sich in formellen Situationen der Varietät der dominierenden Nation bedient, erreicht, je nach Gesprächspartner, oft einen Zugewinn an sozialem Prestige. In Österreich zeigt die prestigetragende Standardvarietät Überlappungen mit dem deutschländischen Standard. Solche Dominanzverhältnisse sind in der Regel stabil, können sich aber auch ändern. Nach William Craigie, einem der Herausgeber des OED (Oxford English Dictionary), war die Fliessrichtung lexikalischer Neuerungen im Englischen vom Britischen ins Amerikanische, nachher habe sich die Richtung umgekehrt (Nevalainen 2003:140). Ein anderes Beispiel für den Wandel der Dominanzverhältnisse bei plurizentrischen Sprachen ist die Einbusse an Prestige des Festlandportugiesischen gegenüber dem Brasilianischen. Das Konzept der Plurizentrik von Standardsprachen, das sich von einer monozentrischen Auffassung eines einheitlichen Standards distanziert und die regionale und nationale Eigenständigkeit der Standardsprache für gegeben erachtet, stösst auf verschiedenartige Kritik. Zunächst ist der strukturlinguistische Einwand gegen das plurizentrische Konzept zu nennen, der aufgeteilt werden kann in eine quantitative Argumentation, in eine lautliche Argumentation und in eine Argumentation, die die Variation a priori dialektal einschätzt und somit die Existenz von Standardvarietäten negiert. Aus der strukturlinguistischen Gegenperspektive handelt es sich bei der plurizentrischen Variation um ein paar hundert lexikalische Besonderheiten, die nicht genügen, damit man von einer Varietät mit eigenem, in sich kohärentem Normensystem sprechen könnte (Polenz 1999:124). Koller (z. B. 1999), Reiffenstein (z. B. 2001) und Wiesinger (z. B. 2000) sind zu einer solchen Position zu zählen – letztere schätzen den Anteil der Austriazismen im österreichischen Standard als marginal ein – oder Wardhaugh (1987:31), der die Frage, bezogen auf das Englische, eher für eine Frage von flavor als von substance hält. In Bezug auf die deutschen Varietäten ist Besch (1990) überzeugt, es sei die Lautung, auf die sich die nationale und regionale Variation der Standardsprache beschränke. Wer wesentliche Elemente
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4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache
nationaler Variation in der Schriftlichkeit suche, suche am falschen Platz, so Besch. Die Schrifteinheit sei die Klammer der deutschen Sprachkultur. Unterschiede in Lexik und Semantik würden überschätzt und seien zudem oft fachsprachlich. Sprachteilhaber der betreffenden Varietät kennten solche Ausdrücke selber nicht (so auch Koller 1999 für Helvetismen). Wer diese Position einnimmt – vgl. Wolf und Scheuringer (Pohl 1999) –, betrachtet die Einheitlichkeit des Standards als gegeben und sieht die Variation vorwiegend im Mündlichen und dann pluriareal über Nationengrenzen hinweg. Strukturlinguistisch gedacht ist auch der Einwand, dass es sich bei den postulierten plurizentrischen Varianten um Dialekt handle. Charakteristisch bei diesem Argument ist die unterschiedliche Einschätzung konkreter Fälle nicht nur von Laien, sondern auch von Sprachexperten. Man ist sich über den standardsprachlichen Status der Varianten auch unter Modellsprechern, Kodifizierern und Normautoritäten uneinig. Dies geht aus Ammons Erhebung der Korrektur und Bewertung nationaler Varianten durch Lehrer hervor (Ammon 1995:436ff). Uneinigkeit ist auch in linguistischen Fachkreisen zu beobachten. In der Kontroverse um das Österreichische Wörterbuch zeigten sich Wiesinger und Reiffenstein bei weniger Varianten bereit, ihnen einen standardsprachlichen Status zuzuerkennen, als Muhr, Pollak und Clyne (Ammon 1995:449). Bei über 11% der Stichwörter in Ebner (Ausgabe 1980) liegen hinsichtlich ihrer Standardsprachlichkeit unterschiedliche Bewertungen vor (Ammon 1995:450). Ein weiterer Einwand gegen das plurizentrische Sprachkonzept ist derjenige, dass die postulierten nationalen Varietäten zu wenig einheitlich seien und es bereits innerhalb dieser Nationalvarietäten grosse areale Unterschiede gebe (vgl. Greule 2002:58). Hier wird die alte Gliederung des deutschen Sprachraums stärker gewichtet als die heutigen Staatsgrenzen. Einem solchen Einwand ist entgegen zu halten, dass Staatsgrenzen auf der Standard- und Substandardebene stärker wirken als kleinräumige areale Unterschiede. Mit den Staatsgrenzen gehen Sachspezifika und institutionell bedingter Wortschatz einher, wie etwa die Sprache der Gesetzgebung, welche besonders auf die sprachliche Identitätsbildung und Identitätserkennung wirken. Schliesslich scheint es wenig sinnvoll, die regionale Variation der nationalen entgegenzusetzen. So weist auch Reiffenstein 2001 auf die Durchkreuzung und Unterlagerung der nationalen Varietätsgrenzen durch regionale Variation hin. Das Ineinanderverwobensein der nationalen und regionalen Variation ist empirisch nachweisbar (vgl. das VWB). Unspezifische Varianten – solche, die sich über die Regionen von mehr als einem Zentrum erstrecken (z. B. Bayern und Österreich) – sind ungleich häufiger als spezifische (z. B. nur in Österreich geltend).
4.1. Nationale Varietäten und plurizentrische Standardsprachen
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Gegenüber dem plurizentrischen Modell von Standardsprachen werden auch kulturpolitische Einwände geäussert. Sie sehen die sprachliche und kulturelle Einheit durch standardsprachliche Varietäten bedroht. Insbesondere in der Diskussion um eine Ost- und Westvarietät des Deutschen wurden diese Bedenken deutlich. Stevenson (2002) schätzt diese folgendermassen ein: „The explosive potential of an argument appearing to claim the existence of standard varieties of German that were discrete, equally valid, and associated with separate and independent nations (or states!), lay for conservative west German linguists especially in the explicit challenge to the ‚unifying bond‘ of the language, to the hegemonic dominance of ‚German German‘ (of which the Federal Republic remained ‚the true guardian‘), and of course to the unity of the nation itself.“ (Stevenson 2002:40) Aus dieser Perspektive sind Verfechter einer Auffassung der Plurizentrik des Deutschen Separatisten, Lokalpatrioten oder gar Nationalisten. Tatsächlich kann sich sprachlicher Purismus (Thomas 1991:76f) auch bei nationalen Varietäten manifestieren. Im Nationalvarietätspurismus verbindet sich Nationalsprachenideologie mit der Rebellion gegen das sprachliche Übergewicht in der Regel des grösseren Zentrums derselben Standardsprache. Dieses Übergewicht wird als Sprachimperialismus empfunden. Die Rebellion ist eine mögliche Gegenreaktion auf das sprachliche Minderwertigkeitsgefühl der kleineren Zentren. Durch die Festigung der eigenen Nationalvarietät wird gleichzeitig die Festigung der eigenen kulturellen Identität, wenn nicht Nation, erwartet. Nationale Varianten können also als Mittel zum nationalen Management werden, möglicherweise auch provoziert durch sprachliches Dominanzverhalten des grösseren Zentrums (Ammon 1995:518). Dazu Markhardt 2005: „Jegliches Dominanzverhalten von Mitgliedstaaten bzw. deren RepräsentantInnen in sprachlichen Fragen – und dies gilt auch für nationale Varietäten – erzeugt erneut das Bedürfnis nach Abgrenzung und die Gefahr von Nationalisierungsstrategien.“ (Markhardt 2005:353) Aktive Bestrebungen zum Ausschluss fremdnationaler Varianten sind vor allem in Österreich und der Schweiz zu beobachten. So forderte Stickelberger 1914, dass von Schweizern Metzger statt Fleischer oder Schlächter, fegen statt scheuern, Haber statt Hafer und Schopf statt Schuppen verwendet werden sollen (Stickelberger 1914:108).11 In gemässigterer Art und Weise machen 11
Bei diesen Beispielen merkt Stickelberger (1914:108) an, dass Haber und Schopf den neuhochdeutschen Lautgesetzen besser entsprächen als Hafer und Schuppen. Hier wie andernorts zeigt sich Stickelbergers Bemühen, die Existenzberechtigung des Schweizerhochdeutschen nicht nur irgendwie historisch zu begründen, sondern gegenüber den anderen Varietäten herauszuheben. „Und immer wieder ist daran zu erinnern, dass unsere Mundart nicht ein verdorbenes Schriftdeutsch, sondern die natürliche Weiter-
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sich in jüngster Zeit Pollak und Muhr für die Förderung eines spezifisch österreichischen Standarddeutschen stark, daneben werden auch Wodak und De Cillia dieser plurizentrisch-nationalen Position zugerechnet (Pohl 1999, Markhardt 2005:14, Schrodt 1997). Muhr 2003 nimmt mitunter eine Position ein, wie sie an anderer Stelle eher den Standardideologen, also Vertretern des Gegenlagers, unterstellt wird: die Position, dass Varietäten durch bewusste Planung gekräftigt werden können, dass sich kommunikative Regeln und linguistische Merkmale herausbilden sollen, die eine Gruppenidentifikation ermöglichen (Muhr 2003:198).12
4.2. Deutsch als plurizentrische Sprache der Gegenwart Heute ist Deutsch in sieben Staaten Amtssprache, solo-offiziell im wiedervereinigten Deutschland (abgesehen vom Sonderstatus des Sorbischen in Sachsen und Brandenburg und des Dänischen in Südschleswig), in Österreich und Liechtenstein, ko-offiziell in der Schweiz und in Luxemburg. In Belgien und Italien hat Deutsch den Status einer regionalen Amtssprache (Ammon 1995:12). Die Plurizentrik des Deutschen geht auf getrennte soziohistorische und politische Entwicklungen sowie eine dezentrale kulturelle und kommunikative Entwicklung der deutschsprachigen Länder über Jahrhunderte zurück (Löffler 1988:163). Durch seinen Gebrauch in verschiedenen Nationalstaaten wird das Standarddeutsche durch landesspezifische Besonderheiten der Verwaltung, der staatlichen Schulen, des Rechts und der Medien geprägt. Beispielsweise hörten im Jahre 2006 91.3% der Deutschschweizer Bevölkerung ab 15 Jahren täglich Radio. Die schweizerischen Radiosender hatten dabei einen Marktanteil von 92.6%.13 Die landeseigenen Medien, die durch eigene Presseagenturen beliefert werden (dpa, apa und sda), haben eine landeseigene sprachliche Vorbildfunktion und auch in Österreich und der Schweiz gegenüber der Konkurrenz aus Deutschland eine grössere Verbreitung innerhalb des Landes als die Medien der anderen Zentren (Bickel 2001:20). Die Presseagenturen bearbeiten die von anderen
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entwicklung des Altdeutschen ist, und zwar des Mittelhochdeutschen, der Sprache des Nibelungenliedes und Walthers von der Vogelweide.“ (Stickelberer 1914:108) Muhr beklagt den Missstand, dass die Herausbildung der Standardvarietäten durch (deutsche) Lektoratspraxis hintangehalten werde; Lektoren würden österreichische und schweizerische Merkmale aus literarischen Werken entfernen (Muhr 2003:197). Neben der Beseitigung dieses Missstands fordert Muhr den Gebrauch des österreichischen Deutschen bei TV-Filmsynchronisierungen. Medienmitteilung SR DRS auf http://www.drs.ch, Zugriff am 18. Juli 2006.
4.2. Deutsch als plurizentrische Sprache der Gegenwart
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Zentren einkommenden Nachrichten auch hinsichtlich der Varianten (Ammon 1995:465).14 Die Halbzentren Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol, die über eine geringe Grösse und eine kleine Sprecherzahl verfügen, schliessen sich mit ihren Varianten mehrheitlich den grösseren benachbarten Zentren an. Sie haben, im Gegensatz zu den Vollzentren, keine eigenen Nachschlagewerke, sind also exonormiert (VWB:XXXI).15 Von Vollzentren spricht man bei Ländern und Regionen, die nicht nur standardsprachliche eigene Varianten herausgebildet haben, sondern diese auch kodifziert und zur Norm erklärt haben. Kodifiziert wird dann nicht nur die eigene Varietät; auch die Unterschiede zu den anderen Varietäten werden lexikographisch dokumentiert. Varietäten von Vollzentren sind endonormiert (Clyne 1992:4). Dies trifft für Österreich, Deutschland und (unter Vorbehalten) für die deutschsprachige Schweiz zu, wobei die Kodices aus Deutschland im ganzen Sprachgebiet die grösste Verbreitung haben. Die Kodices können aus Wörterbüchern, Grammatiken, Lehrwerken und anderen sprachlichen Nachschlagewerken bestehen. Die Unterschiede zwischen den deutschen Standardvarietäten sind vor allem phonologischer, lexikalischer und pragmatischer (kommunikativer) Art, vereinzelt orthographischer und morphologischer Art (z. B. in der Verbflexion). Die lexikalischen Varianten gehen mehrheitlich auf die dialektale Gliederung des deutschen Sprachgebiets zurück (Löffler 1988:163f). Die grössten Unterschiede gibt es zwischen dem Norden und dem Süden. In Süddeutschland ist vieles gebräuchlich, was auch in Österreich und der Schweiz gebräuchlich ist. Bayern und Österreich sowie Südwestdeutschland und die Schweiz teilen sich zahlreiche Varianten, wie ein Blick ins VWB, Ebner 1998 und Meyer 2006 unschwer bestätigt. Je nach Gebiet haben die Varianten unterschiedliche soziale Bedeutungen und Gebrauchsfrequenzen. Im Norden Deutschlands wird regionale Identität weniger stark durch Sprache ausgedrückt als an Orten, die ein Standard-Dialekt-Kontinuum oder eine Diglossie aufweisen (Clyne 1987:134).
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Dazu führt Ammon ein Beispiel an. Der Satz Die Schwiegertochter nahm vom Pöstler die AHV-Zahlung entgegen und quittierte diese mit ihrer Unterschrift wurde von der dpa umgeformt in: Die Schwiegertochter unterschrieb die Empfangsbestätigung für die Zahlungen. Oft werden die fremdnationalen Varianten in Klammern mit gemeindeutschen oder zentrumseigenen Varianten erklärt, z. B. Landeshauptmann ‚Ministerpräsident‘ oder Nationalrat ‚Bundesparlament‘ (Ammon 1995:465). Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass auch die Halbzentren in ihrem Standard eine gewisse Anzahl eigener Varianten besitzen (z. B. Schuhlitze, Notspur oder Schüttelbrot in Südtirol; Ehni, Landesphysikus oder Kapile in Liechtenstein).
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Wichtige Impulse zur Erforschung der Plurizentrik des Deutschen gingen von der Auslandsgermanistik aus, die sich vor dem Hintergrund von Deutsch als Fremdsprache naturgemäss sehr stark mit Normfragen beschäftigt (vgl. z. B. Eichhoff 1977–2000, Langenscheidt Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache 1998, 2003, s. auch Glaboniat et al. 2002, 2005, Hägi 2006). Gerade bei DaF-Lehrmitteln wurde erkannt, dass es wichtig ist, das Bewusstsein für nationale und regionale Differenzen in der Standardsprache zu fördern (vgl. Wiesinger 2001:489). Darüber, wie und in welchem Ausmass dies umgesetzt werden soll, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Einig scheint man sich darüber zu sein, dass schon früh das Hörverstehen anhand von gesprochener Sprache in Medien oder mittels Tonaufnahmen mit Sprechern aus verschiedenen Regionen trainiert werden muss. Einig ist man sich ferner, dass Sprachunterricht gleichzeitig Landeskunde und Landeskunde gleichzeitig Sprachunterricht ist (Hägi 2006:25). Weniger einig ist man sich dagegen in der Frage, welche deutsche Varietät in den verschiedenen Ländern gelehrt werden soll. Einige Autoren plädieren für das Prinzip der geographischen Nähe zum nächstliegenden deutschsprachigen Land (Muhr 1993a:117). Daraus könnte man für die französischsprachige und italienischsprachige Schweiz ableiten, dass die landeseigene deutsche Standardvarietät gelehrt werden soll. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass die gemeindeutsche Lexik den grössten Anteil der deutschen Standardvarietäten ausmacht. Für den produktiven Sprachgebrauch sollte möglichst unmarkierte, gemeindeutsche Lexik gelehrt werden, um den Lernenden zu ermöglichen, sich im gesamten deutschen Sprachraum überregional auszudrücken und sich in verschiedenen Regionen zurechtzufinden. Gleichzeitig muss aber schon früh auf die Variation hingewiesen werden (Glaboniat et al. 2002, 23). Die regionale und nationale Spezifizierung sollte dabei nicht als Verkomplizierung des DaF-Unterrichts betrachtet werden. Sie gehört nämlich zum metasprachlichen Wissen, das Teil des gesteuerten Spracherwerbs sein muss. Zahlreich sind die Varianten bei der Benennung alltäglicher Gebrauchsgegenstände. Solche Varianten sind nicht Teil der peripheren Lexik. Es sind darunter auch hochfrequente Wörter, die aus der Eigenperspektive oft als nationale Varianten unerkannt bleiben, wie z. B. Einsprache (CH), dannzumal (CH), allfällig (A CH), beiziehen (A CH D-südost), Fleischhauerei (A), Weinschorle (D), Sonnabend (D-nord/ mittel). Die Vorbereitung auf einen möglichst weiten Kommunikationsradius im DaF-Unterricht soll oberstes Gebot bleiben (Glaboniat et al. 2002:23). Aber man kann nicht „der Vermittlung einer ‚gebrauchsfähigen Sprache‘ das Wort reden und dabei an der sozialen und arealen Variation der Zielsprache vorbeisehen“ (Studer 2002:105). Im Lernzielkatalog des
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Zertifikats Deutsch des Goethe-Instituts wird der plurizentrische Ansatz bereits umgesetzt (Hägi 2006:30).16 Hägi unterscheidet zwischen dem additiven Ansatz, bei dem Lehrwerke am Ende jeder Lektion im Vokabelbereich einige Varianten einführen, und dem integrativen Ansatz, bei dem die Vielfalt der deutschen Sprache implizit immer wieder gegenwärtig wird (Hägi 2006:206). Insgesamt fehle in Lehr- und Lernmaterialien nach wie vor ein erkennbares linguistisches Konzept hinsichtlich der nationalen Varietäten des Deutschen (Hägi 2006:227). Der Status des österreichischen und Schweizer Standarddeutschen sei häufig unklar und falsche Beispiele und irreführende Pauschalisierungen seien keine Seltenheit (Hägi 2006:230). Nationale Varietäten würden hauptsächlich in Lehrmaterialien berücksichtigt, die entweder auf das Zertifikat Deutsch vorbereiteten und so zum plurizentrischen Ansatz gezwungen seien, oder in Materialien, die in Österreich oder der Deutschschweiz konzipiert worden seien (Hägi 2006:227). Nicht unwesentlich seien die Interessen des Marktes; monozentrisch ausgerichtete Lehrwerke gälten als übersichtlicher und fänden grösseren Absatz als plurizentrisch ausgerichtete Werke (Hägi 2006:228).
4.2.1. Deutsch als plurizentrische Sprache in Deutschland Von den Zentren der deutschen Standardsprache ist Deutschland das grösste und bevölkerungsreichste. 2003 lebten 82.5 Mio Menschen in Deutschland (Brockhaus Enzyklopädie Online, konsultiert am 29. Mai 2006). Zwar liegt seit der Reformation das Zentrum der Standardisierung im späteren Deutschland; auf eine Geschichte als eigenständiges nationales Zentrum der deutschen Standardsprache kann Deutschland aber erst seit 1871 zurückblicken, und dies erst noch mit der Einschränkung, dass die Grenzen mehrmals verschoben worden sind und die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands ebenfalls Folgen für die jüngste Sprachgeschichte hat. Im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung, insbesondere der norddeutschen, ist jedoch das Deutsch in Deutschland das eigentliche Deutsch. Der Begriff binnendeutsch, der notabene in der deutschen Sprachwissenschaft bis heute teilweise noch unkritisch verwendet wird, verdeutlicht diese Haltung.17 Die anderen deutschen Varietäten werden aus der Perspektive des Binnendeut-
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Zur Berücksichtigung nationaler Varietäten in aktuellen DaF-Lehrmitteln s. Hägi 2006:123–226. Die Bezeichnung Binnendeutsch für das deutsche Deutsch wurde von Hugo Moser verbreitet (Ammon 2000:517).
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schen für rand- oder aussenständiges Deutsch gehalten (Ammon 1995:317, 486). Die sprachpuristischen Bemühungen z. B. des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins waren es nicht, eine nationenübergreifende Einheitlichkeit anzustreben. Sie gingen eher in Richtung Reinigung von „unnötigen fremden Bestandteilen“ (Ammon 1995:322) und dachten primär von der deutschen Standardsprache in Deutschland aus.18 Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass das Standarddeutsche, wie es ausserhalb Deutschlands gesprochen wird, weniger korrekt ist oder einfach Dialekt. Das hat zunächst damit zu tun, dass die Umgangssprache in der Deutschschweiz und in Österreich tatsächlich dialektal bzw. mundartnah ist und die funktionale Differenzierung zwischen Standard und Dialekt im Laiensprachbewusstsein nicht voll erfasst wird. Auch in Süddeutschland wird die überregionale Hochlautung nur in bestimmten formellen Kommunikationssituationen, in den Medien, auf der Bühne und in Bildungskontexten verwendet. Aber es sind nicht nur die unterschiedlichen soziolinguistischen Ausprägungen der Varietäten, die zur erwähnten Einstellung führen. Die Überzeugung, dass das beste und korrekteste Deutsch in Deutschland verwendet wird, hat auch mit der in Kapitel 3.4. angesprochenen Kontinuitätsphantasie in der Sprachund Nationengeschichtsschreibung zu tun. Diese Phantasie wird dadurch unterstützt, dass sich die adjektivische Bezeichnung für das Deutsche in Deutschland mit derjenigen des Staates oder der Nation deckt.19 Mit der Anknüpfung an das Heilige Römische Reich können zudem die Schweiz und Österreich rückblickend in einem Nationalgedanken vereinnahmt werden. Wie in Kap. 5.3.3. zu zeigen sein wird, weisen selbst Sprecherinnen und Sprecher aus den südlichen Regionen Deutschlands in Bezug auf die Standardsprache, bzw. auf die standardsprachliche Geltung südlicher Varianten, tendenziell weniger Variationstoleranz auf als Sprecherinnen und Sprecher aus Österreich oder der deutschsprachigen Schweiz. Die Nationsgrenzen scheinen auf die Variationstoleranz somit als stärkere mentale Isoglosse zu wirken als die historischen und typologischen Dialektgrenzen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass die Bandbreite an Dialekten in Deutschland, bedingt durch die Grösse seines Gebiets, im Vergleich zu Österreich und der Schweiz, wo nur oberdeutsche Dialekte gesprochen werden, viel grösser
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Durch die unterschiedliche Verbreitung von Eindeutschungen in den verschiedenen Zentren konnten aber neue Varianten entstehen, wie z. B. Carotte/Karotte bzw. Mohrrübe oder Conditor/Konditor bzw. Zuckerbäcker (Ammon 1995:323). Wäre die Dominanz Preussens im Namen des neuen Staatsgebildes eingegangen, könnte man heute vom preussischen, österreichischen und schweizerischen Deutsch sprechen, gibt Ammon (1995:318) zu bedenken, und die Verwirrung durch die Gleichheit von Nations-, Staats- und Sprachennamen wäre nicht vorhanden.
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ist, bemerkenswert. Deutschland (v.a. die frühere BRD) zeichnet sich also in Bezug auf die gesprochene Sprache im Alltag durch grössere Regionalspezifik aus als die übrigen deutschen Sprachgebiete, jedoch nicht in Bezug auf Spracheinstellungen.
Deutsch als plurizentrische Sprache in der DDR Die bewegte jüngste Sprachgeschichte der ehemaligen DDR beginnt, wie diejenige der BRD, 1933–45 mit dem Versuch der Nazifizierung des Deutschen, während derer das Reichspresseamt die Medien und deren Sprachgebrauch überwachte. Nur vier Jahre später erfolgte die Teilung Deutschlands mit der Selbsterklärung der DDR zum antifaschistischen Staat. Dies konnte nicht ohne sprachplanerische Konsequenzen bleiben. In Anleitungsbüchern wurde DDR-spezifischer Wortschatz verbreitet (z. B. die Definition von Treue als ‚Parteitreue‘) und der öffentliche politische Diskurs sprachlich gesteuert. Lexikalische Unterschiede zwischen Ost und West sind gut dokumentiert.20 Für die Zeit ihrer Existenz brachte die Staatsform der DDR eine neue Terminologie hervor (Kombinat, Planerfüllung etc.), zugleich wurde Vokabular ersetzt, das irgendwie mit Mittelklasse, Kapitalismus oder christlicher Religion zu tun hatte. Vor Christus hiess in der DDR vor unserer Zeitrechnung, der Arbeitnehmer war der Werktätige. Obwohl man bei der DDR-Varietät nicht eigentlich von einer nationalen Varietät, sondern allenfalls von einer staatsspezifischen Varietät sprechen kann (Ammon 1995:386), war sie, im Gegensatz zur österreichischen und schweizerischen Varietät des Standarddeutschen, vollständig endonormiert. Sie verfügte auf allen Sprachnormebenen über eigene Kodices: Der grosse Duden. Wörterbuch und Leitfaden der deutschen Rechtschreibung (Klien 1959), Grosses Wörterbuch der deutschen Aussprache (Krech et al. 1982), Grammatik der deutschen Sprache (Jung 1966) und für die Lexik das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Klappenbach/Steinitz 1961–77). Bereits in den 1950-er Jahren wurde in der BRD Besorgnis darüber geäussert, dass man sich in den deutschen Teilstaaten sprachlich voneinander entferne. „Welche Sonderentwicklung ist in der auf den sowjetischen Kom-
20 West-Ost-Unterschiede wurden v.a. für die Schriftsprache erforscht. Als empirische Grundlage sind Zeitungen besonders stark repräsentiert (s. Kinne/Strube-Edelmann 1980, Schaeder 1981). Nach der Wende explodierte die Zahl der linguistischen Arbeiten zu sprachlichen West-Ost-Unterschieden, s. Stevenson 2002:46ff., Hellmann 1999, Wolf 2000.
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munismus ausgerichteten SED-Sprache im Gange? Welche sprachlich-geistige Entfremdung und Spaltung vollzieht sich auf deutschem Boden durch das östliche Machtstreben?“, so Gaudig (1958–9:1008). Man verglich den Einfluss der Ideologie auf die Sprache mit der ideologisch determinierten Veränderung der Sprache im Dritten Reich (Stevenson 2002:34). Dass Freiheit, Gleichheit und Demokratie in der DDR etwas anderes hiessen, wurde im Westen als Korrumpierung gesehen (Stevenson 2002:34), wobei natürlich unterschlagen wurde, dass diese Begriffe auch innerhalb der BRD und dem übrigen deutschsprachigen Gebiet nicht einheitlich verwendet wurden. Die Position der Frage gegenüber, ob Deutsch in der DDR und Deutsch in Deutschland zwei verschiedene Varietäten darstellen oder nicht, ist verknüpft mit der Auffassung von den beiden politischen Gebilden. „The official west German position was … that there was one German nation divided between two states, but the official east German position was that there were two neighbouring nations (i.e. states) whose citizens shared a common nationality (i.e. ethnicity).“ (Stevenson 2002:37) In sprachwissenschaftlichen Fachkreisen war man gegen eine Sprachspaltungs-Theorie (Polenz 1999a:428): „Die aus alter Verkehrstradition des Deutschen in Osteuropa hochmotivierte und kompetente osteuropäische Germanistik hatte natürlich kein Interesse an der Reduzierung ihres kulturpolitischen Objekts auf ein DDR-spezifisches Deutsch.“ (Polenz 1999a:428) Nach der Wende wurde dem Osten die Rolle eines Staatsgebildes zugeschrieben, welches endlich das Böse überwunden, für die Fehler gebüsst und noch einen langen Weg des Fortschritts vor sich hat (Stevenson 2002:184). Weil dies die Gefahr des Belächelt- und Nichternstgenommenwerdens in sich birgt, sind die östlichen Sprecher bestrebt, die Differenz kleiner scheinen zu lassen, als sie wirklich ist, oder zumindest weniger sprachliche Unterschiede wahrzunehmen als die Westdeutschen (Stevenson 2002:184). Die Kontroverse über die Ost- und Westvarietäten, die sich aus der Sicht von Clyne (1997:126) mittlerweile in einer allgemeinen Anerkennung der Plurizentrik des Deutschen aufgelöst hat, ist jedoch nicht nur politischer Natur, sondern auch durch unterschiedliche linguistische Ansätze bei der Beurteilung der Varietäten begründet. Es stellt sich die Frage, inwieweit besonders der ideologisch geprägte (und demnach aus Sachspezifika bestehende) Wortschatz es erlaubt, überhaupt von unterschiedlichen Varietäten zu sprechen (Ammon 1995:386, 389). Von echten Varianten, so Ammon, könne man nur bei den austauschbaren Wörtern sprechen wie Broiler, Diskosprecher, Niethose, Zielstellung und Plaste (‚Hähnchen‘, ‚DJ‘, ‚Jeans‘, ‚Zielsetzung‘ und ‚Plastik‘) (Ammon 1995:390). Noch grundsätzlicher beschreibt Clyne die Abhängigkeit der Kontroverse über den Status von Va-
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rietäten von linguistischen Ansätzen: „Structural linguists would dismiss variation outside syntax and phonology as insignificant whereas the more sociolinguistically inclined would see in some of the lexical variation between German in the GDR and the Federal Republic important semantic and pragmatic differences.“ (Clyne 1997:126) Die strukturalistische Kritik leugnet zwar keineswegs die zahlreichen lexikalischen Unterschiede der Varietäten, zweifelt jedoch die Wichtigkeit der lexikalischen Unterschiede für die Eigenständigkeit einer Varietät an. Anders werden diese aus soziolinguistischer Sicht beurteilt. Sie werden als Zeichen für den unterschiedlichen Umgang mit der Sprache gewertet. In eine ähnliche Richtung gehen Thierses Beobachtungen (1993): Sprecher aus der DDR und der BRD, so Thierse (1993:116), hätten keine unterschiedliche Sprache, sondern ein unterschiedliches Verhältnis zur Sprache. Der Unterschied zwischen Haben Sie xy und Ich hätte gern xy als Anfrage in einem Verkaufsladen kann nur aufgrund wirtschaftspolitisch unterschiedlicher Realitäten erklärt werden. Es handelt sich hier also nicht um einen lexikalischen und somit lexikographisch beschreibbaren, sondern um einen pragmatischen Unterschied. Die Sprache, wie sie in DDR-spezifischen offiziellen diskursiven Kontexten verwendet wurde, wird oft als langue de bois beschrieben. Damit ist ein trockener, plumper, nüchterner, unemotionaler, pedantischer, feierlicher und humorloser Stil gemeint, der selbst von Honecker kritisiert wurde (Stevenson 2002:57) und sich gut für die Verschleierung von Tatsachen eignet. Nicht nur Nüchternheit und Humorlosigkeit wird mit dem offiziellen Sprachgebrauch in der DDR in Verbindung gebracht, sondern auch Bombast und Pathos. Er konnte, etwa im Gegensatz zur nationalen Standardvarietät in Österreich, zu keinem Zeitpunkt als positiv besetzter Ausdruck einer gemeinsamen staatlichen Identität dienen. Der kämpfende Werktätige war der Prototyp des idealen Bürgers, dieser Kampf war eingebettet in den staatlichen, von Redundanz und Wiederholungen geprägten Diskurs,21 der die Wir-Perspektive forcierte: von unserer Geschichte war die Rede, unserem Staat, unserer Partei (Stevenson 2002:59). Probleme wurden nicht beim Namen genannt, sondern gezwungen optimistisch verschleiert. Besondere Bedeutung trug dabei die Partikel noch. Schlecht konnte in offiziellen Verlautbarungen umschrieben werden mit ‚gut aber noch nicht gut genug‘ (Stevenson 2002:60). Medientexte waren stark konventionalisiert, bspw. ersichtlich an der Reaktion auf die Atomreaktor-Katastrophe 1986 in Tschernobyl in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland, die auf der Meldung 21
Vgl. rhetorische Doubletten wie erziehungswirksam und bildungseffektiv (Stevenson 2002:162).
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der TASS basierte: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet. Einer der Kernreaktoren wurde beschädigt. Es werden Massnahmen zur Beseitigung der Folgen ergriffen. Den Betroffenen wird Hilfe erwiesen.“ (abgedruckt in Schlosser 1999)22 Gut dokumentiert sind kommunikative Unterschiede zwischen Ost und West, die den öffentlichen und halböffentlichen Bereich betreffen.23 Polenz berichtet 1983, dass DDR-Bürger die Ausdrucksweise Westdeutscher oft als „emotional, ironisch, zweideutig und unsystematisch“ empfanden (Polenz 1983:51). Demgegenüber wirkten DDR-Sprecher auf Westdeutsche als langsam, vorsichtig, mit vielen Heckenausdrücken24 und weniger fliessend sprechend (Fix/Barth 2000:359f). Solche Einschätzungen wurden auch nach der Wende oft geäussert (Clyne 1997:130). Wenn die Sprache der DDR mit Merkmalen beschrieben wird, die typisch sind für totalitäre Gesellschaften – Verschleierung, Euphemisierung, kalkulierte Vagheit, Parteijargon (Stevenson 2002:7) –, dann kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass es sich dabei jeweils um den offiziellen, durch die SED kontrollierten Sprachgebrauch handelte (wobei die meisten Intellektuellen, soweit sie in der DDR geblieben sind, zur SED gehörten). Weniger und anders geartete Unterschiede zwischen Ost und West können für den privaten Sprachgebrauch erwartet werden.25 Dort war auch Raum für sprachlichen Widerstand. Ein Akademiker berichtet, dass man unter Fachkollegen beim Sie geblieben sei, um sich gegen das SED-Genossen-Du zu wehren (Fix/Barth 2000:273).26
22 Bezeichnend für diese Art der sprachlichen Verschleierung ist auch die berüchtigte Berichterstattung über Fluchtversuche von DDR-Bürgern aus der DDR (Stevenson 2002:68). 23 S. dazu empirische Untersuchungen zu Arbeitszeugnissen (nach der Wende) und Mitarbeiterbeurteilungen (vor der Wende) von Kühn 1995, Untersuchungen zu Stellengesuchen und Kontaktanzeigen im Vergleich (Barz 1997), Untersuchungen zu Verkaufsgesprächen (Ylönen 1992) und Bewerbungsgesprächen (Auer 1998). In einer Interview-Sammlung von Fix/Barth 2000 werden die kommunikativen Unterschiede, und wie diese von beiden Seiten empfunden und beschrieben wurden, dokumentiert. 24 Der Begriff Heckenausdruck bezieht sich auf adjektivische oder adverbiale Wendungen, die eine Aussage vage bzw. Kategorisierungen unscharf machen können, z. B. Das ist eine Art Familientreffen. 25 S. Korlén (1983:62) für Kontext- und Textsortenspezifik als Voraussetzung für die Beurteilung des DDR-Wortschatzes. 26 Polenz berichtet von Ironisierungs- und Tarnausdrücken, zu deren Verständnis man spezielles Hintergrundwissen über den DDR-Alltag brauchte: Alu-Chips ‚DDR-Münzen‘, Blaue Kachel ‚100 DM-Schein‘, Blockflöten ‚SED-hörige Blockparteien‘, Bückware ‚Mangelware, die Verkäufer unter dem Ladentisch hervorholten‘, Bunte ‚Westgeld‘, einfahren ‚verhaftet werden‘, Falttag ‚Wahltag‘, die Firma ‚Staatssicherheitsdienst‘, Maximuss-Lenimuss ‚Marxismus-Leninismus‘, Mumienexpress ‚Interzonenzug voller DDR-Rentner‘, Rennpappe ‚auf sportlich frisierter Trabi‘, rote Socke ‚übereifriger SED-
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Zusammen mit dem politischen System der DDR verschwand ihr offizieller Sprachgebrauch.27 In bemerkenswertem Tempo wurden nach der Wende zahlreiche Begriffe der DDR obsolet, z. B. Elternaktiv, Volkseigener Betrieb und Solibasar (Stevenson 2002:115). Ihre Verwendung war nunmehr auf das historische und/oder ironische Zitat beschränkt.28 Tausende von Haushaltsprodukten verschwanden von den Ladenregalen und wurden durch Westprodukte ersetzt: Sana Margarine, Perlodont Zahnpasta, Tip Fix Insektenspray (Stevenson 2002:116). Dagegen breiteten sich Begriffe der Alten Bundesländer auch in den Neuen Bundesländern aus. Kühn (2003:11) schätzt die Einführung neuer Westwörter in den Neuen Bundesländern auf 2000–3000. Dazu gehörten zahlreiche Anglizismen, aber auch politische westdeutsche Sachspezifika sowie pragmatische Wendungen: Herr Kollege/ Frau Kollegin wurde ersetzt durch Herr/Frau, die Anrede Werte Passagiere (im Zug) hiess nun Verehrte Fahrgäste. Fast immer setzten sich bei Synonymen die westlichen Varianten durch, dies gilt auch für semantische Unterschiede. Im Angebot sein bedeutete im Westen zu reduziertem Preis, im Osten erhältlich – letztere Bedeutung verschwand. Eine Altbauwohnung war im Osten von dürftiger Qualität, im Westen kann der Begriff ein Liebhaberobjekt bezeichnen (Kühn 2003:21). Insgesamt lag Druck auf den Ostdeutschen, sich sprachlich den Westdeutschen anzupassen (Stevenson 2002:231). Dieser Druck wurde in vielen Fällen uminterpretiert zu einer (freiwilligen) Anpassungsleistung. Nachdem nach der Teilung Deutschlands Tätigkeiten, Schulen, Strassen und öffentliche Orte neu benannt worden waren, wurden sie nach 1990 erneut umbenannt, wodurch die politische Übernahme des Ostens durch den Westen sprachlich sichtbar wird. Ostwörter, die sich auf das ganze Gebiet des wiedervereinigten Deutschland, teilweise auf das ganze deutsche Sprachgebiet, ausbreiteten, blieben die Ausnahme (Stevenson 2002:116). Zu nennen wären hier abnicken ‚befürworten‘, andenken ‚über etwas ein erstes Mal nachdenken‘ und Lehrling ‚Auszubildender‘, welches übrigens gleichzeitig ein Helvetismus ist.
Funktionär‘, Tal der Ahnungslosen ‚Bezirk Dresden, weil ohne westlichen Fernsehempfang‘ (Polenz 1999a:433). 27 „A crucial aspect of a changing language ecology is the way that the supplanting of one set of social structures and institutions (with all its values, assumptions, beliefs, and practices) by another is accompanied, or even realized, by a reconfiguration of textual repertoires or more precisely the inventory of communicative genres.“ (Stevenson 2002:130) 28 Eine Studie von Hartinger 2007 zum Umgang mit DDR-typischer Lexik geht der Frage nach, wie die ehemaligen Sprecher dieses Wortschatzbereiches dessen Gebrauchswandel zehn bis fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung sprachlich reflektieren.
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Der Druck auf die Ostdeutschen zur Anpassung an den westdeutschen Sprachgebrauch wurde durch Aktivitäten verstärkt, die im weitesten Sinn sprachplanerischen Aktivitäten zugerechnet werden können. Von Arbeitgebern, z. B. der Deutschen Bank, wurden Glossarien verteilt. In Zeitschriften gab es Sprachberatungsrubriken, wo der Ostdeutsche beispielsweise erfahren konnte, dass Gruppenarbeit nun Teamwork heisse (Stevenson 2002:121). Kühn 2003 berichtet von der Sprachberatungsstelle des Germanistischen Institutes der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das zwar in der Zeit von 1993–96 weiterhin mehrheitlich normale Anfragen an einen Sprachdienst entgegennahm, aber in der Presse dennoch den Ruf bekam, eine Servicestelle für Ostdeutsche zu sein. In Leserbriefen wurde entsprechend empört reagiert: „Man traut uns wohl nicht zu, dass wir selbständig umlernen können. Das ist wieder so eine Art von Bevormundung.“ (Kühn 2003:102) Bemerkenswert ist in diesem Leserbrief, dass das Umlernenmüssen selbst fraglos akzeptiert wird. Jedoch lehnt man sich nach der Wende gegen den Identitätsverlust (Clyne 1997:130) und gegen das Fremdheitsgefühl in der eigenen Muttersprache (Kühn 2003:102) immer wieder auf. „Die Sprache, die wir von unseren Eltern übernommen haben, ist wohl nicht mehr gut genug?“ (Kühn 2003:91) Diese Leserbriefaussage belegt, dass die deutsche Varietät der DDR – und damit ist nicht etwa der SED-Jargon gemeint – kein nationales Identifikationspotenzial hatte. Hier scheint eher ein Klandenken als ein nationales Denken der Grund für die Empörung zu sein. Entsprechend gross ist das Konfliktpotenzial bei Belehrungsaktivitäten von Person zu Person. Hellmann (1997:83f) zitiert einen Westpolitiker, der einen Ostpolitiker, nachdem dieser das Wort Zielstellung verwendet hat, korrigiert: „Das heisst hier Zielsetzung.“ (Vgl. Stevenson 2002:165) Bemerkenswert ist an dieser Stelle die Situationsdeixis. Mit hier weist der Westpolitiker darauf hin, dass sich der Ostpolitiker auf einem Territorium befindet, das ihm nicht gehört und wo für ihn kein sprachliches Mitgestaltungsrecht besteht. „…fine distinctions in linguistic form can be potent weapons in constructing social difference, and when ‚different‘ means ‚wrong‘ the use of different terms is read as deviant behaviour.“ (Stevenson 2002:198) Wie bereits bemerkt, hatte der offizielle Sprachgebrauch der DDR kein positives Identifikationspotenzial. „Als Basis für Identitätsbildung, also für das Gefühl, mit einer Gruppe eins zu sein, das ja wohl immer positiv gefärbt sein muss, war der offizielle Sprachgebrauch der DDR ungeeignet. Er bot – abstrakt, sperrig, farblos, undifferenziert, nichtssagend, unrhetorisch, teilweise von falschem Pathos erfüllt – wenig Ansatzmöglichkeiten für die Entwicklung positiver Einstellungen.“ (Fix 2003:115) Allerdings war positiv besetzte gruppale Identitätsbildung durch die Bildung von Gegenidentitäten,
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beispielsweise in Kirchenangehörigenkreisen, natürlich auch vor der Wende möglich. Für die Zeit nach der Wende beobachtet Fix 2003 die nachträgliche Konstruktion einer ostdeutschen Identität, die auf der Abgrenzung von den neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialen wie auch kommunikativen Strukturen, die nun in die neuen Bundesländer gelangten, basierten. „Die kommunikative Wirklichkeit der DDR wird rekonstruiert und dabei wohl zuweilen auch idealisiert. Man vergleicht die alten mit den neuen Kommunikationspraktiken und stellt durch die entsprechende Wertung eine positive Beziehung zur DDR her.“ (Fix 2003:114) Eine wichtige Rolle scheint dabei die sprachliche regionale Erkennbarkeit zu sein. Mit einem starken Gewicht auf Dialekt und Regiolekt erfüllt die Sprache symbolhafte Identifikationsfunktion (Fix 2003:120) – und nicht etwa durch die in der DDR grossräumig verwendete offizielle Standardvarietät mit ihren DDR-ismen. Das Sächsische, wofür man sich vorher geniert hatte, wird als Mittel der nachträglichen Konstruktion von Identität gebraucht. Es wird eine auf die ehemalige DDRZugehörigkeit bezogene Wir-Identität geschaffen. Wurde zu DDR-Zeiten eine Gegenidentität zur offiziellen, ideologisch diktierten staatlichen Identität aufgebaut, indem man beispielsweise den staatlichen Diskurs in privaten Kreisen ironisierte, richtet sich nach der Wende die Gegenidentität gegen die neuen dominant gewordenen Strukturen. Dies ist ein Ausdruck wenn nicht einer Gegengemeinschaft zu den Westdeutschen (Fix 2003:118), so doch mindestens der Abwehr der sprachlichen Vereinnahmung. Fix (2003:120f) zitiert eine Dolmetscherin/Buchhändlerin, die es als anmassend empfinde, wenn ein bayrischer Unternehmer in seinem Leipziger Betrieb anstelle der Frühstückspause die Brotzeit ansetzt. Die Verteidigung sächsischer Varianten zur Festigung der sprachlichen Identität geschieht über die Lexik als den am leichtesten zugänglichen sprachlichen Bereich. Stevenson (2002:173) zitiert die westdeutsche Journalistin Wiete Andrasch, die berichtet, wie sie im Partygespräch mit einer ostdeutschen Frau in Ostberlin auf die DDR-ismen urst ‚sehr‘, ‚total‘ und schau ‚schön‘, ‚toll‘ reagiert: „… ich merkte, dass sich zwei Worte in meinen Gedanken verfangen hatten, deren Bedeutung mir rätselhaft war. Was heisst ‚urst‘? Und was ‚schau‘? Während der gesamten Unterhaltung fielen diese Worte unzählige Male. Abgesehen davon, dass ich fand, sie klangen ein bisschen russisch und ziemlich albern, konnte ich nichts mit ihnen anfangen. Ich verriet dieser Frau jedoch nicht, dass mir ihre Sprache fremd war. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie jene Worte in den Mund nahm, schüchterte mich ein.“ (Andrasch 2000:69) Zwar bewundert die westdeutsche Journalistin die Frau für das Festhalten an ihren Wörtern. Hinter dieser ambivalenten Bewunderung verbirgt sich jedoch die (hier nicht erfüllte) Erwartung der sprachlichen Anpassung.
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4.2.2. Deutsch als plurizentrische Sprache in Österreich 2004 lebten in Österreich 8.13 Mio Menschen (Brockhaus Enzyklopädie Online, konsultiert am 29. Mai 2006). In der Volkszählung 2001 gaben knapp 96% der Österreicher Deutsch als ihre Umgangssprache an.29 Dialektologisch gehört Österreich, mit Ausnahme des alemannischen Zipfels Vorarlberg, der bairisch-österreichischen Region an. Zwar bestehen Ähnlichkeiten im Verhalten von österreichischen und süddeutschen Sprechern: Schriftlich und formell wird Standard verwendet, privat wird auf Sprachstufen zwischen Umgangssprache und Dialekt zurückgegriffen, welche von Aussenstehenden summarisch als Dialekt wahrgenommen werden (Ammon 2004:XXXVII). Im Vergleich zu Deutschland sind Dialekte in Österreich jedoch sozial viel weniger stark markiert. Wiesinger (1988c) schlägt die Differenzierung des Deutschen in Österreich in die Schichten Basisdialekt, Verkehrsdialekt, Umgangssprache und Standardsprache vor. Der Basisdialekt ist bei der alteingesessenen Dorfbevölkerung vorwiegend in Gebrauch. Von den jüngeren Generationen der Landbevölkerung hört man für die alltägliche Kommunikation den Verkehrsdialekt. Die Umgangssprache wird von der höheren dörflichen Sozialschicht verwendet (Ärzten, Pfarrern, Lehrern) (Wiesinger 1986:106). Die Standardsprache aber – und dies gilt für alle sozialen Schichten – ist situativ vorgegeben, z. B. für den Unterricht oder Predigten (Wiesinger 1988c:19f). Darin gleicht die Pragmatik der Standardsprache in Österreich derjenigen der Deutschschweiz. Aufgrund des Standard-Dialekt-Gradualismus kann aber im Falle Österreichs – mit Ausnahme von Vorarlberg – nicht von einer Diglossie gesprochen werden. Nachdem Österreich bis 1806 stets Teil des Deutschen Reiches gewesen war, kam es im 19. Jh. im Verlauf einer wechselvollen Geschichte, deren einzelne Etappen hier nicht darzulegen sind, zu einem politischen Auseinanderdriften von Österreich-Ungarn und dem (kleindeutschen) Deutschen Reich, die jedoch als enge Verbündete zusammen in den Ersten Weltkrieg zogen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn wurde der übrig gebliebene österreichische Rest zur Republik erklärt und als eigene, von Deutschland unabhängige Nation errichtet. Als Staatssprache in der Verfassung verankert wurde Deutsch erst 1920 (Wiesinger in einem Podiumsgespräch, zitiert in Näßl 2003:24). Durch den Anschluss an Deutschland im Dritten Reich 1938–1945 wurde
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Im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie, die nach dem Ersten Weltkrieg auseinanderfiel, waren 1910 nur 23.5% der damals 48.8 Millionen Bürger in Österreich-Ungarn deutschsprachig (Clyne 1995:31).
4.2. Deutsch als plurizentrische Sprache der Gegenwart
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die Entwicklung der Republik unterbrochen. Erst 1945 erfolgte die erneute Trennung Österreichs von Deutschland. Durch den Staatsvertrag von 1955 ist die Vereinigung Österreichs mit Deutschland auf alle Zeiten verboten.30 Viele Österreicher hatten ein Interesse daran, die unrühmliche gemeinsame Geschichte mit Deutschland zu vergessen bzw., wie De Cillia (2003:25) kritisch anmerkt, sich als erstes Opfer des nationalsozialistischen Deutschland zu präsentieren. Zu den Abgrenzungsversuchen des jungen Österreich von Deutschland gehörte angeblich der vorübergehende Gebrauch des Begriffs Unterrichtssprache für das Unterrichtsfach Deutsch an Österreicher Schulen (De Cillia 2003:12) – laut Reiffenstein (1983:17) geschah dies allerdings auf Verlangen der russischen Besatzungsmacht, und gemäss Muhr (mündliche Mitteilung im März 2007)31 diente der Begriff gar nicht der Abgrenzung von Deutschland, sondern der Stärkung der Minderheitensprachen an den öffentlichen Schulen. Jedenfalls hiess das Schulfach ab 1955 wieder Deutsch. Was war und ist unter Deutsch in Österreich zu verstehen? Deutsch in Österreich steht im Spannungsfeld zwischen der Orientierung an der deutschländischen Norm und der Eigenständigkeit der österreichischen Varietät. Einerseits wird diejenige Varietät als die standardnächste empfunden, die sich am nächsten zum Standard in Deutschland befindet, mit diesem aber nicht identisch ist (Clyne 1987:130ff).32 Andererseits sind es die Regiolekte und Dialekte, aus denen zahlreiche Austriazismen geschöpft werden, die nationalen Symbolgehalt aufweisen. Die Spannung zwischen separatistischen und pan-germanischen Bestrebungen ist in der Geschichte Österreichs tief verwurzelt. Reiffenstein bemerkt dazu: „Am Beispiel Österreichs zeigt sich auch in der Sprache einerseits die Tendenz zur Integration (Abbau bestimmter lexikalischer Differenzen zugunsten der in der Bundesrepublik üblichen Varianten), andererseits die heute allerorten sichtbare Tendenz zur Regionalisierung (Zunahme des sprachlichen Selbstbewusstseins). Ich glaube nicht, dass darin ein Widerspruch liegt.“ (Reiffenstein 1983:24) Die Geschichte des österreichischen sprachlichen Selbstbewusstseins ist allerdings jung. Noch in der Aufklärung schloss sich Österreich ungleich deutlicher als die Schweiz den sächsischen Sprachnormen an. Aber es gab bereits damals Widerstände. Eine Art Parallelfigur
30 S. Freudenberg (1983:11) zur Geschichte des österreichischen Staatsvertrags vom 19. Jh. bis 1955. 31 Votum am Internationalen Kongress Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit. Zur Anglizismendiskussion in den Standardvarietäten des Deutschen und in Italien in Forlì, März 2007. 32 In dieser Hinsicht sieht Clyne (1987:131) eine Ähnlichkeit mit dem Australischen Englisch und seinem Verhältnis zum Britischen Englisch.
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4. Dezentralisierte Normen: Deutsch als plurizentrische Sprache
zum Schweizer Bodmer (vgl. Kap. 4.2.3. und 5.2.1.4. der vorliegenden Studie) war der gebürtige Slowene Popowitsch, der die Vorurteile sächsischer Sprachkundler kritisierte (Ammon 1995:485). „Es hat … einer unserer berühmtesten Sprachlehrer noch vor einigen Jahren selbst in dem Wahne gestanden, man müsste, um Hochteutsch schreiben zu können, ein gebohrner Sachs oder Schlesier seyn.“ (Popowitsch 1754: 30f)33 Im Fadenkreuz von Popowitschs Kritik steht hier natürlich Gottsched. Sie stiess aber nicht auf grossen Widerhall. Unveröffentlicht blieb Popowitschs Sammlung österreichischer Wörter (Ammon 1995:118). Eine breite Anerkennung sprachlicher österreichischer Besonderheiten entstand erst später, als im mehrsprachigen, multikulturellen Österreich-Ungarn der Sprachgebrauch in und um Wien massgeblich wurde – insbesondere der Sprachgebrauch von deutschsprachigen Bürokraten und Offizieren (Clyne 1987:134ff), während im von Preussen dominierten geeinten Deutschland die Kodifizierung des Standarddeutschen stark nach Norden orientiert war. Seither hat Österreich von allen nationalen Zentren am deutlichsten eine nationale Standardvarietät herausgebildet (Ammon 1995:501). Einerseits ermöglichte die Pflege sprachlicher Eigenheiten eine Abgrenzung von Preussen bzw. von ganz Deutschland in der Nachkriegszeit, andererseits verweist die Herkunft vieler Eigenheiten auf die mehrsprachige und multikulturelle Vergangenheit. „In Austria, the national variety is a symbol of the continuing independent tradition dating back to the ‚glorious days of the Empire‘ and antagonism to the Prussian Empire.“ (Clyne 1989a:368) Mit der Ostöffnung 1989 wurde die österreichische Varietät dadurch gestärkt, dass Deutsch als Fremdsprache vermehrt aus Österreich exportiert wurde. Zeugnis davon sind Anfang der 1990-er Jahre neu geschaffene Lehrstühle für Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten Graz und Wien. Auf öffentliches Interesse im ganzen deutschen Sprachraum stiess die Frage des aktuellen österreichischen Deutsch im Rahmen des EU-Beitritts vom 1. Januar 1995. Im Protokoll Nr. 10 wurden 23 Austriazismen aus dem gastronomischen Bereich in den österreichischen Beitragsvertrag aufgenommen.34 Dabei ging es nur um die EU-Gesetzgebung, die Umsetzung im österreichischen Gesetz blieb natürlich frei im Gebrauch von Austriazismen. De Cillia sieht darin nichts anderes als eine „kurzfristige Massnahme des Identitätsmanagements durch die österreichische Regierung…, die dazu
33 Zu Popowitsch s. ausführlich Haas 1987, Kühn 1987, Haas (1994b:338). 34 Beiried, Eierschwammerl, Erdäpfel, Faschiertes, Fisolen, Grammeln, Hüferl, Karfiol, Kohlsprossen, Kren, Lungenbraten, Marille, Melanzani, Nuß, Obers, Paradeiser, Powidl, Ribisel, Rostbraten, Schlögel, Topfen, Vogerlsalat, Weichseln
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dienen sollte, die ÖsterreicherInnen für den EU-Beitritt zu gewinnen.“ (De Cillia 2003:26, s. dazu auch Winkler 1995:291) EU-Gegner hatten nämlich befürchtet, dass Österreich nach dem EU-Beitritt deutschländische Begriffe für Produkte verwenden müsse, insbesondere für Esswaren. Bedingung für die Aufnahme in die Liste war, dass die Wörter nicht nur regional oder dialektal waren und dass der offizielle Charakter der Wörter durch den Gebrauch in Gesetzestexten bestätigt war. Austriazismen, die keine deutschländische Entsprechung hatten, wurden nicht einbezogen. Das Protokoll steht zwar für die erste offizielle Anerkennung der österreichischen Varietät in internationalen Verträgen, wurde aber wegen seines Kompromisscharakters und seiner Beschränkung auf gastronomische Begriffe kritisiert und belächelt. Trotz seiner Fragwürdigkeit bleibt das Protokoll Nr. 10 über die Gleichwertigkeit von 23 Austriazismen in der Textsorte Rechtsakt die einzige Regelung für nationale Varietäten in der EU. Für die Frage zur heutigen Einstellung gegenüber der österreichischen Standardvarietät ist die Haltung gegenüber der österreichischen Eigenstaatlichkeit relevant. Seit dem Abschluss des Staatsvertrags 1955 hat der Anteil von Personen, die der Meinung sind, die Österreicher seien eine Nation, kontinuierlich zugenommen. 1964 waren es 47%, 1993 bereits 80% (Wiesinger 2000:556).35 Zunehmend wurde in der österreichischen Varietät des Standarddeutschen nationales Identifikationspotenzial gesehen. Als entsprechend bedrohlich für die nationale Identität mag der befürchtete Rückgang des Gebrauchs österreichischer Varianten in den Medien erscheinen (Ammon 1995:201). Die Auffassung des österreichischen Deutschen als einheitliche Sprachform ist allerdings stark umstritten. Die Verleugnung der deutschen Herkunft in ethnischer, sprachlicher und historischer Hinsicht sei der falsche Weg, zu einer eigenen österreichischen Identität zu gelangen (Pohl 1999:75). Bei der Darstellung der österreichischen Identität als ostmitteleuropäisch und multikulturell argumentiere man, so Pohl (1999:78), mit einer falschen Projektion in die Zeit der Monarchie; das heutige Österreich sei schliesslich der alte, deutschsprachige Kern oder Rest des multinationalen Habsburger-Reiches. In Wahrheit könne es für Österreicher aber nur eine Doppelidentität geben, nämlich eine ererbte deutsche und eine auf Eigenstaatlichkeit beruhende österreichische. Pohls Argumentation ist in ihrer Skepsis gegenüber der ideologisch überfrachteten Auffassung von ös-
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Folgende Antworten standen den GP in den von Wiesinger zitierten Meinungsforschungsergebnissen zur Verfügung: ohne Angabe, Österreicher sind keine Nation, Österreicher beginnen sich langsam als Nation zu fühlen, Österreicher sind eine Nation (vgl. Bruckmüller 1994).
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terreichischer nationaler Identität einleuchtend. Zu kurz greift jedoch sein empirischer Versuch, die Existenz einer österreichischen Standardvarietät zu widerlegen, indem er Austriazismen auf vier marginale Kategorien reduziert: staatsräumliche Austriazismen (z. B. aus der Verwaltungssprache), süddeutsche Austriazismen, bairische Austriazismen und regionale Austriazismen (Pohl 1999:86).36 Erheblich unterscheide sich das österreichische Deutsch, so Pohl 1999, nur auf der Ebene der Verwaltungs- und Rechtssprache sowie pragmatisch, also in Bezug auf das Sprachverhalten. Ansonsten unterscheide sich das österreichische Deutsch in seiner geschriebenen Form kaum vom deutschländischen Deutsch. Die neuere, empirisch basierte plurizentrische Lexikographie (s. das VWB) zeigt jedoch das Bild einer Eigenständigkeit des österreichischen Deutschen, die grösser ist als von Pohl angenommen, wie auch immer man diesen Sachverhalt im Hinblick auf eine österreichische Identität interpretieren mag. Dabei braucht eine plurizentrische Sichtweise auf das Österreichische nicht einer pluriarealen Sichtweise zu widersprechen, wie das Nebeneinander von nationalen und regionalen, über Nationalgrenzen hinausgehenden, Geltungsarealen von Austriazismen zeigt. Zur Kontroverse Plurizentrik vs. Pluriarealität aus österreichischer Perspektive s. Scheuringer 1996 und Glauninger 2008.
4.2.3. Deutsch als plurizentrische Sprache in der deutschsprachigen Schweiz 7.44 Mio Einwohner zählte die Schweiz 2005, davon waren 64% deutschsprachig (Brockhaus Enzyklopädie Online, konsultiert am 29. Mai 2006). Gerne wird die Schweiz, etwa neben Belgien, als Ausnahmebeispiel für den sonst üblichen Zusammenhang zwischen nationenbildenden (oder nationalistischen) Bewegungen und einer Nationalsprache genannt (Deutsch 1968:605). Dabei ist die Geschichte der Schweizer Mehrsprachigkeit verhältnismässig jung. Bis 1798 war die alte Eidgenossenschaft, deren Ursprünge im 13. Jh. liegen, ein Bund deutschsprachiger Orte. Entstanden war sie aus einem losen Bund freier Bauerngemeinschaften und Städte, der sich 1648 definitiv vom Deutschen Reich loslöste (Freudenberg 1983:11). Die lange politische Selbstregulierung bildet den Grundstein für die sprachliche
36 In der Tat gibt es zahlreiche unspezifische Varianten, die in der bayrischen und österreichischen Varietät belegt werden können. Eine nationalspezifische Abgrenzung dieser sich überlappenden regionalen Varietäten erscheint den Skeptikern gegenüber dem plurizentrischen Konzept der deutschen Standardsprachen als wenig sinnvoll.
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Selbstregulierung der Schweiz. „The Swiss Confederation … had become completely independent of any other German-speaking territory by 1648. With the later addition of non-German-speaking cantons, it became a multilingual nation based on the territorial principle of language distribution.“ (Clyne 1987:129) Dialektologisch geht Schweizerdeutsch über seine Landesgrenzen hinaus. Es handelt sich bei den Deutschschweizer Dialekten grösstenteils um Hochalemannisch.37 Man kann jedoch nicht von einem einheitlichen Schweizerdeutsch sprechen. In den Bergtälern findet man Höchstalemannisch, in der Nordwestschweiz Hochalemannisch mit niederalemannischen Zügen. Auch in Süddeutschland wird Alemannisch gesprochen, und das Niederalemannische teilt sich die Region Basel mit angrenzenden Gebieten im Elsass und im südbadischen Raum. Linguistisch ist Schweizerdeutsch also ein unbrauchbarer Terminus (Rupp 1983:30), es sei denn, man versteht es im Sinne von Clyne als plurizentrischen Dialekt. Dieser wäre eine Abstraktion, die nur in konkreten regionalen und lokalen Formen existiert (Clyne 1989a:358). Hingegen ist die Schweizer Standardvarietät homogener als die Standardvarietäten in Österreich und Deutschland, wo die standardsprachliche Binnenvariation, bedingt durch die grössere Funktionsbreite des Standards und die im Vergleich zur Deutschschweiz viel höheren Sprecherzahlen, beträchtlich ist, wie die vielen transnationalen und -regionalen Varianten des Standarddeutschen im VWB belegen. Auch sprachsoziologisch und pragmatisch ist die Deutschschweiz relativ einheitlich, einheitlicher als Deutschland, wo im Süden ein Standard-Dialekt-Kontinuum dem nördlichen Dialektschwundgebiet gegenübersteht, einheitlicher als Österreich, das ebenfalls grösstenteils graduelle Unterschiede zwischen Standard und Dialekt aufweist. Die Schweizer Sprachsituation wird einhellig als stabile Diglossie beschrieben, in welcher Standardsprache und Dialekt in funktionaler und medialer Verteilung nebeneinander bestehen. Eine Entdiglossierung, wie im Norden Deutschlands, hat in der Deutschschweiz und auch im ganzen süddeutschen Raum nie stattgefunden. Der Grad der Beherrschung des Standards ist in der Schweiz zwar bildungsabhängig – Sprecher mit geringer Bildung bekunden mit Hochdeutschsprechen generell Mühe –, der Gebrauch von Standard und Dialekt ist jedoch vor allem funktional, medial und letztlich situativ determiniert. Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland gibt es in der Schweiz (und ebenso in Liechtenstein) keine überregionale Umgangssprache und keine 37
Eine Ausnahme bildet die Gemeinde Samnaun im Unterengadin, wo kein alemannischer, sondern ein bairischer Dialekt gesprochen wird.
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fliessenden Übergänge zwischen Standard und Dialekt. Gleichzeitig hat der Dialekt in der Deutschschweiz eine grössere Funktionsbreite als in den übrigen deutschsprachigen Gebieten. Aufgrund der diglossischen Verteilung von Standard und Dialekt ist es der Normalfall, dass im Bundeshaus von Deutschschweizer Politikern die Geschäfte auf Dialekt besprochen werden, sofern sie informell miteinander sprechen, z. B. in den Gängen auf dem Weg zur Session, und sofern keine französisch- oder italienischsprachigen Kollegen dabei sind. Dasselbe gilt für Universitätsprofessoren, die ein Fachgespräch unter Kollegen im Dialekt führen, jedoch in den Standard wechseln, sobald sie den Seminarraum betreten oder die Fakultätssitzung eröffnet wird. Ein solches Verhalten wäre weder in Deutschland noch in Österreich denkbar. Während in Österreich im Umgang mit Fremden, in Stadtgeschäften, auf Ämtern und in Schulen Standard gesprochen wird, um nicht benachteiligt zu werden, wird in der Deutschschweiz quer durch alle Gesellschaftsschichten Dialekt gesprochen. Dies, so Wiesinger (1986:108), müsse dem Österreicher als eine Art unangebrachte Gleichmacherei zwischen Leuten unterschiedlichen Standes erscheinen. Die Diglossie bzw. die grosse Funktionsbreite und der Ausbau des Dialekts führen dazu, dass die Funktionsbreite der Standardsprache in der Schweiz viel schmaler ist als in den anderen deutschsprachigen Gebieten. Ein distanziertes Verhältnis zur gesprochenen Standardsprache ist an der Tagesordnung. Mündlich wird Standarddeutsch von 65% der Leute kaum je verwendet, als geschriebene Sprache wird sie aber nicht in Frage gestellt. Sogar die in der Minderheit stehenden Deutschschweizer Sprecher, die in formellen Situationen relativ problemlos Standardsprache verwenden, können im spontanen Alltagsgespräch in der Standardsprache ins Stocken geraten, da ihnen die dafür notwendigen mündlichen Satzbaupläne fehlen.38 Trotz der Stabilität der Deutschschweizer Diglossie gab und gibt es unterschiedliche Trends oder Wellen bei der Entscheidung, welche kommunikativen Bereiche eher der Mundart, welche eher dem Standard zugeordnet werden sollen. Es ist die Rede von Mundartwellen (Schläpfer 1994:287), deren drei allein im 20. Jh. über die Deutschschweiz gerollt sein sollen: um die Jahrhundertwende des 19./20. Jhs., im Zuge der geistigen Landesverteidigung in den 1930-er Jahren und schliesslich in den 1960-er bis 1970-er Jahren im Rahmen pädagogischer Reformen und der 1968-er Bewegung. Das Festhalten an der Mundart wird zuweilen mit demokratischem Streben,
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Für weitere Unterschiede zwischen der Deutschschweizer Diglossie und der Sprachsituation in Deutschland und Österreich verweise ich auf Ferguson 1959, Ammon (1995:284–300) und Schmidlin 1999.
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wie es in der Schweizer Geschichte und Mentalität verwurzelt scheint, erklärt – niemand soll sich qua Sprache über andere stellen können und seine Zugehörigkeit zur Elite sprachlich demonstrieren. Hingegen meint Rupp zur mundartlichen Eroberung von Predigten in Kirchen, von Schul- und sogar Universitätsunterricht: „Ich meine, dass hinter allem weitgehend Irrationales und Emotionales steht: die Nostalgiewelle, Nationales und Nationalistisches, Heimatschützlerisches, eine neu aufkommende und zum Teil qualitativ hochstehende Mundartliteratur, die Mundartpfleger mit ihrem Ruf zur Erhaltung der reinen Mundarten (wobei niemand weiss, was das ist), gewisse Kreise von Pädagogen und manches andere.“ (Rupp 1983:37) Anfang des 20. Jhs. war jedoch auch Skepsis gegenüber der Schweizer Dialektloyalität verbreitet. Sie war mit Warnungen vor kultureller Vereinsamung verbunden. So argumentierten etwa Stickelberger, Tappolet und von Greyerz (Ammon 1995:55), man müsse trotz der Erhaltung des Dialekts an der korrekten Standardsprache festhalten. Dazu Stickelberger: „Es geht nicht an, dass der Schüler der Bank, der Butter, die Floh, das Ort u. dgl. schreibt oder von seinen Kameraden benieden wird,39 wenn ihm der Lehrer ein schönes Buch geleiht hat!“ (Stickelberger 1914:3f, Hervorh. RS) Wie denn diese Standardsprache geartet sein sollte, darüber gingen die Vorstellungen freilich auseinander. Stickelberger nimmt den Standpunkt ein, dass man sich an den herrschenden Standardgebrauch anlehnen solle „ohne völlige Preisgabe der angestammten Eigenart.“ (Stickelberger 1914:5) „Vor allem wollen wir nicht das Norddeutsche als einzige Richtschnur anerkennen, im Schreiben so wenig als im Sprechen.“ (Stickelberger 1914:6)40 Gegen die Norm der sächsischen Lautung bestand der Widerstand noch lange und dauert bis heute an.41 Das Übergewicht der schriftlichen Verwendung der Standardsprache in der Schweiz beeinflusst noch immer ihre mündliche Realisierung (VWB:XLII); die Aussprache des Schweizerhochdeutschen folgt in gewissen Bereichen stärker dem Schriftbild als andere Varietäten, wie bspw. an der nicht vorhandenen /r/-Vokalisierung im Auslaut gezeigt werden kann. Auf breites Echo stiessen Stickelbergers Ausspracherichtlinien für das Schweizer Hochdeutsche (1911), wonach etwa /f/ in Klavier,
39 Gemäss VWB ist benieden im Schweizerhochdeutschen heute korrekt. 40 An derselben Stelle betont Stickelberger, dass die Schweizer „von ‚Verpreussung‘ nichts wissen wollen“, und legt damit eine rhetorische Militanz an den Tag, wie sie für Hraudas Schriften berüchtigt ist (vgl. Kap. 5.1.2.). 41 Nicht alle, wenn auch die Mehrheit der Deutschschweizer, wünschen sich ein schweizerisch gefärbtes Hochdeutsch am Radio (Ammon 1995:449). Sensibel reagieren Radiohörer auf Schweizer Sprecher, die sich bemühen, bundesdeutsch zu tönen (Ammon 1995:303).
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stimmloses /s/ vor Vokal oder die Erstbetonung des Worts Kaffee erlaubt sein sollten. In lexikalischer Hinsicht erfuhr das Schweizerhochdeutsche auf einer breiteren Basis erst in den 1940-er Jahren zunehmende Akzeptanz, als die Zulieferung von Helvetismen an das bibliographische Institut Leipzig begann (Ammon 1995:58). Die Auffassungen über den Status von Helvetismen gehen jedoch auseinander. Von vielen Schweizer Lehrern werden Helvetismen als fehlerhaftes Deutsch betrachtet. Haas spricht von einer provinziellen Helvetismenfurcht. Klingeln wird als richtiger empfunden als läuten, nach Hause gehen als richtiger als heimgehen. Ein Wort wie Gülle wird eher als Helvetismus empfunden als äufnen, obwohl bei letzterem tatsächlich ein Helvetismus vorliegt, nicht aber bei Gülle, das auch im süddeutschen Raum verwendet wird. Auch Putsch und Birchermüesli und damit Helvetismen, die gemeindeutsch wurden, haben dem helvetischen Selbstbewusstsein nicht gut getan. Im Gegensatz zur österreichischen Varietät des Standarddeutschen, das sprachnationales Identifikationspotenzial besitzt, spielt in der deutschsprachigen Schweiz das Schweizerhochdeutsche nicht die Rolle eines Nationalsymbols. Es ist der Dialekt mit seiner kleinräumigen Vielfalt, der im Deutschschweizer Sprachbewusstsein eine Art Nationalsymbol darstellt, sowie die Mehrsprachigkeit – letztere weniger im Sinne einer individuellen Beherrschung mehrerer Landessprachen, sondern als kollektive Idee. Das Hochdeutsche aber wird oft – und aus sprachgeschichtlicher Perspektive fälschlicherweise – als Importsprache empfunden. „Das Hochdeutsche wird aus Sicht der Schweizer in Deutschland hergestellt, sie partizipieren daran und bereichern es mit ihren Ausdrücken, um es für sich verwendbar zu machen.“ (Löffler in einem Podiumsgespräch, zitiert in Näßl 2003:24) Die eigentliche Geschichte des Schweizerhochdeutschen beginnt natürlich viel früher. Eine eigene regionale Schreibsprache hatte sich in der Schweiz schon im 14. und 15. Jh. ausgebildet, also vor ihrem Ausscheiden aus dem Reich 1648, u. a. erkennbar in Zwinglis Schriften. Charakteristisch dafür waren z. B. die alemannischen Monophthonge. Zwingli schreibt ynleitung, fegfür, fry (Ammon 1995:230). Im 16. Jh. wurden die neuhochdeutschen Diphthonge jedoch übernommen, was in der Revision der Zürcher Bibel 1662–1667 Eingang fand (Ammon 1995:230). Im 18. Jh. wurde von Dichtern wie Albrecht von Haller oder Salomon Gessner die sächsischmeissnische Schreibsprache zum Vorbild genommen. Bekanntlich lehnten sich Bodmer und Breitinger jedoch dezidiert dagegen auf. „Man sage uns doch, worinn der Ruhm bestehe, in der nervenlosen Sprache der sächsischen Magister schreiben zu können? Und mit welchem Recht fordern die Sachsen, dass wir uns ihrem Sprachgebrauch unterwerfen sollen? Ist unser
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Gebrauch nicht von so grossem Ansehen als der ihrige, da doch gewiss ist, dass er älter ist, und der ursprünglichen Verfassung der deutschen Sprache getreuer geblieben ist.“ (Bodmer/Breitinger 1746: Bd 2 S. 559). Das schwache Argument der Ursprünglichkeit wurde von Bodmer m.W. nicht mit empirischen Beispielen belegt, was auch nicht weiter erstaunlich ist. Ganz generell wandte sich Bodmer und mit ihm Breitinger gegen „die unverschämte und ungerechte Tyrannie der Sachsen über den schweizerschen und alle andere Dialekten der deutschen Provintzen“ (Bodmer/Breitinger 1746: Bd 2 S. 613) und somit gegen die obersächsisch-meissnische Übermacht.42 Es ging aber weder Bodmer noch Breitinger um das Alemannische als Leitvarietät, sondern um eine Aufwertung der Dialekte und um die Möglichkeit zur sprachlichen Variation (vgl. Gardt 2000a:194). Die Verteidigung der Schweizer Schreibsprache ist also schon früh verbrieft und gut dokumentiert. Dieser Rebellion zum Trotz war der Wille zur sprachlichen Einigung im deutschsprachigen Raum auch in der Schweiz durchaus vorhanden. Das Vollständige Orthographische Wörterbuch von Konrad Duden wurde vom Schweizer Bundesrat bereits 1892 als gültig erklärt, der Beschluss 1902, nach der Berliner Rechtschreibkonferenz, bestätigt (Ammon 1995:231).
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Diese Haltung kommentiert Crüger, allerdings ohne Bodmer direkt zu zitieren, folgendermassen: „Noch weiter treibt ihn [Bodmer] in späterer Zeit der thörichte Lokalpatriotismus: halb wissend, halb unwissend fragt er, wie Luther dazu gekommen sei von der vortrefflichen mittelhochdeutschen Sprache abzuweichen, und die Antwort lautet ähnlich dem, was die damaligen Katholiken von Luther sagten, dass er der ärgste Sprachverderber gewesen, den es gegeben habe.“ (Crüger 1884: LXXII, vgl. auch Löffler 1986:20)
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen Im folgenden Kapitel wird skizziert, was es seit Ende des 19. Jhs. an empirischen Arbeiten zum Deutschen als plurizentrische Sprache gibt. Nicht berücksichtigt werden frühere Sammlungen von Provinzialwörtern oder so genannten Idiotismen aus vornationaler Zeit, die die empirischen Vorläufer der Sammlungen von nationalen und regionalen Besonderheiten der deutschen Standardsprache sind (s. Haas 1994). Am meisten Unterschiede zwischen den Standardvarietäten gibt es in lexikalischer und phonologischer Hinsicht. Daher erstaunt es nicht, dass diese beiden Sprachebenen am besten dokumentiert sind, zumal sie am leichtesten darstellbar sind (etwa im Gegensatz zu pragmatischen oder syntaktischen Unterschieden). Sammlungen lexikalischer Besonderheiten vornehmlich aus dem süddeutschen Sprachraum sind seit Anfang des 20. Jhs. in grosser Zahl erschienen. Eine kleine Auswahl von ihnen wird in Kap. 5.1.1.–5.1.3. vorgestellt. Beobachtungen zur unterschiedlichen Aussprache der Varietäten sind teilweise in den lexikographischen Werken integriert, teilweise in praxisnahen Richtlinien (z. B. für Mediensprecher) erfasst. Meist bezieht sich die Forschungsliteratur auf Österreich, die Deutschschweiz oder die deutsche Binnenvariation (z. B. König 1989 zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland). In diesen Sammlungen von Besonderheiten wird üblicherweise mit der monozentrisch aufgefassten (nord)deutschen Norm als Kontrastvarietät, aber kaum mit anderen Nachbarvarietäten als Vergleichsgrössen gearbeitet. Bezeichnenderweise sind einige dieser Sammlungen in der Duden-Sonderreihe Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Ausland (Hervorh. RS) erschienen, so z. B. Kaisers Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in der Schweiz (1969) oder Schillings Romanische Elemente im Schweizerhochdeutschen (1970). Kaum erforscht und meist nur indirekt über die Sammlungen von Austriazismen und Helvetismen erschliessbar sind die deutschländischen Varianten, welche die nationale Varietät des Standarddeutschen in Deutschland konstituieren. Wenig erforscht ist ferner die grammatikalische Variationsebene. Zwar werden Genusdifferenzen (das E-mail vs. die E-mail), unterschiedliche Pluralformen (Spargel vs. Spargeln) oder Fugenelemente (Bahnhofbuffet vs. Bahnhofsbuffet)
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
sowie weitere morphosyntaktische Unterschiede in Wörterbüchern bzw. in den dazugehörigen Vorwörtern punktuell beschrieben (VWB, Ebner 1998 und 2009, Meyer 2006). Merkmale, die auf der syntaktischen Ebene liegen, sind in Wörterbüchern jedoch nicht darstellbar. Dazu gehören Unterschiede in der Wortstellung. Dürscheid/Hefti 2006 führen als Beispiel dafür die helvetische Konstruktion Kommt dazu, dass… oder Schade, bist du gestern nicht hier gewesen an. In Zürich (in Zusammenarbeit mit den Universitäten Augsburg und Graz) ist zurzeit ein Forschungsprojekt in Planung, solche grammatikalischen Differenzen – analog zum VWB, das vor allem die Lexik systematisch dokumentiert – in einer Variantengrammatik systematisch zu erfassen (Dürscheid/Hefti 2006:159, Dürscheid 2007). Wenig erforscht sind schliesslich auch die pragmatischen Unterschiede zwischen den Varietäten, d. h. das kommunikative Verhalten und die dazugehörigen sprachlichen Strukturen. Einzelne Arbeiten zu pragmatischen Besonderheiten des österreichischen Deutschen gibt es von Muhr (z. B. Muhr 1993a, Muhr 1994) und Clyne/Fernandez/Muhr 2003 (vgl. Kap 5.3.1. der vorliegenden Studie). Für die deutsche Sprache ausserhalb der Vollzentren des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets sei auf die ältere Duden-Reihe Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Ausland hingewiesen.1 Als Fazit zu den bisherigen Forschungen zur Plurizentrik des Deutschen kann festgehalten werden, dass in den zahlreichen früheren, seit dem Anfang des 20. Jhs. erschienenen Arbeiten zu so genannten Besonderheiten des Deutschen (in den südlichen Regionen des deutschen Sprachgebiets), welche in den Kap. 5.1.1. bis 5.1.3. auszugsweise vorgestellt werden, noch kein plurizentrischer Ansatz verfolgt wird, der die Varietäten des Standarddeutschen gleichberechtigt nebeneinander sieht. Vielmehr geht es in diesen Arbeiten um eine Stellungnahme für oder gegen die (grösstenteils lexikalischen und phonologischen) Eigenheiten des Deutschen (vgl. Ammon 1995:49). Sie haben also weniger einen wissenschaftlichen als vielmehr einen sprachpflegerischen Hintergrund. Zudem werden stets einzelne nationale Varietäten, d. h. vornehmlich das österreichische oder schweizerische Hochdeutsch, beschrieben. Bestrebungen, das Deutsche als plurizentrische Sprache kontrastiv und umfassend und nach aktuellen theoretischen Er-
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Wacker 1965 für die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Kanada und Australien (mit einem Anhang über die Besonderheiten in Südafrika und Palästina), Magenau 1964 für die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Luxemburg und in den deutsch-sprachigen Teilen Belgiens, Wacker 1964 für die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in den USA, Magenau 1962 für die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Elsass und in Lothringen. Zum Deutschen in Brasilien s. z. B. auch Pichl 1983.
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
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kenntnissen darzustellen, haben erst mit Ammon 1995 begonnen. Erwähnt seien in dieser Reihe auch Ulbrich 2005 und Hirschfeld/Ulbrich 2002, die sich den prosodischen Unterschieden in Deutschland, Österreich und der Schweiz widmen.2 In der Lexikographie schliesslich vertritt erstmals das VWB einen umfassenden, kontrastiven Ansatz, dessen Methodik in Kap. 5.1.5. näher erläutert wird. In der Reihe der umfassenden Darstellungen
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Ulbrich geht davon aus, „dass es in den drei Zentren je eine überregionale gesprochene, insbesondere im Medienbereich verwendete SV [Standardvarietät] gibt.“ (Ulbrich 2005:98) Z.B. sind im schweizerischen und österreichischen Deutsch Akzentsilben tief und steigend, während sie im deutschen Deutschen im mittleren Bereich realisiert werden und weniger Stimmtonumfang aufweisen (Ulbrich 2005:106). In betonten Silben weisen die Varietäten in A und CH zudem Gleittöne auf, während die deutsche Varietät eher durch Lautstärke betont. Das Schweizerhochdeutsche weist in fallenden Melodiekonturen zudem einen lokalen Anstieg der Tonhöhe auf, wodurch sich möglicherweise der aus der Laienlinguistik bekannte Eindruck des Schweizer Singsangs ergibt. Hirschfeld/Ulbrich (2002:52) zitieren für die unterschiedlichen Melodiekonturen folgendes Beispiel aus Stock (2000:304ff) (S steht für das Schweizerhochdeutsche, D für das deutschländische Deutsch):
Unterschiede im Tonhöhenverlauf im Standarddeutschen zwischen schweizerischen und deutschen Sprechern in W-Fragen nach Stock 2000
In der Forschung oft erwähnt und aus der Laienlinguistik bekannt sind ferner Unterschiede im Sprechtempo; Sprecher aus A und CH sprechen demnach langsamer als Sprecher aus D. Ulbrich differenziert in ihrer Untersuchung diese Forschungsmeinung. Ihre GP aus A und CH, bei denen es sich allerdings um professionelle Sprecher handelt, lesen nicht langsamer als ihre Kollegen aus D (Ulbrich 2005:228). Aus der Perspektive deutscher Kontrollhörer überwiegen jedoch die Anzahl der Pausen, die Anzahl betonter Silben, die Realisierung von prosodischen Grenzen mit Grenztonmarkierung oder Dehnung bei Sprechern aus CH und A gegenüber Sprechern aus D (Ulbrich 2005:228f). Der Eindruck, dass Sprecher aus A und CH langsamer sprechen als Sprecher aus D, könnte sich insbesondere durch die häufigere Verwendung von Pausen und durch die unterschiedliche Anzahl betonter Silben ergeben, vermutet Ulbrich (2005:233). Die Unterschiede hinsichtlich Sprechtempo und Pausenlänge hängen zudem von der Textsorte ab (Ulbrich 2005:228). Zur Problematisierung der Messung des Sprechtempos s. Löffler (2004a:177). „Die offensichtlichen Differenzen zwischen der deutschen und der schweizerdeutschen [= schweizerhochdeutschen, RS] Nachrichtensprache beruhen auf einer Gepflogenheit der Schweizer Medien, die Nachrichten in der Schriftsprache und sehr langsam zu sprechen.“ (Löffler 2004a:200)
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
möchte sich auch die vorliegende Studie sehen, welche die Plurizentrik des Deutschen lexikographisch (Kap. 5.1.), textuell (Kap. 5.2.) und in Bezug auf die Einstellungen von Sprecherinnen und Sprechern aus dem ganzen deutschen Sprachraum (Kap. 5.3.) mit empirischen Neuerhebungen diskutiert. Zudem wird in der vorliegenden Arbeit angestrebt, die Aspekte der aktuellen Theorie zur Plurizentrik des Deutschen mit systematischen empirischen Untersuchungen zu verbinden.
5.1. Plurizentrik in Kodices: die lexikographische Demokratisierung der deutschen Standardsprache Nationalflagge, Währung und Sprache folgen den Gesetzen des Handels gleichermassen (Coulmas 1992:42). Die politischen, wirtschaftlichen und sprachlichen Anstrengungen zur nationalen Unabhängigkeit stehen miteinander in Zusammenhang. Besonders gut beobachtbar ist dieser im englischsprachigen Raum (vgl. Coulmas 1992:45). Den Präzedenzfall zeigt die USamerikanische Geschichte. Der legendäre amerikanische Lexikograph Noah Webster (1758–1843) erklärte die sprachliche Unabhängigkeit des Amerikanischen vom Britischen zum selben Zeitpunkt, als eine neue, eigene Währung eingeführt wurde.3 Dies bedeutete natürlich noch lange nicht, dass die als unabhängig erklärte Varietät durch das damals dominierende sprachliche Zentrum als solche anerkannt worden wäre. Noch 1995 stellt Alego (1995:205) in der englischsprachigen Lexikographie ein starkes national bedingtes Ungleichgewicht fest und bewertet die nationale Beschränktheit in Wörterbüchern als Widerspruch angesichts der kommunikativen und kulturellen Verschmelzung zwischen Grossbritannien und den USA. Sichtbar wird diese Beschränktheit z. B. in den Markierungen der Wörterbucheinträge im OED (Oxford English Dictionary) (Alego 1995:206). „…even the best of dictionaries have extensive lacunae in reporting national limitations of usage.“ (Alego 1995:212) Der OED markiert bspw. Amerikanismen, Ka-
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Webster sagte voraus, dass sich das amerikanische Englisch mit der Zeit stark vom britischen Englisch unterscheiden würde – aus seiner Perspektive ein erstrebenswerter Zustand (Romaine 1997:419). Die Verquickung zwischen Sprachplanung und politischen Interessen bei Webster kommentierte Evans folgendermassen: „In a sense he never took off his uniform. He continued to fight the British all his life.“ (Evans 1962:11) Laird sagte über Webster: „He believed in the new American nation; believed that its government, its home life, its religion, its language, and its government were right before God.“ (Laird 1970:277)
5.1. Plurizentrik in Kodices
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nadismen, Neuseelandismen und andere nationale und regionale Varianten, aber keine Britizismen (Alego 1995:208).4 Bei der nationalen Markierung von Lemmata im OED wird das uneingestandene Prinzip verfolgt, dass der Sprachgebrauch von Südostengland der unmarkierten Norm entspricht und als Standardnorm schlechthin gilt (Alego 1995:208). Es muss allerdings eingeräumt werden, dass die fehlende Markierung der eigenen Varianten für alle Wörterbücher gilt, die erkennbar von einem bestimmten Zentrum ausgehen. So markieren auch australische Wörterbücher US-amerikanische und britische, aber keine australischen Varianten.5 Aufgrund der geographischen und kulturellen Nähe der deutschsprachigen Staaten gestaltet sich in diesen die Geschichte der plurizentrischen Lexikographie anders als im englischsprachigen, kolonialgeschichtlich geprägten Raum, der anfänglich hinsichtlich des sprachlichen Prestiges eindeutig vom britischen Englischen als dominierendem Zentrum geprägt war. Für das Deutsche gab es auch zu keinem Zeitpunkt eine zentrale Sprachplanungsautorität wie die Académie Française für das Französische, noch gibt es parlamentarische Beschlüsse in irgendeinem deutschsprachigen Land über bestimmte Standardformen, wie dies in Norwegen der Fall ist. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es auch im deutschen Sprachraum Ansätze zur Sprachplanung gab und gibt. Sie wurde jedoch nie zentral koordiniert.6
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Ferner wird die nationale Beschränkung sichtbar bei der Wahl der Lemmata und in den Bedeutungserläuterungen (Alego 1995:209), bei Angaben zu Aussprache und Orthographie (Alego 1995:210) und in gewissen grammatischen Kategorisierungen und Kollokationen (Alego 1995:211). In Australien gestaltete sich die Herausbildung eines Varietätenbewusstseins erst allmählich und weit weniger dramatisch als in den USA (Clyne 1989:35). Der Macquarie Dictionary (1982) unterschied sich von den anderen so genannt Australischen Wörterbüchern (Oxford, Collins) insofern, als Australiazismen nicht markiert wurden (Clyne 1989:36), wohl aber Britizismen, Amerikanismen, Kanadismen und Neuseelandismen. Anfangs der 1980-er Jahre, ungefähr zu der Zeit, als mit dem Macquarie Dictionary die Eigenkodifizierung des australischen Englisch ein ernstzunehmendes Gewicht bekam, wurde mit einer matched guise-Untersuchung zu Tage gebracht, dass Australier Britisches Englisch immer noch besser bewerteten als Australisches Englisch (das den GP zur Verfügung stehende semantische Differenzial bei der Beurteilung von australischen und britischen Hörproben war: fleissig, angenehm, schön, gebildet, hilfsbereit). Ein im Vergleich zu US-Sprechern geringeres Selbstbewusstsein für die eigene Varietät des Englischen äusserte sich auch darin, dass eine Mehrheit australischer Schulen noch Ende der 1980-er Jahre nicht den landeseigenen Macquarie Dictionary, sondern den englischen Oxford English Dictionary als primäre Referenz benutzten (Clyne 1989:42). Schaut man etwas zurück in der Geschichte der Standardisierung des Deutschen, werden in verschiedenen Aussagen von Zeitzeugen Planungsaktivitäten oder -absichten sichtbar. Scharloth (2005:141) erwähnt den Berliner Lehrer Gruel, der 1776 vorschlägt, Soldaten im Ruhestand in den niederdeutschen Raum zu entsenden, um der dortigen
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
5.1.1. Plurizentrische Lexikographie in Deutschland Zur Forschungsgeschichte der deutschländischen plurizentrischen Lexikographie gehören zunächst Arbeiten zur regionalen Binnenvariation der Standardsprache in Deutschland und Österreich. Nicht dazu gehören der Deutsche Sprachatlas (Wenker et al. 1926–1956) sowie der Deutsche Wortatlas (Mitzka et al. 1951–1980), bei welchen es sich um dialektologische Werke handelt. Mit Einschränkungen ist hingegen Zehetner 2005 [1997] zu nennen, der das Bairische in der Grauzone zwischen Dialekt und Hochsprache erfasst. Nennenswert sind ferner Werke, die die Variation der deutschen Standardsprache im ganzen deutschen Sprachraum (und somit auch die Binnenvariation in Deutschland) vorwiegend aus der bestehenden Lexikographie kompilieren (Seibicke 1972, s. auch Niebaum 1989 und Püschel 1988). In seiner Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache erkannte Kretschmer 1969 [1918] schon früh, dass es oft Dinge des Alltags sind, die regional unterschiedlich benannt werden und deren Verschriftung man nicht in der Literatur findet, sondern in Alltagstexten wie Zeitungen, Inseraten, Geschäftsaufschriften oder Heimatromanen (vgl. Ammon 1995:36f). Kretschmer hatte (gemäss seinem Vorwort) über 200 Gewährsleute im ganzen deutschen Sprachgebiet an der Hand. Für die 2. Auflage liess er das meiste noch einmal auf Änderungen kontrollieren. Amtssprachliches interessierte Kretschmer allerdings nicht. Sein Fokus lag auf dem gesprochenen Standarddeutschen. Die Idiotismen der österreichischen Kanzleisprache (Lehrkanzel für ‚Lehrstuhl, Gefertigter für ‚Unterzeichneter‘ etc.) nahm er aufgrund ihrer Beschränkung durch politische Grenzen nicht auf – aus heutiger plurizentrischer Perspektive wären jedoch gerade solche Beispiele von zentralem Interesse. Ebenfalls als nicht aufnahmewürdig erachtete er Gefühlswörter, da sie angeblich dem Slang angehören (Ammon 1995:39), und nennt dafür das nicht nachvollziehbare Beispielpaar knusperig vs. resch sowie Partikeln und Redewendungen. Einige Jahrzehnte später knüpft Eichhoff (1977–2000) an Kretschmers Material an und stellt die Variation der deutschen Umgangssprache kartographisch dar. Auch er sucht explizit keine
Bevölkerung das Plattdeutsche abzugewöhnen (vgl. Gruel 1776:77). „Gruel“, so Scharloth, „verspricht sich von dieser Massnahme … die Vertikalisierung des Varietätenspektrums und die soziale Stigmatisierung des Plattdeutschen.“ (Scharloth 2005:142) Wezel hingegen sah 1781 den Entwicklungsweg der deutschen Standardsprache über die Büchersprache: „… die Büchersprache ist alsdann durch eine lange Reihe guter Köpfe mehr ausgebildet, geht in alle Gegenden, wo man liest, in den Umgang über und verdrängt bey Leuten von Erziehung und Lebensart den Provinzialdialekt.“ (Wezel 1971/75:252, vgl. Scharloth 2005:163)
5.1. Plurizentrik in Kodices
113
nationalen Varianten, in seinem Material tauchen diese als Nebenprodukte aber dennoch auf (Ammon 1995:41), so z. B. Junge /Bub, Backpfeife /Ohrfeige und Harke /Rechen. Ein interessantes Zeugnis der Forschungsgeschichte zur Plurizentrik bzw. zur binnendeutschen Variation der Standardsprache ist die Anlage A der Handwerksordnung vom Jahr 1965 (Besch 1972). Es handelt sich dabei um ein Verzeichnis der Gewerbe, die als Handwerk betrieben werden können, aus dem Jahr 1953. In diesem Verzeichnis wurden die Handwerksbezeichnungen teilweise in mehreren regionalen Varianten angegeben, z. B. Spengler und Flaschner (kursiv gedruckt) neben Klempner (recte), Kaminkehrer (kursiv) neben Schornsteinfeger (recte) oder Hafner, Häfner (kursiv) neben Töpfer. Bei den primären Bezeichnungen (recte) handelte es sich mehrheitlich um die norddeutschen Varianten. 1965 kam es zu einer Revision des Gesetzes und einer Überarbeitung der Anlage A der Handwerksordnung. Die kursiv gesetzten regionalen Alternativen der Handwerkernamen wurden nun ganz gestrichen. Im Hinblick auf eine plurizentrische Öffnung der lexikalischen Kodifizierung stellt dieses Vorgehen einen Rückschritt dar. Die Änderung rief den Protest von Abgeordneten aus den süddeutschen Regionen hervor, vornehmlich aus Bayern (Besch 1972:994). Sie verlangten die Wiedereinführung der weggefallenen Bezeichnungen. Durch ein Komma getrennt (und nicht in unterschiedlichen typografischen Auszeichnungen) sollen sie gleichberechtigt neben der 1965 festgelegten Bezeichnung stehen. Die Korrektur der Liste wurde für folgende Handwerkernamen verlangt: Strassenbauer, Pflasterer; Schornsteinfeger, Kaminkehrer; Klempner, Spengler; Tischler, Schreiner; Böttcher, Schäffler; Raumausstatter / Polsterer, Dekorateur, Tapezierer; Fleischer, Metzger; Keramiker, Hafner (Besch 1972:995). Dieser Korrekturvorschlag, d. h. die Wiedereinführung der binnendeutschländischen Variantenangaben, wurde 1967 abgelehnt. Die Liste ist bis heute ohne regionale Alternativbezeichnungen gültig (Bundesministerium der Justiz, http://bundesrecht.juris.de/hwo/anlage_a_193.html, aufgesucht am 28.9.2007). Bedeutsam ist dieses Stück Sprachgeschichte, weil es zunächst zeigt, wie die Frage nach der Norm zwangsläufig immer wieder zum Landschaftsstreit führt (Besch 1972:1002). Zwar werden dabei Argumente wie die etymologische Durchsichtigkeit einer Bezeichnung, der Verbreitungsgrad, die semantische Präzision oder historische Tradition ins Feld geführt, wie die Voten der Abgeordneten zeigen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht kann die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Variante als Normbezeichnung jedoch nicht ohne Willkür gefällt werden, was natürlich das Unbehagen derjenigen weckt, für welche die gewählte Bezeichnung keine regionale Geltung hat. Ungewöhnlich ist die Diskussion
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
um Handwerkernamen im Bundestag insofern, als hier ein hohes politisches Organ im deutschen Sprachraum explizite Sprachplanung betreibt. Besch meint dazu: „Höchstamtliche Festlegungen im sprachlichen Sektor sind an sich ungewöhnlich und auch im Rückblick auf frühere Zeiten kaum zu verzeichnen – einmal abgesehen von den Sprachmanipulationen des Dritten Reiches.“ (Besch 1972:1001) Es sei hier an ein anderes seltenes Beispiel für deutschsprachige Sprachplanung durch ein politisches Organ erinnert, an das Protokoll Nr. 10 im Rahmen des EU-Beitritts von Österreich 1995 (s. Kap. 4.2.2. der vorliegenden Studie). Dieses schaffte freilich nicht, wie der Deutsche Bundestag im Falle der Handwerkernamen, regionale Bezeichnungen ab, sondern wies in die entgegengesetzte Richtung. Es legte 23 gastronomische Austriazismen als Alternativbezeichnungen zu bundesdeutschen Ausdrücken im Beitragsvertrag fest. Nicht nur die Lexik, sondern auch die Orthophonie des Deutschen ist auf ihre Binnenvariation in Deutschland bereits untersucht worden. Eine Dokumentation von Ausspracheunterschieden innerhalb Deutschlands liefert König in seinem Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland (1989). Mit grosser empirischer Sorgfalt erhob er die Aussprache von Nicht-Fremdwörtern durch gebildete Sprecher der Bundesrepublik Deutschland (Abschluss des Werks 1985). Es wurden 44 Studenten bzw. Akademiker befragt, deren Herkunftsorte homogen über das ganze Gebiet verteilt sind (König 1989 Bd 1:122). Es wurden u. a. Tonbandaufnahmen umfangreicher vorgelesener Wortlisten ausgewertet. Die Ergebnisse werden kontrastiert mit den Aussprachewörterbüchern Siebs 1969, GWDA (Grosses Wörterbuch der deutschen Aussprache von Krech et al. 1982) und Duden 1974 (König 1989 Bd 1:35). Die geographische, systematisch-distributionelle7 und textsortenbedingte8 Variation des Vokalismus, Konsonantismus und der Nebensilben wird in Tabellen- und Kartenform (Band 2) dargestellt und im Textband (Band 1) ausführlich kommentiert. König interpretiert die vielen Ausspracheunterschiede der Hochsprache einerseits vor dem Hintergrund regionaler dialektaler Eigenheiten, andererseits als Hinweise auf aktuelle Entwicklungen (König 1989 Bd 1:122). Beispielsweise stellt König für die kurzen Lautungen für , und eine stetige Abnahme der neutralen und eine stetige Zunahme der offenen
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Mit der systematisch-distributionellen Variation ist der phonologische Kontext der beobachteten Laute gemeint. Mit der textsortenbedingten Variation sind die unterschiedlichen Produktionssituationen gemeint, ob es sich z. B. um Vorlesesprache oder spontane gesprochene Sprache handelt.
5.1. Plurizentrik in Kodices
115
und überoffenen Lautungen fest (König 1989 Bd 1:52). Klare Nord-SüdDifferenzen ergeben sich für die Realisierungen von kurz /o/ vor (z. B. in Borte oder Korb): der Anteil der überoffenen Realisierungen ist im Norden und in Mitteldeutschland höher als im Süden (König 1989 Bd 2:114). Ein anderes Beispiel für eine klare geographische Verteilung ist die Realisierung von /p/ vor /l/ im Silbenanlaut (z. B. in Pleite oder Platz). Der Anteil der unbehauchten Lautungen ist im Süden viel häufiger als in den übrigen Gebieten der Bundesrepublik (König 1989 Bd 2:252). Sehr komplex und in vielfältigem Kontrast zu den einschlägigen Aussprachewörterbüchern zeigt sich die Realisierung von /r/ in verschiedenen phonologischen Kontexten (König 1989 Bd 1:68–88).9 Zu den bekannten Phänomenen zählt dabei sicherlich, dass die apikale Realisierung von /r/ vor allem im Südosten der Bundesrepublik verbreitet ist (König 1989 Bd 1:70). Die in den vorangehenden Abschnitten referierten Studien betreffen die deutschländische Binnenvariation der Standardsprache. Diese ist zwar Teil des plurizentrischen Beschreibungsansatzes von Standardsprachen, lässt jedoch den wichtigen Status von Nationen als standardsprachliche Zentren unberücksichtigt. Charakteristisch für Deutschland als nationales Zentrum des Standarddeutschen ist der Anspruch seines Sprachkodexes für die ganze deutsche Sprache (vgl. Kap. 4.2.1., Ammon 1995:358).10 Aufgrund ihrer fehlenden Wahrnehmung durch die Sprecher in ihrem eigenen Geltungsareal sind nationale Varianten innerhalb Deutschlands bis anhin nicht auf näheres lexikographisches Interesse gestossen. Schnell wird ihnen, selbst wenn sie auf Norddeutschland beschränkt sind, der gemeindeutsche Status zuerkannt. In Wörterbüchern sind Teutonismen bis vor kurzem nur indirekt
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Weitere Diskrepanzen zwischen den Angaben in Aussprachewörterbüchern und empirischen Beobachtungen beschreibt König 2000. Beispielsweise wird die Vokalqualität des kurzen /a/ in Kodices als hell, diejenige des langen /a:/ als dunkel angegeben (z. B. Raten vs. raten). Empirische Nachweise für diesen Qualitätsunterschied gibt es keine. Wie kann es zu solchen inadäquaten Beschreibungen der Sprachwirklichkeit kommen? „Wer solche Regularitäten im Kopf hat und von ihrer Wirklichkeit überzeugt ist, der sieht diese Regeln überall bestätigt, auch wenn ihm manchmal Gegenbeispiele auffallen, die er aber als marginal und peripher, als Ausnahme abtut.“ (König 2000:93) Das ist bspw. daran ersichtlich, dass das Grimmsche Wörterbuch zwar Arbeitsstellen in Göttingen und Berlin unterhält, jedoch darauf verzichtet, Österreich und die Deutschschweiz in die Arbeiten zum grössten Wörterbuch der deutschen Sprache einzubinden (Welzig 1995:IV). Welzig betrachtet diese Haltung als provinziell und gibt damit einen Vorwurf an Vertreter des dominanten Zentrums der deutschen Sprache zurück, wie er von diesen oft an die Verfechter der nationalen und regionalen Varianten des Deutschen gerichtet wird. Tatsächlich scheint dem Glauben an einen geographisch lokalisierbaren Sitz der Standardsprache ein provinzielles Denken anzuhaften, das stärker ist als der Regionalismus, welcher der Überzeugung zugrunde liegt, dass die deutsche Sprache eigenständige, gleichberechtigte Varietäten aufweist.
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
greifbar gewesen, zunächst als Kontrastvarianten in Sammlungen von Austriazismen (Ebner 1998, dort als binnendeutsch markiert) und Helvetismen (Meyer 1989, dort nach dem Zeichen „//“ in den Wörterbucheinträgen sowie in separater Liste im Anhang). Im DUW werden sie nur verzeichnet, sofern sie innerhalb Deutschlands regional binnendifferenziert sind (mit norddt. oder süddt. markierte Varianten) und nicht gleichzeitig für ein anderes Zentrum gelten. Im ÖWB werden als bundesdeutsch empfundene Wörter mit einem Sternchen markiert, womit nur derjenige Anteil an Teutonismen erfasst wird, der in Österreich teilweise bereits in Gebrauch ist. Eine weitere indirekte Quelle für Teutonismen ist das sechsbändige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Klappenbach et al. 1961–1977). Es listet 1330 Begriffe als DDR-spezifisch und 1271 Begriffe als BRD-spezifisch auf.11 Aus plurizentrischer Perspektive sind nicht die dem politischen System inhärenten Ausdrücke besonders interessant (s. Kap. 4.2.1.), sondern Wörter, die sich auch nach dem Niedergang der DDR im Sprachgebrauch hielten und z. B. in heutigen Ostzeitungen immer noch vorkommen: vorfristig, Territorium, Trabi, Kaufhalle und Kollektiv (letzteres insbes. noch in Komposita) (Stevenson 2002:117), Plastetüte oder Dreiraumwohnung. Frequenzvarianten der DDR, die sich halten konnten, sind: orientieren auf, informieren dass, Zielstellung, Büchse ‚Dose‘ (Clyne 1997:132). Zahlreiche Beispiele finden sich auch im VWB, dort mit D-ost markiert: Datsche, Eierschecke, Feierabendheim, Kanker, Bemme (vgl. Kap. 5.1.4., 5.2.1.). Nur wenige DDR-ismen enthält der so genannte Einheitsduden, die 20. Auflage des Rechtschreibdudens von 1991 (Mannheim: Dudenverlag), der nach der Wiedervereinigung die neuen Bundesländer lexikographisch einverleibte.12
5.1.2. Plurizentrische Lexikographie in Österreich Als eine der ersten grösseren Darstellungen der österreichischen Varietät ist Lewi 1875 zu nennen – wenn man von Idiotismensammlungen des Ostoberdeutschen im 18. Jh., die sich meist auf die gesprochene Sprache beziehen,
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Spätere Schätzungen gehen von 2000–3000 DDR-ismen aus (Stevenson 2002:218). Die Schätzungen schwanken u. a. deshalb, weil nicht in allen Sammlungen auf dieselbe Sprachschicht abgezielt wird. Einerseits geht es um Ausdrücke, die dem politischen System inhärent waren, und andererseits um alltagssprachliche Ausdrücke, die auch nach der Wiedervereinigung ohne ironische Distanz in Verwendung blieben. Für eine weiterführende Diskussion über den Einheitsduden im Hinblick auf die OstVarianten s. Schaeder 1994, Ludwig 1997 und Ludwig 2001.
5.1. Plurizentrik in Kodices
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absieht (Haas 1994).13 Das Lewis Werk zugrunde liegende Konzept geht bereits aus seinem Titel hervor: Das Österreichische Hochdeutsch. Versuch einer Darstellung seiner hervorstechendsten Fehler und fehlerhaften Eigenthümlichkeiten. Es handelt sich gewissermassen um einen Index zu vermeidender Wörter. Einige der darin aufgeführten Ausdrücke haben heute einen unbestritten standardsprachlichen Status in Österreich, so z. B. die Pluralformen Krägen und Pölster oder Adjektive auf -färbig. In Lewis Sammlung werden diese Beispiele allerdings noch als vom Standard abweichend oder schlicht als Fehler beurteilt (Ammon 1995:123). Für den Schulbereich war jedoch in den 1920-er Jahren eine zunehmende Selbstverständlichkeit im Umgang mit Austriazismen zu beobachten. Ammon (1995:125) erwähnt das Wörterbuch für Volksschulen des damaligen Lehrers und Philosophen Ludwig Wittgenstein, das die Austriazismen Karfiol, Marille und Obers ohne Angabe der deutschdeutschen Entsprechungen enthält. In den 1930-er Jahren wird die Stimme Carl F. Hraudas laut, eines militanten Verfechters der kulturellen nationalen Eigenständigkeit Österreichs und des Österreichischen, dessen Polemik sich nicht nur gegen den niederdeutschen Wortschatz, sondern überhaupt gegen die preussische Macht richtet. Die Verbreitung der norddeutschen Aussprachenorm ist in Hraudas Augen Teil einer aggressiven gesamtdeutschen Vereinnahmung. Als Sohn eines Österreichers und einer Engländerin lebte Hrauda als anglikanischer Geistlicher in London (Hrauda 1948:3f). 1938 lag sein Manuskript Die Sprache des Österreichers druckfertig vor, wurde jedoch erst zehn Jahre später veröffentlicht – drei Jahre nach Hraudas Tod im Januar 1945. In diesem Büchlein diffamiert Hrauda das für (Nord-) Deutschland typische Hochdeutsch mit niederdeutscher Aussprache „als ein Monstrum, eine philologische und phonetische Missgeburt“ (Hrauda 1948:12). Er zeichnet das Schreckgespenst der „sprachlichen ‚Angleichung‘ an Deutschland“ (Hrauda 1948:6), gegen die er in seiner Schrift mobilisieren will und die er im Kontext des politischen Anschlusses 1938 als Verrat an der österreichischen Volksseele (Hrauda 1948:20) interpretiert. „Wie ein schleichendes Gift, wie eine ansteckende Krankheit verbreitet sich die fremde Aussprache durch Radio und Sprechfilm, von anderen Mitteln (sprachlicher Einfluss der deutschen Wehrmacht!) gar nicht zu reden, – unter dem ahnungs- und wehrlosen Volk.
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Haas (1994:XIVf, 602–751) enthält eine Reihe von ostoberdeutschen Idiotismenlisten, z. B. Heumann: Österreichische Wörter (1747), Justi: Österreichische Provinzialwörter (1755), Nicolai: Versuch eines östreichischen Idiotikon (1785), Höfer: Volkssprachen in Österreich (1800), Hermann: Provinzialismen aus der Steiermark (1783), Moll: Salzburgisches Idiotikon (1796).
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Sollen wir diese Gefahr auch verschlafen, wie wir die Geschichtsfälschung verschlafen haben?“ (Hrauda 1948:6) „Ist es uns wirklich gleichgültig, wenn einmal unseren Kindern in der Schule diese widerliche, fremde Aussprache beigebracht wird?“ (Hrauda 1948:13) Seine alles Preussische kategorisch abwehrende Haltung tut der wissenschaftlichen Brauchbarkeit von Hraudas Werk natürlich massiven Abbruch. Dies wird z. B. dort ersichtlich, wo Hrauda sprachgeschichtlich dafür zu argumentieren versucht, dass die österreichische Aussprache des Hochdeutschen die eigentlich richtige sei (Hrauda 1948:8) – in zahlreichen Beispielen stellt er norddeutsche Aussprachegewohnheiten als unrein, die österreichischen als rein dar –, oder wo er über die Endsilbenabschwächung (Hrauda 1948:16) oder unterschiedliche Vokalqualitäten bei unterschiedlicher Vokallänge (Hrauda 1948:14) spottet.14 Dabei bekommt auch die englische Sprache in unsachlicher Weise ihr Fett weg. „Es kann … nicht genügend betont werden, dass das ganze niederdeutsche Lautsystem ein anderes, dem Hochdeutschen fremdes ist, das, auf unsere südliche Sprache angewandt, diese ihres Wohllautes beraubt und dem unreinen, dumpfen Klang des Englischen nähert.“ (Hrauda 1948:17) Dennoch ist das Büchlein zumindest als Materialsammlung für die Erforschung des österreichischen Deutschen interessant. Es schliesst mit einer Gegenüberstellung von zu vermeidenden Ausdrücken („preussische Dialekt-, schlechte neudeutsche, richtige hochdeutsche, aber unösterreichische Bildungen“) mit anzuwendenden äquivalenten Ausdrücken („österreichischhochdeutsche Ausdrücke“) (Hrauda 1948:22ff). Viele Wortpaare aus dieser Liste, die zahlreiche gastronomische Begriffe enthält, sind auch heute noch als Teutonismen /Austriazismen identifizierbar (Abendbrot /Nachtmahl, Hackfleisch /Faschiertes), bei einigen handelte es sich aber möglicherweise bereits damals um stilistische, und nicht um regionale Differenzen (kotzen /erbrechen, ausfressen /sich zuschulden kommen lassen, mal /einmal, Morgen! /Guten Morgen!). Um mehr Objektivität bemüht scheint Wollmanns gleichlautendes und ebenfalls 1948 erschienenes (!) Buch, worin er zwischen standardsprachlichen österreichischen und mundartlichen Ausdrücken zu differenzieren versuchte (Ammon 1995:52). Mit dem ÖWB schliesslich wurde 1951 der wichtigste Grundstein für die Endonormierung bzw. Binnenkodifizierung der österreichischen Varietät und somit der Konsolidierung ihrer Eigen-
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„Deswegen kann die ekelhafte unreine Aussprache der Endsilbe -bert in Namen wie Schubert, Albert, u.s.w., wodurch diese Namen etwa wie ‚Schubört‘, ‚Albört‘ u.s.w. klingen, eine Unart der ganz neuesten Zeit, nicht scharf genug gerügt werden: die deutsche Sprache ist nicht eine Art Englisch.“ (Hrauda 1948:16)
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ständigkeit gelegt. Begründer des ÖWB waren Ernst Pacolt, anerkannter Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, und Otto Langbein,15 nationalsozialistisch verfolgter Jude (Ammon 1995:128). Das ÖWB wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht geschaffen und war ursprünglich als Schulbuch geplant. Sein Erfolg ist also auch dadurch zu erklären, dass es im Rahmen der Schulbuchaktion gratis zur Verfügung stand und so eine hohe Auflage erzielen konnte. Als Vollwörterbuch enthält das ÖWB nicht nur Austriazismen, sondern mehrheitlich gemeindeutsche Wörter. Da es sich auf den in Österreich gebräuchlichen Standard bezieht, werden Austriazismen nicht speziell durch eine Markierung ausgewiesen. Wollte man im ÖWB nun Austriazismen auffinden, ginge dies nicht ohne den Abgleich der Ausdrücke in nicht-österreichischen Wörterbüchern. Die Ausdrücke müssen im ÖWB nämlich unmarkiert und in nicht-österreichischen Kodices hingegen markiert sein. Am meisten zu reden gab die 35. Auflage des ÖWB 1979. Sie enthielt 5000 im österreichischen Deutsch verwendete Wörter mehr, die zum grössten Teil umgangssprachlich, mundartlich und gruppenspezifisch waren (Huesmann 1997:195). Dazu gehören z. B. Gass, Goass neben Geiss (Reiffenstein 1983:18). Kritisiert wurde die Auflage nicht nur für ihre Mundartnähe und die dadurch befürchtete Bedrohung für die Standardsprache, sondern auch für ihren Fokus auf wienerisches Wortgut (Clyne 1989a:367) sowie die Willkürlichkeit der Auswahl der zusätzlichen Lemmata. Überdies wurden eine mangelnde innerösterreichische Differenzierung, mangelnde Verweise auf die Mitgültigkeit von Wörtern in Bayern und der Schweiz und insgesamt eine fehlende empirische Basis moniert (Ammon 1995:133). In der 36. Auflage, die 1985 erschien, wurden die Monita berücksichtigt. Umgangssprachliche Ausdrücke und regionale Gültigkeit wurden markiert und zahlreiche mundartliche Ausdrücke entfernt. Bei einigen Wörtern, die als unösterreichisch ausgewiesen waren, die aber in Österreich durchaus verwendet werden, wurde die entsprechende Markierung wieder entfernt. Bei allen Auflagen des ÖWB gab die Art und Weise, wie darin mit Teutonismen umgegangen wurde, viel zu reden. In früheren Auflagen wurden sie mit einem Sternchen markiert. Dieses sollte bedeuten, dass die entsprechenden Wörter zwar als bekannt vorausgesetzt wurden, jedoch als in Österreich nicht heimisch oder wenig gebräuchlich klassiert wurden (Ammon 1995:182). Ammon (1995:195) sieht in dieser Praxis eine puristische Aktivität, die die eigene Varietät von Fremdwörtern und Entlehnungen
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Langbein verbirgt sich hinter dem Pseudonym Dr. Gstrein (Ammon 1995:131).
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freihalten will und sich gegen die dominierende Varietät, das Deutsch in Deutschland, richtet. Ammon schätzt, dass die Sternchenwörter anteilmässig in den verschiedenen Auflagen des ÖWB gleich geblieben sind, auch wenn viele davon ausgetauscht worden sind. Viele davon betreffen gesellschaftlich zentrale sprachliche Domänen (Topfen statt Quark) oder sind, wie Jura statt Jus, amtlich verankert (Ammon 1995:191). Als problematisch sind solche Markierungen m.E. nur dann einzustufen, wenn sie nicht auf empirischen Erkenntnissen fussen, sondern lediglich ideologisch motiviert sind, das heisst, wenn ein nachweisbar häufiger Gebrauch von Teutonismen in Österreich geleugnet wird. Für weitere Ausführungen zur Geschichte des ÖWB s. Winkler 1995, Reiffenstein (1983:18) und besonders Reiffenstein 1995 sowie Wiesinger 1980. Während das ÖWB an österreichischen Schulen gut verankert ist, spielt ausserhalb der Schule der Rechtschreibduden eine gewichtige Rolle, in der Einschätzung Wiesingers (mündliche Mitteilung, zitiert in Ammon 1995:139) möglicherweise sogar eine gewichtigere Rolle als das ÖWB. Das mag weniger ideologisch als vielmehr dadurch begründet sein, dass allein im Rechtschreibduden mehr Stichwörter verzeichnet sind als im ÖWB. Mit dem im Vergleich zu den Binnenkodices grösseren Umfang lässt sich auch die grössere Beliebtheit der Duden-Grammatik in Österreich erklären. Erwähnenswert ist schliesslich, dass es nicht ein österreichischer Verlag, sondern der Dudenverlag war, der die 1998 bereits in dritter Auflage erschienene Austriazismensammlung Wie sagt man in Österreich (erste Auflage 1969, zweite Auflage 1980), erarbeitet vom Österreicher Jakob Ebner, in Auftrag gab. Ebner konnte seine Recherchen u. a. auf die bereits vorliegende Sammlung von Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Österreich und Südtirol16 von Rizzo-Baur 1962 und, für die zweite Auflage, auf die Dissertation Die österreichischen Prägungen im Wortbestand der deutschen Gegenwartssprache von Valta 1974 stützen; er arbeitete ferner ein grosses Korpus an literarischen Quellen ein. Der bis hier referierte Forschungsstand zur lexikographischen Beschreibung der österreichischen Varietät betrifft v.a. lexikalische Varianten. Weniger umfangreich ist die bisherige Forschung zu den Aussprachebesonderheiten. Sie wurden in einer Reihe von Einzelschriften thematisiert (vgl. bereits Hrauda 1948, Lipold 1988, Moosmüller/Dressler 1988, Moosmüller 1991, Bürkle 1995, Stubkjaer 1995). Für die historische Sicht auf die österreichische Aussprache s. Wiesinger 1993. Zu den beobachteten Phänome-
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Zum Deutschen in Südtirol s. auch Riedmann 1972.
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nen gehören z. B. die Fortisierung bzw. Abwesenheit stimmhafter Lenes in unbetonten Silben (Bürkle 1995:240), die Nachsilbe -ig mit Verschlusslaut (Bürkle 1995:240) oder die progressive Nasalassimilation (z. B. Alpen -> Alpm) (Bürkle 1995:241). Polenz nennt u. a. folgende Merkmale österreichischer Standardlautung: vokalische Endsilbenaussprache, weiches Zungenr, nicht zu scharf ausgesprochene Plosiv- und Frikativlaute, musikalischer Satzrhythmus, leicht nasalierte Vokalaussprache (Polenz 1999a:440). Daneben gibt es Phänomene, deren Status als österreichische Besonderheiten umstritten ist. Dazu gehört die regressive Nasalassimilation (z. B. fünf ->fümf) (Moosmüller/Dessler 1988 sind der Meinung, es handle sich hier um einen phonologischen Austriazismus, Bürkle [1995:240] hingegen nicht). Eigentliche Aussprache-Schibboleths für das österreichische Deutsch gibt es gemäss Bürkle (1995:248) nur wenige. Viele Beobachtungen, so z. B. der Verlust der Stimmhaftigkeit bei Konsonanten oder die relativ flachen Diphthonge, sind typisch für den Süden bzw. Südosten des deutschsprachigen Gebiets. Polenz (1999a:440) ist überzeugt, dass die österreichische Standardlautung erst nach längerem Hinhören von der bayrischen unterschieden werden kann. Die österreichische Aussprache erscheine dann als weicher, eleganter, gefälliger (Polenz 1999a:440). Lexikographisch wird die Aussprache des österreichischen Deutschen seit 1956 berücksichtigt, indem einige Aussprachebesonderheiten in Siebs aufgenommen wurden (Ammon 1995:139).17 Einen vergleichenden Überblick über die Aussprachenormen im ganzen deutschen Sprachraum, basierend auf den Angaben in einschlägigen Kodices, liefert Takahashi 1996. Eine neue Studie zu den prosodischen Unterschieden in den deutschen Varietäten legte Ulbrich 2005 vor (vgl. ersten Abschnitt zu Kap. 5. der vorliegenden Studie). In einem eigenständigen Werk wurde die Aussprache des österreichischen Deutschen bislang aber noch nicht beschrieben. Ein Grund für ein fehlendes Aussprachewörterbuch des österreichischen Deutschen dürfte darin liegen, dass es eine schwer zu beschreibende Grösse ist, da es meist in Registermischungen auftritt (Bürkle 1995:237).
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An österreichischen Theatern werden sowohl Siebs als auch das Duden Aussprachewörterbuch zu Rate gezogen (Ammon 1995:139). Im Österreichischen Rundfunk soll neben eigenen kleinen Aussprachekodices auch die mündliche Tradition der am ORF eingespielten Aussprache (Ammon 1995:14) eine wichtige Rolle bei der Beratung der Sprecherinnen und Sprecher spielen. S. zum österreichischen Standard am ORF auch Wächter-Kollpacher 1995.
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5.1.3. Plurizentrische Lexikographie in der Deutschschweiz Wie für Österreich so beginnt auch für die deutschsprachige Schweiz die Geschichte der Aufzeichnung der plurizentrischen Standardvarietät mit der Auflistung lexikalischer Besonderheiten, die meist als Fehler bewertet werden, gegen Ende des 19. Jhs. – wenn man wiederum von den Sammlungen meist gesprochensprachlicher Provinzialwörter des 18. Jhs. absieht.18 Sowohl Austriazismen als auch Helvetismen wurden als dialektale Besonderheiten gewertet und als Peripheriephänomene des als prototypisch aufgefassten, so genannten Binnenstandards gesehen und als solche gesammelt. Zum Beispiel sammelte Hugo Blümner, ein in der Schweiz lebender deutscher Altphilologe, 1892 „Fehler“ im schweizerischen Schriftdeutsch. Gleichzeitig plädierte er aber für die Beibehaltung bestimmter Helvetismen.19 Neben der Auffassung, bei Helvetismen handle es sich um lexikalische Fehler, die unterlassen werden sollen, zeichnete sich nämlich bereits die Phantasie einer Bereicherung des gesamtdeutschen Wortschatzes durch den helvetischen Provinzialwortschatz ab. So schliesst Blümner sein Vorwort zu seinem Büchlein Zum schweizerischen Schriftdeutsch folgendermassen: „Möge man es mir … verzeihen, wenn ich als Nichtschweizer es wage, das vorliegende Büchlein in die Welt zu schicken und darin meinen Landsleuten jenseits des Rheins die Annexion schweizerischen Sprachgutes zu empfehlen. Je mehr sich derartige friedliche Austausche geistiger Güter zwischen hüben und drüben vollziehen, um so mehr werden Schweizer und Reichsdeutsche sich näher treten und ein jeder an seinem Teile beim Nachbar die Stammesverwandtschaft schätzen und lieben, die Stammesverschiedenheiten achten und schonen lernen.“ (Blümner 1892:8, Hervorh. RS) Diese versöhnlichen Töne sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
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Haas (1994:XIV, 540–599) enthält eine Reihe von schweizerisch-alemannischen Idiotismenlisten, z. B. Bodmer: Reste von der Sprache der Alemanen und Franken in ihrem heutigen Gebrauch (1757), Zschokke: Schweizer Idiotismen (1797), Spreng: Ausgefallene Baseler Wörter (1759), Haller: Vergleichung der bernischen Mundart mit der Österreichischen (1786), Lehmann: Versuch eines kleinen Idiotikons des Bündner Deutsch (1797ff). Viele dieser Listen wurden von norddeutschen Reisenden verfasst. „…sieht man näher zu, so bleibt … eine nicht unbeträchtliche Zahl von Sprachfehlern übrig, die als specifisch schweizerisch bezeichnet werden können, wie ja auch das österreichische Schriftdeutsch eine ganze Menge Austriacismen aufweist; aber in sehr vielen Fällen stellt sich heraus, dass keine modernen, durch Missbrauch und Gedankenlosigkeit oder Modethorheit hineingekommenen Neubildungen oder Fehler vorliegen, sondern gute, alte Ausdrücke, die sich das schweizerische Deutsch, das ja im Dialekt noch eine ungemeine Fülle solcher alter Wörter besitzt, länger bewahrt hat, als das so vielfach verflachte und abgeblasste Schriftdeutsch draussen im Reiche. Solch gutes altes Vatererbe aber soll man schützen und verteidigen.“ (Blümner 1892:6)
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Blümner dezidierte, wissenschaftlich aber unhaltbare Normvorstellungen hatte. Seine Entscheidungen für oder gegen die Akzeptanz einzelner Helvetismen im Schweizerhochdeutschen sind willkürlich, so z. B. für allfällig. Blümner meint dazu: „… da man mit etwa und etwaig auskommt, wäre es wohl besser, wenn allfällig auf den Dialekt beschränkt bliebe.“ (Blümner 1892:15, Hervorh. RS) Ein weiteres Bsp. ist à: „Und dann dieser fürchterliche Missbrauch des à! Man könnte es noch ertragen, wo es wenigstens in dem bestimmten Sinne des Stückpreises angewendet ist, z. B. ‚Wiener Sessel à 8 Fr.‘, d. h. das Stück zu 8 Fr.; aber man bleibt dabei nicht stehen, sondern gebraucht à schlechtweg für das deutsche zu, schreibt also: ‚ein Zimmer à 15 Fr.‘; ‚eine kleine Wohnung à 4 Zimmer‘!“ (Blümner 1892:29) Über die schweizerische Verwendung des Phraseologismus es nimmt mich Wunder schreibt Blümner: „Die eigentliche und wohl auch ausschliessliche Bedeutung der Redensart ist: ‚es setzt mich etwas in Verwunderung‘; … Schweizerisch aber bedeutet es: ‚ich bin neugierig‘; z. B.: ‚es nimmt mich Wunder, wie die nächste Wahl ausfallen wird‘; und das ist eine Ausdehnung der Bedeutung, die sicherlich ungerechtfertigt ist.“ (Blümner 1892:54) Ausdruck der Phantasie einer Bereicherung des gesamtdeutschen Wortschatzes durch den helvetischen Provinzialwortschatz war später August Steigers Bemerkung zur Arbeit des Deutschschweizerischen Sprachvereins, der für die 12. Auflage des Rechtschreibdudens 1941 die Helvetismen zusammenstellen sollte (Ammon 1995:234f). 330 Helvetismen fanden Eingang in den Duden (vgl. Fenkse 1973). Steiger meinte, dass so für ein Schweizer Wort die Möglichkeit geschaffen werde, „dass es – in ruhigeren Zeiten wenigstens, wo der geistige Austausch hoffentlich wieder lebhafter wird als heute – in den gemeindeutschen Wortschatz übergeht, wie seinerzeit die Wörter Abbild, anstellig, Heimweh, kernhaft, Machenschaften, staunen, Unbill und andere, aus denen heute niemand mehr einen mundartlichen Klang heraushört, aus der Schweiz gekommen sind. So können wir auch durch den Duden zur Bereicherung des deutschen Wortschatzes beitragen und uns auch auf diesem Wege gebend am deutschen Sprachleben beteiligen.“ (Steiger 1941:65f, Hervorh. RS) Das sprachpflegerische Ziel scheint also nicht etwa die Bewahrung der nationalen lexikalischen Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen gewesen zu sein, sondern die Bereicherung der gesamtdeutschen Standardsprache durch Helvetismen (vgl. Ammon 1995:236).20 Die Idee der Bereicherung des gesamtdeutschen Wortschatzes
20 Der Gedanke, dass eine als minderwertig betrachtete Varietät dennoch den Wortschatz der dominierenden Varietät bereichern kann, scheint bereits in einem Brief des Apothekers Johann Gerhard Reinhard Andreae aus der Schweiz nach Hannover auf: „Aber,
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durch Provinzialismen beobachtet Haas bereits in Zusammenstellungen von Provinzialwörtern des 18. Jhs.: „Wie aber, wenn es Wörter gäbe, die dem alltäglich-gewöhnlichen Register angehörten und die gleichzeitig in allen deutschen Regionen vorkämen? Um mit Dante zu sprechen: Wenn es ‚illustre Idiotismen‘ gäbe? Wäre es nicht denkbar, diese gleichsam im Munde des Volkes verborgenen gemeindeutschen Schätze durch einen gesamtdeutschen Vergleich von Idiotismen an den Tag zu heben, um sie der Gemeinsprache einzuverleiben? Diese Idee scheint für viele Verfasser der Idiotismenlisten der achtziger und neunziger Jahre [des 18. Jhs., RS] der treibende Motor gewesen zu sein.“ (Haas 1996:185)21 Mit Stickelberger (1905, 1911, 1914) beginnt eine Reihe empirischer Untersuchungen, die auf die Entwicklung eines plurinationalen Ansatzes hin schliessen lassen (Ammon 1995:233), auch wenn der Titel seiner Schrift von 1914 eher eine Perspektive auf das Schweizerhochdeutsche als defizitäres Hochdeutsch vermuten liesse: Schweizerhochdeutsch und reines Hochdeutsch. Im Vorwort verweist Stickelberger jedoch auf die Variation des Standarddeutschen im ganzen deutschen Sprachraum und belegt diese mit Beispielen (Stickelberger 1914:1f). Er warnt ausdrücklich vor der Verwendung von norddeutschen Ausdrücken, dies sei „noch törichter“ als die Verwendung von Dialektausdrücken (Stickelberger 1914:102). Er führt dafür die Pluralformen Mädels und Fräuleins an, die abgekürzten Formen mal, runter und was anstatt einmal, herunter und etwas sowie reichlich für sehr (Stickelberger 1914:102). Als eine der ersten systematischen Beschreibungen des Schweizerhochdeutschen auf allen Sprachebenen gilt Maeders Kurze Charakteristik des ‚Schweizerhochdeutschen‘ (1948), welches er allerdings nicht als eigene
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welch eine grausame Mishandlung, mein Herr, unserer deutschen Sprache! Verlieret sie [die Basler Sprache] nicht, so verstümmelt, fast alle Kentlichkeit. Indes hindert dieses nicht, dass man sich in dieser Mundart hier nicht eben so gut unter einander verstehen sollte, als wir bei uns in unserer reineren Sprache … Wir mögen nun über eine Aussprache, wie diese, so viel spotten, als wir wollen, so fehlet es hinwieder den Baselern an Gelegenheiten nicht, auch über die Unsrige nachtheilige Anmerkungen zu machen. … Haben sie doch gar so Wörter, die Uns fehlen, und so bedeutend und ausdrükkend sind, dass wir sie billig von Ihnen annehmen und unsere Sprache damit bereichern sollten. Sich erwaren oder als war beweisen; sich erfolgern; schwerfertig, hartsinnig, starkmüthig, und hundert andere solche Wörter mehr, scheinen mir würdig, dem deutschen Lexico einverleibet zu werden. Was meinen Sie: wenn wir ein Paar Sprachstudirende (nicht vermeintliche Sprachkundige) als Abgeordnete an die, so oft für Sprachbarbaren gescholtene, Schweizer abfertigen, um unsere reine Sprache aus ihrer unfeinen verbessern zu lernen?“ [Hervorh. RS] (Andreae 1763/1776 S. 333–335, vgl. Furrer 2002:86 und Trümpy 1955) Zum Bereicherungsgedanken in Idiotismenlisten des 18. Jhs. bzw. in der Barockzeit s. auch Haas 1994b:348 bzw. Reichmann 1993:304.
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Varietät, sondern als mundartlich gefärbtes Hochdeutsch bezeichnet. Vollständig gelöst von der Sicht auf das Schweizerhochdeutsche als defizitäres Hochdeutsch hatten sich Kaiser 1969/1970 und Meyer 1989, die ihre empirisch basierten Sammlungen der schweizerhochdeutschen Besonderheiten beide im Dudenverlag publizierten. Zwar wurde Kaiser vielfach dafür kritisiert, dass er zu wenig klar zwischen Helvetismen und für Deutschschweizer typischen Fehlern unterschied (Ammon 1995:244). Kaiser kommt aber das Verdienst zu, dass er nicht ausschliesslich die schweizerhochdeutsche Lexik beschrieb, sondern auch morphologische und syntaktische Besonderheiten zusammenstellte. Meyer, der an Kaisers Vorarbeiten anknüpfen konnte, verstand seinen Beitrag als differentielles Wörterbuch (Meyer 1989:14), das „weder eine Propagandaschrift für die Helvetismen“ noch ein „‘Antibarabarus‘ (‚Das ist nicht allgemeines Deutsch, also schlecht!‘)“ sein sollte (Meyer 1989:15). „Wir wollen beschreiben, nicht vorschreiben.“ (Meyer 1989:15) Beschrieben wurde in seinem Wörterbuch auch eine schöne Anzahl von Phraseologismen. Im Anhang befindet sich eine Liste von Teutonismen bzw. bundesdeutschen Ausdrücken, die in den Wörterbuchartikeln selbst als Kontrastvariante erwähnt und mit dem Zeichen // markiert werden. Dies bedeutet, dass sie in der Schweiz „gar nicht üblich“ sind (Meyer 1989:19). 2006 erschien eine Neubearbeitung des Buches (Meyer 2006, mit einem Beitrag von Hans Bickel). Weder bei Kaiser noch bei Meyer kann man von Binnenkodices sprechen. Es handelt sich um Sammlungen von Helvetismen, die die Zwecke eines Vollwörterbuchs nicht erfüllen können und wollen. Als Vollwörterbuch wird in der Schweiz der Duden gut akzeptiert. Er wurde bereits 1902 per Bundesratsbeschluss angenommen (Läubli 2006:116). Diese Grundlage hat die Schweiz, im Gegensatz zu Österreich, nie angefochten, da sich die Deutschschweizer weniger über das Schweizerhochdeutsche als über die Dialekte sprachlich definieren. Als Binnenkodices können sonst allenfalls bestimmte Schulwörterbücher gelten, die allerdings auf den Gebrauch an Schulen beschränkt sind und sonst kaum gekauft wurden bzw. werden (z. B. Bigler22 et al. 1987, Schweizer Schülerduden Rechtschreibung 2006). Sie enthalten nicht mehr Helvetismen als die in Deutschland hergestellten Wörterbücher (vgl. Ammon 1995:246–250, Läubli 2006:121–123). So enthält auch die aktuelle Auflage des Rechtschreibdudens (Duden 2004) gemäss einer Stichprobe mehr Helvetismen als einschlägige schweizerische Schul-
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Für eine Kritik an Bigler et al. 1987 vgl. Läubli 2006:122f.
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wörterbücher (Läubli 2006:119).23 Eine Ausnahme bildet das Wörterbuch für Schweizer Schulen Wortprofi (Greil 2002), für welches die Helvetismen durch Schweizer Autorinnen und Autoren des VWB nach neuesten Erkenntnissen aktualisiert wurden. Im Bereich der Aussprache liegen, ebenso wie im Falle des österreichischen Deutschen (vgl. Kap. 5.1.2. der vorliegenden Studie), für das Schweizerhochdeutsche weniger Untersuchungen vor als in der Lexik. Als vergleichende Untersuchungen seien zunächst Takahashi 1996 für einen Überblick über die Aussprachenormen des Deutschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz und Ulbrich 2005 für prosodische Unterschiede erwähnt. Noch Ende des 19. Jhs. wurde in der Deutschschweiz mehrheitlich die norddeutsche Aussprachenorm als ideale Zielgrösse dargestellt, wie sich z. B. bei Bosshart belegen lässt, der das „Zwitterding … zwischen Dialekt und gutem Deutsch“ (1891:83) aus den Schulen verbannen wollte. Diese Haltung widerspiegelt die oft beschriebene Forderung nach Reinheit sowohl der Mundart als auch der Standardsprache. Im Falle der Aussprache des Standarddeutschen, so Hove (2002:32), bedeutete Reinheit die Anpassung an die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. in Deutschland durchsetzende Norm. In der strikten Trennung der beiden Sprachformen sah man gleichzeitig den einzigen Weg zur Erhaltung der Mundarten, welche man in dieser Zeit als bedroht erachtete (Hove 2002:32, Haas 2000:83). Nur vereinzelt wurde den Schweizern in der Literatur Aussprachebesonderheiten zugestanden. Beispielsweise wies Mörikofer bereits 1838 darauf hin, dass es vorteilhaft sei, dass in der Schweiz zwischen Fortis und Lenis und zwischen einfachem und doppeltem Konsonanten unterschieden wird, und verteidigt das „harte“ /k/ (Mörikofer 1838:23–25, vgl. Hove 2002:33). Dagegen empfand er es als „etwas Ungehöriges, die obersächsische Aussprache der Konsonanten in den Mund des Volkes verpflanzen zu wollen; denn bei der Schwierigkeit, welche das Organ darbietet, klingt Solches nicht nur nicht schön, sondern affektiert und albern.“ (Mörikofer 1838:79, vgl. Hove 2002:33) Ein grosser Teil der Diskussion um die Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz anfangs des 20. Jhs. fand im schulischen Umfeld statt (Hove 2002:34ff). Als einflussreiches Werk erwähnt Hove (2002:34) die Deutsche Sprachschule für Berner von Otto von Greyerz (1900). Diese orientiert sich an der deutschen Bühnenaussprache, lässt aber das stimmhafte , also /z/, oder die spirantisierte Aussprache von weg (Hove 2002:34). 23 Die Einträge werden von der Schweizerischen Duden-Kommission geliefert und für jede Neuauflage überprüft.
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Sehr erfolgreich war auch Stickelbergers Die Aussprache des Hochdeutschen (1911), worin er schreibt: „Wir brauchen in der Aussprache nicht jede schweizerische und selbst jede örtliche Eigenart abzulegen, denn in ihr liegt ein berechtigtes Stück unserer selbst.“ (Stickelberger 1911:5, vgl. Hove 2002:36). Bspw. lässt Stickelberger in Pferd das kurze, offene /e/ zu (Stickelberger 1911:8). Als erster Binnenkodex für die Aussprache des Schweizerhochdeutschen gilt Boesch 1957, der sich in den Augen seiner Kritiker jedoch zu weit von der Siebsschen Norm entfernte. Boeschs Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Eine Wegleitung war kein grosser Erfolg beschieden. Sie konnte aber indirekt eine gewisse Wirkung entfalten, indem sich Schäuffele in seinem Vademecum für Microphonbenützer 1970 teilweise auf Boeschs Wegleitung berief. Boeschs Empfehlungen hatten „die gute Mitte einer Lautung, die eine gesunde sprachliche Bildung verrät, die aber vermeidet, was uns gefühlsmässig wider den Strich geht“ zum Ziel (Boesch 1957:15). Dazu, was dem Schweizer wider den Strich zu gehen scheint, gehört die /r/-Vokalisierung, die Spirantisierung von auslautendem /-ig/ und die /sch/-nahe Realisierung des palatalen /ç/ (Werlen 2000:313).24 Die umfassendste aktuelle Untersuchung zur Aussprache des Schweizerhochdeutschen legt Hove 2002 vor. Sie überprüft die in der bisherigen Forschung beschriebenen phonologischen Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen in einer sorgfältigen empirischen Untersuchung. Einer der markantesten Unterschiede zwischen der deutschländischen und der schweizerischen Aussprache des Hochdeutschen besteht darin, dass die kurzen Hochzungenvokale, die graphemisch als , und wiedergegeben werden, in der Schweiz geschlossener ausgesprochen werden als in Deutschland.25 Der Einfluss des Dialekts zeigt sich deutlich beim Vokal /a/, der verdumpft wird, sowie bei den Diphthongen, vor allem bei den stark variierenden Realisierungen von (Hove 2002:131).26 Im Bereich des Konsonantismus betrachtet Hove (2002:131) die Gemination intervokalischer Konsonanten nach betontem Kurzvokal als eine typische Eigenschaft des
24 Werlen (2000:313) zitiert dazu Schäuffeles (1970) Beispielsatz, der zusammenfassen sollte, welche norddeutschen Elemente in der Schweiz ungern gehört werden: „Ia Sprescha gibt mia nischt wenisch auf die Neawen.“ (Schäuffele 1970:14) 25 Vgl. dazu Königs diachrone Beobachtung, wonach für die kurzen Lautungen für , und eine stetige Abnahme der neutralen und eine stetige Zunahme der offenen und überoffenen Lautungen erfolgt (König 1989 Bd 1:52, Kap. 5.1.1. der vorliegenden Studie). 26 Nicht alle Dialekte wirken sich auf die Standardaussprache gleich aus. Vgl. dazu Siebenhaar 1994.
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Schweizerhochdeutschen: z. B. wird /t/ in Schatten von Schweizer Sprechern länger gehalten als von deutschen Sprechern. Bei der Gemination dürfte es sich um einen echten phonologischen Helvetismus handeln. Für den ganzen süddt. Raum bekannt hingegen ist die grösstenteils stimmlose Aussprache der Lenes /b/, /d/, /g/ und /z/. Neben dem Dialekt, den Aussprachevorbildern in der Mediensprache und aussersprachlichen Einflüssen wie z. B. der Schulbildung der GP ist das Schriftbild ein nicht zu unterschätzender Faktor, der die Aussprache des Schweizerhochdeutschen beeinflusst. Hove (2002:136) nennt als Bsp. für den Einfluss der Schrift auf die Aussprache die tendenziell geschlossene Realisierung des kurzen e-Lauts bei der Schreibweise im Gegensatz zur eher offenen Realisierung bei der Schreibweise mit . „Das Schriftbild ist auch für die Aussprache von intervokalischem mitverantwortlich27 und es spielt bei den Realisierungen von als [x] oder [ç] in Wörtern wie sechs oder Chrom eine Rolle.“ (Hove 2002:136; weitere, allgemeine Beobachtungen zur Aussprache des Schweizerhochdeutschen s. Polenz 1999a:450.) Hove hält fest, dass sich die Vorschläge zur Aussprache der Standardsprache in der Schweiz in den letzten hundert Jahren insgesamt nicht stark verändert haben (Hove 2002:40). „Verändert hat sich hingegen die Einstellung gegenüber regional gefärbter Standardsprache. Während sie zu Beginn des Jahrhunderts als notwendiges Übel geduldet wurde, wird später immer häufiger das Recht auf eine schweizerische Varietät der Standardsprache, die unter anderem gewisse Eigenheiten auf der lautlichen Ebene aufweist, betont.“ Hove (2002:177 und passim) sieht den Grund für diesen Einstellungswandel darin, dass sich für das Schweizerhochdeutsche mittlerweile Aussprachekonventionen herausgebildet haben. „In Bezug auf die Realisierung der Standardsprache besteht innerhalb der Deutschschweiz eine Übereinkunft darüber, welche Varianten angemessen sind und welche nicht.“ (Hove 2002:177) Diese Übereinkunft ist zwar nicht in einem verbindlichen Aussprachekodex festgehalten, sondern „resultiert aus einem psychologischen Prinzip, demzufolge Mitglieder einer Gruppe in ihrem Verhalten zu Konformität neigen.“ (Hove 2002:177) Zu dieser Konformität gehört ein relativ grosser Variationsspielraum selbst bei professionellen Sprechern, wie Hörproben des Schweizer Radio DRS belegen. Das von Hove beschriebene Prinzip gilt wahrscheinlich nicht nur für die Aussprache des Schweizerhochdeutschen, sondern für die Wahl sprachlicher Varianten, wo diese zur Verfügung stehen, im Allgemeinen.28 27 z. B. in gehen 28 Zu den situativen Normen beim sprachlichen Handeln meint Eichinger: „Unser Spre-
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5.1.4. Plurizentrische Lexikographie in Allgemeinen Wörterbüchern Wie wurde und wird die Plurizentrik des Deutschen in allgemeinen Wörterbüchern im Sinne von Vollwörterbüchern des Deutschen dargestellt? Um die Darstellung des regionalen, österreichischen und schweizerischen Wortschatzes bemüht sich der Rechtschreibduden schon früh, nämlich ab 1906. Austriazismen wurden anfänglich als Fussnoten verzeichnet (Ammon 1995:359), lexikalische und grammatische Helvetismen wurden ab 1929 aufgenommen. Erst seit den 1950-er Jahren werden Varianten aus Österreich und der Deutschschweiz direkt mit österr. und schweiz. markiert.29 In Mannheim wurden für die Erhebung von Austriazismen und Helvetismen Duden-Ausschüsse gebildet, in Leipzig bestanden zu DDR-Zeiten Kontakte zu Einzelkorrespondenten (Ammon 1995:360). Der Anteil des berücksichtigten regionalen Wortschatzes nahm in der Folge zu. In der elektronischen Ausgabe des DUW von 1996 sind von gut 130‘000 Stichworteinträgen 1.3% mit schweiz. markiert. 3.1% sind mit schweiz. oder österr. markiert. Mit norddt. oder einer anderen regionalen Markierung markiert sind 0.6% der Stichworteinträge. Nun müsste der Rest gemeindeutsch, das heisst in Deutschland, der Schweiz und in Österreich auch üblich sein. Dies trifft aber in vielen Fällen nachweislich nicht zu (Bsp. Abitur, Tischler). Dennoch werden Teutonismen als solche nicht markiert. Die Nichtmarkierung von nur in Deutschland bzw. weiten Teilen Deutschlands gebräuchlichen Varianten zeigt einen asymmetrischen, monoperspektivischen Umgang mit der standardsprachlichen Variation. Dieser manifestiert sich auch in weiteren einschlägigen Wörterbüchern. Im Vorwort des GWDS (1999, 2000) wird postuliert, es schliesse „alle landschaftlichen und regionalen Varianten, auch die sprachlichen Besonderheiten in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz, und alle Fachund Sondersprachen, insofern sie auf die Allgemeinsprache hinüberwirken, chen und Schreiben, aber auch unsere Wahrnehmung sprachlicher Akte beruht darauf, dass wir gelernt haben, mit sprachlichen Situationen der unterschiedlichsten Art zu Recht zu kommen. So sind wir denn jeweils zu einem sozialsymbolischen Verrechnungsprozess gezwungen. Auf der sprachlichen Ebene heisst dies, dass wir uns an Situationstypen und dazugehörigen Erfahrungen mit Textmustern ausrichten, deren Ausfüllung unsere sprachliche Wahl prägt. In Anbetracht der Vielfältigkeit der gesellschaftlichen Realität, mit der wir uns konfrontiert sehen, und aus dem Grund, dass die Gemeinsamkeit der bis dahin zur Verfügung stehenden kommunikativen Erfahrungen variiert, handelt es sich bei der im sprachlichen Akt intendierten Interaktion zwischen Partnern um einen an sozialen Vermutungen (‚Erwartungserwartungen‘) orientierten Annäherungsprozess.“ (Eichinger 2005:364) 29 1973 wurden sie von Fenske exzerpiert und als separates Bändchen herausgebracht: Schweizerische und österreichische Besonderheiten in deutschen Wörterbüchern.
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ein.“ Dieses Versprechen wird gemäss dem heutigen Forschungsstand bis zu einem gewissen Grad eingelöst, indem das GWDS österreichisches, schweizerisches und regionales Wortgut berücksichtigt. Allerdings findet man im GWDS viele mittlerweile obsolete Varianten, die nicht mehr belegt werden können, z. B. die als Helvetismen angegebenen Wörter aufhirten ‚Heu auf die Alp bringen‘, Ausschwingmaschine ‚Wäscheschleuder‘ oder mindersinnig ‚nicht wohlgesinnt‘ (Bickel/Hofer 2003:252). Dafür sucht man eine ganze Reihe von gut belegbaren Helvetismen im GWDS vergeblich, so z. B. Autoverlad, Fixleintuch, Hypothekarzins, Klassenzusammenkunft, Leerschlag ‚Abstand, der sich beim Maschinenschreiben durch einen Anschlag der Leertaste ergibt‘, Meteo- ‚Wetter(-bericht)-‘ als produktiver Wortbestandteil, Morgenessen, Natel ‚Mobiltelefon‘, Pizzakurier, Schulpflege, Schulkommission, Sendegefäss, Stimmvolk, Teekrug, Thermoskrug, einspuren, lafern ‚schwafeln‘, rollstuhlgängig, sec ‚nüchtern (von Äusserungen)‘ oder kopfvoran.30 Gemäss Bickel/Hofer 2003 dürfte der Grund für veraltete bzw. fehlende Varianten im Falle der Helvetismen darin liegen, dass die berücksichtigten Quellen aus der Schweiz zu wenig aktuell und thematisch zu wenig breit gestreut sind (Bickel/Hofer 2003:246ff). Als weiteres Problem erweisen sich einige Angaben zur Aussprache und Betonung v.a. von Fremdwörtern, bei denen jeweils nur die in Deutschland gebräuchliche Aussprache berücksichtigt wird (Bsp. Saisonnier) (Bickel/Hofer 2003:253). Als elementares Problem der Behandlung von lexikalischen Varianten im GWDS ist gemäss Bickel/Hofer (2003:254f) dasjenige der Bedeutungserläuterung einzustufen: Diese sollte eigentlich möglichst nur mit Wörtern auskommen, die im ganzen deutschsprachigen Gebiet gebräuchlich sind. Nun gibt es aber nicht für jede Variante ein gemeindeutsches Synonym. In vielen Fällen sind alle Varianten eines Wortfeldes spezifisch, und man kann eigentlich keine davon für eine allgemein verständliche Bedeutungserläuterung verwenden. Im GWDS findet man dies im Falle der Helvetismen aber sehr oft vor: Für die Bedeutungserläuterung wird die (oder eine) deutschländische Variante genommen, die die Bedeutung bspw. eines Helvetismus erläutern soll. Bickel/Hofer (2003:254) zeigen dies exemplarisch am Fall Führerschein/Führerausweis, der definiert wird als ‚amtliche Bescheinigung, die jmdn. berechtigt, ein Kraftfahrzeug zu führen‘. Kraftfahrzeug ist nicht gemeindeutsch. Dass Führerschein ein Teutonismus ist, wird nicht vermerkt. Der Helvetismus Führerausweis wird hingegen einfach mit Führerschein erläutert. Wiederum erweist sich die Darstellung der Varietäten
30 Für die hier nicht aufgeführten Bedeutungserläuterungen s. VWB.
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des Deutschen als asymmetrisch. Austriazismen und Helvetismen werden als Sonderfälle markiert (Läubli 2006:120), während der nationalen bzw. regionalen Beschränkung von Teutonismen nicht Rechnung getragen wird. Ein noch stärker auf Norddeutschland zentriertes Bild zeigt das de Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Kempcke 2000). Dort sucht man eine ganze Reihe von im südlichen deutschen Sprachraum gebräuchlichen Wörtern vergeblich, die insgesamt häufiger vorkommen als ihre norddeutschen Varianten (Schmidlin 2003:327f). Man findet jedoch nur die norddeutschen Varianten. Andere Varianten, z. B. die süddeutschen, findet man allenfalls in der Bedeutungserläuterung. Einige Beispiele von vielen sind: die Harke, der Tischler, der Bordstein, der Schornsteinfeger, der Klempner, der Schnürsenkel, der Schuster. Den Rechen findet man nicht, den Schreiner nicht, den Randstein nicht, den Kaminfeger nicht (auch den Rauchfangkehrer nicht), weder den Installateur noch den Spengler, weder den Schuhbändel noch das Schuhband. Sogar den Schuhmacher sucht man vergeblich in Kempcke 2000. Noch deutlicher wird dieser Missstand, wenn man Eichhoffs Wortatlas der Umgangssprache (1977–2000) auf diese Varianten hin konsultiert (s. Abb. 1), der sich zwar auf die gesprochene Alltagssprache bezieht, teilweise aber auch Wörter abdeckt, die mit der Standardsprache zusammenfallen. Daraus geht nämlich hervor, dass bspw. Rechen im deutschen Sprachraum häufiger ist als Harke, Randstein insgesamt häufiger als Bordstein (Eichhoff Band 1, Karte 31), dass sich Klempner und die anderen Varianten für die Bedeutung ‚Handwerker, der Wasserrohre repariert‘ ungefähr die Waage halten (Eichhoff Band 1, Karte 21), dass Tischler und Schreiner insgesamt etwa gleich häufig sind (Eichhoff Band 1, Karte 20) und Metzger häufiger als Fleischer (Eichhoff Band 1, Karte 19). Den DaF-Lernern werden also in Kempcke 2000 für die erwähnten Begriffe die eindeutig selteneren Varianten angegeben. Aufgrund dieser Beispiele traut man den spärlichen, aber immerhin vorhandenen regionalen Markierungen landsch., österr., süddt., schweiz. in diesem Wörterbuch nicht mehr richtig (die Markierung norddt. gibt es in diesem Wörterbuch gar nicht!). Wie Kempcke 2000, so ist auch das monolinguale Langenscheidt Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache (1998) auf DaF-Lernende ausgerichtet (Schmidlin 2003:328). Im Vorwort wird betont, dass das Wörterbuch nicht nur die moderne Standardsprache darstelle, sondern auch den Wortschatz berücksichtige, der für das Verstehen der gesprochenen Alltagssprache, des öffentlichen Sprachgebrauchs und weiterer Textarten erforderlich sei, mit denen Lernende konfrontiert würden. „Dementsprechend werden die wichtigsten Besonderheiten des österreichischen und schweizerischen Sprachgebrauchs berücksichtigt, ebenso Ausdrücke der Verwaltungsspra-
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Abb. 1: Die Verteilung von Harke/Rechen im deutschen Sprachraum nach Eichhoff 1977, Band 1, Karte 13
che, der aktuellen Jugendsprache usw.“ (Langenscheidt Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache 1998, Vorwort). Gegenüber Kempcke 2000 gibt die Darstellung der nationalen und regionalen Varianten in Langenscheidt 1998 ein differenzierteres Bild ab. Nicht nur ist dort der Rechen verzeichnet, markiert mit bes. süddt, österr. und schweiz. Auch die Harke ist mit bes. norddt. markiert. Mit norddt. markiert ist auch der Tischler, wohinge-
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gen der Schreiner als gemeindeutsch angegeben wird. (Zur Erinnerung: In Kempcke 2000 ist der Schreiner gar nicht als Stichwort verzeichnet und der Tischler ist dort unmarkiert.) Fündig wird man auch, wenn man im Langenscheidt Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache den Kaminfeger, den Randstein, den Installateur und den Spengler sucht, mit den jeweiligen regionalen Markierungen. Am Langenscheidt Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache ist also die Diskussion um die deutsche Plurizentrik nicht spurlos vorbeigegangen. Hinsichtlich der überprüften Stichwörter zu überarbeiten wäre allerdings der Status von Fleischer, Klempner, Schornsteinfeger und Schnürsenkel, um nur einige Beispiele zu nennen. Laut Langenscheidt sind sie gemeindeutsch, was Eichhoff (1977–2000), aber auch dem VWB widerspricht. Stiefmütterlich wird schliesslich teilweise die Region Süddeutschland behandelt. Bei einigen Varianten wird zwar angegeben, dass sie in Österreich und der Schweiz gelten, das Geltungsareal Süddeutschland wird aber unterschlagen, so bei Randstein und Kaminfeger. Die Markierung österr. ist zudem unterdifferenziert. Der Metzger wird bspw. für ganz Österreich angegeben, ist aber in A-ost eher ungebräuchlich (vgl. Eichhoff Band 1, Karte 19).31 Trotz zunehmender Berücksichtigung der standardsprachlichen Variation in allgemeinen Wörterbüchern bleibt ihre Darstellung in allgemeinen Wörterbüchern, wie in den vorangehenden Abschnitten gezeigt, asymmetrisch. Das Süddeutsche, Schweizerische, Österreichische ist stets das andere, das, was gesehen wird, der Blick selber, die urteilende Instanz, ist tendenziell (nord)deutsch. Die Darstellung von nur in Deutschland üblichen Varianten fehlt. Diese werden in den gängigen Wörterbüchern in vielen Fällen traditionsgemäss als Normalformen, die angeblich im ganzen deutschen Sprachgebiet gelten, behandelt.32 Werden solche Formen empirisch auf ihre
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Zur Problematik der Kennzeichnung regionaler Varianten s. auch Besch 2003b. Er kritisiert, dass der gesamtoberdeutsche Zusammenhang durch die Markierungen österr. und schweiz. verwischt werde (Besch 2003b:213) und dass die arealen Bezeichnungen verschiedenen Kategorien (z. B. dialektologisch, geographisch) angehören (Besch 2003b:214). Die regionale Einseitigkeit in der Lexikographie ist natürlich mit wirtschaftlichen Überlegungen in Zusammenhang zu bringen. Dazu Peter von Polenz, dessen Votum (an einer Podiumsdiskussion an der Internationalen Deutschlehrertagung in Bern im August 1986) den neuen deutschländischen Gegebenheiten nach der Wende angepasst werden müsste: „Die Verlage – ich denke jetzt zum Beispiel natürlich hauptsächlich an den Mannheimer Duden-Verlag – sind aus geschäftlichem Interesse an monozentrischer Struktur interessiert, und das ist ja auch das Problem, dass im Mannheimer Duden die westdeutschen Varianten fast nie als westdeutsche, als Bundesrepublik-Wortgebrauch gekennzeichnet werden. Und die wollen das auch nicht, sie haben ja wenig Interesse daran. Ich glaube, dass das bei Lehrbuchverlagen auch so ist. … hier wird die Kontro-
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nationale und regionale Vorkommenshäufigkeit überprüft, wird man schnell eines Besseren belehrt. Dennoch gibt es dafür, dass es auch in Deutschland – und nicht nur in Norddeutschland – Varianten der Standardsprache gibt, die beispielsweise in der Schweiz und in Österreich nicht gebräuchlich sind, vor allem in Deutschland im Allgemeinen noch relativ wenig Bewusstsein. Die nationale Variation wird oft mit der regionalen Variation verwechselt, verbunden mit der falschen Annahme, sprachliche Variation der Standardsprache existiere nur in der gesprochenen Sprache und sei dasselbe wie dialektale Variation (Ammon et al. 2001:13).
5.1.5. Das Variantenwörterbuch des Deutschen (VWB) Das VWB ist das erste Wörterbuch, das die Konzeption einer plurizentrischen Standardsprache (Clyne 1992c, Ammon 1995) lexikographisch konsequent und symmetrisch umsetzt. Es enthält Wörter und Wendungen des Standarddeutschen, die national oder regional variieren, sowie deren gemeindeutsche Entsprechungen. Es entstand 1997–2003 im Rahmen des Forschungsprojekts Wörterbuch der nationalen und regionalen Varianten der deutschen Standardsprache mit Forschungsteams in Duisburg, Innsbruck und Basel.33 Mit 11800 Artikeln erfasst und dokumentiert es die wichtigsten nationalen und regionalen standardsprachlichen Varianten des Standarddeutschen (vgl. dazu VWB:XI-LXXV, Ammon 1997, Ammon et al. 2001, Bickel/Schmidlin 2004, Hofer 1999). Für die Erhebung des areal, d. h. national und regional variierenden Wortschatzes wurde auf eine Reihe empirischer Methoden zurückgegriffen. Dabei wurden nicht nur bestehende Sammlungen nationaler Varianten (z. B. Meyer 1989 und Ebner 1998) sowie aktuelle Wörterbücher mit ihren regionalen Markierungen ausgewertet.34 Für die Ermittlung der Nennformen verse weiterhin bleiben zwischen denen, die Variation und Information über Variation für gut halten, und denjenigen, die aus geschäftlichem Interesse an einer einheitlichen Norm interessiert sind.“ (Polenz 1986:68) 33 Die Projektleitung war bei Ulrich Ammon, Hans Bickel, Jakob Ebner (dem Autor von Wie sagt man in Österreich 1998, 2009), Heinrich Löffler, Hans Moser und Robert Schläpfer†. Wissenschaftliche Mitarbeiter in der Schweiz waren Hans Bickel, Markus Gasser, Lorenz Hofer und Regula Schmidlin, Universität Basel. Wissenschaftliche Mitarbeiter in Deutschland waren Michael Schlossmacher und Birte Kellermeier-Rehbein, Universität Duisburg. Wissenschaftliche Mitarbeiter in Österreich waren Doris Mangott, Günter Vallaster, Ruth Esterhammer, Universität Innsbruck. 34 Von den 11801 Artikeln des VWB sind 1823 in Meyer 1989, 1942 in Ebner 1998 und 2036 im DUW bereits als Varianten verzeichnet. Es handelt sich bei den Einträgen im VWB also überwiegend um neu erhobene Varianten des Standarddeutschen. Darunter
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von Phraseologismen (Redewendungen und Kollokationen), ihren Varianten sowie typischen und häufigen Verwendungsweisen sehr hilfreich waren elektronische Archive und Korpora wie COSMAS (Corpus Storage, Maintenance and Access System des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim). Um einem deskriptiven Ansatz für die Beschreibung der aktuellen deutschen Standardsprache gerecht zu werden, wurde ein umfangreiches Korpus von Texten erstellt und exzerpiert. In einer ersten Projektphase wurden über 2000 Tageszeitungen, Zeitschriften, amtliche Schriften, Romane, Erzählungen, öffentliche Reden und Gespräche sowie Fachmonographien auf nationale und regionale Variation hin gelesen und markiert. Das Korpus wurde zwischen Österreich, der Schweiz und Deutschland im Kreis herum verschickt und bearbeitet, d. h. von den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften gelesen, die nach einem zuvor erarbeiteten Beurteilungsraster areal variierende Wörter und Wendungen markierten. Allfällige nationale Varianten wurden so durch Sprecher der jeweils anderen Zentren, also aus der Fremdperspektive, identifiziert (zur Methode s. ausführlicher Kap. 5.2.1.). Aus den ermittelten Varianten entstand eine über 340‘000 Belege umfassende Belegdatenbank. Sie diente als Basis für die Wörterbuchartikel. Im Vordergrund der Forschung standen sowohl die Präzisierung von regionalen Markierungen bereits kodifizierter als auch die Ermittlung von noch unkodifizierten nationalen Varianten. Von zentraler Wichtigkeit für die Lemmaselektion war die Ermittlung der Vorkommensfrequenz der Varianten. Die bestehenden sowie neu erhobenen arealen Markierungen wurden mit aktuellen, breit abgestützten empirischen Analysen überprüft. Diese wurden in vielen Fällen regional (z. B. mit D-nord, D-westmittel, D-süd) subdifferenziert. Deutschland wurde in sechs Zonen eingeteilt, nämlich D-Nordwest, D-Nordost, D-Mittelwest, D-Mittelost, D-Südwest und D-südost (VWB:XLIII), Österreich in vier, nämlich West, Mitte, Ost und Südost (VWB:XXXIV). Auf die Unterteilung der Deutschschweiz in Regionen wurde verzichtet, da das Schweizerhochdeutsche im Gegensatz zu den ös-
sind zahlreiche Wörter, die in Wörterbüchern zwar verzeichnet, aber nicht als Varianten ausgezeichnet sind. Beispiele für bislang nicht lexikographierte, d. h. als solch markierte Teutonismen sind Abitur, Betriebswirt, bezuschussen, dicke (Adverb), Eisdiele, Fachwerkhaus, Geldbeutel, Grünkohl, in Höhe von, Käsekuchen, Kinderroller, Kindertagesstätte, Klassenfahrt, Krankengymnast, kross, Lutscher, Muckefuck, Oma, Pantolette, Pinkel, Puste, Sachpreis, Schnäppchen, Schnäppchenpreis, Sperling, Trauerfall, Vorfahrt, Zeitarbeit. Beispiele für bislang nicht lexikographierte Austriazismen sind Ambulanzgebühr, Arbeitsmarktservice, Beginnzeit, Gleitpension, Husch-Pfusch, Karenzgeld. Beispiele für bislang nicht lexikographierte Helvetismen sind Bundesbeschluss, Carrosserie, Communiqué, Ende Jahr, Gastrobetrieb, Medienmitteilung, Papiersammlung, Pneuhaus. Für die Bedeutungserläuterungen dieser Varianten s. VWB.
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terreichischen und deutschen Standardvarietäten weitgehend als einheitlich betrachtet werden kann. Bei der Erarbeitung des VWB wurden erstmals die Möglichkeiten des Internets systematisch in die Arbeit miteinbezogen (Bickel/Schmidlin 2004:108f, Bickel 2000). Das Internet wurde eingesetzt für die Eruierung und Beurteilung von nationalen Varianten, für die semantische Überprüfung der Lemmata anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Belegstellen, für die Gewinnung aussagekräftiger Belegstellen und für die Arbeit an der gemeinsamen Wörterbuch-Datenbank der drei beteiligten Forschungsteams. Von zentraler Wichtigkeit war dabei die Möglichkeit, die österreichischen, schweizerischen und deutschen Seiten anhand ihrer Adressen (.at, .ch, .de) separat abzusuchen. Damit kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass der Verfasser eines Textes aus einem anderen Teil des deutschen Sprachraums stammt als die Website selber. Im Verhältnis zu den abgesuchten Textmengen dürfte dieser Fall allerdings nicht stark ins Gewicht fallen. Für weitere Überlegungen zum Einsatz des WWW für die Erhebung plurizentrischer Varianten verweise ich auf Farø 2004 und 2005.
5.1.5.1. Aufnahmekriterien für Varianten im VWB Im VWB werden ausschliesslich Wörter und Wendungen verzeichnet, die nationale oder regionale Besonderheiten aufweisen (z. B. Ziegenpeter, das in Nord- und Mitteldeutschland vorkommt), sowie, soweit vorhanden, ihre gemeindeutschen Entsprechungen (im Falle von Ziegenpeter ist dies ‚Mumps‘) als Bedeutungserläuterungen und Verweise (Bickel/Schmidlin 2004:112). Es handelt sich bei diesem Wörterbuch also nicht um ein Vollwörterbuch. Gemeindeutsche Wörter wie Baum, Frau, Mann werden darin nicht verzeichnet. Dargestellt wird nur der Wortschatz, der regionalspezifisch und nationalspezifisch vom Gemeindeutschen abweicht, und zwar nicht nur in Österreich und der Schweiz, sondern auch in Deutschland sowie den so genannten Halbzentren Luxemburg, Liechtenstein, Ostbelgien und Südtirol. Infolge der Umbruchsituation der 1990-er Jahre sind die bis heute echt verbleibenden DDR-ismen im VWB wohl zu kurz gekommen. Für die Aufnahme der Stichwörter ist im Einzelnen ausschlaggebend, ob regionale oder nationale Unterschiede in einer der folgenden Hinsichten vorliegen (Bickel/ Schmidlin 2004:113): – in der Form, d. h. in der Schreibung (z. B. Portmonee /Portemonnaie) oder im Vorkommen des ganzen Wortes (z. B. Velo, parkieren, Fasching, Sonnabend, Marille ‚Aprikose‘, Paradeiser ‚Tomate‘);
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in der Bedeutung, z. B. Estrich, das in A und D ‚Fussboden‘ bedeutet, in der Schweiz dagegen den unbeheizten Dachraum bezeichnet; in der Verwendung in bestimmten Situationen (Pragmatik), z. B. die Partikel halt, die in den deutschsprachigen Zentren unterschiedlich gebraucht wird; nach Sprach-, Stil- oder Altersschicht, z. B. lugen, das in A-west und D-süd standardsprachlich, in CH mundartlich ist; nach Verwendungshäufigkeit (Frequenz), z. B. die Konjunktion obschon, die in A und D selten und gehoben verwendet wird, in der Schweiz aber keine Markierung trägt (vgl. VWB:XI).
Wörter und Wendungen, die sich sprachlich auf mindestens einer dieser Ebenen unterscheiden, bilden die im Wörterbuch verzeichneten spezifischen und unspezifischen Varianten. Unter spezifischen Varianten werden Wörter und Wendungen verstanden, die in ihrer Verwendung auf eine Nation beschränkt sind35, während unspezifische Varianten auch andernorts vorkommen, aber dennoch nicht gemeindeutsch, also nicht im ganzen deutschen Sprachgebiet gebräuchlich sind.36 Aus Darstellungsgründen werden aus den Halbzentren Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol im VWB nur die spezifischen Varianten berücksichtigt; bei den unspezifischen Varianten müssten sonst die Geltungsareale der Halbzentren stets wiederholt werden – bspw. gelten die meisten Helvetismen auch in Liechtenstein –, wodurch der Umfang der Artikel unnötig ausgedehnt würde. Bei den spezifischen lexikalischen Varianten handelt es sich in vielen Fällen gleichzeitig um Bezeichnungen nationaler und regionaler Sachspezifika und Institutionen. Dazu gehören auch gewisse Abkürzungen und Kurzwörter.37 Dialektwörter, die teilweise morphologisch als solche erkennbar sind, werden nur dann aufgenommen, wenn sie häufig und unmarkiert in Standardtexten vorkommen, also nicht zwischen Anführungszeichen stehen oder metasprachlich kommentiert werden. Sie werden mit Grenzfall des Standards markiert.38 Nicht berücksichtigt werden fachsprachliche Wörter
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Bsp. Marille, Maturant, nachtmahlen, paprizieren, Erdapfel, Buderl, Sponsion in A, knorzen, Maturand, Morgenessen, Natel, Traktandum, verganden, ringhörig oder Velo in CH und Kai, Abitur, Tacker, Tresen, petzen, bevorrechtigt oder Beitreibung in D. 36 Bsp. Autolenker, Abgeltung, Teuerung in A und CH, Eisbecher, Ortskern, Schlafanzug in A und D, sowie Polizeiposten, Aprikose, Quark, Werkhof in CH und D. 37 Bsp. Kanti ‚Kantonsschule‘, EFH ‚Einfamilienhaus‘, Halbtax ‚Halbtaxabonnement‘, Nati ‚Nationalmannschaft‘, ÖBB ‘Österreichische Bundesbahn‘, TÜV ‚Technischer Überwachungsverein‘. 38 Bsp. vergeigen CH D, anläuten A-west CH, Töff CH, Tanke D, Buderl A, Zmorge CH, moin D-nordwest.
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und Wendungen, soweit sie nicht in den Allgemeinwortschatz gedrungen sind, veraltete Wörter und Wendungen (auch der ehemaligen DDR, soweit sie heute ausser Gebrauch sind)39, ad-hoc-Bildungen und individualsprachliche Besonderheiten, die nicht zum festen Bestand der Sprache gehören, sowie drei- und mehrgliedrige Zusammensetzungen, sofern sie nicht ausgesprochen häufig gebraucht werden (Bickel/Schmidlin 2004:114). Systematische Aussprache- und Schreibungsunterschiede werden grösstenteils summarisch beschrieben (VWB:LIff).
5.1.5.2. Aufbau der Artikel im VWB Das VWB ist glattalphabetisch angeordnet und semasiologisch aufgebaut. Es ermöglicht somit Bedeutungsfragen (z. B. Was heisst Kasten?),40 erlaubt aber auch eine onomasiologische Blickrichtung, z. B. die Frage, wie das Möbelstück in den verschiedenen Regionen heisst, worin Kleider aufbewahrt werden (in Österreich Kasten oder Schrank). Dieser vergleichende plurizentrische Ansatz stellt neue Anforderungen an die lexikographische Mikrostruktur (Schmidlin/Hofer 2003, Ammon et al. 2001, Schmidlin 2003). Folgendes Beispiel soll die neuartige Verweisstruktur – hier für den Fall eines substantivischen Primärartikels – illustrieren. Vortritt CH der; -s, ohne Plur.: ↑VORRANG A Dsüdost, ↑VORFAHRT D ‘Recht, an einer Kreuzung oder Einmündung vor einem anderen herankommenden Fahrzeug durchzufahren’ (in Verbindung mit den Verben achten, beachten, gewähren, lassen, missachten): Bald schon fluchte er leise … über den zunehmenden Privatverkehr, über die rücksichtslosen Automobilisten, die ihm den Vortritt nicht liessen (Geiser, von Guntens Traum 263); *kein Vortritt: ↑NACHRANG A ‘Pflicht, an einer Kreuzung oder Einmündung ein anderes herankommendes Fahrzeug durchfahren zu lassen’: Dabei missachtete sie [die Autofahrerin] das Signal «Kein Vortritt», und das Auto kollidierte mit dem Motorrad (NZZ 15.3.2002, Internet) – Die Bedeutung ‘aus Höflichkeit gewährte Gelegenheit, voranzugehen’ ist gemeindt. – Dazu: ↑Kreisvortritt, ↑Rechtsvortritt, ↑vortrittsberechtigt, Vortrittsrecht, Vortrittsregel, Vortrittssignal
Abb. 2: Beispiel eines Artikels aus dem VWB
39 Bsp. Jugendweihe, Wohnraumlenkung, SED, Staatsrat. 40 In A bedeutet das Wort ‚Schrank‘ und ‚grosse Kiste‘, in D nur ‚grosse Kiste‘.
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Zunächst steht das Stichwort mit Betonungsangabe (Unterstrich) und Angabe des Geltungsareals (CH). Zusätzlich zu den nationalen Markierungen A (Österreich), CH (Schweiz), D (Deutschland), BELG (Ostbelgien), LIE (Liechtenstein), LUX (Luxemburg) und STIR (Südtirol) können regionale Spezifizierungen der jeweiligen Nationenangabe mit Bindestrich angehängt werden (z. B. A-west oder A-west CH D-süd). Solche Spezifizierungen sind auch kombinierbar, z. B. D-nord/mittel. Spezifische Ortsangaben (Toponyme) können in runden Klammern hinzugefügt werden, z. B. D (Berlin). Nach den grammatikalisch-morphologischen Angaben sind Angaben zu Etymologie und Stilebene möglich, im hier zitierten Beispiel folgen direkt die Verweise auf die Varianten der anderen Zentren mit senkrechtem Pfeil, unter denen an entsprechender Stelle des Alphabets ebenfalls ein Artikel steht (Vorrang, Vorfahrt). Nach der Bedeutungserläuterung mit Zusatzangaben zur Verwendung des Wortes (in runden Klammern) werden die Belegstelle und deren Quelle angegeben. Im nächsten Feld werden mit Stern markierte feste Fügungen aufgeführt, die das Stichwort enthalten (*kein Vortritt), wiederum mit Verweis auf Varianten der anderen Zentren, Bedeutungserläuterung, Beleg und Quellenangabe. Im Kommentarfeld, das für verschiedene Zusatzangaben verwendet werden kann, wird hier auf die gemeindeutsche Verwendung der Variante hingewiesen. Am Schluss folgen zum Lemma gehörige Ableitungen und Komposita, die, sofern ihnen ein Pfeil vorangestellt ist, auf einen selbstständigen Artikel verweisen. Ist die areale Verbreitung eines Wortes nicht bei all seinen Bedeutungen gleich, stehen die Angaben bei den einzelnen Bedeutungen, die durch Ziffern voneinander getrennt werden (s. Abb. 3). Entsprechend werden Kom-
pecken A D-südost sw.V./hat: 1. ‘mit dem Schnabel hacken (von Vögeln); picken’: Dahinter könnte sich ein Wurm oder ähnliches Futter verbergen. Also hämmert der Specht los. Oder er will – so die zweite Möglichkeit – mit seinem rhythmischen Pecken Weibchen anlocken (OÖN 21.8.2000, Internet; A). 2. *Eier pecken ‘Ostereier aneinander stoßen’ /ein Osterbrauch/: Im Übrigen zählt beim mittäglichen Eierpecken vor dem Osterschmaus ohnehin nur noch das Gesetz des Stärkeren, das heißt der härtesten Schale! (Land Salzburg, 2000, Internet; A). 3. (salopp) ‘(verbal) aggressiv sein, unfreundliche Kritik üben, auf jmdn. herumhacken’: Wenn der Satte nicht will, dann igelt er sich in seinem Volkskultur-Nest ein, aus dem heraus er auf den Fremden peckt, der sich ihm zu nähern wagt (OÖN 6.10.1993, Internet; A) – Zu 1.: zerpecken
Abb. 3: Beispiel eines Artikels mit mehreren Bedeutungsziffern aus dem VWB
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mentare, Ableitungen und Komposita nach Bedeutungen getrennt, wenn sie nicht für alle Bedeutungen gelten. Die in Abb. 2 und 3 dargestellten Beispiele werden von den Bearbeitern des VWB Primärartikel genannt. Dies ist der häufigste Artikeltyp des VWB. Primärartikel enthalten Wörter, die als gesamte Wortform oder in einer ihrer Bedeutungen nicht im ganzen deutschen Sprachgebiet gebräuchlich sind. Am häufigsten sind Substantiv-Primärartikel. Sie machen im VWB über 60% der Wörterbuchartikel aus. Dieser hohe Anteil an Substantiven im VWB entspricht der Erkenntnis von Langenmayr (1995:37f), der anhand von Wörterbuchanalysen verschiedener Sprachen zum Ergebnis kommt, dass Substantive, neben Adverbien, generell mehr Synonyme aufweisen als Verben. Allerdings dürfte ein hoher Synonymanteil bei Substantiven nicht der einzige Grund sein für den hohen Substantivanteil im VWB. Dieser ist auch in allgemeinen Wörterbüchern hoch.41 Im GWDS (elektronische Fassung) sind über 77% der Wörterbucheinträge Substantive. Wie viele davon Synonyme sind, lässt sich ohne genaue Erhebung nicht sagen. Reglement das; -s, -s/-e [ A D CH]: wird in A und D mit französischer Lautung, in CH mit deutscher Lautung gesprochen. Der Plural lautet in A und D auf -s, in CH auf -e. Reglement ist in D bildungssprachlich, in A v.a. im Sport gebräuchlich, in CH dagegen alltagssprachlich. Das gilt auch für die Zus.: Der Erfolg unserer Serien und der mehr oder weniger reibungslose Ablauf im Vorjahr haben gezeigt, dass sich unsere Reglements gut bewährt haben (Max Challenge Club 2.4.2003, Internet; A); Aber Reglemente und Verbote machen die Welt nicht leiser (Frauchiger, Menschen 14; CH); Der Verein richtet sich streng nach den Reglements des Mutterverbandes in den Vereinigten Staaten (WAZ 7.8.2001, Internet; D) – Vgl. –reglement
Abb. 4: Beispiel eines Differenzartikels aus dem VWB
41
Wenn hier von Wortartenanteilen in Wörterbüchern die Rede ist, bewegen wir uns auf der Seite der Langue. Dass auf der Seite der Parole die Verteilung von Wortarten textsortenabhängig ist, versteht sich von selbst. Sie kann stark von den Richtwerten für Wortarten in Texten von Ortmann 1975–1979 (Substantive 46%, Verben 19.3%, Adjektive 22.6%, Präpositionen und Konjunktionen 2.5%) abweichen. In der gesprochenen Sprache haben z. B. die Funktionswörter, worunter die Präpositionen und Konjunktionen fallen, eine viel grössere Bedeutung. Nach den Erhebungen Ruoffs (1990) betragen die Funktionswörter in der gesprochenen Sprache 40%, die Substantive 10.8%, die Verben 21.1% und die Adjektive 2.8%. Zu den Wortartenanteilen in der Mediensprache vgl. Löffler 1988, Braun 1993.
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Lexikographisch innovativ in ihrer Darstellungsform sind im VWB die Differenzartikel. Sie betreffen gemeindeutsche Wörter, die nationale oder regionale Unterschiede in Grammatik (Genus, Flexion, Rektion) oder Pragmatik zeigen. In Abb. 4 ist ein ausführliches Beispiel eines Differenzartikels dargestellt. Einen weiteren Artikeltyp im VWB stellen die so genannten Siehe-Artikel dar. Sie betreffen Zweitformen, die in einem Artikel im Kommentarteil oder bei einem Doppellemma an zweiter Stelle stehen können, z. B. Reinemachfrau siehe Reinemachefrau
Wichtig für die Realisierung des plurizentrischen Ansatzes sind die Verweisartikel, die das Auffinden sämtlicher Varianten von der gemeindeutschen Entsprechung aus ermöglichen. Beim Verweisartikel ist das Stichwort jeweils ein gemeindeutsches Wort, das im gesamten deutschen Sprachgebiet gebräuchlich ist, von dem auf die nationalen und regionalen Varianten verwiesen wird, z. B. reibungslos (gemeindt.): ↑KLAGLOS
Schliesslich sei noch auf drei Beispiele von Artikelsonderformen im VWB verwiesen.42 Dazu gehören Namenartikel, die regional typische Personennamen oder geographische Namen enthalten (Abb. 5), Wortbestandteilsartikel, die ein regionalspezifisches Grundwort in Zusammensetzungen erklären (Abb. 6), und Abkürzungsartikel (Abb. 7). Romed A-west (Tir.): : männl. Vorname: Es ist einer der aufregendsten Tage im Leben des Thaurer Pensionisten und Hobby-Weinbauern Romed I., der Ende April erstmals seinen eigenen Wein in Flaschen ziehen konnte – insgesamt rund 500 Liter (Kurier 5.5.1992, 19) – Die Kurzform lautet Medi
Abb. 5: Beispiel eines Namenartikels aus dem VWB
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Für weitere Artikelformen und ihre Erklärungen verweise ich auf die Innenseite der Buchdeckel des VWB (bzw. auf das Einlageblatt in der broschierten Ausgabe des VWB).
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
-trupp A D der; -s, -s (produktives Grundwort in Zus.): ↑-EQUIPE CH, ↑-KOLONNE D ‘Gruppe von Leuten mit gemeinsamem Auftrag; -truppe’, z.B. Bautrupp, Bergungstrupp, Putztrupp: Einige Monate verdingte er sich als Mädchen für alles bei verschiedenen Bautrupps, dann war er neun Monate versorgt (Rudle, Sex Orange 68; A); Unzählige Putztrupps sorgen nicht nur in den Gebäuden, sondern auch auf Straßen und in den Verkehrsmitteln für peinlichste Sauberkeit (Ganze Woche 4.2.1998, 78; A); Ein Personenzug fährt auf der Strecke DortmundFrankfurt in einen Bautrupp – 6 Tote (WAZ 7.7.1997, Internet; D); Dazu muss ein Bergungstrupp erst zu ihr vordringen, ohne dass die Ruine gänzlich über dem Kind einbricht (NRZ 28.1.2001, Internet; D)
Abb. 6: Beispiel eines Wortbestandteilsartikels aus dem VWB SPD D die; -, ohne Plur.: buchstabierte Abk. für ‘Sozialdemokratische Partei Deutschlands’: ↑SPÖ A, ↑SP: *SP SCHWEIZ, ↑SPS CH: Die SPD kann diese positiven Erfolge nicht mehr bestreiten (Parlament 22./29.5.1998, 3) – Dazu: SPD-Chef(in), SPD-Geschäftsführer(in), SPDBundestagsabgeordnete (↑Abgeordnete)
Abb. 7: Beispiel eines Abkürzungsartikels aus dem VWB
5.1.6. Fazit zur Plurizentrik in der Lexikographie Im englischen Sprachraum war die Wahrnehmung plurizentrischer Varietäten der Standardsprache zunächst mit der nationalen Herausbildung der standardsprachlichen Zentren verbunden. Beispielsweise wurde die sprachliche Eigenständigkeit des amerikanischen Englisch durch Noah Webster erklärt, als eine eigene, amerikanische Währung eingeführt wurde. Dennoch dauerte ein national bedingtes Ungleichgewicht in der englischsprachigen Lexikographie an. Im Oxford English Dictionary wurde davon ausgegangen, dass der Sprachgebrauch von Südostengland der unmarkierten Norm entspreche. Amerikanische, australische, kanadische und andere englische Varianten wurden (und werden noch) als Besonderheiten markiert. Obwohl der deutsche Sprachraum föderalistischer strukturiert ist als der englische und im Gegensatz zu diesem keine kolonialen Varietäten hervorbrachte, wurde auch in der deutschen Lexikographie lange von einem geographisch lokalisierbaren Zentrum ausgegangen und die Varietät aus Nord- und Mit-
5.1. Plurizentrik in Kodices
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teldeutschland als unmarkierte Standardvarietät betrachtet. Teutonismen waren bis vor kurzem, im Gegensatz zu Austriazismen und Helvetismen und regionalen Varianten ausserhalb Nord-/Mitteldeutschlands, lexikographisch nicht greifbar. Ansonsten bemühte sich bspw. der Rechtschreibduden schon ab 1906 um die Darstellung des regionalen, österreichischen und schweizerischen Wortschatzes. Trotz zunehmender Berücksichtigung der standardsprachlichen Variation in aktuellen deutschen Wörterbüchern bleibt ihre Darstellung asymmetrisch und geht von einer monozentrischen, (nord-) deutschen Perspektive aus. Nationale Variation wird gängigerweise noch immer mit regionaler Variation gleichgesetzt. Es wird davon ausgegangen, sprachliche Variation der Standardsprache existiere nur in der gesprochenen Sprache und sei dasselbe wie dialektale Variation. Ein Zweig der empirischen Erforschung der deutschen Standardvarianten erwuchs aus der Erhebung des deutschen Regionalwortschatzes, die auf die gesprochene Sprache fokussierte (Kretschmer 1969 [1918], Eichhoff 1977–2000). Bereits im 18. Jh. wurden im ganzen deutschen Sprachraum Listen von Provinzialwörtern erfasst (Haas 1994). Einige dieser Wörter gingen in die Schriftsprache und somit in die Varietäten des heutigen Standarddeutschen ein. Die eigentliche Geschichte der empirischen Erforschung nationaler und regionaler Standardvarianten begann jedoch im ausgehenden 19. Jh., als Helvetismen und Austriazismen als lexikalische Besonderheiten der deutschen Hochsprache dargestellt wurden. Mehrheitlich wurden sie als Fehler gewertet, zuweilen wurden die Varietäten aber mit militanter Rhetorik verfochten (Hrauda 1948 für das österreichische Deutsch) oder aber wurde der Phantasie Ausdruck verliehen, dass die Provinzialwortschätze den gesamtdeutschen Wortschatz bereichern mögen (Steiger 1941 über das schweizerische Hochdeutsch). Was die Aussprache betrifft, existieren bis heute weder für das österreichische noch für das schweizerische Hochdeutsch verbindliche Kodices. Jedoch besteht eine Übereinkunft darüber, welche Varianten angemessen sind und welche nicht. Diese, so Hove (2002:177), folgt dem psychologischen Prinzip, dass Mitglieder einer Gruppe in ihrem Verhalten zur Konformität neigen. Eine ausführliche Darstellung regionalspezifischer Aussprachevarianten in der Bundesrepublik Deutschland lieferte König 1989. Die Plurizentrik der deutschen Standardsprache wurde im VWB erstmals lexikographisch konsequent beschrieben. Das VWB ist glattalphabetisch semasiologisch aufgebaut, ermöglicht durch ein konsequentes Verweissystem jedoch auch die onomasiologische Blickrichtung und somit das Auffinden aller Varianten in den jeweils anderen Zentren. Für die Erhebung des areal variierenden Wortschatzes wurde ein umfangreiches Textkorpus
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
ausgewertet. Ergänzend dazu wurde das WWW als Kontrollkorpus eingesetzt, namentlich für nationalspezifische Frequenzuntersuchungen.
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache, in Sachtexten und in literarischen Texten aus dem ganzen deutschen Sprachraum 5.2.1. Analyse des Textkorpus zum VWB In diesem Kapitel wird ein Korpus österreichischer, schweizerischer und deutscher Texte im Hinblick auf ihre regionale und nationale Variation analysiert. Es wird auf das Textkorpus zurückgegriffen, das 1997–2003 für die Erarbeitung des VWB zusammengestellt und ausgewertet wurde (s. Kap. 5.1.5.). Die im VWB berücksichtigten Quellen stammen überwiegend aus den 1990-er Jahren. Einige Quellen reichen jedoch bis in die 1950-er Jahre zurück, sofern es sich um Belletristik handelt, und bis in die 1970-er Jahre, sofern es sich um Sachtexte handelt. Bei der Auswahl der Quellen wurde sowohl in Bezug auf die Verlagsorte als auch in Bezug auf die Herkunft der Autorinnen und Autoren auf eine breite regionale Verteilung geachtet (VWB:XVIII). Unter den Pressetexten sind Produkte mit lokaler, regionaler wie auch überregionaler Reichweite vertreten. Dazu wurden verschiedene Publikationsformen und -rhythmen berücksichtigt. Das Korpus, das im VWB ausgewertet wurde, umfasst für Deutschland, Österreich und die Schweiz jeweils folgende Textkategorien (VWB:911): Anzahl Quellen
Textkategorien
50
Tages- und Wochenzeitungen
ca. 50
Zeitschriften, Illustrierte, Magazine
40
populäre Sachbücher
40
gehobene Romane
10
Kriminalromane
10
Trivialromane
10
Kinder- und Jugendbücher
1500 Seiten
Prosatexte aus literarischen Anthologien
ca. 120
Broschüren, Werbetexte, Formulare, Gesetzestexte, mündliche Quellen, Internetquellen
Tabelle 1: Aufbau des Korpus für das VWB (Angaben pro Zentrum)
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
145
Die einzelnen Korpusteile umfassen zwischen drei und 400 Seiten, können also sowohl aus dreiseitigen Broschüren als auch aus 400-seitigen Monographien bestehen. Bei den Sachtexten wurde zudem auf eine breite Verteilung auf inhaltliche Domänen geachtet: Bildung/Erziehung, Brauchtum/ Volkskunde, Geschichte, Wirtschaft, Gesundheit, Handwerk/Handarbeit, Bau/Architektur, häusliches Leben/Wohnen, Kinder-/Jugend-/Schüler-/Studentenkultur, Mode, Kunst/Kultur, Landeskunde, Medien, Soziales, Ehe, Natur, Öffentliche Institutionen/Post/Verwaltung, Politik, Recht, Religion/ Glaube/Esoterik, Sport/Spiel, Technik/Industrie, Tourismus/Gastronomie und Verkehrswesen (VWB:911). Bei der Erarbeitung des VWB wurden die Quellentexte von den Teams in Österreich (Innsbruck), der Schweiz (Basel) und Deutschland (Duisburg) in mehreren Lesegängen auf Varianten hin überprüft. Allfällige Varianten wurden in den Texten markiert und wenn möglich bereits mit Entsprechungen aus den anderen Zentren sowie mit Kommentaren zur Sprach- und Stilebene ergänzt. Die so bearbeiteten Texte wurden jeweils an das nächste Zentrum weiterverschickt. Nach beendetem Rundlauf wurden die in den Texten ermittelten Varianten in einer Datenbank erfasst. In den Quellen markiert wurde von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Hilfskräften alles, was ihnen als areal fremd erschien. Allfällige nationale Varianten wurden so durch Sprecher der jeweils anderen Zentren, also aus der Fremdperspektive, identifiziert. Bei Zweifelsfällen entschied eine Besprechung innerhalb der nationalen Teams über die definitive Markierung einzelner Varianten, bevor die Quellentexte an das nächste Zentrum verschickt wurden. Es zeigt sich, dass in allen Zentren um die 45% der von den Beurteilern markierten Ausdrücke im Laufe weiterer empirischer Überprüfungen (Abgleich mit Wörterbüchern und Sekundärliteratur, Frequenzanalysen im Internet und in Korpora, Befragung weiterer Experten) tatsächlich als regionale und nationale Varianten identifiziert werden konnten. Die übrigen ca. 55%, die als fremd markiert wurden, erwiesen sich nicht als regionale und nationale Varianten, sondern in vielen Fällen als fachsprachlich. Ca. 55% der potenziellen Varianten wurden also aufgrund fehlender Sachkenntnis markiert, was bei der Breite der inhaltlichen Domänen, die von den Quellen abgedeckt wurden, nicht weiter erstaunt. Ergänzt wurden die ermittelten Varianten mit solchen, die sich aus der automatischen Durchsuchung von Zeitungsarchiven ergaben – rund 157‘000 Belege wurden auf diesem Weg erhoben – sowie mit Varianten, die aus Sekundärquellen (z. B. Meyer 1989, Ebner 1998) übernommen wurden. Auf diese Weise entstand eine insgesamt über 340‘000 Belege umfassende Belegdatenbank. Jede Variante bekam einen eigenen Datensatz. Die wichtigsten Felder der Belegda-
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
tenbank waren der Beleg selber und die sprachlichen Ebenen, auf denen sich die Variante unterscheidet. Z.B. unterscheidet sich klönen regional auf semantischer Ebene. In D-nord bedeutet es ‚sich unterhalten, plaudern‘ und in CH ‚weinerlich klagen, jammern‘. Dafür wurden folgende Belege gefunden: „Meine Interessen: Klönen, Kino, Theater“ (Freundin 19/1997, 200) und „Wie sie immer nur klöne und über alles schimpfe, nur andern die Schuld gebe und so weiter“ (Niederhauser, Erich, 254). Diese weitgehend korpusbasiert und deskriptiv ermittelten Datensätze bildeten die Grundlage für die Wörterbuchartikel, wobei die in der Datenbank festgehaltenen Unterschiede nicht direkt in Artikeltypen umgesetzt werden konnten; die Artikeltypen mussten mikrostrukturell differenziert werden, indem sie die in der Datenbank erhobenen Unterschiede zu Klassen zusammenfassten (vgl. Kap. 5.1.5.2.). Zusammenfassend lässt sich das Vorgehen bei der Erarbeitung des VWB so beschreiben: Man ging zunächst von der individuellen Repräsentation der Variation beim einzelnen Beurteiler aus, überprüfte diese auf ihre Mehrheitsfähigkeit innerhalb der Forschungsteams und erhob schliesslich empirisch die Repräsentation im ganzen Sprachraum, soweit sie sich quantitativ (u. a. mit Hilfe des WWW als Kontrollkorpus) ermessen lässt. Als Mitautorin des VWB ist es mir möglich, die Belegdatenbank im Hinblick auf eine Reihe von Forschungsfragen (s. Abschnitt Forschungsfragen und Untersuchungsvariablen unten) einer Analyse zu unterziehen. Die für das VWB ausgewerteten Quellen aus den Halbzentren Ostbelgien, Luxemburg, Liechtenstein und Südtirol werden für die Untersuchung hier nicht berücksichtigt. Es werden insgesamt 48379 von Beurteilern markierte Seiten (vgl. die Beispiele in Abb. 8 und 9) berücksichtigt, die sich auf 537 Quellen (d. h. Korpusteile) verteilen, welche einen Teil der empirischen Basis für das VWB bildeten.
Abb. 8: Beispiel für eine bearbeitete Seite aus dem Deutschschweizer Textkorpus, die in Österreich und Deutschland beurteilt wurde
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
147
Abb. 9: Beispiel für eine bearbeitete Seite aus dem deutschen Textkorpus, die in Österreich und der Schweiz beurteilt wurde
Für die Analyse des VWB-Korpus wird zunächst erhoben, wie viele Ausdrücke auf 100 Seiten von den Beurteilern in den Quellentexten markiert wurden, die in einem nächsten Arbeitsgang lexikographisch als nationale oder regionale Varianten verifiziert werden konnten, d. h. wie viele der durch die Beurteiler markierten Ausdrücke schliesslich im VWB aufgenommen werden konnten. Angesichts der verschiedenen Textsorten im ausgewählten Segment der Quellentexte kann eine Quellenseite zwischen ca. 200 Wörtern (Taschenbuch) und ca. 2000 Wörtern (Seite einer Qualitätszeitung) umfassen (Erhebung aufgrund von Stichproben). Die 537 untersuchten Quellentexte wurden so gewählt, dass sie die verschiedenen Textsorten (s. Tabelle 1) breit abdecken und zu spezifischen Publikationen nach Möglichkeit jeweils die Entsprechung in den anderen Zentren gewählt wurde. Bspw. entsprechen dem deutschen Bild der schweizerische Blick und die österreichische Neue Kronenzeitung, die sich in Layout und Seitenspiegel (Anzahl Wörter pro Seite) ähnlich sind. Die breite Streuung der Anzahl Wörter pro Seite ist somit in den Quellentexten aller Zentren gleichermassen anzutreffen. Die unterschiedliche Wörterzahl pro Seite ist allerdings dann ein Störfaktor, wenn die Werte verschiedener Textsorten miteinander verglichen werden, namentlich die Zeitungen mit den übrigen Textsorten. Daher werden die Zeitungen bei direkten Textsorten-Vergleichen ausgeschlossen (5.2.1.2., 5.2.1.3).
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Folgende Pressetexte und Sachbücher werden für die Analyse des Korpus zum VWB analysiert (für genauere Angaben s. die Bibliographie des VWB): [sic!] 9.3.1999; Aargauer Ztg 10.6.1999; ADAC Motorwelt Februar 1996; AK aktuell 2/1998; Allegra 11/1997; Allemann, Schweiz; Alpenverein, 4/199; Anima, 11/97; Annabelle 14.11.1997; Annabelle 2.1.1998; Apotheke 1/1998; Appenzeller Volksfreund 16.08.1997; Augsburger Stadtztg 26.8.1998; Augustin 4/1999; Badener Zeitung, 19.3.1998; Baerens, Urlaub auf Biohöfen; Bahnshop 1998; Bär, Geographie Europas; Barmer 2/1998; Baslerstab 5.11.1997; Bayernkurier 22.8.1998; BAZ 17.10.1997; BaZ 25./26.10.1997; Beobachter 19.9.1997; Beobachter 6.2.1998; Beobachter Jahrbuch; Beobachter, Richtig versichert; Berliner Morgenpost 19.6.1998; Berner Agenda 4.3.1993; Berner Bär 24./25.3.1993; Berner Oberländer 22.3.1996; Berner Tagwacht 30.01.1993; Berner Woche 65/1993; Berufsinfo; Besser Wohnen 11/1997; BeZ 3.9.1997; Bild 29.2.2000; Blick 18.1.1997; Blick 8. 8. 1997; Bodensee Hefte 10/1993; Bossy, Schweizer Spezialitäten; Bote der Urschweiz 13.1.1997; BRAVO; Briese-Neumann, Geschäftskorr; Brigitte 21/1997; Brückenbauer 3.12.1997; Buchkultur 5/1996; Bund 24.3.1993; Bundespressedienst, Oesterreich; Bundessozialamt; Bunte 11.2.1999; Burri, Schweiz; bvz 23.6.1998; BZ 6.1.1998; Campus 2/1998; Caritas Spenderinformation; Coming out; computerwelt, 10.11.97; Conze, Deutschland nach 1945; Der Standard, 26.Juli 2000; Die Bühne 9/1997; Die ganze Woche 04.02.1998; Die ganze Woche 5.11.1997; Die Neue Kronen Ztg, 04.06.2000; Die Presse, 15.3.1993; Doppelstab 4.9.1997; Duisburger Uni Report 2–3/1997; Echo 23.9.1998; Ehmke/Schaller, Kinder; Engadiner Post 4.10.1997; Engelmann, Meine Freunde, die Manager; Eulenspiegel 1999; Facts 11.9.1997; Facts 3.6.1999; Fahren lernen; Fahrend; Falter 3.11.1997; Falter´s Best of Vienna 1/1998; Familie 1/2000; FAZ 10.10.97; FAZ 11.10.1997; Fehr, Helvetia; Fenner, Politszene; Fetz, Gene; Filmjournal 11/1997; Fischer/Walter, Geographie; Floiger, Spuren; Focus 32/1997; Format 17. 7. 2000; Format 19.6.2000; Foyer Dezember/1997; FR 23.10.1998; FR 29.5.1998; FR 29.5.1998; Frauchiger, Menschen; Freizeit Kurier 27.12.1997; Freundin 19/1997; Furche, 13.11.97; Garten 8/97; Gasche, Bauern; Gatterer, Pfarrkirche; Geldidee 4.6.1998; Gemeindeblatt Hohenems, 29.08.1998; GEO 8/1994; Glarner Nachr. 27.9.1996; Glocke Dezember 1997; Glückspost 3.6.1999; GÖD 2/1998; Grazer Woche 12.3.2000; Greenpeace 2/1996; Gusto 11/1997; Guter Rat 3/2000; Haensch, Deutschland Lexikon; Hamburger Abendbl. 24./25.7.1999; Heins, Obdachlosen Report; Hitschfeld, Kleinsthof; Hohler, Strom; Holzach, Deutschland umsonst; Innsbruck informiert, 4/1998; Jetzer, Naturspuren; Jungbürgerbuch; Kicker 18.9.2000; Kietz, Kinder erleben; Kirche intern 11/1996; Kirche intern, 8/1995; Kirchenbote 17.9.1997; Kleine Ztg 2.3.1997; Kleine Ztg Ktn. 8.6.2000; Klingel Herbst -Winter 1996; Konsument 11/97; Krause, Dein Garten; Kremstaler Rundschau 19.03.1998; K-tip 11.2.1998; Kunst-Bulletin 12/1997; Kunstzeitung 18/1998; Kupfermuckn 2/1999; Kurier 20.06.1998; Kurier 29.01.199; Kurier, 14.12.1997; Kurier, 27. Dezember 1997; Kurz, Frieden; Land der Berge 5; Landjugend 2/1998; Landshuter Ztg 14.10.1998; Leben 3/2000; Lebendiges Linz 11/1997; Leipziger Rundschau 18.02.1998; Lindenberg, Waldorfschulen; Linth Ztg 1.12.1999; Lungauer Nachrichten 31.5.2001; Lutz, 3.–5. Sept. 1998; Maxima 3/1998; Medizin populär 9/96; Meyer, Geschichte 4; Milchzeitung 2.12.1997; Möbel Erbe Werbung, Leipzig; Mocca 29; Moderne Ernährung; Monatsjournal tirol 02.04.98; Münchner Zentrum 6.8.1998; Münstersche Ztg 21./22.02. 1998; Murtaler Zeitung,
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
149
4.3.2000; Musenalp Express 1.1997; Nationalpark Hohe Tauern; NDS Dezember 1997; Neue Kärntner Tageszeitung 25.06.1998; Neue Kronen Zeitung 30.12.1997; neue schulpraxis 1993; Neue Welt 16.2.2000; Neue Wochenschau 11.08.1999; Neue Zuger Zeitung 23.10.1997; News 15.1.1998; News 6.11.1997; News extra: Bauen & Wohnen; Nexus 16/97; Niederrhein 6/2000; NZZ 3.11.1997; NZZ 30.10.97; NZZ Folio 10/1998; Ö3 Magazin 2/98; Ö3 Magazin 9; ÖBAU, 1997; OERK, Befund; OERK, Erste Hilfe; Oetker Schulkochbuch; OÖN 14.8.1999; ORF Nachlese 9/97; Ortner, Bauhandbuch; Osttiroler Bote 12.03.1998; OZ 7.10.1992; P.M. Olten; Palette 2/1998; Parlament 22./29. Mai; Passauer Neue Presse 29.5.199; Pestalozzi Kalender; Pestalozzi, Zukunft; Pfeifer, Hausbau; Plachutta/Wagner, Küche; PM 1/2000; Politische Perspektiven 01/98; Pongauer Nachr. 12.2.98; Pott Duisburg Mai 1998; Presse 17.9.1997; Presse 29.09.1998; Profil 14.02.2000; Profil 19.01.98; Profil extra 1.9.1995; Profil, 30. 03.1998; ProZ 12/1997; Psychologie Heute 3/1996; PulsTip 19.9.1997; PulsTip 23.1.1998; Punct 3/1997; Rad im Pott 4/1997; Radio Magazin 38/1997; Reisen 6/1997; Rennbahnexpress 11/1997; Rennbahnexpress 11/97; Revier Sport 15.2.1998; Rhein-Main-Ztg 25.3.2000; Rutishauser, Geschäftsbriefe; Rytz, Bäume; Rytz, Sträucher; Saat 8.2.1998; Sächsische Ztg 19.6.199; Salz&Pfeffer 3.1993; Schaffhauser Nachrichten 4.1.1997; Schmid, Standortmeldungen; Schmidt, Wanderung; Schöner Wohnen 10; Schulwegsicherung 1994; Schweiz Revue 5/1998; Schweizer Familie 20.5.1999; Schweizer Familie 23/1999; Schweizer Familie 3.6.1999; Schweizer Familie 4/1999; Seelsorge in Ranggen; Seniorenratgeber; SI 18.1.1999; SI 21.6.1999; SI 7.6.1999; Sieber, Menschenware; Skip Magazin 2/1998; SLZ 1/1998; SN 08.06.1998; SN 11.11.1997; SN 20. 10. 1997; SN 31.03.1998; Spiegel 1.12.1997; Spiegel 47/1997; Spiegel Special 6/1998; Spielwaren-Lexikon; Sport 10.3.1998, Beilage; Sport Magazin 10/97; Sprechstunde 3/4 1997; Spuren 46/1998; SSR Reisen 1997; St. Galler Tagbl 10.6.1999; Stadtanzeiger Bern 5.3.1993; Standard 13.8.1993; Standard 19.11.1998 [Beilage]; Standard 19.11.1998 [Beilage]; Standard, Internet Direct, 16.12.1998; Starnberger Merkur 24.8.1998; Stern 25.9.1997; Straubinger Tagbl 7.4.1998; Stuttgarter Ztg 12.5.1999; SZ 1.1.1998; SZ 31.10./1.11.1998; SZ 7.10.1997; SZ Hochschule & Beruf; TA 27.5.1998; Tagesspiegel 25.7.199; Tagesspiegel 26.06.2000; Tele 18.6.1999; tele 7/1998; Tennengauer Nachr 31.5.2000; Test 12/1997; Test3/1994; Textil-Revue 7.6.1999; Theorieprüfung; Tier 4/1996; Tierwelt 15.8.1997; Tina 6.1.2000; Tiroler TZ, 11. November 1997; Tiroler TZ, 25. Februar 2000; Tirolerin 2/2000; Toggenburger Annalen; TR7 11.9.1998; Treichler, Abenteuer Schweiz; Trend 11/1997; Tschäni, Patriotismus; TV-Täglich 2.7.1999; TV-Täglich 29.1.1999; TV-Täglich 8.–14.3.1997; tz 29.05.1998; Umwelt Bundesamt, Zukunft; Umweltbewußt einkaufen 1997; Umweltbundesamt, Müll; Umweltschutz 9/1994; UNICUM 11/1997; Unipress 6/98; VCS-Zeitung 11.1997; VDI Nachrichten September 1992; Velojournal 4/1999; VN 19.12.1997; VN, 29.10.97; Voneinander lernen; Wald, Zeitbilder; Waldorfschulen; Wallraff, Bild-Störung; Wallraff, Industriereportagen; WAZ 15.10.1997; WAZ 24.10.1997; WAZ 28.10.1997; Weidwerk; Weite Welt; Wellness 10/1997; Welser Rundschau 19.03.1998; Welt der Frau 5/1995; Welt der Frau 6; Werdenberger & Obertoggenburger; Wiedmer, Hautnah-Helvetia; Wiener 3/2000; Wiener 9/1999; Wiener Ztg, 5./6.Mai 2000; Wienerin; Wildermuth, Biologie; Willisauer Bote 4.1.1996; Woll, Feste und Bräuche; World of Music 11.1997; WoZ 17.10.1997; WoZ 26.9.1997; Wuff; WW 36/1997; Zeit 26.12.1997; Zug Dezember 1997; Zürcher Bürgerbuch; Zürcher Oberländer 19.3.1997
150
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Literarische Texte folgender Autorinnen und Autoren werden für die Analyse des Korpus zum VWB analysiert (für genauere Angaben s. die Bibliographie des VWB): Achermann, Alfare, Amann, Amanshauser, Apitz, Arens, Bachmann, Balaka, Balmer, Barylli, Becker, Benvenuti, Bernhard, Berthold, Bichsel, Bick, Biehler, Bieler, Biskupek, Blobel, Born, Brechbühl, Brezina, Brödl, Brückner, Burger, Buri, Cavelty, Czurda, d´Henri, Delius, Diggelmann, Dürrenmatt, Durschei, Eckert, Eisendle, Ende, Erler, Federspiel, Fichte, Fink, Fischer, Frank, Franzetti, Frisch, Frischmuth, Fritsch, Furrer, Futscher, Gaus, Geiser, Giovanelli-Blocher, Glantschnig, Graf, Grän, Grass, Grün, Gstrein, Haas, Hackl, Haller, Handke, Härtling, Hartmann, Hasler, Haslinger, Hauptmann, Haushofer, Heimann, Hein, Hettler, Hilbig, Hildesheimer, Hofmann, Honegger, Hostettler, Innerhofer, Jacobi, Jäggi, Jelinek, Johnson, Jonke, Junge, Kaiser, Karr&Wehner, Kauer, Kehrer, Kirst, Klier, Kneifl, Knellwolf, Koeppen, Köhlmeier, Kolb, Konrad, Konsalik, Köpf, Krüss, -ky, Längle, Lascaux, Lenz, Limacher, Lind, Lötscher, Maron, Martin, Marzik, Mayer, Menasse, Mettler, Mitgutsch, Mitterer, Moser, Müller, Nadolny, Noack, Nöstlinger, Okopenko, Ossowski, Payr, Pirch, Pluhar, Prugger, Rabinovici, Rados, Ransmayr, Recheis, Regenass, Reichart, Remarque, Rinser, Rosei, Roth, Rothmann, Rudle, Rüegg, Schädelin, Scharang, Schenker, Schmidli, Schneider, Schnurre, Schöpf, Schriber, Seiler, Semrau, Siegfried, Sklenitzka, Späth, Spinner, Steeruwitz, Steinwendtner, Steurer, Strauss, Strebel, Strittmatter, Thüminger, Timm, Treiber, Trott, Turrini, Veteranyi, Vogt, Waldhoff, Waller, Walser, Walter, Weber, Weibel, Weiss, Welsh, Wenger, Werner, Wieninger, Wiesner, Winkler, Wippersberg, Wolf, Wolfgruber, Wondratschek, Wurm, Wyss, Z´Graggen, Zeindler, Zelger-Alten, Zier, Zürcher
Forschungsfragen und Untersuchungsvariablen Wie gross ist der Anteil regionaler und nationaler Variation in Texten verschiedener nationaler und regionaler Herkunft, verschiedener Textsorten, verschiedener Genres, verschiedener inhaltlicher Domänen und verschiedener Erscheinungsjahre? Variieren bestimmte Varietäten auf bestimmten sprachlichen oder textsortenspezifischen Ebenen mehr als andere? Sind z. B. österreichische Boulevardblätter reicher an Varianten als deutsche? Gibt es variationsneutrale Bereiche, z. B. das Feuilleton? Gibt es Bereiche, in denen die Variantendichte zunimmt und solche, in denen sie abnimmt? Besonderes Augenmerk wird auf literarische Texte gelegt. Dort wird zusätzlich der Einfluss des Verlagssitzes, der regionalen Herkunft der Autorinnen und Autoren, ihres Alter sowie ihres Geschlechts auf die Variantendichte in ihren Texten untersucht. Die 537 genannten Quellentexte werden auf folgende Variablen hin untersucht:
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
151
Unabhängige Variablen – – – – –
–
–
–
– –
nationale Identität: A, CH, D Textsorte: Illustrierte/Zeitschriften, Literatur, Sachbücher, Zeitungen Genre bei literarischen Texten: unspezifische Belletristik, Kinder- und Jugendliteratur, Krimis, Trivialliteratur Genre bei Zeitschriften/Illustrierten und Zeitungen: gehoben, unspezifisch/mit mittlerer Reichweite, lokal, boulevard Textalter: einerseits Erscheinungsjahr der Texte, andererseits Jahrgang der Autorinnen und Autoren bzw. ihre Alterskategorie (11–20, 21–30, 31–40, 41–50, 51–60, 61–70, 71–80) inhaltliche Domäne: unspezifisch, Verkehrswesen, Tourismus, Sport, Soziales, Religion, Natur, Medien, Landwirtschaft, Kunst, Kochkunst, Kleidung, Kinder/Jugend, Institutionen, häusliches Leben, Gesundheit, Geschäftsleben, Geschichte/Geographie, Brauchtum, Bildung regionale Herkunft der Autorinnen und Autoren (bei literarischen Texten): D-südwest, D-südost, D-nordwest, D-nordost, D-mittelwest, Dmittelost, CH, A-west, A-südost, A-ost, A-mitte43 Erscheinungsort der Werke (bei literarischen Texten): D-südwest, Dsüdost, D-nordwest, D-nordost, D-mittelwest, D-mittelost, CH, A-west, A-südost, A-ost, A-mitte Eigen- oder Fremdlektorierung (bei literarischen Texten): Herkunft des Autors und Erscheinungsort des Werks identisch/nicht identisch Geschlecht der Autorinnen und Autoren (bei literarischen Texten)
Abhängige Variablen –
– –
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Anzahl Tokens, die von den Mitarbeitern des VWB insgesamt pro 100 Seiten im Rahmen der Erstbeurteilung als potenzielle Varianten markiert wurden Anzahl markierte Tokens insgesamt pro 100 Seiten, die nach weiteren Überprüfungen als regionale oder nationale Varianten ins VWB eingingen Anzahl markierte Tokens, die nur von einem anderen Zentrum oder von beiden anderen Zentren als Varianten identifiziert wurden (nur von A markiert, nur von CH markiert, nur von D markiert, gemeinsame Markierungen aus der Fremdperspektive) (bei literarischen Texten) Die subregionale Einteilung folgt dem VWB. S. auch Besch 2003b:216, der allerdings Österreich nicht weiter unterteilt.
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Statistische Auswertung Es handelt sich bei den abhängigen Variablen um quantitative Grössen. Sie gehören dem intervallskalierten Datentyp an. Es werden einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVAs) sowie Korrelationsanalysen für den Zusammenhang zwischen gewissen abhängigen Variablen eingesetzt (0 = keine Korrelation, d. h. 100% Zufall; 1 = vollständige Korrelation, d. h. 100% zusammenhängend),44 vereinzelt multifaktorielle Analysen für die Überprüfung der Interaktion zweier unabhängiger Variablen.45 P-Werte unter 0.05 gelten als signifikant. Um nach einem signifikanten Ergebnis einer Varianzanalyse zu prüfen, bei welchen Mittelwertspaaren der Unterschied bedeutsam ist, wird der Student’s t-Test eingesetzt. Für die Durchführung der statistischen Tests wird das Statistik-Programm JMP 3.02 (SAS) für Macintosh verwendet.
5.2.1.1. Regionalspezifik der Variantendichte Zunächst wird bei jeder Quelle errechnet, wie viele Varianten von den Mitarbeitern des VWB hochgerechnet auf 100 Seiten markiert wurden.
Fremdheit des Schweizerhochdeutschen, Mittelposition des österreichischen Deutschen Es zeigen sich für Quellen aus A (Anzahl: 193), CH (Anzahl: 179) und D (Anzahl: 165) signifikant unterschiedliche Mittelwerte pro 100 Seiten. In A-Quellen wurden auf 100 Seiten durchschnittlich 255.8 Varianten (Tokens)
44 Korrelationen unter 0.2 gelten als sehr klein bis unbedeutend, um 0.5 als mässig starker Zusammenhang und ab 0.8 als sehr starker Zusammenhang. Zusätzlich zur Grösse der Korrelation sind aber auch theoretische und praktische Überlegungen für die Interpretation bedeutsam. Falls zwei Variablen beispielsweise sehr verschiedene Dinge messen, dann kann bereits eine sehr geringe (signifikante) Korrelation interessant sein. Ausserdem ist bei komplexen Zusammenhangsmustern zu beachten, dass die paarweisen Zusammenhänge geringer ausfallen, da die einzelnen Variablen immer auch noch von anderen Grössen massgeblich abhängen. 45 Von einer Interaktion spricht man, wenn mindestens zwei Variablen eine dritte Variable durch gemeinsame Wirkung beeinflussen. Die Wirkung der einen Variable hängt von der Ausprägung der anderen ab. Die Variablen lassen sich also nicht mehr getrennt interpretieren.
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
153
von den Bearbeitern markiert, in D-Quellen 112.0 und in CH-Quellen 402.0. Die Unterschiede zwischen allen Zentren sind hoch signifikant (p < 0.01). Sodann wird mit den tatsächlich ins VWB eingegangenen Varianten gerechnet. In allen Zentren können um die 45% der von den Beurteilern markierten Ausdrücke nach weiteren empirischen Überprüfungen (Abgleich mit Wörterbüchern und Sekundärliteratur, Frequenzanalysen im Internet und in Korpora, Befragung weiterer Experten) tatsächlich als regionale und nationale Varianten identifiziert werden. Rechnet man mit den tatsächlich ins VWB eingegangenen Varianten, bezieht man sich nicht mehr nur auf die individuellen Markierungen der Beurteiler, sondern auf die durch das VWB besser gesicherten regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen. Wir befinden uns dann nicht mehr auf der Ebene der individuellen Repräsentation (bzw. Wahrnehmung) der Variation durch die Beurteiler, sondern auf der Ebene der kollektiven, empirisch weiter überprüften Repräsentation (bzw. Wahrnehmung) der Variation. Es ergibt sich dasselbe Bild, wie es sich bereits für die nationalspezifische Markierung durch die Erstbeurteilung der VWB-Mitarbeiter abzeichnete: Auch nach dem Durchlaufen weiterer empirischer Überprüfungen werden durchschnittlich auf hundert exzerpierte Seiten in Schweizer Texten mit 186.8 am meisten Varianten erhoben, gefolgt von österreichischen mit 115.8 und von deutschländischen Texten mit 47.8. Die Varianzanalyse zeigt einen hoch signifikanten Einfluss der nationalen Herkunft der Texte auf ihre Variantendichte (p < 0.01) (s. auch Abb. 14 für literarische Quellentexte). Durch den Student’s t-Test kann ermittelt werden, dass die Unterschiede zwischen allen drei Zentren hoch signifikant sind (p < 0.01).
Abb. 10: Anzahl Ausdrücke je 100 Quellenseiten, die als nationale und regionale Varianten identifiziert wurden. Mittelwert in Quellen aus A: 115.8, in Quellen aus CH: 186.8, in Quellen aus D: 47.8 (p < 0.01). Vgl. auch Abb. 14.
154
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Angesichts der Zentrumsgrössen überrascht dieser Befund nicht. Je kleiner die Zentren in Bezug auf Sprecherzahlen und Reichweite der Druckerzeugnisse sind, desto weniger kommt deren Schriftlichkeit in Umlauf und desto weniger bekannt sind spezifische Varianten aus der Aussenperspektive. Deutschländische Schriftlichkeit wird im ganzen deutschen Sprachraum zur Kenntnis genommen, wohingegen die österreichische und insbesondere die schweizerische Standardvarietät kleinere Rezeptionsradien aufweisen. Allerdings bezieht sich der Befund auf Tokens, und nicht auf Types, welche im VWB gleichmässiger auf die Zentren verteilt sind. Dass Helvetismentokens so häufig sind, kann also nicht einfach damit erklärt werden, dass mehr Helvetismentypes zur Verfügung stehen. Ferner fällt die grössere Streuung der festgestellten Varianten in den Schweizer Quellen gegenüber Quellen aus Österreich und Deutschland auf. Schweizer Quellen haben in ihrer Variantendichte sehr grosse Schwankungen (Abb. 10). Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass es im Schweizerhochdeutschen eine grössere Breite an Abstufungen von regional geprägter Schriftlichkeit gibt als in den andern Zentren. Die aus der Fremdperspektive offenbar als stärker empfundene und lexikographisch bestätigte Fremdheit der Schweizer Varietät im Vergleich zu den anderen Varietäten dürfte auch daher rühren, dass das Schweizerhochdeutsche konstitutiver Teil einer diglossischen Sprachsituation ist und lexikalisch auch von kleinräumigen Dialekten beliefert wird, was zu einem grösseren spezifischen Variantenanteil führt, der aus der Aussenperspektive nicht verständlich ist. Zentrum
Datensätze
davon nur in A markiert
davon nur in CH markiert
davon nur in D markiert
davon in beiden anderen Zentren markiert
Österreich
45779
–
16383 (35.8%)
9207 (20.1%)
20189 (44.1%)
Schweiz
64400
14216 (22.1%)
–
15523 (24.1%)
34661 (53.8%)
Deutschland
14597
-
5618 (38.5%)
3328 (22.8%) 5651 (38.7%)
Tabelle 2: Österreichische, schweizerische und deutsche Quellen aus der Aussenperspektive: Anzahl Tokens, die von den VWB-Bearbeitern in den Quellen als potenzielle Varianten markiert wurden
Die Fremdheit von Schweizer Texten aus der Aussenperspektive im Vergleich zu Texten aus Österreich und Deutschland wird dadurch bestätigt,
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
155
dass in Schweizer Quellentexten aus der deutschen und österreichischen Fremdperspektive etwa gleich viele Tokens markiert werden, wie die Berechnung in Tabelle 2 zeigt. (Die Berechnung in Tabelle 2 basiert nicht nur auf den 537 für die Analyse herangezogenen Quellen, sondern auf allen Datensätzen ausser denjenigen, die aufgrund von automatisierten Abfragen von Zeitungsarchiven erhoben wurden, ausser den Datensätzen der Halbzentren sowie ausser den Datensätzen aus Sekundärquellen.) In Tabelle 2 ist ersichtlich, dass die Varianten je nach Aussenperspektive unterschiedlich eingeschätzt werden. Gut 44% der in der Datenbank vorhandenen Austriazismen wurden sowohl von Beurteilern aus Deutschland als auch aus der Schweiz gleichermassen als solche markiert. Gut 20% wurden hingegen nur von deutschen Beurteilern, knapp 39% nur von Schweizer Beurteilern als fremd empfunden. Dass Schweizer Beurteiler in österreichischen Quellen mehr Varianten markieren als deutsche Beurteiler, ist ein möglicher Hinweis darauf, dass die österreichische Standardvarietät den Schweizer Beurteilern weniger vertraut ist als den deutschen Beurteilern. Anders präsentiert sich die zentrumsspezifische Einschätzung des Schweizerhochdeutschen. Zwar gibt es auch hier einen Anteil von Varianten, die jeweils nur von Beurteilern eines Zentrums als fremd empfunden wurden, doch ist die Differenz zwischen diesen beiden Werten (gut 22% und gut 24%) viel kleiner als sie es im Falle der Beurteilung von Austriazismen ist. Zudem ist der Anteil der durch deutsche und österreichische Beurteiler gemeinsam markierten Varianten in den Schweizer Texten beträchtlich höher (knapp 54%). Deutsche und österreichische Beurteiler scheinen sich über den Nichtgebrauch von Helvetismen in mehr Fällen einig zu sein, als dies schweizerische und deutsche Beurteiler über den Nichtgebrauch von Austriazismen sind sowie schweizerische und österreichische Beurteiler über den Nichtgebrauch von Teutonismen. Letztere wurden nur zu knapp 39% gemeinsam markiert. Knapp 39% der Varianten in deutschen Texten wurden nur von Schweizer Beurteilern, knapp 23% nur von österreichischen Beurteilern markiert. Schweizer Beurteiler empfinden deutsche Quellen als fremder als österreichische Beurteiler. Der in Tabelle 2 dargestellte Befund lässt sich an einer Auswahl von Texten statistisch bestätigen. Bei dieser Analyse werden 198 literarische Quellentexte berücksichtigt (s. Abb. 11). Die nationale Herkunft der literarischen Texte hat einen signifikanten Einfluss auf die Anzahl gemeinsamer Markierungen (p < 0.01). Es zeigt sich, dass in literarischen Texten aus der Schweiz signifikant mehr Ausdrücke von österreichischen und deutschen Beurteilern gemeinsam markiert wurden (Mittelwert 107.8) als in literarischen Texten aus Deutschland (Mittelwert 28.0) und Österreich (Mittelwert
156
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
55.7) (p < 0.01). Der Student’s t-Test zeigt, dass dieser Unterschied zwischen allen Herkunftspaaren signifikant ist (p < 0.01 zwischen A und CH und zwischen D und CH; p < 0.05 zwischen A und D).
Abb. 11: Gemeinsame Markierungen je 100 Seiten aus der Fremdperspektive in literarischen Quellen aus Österreich, der Schweiz und Deutschland. Mittelwert in Quellen aus A: 55.7, in Quellen aus CH: 107.8, in Quellen aus D: 28.0 (p < 0.01).
Sprachliche Einordnung der Varianten in der Erstbeurteilung Deutliche nationalspezifische Unterschiede zeigen sich im Hinblick auf die sprachlichen Spontanbeurteilungen der Varianten durch die Bearbeiter des VWB. Tabelle 3 enthält die Anteile der Varianten, die von den Bearbeitern als dialektal, Grenzfall des Standards, informellen Standard und formellen Standard gekennzeichnet wurden sowie den überwiegenden Anteil der Varianten, die ohne eine solche Einordnung blieben. (Die Berechnung in Tabelle 3 basiert nicht nur auf den 537 für die Analyse herangezogenen Quellen, sondern auf allen Datensätzen ausser denjenigen, die aufgrund von automatisierten Abfragen von Zeitungsarchiven erhoben wurden, ausser den Datensätzen der Halbzentren sowie ausser den Datensätzen aus Sekundärquellen.) Die aus der Fremdperspektive erhobenen Varianten (Tokens) wurden für alle drei Zentren in den meisten Fällen nicht näher bezeichnet, also weder als Dialekt, noch als Grenzfall des Standards noch als informell gekennzeichnet. 96.58% der österreichischen, 97.9% der schweizerischen und 85.47% der deutschländischen Varianten sind unbezeichnet. Beispiele für solche neutralen Varianten sind der Austriazismus weiters in der gemeindeutschen Bedeutung ‚ausserdem, ferner‘, der Helvetismus Spital ‚Klinik‘ oder der Teutonismus Abitur ‚Schulabschluss zur Erlangung der Hochschulreife‘. Der hohe Anteil der im Hinblick auf Dialektalität/Standardsprachlichkeit nicht
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
157
Identität
Anzahl markierte Varianten
davon als Dialekt bezeichnet
davon als Grenzfall des Standards bezeichnet
davon als unbezeich- davon als net Standard Standard informell formell bezeichnet bezeichnet
A
45779
145 (= 0.32%)
1011 (= 2.01%)
97 (= 0.21%)
44121 (= 96.58%)
405 (= 0.88%)
CH
64400
731 (= 1.14%)
563 (= 0.87%)
37 (= 0.06%)
63052 (= 97.90%)
17 (= 0.03%)
D
14597
17 (= 0.12%)
1622 (= 11.11%)
267 (= 1.83%)
12477 (= 85.47%)
214 (= 1.47%)
Tabelle 3: Einschätzung der markierten Tokens (potenziellen Varianten) im Hinblick auf Dialektalität/Standardsprachlichkeit und Informalität/Formalität durch die Bearbeiter des VWB in der Erstbeurteilung. Z.B. werden 11.11% der potenziellen Teutonismen als Grenzfall des Standards bezeichnet, jedoch nur 2.01% der potenziellen Austriazismen.
gekennzeichneten, als neutral betrachteten Varianten lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass lexikographisch tätige Beurteiler stärker zögern, ihnen unbekannte Varianten als dialektales Wortgut abzuqualifizieren, als dies GP tun, die keine linguistische Vorbildung haben und für die Problematik der Plurizentrik des Deutschen nicht sensibilisiert sind (vgl. Kap. 5.3.3.3.). Die Bearbeiter des VWB gehen also überwiegend von der Standardsprachlichkeit der Varianten aus. Es zeigt sich jedoch ein nationaler Unterschied. Insgesamt 13.06% der deutschländischen Varianten wurden als Dialekt, Grenzfall des Standards oder informeller Standard gekennzeichnet, davon allein 11.11% als Grenzfall des Standards (z. B. knuffen, in D-nord/ mittel gebräuchlich für ‚jmdn. mit der Faust oder dem Ellbogen stossen‘). Nur 2.07% der Schweizer Varianten und 2.54% der österreichischen Varianten tragen solche substandardsprachlichen Bezeichnungen. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme, wonach standardsprachliche Varianten gerade in Österreich und der Schweiz vor allem dem Einfluss der gesprochenen Sprache zuzuschreiben seien, sind es hier die deutschländischen potenziellen Varianten, die von den Beurteilern (d. h. vor allem von den deutschen Beurteilern) häufiger im Bereich des Substandards eingeordnet werden als die Varianten in österreichischen und schweizerischen Texten.46 Wie ist 46 Die Markierung Standard formell wird hier nicht berücksichtigt. Die mit Standard formell bezeichneten Varianten sind mehrheitlich Sachspezifika, z. B. die österreichische Inskription für die semesterweise Einschreibung an der Universität.
158
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
dieser Befund zu interpretieren? In der Verteilung der Bezeichnungen zeigen sich unterschiedliche Schichtungen von Standard und Non-Standard. Deutschländische Varianten werden häufiger der geographisch nicht näher lokalisierbaren Umgangssprache zugeordnet. Hingegen ist der Anteil der als dialektal bezeichneten Schweizer Varianten mit 1.14% (z. B. Töff ‚Motorrad‘) gegenüber österreichischen Varianten mit 0.32% und deutschen Varianten mit nur 0.12% erwartungsgemäss am höchsten. Der Dialekt ist im Schweizerhochdeutschen (und in geringerem Mass auch im österreichischen Standard) ein produktiverer Spender von standardsprachlichen Varianten als in der deutschländischen Standardvarietät, die ihre Varianten häufiger aus dem Substandard als aus Dialektalismen bezieht.47
5.2.1.2. Textsorten- und Themenspezifik der Variantendichte Zunächst ist festzuhalten, dass keine der herangezogenen Quellen variantenfrei ist. Es gibt lediglich vereinzelte Texte, z. B. einzelne Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die keine nationalen und regionalen Varianten aufweisen.
Tiefe Variantendichte in literarischen Texten im Textsortenvergleich Da Zeitungen bis zu zehnmal mehr Wörter pro Seite aufweisen als literarische Texte, Illustrierte und Sachbücher (Schätzung aufgrund von Stichproben), werden beim direkten textsortenspezifischen Vergleich (Abb. 12) die Zeitungen weggelassen. Die Textsorte hat einen signifikanten Einfluss auf die Variantendichte (p < 0.01). Abb. 12 zeigt, dass literarische Texte weniger Varianten je 100 Seiten aufweisen als die anderen Textsorten. Bei welchen Mittelwertspaaren ist der Unterschied bedeutsam? Die durchschnittliche Anzahl Varianten pro 100 Seiten ist in literarischen Texten (durchschnittlich 59.0 Varianten auf 100 Seiten) signifikant tiefer als in Zeitschriften/Illustrierten (durchschnittlich 93.2 Varianten auf 100 Seiten; p < 0.01). Dass standardsprachliche 47
Zu bemerken ist hier, dass bei der Bezeichnung in der Belegerfassungsdatenbank eine andere Skala verwendet wurde als in den Artikeln des VWB. Dort gingen auch die als dialektal markierten Varianten in der Kategorie Grenzfall des Standards auf, z. B. das in der Presse belegbare Märli für ‚Märchen‘, sofern solche dialektalen Varianten überhaupt schriftsprachlich oft genug belegt werden konnten, um ins VWB aufgenommen werden zu können.
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
159
Abb. 12: Textsortenspezifische Variation; Anzahl regionale und nationale Varianten pro 100 Seiten in Illustrierten/Zeitschriften, Literatur und Sachbüchern nach Mittelwerten. Mittelwert in Illustrierten/Zeitschriften: 93.2 Varianten auf 100 Seiten, in literarischen Texten (Literatur): 59.0 Varianten auf 100 Seiten, in Sachtexten: 77.0 Varianten auf 100 Seiten (p 0.0002).
Varianten nicht in der Literatur (und offenbar auch nicht in Sachbüchern) gesucht werden müssen, sondern in der Pressesprache, hat Löffler bereits 1988 vermutet (Löffler 1988:163). Deutschschweizer Schriftsteller, so Löffler, bemühten sich eher um einen deutschdeutschen Stil. In Bezug auf die Deutschschweiz meinte er: „Man bekennt sich, trotz ausschliesslicher Dialektalität im Mündlichen, für die Schriftform zur Sprache Goethes und Schillers, Gottfried Kellers und Max Frischs. Und hier stellt sich die Frage, ob man sich auch zur Sprache des ‚Spiegels‘, der ‚Zeit‘, der ‚Bildzeitung‘, der ‚Frankfurter Allgemeinen‘ und der ARD-Nachrichten bekennt. Dies nun doch nicht, würde die Intuition einwenden.“48 Zur Variantendichte in literarischen Texten s. ausführlich Kap. 5.2.1.4.
Variantendichte in Zeitungen: Herkunftsabhängigkeit Bemerkenswert ist die grosse Streuung der Variantendichte in Zeitungen (Tabelle 4). In einigen wenigen Zeitungen geht die Anzahl regionaler und nationaler Varianten je 100 Seiten in die Tausende, in anderen sind sie im zweistelligen Bereich. 48 Die Eigenständigkeit der Schweizer Mediensprache begründet Löffler u. a. mit Widerständen gegenüber deutschen Jargonismen, die als aufgesetzt empfunden würden. Für weitere Ergebnisse aus Löfflers Vergleich zwischen deutschländischer und schweizerischer Mediensprache s. Löffler 1988:171ff.
160
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen 100.0%
maximum
1658.82
99.5%
1658.82
97.5%
1208.38
90.0%
617.25
75.0%
quartile
372.516
50.0%
median
202.158
25.0%
quartile
110.882
10.0%
39.3803
2.5%
12.8646
0.5%
0
0.0%
minimum
0
Tabelle 4: Streuung der Variantendichte (Mittelwerte der Anzahl Varianten je 100 Seiten) in den Zeitungen (N = 108), die in der Analyse des VWB-Korpus berücksichtigt wurden, mit Angabe der Quantile. Mittelwert: 292.32078, Standardabweichung 291.81909, obere 95% 347.98671, untere 95% 236.65485.
Nicht überraschend ist der Befund, dass kleinräumige Zeitungen (z. B. Bote der Urschweiz) mehr Varianten aufweisen als grossräumige (z. B. Neue Zürcher Zeitung), ebenso wenig wie die Tatsache erstaunt, dass die Variantendichte zwischen den Rubriken grosse Unterschiede aufweist, z. B. das Feuilleton mit einer geringen und der Lokalteil mit einer grossen Dichte. Interessant ist hingegen der Befund, dass vergleichbare Zeitungen je nach Herkunft unterschiedliche Variantendichten aufweisen. Folgende Zeitungstypen wurden unterschieden: lokale Zeitungen (z. B. Straubinger Tagblatt, Berner Woche, Neue Kärntner Tageszeitung), Boulevardblätter (z. B. Bild, Blick, Neue Kronenzeitung), Qualitätszeitungen mit mittlerer bis grosser Reichweite (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Presse, Neue Zürcher Zeitung, Der Bund).49 Aus einer Analyse von 10 Qualitätszeitungen mit grosser Reichweite geht hervor, dass die Variantendichte in den österreichischen und schweizerischen Qualitätszeitungen höher ist als in entsprechenden deutschen Zeitungen.
49
Werden die Presseerzeugnisse nicht nach ihrer Herkunft differenziert, dann gibt es keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Variantendichte zwischen Presseerzeugnissen mit gehobenem Niveau, Boulveradblättern, Lokalblättern und unspezifischen Presseerzeugnissen. Regionale und nationale Varianten zeigen sich insgesamt nicht als besonderes Zeichen für Boulevardjournalismus. Vgl. aber Ehrsam-Neff 2006:177, Burger 1990:56f.
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
161
Am höchsten ist die Variantendichte in den zwei untersuchten österreichischen Zeitungen (durchschnittlich 425.7 Varianten auf hundert Seiten). Gehobene Schriftlichkeit mit grosser Reichweite ist also in Österreich und auch in den drei untersuchten Deutschschweizer Qualitätszeitungen (durchschnittlich 287.9 Varianten auf hundert Seiten) nicht mit tendenzieller Variantenfreiheit verbunden, während in den fünf untersuchten deutschen Qualitätszeitungen (durchschnittlich 79.3 Varianten auf hundert Seiten) sehr wenige Varianten zu verzeichnen sind. Dies ist im Zusammenhang mit dem Formalitätsgrad der Varianten zu sehen. Da bei dieser Analyse die Anzahl untersuchter Items mit n=10 gering ist, wäre die statistische Überprüfung des Befunds nicht sinnvoll. Es handelt sich um einen vorläufigen Befund, der anhand eines grösseren Samples überprüft werden müsste. Bereits in Tabelle 3 in Kap. 5.2.1. konnte gezeigt werden, dass die deutsche Standardvarietät ihre Varianten häufiger aus dem Substandard zu beziehen scheint als die anderen Varietäten, die ihre Varianten häufiger aus lokalen Dialekten beziehen, die jedoch mit dem deutschländischen Substandard nicht vergleichbar sind. Der für Qualitätszeitungen festgestellte herkunftsspezifische Unterschied in der Variantendichte ist in Lokalzeitungen (z. B. Grazer Woche) und Boulevardblättern nicht zu beobachten – dort zeigen sich keine herkunftsspezifischen signifikanten Unterschiede. Ein anderes Bild als bei den Qualitätszeitungen zeigt sich für die übrigen, unspezifischen Zeitungen, die eine mittlere Verbreitung bei mittlerem bis gehobenem Niveau aufweisen, z. B. Oberösterreichische Nachrichten, Stuttgarter Zeitung und Tagesanzeiger (s. Abb. 13).
Abb. 13: Variantendichte je nach Herkunft in mittleren Qualitätszeitungen wie die OÖN, Stuttgarter Ztg oder der Tagesanzeiger. Es wurden 55 Zeitungen analysiert. Mittelwert in mittleren Qualitätszeitungen aus A: 273.3 Varianten auf 100 Seiten, Mittelwert in mittleren Qualitätszeitungen aus CH: 675.8 Varianten auf 100 Seiten, Mittelwert in mittleren Qualitätszeitungen aus D: 116.0 Varianten auf 100 Seiten (p < 0.01).
162
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Die Variantendichte in mittleren Qualitätszeitungen ist von ihrer nationalen Herkunft abhängig (p < 0.01). Der Unterschied ist auch bei den jeweiligen Mittelwertspaaren signifikant. In mittleren Qualitätszeitungen zeigt sich das Schweizerhochdeutsche nach Massgabe der Variantendichte signifikant ausgeprägter als die österreichische (p < 0.01) und deutsche Standardvarietät (p < 0.01), die österreichische aber auch signifikant ausgeprägter als die deutsche Standardvarietät (p < 0.01). Wiederum ist auf die grosse Streuung der Variantendichte in den Schweizer Zeitungen hinzuweisen. Insgesamt ist festzuhalten, dass die mittleren bis gehobenen Zeitungen je nach ihrer Herkunft unterschiedlich hohe Variantendichten aufweisen. Bemerkenswert ist die hohe Variantendichte in österreichischen Qualitäts-
Thematische Domäne
n
Mittelwert
Standardabweichung
Bildung
12
103.518
87.257
Brauchtum
2
121.885
73.853
Geografie, Geschichte
14
67.118
72.293
Geschäftsleben
11
108.712
146.003
Gesundheit
9
71.756
60.221
Häusliches Leben
14
52.308
52.660
Institutionen
14
121.327
104.166
Kinder, Jugend
8
82.767
74.098
Kleidung
11
51.484
30.305
Kochkunst
6
164.306
91.235
Kunst
12
45.476
29.250
Landwirtschaft
3
167.722
167.550
Medien
13
98.202
146.206
Natur
16
50.225
61.031
Religion
9
189.601
314.034
Soziales
26
88.535
72.195
Sport
7
76.402
46.686
Tourismus unspezifisch Verkehrswesen
7
75.762
46.652
335
135.944
197.090
8
126.178
206.227
Tabelle 5: Variantendichte nach Mittelwerten pro 100 Seiten je nach thematischer Domäne der Texte
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
163
zeitungen und die hohe Variantendichte in mittleren Qualitätszeitungen aus der Deutschschweiz. Diese herkunftsspezifische Variantendichte ist in Boulevard- und Lokalblättern nicht zu beobachten; dort unterscheidet sich die Variantendichte nicht nach der Herkunft der Zeitungen.
Themenabhängigkeit der Variantendichte Wenig Einfluss auf die Variantendichte scheint der Themenbereich der Texte zu haben (Tabelle 3). In einzelnen thematischen Bereichen treten nationale und regionale Varianten häufiger auf als in anderen, z. B. in den Bereichen Bildung, Brauchtum, Geschäftsleben, Institutionen, Kochkunst, Landwirtschaft, Verkehrswesen und Religion. Diese Bereiche weisen Mittelwerte von über 100 Varianten pro 100 Seiten auf. Da die Samples der einzelnen Bereiche zu wenig zahlreich sind, sind Signifikanztests wenig aussagekräftig. Mit einem Mittelwert von 45.5 Varianten auf 100 Seiten im Bereich Kunst ist aber immer noch eine beträchtliche Variantendichte vorhanden (nahezu auf jeder zweiten Seite findet sich eine Variante). Dieser Befund kann vorläufig dahingehend interpretiert werden, dass Varianten nicht nur auf Fachsprachen beschränkt sind, sondern im Sprachsystem gleichmässig vorkommen. Die Standardsprache scheint von Varianten durchdrungen und nicht lediglich an den peripheren Rändern der Fachsprachen Varianten aufzuweisen, auch wenn gewisse thematische Bereiche stärker für Varianten prädestiniert sein mögen als andere.
5.2.1.3. Textalter und Variantendichte Die Angabe des Belegjahrs bei jeder Variante in der Datenbank erlaubt Schlüsse über die zeitliche Entwicklung, das heisst über eine Zu- oder Abnahme des Anteils nationaler und regionaler Varianten innerhalb der letzten Jahrzehnte. Da Zeitungen eine bis zu zehnmal höhere Anzahl Wörter pro Seite aufweisen als Zeitschriften/Illustrierte und Bücher, wird ihre Variantendichte in Abhängigkeit des Textalters separat analysiert (s. nachfolgenden Abschnitt).
164
5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Kein eindeutiger Befund über eine Zunahme oder Abnahme der Variantendichte Insgesamt zeigt sich in den berücksichtigten Quellentexten (Zeitschriften/Illustrierten, Sachbüchern, literarischen Werken) keine statistisch feststellbare Veränderung der Variantendichte über den beobachteten Zeitraum. Eine rückläufige Entwicklung zeigt sich für die Variantendichte in Zeitungen. Je jünger das Erscheinungsdatum einer Zeitung ist, desto weniger Varianten weist sie auf (r = –0.31, p < 0.01). Ob die Entregionalisierung des Wortschatzes in Zeitungen (verschiedener Reichweiten), bezogen auf den ganzen deutschen Sprachraum, mit sprachlichen Ausgleichstendenzen in der Mediensprache oder aber mit der jüngsten Entwicklung der Tagespresse, unter anderem dem Rückgang bzw. Zusammenschluss lokaler Blätter, zu erklären ist, muss hier offen bleiben. Neben dem Textalter nach Erscheinungsjahr können die Jahrgänge der Autorinnen und Autoren herangezogen werden, um Aussagen über die zeitliche Entwicklung der Variantendichte zu machen. Verwenden jüngere Autorinnen und Autoren mehr oder weniger Varianten in ihren Texten? Die Jahrgänge konnten freilich nur für die Urheberinnen und Urheber literarischer Texte eruiert werden.
5.2.1.4. Variation in literarischen Texten Die statistische Überprüfung des Einflusses der Jahrgänge der Autorinnen und Autoren aus dem ganzen deutschen Sprachraum auf die Variantendichte in ihren Texten ergibt zunächst keine Korrelation. Die Variantendichte in literarischen Texten insgesamt scheint also nicht vom Alter der Autorinnen und Autoren abhängig zu sein. Eine multifaktorielle Varianzanalyse ergibt jedoch eine Interaktion zwischen den Variablen Jahrgang und nationale Identität (p < 0.01).50 Das bedeutet, dass sich das Autorenalter in A, CH und D signifikant unterschiedlich stark auf die Variantendichte in literarischen Texten auswirkt.
50
Von einer Interaktion spricht man, wenn mindestens zwei Variablen eine dritte Variable durch gemeinsame Wirkung beeinflussen. Die Wirkung der einen Variable hängt von der Ausprägung der anderen ab. Die Variablen lassen sich also nicht mehr getrennt interpretieren.
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
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Helvetismenscheu von Schweizer Jungautoren und Teutonismenfreude von deutschen Jungautoren Bereits eine Voruntersuchung von Pulit 2001 brachte zu Tage, dass vor 1930 geborene Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller weniger Helvetismen verwenden als von 1930–1960 geborene. Viele Autoren dieser Gruppe waren in den 1960-er und 1970-er Jahren besonders produktiv. Die Erklärung, dass ihr vermehrter Gebrauch regionaler Varianten in Zusammenhang mit einem Zeitgeist steht, der Autoritäten, auch sprachliche Autoritäten, in Frage stellt, scheint plausibel. In der hier analysierten Datenbank des VWB sind einige Texte junger, aufstrebender Autorinnen und Autoren der Gegenwart vertreten, was nun zusätzlich die Beantwortung der Frage ermöglicht, ob die jüngste Autorengeneration die Tendenz der sprachlichen regionalen Öffnung weiterführt oder ob sich eine gegenläufige Tendenz zeigt. Letztere Vermutung erweist sich als zutreffend. Beschränkt auf literarische Texte aus der Deutschschweiz ergibt die Korrelationsanalyse vom Jahrgang der Autorinnen und Autoren und der Variantendichte in ihren Texten eine negative Korrelation (r = – 0.32, p < 0.05). Die jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren scheinen Helvetismen, im Vergleich zu ihren älteren Kolleginnen und Kollegen, eher zu vermeiden. Eine mögliche Erklärung für die Zurückhaltung junger Deutschschweizer Autorinnen und Autoren bei der Verwendung von Helvetismen in ihren Texten dürfte mit der Befürchtung zusammenhängen, dass die regionale Erkennbarkeit literarischer Texte deren Rezeption im ganzen deutschen Sprachraum und folglich den schriftstellerischen Erfolg gefährden könnte. So berichten Zoë Jenny und Peter Stamm im Jahr 2000, dass sie ihre Lektoren bitten, sie auf sämtliche Helvetismen aufmerksam zu machen, um dadurch Verständnisprobleme in Deutschland zu verhindern und um dem Klischee entgegenzuwirken, man könne in der Schweiz kein richtiges Deutsch (Hägi 2000:27). Max Frisch berichtet, dass in den Erstausgaben seiner Werke Helvetismen von den Verlagslektoren getilgt worden seien, wogegen er sich offenbar nicht wehrte; wenn das Buch später nochmals herauskam, habe er die betreffenden Ausdrücke wieder rückkorrigiert (Max Frisch im Gespräch mit Bruno Schoch und Peter André Bloch, in Bloch 1971:68–81). Frisch scheint sich die regional erkennbare Ausdrucksweise erst geleistet zu haben, als er erfolgreich war. In österreichischen literarischen Texten zeigt sich hingegen keine statistisch signifikante Korrelation zwischen dem Autorenjahrgang und der Variantendichte. Österreichische Jungschriftstellerinnen und -schriftsteller zögern mit dem Gebrauch von Austriazismen nicht mehr, aber auch nicht weniger als ihre älteren Kolle-
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
ginnen und Kollegen. Mit ihrem im Vergleich zur Deutschschweiz grösseren Absatzmarkt schreiben österreichische Schriftstellerinnen und Schriftsteller möglicherweise weniger im Hinblick auf eine Rezeption in Deutschland und fühlen sich daher weniger veranlasst, austriazismenfreie Texte zu produzieren. Dazu kommt, wie in Kap. 5.3. gezeigt werden kann, die im Vergleich zur deutschschweizerischen Haltung selbstbewusstere österreichische Haltung der eigenen standardsprachlichen Varietät gegenüber. Was schliesslich die deutschen Jungschriftstellerinnen und Jungschriftsteller anbelangt, zeigt sich eine positive, die Signifikanz allerdings knapp verfehlende Korrelation zwischen Jahrgang und Variantendichte (r = 0.24, p = 0.0563). Wenn jüngere deutsche Autorinnen und Autoren mehr Varianten verwenden als ältere Kolleginnen und Kollegen – was anhand grösserer Stichproben überprüft werden müsste –, wäre weiter zu überprüfen, ob der Grund dafür einerseits in einer Zunahme literarischer Stoffe mit Lokalkolorit zu suchen ist – es sei hier an die so genannten Ostalgieromane erinnert – oder in einer zunehmenden Prägung neuerer Literatur durch die Umgangssprache, aus welcher die deutschländische Standardvarietät einige ihrer Varianten möglicherweise bezieht.
Genrespezifische Unterschiede: Keine höhere Variantendichte in Trivialliteratur Die literarischen Quellen, die in der Analyse berücksichtigt werden, werden weiter unterteilt in Kinder- und Jugendliteratur, Kriminalromane, Trivialliteratur und unspezifische Quellen (=Belletristik). Genre
n
Mittelwert
Standardabweichung
Belletristik
146
52.3991
46.4680
Kinder, Jugend
18
63.8517
73.2167
Krimi
20
88.3347
48.3542
trivial
12
83.3193
88.3606
Tabelle 6: Unterteilung der Textsorte Literatur nach Genre und entsprechende Unterschiede in der Variantendichte nach Mittelwerten
Das Genre hat einen signifikanten Einfluss auf die Variantendichte in literarischen Texten (p < 0.05). Zwischen welchen Mittelwertspaaren ist der Unterschied bedeutsam? Die höchste Variantendichte unter den literarischen
5.2. Plurizentrische Variation in der Mediensprache
167
Texten weisen Kriminalromane auf. Sie weisen mit gut 88 Varianten je 100 Seiten eine im Vergleich zur nicht näher spezifizierten Kategorie Belletristik signifikant grössere Variantendichte auf als die übrigen Genres (p < 0.05). Die anderen in Tabelle 6 verzeichneten Unterschiede der Mittelwerte für die Variantendichte sind nicht signifikant. Die Genre-Differenzen lassen sich somit nicht dahingehend verallgemeinern, dass gehobene Literatur an Varianten ärmer ist als bspw. Trivialliteratur. Die hohe Variantendichte in Kriminalromanen rührt möglicherweise daher, dass sich dieses Genre durch zahlreiche Passagen direkter Rede zwischen geographisch lokalisierten Figuren auszeichnet, was anhand eines grösseren Korpus zu überprüfen wäre. Zwischen Genre und Autorenjahrgang gibt es keine Interaktion. Jüngere Kriminalromanautoren verwenden also weder mehr noch weniger Varianten als ihre älteren Kollegen.
Regionale Herkunft der Autorinnen und Autoren literarischer Werke
Abb. 14: Anzahl ins VWB eingegangene Varianten pro 100 Seiten in literarischen Texten nach Mittelwerten je nach Herkunft der Autorin/des Autors, Varianzanalyse und paarweiser Vergleich.
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5. Untersuchungen zur Repräsentation der Plurizentrik des Deutschen
Die regionale Herkunft der Autoren wird gemäss der regionalen Subdifferenzierung der Geltungsareale der Varianten, wie sie im VWB angewendet wird, operationalisiert: D-südwest (n = 4), D-südost (n = 9), D-nordwest (n = 11), D-nordost (n = 13), D-mittelwest (n = 12), D-mittelost (n = 11), CH (n = 67), A-west (n = 12), A-südost (n = 14), A-ost (n = 25), A-mitte (n = 16).51 Die Autorenherkunft hat einen signifikanten Einfluss auf die Variantendichte in literarischen Texten (p < 0.01). Dadurch ergibt sich in Abb. 14 eine auf den ersten Blick national recht homogene Ausprägung der Variantendichte in literarischen Texten. Am meisten Varianten weisen literarische Werke aus der Schweiz auf, gefolgt von solchen aus Österreich und schliesslich solchen aus Deutschland, deren Variantendichte am tiefsten ist. Zwischen welchen Mittelwertspaaren ist dieser Unterschied bedeutsam? Einen Überblick über die signifikanten Unterschiede zeigt Tabelle 7. Level
- Level
p-Wert
CH
D-nordost